Handbuch politisch-sozialer Grundbegriffe in Frankreich 1680-1820: Heft 3 Philosophe, Philosophie. Terreur, Terroriste, Terrorisme [Reprint 2015 ed.] 9783486824186, 9783486527315

Aus dem Inhalt Philosophe, Philosophie - Einleitung: "Philosophe" – Grundbegriff der Aufklärung - Abestzung ei

187 64 14MB

German Pages 136 Year 1985

Report DMCA / Copyright

DOWNLOAD PDF FILE

Table of contents :
Philosophe, Philosophie
I. Einleitung: ,Philosophe‘ - Grundbegriff der Aufklärung
1. Allgemeine begriffsgeschichtliche Verlaufsstruktur
2. Methodologische Probleme
II. Absetzung einer Interaktionsrolle von gesellschaftlichen Konventionen: Der ,philosophe‘ als Stoiker und Misanthrop (etwa 1670 - 1730)
III. Konstitution des Subjekts der Aufklärung: Die Rolle des ,philosophe‘ als Konvergenzpunkt von Reflexion und gesellschaftlichem Handeln (etwa 1730 - 1751)
IV. Eroberung des Publikums: Der publizistische Kampf zwischen ,philosophes‘ und ,anti-philosophes‘ und die Institutionalisierung der neuen ,philosophie‘ in der aufgeklärten Öffentlichkeit (etwa 1751 -1776
1. Überblick
2. ,Philosophe‘ und ,philosophie‘ im Kreuzfeuer der Streitfragen
3. Die Durchsetzung der ,philosophie‘ in der Öffentlichkeit und ihre praktischen politisch-sozialen Auswirkungen
V. Selbstapotheose des Jahrhunderts und vorrevolutionäre Radikalisierung: Die ,philosophie‘ als modische Lebensform und ihre Auffächerung (1776-1788)
1. Bestätigung des Selbstbildes der ,verfolgten Tugend‘
2. Nachlassen der ,antiphilosophischen‘ Polemik
3. Der Sieg der ,philosophie‘ und ihre Ausprägung in verschiedenen Lebensbildern
4. Vorrevolutionäre Politisierung der ,philosophie‘
5. Entwertung der ,philosophie‘ zur modischen Lebensform
VI. Beschwörung und Distanzierung der Vergangenheit: ,Philosophie‘ und ,philosophes‘ im revolutionären Selbstverständnis (1789 -1799)
1. „Cette incroyable révolution, préparée par la philosophie“
2. Die ,philosophie‘ - positives Prinzip der Französischen Revolution?
3. Der ,philosophe‘ als Revolutionär?
VII. Neutralisierung und Eingliederung in die bürgerliche Gesellschaft: ,philosophe‘ und ,philosophie‘ (1795 - 1820)
1. Reaktualisierung der Polemik um die ,philosophie‘ und Historisierung der philosophes‘
2. Die ,philosophie‘ als Wissenschaftliches Fach und der ,philosophe‘ als akademischer Beruf (1793 -1835)
Literatur
Terreur, Terroriste, Terrorisme
Einleitung
I. Aspekte des sozialen Wissens um, Angst und Schrecken‘ im Ancien Régime
1. Ikonographische Tradition, religiöse Angst und ,Schrecken‘ auf der Bühne
2. ,Terreur‘ im Kontext der Volksaufstände des Ancien Régime
3. Der ,Schrecken‘ als Prinzip des ,Despotismus‘
II. Entwicklung und Verbreitung des Terreur-Begriffs von 1789 bis zum 9. Thermidor des Jahres II
1. 1789 - Sommer
2. Sommer 1793 - 9. Thermidor an II
III. ,Terreur‘ zur Kennzeichnung der Regierungspraxis vor dem 9. Thermidor
IV. ,Terreur‘ als Epochenbegriff
V. Der Terreur-Begriff in der innenpolitischen Auseinandersetzung nach Thermidor
VI. ,Terreur‘ als außenpolitisches Mittel
VII. Die Neologismen ,Terrorisme‘ und ,Terroriste‘
VIII. Der Terreur-Begriff in der Wertung der Jakobinerdiktatur nach Thermidor
Artikelliste
Recommend Papers

Handbuch politisch-sozialer Grundbegriffe in Frankreich 1680-1820: Heft 3 Philosophe, Philosophie. Terreur, Terroriste, Terrorisme [Reprint 2015 ed.]
 9783486824186, 9783486527315

  • 0 0 0
  • Like this paper and download? You can publish your own PDF file online for free in a few minutes! Sign Up
File loading please wait...
Citation preview

Handbuch politisch-sozialer Grundbegriffe in Frankreich 1680 - 1 8 2 0

Herausgegeben von Rolf Reichardt und Eberhard Schmitt in Verbindung mit Gerd van den Heuvel und Anette Höfer Heft 3

Philosophe, Philosophie / Hans Ulrich Gumbrecht, Rolf Reichardt Terreur, Terroriste, Terrorisme / Gerd van den Heuvel

R. Oldenbourg Verlag München 1985

Das Handbuch politisch-sozialer Grundbegriffe in Frankreich 1680 -1820 erscheint als Band 10 der Reihe Anden Régime, Aufklärung und Revolution (hrsg. von Rolf Reichardt und Eberhard Schmitt).

CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek Handbuch politisch-sozialer Grundbegriffe in Frankreich : 1680 -1820 / hrsg. von Rolf Reichardt u. Eberhard Schmitt in Verbindung mit Gerd van den Heuvel u. Anette Höfer. - München : Oldenbourg (Ancien régime, Aufklärung und Revolution ; Bd. 10) NE: Reichardt, Rolf [Hrsg.]; GT 63; 16; 14; 55; 03 H. 3. Philosophe, philosophie / Hans Ulrich Gumbrecht ; Rolf Reichardt. Terreur, terroriste, terrorisme / Gerd van den Heuvel. - 1985. ISBN 3-486-52731-2 NE: Gumbrecht, Hans Ulrich [Mitverf.]; Heuvel, Gerd van den: Terreur, terroriste, terrorisme

© 1985 R. Oldenbourg Verlag GmbH, München Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdrucks, der Funksendung, der Wiedergabe auf photomechanischem oder ähnlichem Wege sowie der Speicherung und Auswertung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Werden mit schriftlicher Einwilligung des Verlages einzelne Vervielfältigungsstücke für gewerbliche Zwecke hergestellt, ist an den Verlag die nach § 54 Abs. 2 Urh. G. zu zahlende Vergütung zu entrichten, über deren Höhe der Verlag Auskunft gibt. Satz: Hofmann-Druck KG Augsburg Druck und Bindung: R. Oldenbourg Graphische Betriebe GmbH, München ISBN 3-486-52731-2

Inhalt Philosophe, Philosophie / Hans Ulrich Gumbrecht, Rolf Reichardt Terreur, Terroriste, Terrorisme / Gerd van den Heuvel Artikelliste

7 89 133

5

Philosophe, Philosophie H A N S ULRICH GUMBRECHT / ROLF REICHARDT

I. Einleitung:, Philosophe' - Grundbegriff der Aufklärung 1. Allgemeine begriffsgeschichtliche Verlaufsstruktur 2. Methodologische Probleme II. Absetzung einer Interaktionsrolle von gesellschaftlichen Konventionen: Der,philosophe' ab Stoiker und Misanthrop (etwa 1670 1730) III. Konstitution des Subjekts der Aufklärung: Die Rolle des ,philosophe' als Konvergenzpunkt von Reflexion und gesellschaftlichem Handeln (etwa 1730 - 1751) IV. Eroberung des Publikums: Der publizistische Kampf zwischen ,philosophes' und ,anti-philosophes' und die Institutionalisierung der neuen ,philosophie' in der aufgeklärten Öffentlichkeit (etwa 1751 -1776) 1. Überblick 2. .Philosophe' und ,philosophie' im Kreuzfeuer der Streitfragen: a) ,Matérialisme'-b) .Fanatisme'-c),Sektenbildung'-d) Eine Ethik der Vernunft? - e) Staatsfeindlichkeit 3. Die Durchsetzung der .philosophie' in der Öffentlichkeit und ihre praktischen politisch-sozialen Auswirkungen: a) Der Theaterskandal von 1760 - b) Die ,anti-philosophes' in der Defensive - c) Die .philosophes' als Reformpolitiker V. Selbstapotheose des Jahrhunderts und vorrevolutionäre Radikalisierung: Die,philosophie' als modische Lebensform und ihre Auffächerung (1776 -1788) 1. Bestätigung des Selbstbildes der .verfolgten Tugend' 2. Nachlassen der .antiphilosophischen' Polemik 3. Der Sieg der .philosophie' und ihre Ausprägung in verschiedenen Lebensbildern a) Selbstapotheose der Aufklärer - b) Lebensbild des prominenten .philosophe' - c) Lebensbild des marginalisierten Intellektuellen 4. Vorrevolutionäre Politisierung der .philosophie' 5. Entwertung der .philosophie' zur modischen Lebensform VI. Beschwörung und Distanzierung der Vergangenheit: , Philosophie' und,philosophes' im revolutionären Selbstverständnis (1789 -1799) 7

Philosophe,

Philosophie

2

1. „Cette incroyable révolution, préparée par la philosophie" 2. Die ,philosophie' - positives Prinzip der Französischen Revolution? 3. Der ,philosophe' als Revolutionär? VII. Neutralisierung und Eingliederung in die bürgerliche Gesellschaft: ,philosophe' und,philosophie' (1795 -1820) 1. Reaktualisierung der Polemik um die ,philosophie' und Historisierung der .philosophes' 2. Die .philosophie' als Wissenschaftliches Fach und der .philosophe' als akademischer Beruf (1793 -1835) Literatur

I. Einleitung: .Philosophie'- Grundbegriff der Aufklärung 1. Allgemeine begriffsgeschichtliche Verlaufsstruktur In der Wissenschaftssprache wie in der gebildeten Konversation kann das Wort Aufklärung als Bezeichnung für ein typologisches Konzept und als Name gebraucht werden. Das Konzept Aufklärung ist eine Abstraktion solcher historischer Verläufe, in denen alte durch neue Bestände kollektiven Wissens revidiert oder ersetzt werden, wobei sich das neue Wissen als wirklichkeitsadäquater darstellt. Der Name Aufklärung meint dagegen einen der verschiedenen, in die Bildung des Begriffs Aufklärung eingegangenen historischen Verläufe, den wir in vierfacher Hinsicht spezifizieren können: er vollzog sich hauptsächlich in den europäischen Gesellschaften des 18. Jh.; er betraf kollektive Wissensbestände nicht nur in ihren Inhalten, sondern auch und vor allem in ihren grundlegenden Konstitutionsprinzipien, indem er u.a. die gesellschaftlich vorherrschenden Weltbilder von einer theozentrischen auf eine anthropozentrische Grundlage verschob; er fundierte damit Wissensbestände, die in ihren Grundzügen bis heute keiner neuerlichen Revision unterzogen worden sind und nach wie vor als wirklichkeitsadäquat gelten; schließlich wurde die 8

