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German Pages 119 [120] Year 1986
Handbuch politisch-sozialer Grundbegriffe in Frankreich 1680 - 1 8 2 0
Herausgegeben von Rolf Reichardt und Eberhard Schmitt in Verbindung mit Gerd van den Heuvel und Anette Höfer Heft 4
Civilité Roger Chartier Fanatique, Fanatisme Thomas Schleich
R. Oldenbourg Verlag München 1986
Das Handbuch politisch-sozialer Grundbegriffe in Frankreich 1680 -1820 erscheint als Band 10 der Reihe Anden Régime, Aufklärung und Revolution (hrsg. von Rolf Reichardt und Eberhard Schmitt).
CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek Handbuch politisch-sozialer Grundbegriffe in Frankreich : 1680 - 1820 / hrsg. von Rolf Reichardt u. Eberhard Schmitt in Verbindung mit Gerd van den Heuvel u. Anette Höfer. - München : Oldenbourg (Ancien Régime, Aufklärung und Revolution ; Bd. 10) NE: Reichardt, Rolf [Hrsg.]; GT H. 4. Civilité / Roger Chartier. Fanatique, fanatisme / Thomas Schleich. - 1986. ISBN 3-486-53131-X NE: Chartier, Roger [Mitverf.]
© 1986 R. Oldenbourg Verlag GmbH, München Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdrucks, der Funksendung, der Wiedergabe auf photomechanischem oder ähnlichem Wege sowie der Speicherung und Auswertung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Werden mit schriftlicher Einwilligung des Verlages einzelne Vervielfältigungsstücke für gewerbliche Zwecke hergestellt, ist an den Verlag die nach § 54 Abs. 2 Urh.G. zu zahlende Vergütung zu entrichten, über deren Höhe der Verlag Auskunft gibt. Satz: Hofmann-Druck KG Augsburg Druck und Bindung: R. Oldenbourg Graphische Betriebe GmbH, München ISBN 3-486-53131-X
Inhalt Civilité / Roger Chartier Fanatique, Fanatisme / Thomas Schleich Artikelliste
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Civilité R O G E R CHARTIER
I. Einleitung 1. Die ,civilité' im Spannungsfeld zwischen sozialer Auszeichnung und Popularisierung 2. Disparitäten und Grundbestand des ,Civilité'-Begriffs in den allgemeinsprachigen Wörterbüchern um 1690 II. Das alteuropäische Erbe (16. -17. Jahrhundert) 1. ,Civilité als christliche Ethik in der Erasmus-Rezeption . . . . 2. .Civilité' als weltmännische Höflichkeit im 17. Jahrhundert 3. Spannungen der barocken .civilité' zwischen Sein und Scheinen 4. Rechristianisierung der weltlichen .civilité' bei Jean-Baptiste de La Salle (1703) III. Konkurrierende Modelle der,Civilité'im 18. Jahrhundert 1. Abwertung der .civilité' zur .Kunst des gesellschaftlichen Umgangs' und ihre Popularisierung 2. Aufklärerische Versuche einer Aufwertung der .civilité' zur sozialen Ethik in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts . . . . IV. Ansätze zu einer republikanischen ,civilité' in der Französischen Revolution V. Ausblick:, civilité' als bürgerliche Anstandsregel im frühen 19. Jahrhundert
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I. E i n l e i t u n g 1. Die ,civilité' im Spannungsfeld zwischen sozialer Auszeichnung und Popularisierung Die folgenden Ausführungen* übernehmen eine nahezu unlösbare Aufgabe: die Darstellung der Geschichte eines Begriffes - im vorliegenden Fall die von civilité - und gleichzeitig die Reflexion über die historische Operation, die diese Rekonstruktion der Begriffsentwicklung ermöglicht hat. Folglich gilt es, sowohl die Konventionen der * Aus dem Französischen übersetzt von Thomas Schleich. 7
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Begriffsgeschichte zu beachten als auch explizit die aufgetretenen Probleme zu benennen, die vielleicht gerade durch die spezifische Eigenart des untersuchten Ideenkomplexes zugespitzt wurden. Die erste und offensichtlichste Schwierigkeit resultiert aus der Unmöglichkeit, den Untersuchungsbereich genau einzugrenzen. Einerseits kann - selbst wenn man Textgruppen bevorzugt berücksichtigt, die die gebräuchlichsten Verwendungsweisen zutage fördern (wie Wörterbücher, Zeitungen, Memoirenliteratur, Schulbücher, einschlägige Traktate) - das erstellte Textkorpus der Belege weder abgeschlossen noch ausreichend sein. Andererseits - und das ist das ernstere Problem - steht jeder Begriff im Binnenraum eines semantischen Feldes, das ebenso ausgedehnt wie wandelbar ist. Verdeutlichen wir diesen Umstand an civilité: von der Mitte des 17. Jhs. bis zur Revolution sind die Wortreihen zahlreich, in die dieses Wort sich einfügt. Zuerst kann man die Serie anführen, die durch die Anordnung der Wörterbücher selbst vorgegeben wird, orientiert an der Wurzel des Wortes, wie sie sich findet in civil, civilisation, civiliser und civique (dessen Gebrauch allerdings auf die Wendung couronne civique beschränkt ist). Durch diese räumliche und etymologische Nachbarschaft lädt sich der Begriff auf zweifache Weise inhaltlich auf: zum einen gehört er zum öffentlichen Leben einer Gesellschaft von Bürgern, und zum anderen steht er in markantem Gegensatz zur barbarie von jenen, die nicht .zivilisiert' worden sind. Er erscheint daher ebenso sehr mit einem kulturellen Erbe verbunden, das die abendländischen Völker mit der Geschichte des antiken Griechenland - der ersten zivilisatorischen Macht - verknüpft, wie mit einer Gesellschaftsform, die die Freiheit der Untertanen im Verhältnis zur Staatsmacht voraussetzt. Ist civilité unvereinbar mit,Barbarei', so ist sie es nicht weniger mit Despotismus' . Als zweite semantische Schiene findet sich, in den Wörterbüchern wie in den anderen Quellen, jene, die civil oder civilement einer Reihe von Adjektiven zuordnet, die mondäne Tugenden bezeichnen. In chronologischer Reihenfolge des Auftretens reichert sich diese Kette wie folgt an: honnête, poli, courtois, gracieux, affable, bien elevé. Sie wird erweitert durch Adjektive, die mit civilité in Verbindung stehen, wie traitable und sociable; civilité erhält später zumindest in den Wörternbüchern mit rustique einen Gegenbegriff. Dieses Konglomerat von benachbarten Wörtern umreißt eine weitere Bezugszone von civilité - äußerlicher und mondäner - , in der vor allem der Schein des Auftretens und der Lebensart zählt. Ein dritter Kreis wird von Begriffen abgesteckt, die civilité durchgängig gegenüberge8
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stellt werden, sei es, weil sie als zulässige Äquivalenzen gelten, sei es, weil sie als Kontrastbegriffe Gegensätzliches ausdrücken. Es handelt sich um die drei Substantive honnêteté, bienséance und politesse. Diese drei Begriffe - und in Sonderheit der letzte von ihnen - stehen in durchaus wechselhaften Beziehungen zu civilité, weil dessen Konzeption manchmal auf ihre Kosten aufgewertet, manchmal zu ihren Gunsten abgewertet wird. Allein diese unmittelbare begriffliche Umgebung von civilité faßt die folgende Untersuchung ins Auge: zum einen, um nicht in untunlicher Weise auf das Terrain jener Texte vorzustoßen, die Begriffe wie civilisation ausleuchten; zum anderen weil es unmöglich scheint, die offene und bewegliche Gesamtheit des semantischen Feldes von civilité zu rekonstruieren, das sich auch auf ethische Werte (morale, vertu, honneur), auf soziale Bezeichnungen (cour, courtisan, peuple!populaire) und auf grundlegende Gegensätze (public!privé) bezieht. Daher rührt notwendigerweise die Willkürlichkeit einer Analyse, die den untersuchten Begriff von der komplexen Gesamtheit von Vorstellungen isoliert, die mit ihm - durch den Sinn, durch die Etymologie oder durch eine einfache phonetische Assoziation - in einem bestimmten historischen Moment verbunden sind und die - mehr oder minder in ihrer Gesamtheit - einem Autor bewußt und zugänglich sind, wenn er civilité definiert. Daraus resultiert eine zweite Schwierigkeit, die die Bedingungen der Bedeutungsbestimmungen berührt. Notgedrungen privilegiert das Korpus der für diese Analyse zur Verfügung stehenden Texte den normativen Gehalt des Begriffes, der besagt, was civilité ist oder zumindest sein sollte. Eine Sorte dieser Texte bezieht sich auf die sprachliche Verwendungsweise des Wortes (so die Wörterbücher, die Synonymenlexika oder die Texte, die die überkommene, etablierte Definition des Begriffes umstürzen wollen); die anderen Quellen zählen die praktischen Verhaltensweisen auf, die das als civil eingeschätzte Verhalten zu erkennen geben, ohne es zu benennen (so etwa die Abhandlungen, die von Erasmus bis La Salle der Öffentlichkeit einen Verhaltenskodex nahezubringen suchen). In beiden Fällen tendiert die schriftliche Aufzeichnung zur Konstruktion eines universalen, unveränderlichen Sinnes, der bereits vorweg und unabhängig von bestimmten Verwendungsweisen besteht, denen unterstellt wird, daß sie ihm immer zu entsprechen haben. Nun darf aber ein historischer Erkundungsvorstoß - wie dieser Artikel - , der auf eine Erhellung der Begriffsbedeutung (und der Bedeutung von Wörtern, die diese Begriffe bezeichnen) gerichtet ist, den Neutralisierungswillen 9
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praktischer Verwendungsweisen weder verstärken noch als erreicht hinnehmen. Denn bei jedem Gebrauch kommt die Bestimmung des Sinns von außen, sie entsteht durch das Aufeinandertreffen und das Gemisch einer Disposition und einer Intention auf Seiten des Aussagenden, und einer bestimmten Situation, eines Adressatenkreises, eines Marktes, auf dem die Aussage einen Sinn erhält, indem sie in Bezug auf andere Verwendungsweisen bewertet und gesellschaftlich taxiert wird1). Im Fall von civilité haben dieses Spiel der verschiedenen Verwendungen, diese praktischen Definitionen des Sinns offensichtlich eine entscheidende Bedeutung, da der Begriff, auf den sie abzielen - wenn er korrekt formuliert worden ist und vorschriftsmäßig Gestalt gewonnen hat - als Ertrag die Qualität einer sozialen Hervorhebung erbringen soll. Jeder Gebrauch des Wortes, jede Definition des Begriffes verweist auf eine zugrundeliegende Aussagestrategie, die auch eine Abbildung sozialer Beziehungen ist. Die Schwierigkeit - in jedem einzelnen Fall - liegt im Rekonstruieren-Können dieser praktischen Beziehungen, die verschiedene Personen oder Personengruppen miteinander verbindet: den Schreibenden, die von ihm intendierten Leser, sein sozio-kulturelles Milieu, als dessen Sprachrohr er möglicherweise auftritt, und nicht zuletzt diejenigen, die mit dem Akt des Lesens dem Text eine Bedeutung zukommen lassen. Strenggenommen beruht die Möglichkeit einer angemessenen Rekonstruktion dieses Bezugsgeflechts auf einer Reihe von Voraussetzungen: man muß jede Formulierung innerhalb des Horizonts von Texten situieren, der dazu beigetragen hat, sie hervorzubringen, sei es durch Nachahmung, sei es durch Opposition gegen die vorliegenden Bedeutungsvarianten; man muß die Position des Aussagenden ohne Schematismus im sozialen und literarischen Umfeld seiner Zeit eruieren können; und man muß schließlich die verschiedenen Publika bestimmen können, die die vorgeschlagenen Verwendungsweisen, die vorformulierten Bedeutungsstränge (im Fall von civilité im doppelten Sinn dieses Wortes) in sich widersprechender Weise annehmen, entweder sich ihnen anpassend oder sie verwerfend. Die folgende Analyse ist außerstande, all diesen Anforderungen in ihrer Gesamtheit gerecht zu werden. Immerhin versucht sie zu zeigen, indem sie den Gegensatz zwischen Popularisierung und sozialer Hervorhebung in den Mittel') Vgl. P . B O U R D I E U : Ce que parler veut dire. L'économie des échanges linguistiques, Paris, 1982.
