Handbuch der Dialoganalyse [Reprint 2013 ed.] 9783110940282, 9783484730175


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German Pages 591 [592] Year 1994

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Table of contents :
Einleitung
ERSTER TEIL: Konzepte der Dialoganalyse
1. Ethnomethodologische Konversationsanalyse
2. Gesprochene Sprache – dialogisch gesehen
3. Soziolinguistische Kommunikationsanalyse
4. Die britische Diskursanalyse
5. Das Genfer Modell der Gesprächsanalyse
6. Sprechakttheoretische Dialoganalyse
7. Praktische Semantik und Linguistische Kommunikationsanalyse
8. Formale Dialogspieltheorien
ZWEITER TEIL: Theorie und Methodologie der Dialoganalyse
9. Verstehen und Beschreiben von Dialogen
10. Grundlagen der Dialogorganisation
11. Dialog-Typologie
12. Frage-Antwort-Dialoge
13. Dialoganalyse und Semantik
14. Dialoganalyse und Grammatik
15. Dialoganalyse und Prosodie
16. Dialoge in Institutionen
17. Beziehungsgestaltung in Dialogen
DRITTER TEIL: Anwendungsbereiche der Dialoganalyse
18. Entwicklung der Dialogfähigkeit bei Kindern
19. Sprachstörungen im Dialog – Analyse und Therapie
20. Dialoganalyse und Sprachunterricht
21. Dialoganalyse und Psychotherapie
22. Dialoganalyse und Gesprächstraining
23. Dialoganalyse und Medienkommunikation
24. Dialoganalyse und Verständlichkeit
25. Analyse literarischer Dialoge
26. Geschichte von Dialogformen
Verzeichnis der Autorinnen und Autoren
Sachregister
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Handbuch der Dialoganalyse [Reprint 2013 ed.]
 9783110940282, 9783484730175

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Handbuch der Dialoganalyse Gerd Fritz / Franz Hundsnurscher

(Hg.)

Handbuch der Dialoganalyse herausgegeben von Gerd Fritz und Franz Hundsnurscher

Max Niemeyer Verlag Tübingen 1994

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Handbuch der Dialoganalyse / hrsg. von Gerd Fritz und Franz Hundsnurscher. - Tübingen : Niemeyer, 1994 NE: Fritz, Gerd [Hrsg.] ISBN 3-484-73014-5 kart. ISBN 3-484-73017-X Pp. © Max Niemeyer Verlag GmbH & Co. KG, Tübingen 1994 © für die Illustrationen: Martin Glomm Die Illustrationen dieses Handbuchs einschließlich des Einbandmotivs sind nach Messerschnittvorlagen von Martin Glomm reproduziert. Für die freundliche Genehmigung zum Abdruck der Illustration zu Beitrag 19 danken wir dem Verlag Hermann Schmidt, Mainz. Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Satz und Druck: Guide-Druck GmbH, Tübingen Einband: Heinr. Koch, Tübingen

Vorwort

Schon bei der ersten Arbeitstagung zur Dialoganalyse 1986 in Münster äußerten verschiedene Teilnehmer den Wunsch, eine Übersicht über aktuelle Fragestellungen und Forschungsrichtungen des weitverzweigten Arbeitsfeldes der Dialoganalyse zu bekommen. Es war klar, daß eine Darstellung dieses jungen Arbeitsfeldes weniger eine abschließende Dokumentation als eine Präsentation von „work in progress" würde sein können. Zwei Jahre später, bei der Arbeitstagung in Bochum, nahm das Projekt eines Handbuchs konkretere Formen an. Die Bereitschaft der Wissenschaftler/innen, die wir um Beiträge baten, an diesem Projekt mitzuarbeiten, bestätigte uns das Interesse an diesem Kernbereich der Pragmatik und seinen vielfältigen Aspekten. Nach fünfjähriger Vorbereitung können wir nun dieses Handbuch der Dialoganalyse vorlegen. Vielen hilfsbereiten und geduldigen Leuten sind wir zu Dank verpflichtet, vorweg den Autorinnen und Autoren. Herr Harsch-Niemeyer vom Max Niemeyer Verlag förderte das Projekt des Handbuchs von Anfang an mit großem Interesse. Von den Mitarbeitern des Verlags danken wir besonders Frau Birgitta Zeller, die die Entstehung des Bandes in allen Phasen mit sachkundiger Hilfe und kreativen Vorschlägen unterstützte, und Frau Christiane Würth, die wesentliche Teile der Herstellung betreute. Der sicherlich ungewöhnlichste und vielleicht attraktivste Beitrag zum Handbuch stammt von dem Frankfurter Graphiker Martin Glomm, der die Tour de force wagte, für jeden Artikel eine eigene Vignette zu schaffen. Von unseren hilfreichen universitären Mitarbeitern möchten wir besonders Thomas Gloning danken, der von der inhaltlichen Diskussion der einzelnen Artikel bis zu den Details der Korrekturen eine kritische, aber unerschütterliche Hilfe war. Dank gebührt auch Kirsten Adamzik und Bettina Kranz, die den Beitrag zum Genfer Modell ins Deutsche übersetzt haben. Gerd Fritz,

Gießen

Franz Hundsnurscher,

Münster

Inhaltsübersicht

Einleitung

IX

ERSTER TEIL

Konzepte der Dialoganalyse 1. Jörg R. Bergmann Ethnomethodologische Konversationsanalyse

3

2. Johannes Schwitalla Gesprochene Sprache-dialogisch gesehen

17

3. Heinrich Löffler Soziolinguistische Kommunikationsanalyse

37

4. Wolfgang Lörscherl Rainer Schulze Die britische Diskursanalyse

51

5. Jacques Moeschier Das Genfer Modell der Gesprächsanalyse

69

6. Götz Hindelang Sprechakttheoretische Dialoganalyse

95

7. Thomas Gloning Praktische Semantik und Linguistische Kommunikationsanalyse

113

8. Gerd Fritz Formale Dialogspieltheorien

131

ZWEITER T E I L

Theorie und Methodologie der Dialoganalyse 9. Bernd Ulrich Biere Verstehen und Beschreiben von Dialogen

155

10. Gerd Fritz Grundlagen der Dialogorganisation

177

11. Franz Hundsnurscher Dialog-Typologie

203

12. Hans-Jürgen Bucher Frage-Antwort-Dialoge

239

Vili

Inhaltsübersicht

13. Thomas Gloning Dialoganalyse und Semantik 14.

BrunoStrecker Dialoganalyse und Grammatik

259 281

15. Christian Sappok Dialoganalyse und Prosodie

299

16. Eckard Rolf Dialoge in Institutionen

321

17. Kirsten Adamzik Beziehungsgestaltung in Dialogen

357

DRITTER T E I L

Anwendungsbereiche der Dialoganalyse 18. Katharina Meng Entwicklung der Dialogfähigkeit bei Kindern

377

19. Friedemann Pulvermüller Sprachstörungen im Dialog-Analyse und Therapie

393

20. Edda Weigand Dialoganalyse und Sprachunterricht

411

21. Götz Hindelang Dialoganalyse und Psychotherapie

429

22. Edda Weigand Dialoganalyse und Gesprächstraining

451

23. Hans-Jürgen Bucher Dialoganalyse und Medienkommunikation

471

24. Robert Schäflein-Armbruster Dialoganalyse und Verständlichkeit

493

25. Anne Betten Analyse literarischer Dialoge

519

26. Gerd Fritz Geschichte von Dialogformen

545

Verzeichnis der Autorinnen und Autoren

563

Sachregister

565

Einleitung

1.

Erste Hinweise zum Handbuch

Das vorliegende Handbuch hat die Aufgabe, wichtige Fragestellungen, Forschungsrichtungen und Ergebnisse der Dialoganalyse in kurzen Übersichtsartikeln zu präsentieren und damit den Stand der Theoriediskussion und der empirischen Forschung in Umrissen zu bestimmen, Desiderate zu benennen und vielleicht auch Anregungen zur Weiterentwicklung des Arbeitsbereichs zu geben. Beim gegenwärtigen Stand der Forschung kann es kein Handbuch sein, in dem eine Forschungsperiode einer etablierten Disziplin abschließend dokumentiert wird. Es ist vielmehr ein Zwischenbericht über die Entwicklung eines lebhaft expandierenden Forschungsfeldes. Das Handbuch ist in drei Teile gegliedert: Konzepte der Dialoganalyse, Theorie und Methodologie der Dialoganalyse, Anwendungsbereiche der Dialoganalyse. Natürlich ist eine säuberliche Trennung dieser thematischen Bereiche nicht möglich, so daß man z.B. theoretische Probleme nicht nur im Theorieteil, sondern auch in Artikeln aus den beiden anderen Teilen behandelt findet. Beispielsweise findet man Bemerkungen zum Regelbegriff in mehreren Artikeln aller drei Teile. Dasselbe gilt für Anwendungsaspekte, die nicht nur im dritten Teil des Handbuchs, sondern auch bei einzelnen Theoriefragen oder bei einzelnen Konzeptionen behandelt werden. So werden z.B. Verständigungsprobleme zwischen Arzt und Patient bei der Darstellung institutionsspezifischer Dialogformen angesprochen, Beobachtungen zur Form von Unterrichtsdialogen finden sich im Artikel über die britische Diskursanalyse, und Hinweise zum kommunikativen Sprachunterricht finden sich in der Darstellung der Praktischen Semantik. Um einen Zugriff auf derartige Fragestellungen quer zur Artikelgliederung des Handbuchs zu ermöglichen, haben wir ein ausführliches Sachverzeichnis angelegt. Daneben gibt es in den Artikeln Querverweise auf thematische Bezüge zu anderen Artikeln. Ansonsten sind die einzelnen Artikel in sich abgeschlossen und deshalb auch jeweils mit einem eigenen Literaturverzeichnis versehen. Um eine möglichst authentische Darstellung zu erreichen, haben wir versucht, soweit es möglich war, die dialoganalytischen Konzeptionen im ersten Teil des Handbuchs von Autoren behandeln zu lassen, die zu den betreffenden Forschungsrichtungen gehören oder ihnen doch nahestehen. Daß sich auf diese Art und Weise keine ganz einheitliche Darstellungsperspektive erzielen läßt, haben wir in Kauf genommen, um dem Bild des Arbeitsbereichs seine charakteristische Buntheit zu erhalten. Eine vollständige Dokumentation der gegenwärtigen dialoganalytischen Forschungsaktivitä-

χ

Einleitung

ten, auch nur für Europa, ist im Rahmen dieses Handbuchs nicht möglich. Man muß nur einen Blick auf die Teilnehmerlisten der letzten dialoganalytischen Arbeitstagungen oder die Inhaltsverzeichnisse einschlägiger Zeitschriften werfen, um zu sehen, daß Dialoganalyse nicht nur in Mitteleuropa betrieben wird, sondern in Schweden ebenso vertreten ist wie in Bulgarien und in Spanien ebenso wie in Israel. Die Vielfalt ist aber nicht nur regional. Auch die interdisziplinäre Vielfalt kann nur angedeutet werden. Der Schwerpunkt der Darstellung in diesem Handbuch liegt im Bereich sprachwissenschaftlicher Arbeiten, und dort wiederum herrscht die germanistische Perspektive vor. Viele Autorinnen und Autoren, auch Autorengruppen, denen kein eigener Artikel gewidmet werden konnte, sind in den Artikeln zu einzelnen Theorie- und Anwendungsfeldern mit ihren Arbeiten angeführt, so daß das Handbuch, wie wir glauben, insgesamt ein repräsentatives Bild vom Stand der Forschung auf diesem Arbeitsfeld vermittelt. Eine umfangreichere Dokumentation von Forschungsaktivitäten zum Thema Dialog wäre eine wertvolle Arbeit, die die Kooperation und die wechselseitige Abstimmung von Forschungen erleichtern würde. Dazu ist dieses Handbuch nur ein erster Schritt. Nützliche bibliographische Hinweise zu Themen der Dialoganalyse finden sich u.a. auch in der Pragmatik-Bibliographie von Nuyts und Verschueren (1987).

2.