3

Philosophe,

Philosophie

Aufklärung im 18. Jh. erstmals als historischer Verlaufstyp erfaßt und zugleich als Handlungsorientierung oder -motiv wirksam. In der Rekonstruktion und Darstellung der Begriffe philosophe und philosophie werden die wesentlichen Phasen der Aufklärung des 18. Jh. nachvollziehbar. Denn umreißt philosophie Inhalt und Denkweise der Aufklärung, so ist der philosophe ihr Subjekt, genauer: jene gesellschaftliche Rolle, welcher die Konstituierung des neuen und die Problematisierung des alten kollektiven Wissens zugeschrieben wird; jene Rolle auch, mit deren Institutionalisierung das neue Wissen Zug um Zug in seine gesellschaftsbegründenden Funktionen einging. Wenn man nun aber als Grundbegriffe solche Elemente aus gesellschaftlichen Wissensvorräten definieren kann, welche auf die Bildung anderer - partikularer - Wissenselemente einwirken 1 ), dann folgt aus dem Verständnis des philosophe als Subjekt der Aufklärung und der philosophie als deren richtungsweisender Denkart und Handlungsrichtung, daß diese beiden Konzepte Grundbegriffe der Aufklärung sind. Denn die Einheit aufklärerischen Wissens beruhte mit auf der Überzeugung, daß alle seine Einzelelemente dem kognitiven Stil des philosophe zuzuordnen seien und zugleich philosophisches Handeln fundieren sollten. Die Geschichte von philosophe als Grundbegriff der Aufklärung beginnt mit der Ausgliederung einer für die höfische Gesellschaft des 17. Jh. charakteristischen Interaktionsrolle aus ihrem noch ,feudalen Entstehungskontext und endet mit der Weichenstellung für die Eingliederung einer Berufsrolle in die bürgerliche Gesellschaft, deren institutionelle Grundlagen in Frankreich das Empire schuf. Zwischen diesen beiden Polen macht die Begriffsgeschichte von philosophe die Geschichte der Aufklärung erfahrbar: von der Konstitution des philosophe als Subjekt der Aufklärung, in dem Reflexion und gesellschaftliches Handeln konvergieren, führt sie in die Polemik zwischen philosophes und anti-philosophes; von der Kanonisierung der philosophes zur Elite des Ancien Régime hin zum normativen Status des Kanons ihrer Schriften während der Revolutionsjahre und schließlich zu seiner Umsetzung in einem von der Gegenwart abgehobenen, legitimationsmächtigen Vergangenheitshorizont. ^ Zur Bestimmung des Terminus .Grundbegriff' vgl. H. U. GUMBRECHT: Für eine phänomenologische Fundierung der sozialhistorischen Begriffsgeschichte, in: Begriffsgeschichte und historische Semantik, ed. R. KOSELLECK, Stuttgart 1979,75 -101, bes. 78ff. 9

Philosophe,

Philosophie

4

2. Methodologische Probleme Da philosophe und philosophie und ihre Ableitungen ungewöhnlich reich belegt sind, seit der zweiten Hälfte des 18. Jh. in ihrem hohen sozialhistorischen Symptom-Wert erkannt und oft historiographisch genutzt worden sind 2 ), muß die folgende Darstellung ein besonders umfangreiches Material berücksichtigen. Dabei soll es weder um eine Optimierung der ,Definition' von philosophe2a) und philosophie im 18. Jh. gehen: denn die auf semantische Eindeutigkeit und Klarheit zielende Bemühung um Definitionen nivelliert gerade jene Vielfalt von Wortbedeutungen und Wortverwendungen, denen die Begriffsgeschichte als Methode ihren sozialhistorischen Rang verdankt ; noch soll von der Bezeichnung unmittelbar auf die .bezeichnete Sache' geschlossen werden: denn unsere Perspektivierung des Begriffs philosophe als Symptom weist,hinter' seiner Semantik liegende Sachverhalte als unser Erkenntnisziel aus. Und auf einen solchen zielt unsere These, daß das Ancien Régime für die Entwicklung aufgeklärten Wissens, die Konstitution seines Subjekts und die Institutionalisierung seines Kommunikationsraumes geradezu ideale Umweltbedingungen bereitstellte, mit anderen Worten: daß der Aufstieg der philosophes im 18. Jh. engstens zusammenhängt mit der nachlassenden .Öffentlichkeitsarbeit' etablierter Gruppen in Staat und Gesellschaft, mit dem Entstehen einer neuen, bürgerlichen' Öffentlichkeit und deren Neigung, sich mit politisch Verfolgten zu solidarisieren. Zwei andere Probleme gibt das einschlägige Quellenmaterial auf. Das eine betrifft die Verwendungskontexte der Begriffe philosophe und philosophie in Frankreich zwischen dem späten 17. und dem frühen 19. Jh. So markant der für diese Zeit erkennbare semantische Wandel ist, so selten sind die semantischen Differenzen innerhalb jeweiliger historischer Phasen. Zwar sind die Sprachhandlungen, unter denen etwa die Aufklärer und ihre Gegner das Konzept gebrauchen, als Selbst-Apotheose und Verdammung einander diametral entgegengesetzt; doch semantisch gesehen bleiben die Begriffe bis in Nuancen hinein für beide Verwendungskontexte identisch. Ähnliches gilt weitgehend auch für die Wörterbücher, die im 18. Jh. viel häufi2

) Besonders die Arbeiten von W A D E , DIECKMANN, STRICKLEN, REICHARDT und THOMSON (S. Bibliogr.) erschließen viele der im folgenden genannten Spezialquellen. 2a ) Einen solchen Versuch unternimmt J . LOUGH: Who were the ,Philosophes'?, in: Studies in Eighteenth-Century French Literature presented to Robert Nikiaus, Exeter 1975,139-150. 10

5

Philosophe,

Philosophie

ger einen Teil der einen Polemik bilden, die philosophes und anti-philosophes vereint, als daß sie - in zeitlichem Abstand - den Eingang je verschiedener Bedeutungsvarianten in die Sprachnorm konstatieren. Zum zweiten zwingt der enorm weite Bedeutungshorizont von philosophe und philosophie, der zwischen 1680 und 1820 seine größte Ausdehnung erreicht zu haben scheint, zur Konzentrierung unserer Darstellung auf jene semantischen Strukturen, mit denen die beiden Begriffe im genannten Zeitraum über einen langfristig konstanten alten Bestand von Bedeutungsmöglichkeiten ,hinausgriffen'. Es wird also nur am Rande der Sachverhalt dargestellt, daß das Prädikat philosophe zwischen 1680 und 1820 auch den ,Freund der Weisheit' bezeichnen konnte, der ,über die natürlichen Ursachen von Phänomenen und über Maximen des Verhaltens nachdachte', sowie auch .Schulen von Denkern der Antike', einen Lehr-Beruf in seinen verschiedenen historischen Ausprägungen und den .Besitzer der pierre philosophale bezeichnete. Stattdessen sollen zwei Bedeutungsschichten rekonstruiert werden, welche die Besonderheit der Begriffsgeschichte von philosophe während der Aufklärung ausmachen. Das ist zum einen das Verhältnis des philosophe zur Gesellschaft: der philosophe kann in einer Distanz zur Gesellschaft gesehen werden, die sich ihrerseits als Überlegenheit oder als Exzentrizität deuten läßt; in anderen Verwendungszusammenhängen thematisiert der Begriff dagegen gerade verschiedene Modi der Ausrichtung subjektiven Handelns und Verhaltens an der Gesellschaft, so daß der philosophe dem honnête homme in seiner Prägung durch Weitläufigkeit nahestehen, sein Denken und Handeln auf die Ziele des , Gemeinwohls' und der ,Gleichheit' ausrichten kann. Die zweite Bedeutungsschicht, um die das langfristig konstante semantische Spektrum von philosophe im Zeitalter der Aufklärung erweitert wird, umschließt zwei entgegengesetzte Bilder eines intellektuellen Stils. Über Gelehrsamkeit und geistige Brillanz hinaus kennzeichnen den Aufklärungs-Philosophen im positiven Selbstbild der Aufklärer die strikte Fundierung seines Denkens in der menschlichen Vernunft, die vorurteilsfreie' Beobachtung seiner natürlichen Umwelt und die Autoreflexivität als konsequente Selbstbestimmung von Denken und Handeln. Das polemische Feindbild, welches die anti-philosophes seit der Mitte des 18. Jh. entwarfen, beruht auf der Umpolung von Einzelelementen dieser Identitäts-Figur: der Anspruch auf Selbstbestimmung wird zum fanatisme, das Vernunftprinzip zum esprit de système, die gesellschaftliche Würde zur Autoritäts-Anmaßung. 11

Philosophe,

Philosophie

6

Indem die folgende Darstellung schließlich mehr vom philosophe als von der philosophie handelt, trägt sie dem Befund Rechnung, daß philosophe das deutlich mehr diskutierte Wort des Begriffspaares war und daß sein Bedeutungswandel im allgemeinen vorausging und den von philosophie nach sich zog.

II. Absetzung einer Interaktionsrolle von gesellschaftlichen Konventionen: der ,philosophe' als Stoiker und Misanthrop (etwa 1670-1730) Eine außersprachliche Motivation für jene Erweiterung des Begriffsgriffsphilosophe, mit welcher in der französischen Sprache seine etymologische Bedeutung für ein adäquates Verstehen endgültig unzureichend wird 3 ), hängt zusammen mit den adligen und vor allem höfischen Interaktionsformen des 17. Jh. und ihrer Funktion der Affektregulierung bei der Aristokratie 4 ). Der Appell an das Selbstwertgefühl (amour propre), die Ethisierung eines Interaktionspartnern gegenüber stets zuvorkommenden Verhaltens {plaire) und schließlich die Ausrichtung des Verhaltens an Erwartungen und Erwartungserwartungen des je anderen - das waren die Grundprinzipien des gesellschaftlichen Verkehrs, welche die Affektregulierung sichern sollten. Sie wurden ergänzt durch die spezifischere Interaktions-Maxime der sincérité5), standen zu dieser aber von vornherein in einem prekären Verhältnis. Einfach weil .Ehrlichkeit' nicht immer ,gefallen' kann, müssen schon bald symbolische Formen entstanden sein, die einerseits den Anspruch auf sincérité stützten und andererseits doch auch zu einer Maske gerieten, hinter der ein Höfling Wissen, Erfahrungen und Affekte verbergen konnte, wie es Rémond des Cours am Hofe 3

4

) DIECKMANN, S. 68.

) N. ELIAS: Über den Prozeß der Zivilisation (1937), 3. Aufl., Frankfurt 1977; N. LUHMANN: Gesellschaft und Semantik, I, Frankfurt 1980, 72 161; R. GALLE: Honnêteté und Sincérité, in: Die französische Klassik, ed. F. NIES/STIERLE, München 1984 (im Druck). 5 ) „Celuy qui veut estre de bonne compagnie doit faire en sorte, que plus on connoist son cœur et sa façon de proceder, plus on le souhaite ; et qu'il est beau d'estre humain, et de n'avoir rien d'injuste! que la sincérité donne bon air, et que la fausseté me paroist desagreable!" (Chev. de MÉRÉ: De la Conversation [1671), in ders. : Oeuvres complètes, ed. C. H. BOUDHORS, II, Paris 1 9 3 0 , 1 1 5 ) .