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punkt der Analyse von civilité stellt, daß sich in dieser sozialen Dynamik - die provoziert wird durch die Nachahmung der Manieren des Sprechens und des Sich-Verhaltens von bestimmten Schichten, während diese Manieren in anderen Schichten gerade als spezifisch für ihr soziales Milieu angesehen werden - die wandelbare Bedeutung der Begriffe ebenso herausbildet, wie sich ihre Beziehungen bei jedem Mal neu verteilen. Diesen Vorgang illustriert z. B. das mehrere Male umgekehrte Verhältnis zwischen civilité und politesse. Eine letzte Schwierigkeit liegt im Charakter des Begriffes civilité selbst, insofern er ein Ganzes von Regeln bezeichnet, dessen Bestandteile nur in den Gesten Realität gewinnen, die diese Regeln ausführen. Immer eine Aussage über den Modus des Sein-Sollens enthaltend, zielt civilité daher auf eine Transformierung von Disziplinanweisungen und Zensurvorgaben, die sie aufzählt und in der gleichen Kategorie vereint, zu internalisierten Schemata, zu automatisierten und nicht benannten Regulativen des Verhaltens. Gegenstand langer Abhandlungen und Streitpunkt gegensätzlicher Aussagen, muß sich civilité indes als geäußerter oder angehörter Diskurs aufheben, um sich in eine Funktionsanleitung für den Alltag zu verwandeln, fusioniert aus spontanen Anpassungen, die sich zu einem großen Teil dem Wissen entziehen, an verschiedenste Situationen, mit denen sich das Individuum konfrontiert sehen kann. Daher erklärt sich der besondere Status der Texte, die die für legitim erachteten Verhaltensweisen zu institutionalisieren suchen, denn sie müssen nicht nur die Normen ausführlich darlegen, an denen man sich auszurichten hat, sondern auch die Formeln und Vorrichtungen bereitstellen, die deren Einschärfung erlauben. Diese liegen zum Teil außerhalb der Texte und hängen ab von ihrem sozialen Gebrauch, von ihrem Ort der Verwendung (die Familie oder die Schule), von den Modalitäten der Aneignung (durch individuelle Lektüre oder über die Vermittlung einer unterweisenden Rede). Aber zum anderen Teil sind sie Bestandteil des Textes selbst, der über eigene Strategien der Überredung und der Eintrichterung verfügt. Auch hier kann die Begriffsanalyse nicht die Gesamtheit der sozialen und textimmanenten Signale rekonstruieren. In Ermangelung einer direkten Erfassung der sozialen Gebrauchsformen der Texte kann man immerhin den institutionellen oder kollektiven Raum umschreiben, die ihre Autoren im Blick hatten. Als Ersatz für die fehlende, vollständige Aufgliederung ihrer rhetorischen Artikulation kann man einige der Vorgehensweisen beschreiben, die diese Texte aufbieten, um neue Bedeutungsvarianten 11
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durchzusetzen (wie z. B. den Verfremdungseffekt zwischen normativen Definitionen und den Belegbeispielen praktischer Verwendung oder die Bildung fiktiver Belege, die für exemplarisch gehalten werden) . Wenn man sich all dieser Einschränkungen bewußt ist, kann die Untersuchung eines isolierten Begriffes wie civilité wohl eher ihre Triftigkeit bestätigen.
2. Disparitäten und Grundbestand des ,Civilité'-Begriffes in den allgemeinsprachigen Wörterbüchern um 1690 Um die Mitte des 17. Jhs. ist der Begriff civilité schon seit längerer Zeit gängige Münze in der Sprache wie im intellektuellen Rüstzeug der Zeit. Um seinen Sinn und seine Bedeutung zu ermitteln, bietet sich eine Gegenüberstellung der Definitionen an, die sich in den binnen 15 Jahren publizierten allgemeinsprachigen Wörterbüchern finden 2 ). Die Unterschiede zwischen diesen einzelnen Bestimmungen sind augenfällig. Während RICHELET unter civilité einen ganzen Wissenskomplex versteht, gleichsam eine Wissenschaft mit ihren eigenen Regeln und Lehrbüchern, bestimmt FURETIÈRE sie als ein Ensemble von Verhaltensformen, als eine Art und Weise, sich in Gesellschaft zu bewegen, die das Dictionnaire de l'Académie gleichsetzt mit Ehrbarkeit (honnêteté) und Liebenswürdigkeit (courtoisie). Der Akzent verschiebt sich so von einer Definition, die den normativen und büchernen Charakter der wie etwa Geometrie erlernbaren civilité betont, auf eine Kennzeichnung, die sie bestimmt als ein eigentümliches Verhalten, als eine von anderen deutlich verschiedene Lebensform. Daher rühren bei diesen beiden Bedeutungsvarianten gegensätzliche soziale Implikationen. Bei Richelet ist der Adressatenkreis, an den sich civilité als Wissenschaft richtet, nicht näher umgrenzt, während die beiden anderen Lexika nahelegen, daß sie eine für das soziale Milieu ihrer Träger charakteristische Verhaltensform ist, indem etwa Furetière hervorhebt, daß „les paysans manquent à la civilité" und die Akademie „le monde" als Ort ihrer Ausübung bezeichnet. Der zumindest potentiellen Universalität einer Wissenschaft, die jeder erlernen kann, steht so ein gesellschaftliches Benehmen gegenüber, das nicht jedermann eigen ist. 2
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) RICHELET ( ' 1 6 8 0 ) , 1 1 4 1 ; FURETIERE ( ' 1 6 9 0 ) , I s.v. „Civilité"; Dict. ( ' 1 6 9 5 ) , 1 117.
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Neben diesen Nuancen stößt man jedoch bei den Definitionen auf einen gemeinsamen Bestand von Elementen, die den unstrittigen Begriffsgehalt umfassen. Vor allem anderen erscheint civilité in allen drei Wörterbüchern als verwandt, wenn nicht gar als synonym mit honnêteté und honnête, ein Befund, der die Spannung zwischen einer moralischen Charakterisierung mit universaler Zielrichtung und einem sozial-distinktiven Verhalten, das nur in bestimmten gesellschaftlichen Kreisen anzutreffen ist, verstärkt. Ebenso markant ist ein zweiter Grundzug: civilité zeigt sich im Handeln, aber auch in der Konversation. Die drei Werke unterstreichen diese Bestimmung von civilité als Kunst des Gesprächs in der Gesellschaft: durchdrungen sein von civilité bedeutet „ne savoir rien dire que d'honnête et de bien à propos" (Richelet) oder „une manière honnête de converser dans le monde" zu haben (Académie). Das Verständnis von civilité scheint so eng verbunden mit dieser besonderen Form gesellschaftlichen Agierens, die die gebildete Gesellschaft auszeichnet. Der Plural civilités verstärkt im übrigen die mondäne Komponente des Wortes, indem er auf die Anwendung und den Austausch von Höflichkeitsformen abhebt, die von der vornehmen Gesellschaft gefordert sind. Schließlich läßt sich ein dritter gemeinsamer Aspekt in den Definitionen ausmachen: civilité muß gelernt und erworben werden, und zwar von Kindesbeinen an. Von diesem Umstand rührt die Mahnung in den Büchern, die sich diesem erzieherischen Zweck verschrieben haben: „on apprend aux enfants la civilité puérile" (Furetière), „on dit proverbialement d'un homme qui manque aux devoirs les plus ordinaires qu'il n'a pas eu la civilité puérile" (Académie).
II. Das alteuropäische Erbe (16. - 17. Jahrhundert) 1. , Civilité' als christliche Ethik in der Erasmus-Rezeption Mit ihren Ähnlichkeiten und Unterschieden registrieren die Wortbestimmungen der allgemeinsprachigen Lexika des ausgehenden 17. Jhs. einen ersten Entwicklungsschritt in der Geschichte des civilitéBegriffes. Zuerst ist einmal deutlich, daß sie eine ältere Bedeutung nicht mehr berücksichtigen, die im 16. Jh. noch eine Rolle spielte und die civilité, oder meist civilités, definierte als Sitten und Gebräuche, 13
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durch die eine Gemeinschaft charakterisiert war3). Es verschwindet auch die Festlegung von civilité als „la manière, ordenance et gouvernement d'une cité ou communité", der man in den Aristoteles-Übersetzungen von Oresme vom Ende des 15. Jhs. begegnet, und die das begriffliche Gegenstück, incivil, als die Unmöglichkeit faßte, in menschlicher Gemeinschaft zu leben 4 ). Als erstes, spürbares Erbteil in den Definitionen des späten 17. Jhs. ist der Einfluß der Behandlung dieses Fragenkomplexes durch E R A S M U S und dessen Übersetzer, Bearbeiter und Nachahmer unabweisbar. Nach der Veröffentlichung durch Froben 1530 in Basel erlebte der De civilitate morum puerilium libellus auf gesamteuropäischer Ebene einen unerhörten verlegerischen Erfolg 5 ). Sehr früh wird der lateinische Text bearbeitet, mit Untergliederungen und Anmerkungen versehen (1531 von Gisbertus Longolius in Köln), in Frage- und Antwort-Form gesetzt (1539 von Reinhardus Hadamarius in Anvers) oder als Sammlung ausgewählter Passagen präsentiert (1551, auch in Anvers, durch Evaldus Gallus). Frühzeitig verfertigt man Übersetzungen: 1531 kommt eine hochdeutsche, 1532 eine englische, 1537 eine tschechische, 1546 eine niederländische Fassung heraus. Die erste französische Version, die in die Sprache ein neues Verständnis von civilité einführt, stammt aus dem Jahr 1537 und wird von Simon de Colines in Paris veröffentlicht: Pierre Saliat hat sie übersetzt und betitelt: Déclaration contenant la manière de bien instruire les enfants dès leur commencement, avec un petit traité de la civilité puérile et honnête, le tout translaté nouvellement de latin en français. Auf diese Weise finden sich die beiden pädagogischen Abhand-
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) Zum Beispiel: „Ceux qui vont en Allemagne où les coutumes et les civilités sont différentes des nôtres, quant ils sont revenus, on les trouve grossiers." ( F . de L A N O U E : Discours politiques et militaires, Basle 1587). 4 ) Zum alten Wortgebrauch gibt H U G U E T , I I 302, mehrere Beispiele (besonders aus den Übersetzungen von C. Seyssel) für civilité als , Stadtrecht' oder .Qualität des Stadtbürgers'; s.a. E . LITTRE: Dictionnaire de la langue française, I , Paris 1863, s.v. „Civilité"; sowie H . KRINGS: Die Geschichte des Wortschatzes der Höflichkeit im Französischen, Diss. Bonn 1961,172ff. 5 ) Zum Traktat von Erasmus grundlegend H . de L A FONTAINE VERVEY: The first ,Book of Etiquette' for children: Erasmus, ,De civilitate morum puerilium', in: Quarendo 1. 1 9 7 1 , 1 9 - 3 0 ; dadurch wird berichtigt A. BONNEAU (Übers, u. Hg.): Erasme, La Civilité puérile..., Paris 1877, Einleitung.