Überblick zu den Themen des Handbuchs

In Teil 1 des Handbuchs („Konzepte der Dialoganalyse") wird eine Auswahl von Forschungsrichtungen der Dialoganalyse dargestellt. Es handelt sich dabei einerseits um Forschungsrichtungen, die den Gang der Dialoganalyse seit längerer Zeit entscheidend bestimmt haben (z.B. die soziologische Konversationsanalyse und die sprechakttheoretischen Ansätze zu einer Dialogtheorie), andererseits um Richtungen, die für den gegenwärtigen Diskussionsstand charakteristisch sind, und schließlich um Richtungen, von denen wir glauben, daß ihre weitere Verbreitung für die Entwicklung der Dialoganalyse vorteilhaft sein könnte (z.B. die formalen Dialogspieltheorien). Obwohl diese Konzeptionen schon aufgrund mancher gemeinsamer Quellen und aufgrund wechselseitiger Rezeption Gemeinsamkeiten erkennen lassen, divergieren sie doch in grundlegenden Fragen. Derartige Grundprobleme sind die Beschreibung und Erklärung der Kohärenz und der Regularitäten in Dialogen. Einigkeit herrscht weitgehend darüber, daß es Dialogregularitäten gibt, die sich auf verschiedenen Ebenen beschreiben lassen, z.B. Regularitäten des Sprecherwechsels, Regularitäten in der Abfolge von sprachlichen Handlungen bestimmten Typs, charakteristische Themenverläufe, Verknüpfungen auf der Ebene der Äußerungsformen (durch Anaphern, Ellipsen oder Dialogpartikeln) usw. Differenzen gibt es aber schon bei der Beschreibung der grundlegenden Einheiten: Äußerungspaare - „adjacency pairs" (Art. 1), Sequenzmuster (Art. 6,7), Züge/Gesprächsaustausch (Art. 4,5), Dialogspiele (Art. 8) usw. Noch größer ist die Vielfalt der Auffassungen bei der Erklärung dieser Regularitä-

Einleitung

XI

ten. Für das Verständnis des gegenwärtigen Standes der Forschung ist es nützlich, die Standpunkte auch nicht voreilig zu harmonisieren. Teils werden die Regularitäten als Lösungen funktionaler Probleme erklärt, teils als Anwendungen sozialer Regeln, als Ausführungen von Handlungsplänen oder als Befolgungen von kommunikativen Prinzipien (Relevanzprinzip oder Kooperationsprinzip). Diese Erklärungen sind nicht prinzipiell miteinander unverträglich - die Lösung eines funktionalen Problems kann an bestimmten kommunikativen Prinzipien orientiert sein und kann im Laufe einer historischen Entwicklung Regelcharakter bekommen - , aber der Status und das Gewicht der jeweiligen Erklärungsform und das Verhältnis der Erklärungsformen zueinander muß geklärt sein. So gibt es seit einigen Jahren eine Diskussion über den Regelbegriff, die zur Klärung dieses Begriffs und seiner Reichweite beigetragen hat (vgl. Art. 10). Ein weiterer Diskussionspunkt sind methodische Fragen. Soll das Kategorienarsenal aus der Analyse von authentischem Material entwickelt werden, so der radikal-analytische Standpunkt der Konversationsanalyse (Art. 1)? Welchen Status hat die Rekonstruktion der Grundstrukturen von einfachen Dialogformen in der Funktion von Vergleichsobjekten (vgl. Art. 7, Art. 8)? Welche Rolle sollte die Analyse von größeren Mengen an Datenmaterial spielen? Wie hängen hermeneutische und quantitative Methoden zusammen (Art. 9)? Viele Fragen, die im ersten Teil des Handbuchs im Zusammenhang einzelner Theoriekonzeptionen aufgegriffen werden, werden im zweiten Teil („Theorie und Methodologie der Dialoganalyse") systematisch behandelt. Eine methodische Voraussetzung für jede empirische Analyse von Dialogen ist die Reflexion der Rolle des Verstehens im Analyseprozeß. Diesem Thema ist der erste Artikel des zweiten Teils gewidmet. In diesem Zusammenhang werden auch Probleme der Datenerhebung und der Form von Transkriptionen behandelt. Die weiteren Artikel dieses Teils beschäftigen sich in unterschiedlicher Form mit den grundlegenden Aspekten der Fähigkeit dialogischen Redens und ihrer Realisierung in verschiedenen Dialogformen. In Art. 10 „Grundlagen der Dialogorganisation" werden die wichtigsten Organisationsprinzipien von Dialogen behandelt, an denen sich Sprecher orientieren, wenn sie in dialogisch zusammenhängender Rede ihre kommunikativen Ziele verfolgen (z.B. Sequenzmuster, thematische Zusammenhänge und Wissenskonstellationen). Dabei wird besonders darauf geachtet, wie die verschiedenen Aspekte der Dialogfähigkeit beim Reden und Verstehen zusammenwirken. Soweit sich derartige Organisationsprinzipien analytisch trennen lassen, gibt ihre Beziehung zueinander auch einen Hinweis auf eine sinnvolle Struktur einer Theorie vom dialogischen Reden. Zur Fähigkeit dialogischen Redens gehört primär die Fähigkeit zur angemessenen Verwendung von einzelsprachlichen Äußerungsformen. Unterschiedlichen Aspekten der Form von Äußerungen in Dialogen gelten Art. 13,14 und 15, nämlich der lexikalisch-semantischen, der grammatischen und der prosodischen Form, insbesondere der Intonation. Damit sind wichtige Aspekte der Äußerungsform erfaßt, die aus der Perspektive ihrer Verwendung im Dialog z.T. ganz anders behandelt werden müssen als aus sprachsystematischer Sicht. Auch dieser Teil des Handbuchs kann keinen Anspruch auf Vollständigkeit erheben. Es soll hier wenigstens eine Lücke erwähnt werden, die besonders spürbar ist, nämlich

XII

Einleitung

das Fehlen eines gesonderten Artikels über Dialoganalyse und Phonetik. Knappe Hinweise zu diesem Thema finden sich im Art. 2 „Gesprochene Sprache - dialogisch gesehen". Daß die Organisationsprinzipien von Dialogen für verschiedene kommunikative Zwecke unterschiedlich angewendet werden, führt zur Ausbildung unterschiedlicher Typen von Dialogen. Beim gegenwärtigen Stand der Forschung ist es eine wichtige Aufgabe der Dialoganalyse, mit systematischen Fragestellungen die Vielfalt der Dialogformen in bestimmten Gesellschaften übersichtlich zu machen. Dieser Aufgabe und den damit verbundenen theoretischen Problemen widmet sich Art. 11. Eine der Grundfragen bei der Ausarbeitung einer Dialogtypologie betrifft die Form der Beschreibung einzelner Dialogformen, ihrer Bausteine und Spielarten. Diese Frage kann man exemplarisch behandeln am Beispiel elementarer Dialogsequenzen und ihrer Einbettung in umfangreichere Dialogformen. Der Prototyp der elementaren Dialogsequenz ist der Frage/Antwort-Zusammenhang. Er zeigt eine Reihe von unterschiedlichen Ausprägungen (z.B. nach unterschiedlichen Fragetypen), und er findet sich in unterschiedlichen Dialogformen (Interview, Prüfung usw.). Am Beispiel dieses Prototyps werden in Art. 12 die Aufgaben und Aspekte der Analyse von derartigen Elementarsequenzen zusammenhängend dargestellt. Ein Faktor, der zur Vielfalt der Dialogformen beiträgt, ist die Einbettung von Dialogen in institutionelle Zusammenhänge (Dialoge vor Gericht, in der Klinik, im Sozialamt). Die Erforschung der institutionsspezifischen Kommunikationsformen ist seit einigen Jahren ein besonders aktiver Arbeitsbereich der Dialoganalyse, der eine stark anwendungsorientierte Perspektive hat. Dieses Themenfeld wird in Art. 16 behandelt. Neben der Kenntnis der institutionellen Einbettung von Dialogen spielt die Berücksichtigung der individuellen Sicht und Gestaltung von Dialogrollen und -beziehungen eine wichtige Rolle für das Verständnis von Dialogverläufen. Dieser Aspekt von Dialogen ist vor allem in kritischer Auseinandersetzung mit Überlegungen von Watzlawick untersucht worden. Der mit der Beziehungsgestaltung in Dialogen befaßte Art. 17 schließt den zweiten Teil des Handbuchs ab. Teil 3 des Handbuchs erschließt einige wichtige Anwendungsfelder der Dialoganalyse. Dabei verstehen wir unter Anwendungsfeldern einerseits bestimmte Spezialthemen wie die Untersuchung der Formen literarischer Dialogdarstellung (Art. 25) oder die Geschichte von Dialogformen (Art. 26) und andererseits Forschungsbereiche, die stark an praktischen Fragestellungen orientiert sind, wie die Verständlichkeitsforschung (Art. 24) oder die Erforschung kommunikativer Aphasietherapien (vgl. Art. 19). Das Interesse an praktischen Fragestellungen ist für viele Vertreter der Dialoganalyse eine grundlegende Motivation ihrer Arbeit. Man erwartet von dialoganalytischen Forschungen, daß sie einen besseren Überblick ermöglichen über Grundstrukturen von Kommunikationsformen, kommunikative Strategien, Probleme des Verstehens und der Verständigung, kommunikative Benachteiligungen bestimmter Personengruppen usw. Dieser Überblick soll zur Verbesserung der kommunikativen Verhältnisse in verschiedenen Praxisbereichen beitragen. Dazu gehört ein besseres Verständnis der Entwicklung der Dialogfähigkeit von Kindern oder der Dialogfähigkeit von Patienten mit Sprachstörungen, eine reflektierte Praxis des Lehrens, Beratens

Einleitung

XIII

und Therapierens in verschiedenen institutionellen Zusammenhängen, die Systematisierung der Lernziele in einem kommunikativen Sprachunterricht und die Verbesserung der Adressatenorientierung und Verständlichkeit von Texten und Gesprächsformen in unterschiedlichen Medien und Institutionen. Diese praktischen Fragen spielen in den Artikeln 18-24 eine wichtige Rolle. Beim gegenwärtigen Entwicklungsstand der Dialoganalyse ist die anwendungsorientierte Forschung in einer etwas zwiespältigen Lage. Einerseits ist das theoretische Fundament für viele Arbeiten noch etwas schwach, und auch die empirische Basis ist im allgemeinen nicht sehr breit, andererseits lassen sich schon mit den gegenwärtig verfügbaren Analysemitteln und -ergebnissen begründete Hinweise auf strukturelle Mängel bestimmter Dialogformen (z.B. in der Arzt-Patient-Kommunikation) geben und Verbesserungsvorschläge (z.B. zur Verständlichkeit von Dialogen zwischen Fachleuten und Laien) vorbringen. Viele anwendungsorientierte Arbeiten haben in dieser Lage aus der Not eine Tugend gemacht und die Entwicklung und Erprobung von theoretischen Kategorien mit praxisorientierten Fragestellungen verknüpft und damit auch zu den Grundlagen der Dialoganalyse beigetragen. Auf diese Weise wirkt die Anwendungsorientierung als ein starkes Antriebsmoment für die Entwicklung der Dialoganalyse.

3.

Zum Dialogbegriff der Dialoganalyse

Der Ausdruck Dialoganalyse dient der Bezugnahme auf verschiedene Forschungsrichtungen, die zunächst einmal durch die Gemeinsamkeit der thematischen Orientierung auf Dialoge und Formen von Dialogen verbunden sind. Um diese thematische Orientierung zu verdeutlichen, sind einige Hinweise zum zugrundegelegten Dialogbegriff angebracht. Der Prototyp des Dialogs ist für die meisten gegenwärtigen Forschungsrichtungen die spontane mündliche Wechselrede zwischen zwei Personen face-to-face. Mit der Verwendung des Ausdrucks Dialog wird also nicht etwa auf eine besonders formelle und thematisch anspruchsvolle Gesprächsform Bezug genommen, im Gegensatz etwa zu einer informellen Unterhaltung oder einer einfachen Redesequenz wie beim Einkauf im Bäckerladen. Vielmehr werden aus guten theoretischen Gründen für die Konstitution des Gegenstands Dialog zunächst einmal keine Grenzen gezogen zwischen formellen und informellen Gesprächstypen oder unterschiedlichen Funktionstypen. In ähnlich offener Weise wird übrigens auch in der sog. Konversationsanalyse der Ausdruck conversation verwendet. Der erwähnte Kernbereich dialogischer Rede ist der Ausgangspunkt der meisten Darstellungen in diesem Handbuch. Aber von diesem Prototyp des Dialogs gehen vielfältige Verwandtschaftslinien aus: Der Mehrpersonendialog, die mündliche Kommunikation mit eingeschränkter Wechselrede (z.B. Predigt, Vorlesung), die technisch über Entfernungen übertragene mündliche Kommunikation (über Telephon oder Konferenzschaltung mit Fernsehbild), das „Gespräch in Briefen", die wissenschaftliche Kontroverse in schriftlicher Form, die Leserbriefkontroverse, das Lehren mit schriftlichen Materialien und mit Bildern, die Me-

XIV

Einleitung

dienkommunikation (z.B. Fernsehnachrichten), der „Dialog" zwischen Mensch und Maschine. Dazu kommen Kommunikationen, in denen der Dialog Gegenstand der Kommunikation ist, ζ. B. die Rede wiedergäbe in Fernsehnachrichten oder die literarische Dialogdarstellung. Um die Beziehungen und Familienähnlichkeiten zwischen diesen Formen der Kommunikation nicht aus dem Auge zu verlieren, empfiehlt sich keine zu restriktive Auffassung von Dialoganalyse. Für den weiteren Gegenstandsbereich könnte man den Ausdruck Kommunikationsanalyse reservieren, vergleichbar der Verwendung des Ausdrucks discourse analysis in Teilen der angelsächsischen Forschung. Aber mit solchen terminologischen Abgrenzungen ist noch nicht viel gewonnen. Für das vorliegende Handbuch haben wir jedenfalls Themen wie die dialogischen Elemente in der Medienkommunikation, die Verständlichkeit von Anweisungstexten oder die Analyse literarischer Dialogdarstellungen nicht ausgeschlossen.

4.