12

7

Philosophe,

Philosophie

erlebte: „C'est là où les gens ont le plus d'honnêteté et le moins de sincérité" 6 ). Wer es ernst meinte mit der sincérité, mußte sich der Hofgesellschaft entziehen und auf jenen „Gruppen-Narzißmus" 7 ) verzichten, innerhalb dessen man sich wechselseitig die Erfüllung der neuen Interaktionsnormen bestätigte und zum Verdienst hielt. Philosophe sein das wurde die Rolle der Aufrichtigen, die sich um der sincérité willen in Distanz zur ,guten Gesellschaft' begaben und Autoreflexivität statt eines von ihrer Wirkung auf andere abhängigen Selbstwertgefühls pflegten. Bereits die Hauptrolle in Molières Misanthrope (1666) war durch die Erfahrung der Unvereinbarkeit von .Ehrlichkeit' und , Gefallen' motiviert und wird bei der Rezeption des Stückes mit dem Prädikat philosophe belegt („Ce chagrin philosophe est un peu sauvage"), wenn auch ein milderes, dem gesellschaftlichen Verkehr nicht entzogenes philosophisches' (stoisches) Verhalten den Vorzug erhält 73 ). 1678 gab dann La Rochefoucauld eine weniger ambivalente Maxime aus: L'attachement ou l'indifférence que les philosophes avaient pour la vie n'était qu'un goût de leur amour-propre, dont on ne doit non plus disputer que du goût de la langue, ou du choix des couleurs8). Hier bestätigt sich, daß Gesellschaftsbezogenheit und Gesellschaftsferne nun von der je spezifischen Ausprägungsform des amour-propre abhängig waren. Man kann in dem Schritt zur Autoreflexivität die entscheidende Phase des Wegs hin zum Anthropozentrismus als Konstitionsprinzip aufgeklärten Wissens sehen ; die Tatsache, daß damit zunächst eine Distanznahme von der Gesellschaft verLa véritable politique des personnes de qualité (1692), Jena 1750,66. 7 ) J. STAROBINSKI: Sur la flatterie, in: Nouvelle Revue de Psychoanalyse 1 9 7 1 , S. 1 3 2 . 7A ) MOLIÈRE: Oeuvres complètes, I I , Paris 1 9 6 5 , 4 3 - 4 6 mit Rezeptionshinweisen; dort S. 43 Alcestes Tirade in der ersten Szene des ersten Aktes: „Non, je ne puis souffrir cette lâche méthode Qu'affectent la plupart de vos gens à la mode; Et je ne hais rien tant que les contorsions De tous ces grands faiseurs de protestations, Ces affables donneurs d'embrassades frivoles, Ces obligeants diseurs d'inutiles paroles, Qui de civilités avec tous font combat, Et traitent de même air l'honnête homme et la fat." 8 ) L A ROCHEFOUCAULD: Oeuvres, 4 0 9 . 6

) RÉMOND DES COURS:

13

Philosophe,

Philosophie

8

bunden war, zeigt jedenfalls, warum der „private Innenraum" 9 ) der mentale Ausgangspunkt der Aufklärung ist. Die allgemeinsprachigen Wörterbücher des späten 17. Jh. belegen, wie gängig die Bezeichnung dieser - soziologisch gesehen - exzentrischen Rolle durch das Prädikat philosophe bereits zu Lebzeiten Ludwigs XIV. war; außerdem notieren sie zwei entgegengesetzte Wertungen des Phänomens. Bei RICHELET (1680) folgt auf die neutrale Definition des philosophe („Celui qui s'est détaché des choses du monde par la connoissance qu'il a de leur peu de valeur") lediglich ein Eintrag, welcher den negativen gesellschaftlichen Symbolwert der Rolle bestätigt: „Ce mot se prend quelquefois en mauvais part, & alors il signifie une espece d'esprit qui ne se soucie de rien, une maniéré de fou insensible" 10 ). Derselbe Bedeutungsaspekt findet sich b e i FURETIÈRE ( 1 6 9 0 ) 1 1 * u n d i m A k a d e m i e w ö r t e r b u c h ( 1 6 9 5 ) : „ I I s e

dit aussi quelquefois absolument d'un homme qui, par libertinage d'esprit se met au-dessus des devoirs & des obligations ordinaires de la vie civile & chrétienne" 1 2 ). Als philosophe außerhalb der Gesellschaft stehen - das war offenbar eine neue Attitüde, die einerseits als Bruch mit den gesellschaftlichen Konventionen, als Mangel an Pflichtbewußtsein, ja als Wahnsinn erfahren wurde. Auf der anderen Seite sah man die Position des philosophe außerhalb der aristokratischen Gesellschaft aber auch als Bedingung und Ausdruck seiner Überlegenheit: „On appelle aussi Philosophe, Un homme sage, qui mène une vie tranquille & retirée, hors de l'embarras des affaires" 13 ). Das verlangt schon die philosophie, d. h. sein auf das „raisonnement" gegründetes Studium der ,Natur' und der ,Moral' - eine von den Vorstellungen des .gemeinen Volkes' ungetrübte Kraft, die mit Naturwissenschaft und Christentum noch gleichermaßen vereinbar schien 14 ). Wer nun die philosophes des späten 17. Jh. waren, wer ihre Distanznahme von der Gesellschaft bewunderte bzw. verurteilte, ist begriffsgeschichtlich nicht eindeutig zu beantworten, weil sich die erschlossenen Bedeutungen des Prädikats philosophe nicht markant ge9

) Vgl. R. KOSELLECK: Kritik und Krise, Freiburg 1959, 91 u.ö.

10

) RICHELET (1680), II 157. 11) FURETIÈRE (1690), I I I , A r t . „ P h i l o s o p h e " .

12) Dict. Acad. (1694), II 140. 13) Ebenda. i") Ebenda: wiederholt in: Dict. Acad. ("1764, ed. 1777), II 238; übernommen von RICHELET (51728, ed. 1732), II 388. 14

9

Philosophe,

Philosophie

nug auf verschiedene Verwendungskontexte und Milieus der Oberschicht verteilen. Doch wie die innenpolitische Opposition gegen den bourbonischen Absolutismus vom Beispiel der in ihrer Macht zurückgedrängten Aristokratie (nicht vom Bürgertum) ausging 15 ), so dürften vor allem Mitglieder des Altadels die höfische Interaktionskultur als Provokation erlebt haben, weil sie die Überbrückung von Standesgrenzen ermöglichte und die Exklusivität ihres gesellschaftlichen Ranges aufhob. Sie mochten so vom Milieu des Hofes Abstand nehmen und scheinen deshalb schon an der Wende zum 18. Jh. - gerade von Aufsteigern im Dienst des Absolutismus - wegen ihrer geringen Konformität mit den neuen, stark ethisierten Verhaltensnormen der incivilité bezichtigt worden zu sein 18 ). Der Hochadelige Saint-Simon gibt ein sprachliches Indiz für diese gruppenspezifische Disposition seiner Standesgenossen zur positiven Beurteilung gesellschaftlicher Exzentrizität, indem er die Tugenden des ihm in der sozialen Hierarchie unterlegenen Marschalls Catinat (Rückgezogenheit, Verachtung des Reichtums, wenig aufwendige Lebensweise) unter dem Begriff der philosophie zusammenfaßt 1 6 ). Ähnlich wertete Marais die nicht standesgemäße Heirat des königlichen Kanzlers d'Aguesseau: „M. de Valjoran est un philosophe, qui ne se soucioit de rien" 17 ). Wenn mit Marais ein Parlamentsrat die positive Umwertung der bislang negativen Nebenbedeutung von philosophe und philosophie, denen er die préjugés entgegenstellte 18 ), mit Saint-Simon teilte, so deutet dies darauf hin, daß im frühen 18. Jh. die anfangs vor allem aristokratische Nichtbeachtung disziplinierender gesellschaftlicher Normen auf Gruppen des gehobenen Bürgertums übergriff und daß zugleich die autoritätskritische philosophie trotz aller Beteuerung ihrer traditionellen engen Verwandtschaft mit der Theologie 19 ) zum Leidwesen der Jesuiten in Gegensatz zur Religion geriet 20 ). Tatsächlich wurde im Mai 1720 am Pariser Jesuitenkolleg Louis-le-Grand ein satirisches Theaterstück Le Philosophe à la mode des Paters J.-A. Du 15

)

16

)

17

) ) 19 ) 18

20

)

D. RICHET: Autour des origines intellectuelles de la Révolution française, in: AESC 24. 1969,1-23. SAINT-SIMON, IX 316 (1712). MARAIS, II 375 (4. XII. 1732). Ebd., III 331 (25. V. 1725). „La Théologie qui ressemble à la Philosophie comme une fille à sa mère..." (F. DELADILLONNIÈRE: L'Athéisme découvert par le R. P. Hardouin, jésuite, Paris 1715, 5). „Cet Auteur [...] veut instruire, tantôt en Chrétien, tantôt en Philosophe [...]" (Mém. Trévoux XXI, 1721, Repr. S. 440). 15

Philosophe,

Philosophie

10

Cerceau aufgeführt, um die Schüler in Gestalt des negativen Helden Narcisse vor einem Rückzug aus geregeltem gesellschaftlichem Umgang und aus den Untertanenpflichten wie auch vor der Entwicklung eigener, nicht autorisierter Theorien zu warnen: Le Philosophe donc n'est chargé que de lui Et tout autre soin remet sur autrui; Redevable à lui seul, et borné dans lui-même, Il n'a qu'un seul devoir, il s'aime21). Offenbar ein notwendiger Immunisierungsversuch, denn eine ausführliche Reportage über die Aufführung berichtete, daß D u Cerceau schon mit dem Titel seines Stücks eine leider verbreitete, verderbliche neue Grundhaltung anprangerte: „II l'appelle philosophe à la mode, parce qu'il paroit, dit-il, que cette philosophie a grand nombre de sectateurs" 22 ). Die semantische Entwicklung von der philosophie als freigeistigem aristokratischem Gestus zur Bewahrung altständischer Hierarchie hin zum philosophe als ,Subjekt der bürgerlichen Aufklärung' verlief also, wie es danach scheint, nicht geradlinig und unmittelbar, sondern über großbürgerliche Vermittlung, wobei die antihöfische Exzentrizität in eine Absetzung von allgemeineren überkommenen Gesellschaftsnormen überging. Diese individualistische soziale Ausgliederung schloß zunächst gesellschaftsbezogenes .politisches' Handeln aus, schuf aber dennoch gerade dazu wesentliche Voraussetzungen: erst in der Distanz zu traditionellen gesellschaftlichen Normen und auf der Grundlage der so ermöglichten Autoreflexivität konnte der philosophe seine aufklärerische Funktion ausbilden - um dann gesellschaftsbezogenes Handeln in neuem Sinne zu verkörpern.