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hingen von Erasmus, die Declamatio de pueris statim ac liberaliter instituendis und De civilitate morum puerilium vereint. Eine zweite französische Übersetzung wird 1558 veröffentlicht: verlegt von Robert Granjon, geht sie zurück auf einen Sympathisanten der reformierten Kirche, Jean Louveau, der die römisch-katholischen Bezüge des Textes ausmerzte. In einem Nachdruck, 1559 in Anvers veranstaltet von Jehan Bellers, bekommt das Buch den Titel La civilité puérile distribuée par petits chapitres et sommaires, à laquelle nous avons ajouté la Discipline et Institutions des Enfants, diese Fassung stammt von dem Reformierten Otto Brunfels. Die Ausgabe von Granjon bringt eine bedeutsame Neuerung, der Text wird in einer neuartigen Drucktype gesetzt: „la lettre française d'art de main", die den handschriftlichen Stil nachzuahmen suchte und unter dem Namen lettre de civilité bekannt werden sollte. In der zweiten Hälfte des 16. Jhs. wird der Text des Erasmus verschiedentlich in reformierten Fassungen herausgebracht: Claude Hours de Calviac gestaltet ihn in freizügiger Weise nach, seine Fassung trägt den Titel Civile honnêteté pour les enfants, der Substantiv und Adjektiv umkehrt und mit dieser veränderten Wortstellung die ursprüngliche Gleichwertigkeit der Begriffe hervorhebt; die Ausgabe stammt aus Paris und geht auf Philippe Danfrie und Richard Breton zurück. Der Text wird im gleichen Jahr in der Übersetzung von Saliat neu herausgegeben, allerdings ist die „infection romaine" bereinigt, ihm beigegeben ist der Text von Maturin Cordier Miroir de la jeunesse pour la former à bonnes mœurs et civilité de vie, verlegt bei den Brüdern Moynes in Poitiers, 1583 erscheint in Paris bei Léon Cavellat eine weitere Ausgabe, ohne Verfasserangabe, die Interpretation ist von protestantischem Gedankengut inspiriert. In der Entwicklungsgeschichte des cmtoé-Begriffes markiert der Text von Erasmus eine fundamentale Weichenstellung. Einerseits unterbreitet er, durch seine zahlreiche lateinischen Ausgaben (mindestens 80 im 16. Jahrhundert, wenigstens 13 im 17. Jh. 6 ) dem gelehrten Europa einen Kodex vereinheitlichter Verhaltensweisen, dessen Ausführung die civilitas in ihrer neuen Bedeutung verwirklicht. Andererseits macht er über seine Übersetzungen und freien Bearbeitungen ein Wort und einen Begriff in den verschiedenen Regionalsprachen heimisch, die eine von nun an wesentliche Komponente der Kin6
) Vgl. die (wohl unvollständige) Liste in: Bibliotheca Erasmiana. toire des Oeuvres d'Erasme, 1. Ser., Gand 1893, S. 29 - 34.
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dererziehung bezeichnet. Folgt man der Beweisführung von N. Elias, dann bezeichnet der Erasmus-Traktat trefflich eine entscheidende Etappe im Entwicklungsgang der Zivilisation europäischer Gesellschaften 7 ). Indem sie gleichzeitig Wiedergabe bereits veränderten Benehmens und Kennzeichnung eines neuen Ideals ist, verweist die Abhandlung des Erasmus anschaulich auf die Anforderungen einer Zeitenwende, in der die überkommenen Regeln des ritterlichen Lebens zurückweichen vor der gesteigerten Abhängigkeit der Menschen untereinander. Daher rührt sein tiefgreifendes Abweichen von den mittelalterlichen Tafelsitten, die auf eine einzige gesellschaftliche Situation (die Mahlzeit) zugeschnitten waren und die sich vor allem an den Erwachsenen aus dem höfischen Milieu ausrichteten. Nicht ohne Grund legt Erasmus vom Ansatz her fest - auch wenn er seine Abhandlung einem Prinzensprößling widmet - , daß die in seinem Traktat enthaltenen Regeln sich an alle Menschen ohne Unterschied der sozialen Stellung richten: Il est honteux pour ceux qui sont de haute naissance de ne pas avoir des mœurs correspondant à leur noble extraction. Ceux dont la fortune a fait des plébéiens, des gens d'humble condition, des paysans m ê m e , doivent s'efforcer d'autant de compenser par de bonnes manières les avantages que leur a refusés le hasard. Personne ne choisit son pays ni son père: tout le monde peut acquérir des qualités et des mœurs 8 ).
Und wiederholt verwirft er die aristokratischen Lebensformen seiner Zeit: Il n'est pas convenable d'avancer de temps à autre les lèvres pour faire entendre une sorte de sifflement: laissons cette habitude aux princes qui se promènent dans la foule. Tout sied aux princes; c'est un enfant que nous voulons former [ . . . ] Poser un coude ou les deux sur la table n'est excusable que pour un vieillard ou un malade: les courtisans délicats, qui croient que tout ce qu'ils font est admirable, se le permettent. N'y fais pas attention et ne les imite pas 9 ).
Im Gegensatz zur mittelalterlichen courtoisie bezeichnet civilitas in allgemeingültiger Weise, was sich für jeden Mensch geziemt. Deshalb stellt Erasmus ausdrücklich fest, daß Abweichungen auf sittli7
) ELIAS, 1 8 9 - 1 0 9 . ) ERASMUS: La Civilité puérile, précédée d'une notice sur les livres de civilité depuis le XVIe siècle par A . BONNEAU prés, par P. ARIES, Paris 1977, hier S. 106. 9 ) Ebd. nacheinander S. 63 und 80.
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chem Gebiet, das nach Raum und Zeit durchaus verschieden verfaßt sein kann, nur im Binnenraum dessen akzeptabel sein können, was „convenable en soi" ist. Die Regeln der erasmischen civilité sind universal, weil sie auf einem ethischen Prinzip beruhen: bei jedem Menschen ist die äußere Erscheinung ein Zeichen des inneren Wesens, das Verhalten ist ein sicherer Verweis auf die Qualität von Geist und Seele. Die natürliche Veranlagung, die Tugenden, die Intelligenz können sich nur auf diese Weise zu erkennen geben, sie sind spürbar in der Haltung wie in der Kleidung, im Benehmen ebenso wie in der Redeweise. Alle Kapitel der Civilité puérile ankern in dieser engen Beziehung von Sichtbarem und Unsichtbarem, Innerem und Äußerem, dem Gesellschaftlichen und dem Persönlichen. Die Körperhaltung, der Gesichtsausdruck, das Betragen in der Kirche, bei Tisch, im Spiel, in Gesellschaft, selbst die Bekleidung, die ist „en quelque sorte le corps du corps et donne une idée des dispositions de l'âme" 10 ), richten sich daher nicht nur an den für die gesellschaftlichen Beziehungen notwendigen Erfordernissen aus - was die Ausbildung von milieuspezifischen Verhaltenslehren und Sittenspiegeln rechtfertigen würde - , sondern ihnen kommt auch ein moralischer Wert zu, wodurch sie bei Erasmus aus einer anthropologischen und nicht aus gesellschaftlicher Perspektive betrachtet werden. Wenn der Text mit Gewißheit eine entscheidende Etappe in der Anhebung der Schamschwelle markiert - das Verlangen nach einer Kontrolle des Gefühlslebens oder die Forderungen nach einem Zurückdrängen der Emotionen - so nicht, indem er sich auf den bestehenden oder wünschenswerten Lebensstil einer bestimmten sozialen Gruppe bezieht, sondern indem er sich in moralisierender Absicht der Kindererziehung zuwendet. Damit wird civilité zum Erwerb der Anfangsgründe, und ihre Traktate entwickeln sich zu Fibeln des Anfängerunterrichts. Das trifft bereits auf die erste freie Bearbeitung zu, die auf Claude Hours de Calviac zurückgeht, 1559 veröffentlicht, deren vollständiger Titel lautet Civile honnêteté pour les enfants, avec la manière d'apprendre à bien lire, prononcer et écrire qu'avons mise au commencement. Noch deutlicher zeigt sich dieser Umstand in den weit verbreiteten populären Ausgaben aus Troyes, die in gleicher Weise civilité und elementaren Unterricht verknüpften: so etwa die bei Nicolas II Oudot 1649 entstandene Version unter dem Titel La ci10
) Ebd. S. 71. 17
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vilité puérile et honnête, pour l'instruction des Enfants. En laquelle est mise au commencement la manière d'apprendre à bien lire, prononcer et écrire. Revue, corrigée et augmentée des Quatrains du Sieur de Pibracn). In beharrlicher Weise wurden so eng miteinander verbunden civilité und Kindheit, gute Manieren, Anfangsgründe und elementare Moral. 2. ,Civilité' als weltmännische Höflichkeit im 17. Jahrhundert Diesen ersten Fundus von Bezugnahmen und Verwendungsweisen kreuzt in den Definitionen vom Ende des 17. Jhs. ein anderes Erbe in durchaus gegenläufiger Richtung, in der die Art und Weise weiterlebt , wie die mondäne Höflichkeit die Vorstellung von civilité entwikkelt hat 12 ). In der ersten Jahrhunderthälfte scheint der Begriff für die Praxis zu verblassen: das Wort verschwindet aus den Titeln der Abhandlungen, es entwickeln sich neue Konzeptionen von Anständigkeit (Bienséance de la conversation entre les hommes, 1617), von Ehre (A. DE B A L I N G H E M : Le vrai point d'honneur à garder en conversant, pour vivre honorablement et paisiblement avec un chacun, 1618) oder Rechtschaffenheit ( N . F A R E T : L'honnête homme ou l'art de plaire à la Cour, 1630). Zwei Merkmale charakterisieren diese Abhandlungen: Zum einen stammen ihre Vorlagen aus Italien; das Buch Bienséance de la conversation ist eine jesuitische, für Pensionatszöglinge bestimmte Bearbeitung des Werkes Le Galatée von Giovanni della Casa, das 1558 erschien und danach in mannigfachen Neuausgaben in Französisch oder in zweisprachigen Versionen wieder veröffentlicht wurde; L'honnête homme schließt sich eng an die Traktate Le Courtisan von Castiglione und La civile conversazione von Guazzo an. Andererseits zielen diese Texte darauf ab, die Verhaltensweisen eines bestimmten sozialen Milieus - des Hofes - und eines bestimmten Standes - des Adels - zu normieren. Dadurch entfernen sie sich vom Universalismus des Erasmus und reihen sich in jene Fülle von Texten ein, die - als höfische Erziehungsliteratur - seit dem Beginn des 17. n
) D i e erste Ausgabe der Civilité puérile... in Troyes scheint die Girardons von 1600 gewesen zu sein; die erste bekannte und heute einsehbare Ausgabe stammt von Nicolas II Oudot und ist wohl die Zweitausgabe (BN: Res pR 117); vgl. A . MORIN: Catalogue descriptif de la Bibliothèque bleue de Troyes (Almanachs exclus), Genève 1974, Nr. 127 - 146 S. 67 - 7 4 und Nr. 137 bis S. 483. 12 ) MAGENDIE, passim; s.a. den Artikel „Honnête homme, Honnêteté" im vorliegenden Handbuch.
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Jhs. das höfische L e b e n zu regeln suchten und den Angehörigen des Hofadels neue Verhaltensformen einschärfen wollten 1 3 ). Als civilité in der zweiten Jahrhunderthälfte wieder als soziales Konzept an Bedeutung gewinnt, hat sie einen ähnlichen Charakter, wenn sie in ihrer Bedeutung auch nicht allein auf höfische Sitten beschränkt ist. Das erhellt besonders deutlich das B u c h von Antoine de COURTIN
Nouveau
traité de la civilité qui se pratique
en France
parmi
les honnêtes gens, mit 15 Ausgaben zwischen 1671 und 1730 ein echter Bestseller. Courtins Absicht ist ein Anknüpfen an der erasmischen Tradition der Gattung. E r hat vorrangig - wenn nicht gar ausschließlich - „l'instruction des jeunes gens" vor A u g e n , seine Ausführungen fußen auf einer moralischen Bestimmung von civilité, die ihr Universalität verleiht: comme la civilité vient essentiellement de la modestie, et la modestie de l'humilité, qui est le souverain degré de la charité, qui comme les autres est appuyée sur des principes inébranlables, c'est une vérité constante que quand même l'usage changerait, la civilité ne changerait pas dans le fond ). Indem sie so einer christlichen Kardinaltugend, der Nächstenliebe, angenähert ist, bildet civilité einen wünschenswerten Wesenszug des Menschen, was auch immer sein R a n g und seine Bedeutung in der Welt sein mögen. Sie ist gleichsam das Unterscheidungsmerkmal von Mensch und Tier, sie macht das Proprium der menschlichen Natur aus: la Raison nous dicte naturellement que plus nous nous éloignons de la manière des bêtes, plus nous nous approchons de la perfection où l'homme tend par un principe naturel pour répondre à la dignité de son être 15 ). A b e r trotz dieser Prämissen hat sich civilité nach Antoine de Courtin nach der Abstufung der gesellschaftlichen Hierarchie zu richten womit Courtin sich in seiner Zielrichtung mit der Absicht der Abhandlungen über die mondäne Höflichkeitsform trifft. Sich den R e geln der civilité zu unterwerfen, heißt für ihn „quatre circonstances" genau zu beachten: La première est de se comporter selon son âge et sa condition. La seconde, de prendre toujours garde à la qualité de la personne avec laquelle on traite. La 13 )
Vgl. u. a. A. de NERVEZE: Le Guide des Courtisans, Paris 1606; Le Courtisan français, o.O. 1611; E. DU REFUGE: Traité delà Cour, o.O. 1616. , 4 ) A. DE COURTIN: Nouveau traité de civilité... (1671), im folgenden zitiert nach der Ausgabe: Amsterdam, H. Schelte 1708, hier S. 297. 15 ) Ebd. S. 13. 19
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troisième de bien observer le temps. La quatrième de regarder le lieu où on se rencontre16).