Traditionslinien und neuere Entwicklungen der Dialoganalyse

Die Dialoganalyse ist ein junges wissenschaftliches Arbeitsfeld mit vielfältigen Traditionslinien. Reflexion über Dialoge und Dialogformen zeigt sich schon in frühen Texten wie dem Alten Testament oder den Homerischen Epen, sie ist die Grundlage der Dialogdarstellung im antiken Drama. In der europäischen Tradition wird diese Reflexion zuerst explizit gemacht als Beitrag zur Logik, Rhetorik und Poetik in den Schriften von Autoren wie Piaton, Aristoteles, Cicero oder Quintilian. Diese Traditionen, in denen wir Ansätze zu Dialogtheorien erkennen können, reichen in unterschiedlichen Ausprägungen bis in unsere Zeit (Dialektik und Argumentationslehre, Dialogrhetorik, Poetologie des Dramas). Auch wenn man die in diesen Traditionen gewonnenen Erkenntnisse nicht gering achtet und auch die Beiträge älterer Forschungen aus Sprachwissenschaft, Literaturwissenschaft, Psychologie und Anthropologie berücksichtigt - z.B. in Arbeiten von Wegener, Hirzel, Bühler oder Malinowski - , so kann man doch feststellen, daß eine Wissenschaft vom Gespräch, wie sie Moritz Lazarus vor etwa 100 Jahren forderte, sich in größerem Umfang erst seit etwa 30 Jahren zu entwickeln beginnt. Ein verstärktes Interesse an Aspekten des dialogischen Redens zeigte sich z.T. völlig unabhängig in so unterschiedlichen Forschungsrichtungen wie der sprachanalytischen Philosophie (z.B. Grice, Strawson), der Ethnographie (z.B. Hymes), der Sprachwissenschaft (Stichwort: Gesprochene Sprache), der Literaturwissenschaft (z. B. Bauers „Zur Poetik des Dialogs"), der Soziologie (in der sog. Konversationsanalyse der ethnomethodologischen Schule) und der Kognitionspsychologie (z. B. bei der Analyse von Wissensbeständen, die beim Verstehen genutzt werden). Dabei spielt bei den stärker empirisch orientierten Disziplinen neben dem theoretischen Impuls ein scheinbar rein äußerlicher Faktor eine wichtige Rolle für die Entwicklung von inhaltlichen und methodischen Fragestellungen, nämlich die Verbreitung der Tonband- und später der Videotechnik und die damit ermöglichte Gewinnung eines Fundus von

Einleitung

XV

authentischem Datenmaterial. Einen bemerkenswerten Aufschwung nahm die Dialogforschung in theoretischer und empirischer Hinsicht seit den 70er Jahren. Innerhalb der Sprachwissenschaft entwickelte sich dieser Schwerpunkt teilweise als Reaktion auf eine Verengung des Gegenstandsbereichs, die für manche strukturalistischen Schulen und die generative Grammatik charakteristisch war. Programmatisch stand für diese Erweiterung des Forschungshorizonts der Begriff der kommunikativen Kompetenz. Aber die „pragmatische Wende", die die Dialogforschung begünstigte, war eine viel breitere Strömung, als daß man sie auf diese Reaktion reduzieren könnte. Das zeigt schon der Blick auf die oben erwähnten Forschungsrichtungen. Die Entwicklung wurde gefestigt und beschleunigt dadurch, daß Vertreter der verschiedenen Forschungsrichtungen zumindest teilweise die Ergebnisse der jeweils anderen Richtungen rezipierten. Das gilt etwa für die Wittgensteinrezeption bei den Dialoglogikern und den Konversationsanalytikern, für die Rezeption der Sprechakttheorie bei manchen Soziolinguisten oder die breite Rezeption von Sprechakttheorie, Wittgensteinschem Sprachspielkonzept, Konversationsanalyse und Ethnographie der Kommunikation bei vielen Sprachwissenschaftlern. Dieser Prozeß eines interdisziplinären Austausches ist heute in vollem Gange. Dabei darf man nicht übersehen, daß der interdisziplinäre Charakter des Arbeitsfeldes zwar die große Chance der wechselseitigen Anregung bietet, daß die Unterschiede der Interessen und Grundannahmen aber auch erhebliche Verständigungsprobleme verursachen. Wissenschaftsorganisatorisch spiegelt sich die Entwicklung der Dialoganalyse u. a. in folgenden Fakten: Seit den 70er Jahren finden sich dialogtheoretische Themen regelmäßig in vielen Fachzeitschriften, z.B. in Journal of Pragmatics, Language in Society, Discourse Processes, Journal of Verbal Learning and Verbal Behavior (ab 1985: Journal of Memory and Language), Language oder der Zeitschrift für Germanistische Linguistik, um nur wenige zu nennen. Es wurden regelmäßig Tagungen zur Dialoganalyse abgehalten, z.B. die IdS-Tagung zur Dialogforschung von 1980, die sprachphilosophische Begegnung zum Thema Dialog in Campinas (Brasilien) 1981, die Dialoganalyse-Tagungen in Münster 1986, Bochum 1988, Bologna 1990, Basel 1992. Im Jahre 1990 wurde in Bologna die „International Association for Dialogue Analysis" (I.A.D.Α.) gegründet, die sich die Förderung der Dialoganalyse im internationalen und interdisziplinären Rahmen zum Ziel gesetzt hat. Diese lebhafte Aktivität und die bunte Palette von Forschungsarbeiten zum Thema Dialog in den letzten Jahren zeugen von der Attraktivität des Forschungsgegenstands und der Fruchtbarkeit der dialoganalytischen Perspektive. Wichtiger noch als diese quantitative Dynamik ist die Tatsache, daß sich allmählich ein Feld von zunehmend klar profilierten Theoriekonkurrenten abzuzeichnen beginnt und daß sich in manchen Punkten auch hoffnungsvolle Ansätze zur theoretischen und methodischen Konvergenz erkennen lassen. Vielleicht sehen wir darin Entwicklungsschritte einer neuen Disziplin, der Wissenschaft vom Dialog.

ERSTER T E I L

Konzepte der Dialoganalyse

1.

Ethnomethodologische Konversationsanalyse

1. 2. 3. 4. 5. 6.

Begriffsbestimmung Entwicklungsgeschichte Theoretischer Hintergrund Methodische Prinzipien Thematische Bereiche Literaturhinweise

1.

Begriffsbestimmung

Konversationsanalyse (= KA) bezeichnet einen Untersuchungsansatz, dessen Ziel es ist, durch eine strikt empirische Analyse natürlicher' Interaktion die formalen Prinzipien und Mechanismen zu bestimmen, mittels derer die Teilnehmer an einem sozialen Geschehen ihr eigenes Handeln, das Handeln anderer und die aktuelle Handlungssituation in ihrem Tun sinnhaft strukturieren, koordinieren und ordnen. Der Κ A geht es um die formalen Verfahren, um die „Ethno-Methoden", welche die Interagierenden lokal einsetzen, um den für ihr Handeln relevanten Kontext zu analysieren, die Äußerungen ihrer Handlungspartner zu interpretieren und die Verständlichkeit, Angemessenheit und Wirksamkeit ihrer eigenen Äußerungen zu produzieren. Die KA beschäftigt sich, kurz gesagt, mit den kommunikativen Prinzipien der (Re-)Produktion von sozialer Ordnung in der situierten sprachlichen und nichtsprachlichen Interaktion. Die Κ A ist aufgrund ihres Namens zwei möglichen Mißverständnissen ausgesetzt: Zum einen suggeriert die Bezeichnung „Konversationsanalyse", daß ausschließlich der Gesprächstyp „Konversation" Gegenstand der Untersuchung ist. Zwar wird in der KA dem informell-alltäglichen Gespräch eine zentrale Bedeutung als Grundform der sprachlichen Interaktion zugeschrieben (Heritage 1984, 238ff.). Doch beschränkt sich die Perspektive der KA seit ihren ersten Anfängen keineswegs auf Unterhaltungen, sondern erstreckt sich auch auf die Untersuchung ganz anderer - etwa institutionenspezifischer - Gesprächsarten. Zum andern dient der Begriff KA in der deutschsprachigen Literatur zuweilen als allgemeine Bezeichnung für die verschiedenen Untersuchungs-

4

J. R. Bergmann

ansätze, die sich mit der empirischen Analyse von .natürlichen' sprachlichen Texten befassen (Kallmeyer/Schütze 1976). Damit drohen jedoch theoretische und methodologische Eigenarten, die für das Verständnis der KA wesentlich sind, aus dem Blick zu geraten oder mißverstanden zu werden. Deshalb wird der Begriff KA im folgenden in seiner engeren, ursprünglichen Bedeutung zur Bezeichnung der ethnomethodologischen „conversation analysis" gebraucht.

2.

Entwicklungsgeschichte

Die KA hat sich in den 60er und 70er Jahren als eigene soziologische Forschungsrichtung aus der von Harold Garfinkel (1967) begründeten Ethnomethodologie entwickelt (Bergmann 1981). Für das theoretische und methodische Selbstverständnis der KA ist die Ethnomethodologie bis heute bestimmend (Heritage 1984). Einfluß auf die Entstehung der KA haben jedoch auch die interaktionsanalytischen Arbeiten Erving Goffmans (Goffman 1981; Bergmann 1991a), die kognitive Anthropologie, die Ethnographie des Sprechens sowie die Philosophie des späten Wittgenstein ausgeübt. Von grundlegender Bedeutung für die Konzeptualisierung der KA waren die Arbeiten von Harvey Sacks, insbesondere dessen „Lectures", die von 1964 bis 1972 an verschiedenen kalifornischen Universitäten gehalten wurden und die, nachdem sie lange Zeit nur in Form von Tonbandabschriften zirkulierten, jetzt in edierter Form zugänglich sind (Sacks 1989; 1992). Neben den paradigmatischen Arbeiten von Harvey Sacks waren es vor allem die Studien von Emanuel Schegloff (1968) und Gail Jefferson (1972), die der frühen KA ihr Profil verschafften. Seit Anfang der 70er Jahre wurde die Κ A auch außerhalb der USA rezipiert. Zugleich mit dieser räumlichen Ausdehnung breitete sich die KA über ihre engeren soziologischen Fachgrenzen hinaus aus und faßte auch in anderen wissenschaftlichen Disziplinen Fuß. Insbesondere in der Linguistik (Streeck 1983) traf sich die Κ A mit zwei Entwicklungen: Zum einen wandte sich die sprachwissenschaftliche Forschung in den 70er Jahren zunehmend von dem idealisierten Sprecher-Hörer-Modell Noam Chomskys ab und befaßte sich mit real gesprochener Sprache. Zum andern etablierten sich in der Linguistik mit der Sprechakttheorie, der Pragmatik und der Diskursanalyse Ansätze, die sich der Analyse von Sprachhandlungen widmeten. Auf diese Entwicklungen in der neueren Sprachwissenschaft hat die KA, für die das soziologisch motivierte Interesse an der Struktur und Methodizität sprachlich realisierter sozialer Handlungen konstitutiv ist, einen nachhaltigen Einfluß ausgeübt (Levinson 1983). Mittlerweile hat die KA auch in andere Fachgebiete, etwa in die Rhetorik- und Kommunikationsforschung (Beach 1989) oder in die Psychologie (Edwards/Potter 1992), Eingang gefunden und wesentlich zur Begründung einer dialogisch-konstruktivistischen Sichtweise beigetragen. Die KA gilt heute neben den „Studies of Work" (vgl. Bergmann 1991b) als die wichtigste Analyserichtung, die sich aus dem ethnomethodologischen Forschungspro-

1. Ethnomethodologische

Konversationsanalyse

5

gramm entwickelt hat. Ihre grundlegenden Arbeiten finden sich in einer Reihe von Sammelwerken aus den 70er Jahren (Sudnow 1972; Turner 1974; Schenkein 1978; Psathas 1979; Zimmerman/West 1980). Über ihre Entwicklung in jüngster Zeit informieren einige Sammelbände (Atkinson/Heritage 1984; Button/Lee 1987; Helm/Anderson/Meehan/Rawls 1989; Boden/Zimmerman 1991), Themenhefte von Zeitschriften (Button/Drew/Heritage 1986; Maynard 1987; 1988), Übersichtsartikel (Zimmerman 1988; Goodwin/Heritage 1990; Maynard/Clayman 1991) und Monographien (Nofsinger 1991). Im deutschsprachigen Raum ist die KA angesiedelt zwischen Mikrosoziologie einerseits und linguistischer Gesprächsanalyse andererseits.

3.

Theoretischer Hintergrund

Die Ethnomethodologie ist entstanden als Versuch, auf die alte und für das Fach Soziologie zentrale Frage, wie soziale Ordnung möglich ist, eine neue Antwort zu finden (Weingarten/Sack/Schenkein 1976). Gemäß dem strukturfunktionalistischen Ansatz Talcott Parsons', der bis in die 50er Jahre hinein die sozialwissenschaftliche Theoriediskussion in den westlichen Ländern dominierte, konnte das Problem der sozialen Ordnung durch den Rekurs auf vorgegebene, geteilte und internalisierte kulturelle Wertsysteme als gelöst betrachtet werden. Gegen diesen Lösungsansatz sperrte sich Harold Garfinkel mit dem Argument, daß zwischen den immer nur allgemein formulierbaren Regeln und Werten einerseits und der immer einmaligen Situation des aktuellen Handelns andererseits ein erkenntnistheoretischer Hiatus liegt. Allgemeine Regeln, so Garfinkel, müssen notwendigerweise in das aktuelle Interaktionsgeschehen hinein vermittelt, sie müssen situiert werden, damit sie handlungsrelevant werden. Diese Vermittlung aber ist allein durch Interpretation der Regeln wie der Situation zu erreichen; nur durch Sinnzuschreibung und Deutung lassen sich Regeln (Werte) und Situation stimmig aufeinander beziehen. Damit trat für Garfinkel die Frage nach dem „Wie?" der Sinnkonstitution im alltäglichen Handeln in den Vordergrund. „This thesis", beginnt Garfinkel (1952,1) seine bei Talcott Parsons entstandene Dissertation, „is concerned with the conditions under which a person makes continuous sense of the world around him." Mit dieser Fragestellung knüpfte Garfinkel explizit an die Bemühungen von Alfred Schütz (1932/1960) an, zum Zweck der philosophischen Begründung der Sozialwissenschaften auf phänomenologischem Weg zu klären, wie sich gesellschaftliche Wirklichkeit in der vorwissenschaftlichen Erfahrung konstituiert (Eberle 1984). Freilich war Garfinkeis Interesse von Beginn an stärker empirischer Art. Seine Aufmerksamkeit richtete sich auf das operative Fundament der im alltäglichen Handeln als selbstverständlich hingenommenen sinnhaften Ordnung, d. h. auf die Techniken und Mechanismen - die Ethno-Methoden - ihrer Produktion. Die ethnomethodologische Frage nach der Genese von sinnhafter Ordnung in der Alltagspraxis darf nicht „kognitiv" verkürzt und auf die Frage beschränkt werden, wie der Sinn einer Handlung in der subjektiven Wahrnehmung der Beteiligten hervorge-