III. Konstitution des Subjekts der Aufklärung: die Rolle des ,philosophe' als Konvergenzpunkt von Reflexion und gesellschaftlichem Handeln (etwa 1730 - 1751) Wie sich dieser Prozeß im einzelnen vollzog, läßt sich aus dem uns vorliegenden Material nicht rekonstruieren. Mit den 1730er Jahren 21

) Zit. in der Besprechung des Abbé Budet im Mercure de France vom Juni 1720, S. 66 - 115, hier S. 110. Genau diese Verse fielen als besonders auf: MARAIS, I 319 (10. VII. 1720) S. a. die Interpretation der Satire bei WADE, 16-29. 22 ) Mercure de France (wie Anm. 21), S. 68. 16

Philosophe,

11

Philosophie

mehren sich jedoch die Zeugnisse dafür, daß die nicht länger rein wissenschaftliche und unpolitische, sondern im neuen Sinne vorurteilsund autoritätskritische philosophie aus dem privaten Rückzugsraum hinausdrängte und daß dem philosophe zunehmend die Rolle gesellschaftszugewandter Aufklärungsarbeit zugewiesen wurde. 1. Das früheste markante Zeugnis und zugleich ein Faktor dieses Bedeutungsübergangs sind V O L T A I R E ' S 1 7 3 4 anonym in Amsterdam veröffentlichte Lettres philosophiques, die bis 1793 mindestens elfmal nachgedruckt wurden, obwohl das Pariser Parlament sie sogleich verbot und zur symbolischen Geißelung und Verbrennung verurteilte „comme scandaleux, contraire à la Religion, aux bonnes moeurs et au respect dû aux Puissances" 23 ). Denn Voltaire perspektivierte hier die eigene Rolle mit dem neuen Philosophiebegriff, indem er Bacon als Vorbild des „grand Philosophe", welcher die „Philosophie expérimentale" begründet und nicht allein sich, sondern auch seine Mitmenschen aufgeklärt habe („s'éclairer soi-même et les autres") 24 ); zum anderen pries er Lockes Sensualismus als Beispiel einer vernunftgeleiteten „Philosophie", die sich wohl vom Glauben unterscheide, aber niemals solche Unruhe stifte wie religiöse Eiferer: „Jamais les Philosophes ne feront une Secte de Religion." Und schließlich hielt er der französischen Praxis fürstlicher Gunstbeweise für die Schönen Künste die viel größere öffentliche Anerkennung und Betrauung mit hohen Ämtern entgegen, welche verdienten Schriftstellern in England zuteil werde 25 ). Dies verharmlosende Modell einer wissenschaftlich-aufklärerischen und doch ideologisch neutralen philosophie besaß offenbar schon so viel Anziehungskraft und verbarg noch so weitgehend ihr antireligiöses Kritikpotential, daß das jesuitische Dictionnaire de Trévoux in mehreren Neuauflagen ( 1 7 3 2 — 4 0 ) den philosophe mit dem Stoiker gleichsetzte, seine strenge Ablehnung serviler Liebedienerei Ebd., August 1734, S. 1893. Lettres philos., ed. R. NAVES, Paris 1962, 54. " ) Ebd. S. 54-57,68f. u. 129ff. Addison, Newton, Pope und Swift erscheinen hier als gens de lettres. - Bald darauf setzte Voltaire seine Propagierung der neuen englischen ,Philosophie' mit einer Popularisierung von Newtons Experimentalphysik fort, wobei er beruhigend beteuerte: „Toute la philosophie de Newton conduit nécessairement à la connaissance d'un être suprême, qui a tout créé [...] mais elle est impuissante à nous apprendre ce qu'il est, ce qu'il fait, comment et pourquoi il le fait." (Eléments de la philosophie de Newton, mis à la portée de tout le monde, 1738, in VOLTAIRE: Oeuvres, ed. MOLAND, XX 403 u. 407). 24

) VOLTAIRE:

17

Philosophe,

Philosophie

12

bei den .Großen' lobend hervorhob, die gleichmäßige Zuständigkeit seiner philosophie für Logik, Morallehre, Physik und Metaphysik erklärte und - anders als in früheren Auflagen - seiner autoreflexiven Attitüde und Gesellschaftsferne einen hohen moralischen Rang einräumte und sie als positive Wortbedeutung zu kanonisieren suchte: PHILOSOPHE, se dit aussi d'un esprit ferme, & élevé au-dessus des autres; qui est guéri de la préocupation, & des erreurs populaires, & désabusé des vanités du monde; qui aime les honnêtes plaisirs; qui préfère la vie privée au fracas du monde; ami fidèle, peu dangereux ennemi; utile, si on le met en œuvre, content de n'y être pas; attentif au présent, peu inquiet pour l'avenir [.. .]25a). Daß die hier konstatierte Überlegenheit des ,wahren Philosophen' gegenüber dem Volk abgesetzt wird von einem subjektiven Überlegenheitsgefühl („Un vrai Philosophe ne s'élève point fièrement audessus du Vulgaire, comme s'il avoit seul la raison en partage", ebd.), läßt bereits ahnen, wie zwei Jahrzehnte später die Aufklärungsgegner den Führungsanspruch der philosophes gegen ihre Popularität ausspielen werden. 2. Den entscheidenden Wendepunkt der aufklärerischen Begriffsgeschichte von philosophe markiêrt jedoch das Jahr 1743, als D I D E ROT gleich in seiner ersten Veröffentlichung die sich entwickelnde neue Wortbedeutung gezielt einsetzte 26 ). Im damaligen Meinungsstreit, ob der Ehrentitel philosophe nur dem gläubigen Christen 27 ) oder aber - statt dem Misanthropen - dem Urbanen und tugendhaften Staatsbürger und Familienvater gebühre 28 ), gab der Traktat Le Philosophe des ,Materialisten' D U M A R S A I S den Ausschlag, der zunächst handschriftlich zirkuliert war, erstmals in der anonymen Flugschriftensammlung Nouvelles Libertés de penser (Amsterdam 1743) gedruckt wurde und bis 1777 unter wechselnden Titeln und Zuschreibungen (Voltaire, Helvétius u.a.) ein Dutzend weitere, teils im Text 25a

) Diel. Trévoux (31732, ed. 1734), IV 801f.; übernommen von Dict. Trévoux ("1740, ed. 1743), V 168-70. 26 ) In seiner Übertragung einer englischsprachigen griechischen Geschichte nannte er Prometheus nicht „wise man" wie seine Vorlage, sondern übersetzte frei: „Ce philosophe travailla toute sa vie à ramener à la raison les humains attachés à l'ignorance et à la stupidité." Vgl. T. STYAN: The Graecian History ( 1 7 0 7 ) , 2nd ed., vol. I—II, London 1 7 3 9 mit Diderots Übersetzung: Histoire de Grèce, I, Paris 1 9 4 3 , 2 9 . Weitere Angaben bei DESNÉ. 27

) S o PANCKOUCKE [S.U. T a b . N r . 2 ] . 28 ) So R . DE BONNEVAL: Progrès de

titre de Philosophe', S. 158 -160.

18

l'éducation, Paris 1743, Art. 21: ,Du

13

Philosophe,

Philosophie

leicht veränderte Veröffentlichungen erlebte, darunter auch als Artikel in der Encyclopédie29). Dieser das aufklärerische Rollenverständnis nachhaltig prägende Text brachte nun den zuvor stets von einer Distanznahme gegenüber der Gesellschaft abhängig gemachten A s p e k t der Autoreflexivität in Konvergenz mit j e n e m gesellschaftsbezogenen H a n d e l n , das ansatzweise etwa die Lettres philosophiques postuliert hatten. Die Konvergenz wird möglich, weil die gebildete Gesellschaft („le m o n d e " ) als Bezugshorizont, vor dem die Rolle des philosophe je verschiedene Ausprägungen annehmen kann, hier nicht mehr von einem G e f ü g e starrer, hochkomplizierter Interaktionsnormen besetzt ist, sondern von dem noch offenen Kreis potentieller Adressaten: die Öffentlichkeit war auf dem Weg ihrer Institutionalisierung zu einer politischen Instanz. In der Hinwendung zu diesem Publikum findet der philosophe eine öffentliche A u f g a b e , aus der er ein Selbstwertgefühl bezieht, wie es die höfische Gesellschaft des 17. Jh. als normativer Bezugsrahmen dem honnête homme nie konzedieren konnte: Notre philosophe ne se croit pas en exil en ce monde; il ne croit point être en pays ennemi, il veut jouir en sage Econome des biens que la nature lui offre [...] c'est un honnête homme qui veut plaire et se rendre utile30). Fundiert ist das Handeln des philosophe in der Gesellschaft und für die Gesellschaft zum einen durch vorurteilsfreie empirische Beobachtung („une infinité d'observations particulières"), zum zweiten u n d vor allem aber im Gestus der Autoreflexivität, dessen Konvergenz mit dem Handeln durch die im 18. Jh. so beliebte MaschinenMetaphorik vergegenwärtigt wird: Le Philosophe est une machine humaine comme un autre homme; mais c'est une machine qui par sa constitution méchanique, réfléchit sur ses mouvemens. Les autres hommes sont déterminés à agir sans sentir ni connoître les causes qui les font mouvoir. Le Philosophe au contraire démêle les causes autant qu'il est en lui [...] c'est une horloge qui se monte pour ainsi dire quelquefois elle-même [...] Le Philosophe dans ses passions même n'agit qu'après réflexion; il marche dans la nuit, mais il est précédé d'un flambeau31'. Mit der Konstitution des philosophe als Subjekt der Aufklärung am Konvergenzpunkt von Reflexion und Handeln wurden zugleich jene ) DIECKMANN, 1 - 26. Zur Autorschaft vgl. FAIRBAIRN. ) Le Philosophe [s. u. Tab. Nr. 1], 187f. Eine Konkordanz dieser Erstausgabe mit drei Neuausgaben gibt DIECKMANN, 30 - 65. 31 ) Ebd. 174-176. 29

M

19

Philosophe,

Philosophie

14

negativen Bedeutungsaspekte ausgeblendet, die bis dahin einerseits mit der Autoreflexivität, andererseits mit der gesellschaftlichen Resonanz des philosophe verbunden gewesen waren. Von der wahrhaft ,philosophischen' Autoreflexivität werden die modische Rolle des ,Misanthropen' und die Selbstgenügsamkeit von ,Denksystemen' abgehoben 32 ) ; von seinem Dienst an der Gesellschaft die libertinistische Religionskritik, die Arroganz und die Schmeichelei des Höflings 33 ). Gerade durch solche Negation dem ,Hofmann' einst unterstellter Laster, aber auch weil sich der honnête homme seit dem ausgehenden 17. Jh. teilweise .verbürgerlicht' hatte, konnten dieser Begriff und die mit ihm verbundenen Tugenden der honnêteté und probité nun dazu dienen, die ethische Hauptkomponente der aufklärerischen Rolle des philosophe zu definieren 34 ). Durch diese Verknüpfung mit einem institutionalisierten, um 1743 allerdings bereits verblaßten gesellschaftlichen Idealtypus wurde das neue Rollenbild des philosophe für größere soziale Gruppen annehmbar; andererseits aber objektivierte sich in seiner vordergründigen Bedeutungsangleichung an den letztlich unpolitisch-individualistischen honnête homme ein blinder Punkt im Selbstverständnis der Aufklärung 35 ) : indem die Aufklärer das gesellschaftsbezogene Handeln des philosophe in Autoreflexivität und Privatheit fundierten, konnten sie seinen Status als eines politisch Handelnden übersehen, verdrängen und leugnen. Aus den 1740er Jahren stammen nicht allein die ersten Belege, in denen der Begriff des philosophe auf den Konvergenzpunkt von Reflexion und gesellschaftlichem Handeln gebracht wird; die neue Bedeutungsstruktur scheint mit einer Reihe ihr gegenüber typischer Einstellungen gegen Ende des Jahrzehnts auch bereits institutionalisiert gewesen zu sein. So erklärt es sich, daß ein vielgelesener Moraltraktat von 1748 ausgerechnet im Kapitel über die ,Frömmigkeit' ausführlich die Rolle des philosophe darstellt: gewiß zum einen, um die 32) Ebd. 173 u. 184. ») Ebd. 114 u. 194f. 34 ) Ebd. 194 u. 197: „Séparez pour un moment le Philosophe de l'honnête homme. Que lui reste-t-il? [...] l'idée de malhonnête homme est autant opposée à l'idée de Philosophe, que l'est l'idée de stupide; et l'expérience fait voir tous les jours que plus on a raison, et de lumière, plus on est sur et propre pour le commerce de la vie." - S.a. den Art. „Honnête Homme" im vorliegenden Werk. 35 ) Das bestätigt die unmittelbar an Dumarsais' Text anschließende Einleitung von L A M E T T R I E zu seinen Oeuvres philosophiques, Londres 1 7 5 1 , S. I I I - L V I ; vgl. dazu T H O M S O N , 2 7 9 - 8 1 . - Zum damit verknüpften Problem der aufklärerischen ,Hypokrisie' s. KOSELLECK [ 9 ] , passim. 20