Die zu respektierenden Manieren und Posituren hängen also untrennbar mit der sozialen Stellung der Personen ab (die von jungen Edelleuten müssen in keiner Weise identisch sein mit denen der Geistlichkeit oder der von Angehörigen des Richterstandes) und auch von den Beziehungen, die zwischen den verschiedenen Akteuren in einer gegebenen Situation bestehen. Greifen wir die Ausführungen zum Problem der Vertrautheit heraus: D'égal à égal, si l'on se connaît beaucoup, la familiarité est une bienséance; si l'on se connaît peu, elle est une incivilité, et si l'on se connaît pas du tout, elle ne saurait être qu'une légereté d'esprit. D'inférieur à supérieur, si on se connaît beaucoup ou si l'on ne se connaît que peu (à moins d'un commandement exprès) la familiarité est une effronterie, et si l'on ne se connaît point du tout, c'est une insolence et une brutalité. De supérieur à inférieur, la familiarité est toujours dans la bienséance, et elle est même obligeante pour l'inférieur qui la reçoit17).
Ihrem Grundsatz nach christlich geprägt und universal gemeint, differenziert sich civilité in ihrer Ausführung in so viele Verhaltensweisen und Abstufungen, wie denkbare Situationen und Sachlagen es erfordern. Das spricht Antoine de Courtin mit dem Begriff contenance an, worunter er „l'accord du dedans avec le dehors d'un h o m m e " und „le concert de la passion et de la personne avec la chose, le lieu et le temps" 1 8 ) versteht. Man kann feststellen, daß der Definition des ,Ehrenpunktes', der sich an die Charakterisierung von civilité anschließt, eine gleiche Spannung zwischen dem Universalen und dem Besonderen unterliegt: Voilà donc les différentes espèces du point d'honneur. Le premier, qui est le point d'honneur selon la nature, est commun à tous les hommes. Le second, qui est le point d'honneur selon la profession, est particulier à chacun de nous. Et le troisième, qui est le point d'honneur selon la Religion, est commun à tous les Chrétiens19).
Antoine de Courtin unterscheidet sieben dieser „professions" oder „emplois": den Fürsten, den Magistraten, den Kriegsmann, den K a u f m a n n , den H a n d w e r k e r und B a u e r n , die Geistlichkeit und die 16
) ) 18 ) 19 ) 17
20
Ebd. Ebd. Ebd. Ebd.
S. S. S. S.
4. 15f. 224. 272.
15
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Frauen 2 0 ), die ihr Verhalten jeweils an ihren eigenen N o r m e n auszurichten haben.
3. Spannungen der barocken ,civilité' zwischen Sein und Scheinen Konzeptualisiert entlang der Leitlinien der bestehenden Gesellschaftsordnung erhält der Begriff civilité im 17. Jh. einen zweideutigen Status. Er fließt gleichsam natürlich in das heroische Vokabular ein und kennzeichnet das den Fürsten der Tragödie eigene Verhalten. CORNEILLE, der dieses Wort mit einer gewissen Vorliebe verwendet, ist dafür ein guter Z e u g e . Civilité regelt die Formen des Verkehrs, die sich die großen Herren gegenseitig schulden: „ N e parlez pas si haut: s'il est Roi, je suis Reine/Et vers moi tout l'effort de son autorité/N'agit que par prière et par civilité" oder „ N o n , non: je vous réponds, Seigneur, de Laodice;/Mais enfin elle est R e i n e , et cette qualité/Semble exiger de nous quelque civilité" 21 ). A b e r in Abweichung von den Zivilitätstraktaten, die eine Übereinstimmung zwischen den Handlungen und den sie leitenden G e f ü h l e n postulierten, läßt die Corneillesche civilité keineswegs unbedingt den Rückschluß auf die Echtheit der bezeugten Gefühle zu. A l s weltmännische H ö f lichkeit zwischen Prinzen kann sie häufig nur Schein oder Maske sein, die täuscht oder die wahren Ansichten verbirgt. In Heraclius hat sie den Haß und Groll von Pulchérie gegenüber Phocas verhüllt: J'ai rendu jusqu'ici cette reconnaissance/A ces soins tant vantés d'élever mon enfance,/Que tant qu'on m'a laissée en quelque liberté,/J'ai voulu me défendre avec civilité/Mais puisqu'on use enfin d'un pouvoir tyrannique/Je vois bien qu'à mon tour il faut que je m'explique/Que je me montre entière à l'injuste fureur,/Et parle à mon tyran, en fille d'empereur22). In Othon, zwanzig Jahre später, ist es die gleiche Gewandtheit des U m g a n g s , die die ganz gegensätzlichen Gefühle von Camille (der Othon liebt) und von Othon (der Camille in keiner Weise zugetan ist) verdeckt: „Mais la civilité n'est qu'amour en Camille,/Comme en Othon, l'amour n'est que civilité" 23 ). Civilité bedeutet also nicht not20
) Ebd. S. 2 6 4 - 2 6 6 . ) Vgl. nacheinander die Worte von Laodice sowie von Prusias in P. CORNEILLE: Nicomède (1651), 1/2 Verse 148-150 sowie II/4 Verse 7 3 6 - 738, in ders.: Oeuvres, ed. G. COUTON (Pléiade), II, Paris 1984, S. 650 und 671. 22 ) P. CORNEILLE: Héraclius Empereur d'Orient (1647), 1/2 Verse 109 - 1 1 6 , in: ebd. S. 3 6 6 . 23 ) Worte von Flavie in P. CORNEILLE: Othon (1665), II/2 Verse 4 2 6 - 4 2 7 , in ders.: Théâtre complet, ed. M. RAT, III, Paris 1942, S. 303. 21
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wendig - wie es A n t o i n e de Courtin fordert - „l'accord du dedans avec le dehors d'un h o m m e " ( s . o . ) . A l s K o d e x der für vornehme Herren schicklichen Manieren kann sie eine äußerliche Fassung sein, die - weit davon entfernt den ganzen Menschen preiszugeben - die tiefere Wirklichkeit des Gefühls nicht merken läßt oder verkleidet. V o n diesem Umstand rührt eine mögliche Kritik des Begriffes; weil civilité die inneren Eigenschaften nicht mit absoluter Sicherheit anzeigt, wird sie im G e g e n z u g geradezu für einen mit hoher Wahrscheinlichkeit trügerischen Schein, für eine konventionalisierte H ö f lichkeit ausgegeben, die unterliegende Bosheit überdeckt. So etwa bei MOLIÈRE. In George Dandin unterstreicht die Unterweisung in der civilité, die M a d a m e de Sotenville ihrem Schwiegersohn erteilt, auf grausame Weise die gesellschaftliche Distanz, die den reich gewordenen Bauern vom landsässigen A d e l trennt: - Madame de Sotenville: Mon Dieu! notre gendre, que vous avez peu de civilité de ne pas saluer les gens quand vous les approchez! - George Dandin: Ma foi! ma belle-mère, c'est que j'ai d'autres choses en tête, et [...] - Madame de Sotenville: Encore! Est-il possible, notre gendre, que vous sachiez si peu votre monde, et qu'il n'y ait pas moyen de vous instruire de la manière qu'il faut vivre parmi les gens de qualité? - George Dandin: Comment? - Madame de Sotenville: Ne vous déférez-vous jamais avec moi de la familiarité de ce mot de „ma belle-mère", et ne sauriez-vous vous accoutumer à me dire „Madame"24). Dandin weiß nichts von den Artigkeiten, die der Niedere dem H ö h e ren schuldet - um eine Formulierung Courtins aufzugreifen - , und diese Unkenntnis der geziemenden Höflichkeitsformen ist das offensichtlichste Erkennungszeichen seines - sozialen wie kulturellen Standes. A b e r andererseits ist die civilité der Sotenvilles ganz äußerlicher Art (denn sie haben ihre Tochter an den Erstbesten verkauft, der „pouvait reboucher d'assez bons trous" in ihren Vermögensverhältnissen), sie verdeckt den Eigennutz, die Arroganz, die kümmerliche Leichtgläubigkeit. A u f einem anderen sozialen Niveau findet sich die gleiche Diskrepanz zwischen dem Anschein der Manieren und der Wahrhaftigkeit des Charakters in Le Bourgeois Gentilhomme. Für den verblendeten und gefoppten Monsieur Jourdain sind Adelsrang und A d e l der Sitten unzweifelhaft eins:
24
22
George Dandin ou le Mari confondu (1668), 1/4, in ders.: Oeuvre, ed. G. C O U T O N (Pléiade), II, Paris 1971, S. 469.
) MOLIERE:
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Que diable est-ce là! ils n'ont rien que les grands seigneurs à me reprocher; et moi, je ne vois rien de si beau que de hanter les grands seigneurs: il n'y a qu'honneur et que civilité avec eux, et je voudrais qu'il m'eût coûté deux doigts de la main, et être né comte ou marquis 25 ).
Trotzdem ist die civilité des comte Dorante nichts anderes als Maske der Lüge, des Betrugs und der Verachtung. Auch hier ist also die Nichtübereinstimmung zwischen dem Scheinen und dem Sein total. Die Zivilitätstraktate sind sich dieser möglichen Aufspaltung, die den Begriff selbst aushöhlt, bewußt. Antoine de COURTIN, widmet zum Beispiel dem Gegenteil von civilité ein ganzes Kapitel. Er sieht diesen Gegenbegriff nicht in incivilité, sondern in der fausse civilité oder der mauvaise civilité. Diese rührt von „deux extrémités ou défauts très dangereux": vom Exzeß der Gefälligkeiten und vom Exzeß peinlicher Genauigkeit. Im letzteren Fall sind die unangemessenen Befürchtungen oder der formalistische Respekt der Vorschriften „souvent la marque d'un naturel sauvage ou d'une éducation basse et mal cultivée", in jedem Fall aber stehen sie in Gegensatz zur civilité, die „doit être tout libre, toute naturelle, et nullement faconnière ou superstitieuse" 26 ). Selbst als erlernte Tugend hat civilité den Anschein der Natürlichkeit zu wahren und dient zur Unterscheidung derer, bei denen sie angeborene Eigenschaft des Charakters zu sein scheint, von den eilfertigen und linkischen Nachahmern 2 7 ). Das zweite Fehlverhalten, das zur Degenierung der civilité beiträgt, ist das Bezeigen von „complaisances aveugles et superflues". Civilité wird dann zur Schmeichelei, die mit Sicherheit auf „une âme rampante, double et intéressée" 28 ) verweist. Der Exzeß an civilité, eine übersteigerte Höflichkeit, sind also unzweifelhafte Zeichen der Niedertracht und des Eigennutzes, nicht der Rechtschaffenheit und des Respekts. Wie man sieht, versucht Antoine de Courtin die eigentliche Grundlagen der Zivilitätstraktate zu bewahren: einerseits die postulierte Entsprechung zwischen dem sichtbaren Verhalten, den Manieren und den seelischen Qualitäten (oder Lastern), andererseits die Vorstellung, daß die wahre oder angemessene civilité nicht die Maske eines schlechten Charakters sein kann. Indem er zugesteht, daß der Exzeß 25
) MOLIERE: Le Bourgeois gentilhomme
26
) COURTIN [14], S. 240f.