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bracht wird. Bei den Ordnungsleistungen, welche die Ethnomethodologen als Untersuchungsobjekt vor Augen haben, handelt es sich vielmehr um Sinnindikationen und -Offenbarungen, welche die Handelnden in ihren Äußerungen dem Interaktionspartner als Verstehenshilfen mit auf den Weg geben. D.h., die Ethnomethodologie läßt sich von der Vorstellung leiten, daß im Vollzug alltäglicher Handlungen Methoden zur Anwendung kommen, mittels derer die gerade ablaufenden Handlungen und Handlungssituationen als „Zeichen-und-Zeugnisse-einer-sozialen-Ordnung" (Garfinkel) erkennbar gemacht werden. Entsprechend ihrer ethnomethodologischen Grundhaltung geht die KA von der Prämisse aus, daß die Handelnden das, was sie im alltäglichen Handeln als vorgegebene soziale Tatsachen, als unabhängig von ihrem Zutun existierende Realität wahrnehmen und behandeln, erst in ihren Handlungen und Wahrnehmungen als solche hervorbringen. Gesellschaftliche Tatbestände erhalten ihren Wirklichkeitscharakter ausschließlich über die zwischen den Menschen ablaufenden Interaktionen. Erst in der sozialen Interaktion stellt sich die Objektivität von als „objektiv" wahrgenommenen Ereignissen, die Faktizität von als „faktisch" geltenden Sachverhalten her. Gesellschaftliche Wirklichkeit wird von Garfinkel verstanden als eine Vollzugswirklichkeit, d.h. als eine Wirklichkeit, die von den Interagierenden „lokal" hervorgebracht und intersubjektiv ratifiziert wird. Dieser Vorgang der sinnvermittelten Wirklichkeitserzeugung kann, da alle kompetenten Gesellschaftsmitglieder an ihm teilhaben, nicht in subjektiv beliebiger Manier ablaufen, er erfolgt vielmehr m e t h o d i s c h , was bedeutet: er weist einzelne formale und als solche beschreibbare Strukturmerkmale auf. Dazu zählen: 1. Was von den Handelnden als soziale Tatsache hingenommen wird, ist nicht ein für allemal fixiert; Wirklichkeit ist ein Geschehen in der Zeit und damit transformierbar und fragil. Die Handelnden stehen vor der Aufgabe, ihre Wirklichkeitsdefinitionen in der aktuellen Interaktion aufeinander abzustimmen und durch entsprechende Markierungsleistungen fortlaufend zu bestätigen bzw. auf Modifikationen hinzuweisen. 2. Im Vollzug von Handlungen setzen die Akteure Techniken und Verfahren ein, um eben diese Handlungen als sinnvoll und vernünftig erscheinen zu lassen. Mittels dieser Techniken werden Handlungen noch während ihrer Ausführung identifizierbar, verstehbar, beschreibbar, erklärbar, „accountable" (Garfinkel 1967) gemacht. D.h., der Vorgang der sinnvermittelten Konstruktion von Wirklichkeit wird in der Ethnomethodologie als eine interaktive Leistung konzipiert, die in der Ausführung und Koordination szenischer Praktiken besteht. 3. Dieser Sinngebungsprozeß ist seinem Wesen nach reflexiv, da die Handlung durch den dargestellten Sinn erklärbar und - umgekehrt - der Sinn durch die vollzogene Handlung bestätigt wird. Die in einer Handlung erkennbar mitlaufende Wirklichkeitsdefinition sorgt ihrerseits dafür, daß diese Handlung als situationsangemessen, nachvollziehbar und rational erscheint. Die Praktiken der Sinngenerierung strukturieren eine Handlung nicht von außen, sondern sind ein konstitutiver Bestandteil jenes Geschehens, auf dessen sinnhafte Organisation sie gerichtet sind.

1. Ethnomethodologische Konversationsanalyse

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4. Interaktionsabläufe und Verstehensvorgänge in alltäglichen Handlungssituationen sind durch eine spezifische Zeitökonomie gekennzeichnet. Handelnde werden im Alltag von pragmatischen Handlungsmotiven geleitet und können die Voraussetzungen und Implikationen ihrer Entscheidungen immer nur in sehr begrenztem Maße im vorhinein abklären. Die Methoden der alltäglich-praktischen Sinnkonstruktion fungieren in dieser Situation als ökonomisierende Abkürzungsverfahren. Sie dienen dazu, unter prinzipiell unklaren Entscheidungsbedingungen rationales, d.h. angemessenes, vernünftiges, effizientes Handeln zu ermöglichen. 5. Die interaktive Erzeugung von sozialer Ordnung ist unausweichlich ein Prozeß der l o k a l e n Produktion, d. h., sie ereignet sich immer unter spezifischen situativen, kontextuellen Bedingungen. Die Handlungen und Interpretationen der Akteure sind prinzipiell auf diese kontextuellen Bedingungen bezogen, sie spiegeln in ihrer Ausführungsweise diese kontextuelle Orientierung wider - auf der sprachlichen Ebene etwa durch deiktische Elemente. Durch diese Situierung erhalten alle Äußerungen unvermeidlich einen „indexikalen" Charakter. Das aber bedeutet, daß vieles von dem, was ein Sprecher meint, in dem, was er faktisch sagt, unausgesprochen bleibt und nur als bloßer Verweisungshorizont präsent ist. Äußerungen sind immer im höchsten Maße voraussetzungsreich (Goffman 1983) und deshalb für einen Außenstehenden in vielerlei Hinsicht intransparent. Für einen wissenschaftlichen Beobachter mag dies ein Ärgernis sein, für die Interaktionsteilnehmer dagegen sind die kontextuellen Bezüge der Äußerungen ihrer Handlungspartner unverzichtbare Interpretationsressourcen. Wird soziale Interaktion nur als Ausführung von Verhaltensmustern (Rollen etc.) konzipiert, wird ihr lokal produzierter, situierter Charakter ignoriert. Die Ethnomethodologie setzt an vertrauten sozialen Szenen, intuitiv verständlichen kommunikativen Äußerungen an und fraktioniert aus ihnen diejenigen formalen Verfahren, vermittels derer sich im Handeln der Akteure die Gebilde und Ereignisse der sozialen Welt als Bestandteile einer sozialen Ordnung konstituieren (Patzelt 1987). Ihrem theoretischen Status nach handelt es sich bei diesen Verfahren um generative Strukturen der menschlichen Sozialität. Die Beherrschung dieser Verfahren macht die interpretativen und interaktiven Kompetenzen der Mitglieder einer Gesellschaft aus. Freilich dürfen diese Kompetenzen nicht betrachtet werden als quasi-natürliche Grundausstattung des Menschen, aus der sich erst im Umgang mit anderen Handelnden Gesellschaftlichkeit herstellte. Die Ethnomethodologie versteht vielmehr die Konstitution individuierter Subjekte selbst noch als Resultat der Teilhabe an der Selbstreproduktion sozialer Strukturen. Die Leitfrage der KA, in der sich ihr ethnomethodologischer Charakter offenbart, lautet: Welches sind die generativen Prinzipien und Verfahren, mittels derer die Teilnehmer an einem Gespräch in und mit ihren Äußerungen und Handlungen die charakteristischen Strukturmerkmale und die „gelebte Geordnetheit" (Garfinkel) des interaktiven Geschehens, in das sie verwickelt sind, hervorbringen? Diese Frage nimmt zwar prinzipiell alle bekannten und identifizierbaren Gesprächsarten in den Blick, doch weist die KA dem Typus des alltäglichen, selbstzweckhaften, nicht von Satzungen beherrschten Gesprächs - eben der Unterhaltung, der Konversation - eine

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besondere Bedeutung als Grundform der Interaktion zu. Der genuine Charakter institutionenspezifischer Gesprächstypen (Schulunterricht, Gerichtsverhandlungen u. ä.) läßt sich dann u. a. als Transformation der Strukturen der alltäglichen außerinstitutionellen Kommunikation bestimmen (Sacks/Schegloff/Jefferson 1974,730). Die KA ist darauf aus, ein Interaktionsgeschehen „from within" (Garfinkel) zu beschreiben. Das bedeutet, daß sie es ablehnt, soziale Vorgänge unter externe, vorgegebene Kategorien zu subsumieren; statt dessen bemüht sie sich darum, soziale Formen und Prozesse in ihrer inneren Logik und Dynamik zu erfassen und als sich selbst organisierende, reproduzierende und explizierende Strukturen zu untersuchen. Die KA begnügt sich nicht damit, eine Äußerung als Exemplar eines bestimmten Sprechakttyps - als Vorwurf, als Kompliment o. ä. - zu identifizieren; sie vermeidet es auch, darüber zu spekulieren, welche Motive ein Sprecher für seine Äußerung hätte haben können. Ihr Erkenntnisziel ist vielmehr, die Orientierungsmuster und formalen Mechanismen zu rekonstruieren, die von den Interagierenden eingesetzt werden, um den Handlungs- und Sinngehalt einer Äußerung erkennbar zu machen bzw. zu erkennen. Was macht einen Witz durch die Art, wie er erzählt wird, für die Zuhörer auf erkennbare Weise zu einem Witz? Wie ist der „Apparat" beschaffen, der eine Unterhaltung ins Laufen bringt, in Gang hält und zu einem Abschluß führt? Welche (Ethno-)Methoden wenden die Teilnehmer an einer Interaktion an, wenn sie im aktuellen Fortgang eines Gesprächs auf ein Verständigungs- oder Koordinierungsproblem stoßen? Fragen dieser Art sind es, die für konversationsanalytische Arbeiten leitend sind. Die KA macht es sich zur Aufgabe, aus einem sozialen Interaktionsgeschehen, das unvermeidlich indexikaler Natur ist - und d.h., in sich die spezifischen, einmaligen Handlungsumstände seiner Realisierung reflektiert - , formale Prinzipien zu extrahieren, die selbst keine Spuren mehr des spezifischen Kontexts, aus dem sie herausgefiltert wurden, aufweisen. Freilich ist es das Bestreben der KA, diese indexikale Qualität von Äußerungen und Handlungen nicht einfach wie eine lästige Verunreinigung ihres Untersuchungsobjekts zu beseitigen. Vielmehr geht sie davon aus, daß der Besonderungsprozeß, in dem dieses soziale Ereignis seine partikulare Gestalt erhält, selbst wiederum bestimmt ist von allgemeinen Strukturprinzipien, die als solche erfaßt und beschrieben werden können. Die KA operiert dazu mit einem Modell des Handelnden als einem kontextsensitiven Akteur, der den Kontext seines Handelns analysiert, mit Hilfe seines Alltagswissens interpretiert und seine Äußerungen auf diesen Kontext einstellt. Dieses Prinzip der „lokalen Partikularisierung" (Sacks/Schegloff/Jefferson 1974, 727) sorgt dafür, daß die nach situationsübergreifenden Regeln produzierten Äußerungen situativ adaptiert und damit „kontextualisiert" werden. Sprachliche Äußerung und Äußerungskontext werden von der KA nicht korrelativ aufeinander bezogen, statt dessen ist sie bemüht, den Kontext d e s Gesprächs als einen Kontext im Gespräch zu bestimmen.

1. Ethnomethodologische 4.

Konversationsanalyse

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Methodische Prinzipien

Es ist ein charakteristisches Kennzeichen ethnomethodologischer Studien, das eigene methodische Vorgehen abhängig zu machen von dem spezifischen Gegenstandsbereich der Untersuchung. In der Nachfolge der Husserlschen Devise „Zu den Sachen selbst!" strebt die Ethnomethodologie danach, von ihrem Untersuchungsgegenstand her zu denken und sich den Blick auf ihre Objekte nicht verstellen zu lassen von methodischen Vorgaben, deren korrekte Anwendung allein häufig bereits die Wissenschaftlichkeit der Untersuchung garantieren soll. Die Ethnomethodologie setzt darauf, aus der Einsicht in die methodische Qualität und den selbstexplikativen Charakter sozialer Handlungen zur gegenstandsadäquaten Methodisierung ihres Vorgehens zu gelangen. Ethnomethodologie und K A sind deshalb nur widerstrebend bereit, ihr Vorgehen in Gestalt allgemeiner methodischer Regeln zu kanonisieren (vgl. aber Sacks 1984; Zimmerman 1988; Wootton 1989). Da für das Vorgehen der Ethnomethodologie von entscheidender Bedeutung ist, an der autogenetischen und selbstexplikativen Qualität sozialer Sachverhalte anzusetzen, muß sie dafür Sorge tragen, daß ihr Daten zur Verfügung stehen, bei denen diese Qualität nicht getilgt ist. Genau das aber ist überall dort der Fall, wo ein soziales Geschehen nicht mehr in der situativ-emergenten Gestalt, in der es sich über die Zeit entfaltet hat, vergegenwärtigt werden kann, sondern nur mehr als ein kodiertes Ereignis in der numerisch verdichteten Form einer statistischen Angabe vorliegt. Die im folgenden beschriebenen methodischen Prinzipien wurden aus vorliegenden konversationsanalytischen Studien destilliert und haben insofern eher einen deskriptiven als einen präskriptiven Charakter. Sie wurden von der Gruppe um Sacks, Schegloff und Jefferson nicht theoretisch am Schreibtisch konzipiert, sondern entwickelten sich im Umgang mit Ton- und Bildaufzeichnungen von Allerweltshandlungen, die in ihrer rohen Form belassen, also noch nicht unter didaktischen oder ästhetischen Gesichtspunkten zu Lehr- oder Dokumentarzwecken geschnitten und montiert worden waren. Neuartig war diese Art von Daten insofern, als sie einen im Moment ablaufenden sozialen Vorgang auf direkt registrierende Weise konservieren, wogegen für die herkömmlichen Daten - numerisch-statistische Angaben, Interviewaussagen oder Protokolle eines Beobachters - ein rekonstruierender Konservierungsmodus charakteristisch ist. In der Rekonstruktion wird ein unwiederbringlich vergangenes soziales Geschehen durch Umschreibung, Erzählung oder Kategorisierung erfaßt, wobei jedoch das Geschehen in seinem ursprünglichen Ablauf weitgehend getilgt ist: Es ist prinzipiell bereits von Deutungen überlagert, ζ. T. hochgradig verdichtet und nur mehr in symbolisch transformierter Gestalt verfügbar (Bergmann 1985). Erst Daten der registrierenden Art, die ein soziales Geschehen in seinem realen zeitlichen Ablauf fixieren, ermöglichen es dem Ethnomethodologen, die „lokale" Produktion von sozialer Ordnung zu verfolgen, also zu analysieren, wie die Interagierenden sich in ihren Äußerungen sinnhaft aneinander orientieren und gemeinsam, an Ort und Stelle, zu