15

Philosophe,

Philosophie

philosophes gegen den schon gängigen Vorwurf der Irreligiosität zu verteidigen; zum anderen aber auch, um Vorbehalte gegen die ihnen zugeschriebene Neigung zur Bevormundung und gegen die ihnen angelastete gesellschaftliche Beunruhigung zu beschwichtigen 3 6 ). Die Tagebucheintragungen Argensons zwischen 1739 und 1756 bestätigen den entscheidenden Strukturwandel der Bedeutungsnorm philosophe vom Bild des Stoikers zum Subjekt der Aufklärung; zugleich verdeutlichen sie, welche Ängste und Aggressionen die Wahrnehmung dieser neuen sozialen Rolle bei einem Vertreter der Aristokratie hervorrufen konnte: 1739 träumte der Marquis noch von der maßvollen Beschaulichkeit („médiocrité") eines von der Gesellschaft und der Sphäre der Machtausübung distanzierten Lebens („La Philosophie bien approfondie retranche les goûts, mais ne les éteint pas"); zwölf Jahre später verspürte er einen „vent philosophique de gouvern e m e n t libre et anti-monarchique", der von England nach Frankreich herüberwehe und mit seiner Religionsfeindlichkeit, seinem „matérialisme" und „fanatisme" von der Meinung der meisten Gebildeten Besitz ergreife. Ließ sich dies G e f ü h l der Bedrohung nur mit gegenaufklärerischen M a ß n a h m e n bewältigen, waren die von den philosophes artikulierten neuen W e r t e und Bedürfnisse mit den Interessen der Monarchie unvereinbar? Argenson meinte, der von Auseinandersetzungen mit den Obergerichten geschwächte König könne seine Autorität festigen, wenn er sich an die Spitze der philosophie stelle, welche ,Gerechtigkeit' und , V e r n u n f t ' auf ihrer Seite habe 3 7 '. E r m u ß t e aber x

) „II y a bien de gens dans le monde à qui le mot de Philosophe fait peur, parce qu'il y en a bien peu qui entendent ce terme dans sa véritable signification. [...] Demandez au peuple ce que c'est qu'un Philosophe [...]? C'est, vous dira-t-il, un fantasque, qui contrôle toutes les actions, qui traite de préjugés les trois quarts de nos opinions, qui ne croit ni aux esprits ni aux Sorciers, & qui peut-être ne croit même en Dieu. - Mais faites la même question à un homme de bon sens: Un Philosophe, vous répondra-t-il, est un homme qui examine avant que de croire, & réfléchit avant que d'agir, & qui conséquemment, quand il est décidé, ne peut manquer d'être ferme dans sa croyance & constant dans ses démarches. - C'est sans doute dans des hommes de ce caractère que se rencontre la vraie & solide piété." (TOUSSAINT: Les Mœurs, 1748, ed. 1760, 18f.). 37 ) „Cependant le Roi est très-mal conseillé; il se donne toujours tort et donne toujours raison au parlement. On le dégrade peu à peu, surtout dans le siècle lumineux et philosophique où nous vivons. Si Henri III fut obligé de se mettre à la tête de la Ligue, Louis XV devrait se mettre à la tête de la philosophie, de la justice et de la raison pour établir son pouvoir et son bonheur." (ARGENSON, 1X222, 5. I I I . 1756). 21

Philosophe,

Philosophie

16

feststellen, daß orthodox-katholische Hofkreise eine ,intolerante' Einengung der arbeitsnotwendigen Freiheit der „savants philosophes" betrieben: „le gouvernement, effrayé par les dévots, est devenu plus censeur, plus inquisiteur, plus misérable sur les matières philosophiques" 3 8 ). Wirklich nahmen u m diese Zeit Druckverbote der staatlichen Z e n s u r b e h ö r d e und Inhaftierungen von Literaten und Buchhändlern etwa in der Bastille zu 39) ; und auch die G e h e i m a k t e , welche der königliche Polizeibeamte d ' H é m e r y zwischen 1748 und 1753 über 453 Pariser A u t o r e n anlegte 4 0 ), zeugt von wachsender Verunsicherung auf staatlicher Seite über .philosophische' Schriftsteller und Bücher. 3. Vollends ausgelöst und gesteigert wurden solche Abwehrreaktionen vor allem von der ab 1751 erscheinenden Encyclopédie. Gleich d'Alemberts Vorrede zu dem einträglichsten Druckwerk der Aufklärung stellte das Vorhaben unter das programmatische Vorzeichen der philosophie, die sich ihre ,Freiheit' erst mühsam gegen den „despotisme théologique" und den „goût des systèmes" e r k ä m p f t , nun aber ihre Vorreiter - Wissenschaften und Schöne Literatur - an Fortschrittlichkeit und Ansehen überflügelt habe: La philosophie, qui forme le goût dominant de notre siècle, semble par les progrès qu'elle fait parmi nous, vouloir réparer le temps qu'elle a perdu, et se venger de l'espèce de mépris que lui avoient marqué nos pères. Ce mépris est aujourd'hui retombé sur l'érudition"41). U n d in seiner zusammenfassenden Tafel unterstellte er bis auf Geschichte und Dichtkunst sämtliche Bereiche des menschlichen D e n kens der Philosophie - von der Physik und Mathematik über Ethik und Logik bis hin zur „Science de D i e u " und zur „Métaphysique générale" 4 2 ). Diderot erklärte die ganze Encyclopédie zum T r e u h ä n d e r und Schrittmacher der neuen .philosophischen' Beobachtungs- und Experimentalwissenschaften - „ A u j o u r d ' h u i que la Philosophie [ . . . ] soûmet à son empire tous les objets de son ressort; que son ton est le ton dominant, & qu'on commence à secouer le joug de l'autorité & de l'exemple pour s'en tenir aux lois de la raison" 4 3 ). D e r Artikel „Philo38) Ebd. VII224 (5. V. 1752). 39 ) Siehe den Art. „Bastille" im vorliegenden Werk. 4°) R . D A R N T O N : The Great Cat Massacre and other Episodes in French Cultural History, New York 1984,145 - 1 8 9 u. 276f. 41 ) Enc., I (1751), S. XXX; s. a. ebd. S. X I X - XXXI. «) Ebd. nach S. XLVI. , «) Art. „Encyclopédie", ebd. V (1755), 636b. 22

17

Philosophe,

Philosophie

sophe" wiederholte dann D U M A R S A I S ' Text von 1 7 4 3 , allerdings unter Kürzungen, die besonders die frühere Angleichung an den honnête homme betreffen 44 ): das neue Rollenverständnis des philosophe hatte sich inzwischen so weitgehend verselbständigt und politisiert, daß es sich von der vorübergehenden Nähe zum honnête homme löste und in der Folgezeit nicht mehr durch diesen Begriff mitdefiniert wurde. Der anonyme Encyclopédie-Artikel „Philosophie" - wegen der Zensur erst 1765 veröffentlicht, aber früher redigiert - übernahm d'Alemberts Konzept, indem auch er philosophie als vernunftgeleitete, empirisch-kritische Erkenntnismethode der blinden Autoritätsgläubigkeit, dem dogmatischen „esprit systématique", den „préjugés" und „passions" entgegenstellte 45 ). Das Journal encyclopédique hob in einer Besprechung gerade diese beiden letztgenannten Artikel hervor und bemerkte mit Genugtuung, daß von den vielschreibenden und anmaßenden „faux philosophes" wohl zu unterscheidende wirkliche ,Philosophen' inzwischen großes öffentliches Ansehen genössen: C'est un titre sans doute fort respectable que celui de Philosophe, lorsque c'est d'après ses actions, ses écrits, & la reconnoissance publique qu'on en est décoré. [...] Le vrai Philosophe est modeste46). Fragt man nun, welche soziale Gruppe als dies .Subjekt der Aufklärung' fungierte, so ist der pauschale Hinweis auf ,das Bürgertum' durch die neuere Forschung überholt. Unser begriffsgeschichtlicher Befund trifft sich vielmehr mit der Hypothese, daß die aufklärerischen Schriftsteller allmählich in eine gesellschaftliche Funktionsstelle einrückten, welche durch die Distanznahme des Altadels vom absolutistischen Hof am Ende des 17. Jh. freigeworden sei47). Und nach Untersuchungen über die Sozialstruktur der Provinzialakademien, der Journalisten des 18. Jh. und der 144 Mitarbeiter der Encyclopédie, unter denen die meisten der zitierten Autoren zu finden sind, waren die philosophes um 1750 ganz überwiegend eine überu

) Ebd. XII (1765), 509-511. Dort fehlt der Satz: „Or ce qui fait l'honnête homme, ce n'est point d'agir par amour ou par haine, par esperance ou par crainte." (DUMARSAIS [Tab. Nr. 1], S. 190) Ebenso entfällt die oben Anm. 34 zitierte Stelle. S. a. die Konkordanz bei DIECKMANN, S. 46 u. 52. «) Enc., XII (1765), 511 - 515; Diderot gilt heute nicht mehr als Verfasser dieses Artikels. «) J. encycl. 1769, II/2, (1. III. 69), 167f. 47 ) F . FURET: Penser la Révolution française, Paris 1978, 57. 23

Philosophe,

Philosophie

18

ständische, .gemischte' Bildungselite von ökonomisch gesicherten, in ihrem Wirtschaftsverhalten durchaus traditionellen Amtsträgern, Rentenbesitzern und wissenschaftlich-technischen .Freiberuflern', deren Anteil geistlicher und adliger Mitglieder allerdings rückläufig war 48 ).