27
) Zur aristokratischen Gewohnheit, erworbene für eingeborene Eigenschaften auszugeben, vgl. ELIAS, II 425 - 427, sowie P. BOURDIEU: La Distinction. Critique sociale du jugement, Paris 1979, S. 380f.
28
) COURTIN [ 1 4 ] , S . 2 3 9 .
(1670), 111/14, ebd. S. 757.
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der civilité Gefahr läuft, ein Gefühl für etwas auszugeben, was es nicht ist, und dadurch zu täuschen und zu verführen, verrät Antoine de Courtin trotz allem Bemühen ersichtlich die Unsicherheit, die sich in der zweiten Jahrhunderthälfte eines Begriffes bemächtigt, dessen Sinn sehr viel weniger eindeutig und gesichert war, als die Definitionen der Wörterbücher glauben machen. Das Konzept der civilité befindet sich im Mittelpunkt der Spannung zwischen Sein und Scheinen, die die Gefühlswelt und die Etikette des Barocks kennzeichnet 29 ). Anders als die Vertreter einer Position, die in den äußeren Verhaltensweisen die genaue und bindende Übersetzung natürlicher Anlagen des Menschen erkennen, versteht sich civilité im 17. Jh. vor allem als ein gesellschaftliches Erscheinen. Jeder soll das wirklich sein, was er zu sein scheint, und auf diese Weise sein moralisches Sein dem Anschein anpassen, den seine Stellung in der Welt erfordert. Daher rührt eine doppelte Gefahr, die diese instabile Entsprechung bedroht: sei es, daß das Individuum sich nicht entsprechend seines Ranges und nach den Erfordernissen der Umstände verhält - was Antoine de Courtin mit einem Neologismus als décontenance30) bezeichnet - , sei es, daß seine Gefühle nicht dem Verhalten entsprechen, das er an den Tag legt. Civilité verwandelt sich dann in einen falschen Schein, aus einem wahrheitsgetreuen Widerschein wird eine heuchlerische Maske. Selbst für die Traktate fragwürdig, die sie zu bestimmen trachten, ist civilité auch Gegenstand radikaler Kritiken, die ihre Grundlagen erschüttern. So ist das menschliche Herz für P A S C A L immer lügnerisch und die Seele immer wankelmütig: L'homme n'est donc que déguisement, que mensonge et hypocrisie, et en soimême et à l'égard des autres. Il ne veut donc pas qu'on lui dise la vérité. Il évite de la dire aux autres; et toutes ces dispositions, si éloignées de la justice et de la raison, ont une racine naturelle dans le cœur 31 ).
Wie alle mondänen Verhaltensweisen schmückt sich civilité mit der Maske geziemender Höflichkeit, die nichts anderes ist als Falschheit und Schwindel. Dadurch wird ihre erste Voraussetzung unterminiert, die Gleichklang von äußerem Anstand und Wahrhaftigkeit des Gefühls unterstellt. 29
) P.
30
) COURTIN [ 1 4 ] , S . 2 3 0 .
31
) B. PASCAL: Pensées (um 1670), ed. C.-M. S. 104, Nr. 100 (der Zählung Brunschwicg).
24
BEAUSSANT:
Versailles, Opéra, Paris
1981, 2 2 - 2 8 . DES GRANGE,
Paris 1961,
19
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Andererseits können die Manieren nicht die natürlichen Wesenszüge widerspiegeln, denn diese sind ihrer Natur nach immer wechselhaft und schwankend: Les choses ont diverses qualités, et l'âme diverses inclinations, car rien n'est simple de ce qui s'offre à l'âme, et l'âme ne s'offre j amais simple à aucun sujet. D e là vient qu'on pleure et qu'on rit d'une m ê m e chose 3 2 ).
Diese Instabilität des Menschen - ein Anzeichen für sein Elend zerstört das andere Requisit der civilité, das darin besteht, in der Welt die Beständigkeit eines guten Charakters aufscheinen zu lassen. Civilité kann bestenfalls nichts anderes sein als eine Gewohnheit, die wie andere Gebräuche - „ne doit être suivie que parce qu'elle est coutume, et non parce qu'elle est raisonnable ou juste" 33 ). 4. Rechristianisierung der weltlichen ,civilité' bei Jean-Baptiste de La Salle (1703) Mit erkennbarem Wissen um die Krise, die der civilité-Bcgniî durchlief, ließ Jean-Baptiste de L A SALLE 1703 in Reims sein Werk mit dem Titel Les Réglés de la Bienséance et de la Civilité chrétienne divisés en deux parties à l'usage des écoles chrétiennes34) erscheinen. Das Vorwort macht unmißverständlich klar, daß man zu unterscheiden hat zwischen einer civilité „purement mondaine et presque paienne" und jener, die als christlich bezeichnet werden kann. Die erste gründet sich auf „l'esprit du monde" und ist von nichts anderem getragen als der Sorge um das weltliche Ansehen, sie zielt auf die Erreichung einer rein äußerlichen Wertschätzung, indem sie die Lächerlichkeit unschicklicher Verhaltensformen zu vermeiden sucht. La Salle lehnt diese weltmännische Höflichkeit ebenso ab wie ihre Begründungen, wie sie in den Traktaten des späten 17. Jhs. vorgetragen worden waren, etwa in dem von Ortigue de Vaumorière L'art de plaire dans la conversation (Paris 1688) oder in der von der Öffentlichkeit mit großem Erfolg aufgenommenen Behandlung durch Abbé Morvan de Bellegarde in Réflexion sur ce qui peut plaire ou déplaire dans le commerce du monde (Paris 1688) und in Réflexions sur le ridicule et sur les moyens de l'éviter (Paris 1696). Aber gegen den Radikalismus eines 32
) Pensée Nr. 112, ebd. S. 106. ) Pensée Nr. 325, ebd. S. 158. 34 ) Hier zitierte Ausgabe: Les Règles de la bienséance et de la civilité chrétienne. Reproduction anastatique de l'édition de 1703, R o m e [ca. 1965] ( = Cahiers Lasalliens 19). 33
25
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20
Pascal erkennt La Salle civilité einen Wert zu, der nicht nur an Erwägungen der Schicklichkeit ausgerichtet ist, vorausgesetzt sie gründet im „l'esprit de l'Evangile". Dann ist sie eine Form, Gott Ehrfurcht zu bezeugen, denn eine bescheidene und sittsame Art des Auftretens zu bewahren, heißt seine immerwährende Gegenwart anzuerkennen, geziemend und ehrbar mit anderen umzugehen, bedeutet Ehre zu erweisen „à des membres de Jésus-Christ et des Temples vivants, animés du Saint Esprit". Civilité ist also, alles in allem genommen, Rechtschaffenheit und Pietät und betrifft „la gloire de Dieu et le salut" ebenso wie den gesellschaftlichen Anstand. Wie für seine Vorgänger fußt auch für La Salle der Begriff auf einer engen Beziehung zwischen dem Benehmen und dem dadurch manifestierten Wesen eines Menschen. Ganz in erasmischer Orthodoxie wird das Gebahren (l'air) als sicherer Indikator für Charakter und Gesinnung (l'esprit) aufgefaßt: „On connaît souvent, dit le Sage, par ce qui paraît sur les yeux, ce qu'une personne a dans le fond de son âme, et quelle est sa bonté ou sa mauvaise disposition" 35 ). Aber die civilité chrétienne, die christlich geprägte Form der menschlichen Lebensführung, legt eine weitere, fundamentalere Beziehung offen: jene, die aus der Kreatur ein Abbild des Schöpfers macht und die damit die Achtung, die der Mensch sich und anderen schuldet, identifiziert mit der Ehrerbietung gegenüber der Gegenwart Gottes in jedem seiner Geschöpfe. Aus diesem Sachverhalt leitet sich die Forderung ab, daß alles menschliche Betragen, in gewisserWeise und trotz aller naturgegebener Fehlbarkeit des Menschen, Widerschein der ewigen Güte des immerwährenden Gottes zu sein hat: Comme le Chrétien est d'une naissance élevée, parce qu'il appartient à JésusChrist, et qu'il est enfant de Dieu, qui est le souverain Etre, il ne doit rien avoir ni rien faire remarquer de bas dans son extérieur, et tout y doit avoir un certain air d'élévation et de grandeur, qui ait quelque rapport à la puissance et à la majesté du Dieu qu'il sert et qui lui a donné l'être ).
Civilité offenbart und ehrt die göttliche Vollkommenheit, von der jeder Mensch Zeugnis ablegt: Comme nous devons considérer nos corps que comme des temples vivants, où Dieu veut être adoré en esprit et en vérité, et des tabernacles que JésusChrist s'est choisi pour sa demeure, nous devons aussi dans la vue de ces belles qualités qu'ils possèdent, leur porter beaucoup de respect; et c'est cette consi35
) LA SALLE: Règles
36
) Ebd. S. 3.
26
[34], S. 16.
21
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dération qui nous doit particulièrement engager à ne les toucher, et à ne les pas même regarder sans une nécessité indispensable 37 ). J. B . de La Salle greift diesen Vergleich erneut auf, als er auf die Notwendigkeit sauberer Kleidung zu sprechen kommt: La négligence dans les habits est une marque ou qu'on ne fait pas attention à la présence de Dieu, ou qu'on n'a pas assez de respect pour lui; elle fait aussi connaître qu'on n'a pas de respect pour son propre corps, qu'on doit cependant honorer comme le Temple animé du Saint-Esprit et le Tabernacle où Jésus-Christ a la bonté de vouloir bien se reposer souvent 38 ). Obwohl sie auf neuartige W e i s e in „motifs purement chrétiens" wurzelt, also im Ansatz universal gemeint ist, sieht die lasalle'sche civi/îfé-Konzeption keineswegs von jenen sozialen Unterscheidungen ab, die in den Zivilitätstraktaten die wünschenswerten Verhaltensweisen bestimmt hatten, sie sind hier vielmehr besonders rigoros beachtet. A l s Beispiel sei die Definition der christlichen Schicklichkeit herausgegriffen, wie sie sich im Vorwort findet: D e r erste Teil setzt zwar unübersehbar Auftreten in der Welt gleich mit christlicher Tugend, aber der Schluß bringt eine deutliche Akzentverschiebung: La Bienséance chrétienne est donc une conduite sage et reglée que l'on fait paraître dans ses discours et dans ses actions extérieures par un sentiment de modestie, ou de respect, ou d'union et de charité à l'égard du prochain [...] faisant attention au temps, aux lieux et aux personnes avec qui l'on converse, et c'est cette Bienséance qui regarde le prochain, qui se nomme proprement Civilité39). D i e s e Definition nimmt also fast wörtlich die „circonstances" v o n A n t o i n e de Courtin auf und weist enge Berührungspunkte mit anderen, nicht e b e n besonders christlichen Traktaten zu diesem T h e m a auf. Man vergleiche nur die Formulierungen einer 1689 in Amsterdam erschienenen Abhandlung: Qu'est-ce que la civilité? - c'est une manière honnête de vivre les uns avec les autres, par laquelle nous rendons avec agrément à un chacun dans les temps et dans les lieux ce qui lui est dû selon son âge, sa condition, son mérite et sa réputation 40 ).
37
) ) 39 ) 40 ) 38
Ebd. S. 43. Ebd. S. 61 f. Ebenda. De l'Education de la jeunesse où l'on donne la manière de l'instruire dans la civilité comme on la pratique en France, Amsterdam, A. Wolfgang 1689, S. 5. 27
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Und in der Tat respektiert La Salle außerordentlich genau die sozialen Unterschiede, die das gesellschaftliche Agieren regulieren. Die äußere Erscheinung hat nicht nur auf den göttlichen Erbteil des Menschen und seine charakterlichen Werte zu verweisen, sondern auch seinen sozialen Rang zu markieren: Il n'est pas moins de conséquence, que la personne qui se fait faire un habit, ait égard à sa condition ; car il ne serait pas séant qu'un pauvre fut vêtu comme un riche, et qu'un roturier voulût être habillé comme une personne de qualité 41 ).