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intersubjektiv abgestimmten Realitätskonstruktionen gelangen. Das ist nicht so zu verstehen, daß die KA audiovisuelle Aufzeichnungen von natürlichen Interaktionsvorgängen als reine Abbildungen von sozialen Tatsachen hernimmt, um aus ihnen im Sinn eines naiven Empirismus allgemeine Gesetzmäßigkeiten abzuleiten. Gerade die Entscheidung, Bild- und Tonaufzeichnungen von Interaktionsvorgängen als primäre Daten zu benutzen, ist ja ein theoretisch höchst voraussetzungsreicher Schritt und ohne Garfinkeis konstitutionstheoretische Annahme von der Reflexivität von „accounts" nicht denkbar (Hausendorf 1992). Der Punkt, an dem die KA sich vielleicht am deutlichsten von anderen dialoganalytischen Ansätzen unterscheidet, liegt in ihrem Beharren darauf, nicht Erinnerungen, imaginierte Beispiele oder experimentell induziertes Verhalten, sondern Aufzeichnungen von real abgelaufenen,,natürlichen' Interaktionen zum Gegenstand der Analyse zu machen. Dahinter steckt das Bemühen, die Analyse darauf zu verpflichten, sich auf den dokumentierten Ablauf dieser Vorgänge selbst zu stützen, anstatt idealisierte Versionen von sozialen Vorgängen als Daten zu benutzen. Denn die Prinzipien der Organisation von sprachlicher und nichtsprachlicher Interaktion können sich in Phänomenen und Details manifestieren, in denen die mit dem Commonsense arbeitende Intuition es nicht erwarten würde. Weil die Aufzeichnung ein Stück Wirklichkeit dokumentiert, kann sie gerade auch dort, wo das Gespräch einen unwahrscheinlichen und intuitiv nicht plausiblen Verlauf nimmt, der Ausgangs- und fortwährende Bezugspunkt der Analyse sein. Das Bemühen der KA, so nah und sorgfältig wie möglich an den Interaktionsdokumenten zu bleiben, um die dort sich manifestierenden Interpretationsleistungen der Handelnden zur Grundlage der wissenschaftlichen Interpretation und Beschreibung zu machen, zeigt sich auch im nächsten Schritt der Datenbearbeitung, der Verschriftung des aufgezeichneten Interaktionsgeschehens. Im Vorgang der Transkription gilt es, das aufgezeichnete Rohmaterial nicht von scheinbar irrelevanten Bestandteilen zu reinigen, sondern in seinen Details zu bewahren, d.h., mit allen Dialektismen, Intonationskonturen, Versprechern, Pausen, Unterbrechungen etc. zu erhalten. Andernfalls würde der Informationsgewinn, den die Ton- und Bildaufzeichnung als Datum mit sich bringt, sofort wieder unbesehen verschenkt werden. (Für eine Übersicht über die in der KA üblichen Transkriptionszeichen siehe Atkinson/Heritage 1984.) Das Bestreben der KA, das dokumentierte Interaktionsgeschehen in kontrollierter und schonender Weise als Daten zu konservieren, verweist auf eine ihrer grundlegenden analytischen Maximen. Entsprechend ihrer ethnomethodologischen Herkunft läßt sich die Κ A in ihrem Vorgehen von einer Ordnungsprämisse leiten, die besagt, daß kein in einem Transkript auftauchendes Textelement a priori als Zufallsprodukt anzusehen und damit als mögliches Untersuchungsobjekt auszuschließen ist. Mit dieser „Order at all points"-Maxime (Sacks 1984) öffnet sich für die KA ein auf den ersten Blick kaum mehr eingrenzbares Beobachtungsfeld, verlangt diese Maxime doch, jedes Textelement potentiell als Bestandteil einer sich im Handeln der Beteiligten reproduzierenden Ordnung zu betrachten und in den Kreis möglicher Untersuchungsphänomene einzubeziehen.

1. Ethnomethodologische

Konversationsanalyse

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So wenig im vorhinein festgelegt ist, welcher Art die Interaktionsphänomene sind, mit denen die KA sich befaßt, so streng sind demgegenüber die Anforderungen, denen Aussagen und Behauptungen über einzelne isolierte Objekte genügen müssen, um in der KA als sachhaltige Erkenntnisse akzeptiert zu werden. Hintergrund dieser restriktiven Haltung ist, daß die KA mit dem Anspruch auftritt, eine Entdeckungswissenschaft zu sein. Sie mißt sich selbst daran, ob es ihr gelingt, formale Mechanismen der Organisation von sprachlicher und nichtsprachlicher Interaktion zu identifizieren und zu rekonstruieren. Und an die Beschreibung dieser formalen Mechanismen sind besondere Forderungen geknüpft. Zum einen müssen diese Mechanismen ein generatives Prinzip beinhalten, das in der Lage ist, sowohl die Ausgangsdaten in ihrer jeweiligen Spezifität zu reproduzieren, als auch neue Fälle zu erzeugen, die als in der Realität mögliche Ereignisse erkennbar sind. Zum anderen darf es sich bei diesen formalen Mechanismen nicht einfach um die Beschreibung von Verhaltensgleichförmigkeiten handeln; die KA erhebt vielmehr den Anspruch, daß diese Prinzipien ihrem Status nach reale Orientierungsgrößen für die Akteure darstellen. Damit besteht eine wesentliche Aufgabe der Analyse darin, am Datenmaterial aufzuzeigen, aufweiche Weise die Interagierenden sich in ihren Äußerungen und Handlungen an diesen formalen Prinzipien orientieren. Schließlich müssen diese Mechanismen, als generative Prinzipien formuliert, unabhängig sein von den spezifischen kontextuellen Bedingungen jeder Interaktion. Aufgabe der Analyse ist es also, den prinzipiell indexikalen Charakter jedes Gesprächs (und jedes einzelnen Datenstücks) auszufiltern. Gleichzeitig sind diese formalen Mechanismen jedoch so zu konzeptualisieren, daß sie den Interagierenden Raum lassen für die Situierung und Kontextualisierung ihrer Äußerungen. Üblicherweise wird bei der konversationsanalytischen Arbeit am Material eine Reihe von Verfahrensregeln beachtet, die sich in der bisherigen Forschungspraxis bewährt haben. Im folgenden findet sich eine gedrängte Beschreibung dieser Regeln. Hierbei handelt es sich freilich nicht um eine „Methodologie" der KA im strengen Sinn des Wortes, sondern um eine Systematisierung von Erfahrungsregeln, die nicht mehr sein kann als eine Heuristik des konversationsanalytischen Vorgehens. Bei der Arbeit mit Interaktionsdokumenten empfiehlt es sich, immer sowohl mit den Tonband- bzw. Videoaufzeichnungen als auch mit den davon angefertigten Transkripten zu arbeiten. Erst die Kombination von auditivem und visuellem Sinn, erst das Hin- und Herspringen zwischen der erlebbaren Flüchtigkeit und der schriftsprachlichen Fixiertheit eines sozialen Geschehens scheint die für die KA so charakteristische Verbindung aus intuitivem Verstehen und strukturellem Hören, von synthetischer und analytischer Wahrnehmung zu ermöglichen. (Daß es daneben erste Versuche gibt, der Verfahrenslogik der KA auch bei Analysen von schriftsprachlich konstituierten Texten zu folgen, sei hier nur am Rande erwähnt, siehe Knauth/Wolff 1991.) Gleicherweise empfehlenswert ist es, in der ersten Phase exhaustiv an einem verhältnismäßig kleinen Datensegment zu arbeiten und nicht im Transkript nach vorne oder hinten zu springen oder rasch auf Ausschnitte aus vergleichbaren Gesprächen zuzugreifen. Gerade das intensive Durcharbeiten kurzer Datenstücke in einer Interpretationsgruppe ist für die Entwicklung, Verwerfung und Absicherung von Interpre-

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tationshypothesen unverzichtbar. In der Interpretationsarbeit selbst kommt alles darauf an, im Transkript bzw. in der Aufzeichnung eines Interaktionsgeschehens ein Objekt (eine sprachliche oder nichtsprachliche Äußerung bzw. Äußerungsabfolge) zu isolieren und als Bestandteil einer von den Interagierenden methodisch erzeugten Geordnetheit zu identifizieren. Ganz entsprechend den Regeln der allgemeinen Hermeneutik soll diese Geordnetheit verstanden werden als „Antwort auf eine vorgängige Frage", d.h.: als Resultat der methodischen Lösung eines strukturellen Problems der sozialen Organisation von Interaktion. Der nächste Schritt besteht darin, Hypothesen darüber aufzustellen, welcher Art dieses zugrundeliegende strukturelle Problem ist. Ausgehend von diesem Problem können dann die praktischen Methoden rekonstruiert werden, die den Handelnden als institutionalisierte Lösung für dieses Problem dienen und deren Verwendung die beobachtbare Geordnetheit eines Interaktionsgeschehens hervorbringt. Auch wenn es sich empfiehlt, diese Interpretationskaskade zunächst anhand eines einzelnen Datenstücks zu durchlaufen, ist es unvermeidlich, ab einem bestimmten Punkt aus dem verfügbaren Datenkorpus eine Kollektion von Fällen zusammenzustellen, in denen sich das identifizierte Objekt - i n welcher Variation auch i m m e r manifestiert und an denen die Interpretationshypothese überprüft werden kann. Dem Gesprächsanalytiker bleibt bei dieser Art des Vorgehens gar keine andere Wahl, als zumindest anfänglich von seiner Intuition und Kompetenz als Mitglied einer Sprachgemeinschaft Gebrauch zu machen. Doch kommt für ihn im folgenden alles darauf an, sein intuitives Verständnis zu methodisieren, d.h., sein implizites Wissen explizit zu machen und die formalen Mechanismen zu bestimmen, die ihm - wie den Interagierenden - die Interpretation bzw. die Ausführung des dokumentierten Handlungsgeschehens ermöglichen. Schließlich sei noch kurz auf die Frage eingegangen, wie die Κ A die Gültigkeit ihrer Analysen nachzuweisen versucht. Ein Weg besteht darin, im Datenmaterial nach der Kookkurrenz funktional gleichartiger Phänomene zu suchen. Dem liegt die Überlegung zugrunde, daß den Handelnden in der Regel nicht nur ein, sondern ein Arsenal von formalen Verfahren zur Lösung eines strukturellen Problems der Interaktion zur Verfügung steht, und oft mehrere dieser Verfahren gleichzeitig eingesetzt werden (Schegloff/Sacks 1973). Ein anderer Weg besteht darin, im Datenmaterial nach „abweichenden Fällen" zu suchen (Schegloff 1968) und an ihnen den Nachweis zu führen, daß die Akteure diese Fälle selbst als Verstöße gegen das normativ erwartete Orientierungsmuster wahrnehmen und behandeln, etwa indem sie sie als dispräferierte Alternative markieren oder zu Korrekturmaßnahmen greifen (Pomerantz 1984). Als dritter Weg bietet sich schließlich an, die Nachfolgeäußerung, mit der ein Handelnder auf die Äußerung seines Interaktionspartners reagiert, als Validierungsressource zu benutzen. In ihr manifestiert sich ja, auf welche Weise ein Rezipient eine vorangegangene Äußerung verstanden hat, und dieses Verständnisdokument kann vom Gesprächsanalytiker als Bestätigung seiner Interpretation in Anspruch genommen werden. Auch in diesem Gedanken kommt zum Ausdruck, daß die KA ihre methodischen Prinzipien nicht autonom und formal setzt, sondern abhängig macht von ihrem Untersuchungsgegenstand: den praktischen Alltagsmethoden der sprachlichen Interaktion.

1. Ethnomethodologische

5.