IV. Eroberung des Publikums: der publizistische Kampf zwischen .philosophes' und ,anti-philosophes' und die Institutionalisierung der neuen .philosophie' in der aufgeklärten Öffentlichkeit (etwa 1751 -1776) 1. Überblick War der philosophe im Lauf der 1740er Jahre vom gesellschaftsfernen Misanthropen und weltfremden Stubengelehrten zum engagierten Aufklärer umgedeutet worden, so setzte sich dies neue Wort- und Rollenverständnis erst in den beiden anschließenden Jahrzehnten in breiterem Maße bei den Gebildeten durch, ja schien sogar bestimmenden Einfluß auf die Regierungspraxis zu gewinnen. Dies lag nicht nur an der Überzeugungskraft aufklärerischer Argumentation und Selbstdarstellung für eine bürgerliche' Öffentlichkeit, die sich in einer wachsenden Zahl von Zeitschriften, Buchpublikationen und Sozietäten organisierte und artikulierte, sondern wurde auch begünstigt von einer Systemkrise des Ancien Régime, wie sie sich u.a. in Damiens' Attentat auf Ludwig XV., in Frankreichs Erniedrigung beim Siebenjährigen Krieg, in einer Reihe aufsehenerregender Justizskandale, in der Ausweisung der Jesuiten aus dem Königreich und im Machtkampf zwischen Krone und Parlamenten äußerte. Erst die dadurch von vagen Befürchtungen zur Panik gesteigerte Angst der konservativen alten Oberschichten und deren aggressive Verteidigung verschafften der neuen philosophie landesweite Resonanz, weckten bei den philosophes erst recht eigentlich ein deutliches Gruppenbewußtsein , verstärkten deren inneren Zusammenhalt und trugen paradoxerweise wesentlich zu ihren Erfolgen bei. Dabei lagen die entscheidenden publizistischen Auseinandersetzungen, der Kampf um die Bedeutungen der Schlüsselbegriffe philo48

) Nähere Angaben in: Sozialgeschichte der Aufklärung, ed. H. U. GUMBRECHT/R. REICHARDT/T. SCHLEICH, München 1 9 8 1 , 1 1 1 - 1 6 u. 9 1 - 1 0 6 sowie 1126-31.

24

19

Philosophe,

Philosophie

sophe und philosophie, in d e n frühen 1760er Jahren. Listet m a n ( o h n e A n s p r u c h auf absolute Vollständigkeit 4 9 ) die in den zeitgenössischen Journalen und K o r r e s p o n d e n z e n der z w e i t e n Jahrhunderthälfte b e s p r o c h e n e n nichtdramatischen Traktate und Streitschriften auf, die ausdrücklich an der aktuellen P o l e m i k u m die nouveaux philosophes t e i l n a h m e n (s. n e b e n s t e h e n d e T a b e l l e ) , so ergibt sich eine parallele Entwicklungskurve mit der v o n 51 Theaterstücken, die zwischen 1720 u n d 1800 die R o l l e des philosophe ihrer Z e i t - meist negativ - thematisierten 5 0 ). Traktate und Streitschriften zu den philosophes u n d ihrer philosophie 1743-1789 (ohne Dramen)

1743

1. 2.

1749

3.

1757

4.

1759

5. 6. 7.

49

W e r t u n g e n der Texte: • = pro philosophes O = contraphilosophes A = ambivalent

[C. DUMARSAIS:] Le Philosophe, in: Nouvelles Libertés de Penser, Amsterdam, S. 173-204. [A. C. J. PANCKOUCKE:) Essais sur les philosophes ou les égaremens de la raison sans la foi, Amsterdam. P. L. M. DE MAUPERTUIS: Essai de philosophie morale, Berlin (Neuaufl. 1751). [C. PALISSOT:] Petites lettres sur de grands philosophes, Paris. [D. R. BOULLIER:] Lettre sur l'esprit philosophique de notre siècle, in ders. : Pièces philosophiques et littéraires, [Amsterdam], S. 1 - 3 0 . [C. M. GUYON:] L'Oracle des nouveaux philosophes..., Berne. [A. MORELLET:] Mémoire pour A. Chaumeix, contre les

• O A O • O •

) Die Tabelle soll lediglich einen ersten Überblick geben. Aus praktischen Gründen enthält sie weder die einschlägigen Texte z.B. von CHAUDON, RAYNAL u n d VOLTAIRE, die i m v o r l i e g e n d e n H a n d b u c h oh-

nehin allgemein ausgewertet werden (s. Allg. Bibliographie), noch die bereits von Wade ausreichend verzeichneten Theaterstücke. Einige konservative Texte, die uns erst nach Redaktionsschluß zugänglich wurden, ließen sich aus technischen Gründen nicht mehr in die Tabelle einfügen, sind aber in den Anmerkungen berücksichtigt und bestätigen unsere Schlüsse aus der Tabelle: 1755 GUÉNARD [Anm. 57], 1773 FLEXIER D E R E V A L [ 5 7 ] , 1 7 7 7 / 7 8 CRILLON [ 1 2 6 ] , 1 7 7 8 CLÉMENT [ 1 2 5 ] , 1 7 8 6 LE ROY

DE LOZEMBRUNE [128]. Eine Vollständigkeitskontrolle erlaubt die chronologische Bibliographie in A. MONOD: De Pascal à Chateaubriand. Les défenseurs français du christianisme de 1670 à 1802, Paris 1916, 552 582. - Besonders reiche Hinweise zum folgenden bei DÍAZ, 131 - 349. 50

) WADE, bes. die Liste S. 2f. 25

Philosophe,

1760

8. 9, 10. 11.

12.

13. 14. 15. 16.

17. 18.

19. 20, 21.

1761

22. 23. 24.

1762

25.

1764

26.

26

Philosophie

prétendus philosophes Diderot et d'Alembert, Amsterdam. [A. J. DE CHAUMEIX: Le Sentiment d'un inconnu sur l'Oracle des nouveaux philosophes, Villefranche. A. CHAMBERLAN: Le Philosophe malgré lui, Amsterdam. [ C H A U M E I X : ] Les Philosophes aux abois, ou lettres de M. deC. à Messieurs les Encyclopédistes..., Bruxelles. J. DE L A P O R T E : Les Philosophes, in: L'Observateur littéraire, III, Amsterdam, S. 120-136. Chronologisch zurTheateraffàre: [ M O R E L L E T : ] Préface de la Comédie des Philosophes, Paris (22. V.). PALISSOT: Lettre de l'Auteur de la Comédie des Philosophes, au Public, pour servir de Préface à sa Pièce, o.O. (5.VI.). La Vengeance de Thalie. Poème critique de la Pièce des Philosophes, Genève (5.VI.). Lettre, d'un Original aux Auteurs très-originaux de la Comédie très-originale des Philosophes, Berlin (12. VI.). Petites Réflexions sur la Comédie des Philosophes, o.O. (19.VI.). Conseil de Lanternes, ou Véritable Vision de C. Palissot, pour servir de postscriptum à la Comédie des Filosofes, o.O. (10.VII.). [ I . H U G A R Y DE LA M A R C H E - C O U R M O N T : ] Réponse aux différens écrits publiés contre la Comédie des Philo-

20

O

• O O

• O • • • O O

sophes, o . O . (1.IX.). [ G . F . C O Y E R : ] Discours sur la satyre contre les philosophes, Athènes (15.VIII.). [L. C O S T E : ] Le Philosophe ami de tout le monde, ouConseils désintéressés aux littérateurs, Sophopolis (Sept./ Okt.). V O L T A I R E : Lettres à M. Palissot, avec les réponses, à l'occasion de la comédie des Philosophes, Genève. Apologie des philosophes, ou Discours sur cette question: pourquoi les philosophes passent-ils pour des incrédules? o.O. [ A . H . B E R A U L T - B E L C A S T E L : ] Le Vrai Philosophe, ou Usage de la Philosophie relativement à la société civile, à la vertu et à la vérité, o.O. [ F . LE PRÉVOST D ' E X M E S : ] Réflexions sur le système des nouveaux philosophes, Francfort. C . J . B O N C E R F : Le vrai Philosophe..., Paris (Neuaufl. 1766). S. N. H. L I N G U E T : Le Fanatisme des philosophes, Londres.

• • • • A

O • O

21

Philosophe, Philosophie

1765

27.

1768

28.

1769

29.

1770 1771

30. 31.

[I. MIRASSON:] Le Philosophe redressé, ou Critique impartiale du livre intituleé: Sur la destruction des Jésuites en France, Aubois-Valon. [C. P. CHANDUN DU RUSEAU:] La Philosophie

pratique et

[LE MANON DES GRANGES:] Le Philosophe

moderne,

sociale, vol. I-IV, Paris.

Paris. J. N. CAMISET: Pensées anti-philosophiques, Paris. Le vrai Philosophe. Poëme qui a concouru à l'Académie françoise..., in: J. encyclopéd.

1775

32. 33.

1776

34. 35.

1777

36. 37.

1779

38.

1782

39.

1784

40.

1785

41. 42.

1786

43. 44. 45.

1787

46.

O A O

O A

1771, VIII/3 (15.XII.

1 7 7 1 ) , S. 4 2 3 - 4 2 7 .

[M. DE CUBIERES-PALMEZEAUX:] Epître au comte de Tressfan], sur ces pestes publiques qu'on appelle les philosophes, Genève. [C. L. DELÀ FOLIE:] Le Philosophe sans prétention, ou L'homme rare, Paris. [ROUSSEL DE LA TOUR:] Philosophie religieuse, ou Dieu contemplé dans des œuvres, Rome/Paris. [P. SIGORGNE:] Le Philosophe chrétien, ou Lettres à un jeune homme entrant dans le monde, sur la vérité et la nécessité de la religion, Mâcon/Paris. R. LIGER: Dialogues entre les philosophes modernes, o.O. [C. THEVENEAU DE MORANDE:] Le Philosophe

cynique,

pour servir de suite aux Anecdotes scandaleuses de la cour de France, partie I—II, Londres. [Abbé PEY:] Le Philosophe catéchiste, ou Entretiens sur la religion..., Paris. C. YVON: Accord de la philosophie avec la religion, ou Histoire de la religion divisée en XII époques, Paris (erweit. Neuaufl. 1785). DORAYDE LONGRAIS: Faustin ou le siècle philosophique, Amsterdam. R. LIGER: Triomphe de la religion chrétienne sur toutes les sectes philosophiques, Paris. C. L. RICHARD: Exposition de la doctrine des philosophes modernes, Malines/Lille. J. M. B. CLEMENT: Réquisitoire ou projet de règlement sur la manière dont on pourroit traiter à l'avenir les soi-disant philosophes, Paris. A. LAMOURETTE: Pensées sur la philosophie de l'incrédulité, ou Réflexions sur l'esprit et le dessein des philosophes irréligieux de ce siècle, Paris. A.-L. DE XIMENEZ: Les Philosophes, in: Poésies nationales de la Révolution française, Paris 1836, S. 11 -12. Mme de GENLIS: La Religion considérée comme l'unique base du bonheur et de la véritable philosophie, Paris.