Und im zweiten Teil seines Buches sind es darum auch in jeder der untersuchten „actions communes et ordinaires", bei Tisch wie auf dem Spaziergang, bei Besuchen wie auf der Reise, eben die gesellschaftlichen Rangunterschiede zwischen den Personen, die ihr Verhalten dirigieren. Wenn die Regeln La Salles in erster Linie sicher darauf angelegt sind, eine Sittsamkeit zu lehren, die übereinstimmt mit dem göttlichen Gebot, und eine Wohlerzogenheit, die aus Nächstenliebe und Wahrhaftigkeit erwächst, so bieten sie doch ganz zweifellos eine Lehre von der Ordnung der Welt, einer Welt, in der die Gebärden der civilité in aller Deutlichkeit die sozialen Beziehungen widerspiegeln sollen. Es genügt daher nicht, sich allein in Übereinstimmung mit seiner gesellschaftlichen Stellung zu verhalten, sondern man hat in jeder Situation den jeweiligen Rang der beteiligten Personen zu berücksichtigen, damit dem gesellschaftlichen Abstand zwischen ihnen die gebührende Beachtung geschenkt werden kann. Der Traktat von La Salle markiert eine wesentliche Etappe in der Entwicklungsgeschichte des Zivilitätskonzepts. Ausdrücklich zum schulischen Gebrauch bestimmt, für den Unterricht der Frères des Ecoles chrétiennes (wo sie die Phase des Lesenlernens krönten), aber auch für andere Schulen, die deren Pädagogik nachahmten, im Laufe des 18. Jhs. häufig wiederaufgelegt 42 ) waren die Règles La Salles zweifellos einer der wirksamsten Multiplikatoren für die Einbürgerung von Verhaltensmustern aus dem Elitenmilieu in den Grundschichten der Gesellschaft 43 ). Während sie die Grundlagen von civilité christianisierten, verkündeten sie gebieterisch und Gehorsam for41
) LA SALLE: Règles
42
) Schon allein in den Sammlungen der B N und der Maison généralice de l'Institut des Frères des Ecoles Chrétiennes/Paris finden sich 20 Ausgaben des La Salle-Textes mit Erscheinungsjahren von 1703 bis 1789.
43
) ELIAS, 1 1 3 6 .
28
[34], S. 60.
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23
dernd einem - ebenso zahlreichen wie sozial breitgefächertem44) kindlichen Publikum Normen eines gewandelten Verhaltens. Erstes Ziel war eine Zügelung dessen, was La Salle mehrfach die „sensualité" nennt, es ging folglich darum, der breiten Masse ein Meistern der Emotionen und eine ,Zensur' des Gefühlshaushalts aufzuerlegen. Mit einem solchen Verständnis entfernt sich civilité vom aristokratischen Brauch, der den Begriff auf den Ausdruck von Normen eines gesellschaftlichen Auftretens festlegte. Er konstituiert sich neu als dauerndes und allgemeingültiges Regulativ aller - selbst der geheimsten und allen Blicken entzogenen Verhaltensformen. Die Differenzen dieser Bedeutungsvarianten verweisen erkennbar auf den dauerhaften Gegensatz zwischen der Eleganz eines Mannes von Welt, die allein im Urteil der Standesgenossen Bestätigung findet, und einer Ethik, die - von Pädagogen aus bürgerlichen Schichten ausgearbeitet und in der breiten Bevölkerung verbreitet - auf die Internalisierung einer allmächtigen Selbstdisziplin abzielt, die selbst in der Einsamkeit und im Alleinsein nichts von ihrer verbindlichen Kraft einbüßt.
III. Konkurrierende Modelle der,civilité' im 18. Jahrhundert 1. Abwertung der, civilité' zur Kunst des gesellschaftlichen Umgangs und ihre Popularisierung Im 18. Jh. erlebte der Zivilitätsbegriff eine zweifache und eigentlich gegenläufige Entwicklung. Getragen von der Fürsorgeschule und massenhaft verbreiteten Sittenspiegel-Heftchen drangen diese Vorstellungen in immer weitere Bevölkerungskreise, wo sie sowohl Umgangsformen als auch das Wissen um den eigenen Standort in der Gesellschaft einschärften. Zur gleichen Zeit wurde civilité in der Literatur der Eliten kritisiert, abgewertet und als Leitbild entkräftet. Ein doppelter Prozeß ließ die Elite darum in dem Maß Abstand von ihren traditionellen Erkennungszeichen sozialen Herausgehobenseins nehmen, wie ihre Popularisierung diese Verhaltensformen in anderen Schichten Wurzeln schlagen ließ45). Bei dieser Verbreitung spielten 44
) Zur Verbreitung und sehr volksnahen Schülerstruktur der Ecoles de
45
) ELIAS, 1 1 3 5 .
c h a r i t é v g l . CHARTIER/COMPERE/JULIA,
77-84.
29
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24
die Traktate über civilité, die von den Verlegern in Troyes gedruckt wurden, eine entscheidende Rolle 46 ). Nach den Ausgaben von Girardon im Jahr 1600 und von Nicolas II Oudot im Jahr 1649, erhielt die Broschüre ihre endgültige Form am Beginn des 18. Jhs., indem sie den Text eines Büchleins, das am 2. Juni 1714 die Approbation erhielt, und mit einer Rechtschreibungsfibel, approbiert am 17. Oktober 1705, verschmolz. Unter dem Deckmantel dieser Approbationen wurden verschiedene Druckgenehmigungen erteilt: an die Witwe von Jacques Oudot im September 1714, an Etienne Garnier im Juni 1729, an Jean IV Oudot im Juni 1735, an Pierre Garnier im Mai 1736 (diese Genehmigung zog ein halbes Dutzend von Ausgaben seiner Witwe und seines Sohnes Jean nach sich). All diese Drucke tragen den selben Titel: La civilité puérile et honnête pour l'instruction des Enfants. En laquelle est mise au commencement la manière d'apprendre à bien lire, prononcer et écrire, de nouveau corrigée et augmentée à la fin d'un très beau Traité pour bien apprendre l'orthographe. Dressée par un Missionaire. Ensemble les beaux préceptes et enseignements pour instruire la Jeunesse à se bien conduire dans toutes sortes de Compagnies. Man findet nur eine leichte Abweichung: Während in den Ausgaben von Qudot civilité als „puérile et honnête" qualifiziert ist, erhält sie bei den Garnier-Editionen nur den Zusatz „honnête". Die Ausgaben des beginnenden 19. Jhs. von Sainton 1810, von der Witwe André 1822,1827 und 1831, oder von Baudot, nehmen diesen Titel fast wortwörtlich wieder auf. Die Civilité honnête in einer der Ausgaben der Witwe Garnier mag als exemplarisches Beispiel dieser Gattung dienen 47 ). Der Begriff ist hier eindeutig religiös besetzt. Einerseits dienen die einen Zwang ausübenden Regeln der Zivilität zur Besserung - soweit irgend möglich - der sündhaften Natur des Menschen: L'Education de la Jeunesse est assurément de la dernière conséquence depuis la corruption de notre nature per la péché de notre premier Père. L'homme est si misérable qu'il ne produit rien en lui que de mauvais: ainsi ce n'est pas assez de n'apprendre rien de mal aux Enfants, ou de ne leur point montrer de mauvais exemple, pour les rendre bons; il faut déraciner en eux ce qui ne vaut rien 48 ). 46
) So enthielt das Lager von Garnier d . Ä . 1781 über 3500 verkaufsbereite Exemplare der Civilité puérile et honnête „en feuilles et non assemblées" oder im Druck befindlich (Archives départementales de l'Aube 2 E , 3. Januar 1781).
47
) V o r h a n d e n i n d e r B N : R 3 1 . 7 8 4 (MORIN [ 1 1 ] , N r . 1 2 7 ) .
48
) La Civilité puérile et honnête...
30
[47], S. 5.
25
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Andererseits erscheint civilité - wie bei L a Salle - als eine christliche Tugend, und nicht als mondäne Attitüde: La lecture de ce livre ne vous sera pas inutile, mes chers Enfants, elle vous apprendra ce que vous devez à Dieu, au moins quant à vos actions extérieures, et elle vous instruira de la manière en laquelle vous devez vous comportez à l'égard de votre prochain, pour lui rendre tous les devoirs de civilité à quoi la Charité Chrétienne vous oblige49). Nach dieser Art der Definition hängt der Erwerb der civilité von einer zweigleisig verfahrenden Pädagogik ab: von der elterlichen Erziehung („Ainsi, Pères et mères, vous voyez l'obligation indispensable que vous avez de prendre un très grand soin de vos Enfants: [ . . . ] faites-leur apprendre les règles de la bienséance, et faites-les leur pratiquer") und von der Nachahmung des vorgelebten Beispiels („Remarquez néanmoins, mes chers Enfants, que le chemin le plus court pour devenir honnête homme c'est de hanter les honnêtes gens, et de prendre garde à leurs manières d'agir, parce que les exemples ont beaucoup plus de force sur nos esprits que les paroles" 5 0 ). Indem er dazu führt, das rechte Verhalten einzuprägen, zu erkennen und nachzuahmen, lehrt der in Troyes entstandene civilité-Traktat, der wie die anderen Titel der Bibliothèque bleue in zehntausenden von Exemplaren Verbreitung fand, sowohl sich ohne Anstoß zu erregen zu benehmen als auch den eigenen Standort in der gesellschaftlichen Hierarchie zu erkennen. Von der Ausgabe von Nicolas II Oudot im Jahr 1649 bis zu den Editionen des 18. Jhs. zeichnet sich eine inhaltliche Ausrichtung ab, die die Bedeutung der sozialen Unterschiede für die Festlegung des zulässigen und wünschenswerten Verhaltens akzentuiert. In der Mitte des 17. Jhs. folgt die Troyesche Version der civilité dem erasmischen Modell, dessen planmäßiges Vorgehen getreu kopiert wird: nacheinander behandelt werden Haltung und Kleidung, das Benehmen beim Kirchgang, die Mahlzeiten, Begegnungen und Gespräche, das Spiel, das Zubettgehen. Ein Jahrhundert später öffnet sich das Heftchen in seiner Anleitung auch den beiden für grundlegend erachteten Pflichten: gegenüber Gott und gegenüber den Höhergestellten: Väter und Mütter, Meister und Meisterinnen, Angehörige der Geistlichkeit und „personnes constituées en dignité". Wiederholt moduliert der Text seine Anweisungen gemäß der sozialen Stellung der Protagonisten: „Les fautes contre 49 50
) Ebd. S. 3. ) Ebd. nacheinander S. 6 und 4. 31
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l'honnêteté sont d'autant plus grandes que les personnes que vous offensez sont considérables ou qu'elles vous touchent de plus près" oder „Prenez garde aux personnes avec qui vous conversez: ayez égard de savoir leurs conditions et étudiez leurs humeurs" ; oder in einem neu aufgenommenen Kapitel: „La manière de qualifier les personnes à qui l'on parle, et de souscrire aux lettres". In seiner volkstümlichen Version betont civilité also nachdrücklich die sozialen Rangunterschiede, die immer vorschriftsmäßig zu dechiffrieren sind und die es genau zu beachten gilt. Sie weiht damit die kleinen Leute in jenen Verhaltenskodex ein, der seit dem Beginn des 17. Jhs. die sozialen Standesunterschiede und Herrschaftsbeziehungen zum Ausdruck gebracht hatte 51 ) und der bei richtiger Ausdeutung und Anwendung jedem dem ihm zukommenden Platz anwies. Während civilité durch die Kolportageliteratur unter das Volk gebracht wird, erlebt der Begriff im Milieu der Eliten eine Abwertung. Seine Bedeutung schrumpft gleichsam auffällig ein und umfaßt nurmehr das unerläßliche weltmännische Auftreten bei geselligen Zusammenkünften, Besuchen und Gesprächen. In seinen Synonymes français bestimmt sie Gabriel Girard geradezu durch die Situation der Begegnung („Nous sommes civils par les honneurs que nous rendons à ceux qui se trouvent à notre rencontre"), auf diese Weise scheidet er sie von der honnêteté, die die Beachtung der Regeln gesellschaftlichen Lebens meint, und der politesse, die die normalen Beziehungen mit nahestehenden Menschen bestimmen soll 52 ). Tatsächlich verweist dann auch der „übliche Gebrauch des Wortes civilité auf die geforderte Ehrerbietung zwischen nicht miteinander vertrauten Personen, die die Konventionen des gesellschaftlichen Umgangs respektieren. In ernsthafter Weise hebt darauf eine Eintragung im Tagebuch von Buvat ab: Cet ambassadeur turc fut logé avec sa suite à l'hôtel des ambassadeurs extraordinaires en la rue de Tournon, où après avoir été conduit dans l'appartement qui lui était destiné, il reconduisit M. le Maréchal d'Estrée jusqu'à son carosse, en quoi il observa la même civilité qui se pratique en France entre les seigneurs de distinction 53 ).