Konversationsanalyse

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Thematische Bereiche

Da die KA von der ethnomethodologischen Konzeption einer sich in der Zeit herstellenden sozialen Ordnung ausgeht, nimmt sie alle Phänomene, die sie untersucht, als temporale Objekte in den Blick. Von zentralem Interesse sind für sie dementsprechend die Mechanismen, die die Ablauforganisation von sozialer Interaktion regulieren. Insbesondere die Analyse der „turn-taking"-Organisation - der Prinzipien des Sprecherwechsels - in Unterhaltungen (Sacks/Schegloff/Jefferson 1974) hat für die KA eine geradezu paradigmatische Bedeutung. Ein zweites ergänzendes Regulationsprinzip gilt ihr als ebenso elementar: das Prinzip der sequentiellen Organisation, das sich über den Beteiligungsmechanismus der „turn-taking"-Organisation legt und das zwei aufeinanderfolgende Äußerungen zu einer größeren sozialen Einheit - zu einer Interaktionssequenz-verschweißt. Die konversationsanalytische Forschung hat sich (etwa am Beispiel von Schweigephasen, Äußerungsüberlappungen, Präsequenzen, Einschubsequenzen, Sequenzexpansionen, Präferenz von Handlungsalternativen) nicht nur im einzelnen mit den konstitutiven Elementen, der Dynamik und den formalen Variationsmöglichkeiten dieser beiden Strukturkomponenten beschäftigt. Zahlreiche konversationsanalytische Arbeiten gibt es darüber hinaus über die Produktions- und Ablaufformate verschiedener Aktivitätstypen und Interaktionssequenzen, wie etwa: Bitten, Einladungen, Übermittlung von Neuigkeiten, Komplimente, Ablehnungen, Beschwerden, Vorwürfe, Streitigkeiten oder Lachen. Konversationsanalytische Studien haben sich auch mit Objekten befaßt, die ihrer Größenordnung nach unter- bzw. oberhalb des einzelnen Redezugs anzusiedeln sind. Für den einen Bereich sind hier Arbeiten zu nennen, die sich mit den interaktiven Funktionen kleinster Äußerungseinheiten wie etwa Hörersignalen, Interjektionen, Partikeln oder idiomatischen Redewendungen befassen; ebenso ist hier auf die zunehmend bedeutsamer werdenden Untersuchungen zu verweisen, die sich der Frage widmen, welche Rolle intonatorisch-paralinguistische Vorgänge bzw. mimisch-gestische Verhaltensweisen (C. Goodwin 1981; Heath 1986) in der sprachlichen Interaktion spielen. In den anderen Bereich gehören Arbeiten, die sich mit kommunikativen Großformen, also etwa mit dem Erzählen von Geschichten - oder Witzen - innerhalb von Unterhaltungen, mit Problemgesprächen („trouble talk") sowie mit kommunikativen Gattungen (Kinderspielen, Abzählversen, Klatsch etc.) beschäftigen. Ein wichtiges Untersuchungsthema für die KA ist außerdem die Strukturierung des singulären Gesprächs, das durch besondere Manöver der Eröffnung und Beendigung gegenüber seiner Umwelt begrenzt, in seiner thematischen Kontinuität kontrolliert und auf diese Weise von den Interagierenden als soziale Einheit organisiert wird. Ein weiterer thematischer Bereich der KA resultiert aus ihrem Bemühen, mit den eigenen analytischen Kategorien an den Deutungen der Handelnden anzuknüpfen. Da diese Deutungen sich in der Wahl von Deskriptoren, in Beschreibungs- und Kategorisierungspraktiken, in Formulierungsweisen manifestieren, hat die KA früh ein genuines Interesse an den deskriptiven Praktiken der im Alltag Handelnden entwickelt

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(Bergmann 1991c). Insbesondere hat sie sich mit dem formalen Apparat der Kategorisierung von Personen („Membership Categorization Devices") sowie mit anderen Referenzierungstechniken befaßt. Zwar ist dieser Untersuchungsbereich in der KA gegenüber der Sequenzanalyse zeitweise in den Hintergrund getreten, doch als Beitrag der KA zur Entwicklung einer wissens- und interaktionssoziologisch ausgerichteten Semantik kommt den Arbeiten zu diesem thematischen Bereich eine große Bedeutung zu (Jayyusi 1984). Die Untersuchung deskriptiver Praktiken hat u.a. gezeigt, daß die Teilnehmer an einem Gespräch ihre Äußerungen spezifisch auf den jeweiligen Äußerungsadressaten und dessen Vorwissen zuschneiden. Dieses Partikularisierungsprinzip des „Recipient Design" ist seiner Funktion nach darauf angelegt, rasches Verstehen zu ermöglichen und gleichzeitig der Entstehung von Verständigungsproblemen vorzubeugen. Da sich aber derartige Probleme nicht immer vermeiden lassen, muß es eine komplementäre Einrichtung geben, die dort zum Einsatz kommt, wo Probleme des Sprechens, des Hörens und des Verstehens drohen oder eingetreten sind. Diese Einrichtung für die „Reparatur" von kommunikativen Störungen ist ein weiteres wichtiges Untersuchungsfeld der KA. Reparaturmechanismen gehören für die Κ A zum Arsenal jener Methoden, mittels welcher die Handelnden im Alltag intersubjektive Verständigung erzielen können (Schegloff/Jefferson/Sacks 1977; Schegloff 1992). Ein Punkt, an dem die Kritik der KA vorzugsweise ansetzt, betrifft ihre Art der Berücksichtigung des Interaktionskontexts. Anspruch der KA ist es ja, Interaktion und Kontext nicht extern miteinander zu korrelieren, sondern als Kontext nur gelten zu lassen, was sich in der Interaktion nachweislich als Resultat der Kontextorientierung der Interagierenden manifestiert. Nur insofern der Kontext für die Handelnden relevant ist, ist er auch von Relevanz für die KA. Zu berücksichtigen ist, daß diese restriktiv erscheinende Maxime nicht ontologischer, sondern methodologischer Art ist; sie ist kein Plädoyer dafür, die Mechanismen der Gesprächsorganisation als autonome Strukturen oder gar Naturgesetze zu betrachten. Freilich bleibt als Frage, wie bei der Analyse von Gesprächsaufzeichnungen das verfügbare Kontextwissen (über die Situation, die soziale Beziehung der Interagierenden etc.) einbezogen werden soll, oder allgemeiner: in welchem Verhältnis KA und Ethnographie zueinander stehen (siehe Moerman 1988; Hopper 1990/91). Für die KA kann es hier nur die Antwort geben, den Kontext als ein in die Interaktion hineinvermitteltes Geschehen zu betrachten und letztlich das, was der Begriff Kontext bezeichnet, aufzulösen und selbst als ein Ensemble von kommunikativen Praktiken zu beschreiben (beispielhaft M. H. Goodwin 1990; Schmitt 1992). Wie dies im einzelnen aussieht, haben konversationsanalytische Studien über die Strukturmerkmale der Interaktion in pädagogischen, gerichtlichen und medizinischen Institutionen sowie Analysen von polizeilichen Vernehmungen, telefonischen Notrufen, Beratungen, Verkaufsgesprächen, journalistischen Interviews im Fernsehen und politischen Veranstaltungen gezeigt (Drew/Heritage 1992).

1. Ethnomethodologische

6.

Konversationsanalyse

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Gießen

2.

Gesprochene Sprache dialogisch gesehen

1. 2. 3. 3.1 3.2 3.3 4. 5. 6. 7. 8. 9.

Was ist „gesprochene Sprache"? Laut- und Silbenebene Satzebene Ellipsen Abbruche, Korrekturen, Anakoluthe Herausstellungen Formulierungsverfahren Prosodie Lexik, Semantik Textsorten, Kommunikationstypen Transkriptionszeichen Literaturhinweise

1.

Was ist „gesprochene Sprache"?

Sprachwissenschaftler haben ungefähr seit der Mitte der 60er Jahre die Besonderheiten der gesprochenen Sprache (GS) untersucht, weil mit der Erweiterung des Untersuchungsobjekts .Sprache' über Satzgrenzen hinaus und mit dem Interesse an den pragmatischen Eigenschaften der Sprache immer deutlicher wurde, daß gesprochene Äußerungen anders produziert werden, als es in den Grammatiken steht, ohne daß diese Besonderheiten beim Sprechen als fehlerhaft und korrekturbedürftig empfunden würden. Mit den damals neuen Theorien der Soziolinguistik (vgl. Art. 3), der Sprechakttheorie (vgl. Art. 6) und insbesondere der Conversation Analysis und Ethnomethodologie (vgl. Art. 1) kamen - nach anfänglich meist auszählenden syntaktischen Untersuchungen - die eigentlich spannenden Aspekte der GS erst in den Blick (Formulierungsverfahren, die dialogische Konstitution des Gesprochenen, Prosodie, Sprachvariation). Der Terminus „GS" läßt durch den begrifflichen Gegensatz von ,Sprache' und ,Sprechen' vermuten, daß es sich hier um ein besonderes Sprachsystem handelt, bei dem das bestimmende Merkmal gesprochen' zu typischen Ausprägungen sprachlicher

J.

18

Schwitalla

Formen und ihrer Inhalte führt, wie das ja auch Adjektive und Determinativwörter bei anderen Sprachvarietäten anzeigen („ahd.; schwäb.; Alltagssprache"). DerTerminus GS suggeriert also systematische Unterschiede zu ihrem Gegenpart, der geschriebenen Sprache. Es ist klar, daß zwischen beiden medialen Erscheinungsformen wesentliche Unterschiede bestehen, wenn man nur an gesprochensprachliche Verschleifungen, an Formen des Emotionsausdrucks (Interjektionen, Prosodie) oder an den Sprecherwechsel denkt. Es konnte aber - jedenfalls für das Deutsche - nicht gezeigt werden, daß es auf der grammatischen Systemebene wesentliche Unterschiede zwischen GS und geschriebener Sprache gibt (Rath 1985, 1652f.; Steger 1987, 43ff. ; Mötsch 1992, 244ff.). Einige typische Besonderheiten der GS auf der Laut-, Silben-, Syntax- und Lexikebene kommen auch in bestimmten informellen schriftlichen Textsorten vor. Söll (1985, 17ff.) hat zwischen graphischer' und ,phonischer' Vermittlung einerseits und ursprünglich schriftlicher oder mündlicher Produktion andererseits unterschieden und daraus Kreuzklasssen gewonnen, die die Verhältnisse deutlich machen (phonetische Umschrift von Gesprochenem, Vorlesen schriftlich aufgesetzter Texte). Koch/Oesterreicher (1985) haben für die informellen Textsorten Übergangsstufen zwischen gesprochensprachlicher Nähekommunikation und schriftlicher Distanzkommunikation vorgeschlagen. Zur Definition der GS genügt es zu fordern, daß gesprochensprachliche Texte nicht zuvor eine Realisierung in geschriebener Form durchlaufen haben. Schank/Schoenthal (1976,7) definieren GS als: „frei formuliertes, spontanes Sprechen aus nicht gestellten, natürlichen Kommunikationssituationen". Der normale Ort der GS sind Gespräche zwischen zwei oder mehreren Beteiligten von Angesicht zu Angesicht in allen Bereichen der alltäglichen Lebenswelt. Allerdings können weitere Bedingungen für Sprachvarianten intervenieren: Dialekt oder Standardsprache; die Kommunikationsgewohnheiten in Institutionen, der Wissenschaften, ihrer Vermittlungs- und Anwendungsgebiete, der Kunst, der Religion usw.: soziolektale, alters- und geschlechtsspezifische Sprechweisen. Gewöhnlich werden folgende Bedingungen und Auswirkungen als wesentliche Unterschiede zwischen GS und geschriebener Sprache angesehen: gesprochene Sprache (a) gesellschaftliche,

geschriebene Sprache kommunikative

Bedingungen:

Komm, facte-to-face, d.h. raum-zeitl. Kopräsenz; weitere Komm.-kanäle: Prosodie, Mimik, Gestik, Proxemik

zeitl. und räuml. Trennung von Produzent und Rezipient; andere parallele Komm.· ebenen: Handschrift, Drucktypen etc.

der Adressat ist meistens bekannt

der Adressat ist oft unbekannt

normalerweise dialogisch; Intervention anderer Sprecher größere Variabilität der spracht. Formen auf allen Ebenen der Sprache

normalerweise monologisch; Rezipientenverhalten wird vorweggenommen stärker kodifiziert und gesamtgesellschaftlich gültig

2. Gesprochene Sprache - dialogisch gesehen

19

(b) Produktion und Rezeption: Zeitdruck beim Sprechen, große Schnelligkeit der Produktion

größere Planbarkeit über weitere Textstrekken

Korrekturvorgänge bleiben nicht verborgen; die Genese der Produktion hinterläßt Spuren Übertragung durch Schallwellen, deshalb ist das Gesprochene flüchtig einmaliges Hören, kürzere Gedächtnisspanne

Korrekturen können mehrmals wiederholt und ihre Spuren gelöscht werden; der Text ist dann „fertig"

größere Kontexteinbindung, deshalb größerer Bereich der impliziten, situationsverweisenden Mitteilung

sichtbare Materialisierung auf einer dauerhaften Unterlage Lesen; potentiell wiederholtes Lesen, größere Gedächtnisspanne größerer Zwang zur Explizitheit

(c) Ergebnisse für die Äußerungsproduktion Die Diskursbedeutung baut sich langsam, im Hin und Her von Sprecherbeiträgen mehrerer Sprecher auf. Der „Hörer" wirkt an Textgestaltung und Textbedeutung mit, er kann vollzogenen Äußerungen eine neue Bedeutung geben, beabsichtigte Sprechhandlungen des anderen verhindern etc. (Aushandlungskonzept).

Die Textbedeutung ist in gewisser Weise „fertig"; sie muß vom Leser reproduziert, entdeckt werden. Der Schreiber kann dem Text stilistisch und ästhetisch eine einheitliche Form geben.