O O O O O •

O A O O O O O • O

27

Philosophe, Philosophie

22

Zeitaktuelle Streitschriften zu den nouveaux philosophes und ihrer philosophie:

Theaterstücke andere Texte

1742-59

1760-76

1777-89

6 7

24 28

9 11

Nach einer vorbereitenden Übergangsphase erweist sich in beiden Fällen das Erscheinen der Encyclopédie ab Juli 1751 als Hauptauslöser der Auseinandersetzungen, die sich über mehr als ein Jahrzehnt hinzogen (Tab. Nr. 4 - 8 u . 10). Ihren Höhepunkt bildet Palissots Komödie Les Philosophes, welche 1760 ihrerseits einen regelrechten Flugschriftenkampf und eine ganze Reihe weniger spektakulärer Nachahmungen hervorrief (Tab. Nr. 1 2 - 2 1 ) . Anschließend ging die Häufigkeit neuer einschlägiger Texte stark zurück, blieb aber auf einem höheren Niveau als vor 1750. , Antiphilosophische' Traktate waren nun anders als zuvor deutlich in der Überzahl, argumentierten freilich überwiegend und zunehmend aus der Defensive gegen eine philosophie, die nicht länger um Anerkennung zu kämpfen brauchte. Insgesamt bewirkten gerade die Auseinandersetzungen der 1760er Jahre eine affektive Aufladung der bisher recht abstrakten Konzepte. Während die philosophes bei ihren Gegnern diffuse Befürchtungen weckten, münzten sie umgekehrt deren Polemik in eine .Verfolgung der Tugend' um, in eine Bestätigung ihres Anspruchs, daß die eigene Kritik moralisch fundiert sei. Wie argumentierten diese zahlreichen Schriften, die hier nur exemplarisch vorgestellt werden können, und wie wurden sie in der sich entwickelnden Öffentlichkeit rezipiert? 2. ,Philosophe' und ,philosophie' im Kreuzfeuer der Streitfragen a) , Matérialisme' Am durchgängigsten wurden die philosophes von ihren Gegnern der Religionsfeindlichkeit und des Antiklerikalismus geziehen. Gleich als die Encyclopédie zu erscheinen begann, bemerkte Argenson eine verstärkte Praxis der Jesuiten, jeden, der sich .philosophisch' äußere („quiconque parlera philosophiquement"), der „irréligion" und des „matérialisme" - „ce goût de philosopher du siècle" - zu bezichtigen und das Verbot der Encyclopédie zu betreiben 51 ). Wirklich setzte die 51

28

) ARGENSON, V I I 5 8 u . 68 (31. X I I . 1751 u . 1 2 . 1 . 1 7 5 2 ) .

23

Philosophe,

Philosophie

zwanzigbändige Erwiderung der Jesuiten auf dies Werk Voltaire und die „Philosophes" mit einer arroganten Clique von Atheisten gleich: „ces hommes audacieux dont la Philosophie consiste à se déchaîner contre une Religion dont la vérité [...] irrite leur orgueil" 52 ). Ausführliche Abhandlungen prangerten speziell den ,antichristlichen Charakter' der neuen philosophie an 53 ). Und als eine Konferenz der katholischen Bischöfe Frankreichs einen Hirtenbrief gegen deren subversive ,Irrlehren' ausarbeitete, wollte sie ihn zuerst Instruction Pastorale anti-philosophique nennen, wählte dann aber doch noch einen theologischeren Titel: „une Instruction où ils [die Prälaten] renversent cette Philosophie irréligieuse qui voudroit lutter contre l'Eglise et en frapper les fondements" 5 4 ). Holbachs radikales PamphletWörterbuch karikierte den denunziatorischen Wortgebrauch auf orthodox-katholischer Seite durch gezielte Überspitzung: Philosophes. Ce sont les prétendus amis de la sagesse & du bon sens; d'où l'on voit que ce sont des marauts, des voleurs, des fripons, des pendarts, des impies, des gens détestables pour l'Eglise, à qui la société ne doit que des fagots & des bûchers55). Andererseits registrierte die Öffentlichkeit, daß die philosophes zu solchen Vorwürfen manchen Anlaß boten, indem sie sich z. B. in der Akademie der Schönen Künste systematisch gegen die geistlichen Akademiemitglieder verbündeten, der Wirkung ihrer ,Philosophie' den zunehmenden Nachwuchsmangel der religiösen Orden zugutehielten 56 ) und den Versuch einer Versöhnung von Christentum und 52

) Religion vengée, X (1760), 38f.

53

) Z . B . LE MANON DES GRANGES [ T a b . N r . 29], 227: „ L e C h r i s t i a n i s m e n e

condamne & ne réprouve cette philosophie déraisonnable qui s'acharne à abolir tout culte de la divinité, à combattre & à rendre incertaine l'existence de la Divinité même; cette Philosophie désespérante qui cherche a dépouiller l'homme de ses plus beaux droits [...] Cette Philosophie arrogante qui n'oppose aux légitimes raisons, que d'indécentes railleries & de grossieres injures [...]".

54

) BACH., V 152f. (17. V I I I . 1770); s . a . e b d . X I X (28. V I I I . 1770). D e r

Hirtenbrief hieß nun Avertissement du clergé de France, assemblé à Paris par permission du Roi, aux fidèles du royaume, sur les dangers de l'incrédulité, Paris 1770. 55 ) HOLBACH: Théologie (1768), 177. Diese Eintragung schob er Palissot und J.-N. MOREAU unter; letzterer war Autor des aufsehenerregenden ,antiphilosophischen' Pamphlets Nouveau Mémoire pour servir à l'histoire des Cacouacs, [Paris] 1757. 56 ) Vgl. nachein. ARGENSON, VIII 290 (9. V. 1754); Espion Anglois, I 219 (1. XII. 1773). 29

Philosophe,

Philosophie

24

.Philosophie' ironisch abtaten: „Le but de Maupertuis est de prouver qu'on ne peut être heureux que par religion" 57 ). So fanden einzelne Versuche, die philosophie der Offenbarungsreligion anzunähern und damit auf ihre traditionelle Bedeutung zurückzudrängen (s.Anm. 57), wenig Resonanz. Nicht allein in streitbaren katholischen Spezialwörterbüchern 58 ), auch bei Gesprächen auf den Promenaden verbanden sich die Begriffe philosophe und philosophie nun so selbstverständlich mit der Vorstellung von ,Atheismus' und ,Materialismus' 59 ), daß das Dictionnaire de Trévoux seine frühere zögernde Zustimmung zum ,misanthropischen Philosophen' widerrief: Dans le monde on décore aussi du nom de philosophe ces prétendus esprits forts, qui [...] se mettent au-dessus des devoirs et des obligations de la vie civile et chrétienne; et qui, affranchis de tout ce qu'ils appellent préjugés de l'éducation en matière de religion, so mocquent des pauvres humains, assez faibles pour respecter les lois établis, et assez imbéciles pour n'oser secouer le joug d'une très ancienne superstition60).

1384 ( X I I . 1749) zu M A U P E R T U I S [Tab. Nr. 3], Ähnlich wie dieser J. encycl. 1756, V/3 ( 1 . V I I I . 56), 11 - 1 4 ; B A C H . , V 18f. (26. X I . 1769) zu Holbachs Essai sur les préjugés: „On parle de l'antipathie qui subsistera toujours entre la Philosophie & la Superstition". - Eine konservative Festlegung der philosophie versuchte die Französische Akademie mit ihrer Preisfrage „En quoi consiste l'esprit philosophique, conformément à ces paroles de l'Ecriture: ,Non plus sapere, quam oportet sapere'?" Den Preis verlieh sie dem Jesuitenpater A. G U Ê N A R D : Discours qui a remporté le prix de l'éloquence à l'Académie française en l'année 1755, Paris 1755. Siehe ferner Irréligion dévoilée... (1774), 2f.: „la Philosophie est [...] une Théologie naturelle qui rapproche l'homme de Dieu [...]; s.a. F L E X I E R D E R E V A L : Catéchisme philosophique... propre à défendre la Religion chrétienne, Liège/Bruxelles 1773, S. VII: „Quelque abus qu'on a fait du mot de Philosophie, [...] nous donnons le titre de Philosophique à la chose la plus simple et la plus négligée par les Philosophes, qui est le Catéchisme des Chrétiens." 58 ) P A U L I A N (1770), 248: „on appelle Philosophes de prétendus esprits forts, qui surtout en matière de Religion se donnent la liberté de tout penser, de tout écrire." - C H A U D U N (1771), II 67: „M. de V[oltaire] prend uniquement pour Philosophes les Athées, les Déistes, les Épicuriens, les Spinosistes, les Matérialistes, & c." 59 ) Das liberale Konversationslexikon von A L L E T Z (1761), S. 43 schreibt: „de Philosophes, qui ont été par conséquent appellés à bon droit Athées." - Zum Tod der Duchesse D'Aiguillon heißt es bei BACH., VI 148 (16. VI. 1772): „C'étoit une femme [...] fort entichée de la philosophie moderne, c'est-à-dire, de Matérialisme et d'Athéisme [...]". 60) Dict. Trévoux (61771), VI738.

57

30

) GRIMM,

25

Philosophe,

Philosophie

b), Fanatisme' Darauf erwiderten die Sprecher der philosophes gelegentlich beschwichtigend, daß sie das Christentum überhaupt nicht anzweifelten, sondern nur seinen Mißbrauch durch den Klerus bekämpften 6 1 ). Meist aber reagierten sie mit dem Gegenvorwurf des ,religiösen Fanatismus': „L'ennemi né du philosophe est ce fanatique atrabilaire qui défend sa secte avec le poignard & la flamme des bûchers" 62 . Voltaire stellte denn auch den Artikel „Philosophe" seines Dictionnaire philosophique weitgehend unter das Vorzeichen ungerechter Verfolgung, der die meisten verdienten philosophes von Charon über Descartes und Gassendi bis hin zu Bayle und Fontenelle ausgesetzt gewesen seien: „Nous avons toujours vu les philosophes persécutés par des fanatiques" 63 . Auf der anderen Seite entlarvten die Aufklärungsgegner die so zur Schau gestellten Verfolgungsängste arrivierter philosophes als publikumswirksame, aber künstliche Selbstinszenierung zur geläufigen literarischen Gestalt der vertu persécutée: „il est si doux de jouer le mérite persécuté, ou prêt à l'être! On se rend si considérable en renonçant à la considération! Ce charlatanisme a quelque chose de si séduisant pour ce même public que l'on méprise" 64 ). Darüberhinaus gaben sie den Fanatismusvorwurf an die philosophes zurück: „ils demandent la tolérance, ils renversent tout. Ils crient contre le fanatisme, et jamais on ne vit des fanatiques plus furieux" - kritisierte 1765 ein katholischer Pamphletist aus Anlaß von d'Alemberts Schrift gegen die Jesuiten (s. u.), die selbst Aufklärern zu maßlos schien 65 ). 61

) „Ceux qui ne sont que Philosophes, et qui croient de bonne foi le patriotisme offensé par les droits du clergé, verront avec plaisir, que loin d'être nuisible au bien public, ils font, en les réduisant à leurs justes bornes, un des plus sûrs garants de la prospérité publique." (Ephémérides N° 13 vom 16. XII. 1765,1201f.) - S. a. Tab. Nr. 22.

62

) DELISLE DE SALES: Philosophie

(1770), 1 1 0 8 . - Z u m f o l g e n d e n m e h r im

Art. „Fanatisme" im vorliegenden Handbuch. « ) VOLTAIRE: Dict. (1765), 346. - GRIMM, I V 135 (15. V I I I . 1759) k l a g t e ,

das antiphilosophische Pamphlet von GUYON (Tab. Nr. 6) liefe auf die Forderung hinaus: „il faut exterminer tous ceux qui ne sont pas bons cat h o l i q u e s . " - S. a. e b d . I V 305 (15. X . 1760); sowie ARGENSON, V I I 1 0 6 (12. I I . 1752).

M

) PALISSOT: Petites Lettres [Tab. Nr. 4], zustimmend zitiert in Année littér. VIII/11 (XII. 1757), 239.

65

) MIRASSON [ T a b . N r . 27], 6 7 f . ; d a z u GRIMM, V I 338 (1. V I I I , 1765). - S . a.