Ins Ironische zieht Collé den Begriff in einer Tagebuchnotiz: On dit que, ces jours derniers, un officier fut attaqué, en revenant de souper, par un homme en robe de chambre, avec un pistolet à la main. Ne pouvant ré51 52
) Zur Funktion der civilité in Politik und Hofetikette vgl.
) GIRARD ( e d . 1740), S. 221 f. 53 ) BUVAT, II 221f. (16. I I I . 1721).
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sister à cette civilité pressante, l'officier donne son épée, sa tabatière et sa montre 54 ).
Das ganze Jahrhundert hindurch versteht man unter civilité - solange sie als positiver Wert angesprochen ist - eine „vertu de société", die den gesellschaftlichen Verkehr zwischen den Menschen angenehm gestalten soll. Im Dictionnaire philosophique von Chicaneau de Neuville findet sich folgende Definition: „Elle consiste dans les égards mutuels, que l'usage et la différence des rangs et des conditions a établis. La civilité est aussi la démonstration de nos sentiments, obligeants pour nos semblables, par nos gestes et par notre maintien" 55 ). Fünfzehn Jahre später nuanciert Père Joly diese Sichtweite ein wenig: La civilité est une aisance ou bonne grâce avec laquelle nous recevons ceux qui viennent à nous, et nous nous approchons des personnes avec qui nous voulons converser. Cette vertu fait prendre une contenance agréable et modeste, sans fierté et sans affectation. Ceux qui se piquent d'être civils saluent gracieusement ceux qui les abordent, leur montrent un visage serein, leur répondent avec beaucoup de douceur, et leur parlent d'un air affable, évitant les réparties, aigres ou dures, et par là ils attirent la confiance de tout le monde 56 ).
Auf diese Weise von jeder Beziehung zu den Charaktereigenschaften oder gar dem göttlichen Erbteil des Menschen gelöst (die noch La Salle im Auge hatte), erscheint civilité als eine einfache Tugend des Salonlebens, Voraussetzung eines vergnüglichen Gesellschaftslebens, da von der Zugänglichkeit und Liebenswürdigkeit jedes einzelnen das Wohlbehagen aller abhängt. Auf der Ebene dieser Minimalbedeutung verschmilzt civilité mit der Geduld gegenüber dem anderen, wie sie für die Erträglichkeit zwischenmenschlicher Kontakte unerläßlich ist: „Supportons-nous mutuellement; et c'est en cela que consiste la vraie civilité", lautet der bezeichnende Schluß der Ausführungen des Père Joly. Mit der Einengung des Begriffes auf die für das gesellige Leben, für die Begegnung und das Gespräch unentbehrlichen verbindlichen Umgangsformen geht eine weitgehende Abwertung einher. Der Artikel des Dictionnaire de Trévoux - dessen Text in den Ausgaben von 1723 und 1740 nicht voneinander abweicht - ist dafür ein sprechender Beleg. Auf den ersten Blick ist die Definition ausgesprochen konven54
) COLLE, 1 1 1 7 ( J a n u a r 1 7 5 0 ) .
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) CHICANEAU DE NEUVILLE ( 1 7 5 6 ) , S. 4 5 . ) JOLY: Dictionnaire ( 1 7 7 1 ) , I 147.
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tionell, sie bestimmt civilité als „une manière honnête, douce et polie d'agir, de converser ensemble" 57 ). Diese Formulierungen stimmen überein mit den Angaben der Lexika vom Ende des vorhergehenden Jahrhunderts und werden sich erneut in der Ausgabe des Dictionnaire de l'Académie von 1762 finden 58 ). Dennoch zeigt die Durchsicht der 12 aufgeführten Zitatbeispiele, daß sich der Begriff nicht auf diesen ersten - ebenso positiven wie normativen - Bedeutungsstrang reduzieren läßt, der auf die Festschreibung eines neutralisierten Sinngehalts hinausläuft. In zwei dieser zitierten Texte wird der Exzeß der civilité kritisiert, den man als Belästigung empfindet oder der aufdringliche Menschen geradezu anzulocken scheint. In sieben weiteren Verwendungsbeispielen ist es die vorherrschende Konzeption von civilité selbst, die in ihren Grundlagen untergraben wird. Sie erscheint in der Tat nicht mehr wie der getreue Widerschein einer natürlichen Freundlichkeit, sondern sie scheint geleitet von der Sorge um den gesellschaftlichen Ruf („La civilité n'est bien souvent qu'une envie de passer pour poli, et une crainte d'être regardé comme un homme sauvage et grossier", Abbé Esprit), vom Wunsch nach wechselseitigen Aufmerksamkeiten („La civilité est un désir d'en recevoir, et d'être estimé poli en certaines occasions", La Rochefoucauld) vom Verfolgen eigennütziger Interessen („II est assez difficile de distinguer la flatterie d'avec la civilité, et la politesse du monde", Scudéry) oder zumindest vom Streben nach der Nutznießung einer übergeordneten Stellung („Ceux qui sont élévés dans les premiers rangs doivent s'abaisser en quelque manière par leurs civilité, pour jouir de leur prééminence", Malebranche). „Passer pour", „etre regardé comme" „être estimé" - aus dieser Wortwahl wird deutlich, daß civilité nicht (oder nicht mehr) die Weihe der Wahrhaftigkeit ziert, sondern daß sie das Gewand der Reputation angelegt hat. Sie legt nicht aus sich heraus das innere Persönlichkeitsprofil offen, sondern wird bestimmt durch die Beachtung und das Urteil des Gegenüber. Dessen Urteilsvermögen ist jedoch nicht ohne Mängel und Unsicherheiten und läßt sich durch die Maske der Umgangsformen leicht täuschen: La civilité est un certain jargon que les hommes ont établi pour cacher les mauvais sentiments qu'ils ont les uns pour les autres (Saint-Evremond), La civilité n'est autre chose qu'un commerce continuel de mensonges ingénieux
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) Diet. Trévoux ( 4 1740, ed. 1743), II 155f. ) Diet. Acad. ("1762, ed. 1777), 1205.
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pour se tromper mutuellement (Fléchier), Combien de haines secrètes ne couvre-t-on pas sous les apparences de civilité affectées? (Fléchier)59). N u r drei Beispielsätze w e i c h e n v o n dieser a b g e w e r t e t e n B e d e u t u n g e i n e r e i g e n n ü t z i g e n , schmeichlerischen u n d scheinheiligen civilité a b , u n d von diesen b e w a h r t n u r d e r e r s t e - d e r zugleich auch d e r veraltetste ist - ein wenig v o n d e r u r s p r ü n g l i c h e n , positiven T ö n u n g d e s Begriffs: „ L a civilité est c o m m e la b e a u t é ; elle c o m m e n c e , et elle fait les p r e m i e r s n œ u d s d e la société" ( M o n t a i g n e ) . D i e b e i d e n a n d e r e n Z i t a t e d o k u m e n t i e r e n n u r d e n a b g e s c h w ä c h t e n Sinn, d e r B e a c h t u n g der civilité u n d A n n e h m l i c h k e i t d e s gesellschaftlichen K o n t a k t s angleicht: „ L a civilité a a u g m e n t é p a r m i n o u s à m e s u r e q u e la politesse s'y est i n t r o d u i t e " ( d e Callières), „ L e véritable esprit d u m o n d e a t r o u v é l'art d ' i n t r o d u i r e u n e c e r t a i n e civilité f a m i l i è r e , qui r e n d la société a g r é a b l e et c o m m o d e " ( S a i n t - E v r e m o n d ) . I n d e m sie d e r einleitend g e g e b e n e n D e f i n i t i o n w i d e r s p r e c h e n , b e l e g e n die von d e r jesuitischen R e d a k t i o n d e s Dictionnaire de Trévoux a n g e f ü h r t e n Beispiele in i h r e r M e h r h e i t die D i s k r e d i t i e r u n g eines B e g r i f f e s , d e r f ü r sie seine e t h i s c h e n W u r z e l n u n d seine religiöse G a r a n t i e f u n k t i o n verl o r e n h a t . Sein u n d Scheinen sind völlig a u s e i n a n d e r g e t r e t e n , u n d die G l e i c h s e t z u n g d e r civilité mit e i n e r H ö f l i c h k e i t , die k e i n e E c h t h e i t d e s G e f ü h l s v e r l a n g t , s a n k t i o n i e r t diesen h i n g e n o m m e n e n B r u c h . 2. Aufklärerische Versuche einer Aufwertung der,civilité' zur sozialen Ethik in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts D e r E n z y k l o p ä d i e - A r t i k e l „Civilité, Politesse, A f f a b i l i t é " aus d e r F e d e r d e s Chevalier d e J a u c o u r t v e r z e i c h n e t diese A b w e r t u n g u n d V e r a r m u n g d e s B e g r i f f e s s e h r wohl 6 0 ). Civilité ist d o r t n u r m e h r e i n e „ p o r t i o n " d e r H ö f l i c h k e i t (politesse), g e k e n n z e i c h n e t d u r c h ausschließlich negative B e w e g g r ü n d e (die A n g s t , f ü r e i n e n Flegel gehalt e n zu w e r d e n ) u n d d u r c h die soziale Stellung d e r j e n i g e n , die sich d a r a n a u s r i c h t e n o d e r d a r a n ausrichten m ü s s e n („le plus g r a n d n o m b r e " , „les p e r s o n n e s d ' u n e c o n d i t i o n i n f é r i e u r e " im G e g e n s a t z zu d e n „gens d e la c o u r " ) . Civilité b e z e i c h n e t also die niedrigste S t u f e v o n zwei parallel v e r l a u f e n d e n H i e r a r c h i e n : die d e r S t ä n d e u n d die d e r M a n i e r e n . J a u c o u r t a r b e i t e t deutlich d e n z w e i f a c h e n P r o z e ß d e r Popularisierung und der Abwertung heraus, der den Gebrauch des B e g r i f f e s modifiziert h a t : die V o r s t e l l u n g v o n civilité, mit d e r e n be59
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) Vorausgehende und folgende Zitate wie Anm. 57. Enc., III (1753), S. 497. 35
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klemmendem und beherrschendem Geflecht von Vorschriften und Verboten hat sich in immer breiteren Bevölkerungsschichten durchgesetzt; durch diesen Vorgang verlor sie aber gerade für „les gens du monde" ihren sozial auszeichnenden Wert. Diese ehemalige Trägergruppe wandte sich von ihr ab, verwarf ihre bedrückenden Formalismen und entwickelte einen neuen, freieren Verhaltenskodex, den man als,Höflichkeit' bezeichnete. Die Enzyklopädie macht durchaus aktenkundig, daß civilité der breiten Masse gleichsam eingetrichtert wurde und daß sie zu einer prägenden Norm für das Verhalten der Grundschichten geworden war. Sie stellt fest, daß diese soziale Entwertung, die ihren Ausdruck in der Kritik an den überflüssigen und ermüdenden Formalitäten findet, die besseren Kreise der Gesellschaft veranlaßt hat, ein anderes Modell gesellschaftlichen Miteinanderumgehens zu entwerfen, dessen spontaner Charakter besser übereinstimmt mit der aristokratischen Wertschätzung natürlicher', und damit eben gerade nicht einstudierter Manieren. Im Text Jaucourts verbindet sich das Protokoll der gesellschaftlichen Laufbahn des Begriffes mit einer allgemeineren Aussage über die weit verbreitete Heuchelei, die in gleicher Weise civilité und politesse verderbe: „Sans émaner nécessairement du cœur, elles en donnent les apparences, et font paraître l'homme au-dehors comme il devrait être intérieurement". Dennoch kann das Konzept - wenn man es umgestaltet und neuformuliert - diese Festlegung auf die Welt des trügerischen Scheins und des usurpierten öffentlichen Ansehens durchbrechen. Zwei Bedingungen definieren civilité „prise dans le sens qu'on doit lui donner", wobei dieser ,erwünschte Sinn' nicht der vorherrschenden Verwendung der Zeit entspricht: Die erste verlangt, daß die Respektbezeugungen und die Achtung, die man dem anderen zollt, in der Wahrhaftigkeit des inneren Gefühls wurzeln; die zweite, die weniger traditionell und direkt aus dem Esprit des Lois übernommen ist (Buch XIX, Kapitel 16), fordert, die Verpflichtungen der civilité als sichtbaren Ausfluß der gegenseitigen Abhängigkeit zu betrachten, die die Menschen untereinander verbindet. Jaucourt folgt dem Text Montesquieus und beschließt seinen Artikel mit dem Verweis auf China, das deshalb als Beispiel einschlägig und anziehend ist, weil dort civilité das grundlegende soziale Band liefert, durch den Gesetzgeber geregelt und der Bevölkerung auferlegt. Diese Beschwörung eines Staates, in dem die Gesetze, die Sitten und die Manieren in einem umfassenden Kodex verschmolzen sind, liefert die radikalste Formel zum Überdenken des Zivilitätskonzepts, 36