Diese Zweiteilung der Erscheinungsformen sprachlicher Kommunikation als entweder gesprochen oder geschrieben muß jedoch relativiert werden: (a)

(b)

(c)

Auch in schriftlosen Kulturen gibt es Kommunikationsformen, die Eigenschaften der geschriebenen Sprache haben (rituelle, monologische, memorierte, für längere Dauer produzierte Texte, vgl. Chafe 1982,49f.); In die spontane Rede können Charakteristika der geschriebenen Sprache einfließen (Härtung 1989, 8f.), und umgekehrt kann man beim Schreiben typische Eigenschaften der GS kopieren. Dramatiker, die sich um eine besondere Nähe zur GS bemühen, wählen einzelne gesprochensprachliche Merkmale aus und verdichten sie je nach ihrer dramaturgischen Absicht (Betten 1985,142,172,276; vgl. Art. 25); man kann Texten, die für den mündlichen Vortrag gedacht sind (Predigt, Vorlesung, Politikerrede), einen sprechsprachlichen Rhythmus geben usw. Funktionale Trennungen für GS und geschriebene Sprache (Vachek 1973) können sich geschichtlich wandeln; in der Gegenwart z. B. haben wir in den Massenmedien eine „sekundäre Oralität" mit den Funktionen Information und Unterhaltung (Ong 1987,136).

Da das deflatorische Prinzip zur Beschreibung der GS in der Differenz zum einzigen Gegenüber der geschriebenen Sprache besteht, stellt sich die methodologische Frage,

J. Schwitalla

20

wie beide Realisierungsweisen verglichen werden können, ohne daß andere Einflußgrößen die Befunde verfälschen. Viele Untersuchungen zur GS, besonders in der Anfangszeit, haben dieses Problem zu wenig beachtet und Texte miteinander verglichen, die schon vom Texttyp und von den sprachlichen Normen der Kommunikationsbereiche her eigentlich nicht zu vergleichen waren. Um Themen- und Textsortenkonstanz zu wahren, wurden gesprochene Texte in geschriebene umformuliert (Schänk/ Schoenthal 1976, 8f.; Steger 1987, 36ff.; Gumperz et al. 1982, 13ff.), oder es wurden Versuchspersonen aufgefordert, themengleiche Geschichten einmal mündlich, einmal schriftlich zu erzählen (Tannen 1982a; Müllerova 1989,20ff.). Die bisherige Forschung zur GS hat sich meistens mit syntaktischen Erscheinungen und Textherstellungsverfahren beschäftigt. Untersuchungen zur Prosodie, zur Lexik und Semantik der GS und systematische Vergleiche zwischen gesprochenen und schriftlichen Textsorten wurden nicht in gleichem Maße betrieben. Bei der folgenden Darstellung typischer Eigenschaften gesprochener Sprache soll dennoch nach Ebenenunterteilungen vorgegangen werden und dabei auf das Besondere des dialogischen Sprechens geachtet werden. (Monographien und Sammelbände: Weiss 1975; Schänk/ Schoenthal 1976; Rath 1979; Tannen 1982b; Korensky/Hartung 1989; Koch/Oesterreicher 1990; Überblicke: Schank/Schwitalla 1980; Rath 1985; Löffler 1985,90-98).

2.

Laut- und Silbenebene

Varianz und Einheitlichkeit bestimmen weitgehend den Unterschied zwischen GS und geschriebener Sprache auf der Laut- und Silbenebene. In den alphabetischen Schriftsprachen wird Einheitlichkeit durch die Nähe zum zugrundeliegenden Phonemsystem (so oft zu Beginn der Verschriftlichung einer Sprache) hergestellt, in späteren Zeiten durch orthographische Kodifizierungen. Dagegen variieren Lautungen (Allophone) beim Sprechen sehr viel stärker, selbst beim standardsprachlichen Sprechen. Das (s-) im Anlaut wird im Norden und in der Mitte der BRD stimmhaft [z] gesprochen, im Süden stimmlos [s]; der kurze o-Laut wird, außer vor r, im Norden offen [o], im Süden und noch stärker im Südosten geschlossen [o] gesprochen; die au- und ei-Laute haben jeweils vier regionale Aussprachevarianten als [ao], [ου], [ao], [CID] bzw. als [as], [ai], [ae] und [αε]; der r-Laut hat sogar 10 Allophone (König 1989, Bd. 1, 93ff., 46f., 53ff., 68ff.). Auch bei Standardsprachesprechern kann man auf diese Weise ihre ungefähre Sprachherkunft heraushören. Auf der morphologischen Ebene herrschen Elisionen, Reduktionen und Assimilationen vor. Beispiele für Assimiliationen von Nasalen: (überschäumende): [mda], (im Rahmen einer): [ramaino]; Kontraktion auch über Wortgrenzen hinweg: (Wettbewerbswms/änden, die): [umständi:] (vgl. Schänk 1975, 363,366). Das Auslassen von Lauten, die in geschriebenen Wörtern erscheinen, kann dazu führen, daß morphosyntaktische Unterschiede, die graphematisch erhalten sind, in der GS aufgehoben werden. Das Graphem (e) als geschriebensprachliches Merkmal für

2. Gesprochene Sprache - dialogisch gesehen

21

den KonjunktivI und II wird sowohl im Auslaut (Konj. II; (er hielte)) wie in unbetonter Stellung (Konj. I: (du bleibest)) nicht gesprochen ([er hi:lt, du blaipst]). Dadurch fallen in mehreren Paradigmenklassen Konjunktiv- und Indikativformen, außerdem weil die Grapheme (ä) und (e) beim Sprechen nicht systematisch unterschieden werden - auch einige Konj. I- und II-Formen zusammen. Das kann mit ein Grund dafür sein, daß in der GS der Konj. I oft durch den Konj. II, den Indikativ oder die würdeUmschreibung ausgedrückt wird (Bausch 1978,25ff.). Natürlich werden beim schnellen Sprechen mehr Laute verschliffen als beim langsamen Sprechen. Umgekehrt können besonders sorgfältige Artikulation und phonetische Verstärkungselemente (z.B. Behauchung und starker Druck bei stimmlosen Plosiva; mehrmaliges Schlagen des Zungenspitzen-Rs) dazu verwendet werden, überdeutlich oder eindringlich zu sprechen (Auer 1989,27f.). Bestimmte Artikulationsweisen können - meist zusammen mit weiteren phonetischen oder prosodischen Phänomen - die Funktion haben, auf andere Sprechergruppen hinzuweisen oder sie nachzuahmen (z.B. nuschelndes Sprechen als partielle Nachahmung des Sprechens von Kindern, eine „harte" Artikulation und Stakkato-Rhythmus für Macho- und Rockertypen, „geziertes" Sprechen, d.h. Standardlautung + hohe Intonation + fallende Akzente, für Leute, die sich für etwas Besseres halten usw.). Für das Deutsche hat die Lautvariation zwischen Dialekt und Standard auf mehreren möglichen Zwischenstufen und mit unterschiedlichen Mischungen von Anteilen beider Varietäten große Bedeutung. Die kommunikativen Funktionen des Codeswitching und -shifting (allmählicher Übergang) sind sehr vielfältig. Sie betreffen die Gesprächsorganisation (z.B. Beanspruchung des Rederechts, Markierung des Fokus einer Äußerung, Markierung von Reformulierungen), den Adressatenbezug, die Segmentierung und Statusdifferenzierung von Äußerungsteilen (z.B. Wertungen von Berichten trennen oder privates von öffentlichem Sprechen). Schließlich kann man mit Variantenwechseln fremde soziale Welten abbilden oder karikieren, man kann seine Äußerungen als ironisch, scherzhaft, besonders ernst usw. modalisieren und damit sein eigenes oder ein fremdes Image schützen (vgl. Gumperz 1982, 59ff. ; Auer 1986; Kallmeyer/Keim im Ersch.; Schwitalla 1989).

3.

Satzebene

Beim Sprechen segmentieren wir anders als beim Schreiben, wo Sätze (im Sinne von tokens) mit Punkt und nachfolgender Großschreibung voneinander getrennt werden. Beim Sprechen verwenden wir Kombinationen von Pausen, Gliederungssignalen und steigenden/fallenden Tonmustern zur Gliederung von Äußerungseinheiten (Gülich 1970,87; Rath 1979,72ff.). Die Segmentierungssignale müssen aber nicht mit syntaktischen Einheiten zusammenfallen (vgl. zu diesem Abschnitt auch Art. 14). Bis heute geht man bei der Beschreibung der syntaktischen Gestaltung der GS (,Satz* jetzt im Sinne der syntaktischen Organisation um ein finîtes Verb) von gramma-

J. Schwitalla

22

tischen Konzepten aus, die an der geschriebenen Sprache gewonnen und für sie formuliert wurden. Dabei wurden oft syntaktische Formen hervorgehoben, die nicht den Vorstellungen von „Wohlgeformtheit" entsprachen. In den allermeisten Fällen fehlen aber ζ. B. in den Verbalsätzen nicht die obligatorischen Ergänzungen (BlancheBenveniste 1979,58; Schwitalla 1988,74f.). Es sind Sätze, die auch nach dem Anspruch einer traditionellen Grammatik strukturell geschlossen sind. Dies ist ein starkes Argument für eine gemeinsame syntaktische Basis von GS und geschriebener Sprache. Die wichtigsten (und oft beschriebenen) syntaktischen Eigenschaften der GS im Vergleich zu geschriebenen Texten sind: Ellipsen, Wiederholungen, Abbrüche und Anakoluthe, Korrekturen, Parenthesen, Links- und Rechtsherausstellungen, Drehsätze, geringere Varianz von Konjunktionen und Nebensatztypen. Ob in der GS mehr Ausklammerungen verwendet werden, wird von Rath (1985,1656) bezweifelt. Divergierende Auszählungen der Verhältnisse von Para- und Hypotaxe in gesprochenen und geschriebenen Texten hängen wohl von den zugrundegelegten Materialien ab (vgl. Tannen 1982a, 5). In schriftlichen Texten können aber Mehrfacheinbettung und große Distanz von primären Satzgliedern als stilistische Verfahren eingesetzt werden (Kanzleisyntax, Prosadichtung), wie dies in der GS nicht möglich wäre. Die syntaktischen Eigenschaften der GS werden durch zwei grundsätzlich unterschiedliche Argumentationsmuster erklärt: a) psychisch, durch begrenzte Vorausplanungskapazitäten und dadurch, daß Sprecher zu Beginn ihrer Rede nur vage wissen, was sie sagen wollen (Foppa 1990,184ff.); b) kommunikativ, als die Anpassung des gemeinten Redeinhalts an den Adressaten, an die zu leistende kommunikative Aufgabe und an Hörerrückmeldungen (Rath 1979,207ff.). Im folgenden sollen nur einige syntaktische Erscheinungen kurz behandelt werden. 3.1

Ellipsen

Von Anfang an wurden Ellipsen als besonders auffallendes syntaktisches Merkmal der GS beschrieben. Daß Sätze oder satzähnliche Gebilde nicht immer alle Satzteile aufweisen, die in einer entsprechenden schriftlichen Version erschienen, liegt an den unterschiedlichen Bedingungen ihrer Produktion. Thematische Äußerungsteile können getilgt werden, weil sie aus vorhergehenden Äußerungsteilen bekannt sind (Ökonomieprinzip, vgl. Betten 1976,221). Im folgenden Beispiel stehen die zu ergänzenden Teile in eckigen Klammern (Transkriptionszeichen im Anhang; wenn nicht anders angegeben, stammen die längeren Textbeispiele aus dem Projekt „Kommunikation in der Stadt", IDS Mannheim): (1) ich habe keine kra"mpfader - * * [es ist] keine kra"mpfader zu sehn - [sie] liegt tie :f | ** [sie] liegt tie:fSyntaktische Konstruktionen von vorangegangenen Äußerungen bilden auch die zugrundeliegende Struktur für nachfolgende Äußerungen, bei denen aber nur die kommunikativ relevanten Teile verbalisiert werden. Rath (1979, 143ff.) nennt diesen Ellipsentyp „Konstruktionsübernahme". Bei Frage-Antwort-Folgen kann sie über viele Sprecherwechsel hinwegreichen·.