Diderots Besprechung des Pamphlets von MoRELLET[Tab. Nr. 7], das sofort verboten, zu Schwarzmarktpreisen gehandelt und abgeschrieben wurde (ebd. IV 108 -111,15. V. 1759). 31

Philosophe,

Philosophie

26

LINGUET verwandte eine sechzigseitige Schrift darauf, den philosophes Überheblichkeit, Unduldsamkeit gegenüber Andersdenkenden, militante Propagierung übersteigerter Zwangsvorstellungen, Forderung bedingungsloser Gefolgschaft und besessenes Buhlen um Proselyten nachzuweisen, was Aufklärer mit Betretenheit vermerkten 66 ), ihr Gegner Fréron aber zur Lektüre empfahl: Le fanatisme religieux se baigne quelquefois dans le sang. [...] Mais celui de la Philosophie, moins destructeur en apparence, n'est pas moins dangereux. [...] Le fanatisme philosophique est à la fois destructeur, lâche & timide. Il opprime, il dégrade les hommes67). Kein Wunder, daß die katholische Gegenaufklärung diese Kritik im Begriff philosophes lexikalisch zu institutionalisieren suchte: „Iis prêchent la tolérance comme des séditieux prêchent la soumission; ils veulent qu'on tolere ce qui vient de leur part, et ils sont les plus impatiens de tous les intolérans, vis-à-vis de ceux qui leur remontrent leurs écarts" 68 ). c) , Sektenbildung' Damit verband sich eng der wechselseitige Vorwurf der CliquenWirtschaft und Sektenbildung. Als Reaktion auf radikal-aufklärerische Schriften von Helvétius und Holbach prägte Fréron das Schlagwort „Philosophistes" oder sprach von „M. de Voltaire et toute la Philosophaille" 69 ). Ein konservatives Wörterbuch charakterisierte den angeblichen Ausschließlichkeitsanspruch der philosophes mit den Worten: „Toute la science de la Philosophie étoit renfermée dans leur école; le reste du genre humain n'étoit point éclairé" 70 ). Auch neutralere Beobachter sprachen von einer neuen „Secte de Philosophes audacieux" 71 , und selbst der wohlwollende Baron Grimm berichtete zutreffend von einem „parti philosophique", der sich in der französischen Akademie gegen die dévots formiere 72 ). Vor allem in «) LINGUET [Tab. Nr. 26]; dazu GRIMM, VI 55f. (15. VIII, 1764). 07) Année littér. VII/7 (18. XI. 1764), 173 u. 178. - S. a. ebd. 1/1 (3.1.1768) 19. - Weitere Hinweise zu Fanatismusvorwürfen bei Fréron gibt BALcou, 134f.,186f.,197f.,448. ) Ami du Peuple, N° 35 (11. XI. 1789), S. 52, N°112(24. V. 1790), S. 7. *) Ami du Peuple, N° 132 (13. VI. 1790), S. 8. 35 ) Manifeste du Peuple Francais. Paix aux Peuples et Guerre aux Tirans (ca. 1792).

99

Terreur, Terroriste,

Terrorisme

12

Parler de paix avec les ennemis de la révolution qui siègent dans le sénat, c'est folie ou stupidité: les scélérats ne cherchent qu'à nous tromper, et si jamais ils suivent le bon chemin, c'est lorsqu'ils y seront poussés par la crainte des vengeances populaires, c'est lorsqu'ils y sont maintenus par la terreur36). Dabei konnte nach der Auffassung des Ami du Peuple in Umkehrung der bisherigen Herrschaftsverhältnisse nur der am stärksten tyrannisierte Teil der Gesellschaft, der peuple, das Idealbild der Gleichheit gegenüber den Privilegierten, durch Ausübung von Gegenterror die Revolution vorantreiben 37 ). Nicht nur die radikalen Jakobiner und die Befürworter des gewaltsamen Volksaufstandes sahen in der Revolution eine terreur, die dem .Despotismus' Schrecken einflößen sollte: Auch der Girondist Vergniaud griff auf dieses Stereotyp zurück, allerdings nur, um unter dem Beifall der Abgeordneten der Législative eine terreur zu propagieren, die in einer legalen Form die Nationalversammlung gegen die Monarchie ausüben sollte: Je vois les fenêtres du palais où l'on trame la contre-révolution, où l'on combine les moyens du nous replonger dans les horreurs de l'esclavage, après nous avoir fait passer par tous les desordres de l'anarchie, et par toutes les fureurs de la guerre civile. (La salle rétentit d'applaudissements.) [...] L'épouvante et la terreur sont souvent sorties dans les temps antiques, et au nom du despotisme, de ce palais fameux. Qu'elles y rentrent aujourd-hui au nom de la loi. (Les applaudissements redoublent et se prolongent)38. *) Ami du Peuple (2. Ser.), N° 76 (17. XII. 1792), S. 7, N° 84 (25. XII, 1792) u. N° 105 (23.1. 1793), S. 3 37 ) „Dans l'état du guerre où nous sommes, il n'y que le peuple, le petit peuple, ce peuple si méprisé et si peu méprisable (1), qui puisse en imposer aux ennemis de la révolution, les contenir dans le devoir, les forcer au silence, les réduire à cet état de terreur salutaire [...] (1) C'est la seule partie saine de la nation, la seule qui chérit la liberté, la seule qui veut le bien public; dans toutes les autres classes la masse est corrompue, il n'y a que des exeptions honorables." Ami du Peuple, N° 132(13. VI. 1790), S. 8. 38) Sitzung vom 10. März 1792. Moniteur, XI N° 73, S. 607 vom 13. III. 1792. Siehe auch D E LAVICOMTERIE: DU peuple et des rois, Paris 1790, S. 15; Danton im Jakobinerclub am 13. VI. 1792: „Je prends l'engagement de porter la terreur dans une cour perverse." ( A U L A R D : Jacobins, III 699); Robespierre im Jakobinerclub am 14. VI. 1792. (ebd. S.702). Ebenso propagierten die Royalisten den ,Schrecken': „...que la dictature royale était le seul remède, qu'il fallait imposer aux brigands par une grande terreur." Aussage D'Eprémesnils vom 29. II. 1790. Zitat nach: BOURSIN/CHALLAMEL, S. 814; in gleichem Sinn Montmorin an die Königin am 13. VII. 1792: „Je crois nécessaire de frapper les Parisiens 100

13

Terreur, Terroriste,

Terrorisme

Lag der Legitimation für diese Art der Schreckensverbreitung die Auffassung zugrunde, im Namen der Nation gegen Schuldige auf dem Wege der Justiz vorgehen zu müssen, so verlangten die spontanen, unkontrollierten Aktionen der terreur, z.B. das Lynchen einzelner aristocrates, die Massakrierung von Bertier und Foulon oder die Ermordung der königlichen Leibwache eine subtilere, nicht mehr nur legalistische Begründung. Wenn wir heute wissen, daß der „Terror eine Praxis ist, die ihre Legitimität unmittelbar aus unseren höchsten Zwecken bezieht", daß „die subjektive Bedingung der Möglichkeit des Terrors das gute Gewissen ist"39), so gilt dies auch für die Apologeten der gewaltsamen Aktion in der Revolution, welche die an und für sich unbestreitbare Inhumanität des Terrors erst in der angestrebten Verwirklichung höchster Idealer aufgehoben sahen40. Sie waren sich des „Dispositionellen am Terror" durchaus bewußt und definierten ihn zunächst „indifferent gegenüber der moralischen Verfassung der Zwecke, denen er dient"41): Le peuple est terrible dans ses punitions. L'aristocratie est barbare dans ses vengeances. Comparons maintenant. La terreur s'attache aux coups de l'un et de l'autre parti. Pourquoi? Parce que l'un et l'autre parti frappent avant que la loi prononce. Mais soyons vrais, et jugeons d'après ce qui s'est passé sous nos yeux, depuis le commencement de la révolution. Des victimes du peuple en est-il une seule que la loi eût épargnée? Des victimes de l'aristocratie en est-il une seule que la loi n'eût protégée?42)

Legitimierbar wurde diese Gewaltanwendung für ihre Apologeten nur dadurch, daß sie zum einen die Verwirklichung übergeordneter, absoluter Werte der Moral und Humanität zum Ziel haben sollte; zum anderen sahen sie die „Volksrache" als adäquates Äquivalent für eine noch fehlende, aber durch die terreur erreichbare, am Naturpar la Terreur." Zitat nach BRUNOT, IX 2, S. 870. - Zur Kritik an der revolutionären terreur: La Puce à l'oreille du Bon-Homme Richard (Nov. 1790), S. 35; La Clef de la Révolution ou le Règne de la Séduction (ca. 1792), S. 9 u. 16f. 39 ) LÜBBE , S. 80 ; ders. : Philosophie als Aufklärung, in ders. : Praxis der Philosophie. Praktische Philosophie. Geschichtstheorie, Stuttgart 1978. S. 5 - 3 4 , hier S. 14. 40 ) So z.B. N° 6, S. 111 des Ami du Peuple (2. Serie): „Pourquoi ne prendrions-nous pas pour faire triompher la liberté, les mêmes que les despotes prennent pour la détruire?" (1. II. 1793). 41

) LÜBBE, S . 8 2 f .

42

) Rév. Paris N° 64 (25. IX. - 2 . X. 1790), S. 593. 101

Terreur, Terroriste, Terrorisme

14

recht orientierte absolute Gerechtigkeit an43). Wenn Marat, Prudhomme u.a. der spontanen terreur der Jahre 1789 bis 1793 diesen Sinn gaben und der Konvent im September 1793 die terreur zum Regierungsprinzip erhob, so handelten sie alle subjektiv mit bestem Gewissen in dem Bewußtsein, nur durch den von ihnen befürworteten bzw. ausgeübten Terror einen auch den .Feinden der Revolution' zur Disposition stehenden, dann aber gegen ihre höchsten humanitären Ziele gerichteten Terror zu verhindern44). Die Liquidation des Gegners wurde damit nicht nur zur moralischen Pflicht45), sie war in der Argumentation der radikalen jakobinischen Publizisten allein schon dadurch gerechtfertigt, daß die Opfer an Menschenleben, die dem feindlichen System in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zugeschrieben wurden, in jedem Fall die Zahl der Terroropfer überstieg. Dadurch wurde der Tod des Gegners zu einem Akt der Humanität und zur präventiven, simplen, mathematisch begründbaren Notwendigkeit: 43

) „Si les tribunaux continuent à garder un perfide silence: citoyens, c'est à vous à pourvoir à votre surête [...] fallut-il pour assurer votre repos, votre liberté, votre vie, être réduits à la cruelle nécessité de les massacrer tous. Telle est la voix de la raison, de la justice, de la nature." Ami du Peuple, N° 72 (15. II. 1790), S. 5, N° 110, S. 4 (22. V. 1790), N°153 (4. VII. 1790) S. 3, N° 173 S. 3 (26. VII. 1790): „Sans les têtes abattues de Launay et de Flesselles, de Berthier et de Foulon, aurions-nous aujourd'hui une déclaration des droits de l'homme?"; s. a. ebd. N° 290 (24. XI. 1790) S. 7, N° 314 (18. XII. 1790) S. 5; Père Duchesne, N° 14 (20.1. 1791), S. 2f. " ) Roux, S. 12