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das so dem ursprünglichen - gemeinschaftlichen und politischen Sinn, der Idee der civilitas, angenähert wird. Tatsächlich gehen denn auch die Versuche, dem so sehr kritisierten Begriff wieder bindende Gültigkeit zu verschaffen, von den beiden in dem Enzyklopädie-Artikel namhaft gemachten Forderungen aus. So bezieht sich zum Beispiel F. Toussaint auf die allgemein gewordene Kritik an der Scheinheiligkeit der civilité, um die Haltlosigkeit dieser Argumentationsrichtung zu demonstrieren: En vain les Rustres et les Cyniques déclament-ils contre la civilité; en vain la traitent-ils de commerce faux et imposteur, qui ne sert qu'à masquer les véritables sentiments: qu'ils aient en effet dans le cœur, comme ils doivent, l'affection dont les gens bien nés se donnent des marques réciproques; et leur civilité ne sera point une imposture61). Die Feststellung, daß nicht immer Übereinstimmung zwischen den Gefühlen und den Manieren herrscht, darf nicht dazu verleiten, civilité für ein „assortiment" künstlicher Grimassen zu halten 6 2 ), sondern legitimiert im Gegenteil geradezu deren Notwendigkeit, weil „affecter au dehors des dispositions vertueuses, c'est confesser qu'on devrait les avoir dans le cœur". Allerdings steht für Toussaint nicht in Zweifel, daß die Regeln der civilité „un cérémonial de convention" bilden, eine Gesamtheit willkürlicher Zeichen, die von Nation zu Nation durchaus verschieden sind und in keiner Weise auf Vernunftprinzipien basieren 6 3 ). Man ist hier weit von der normativen, alteuropäischen Tradition entfernt, die von Erasmus bis La Salle über Verbote und strikte Weisungen die richtigen G e b ä r d e n , die zulässigen Attitüden, die obligatorischen Verhaltensweisen festlegte, und in verbindlicher Weise allen vorgezeigten Neigungen und Gefühlen angepaßt war. Aber bei Toussaint liegt die Notwendigkeit zum Befolgen nicht im Normkodex selbst, sondern in der Respektierung jedes wie auch immer gearteten Kodexes, denn es ist gerade die Unterwerfung unter den Brauch, die die Tugenden hervorrufen kann, die man der Regelbeachtung gemeinhin unterstellt. „Avoir dans le cœur les sentiments obligeants qu'on exprime": damit hat sich civilité von einem Widerschein seelischer Werte zu einem praktischen Erlernen der Moral gewandelt. Die soziale Verteidigung der „gens bien nés" - deren Autorität und Dignität von der Abwertung eines Begriffes beschnitten zu 61 62 63
) TOUSSAINT: Les Mœurs (1748, ed. 1760), 384-87. ) P.-A. ALLETZ: L'Esprit des journalistes de Trévoux, I, Paris 1771, S. 4 2 7 .
) Wie Anm. 61. 37
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werden drohte, der ihre besondere Lebensform bezeichnete - sucht sich also eine Stütze in einer Wiederherstellung und Betonung der ethischen Natur dieses Begriffsfeldes. Die Neubewertung des Begriffes stützt sich aber auch auf den Montesquieu-Text, den sich schon Jaucourt zunutze gemacht hatte. Mehr oder weniger wörtlich zitiert wird der im Esprit des lois vorgenommene Vergleich zwischen civilité und politesse zu einem Topos am Ende des Jahrhunderts: La civilité vaut mieux, à cet égard, que la politiesse. La politesse flatte les vices des autres, et la civilité nous empêche de mettre les nôtres au jour: c'est une barrière que les hommes mettent entre eux pour s'empêcher de se corrompre (XIX/16).
In der Enzyklopädie erstmalig abgeschrieben, findet sich dieser Text noch häufiger im lexikalischen Schrifttum der Zeit, so in einer Popularisierung der EncyclopédieM) oder im aktuellsten allgemeinsprachigen Wörterbuch vor der Revolution 65 ). Dieser Text hatte fast zwangsläufig Erfolg, zum einen weil er die durch den üblichen Wortgebrauch entstandenen Beziehungen zwischen civilité, die aufgrund ihrer Verbreitung in breiten Schichten verachtet war, und politesse, die als neue Norm aristokratischen Verhaltens gefeiert wurde, umstieß. Zum anderen, weil er die bestehende Bindung zwischen der Kontrolle der individuellen Gefühle und der gewünschten Ordnung der Gesellschaft deutlich an den Tag brachte. Indem sie die Laster der menschlichen Natur zensiert und zur Besserung beiträgt, ist civilité nicht - wie ihre Verächter denken - die trügerische Maske der Immoralität, sondern erfüllt eine unerläßliche Funktion als moralische ,Polizei'. Positiv gewendet bezeichnet sie die Abhängigkeit des Menschen als soziales Wesen; negativ verstanden verhindert sie die Ansteckung durch verdorbene Sitten. Der Text von Montesquieu umreißt daher in aller Schärfe den gesellschaftlichen Ort der civilité: die Festigung der Abhängigkeiten unter den Menschen - die mit der gesteigerten Differenzierung sozialer Funktionen einhergeht - verlangt von jedem eine neuartige Beherrschung des Verhaltens, eine wirkungsvolle Selbstkontrolle individueller Neigungen (hier also der Zurschaustellung der Laster), die das gesamtgesellschaftliche Gewebe bedrohen 66 ). Selbst wenn sie die Natur der Gefühle nicht verän(A 65
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) ALLETZ: Encyclopédie ( 1 7 6 1 ) , S. 7 2 . ) FERAUD, I ( 1 7 8 7 ) , S. 4 5 4 .
) Zu diesem Textverständnis ELIAS, II 316F.
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dert und den Menschen in seinem Innersten nicht besser macht, ist civilité darum nicht weniger notwendig, denn indem sie strenge Selbstbeschränkungen auferlegt, garantiert sie kontrollierte soziale Beziehungen, die vor Gewaltanwendung oder Korrumpierung geschützt sind. Es ist unverkennbar, daß diese Versuche mit dem Ziel einer Neubewertung der civilité wie der beständige Erfolg des Montesquieu-Zitates bei den Gebildeten sich durch die in ihrem Hintergrund stehende Person Rousseaus erklären. R O U S S E A U wirkt für die veröffentlichte Meinung in zweifacher Hinsicht irritierend: er diskreditiert ebensosehr die Gebräuche der besseren Gesellschaft und die Urteile der öffentlichen Meinung - die für ihn mit der Elle der Gefühle der Menschlichkeit gemessen nach der natürlichen Ordnung der Welt ohne Bedeutung sind - , wie er selbst den Kodex des guten Benehmens in seinem Verhalten und seinen Büchern mit Mißachtung straft oder mit Füßen tritt. Im vierten Buch des Emile ist der Eintritt des jungen Zöglings in die Welt das bestimmende Moment für die Konfrontation der erworbenen Regeln des mondänen Lebensstils mit den natürlichen, nur von Herz und Gefühl geleiteten Verhaltensweisen. Rousseau stellt Schritt für Schritt die Konventionen und Gebräuche, die eine ungünstige Bewertung Emiles durch die Gesellschaft verursachen - der für linkisch und ungebildet gehalten wird - , der Ehrlichkeit der Gefühle (Güte, Offenheit, Freundlichkeit usw.) gegenüber, die im Gegenzug die in der Gesellschaft übliche Maskierung und Verstellung moralisch disqualifiziert. Rousseaus Kritik ist da besonders radikal, wo sie abzielt auf erzieherische Gewohnheiten („un étalage de préceptes" bedeutet nichts neben der Entfaltung eines tugendhaften Wesens), auf die mondänen Sitten („Emile sera, si l'on veut, un aimable étranger" in einer Gesellschaft, deren Regeln ihm verschlossen und uneinsichtig bleiben), auf die überkommenen Hierarchisierungen („Personne ne sera plus exact à tous les égards fondés sur l'ordre de la nature et même sur le bon ordre de la société; mais les premiers seront toujours préférés aux autres et il respectera davantage un particulier plus vieux que lui qu'un magistrat de son âge" 67 ). Indem er als Zerstörer eines Verständnisses von civilité auftritt, wie es in der Gesellschaft seiner Zeit vorherrschend ist, vermittelt Rousseau von sich selbst den Eindruck eines ungeschliffenen Menschen und Bilderstürmes. Neben anderen macht sich auch Louis-Sébastien 67
) J . - J . ROUSSEAU:
£mi/e(1762),inders.: Oeuvres (Pléiade), I V 665-670. 39
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zum Sprachrohr der Kreise, die ihr Urteil über einen Mann gefällt haben, der wie Emile „met trop de prix aux jugements des hommes pour en mettre à leurs préjugés". Im elften Band des Tableau de Paris wird Rousseau dann wie folgt in Erinnerung gebracht: MERCIER
La dette de civilité envers chaque homme est donc évidente. Un auteur de nos jours ayant manqué longtemps à ce tribut, s'était concilié l'inimitité universelle, et les traits durs de sa critique lui firent plus de tort que les beaux traits de ses ouvrages ne lui firent d'honneur. Il faut se gêner un peu dans ses prononcés, pour ne pas gêner les autres68).
Das Kapitel, das Mercier der civilité im ersten Band seines Werkes widmet, zielt im übrigen genau auf diesen gesellschaftlichen Nützlichkeitseffekt des Begriffes 69 ). Beschrieben als „mensonge ingénieux", wird civilité dort gerade gelobt wegen der Annehmlichkeit, mit der sie Zusammenkünfte umgibt, und wegen der Zensur, der sie die „petites et viles passions" unterwirft. Als gesellschaftliche Tugend ist sie in keiner Weise den moralischen Qualitäten oder den psychologischen Anlagen derer schädlich, die sie respektieren. Auf diese Weise bildet sich eine Zäsur zwischen der Intimssphäre aus, in der die Charaktere nach Wahrhaftigkeit streben, und dem gesellschaftlichen, öffentlichen Bereich, wo die verinnerlichten Kontrollmechanismen die gesitteten Umgangsformen bestimmen: On s'est offert l'un à l'autre sous les plus beaux côtés, et la surface hideuse du caractère va se dévoiler dans l'intérieur domestique devant des yeux qui y sont accoutumés, ou faits pour soutenir cette épreuve 70 ).
Der inneren Aufspaltung des Einzelnen, der zerrissen scheint zwischen Gefühlsregungen und rigoroser Selbstzensur, entspricht eine Aufteilung menschlichen Kontakts und zwischenmenschlicher Begegnung, die all das in den Bereich des Intimen, in den Binnenraum des Menschen verweist, was im gesellschaftlichen Umgang besser verborgen bleibt. Anstatt moralische Verdammung zu erfahren, werden hier die Erscheinungsform und das Auftreten im Namen der sozialen Nützlichkeit des äußeren Scheins aufgewertet: „Une robe légère, jettée sur le moral, est donc aussi nécessaire peut-être qu'un vêtement l'est au physique de l'homme" 71 ).