2. Gesprochene Sprache - dialogisch gesehen

23

(2) Ein ausgedachtes Beispiel, das in der GS-Forschung tradiert wird, hier aus einem Vortrag von André Martinet: A: Β: A: B: A: B: A:

je pars en vacances pour où? aux Baléares tout seul? avec Nadine jusqu'à quand? jusqu'en juin

Solche implizit weitergetragenen syntaktischen Konstruktionen können auch beim Meinungsaustausch und bei anderen Sprechakttypen verwendet werden: (3) A: ja das genügt ja auch B: jamirnich (Rath 1979,140) Ellipsen hängen mit dem jeweiligen thematischen Stand von Gesprächen zusammen (Klein 1985,20ff.): Nur was wirklich neu und informativ ist, braucht ausgesprochen zu werden. Voll ausgeführte Sätze brächten das Verstehen des Thema-Rhema-Gefüges durcheinander; mit unnötig vollständigen Sätzen geben Sprecher ihren Äußerungen ein besonderes Gewicht. Dagegen binden Ellipsen Äußerungen eng an Vorgängeräußerungen (Cherchi 1985,245). Von obligatorischen Ergänzungen fällt am häufigsten die Sprecherdeixis ich weg: (4) Das Beispiel soll auch für andere Ellipsentypen gelten. Die Sprecherin spricht Mannheimer Dialekt, sie erzählt von den Folgen des Sitzens bei geöffnetem Fenster in einem überhitzten Raum: ja aber isch hab die/ hoho isch hab die re"schnung präsentiert kriggt j heid middag wo mer zum e"sse gonge sind mein kolle"g un ischf * war noch kä zeh" meder geloffe - ** p)

Ρ

q->p

q

Ρ

0 1 2

Bei diesem Dialogstand ist schon zu erkennen, daß der Opponent die Partie nicht gewinnen kann. Zur Verteidigung in Runde 2 (am rechten Rand des Tableaus durch „2" gekennzeichnet) hat der Proponent das vom Opponenten in Runde 1 gebrachte

136

G. Fritz

Argument ρ übernommen. Nun ist der Opponent wieder am Zug. Er gibt auf, weil er nur die Aussage ρ angreifen könnte, die er selbst schon als Argument gebracht hat. Der Proponent hat also eine Gewinnstrategie, die unabhängig ist von der Wahrheit oder Falschheit der Elementaraussagen ρ und q. Eine solche Gewinnstrategie nennt man eine formale Gewinnstrategie. Aussagen, für die es eine formale Gewinnstrategie gibt, sind formal wahr bzw. allgemeingültig. Das Tableau (2) kann als Beweis der formalen Wahrheit von ρ —» (q —» p) gedeutet werden. An einem zweiten Beispiel bzw. einer Folge von zwei weiteren Beispielen soll gezeigt werden, wie eine Veränderung der Dialogregeln die Gewinnchancen beeinflußt. Dieses Verfahren der systematischen Veränderung der Dialogregeln ist für die Ziele der Dialoglogiker insofern grundlegend, als sich die durch Regelveränderungen gewonnenen, unterschiedlichen Dialogspiele als Versionen unterschiedlicher Logiken erweisen lassen, im vorliegenden Fall als Versionen der sog. konstruktiven und der klassischen Logik. Um das Beispiel durchführen zu können, müssen wir noch die Dialogregeln für zwei weitere Partikeln bzw. die mit ihnen gebildeten Aussagenformen einführen (Negator „—ι" und Adjunktor „v"). D8b Bringt der Proponent das Anfangsargument —ι A, so kann der Opponent angreifen, indem er das Argument A bringt. Auf diesen Angriff gibt es keine Verteidigung. D8c Bringt ein Proponent das Anfangsargument Α ν Β, so kann der Opponent angreifen, indem er Zweifel am Anfangsargument äußert. Daraufhin muß der Proponent sich gegen diesen Angriff verteidigen, indem er entweder das Argument A oder das Argument Β bringt. In einem Spielbaum ließe sich die Struktur des Adjunktor-Spiels (D8c) folgendermaßen darstellen: (3)

Α

ν

A

Β

Ρ

B

P

Ein nach diesen Regeln geführter Dialog um ρ ν —ι ρ kann im Tableau folgendermaßen dargestellt werden: Opponent

Proponent

?

pv—,p "Φ

Ρ

0 1 2

Bei diesem Dialogstand hat der Proponent keine Angriffs- und Verteidigungsmöglichkeiten mehr. Der Opponent hat die Partie gewonnen. In dem durch die bisherigen Regeln definierten Dialogspiel hat der Proponent keine formale Gewinnstrategie für

8. Formale Dialogspieltheorien

137

ρ ν —ι ρ, d.h. in der konstruktiven Logik, die durch diese Spielregeln charakterisiert ist, ist der Satz vom ausgeschlossenen Dritten („tertium non datur") keine logische Wahrheit. Erlaubt man jedoch dem Proponenten eine erneute Verteidigung seiner Anfangsaussage, was auf eine Revision seiner ersten Verteidigung hinausläuft, so kann er die vom Opponenten in Runde 2 gebrachte Primaussage ρ übernehmen und damit den Dialog gewinnen. Die veränderte Regel erlaubt es ihm, den Informationsstand nach Runde 2 zu einer Verteidigung zu nutzen, die er in Runde 2 noch nicht hätte wählen können (vgl. Stegmüller 1964, 89; Saarinen 1981, 45). Das Tableau für diesen Dialogverlauf sieht dann folgendermaßen aus: Opponent

Proponent

?

pv-ip "Φ

Ρ Ρ

0 1 2 3

Die neue Regel D6', anstelle D 6 eingeführt, verändert das Spiel so, daß der Proponent nun eine formale Gewinnstrategie für ρ ν —ι ρ hat. D6' Argumente dürfen vom Opponenten im Verlauf des Dialogs nur einmal angegriffen und nur einmal verteidigt werden. Argumente dürfen vom Proponenten jederzeit angegriffen und verteidigt werden. In dem neuen Spiel, das man das klassische Logikspiel nennen könnte, ist der Satz vom ausgeschlossenen Dritten logisch wahr. Die eigentliche Brisanz dieses Unterschieds zwischen konstruktivem und klassischem Dialogspiel zeigt sich erst bei quantorenlogischen Zusammensetzungen, die hier jedoch nicht behandelt werden (vgl. Lorenzen/ Lorenz 1978, 179f.; Dummett 1978). So können z.B. Aussagen über die unendliche Zahlenreihe nicht als wahrheitsdefinit gelten. Eine interessante Erweiterung der Spielmöglichkeiten ergibt sich, wenn Vorgaben des Opponenten mit ins Spiel aufgenommen werden können, d. h. Zugeständnisse, die er schon vor Spielbeginn gemacht hat. Man könnte darin eine Möglichkeit sehen, zumindest einen Teil der Dialogvorgeschichte systematisch in die Spielkonstruktion aufzunehmen. Beispielsweise könnte der Opponent zwei Aussagen zugestehen, nämlich Aussagen der Form A —» Β und der Form Β —* C. Bei dieser Vorgabe hat der Proponent, wie leicht zu sehen ist, eine Gewinnstrategie für eine Aussage der Form A - » C ( v g l . Barth/Krabbe 1982,67;Eemeren/Grootendorst/Kruiger 1987,157ff.). Damit sei diese kurze Darstellung einiger Grundgedanken der Dialoglogik abgeschlossen. Das Interesse dieser Konzeption für die Dialoganalyse kann man u. a. in folgenden Punkten sehen: (i) In der Dialoglogik liegt eine detailliert ausgeführte formale Theorie für eine sehr spezielle Dialogform vor. Sie enthält ein präzise definiertes dialogtheoretisches Grundvokabular und ein System von Dialogregeln unterschiedlicher Art (Bedeutungsregeln, Regeln für den Sprecherwechsel, Dialognormen wie die Angriffs- und Verteidigungsschranken). Die Anwendung dieser Regeln kann man im Detail überblicken.

G. Fritz

138

(ii) Interessante Aspekte der in diesem Rahmen möglichen Dialoge sind ζ. B. die Rolle des Beweislastprinzips für den Proponenten oder das Prinzip des Anwachsens von Übereinstimmung, das sich in der Funktion des Übernehmens von Argumenten zeigt (vgl. Barth/Krabbe 1982, 243ff.). Methodisch lehrreich sind die Auswirkungen von Regelveränderungen, z.B. die Folgen der Liberalisierung von Angriffs- und Verteidigungsschranken, die eine kooperative Dialogführung erlaubt (vgl. Lorenzen/Lorenz 1978, 8). (iii) In der vorliegenden Konzeption könnte man nicht nur ein ausgeführtes Fragment einer Dialogtheorie sehen, sondern auch einen möglichen Rahmen für eine allgemeine Theorie der Argumentation (vgl. Barth/Krabbe 1982, 55). (iv) Als formales Vergleichsobjekt kann das Regelsystem unterschiedlichen Zwecken dienen. Die Vertreter der Dialoglogik selbst sehen die Möglichkeit, die Reflexion über die vorgeschlagenen Dialogformen als „Vorschule des vernünftigen Redens" zu nutzen (vgl. Kamlah/Lorenzen 1967). Wollte man die Programmatik von Punkt (iii) einmal versuchsweise beim Wort nehmen und - sicherlich gegen die Intentionen von Lorenzen und Lorenz - an den Ansprüchen an eine empirische Dialogtheorie messen, so könnte man etwa folgende Beobachtungen machen: Die Dialoglogik befaßt sich mit der dialogischen Behandlung von Aussagen und nicht mit Sätzen und ihrer Verwendung in Dialogen, was Gegenstand einer allgemeinen Dialogtheorie sein müßte. Diese Eigenart hat zur Konsequenz, daß einige Probleme nicht thematisiert werden, die für eine allgemeine Dialogtheorie relevant wären. So ist gerade der Zusammenhang zwischen der Struktur von Sätzen (in unterschiedlichen Sprachen) und den mit ihnen ausdrückbaren Propositionen ein keineswegs triviales Problem. Eine weitere Konsequenz ist die Nichtberücksichtigung von genuin pragmatischen Problemen wie dem Zusammenhang zwischen Wissen und Verstehen bei einem gegebenen Dialogstand, Fragen der vielfältigen Verwendungsweisen von Sätzen eines bestimmten Typs oder Probleme der thematischen Relevanz von Aussagen. Was die für die spieltheoretische Betrachtungsweise charakteristische Frage nach Strategien betrifft, so führt die Konzentration auf die formalen Dialoge dazu, daß nur formale Gewinnstrategien behandelt werden, während andere Argumentationsstrategien nicht ins Bild kommen (vgl. dagegen Hamblins formale Dialektik). Die Möglichkeiten der Dialogdynamik werden durch einschränkend formulierte Regeln gering gehalten. Generell könnte man sagen, daß die Vorzüge der Präzision und der Übersichtlichkeit durch eine relativ geringe Reichweite der Theorie aus dialogtheoretischer Sicht erkauft werden. Ein noch grundlegenderer Einwand gegen diese Art von Theorie als allgemeine Dialogtheorie könnte sich auf die Rolle des Regelbegriffs beziehen. Man könnte in der hier vorgenommenen Regulierung von Dialogverläufen den Versuch einer Syntaktifizierung von pragmatischen Phänomenen sehen, der aus prinzipiellen Gründen mißlingen muß (vgl. z.B. Dascal 1992; Art. 10, Abschn. 1). 2.2

Hintikkas Informationssuchspiele

Einen der Dialoglogik verwandten Typ von formaler Dialogspieltheorie finden wir in Hintikkas Theorie der „information-seeking dialogues", die er in neueren Schriften

8. Formale

Dialogspieltheorien

139

entwickelt hat (z.B. Hintikka 1976; 1981; 1984). Eine Gemeinsamkeit der beiden Konzeptionen besteht darin, daß beide zumindest partiell als rationale Rekonstruktionen einer dialektischen Logik aufgefaßt werden (vgl. Lorenzen/Lorenz 1978,8; Hintikka 1981, 228). Im einzelnen zeigt sich die Verwandtschaft darin, daß z.T. ähnliche Regelformulierungen für den Gebrauch logischer Ausdrücke gegeben werden, und auch darin, daß in beiden Konzeptionen eine Dialogstandsdokumentation mithilfe Tableau-Darstellung vorgesehen ist. Ein grundlegender Unterschied der beiden Theorien liegt darin, daß sich Hintikka einer modelltheoretischen Semantik bedient, während die Erlanger einer wahrheitsfunktionalen Semantik dadurch gerade aus dem Weg gehen, daß sie als Grundbegriff nicht die Wahrheitsdefinitheit, sondern die Dialogdefinitheit von Aussagen wählen (vgl. auch Saarinen 1981). Damit im Zusammenhang steht Hintikkas Auffassung, daß die Dialoglogik eine Logik der Gesprächsspiele im Zimmer sei („indoor games"), während seine semantischen Spiele Verifikationsspiele seien, die (auch) im Freien zu spielen seien („outdoor games of exploring the world"; Hintikka 1973, 81). Richtig an dieser Auffassung ist, daß der Interessenschwerpunkt bei den Erlangern auf der Analyse formaler Gewinnstrategien liegt, für die die Frage der Verifikation von Elementaraussagen keine Rolle spielt. Andererseits ist der Freiluftcharakter der Hintikka-Spiele auch eher programmatisch-theoretisch, denn über die Eigenart von Verifikationsspielen erfahren wir - verständlicherweise - auch bei Hintikka wenig Spezifisches. Das entscheidende Merkmal der Hintikkaschen Dialogspiele ist die explizite Berücksichtigung des Begriffs des Wissens. Dem entspricht auf der Ebene der von ihm erfaßten Handlungsmuster die Aufnahme von Fragen und Antworten in die Dialogspielkonstruktion. Es sind also in seiner Konzeption zwei Stränge zusammengeführt, die spieltheoretische Semantik (vgl. Hintikka 1973) und die Frage/Antwort-Theorie (vgl. Hintikka 1976; 1983b). Ein wesentlicher Bestandteil seiner Frage/Antwort-Theorie ist seine schon früher entwickelte epistemische Logik (Hintikka 1962). Eine gewisse Schwierigkeit bei der Darstellung von Hintikkas Konzeption liegt darin, daß diese in unterschiedlichen Entwürfen vorliegt, die eher programmatisch umrissen als im Detail handwerklich ausgeführt sind (vgl. die Präzisierung der Spielregeln für Semantikspiele in Posch 1987). Da es im vorliegenden Artikel nicht um eine Rekonstruktion des Entwicklungsgangs von Hintikkas Theorie geht, sondern um die Frage, welche Aspekte seiner Theorie für eine allgemeine Dialogtheorie als fruchtbar erscheinen, mag es genügen, den gemeinsamen Kern seiner unterschiedlichen Entwürfe erkennbar zu machen. Die grundlegende Spielidee der Infonnationssuchspiele ist die, daß die Spieler jeweils das vorgesehene Repertoire an Spielzügen strategisch optimal nutzen, um eine zentrale Frage zu beantworten („Wer war der Dieb?") oder die Gültigkeit einer Hypothese zu beweisen („Der Besitzer des Wachhundes war der Dieb"). In einer kompetitiven Spielversion versuchen die Spieler unterschiedliche (z.B. gegensätzliche) Hypothesen zu verteidigen, in einer kooperativen Version koordinieren die Spieler ihre strategischen Möglichkeiten, um gemeinsam eine Frage zu beanworten oder eine Hypothese zu beweisen. Wie das kriminalistische Beispiel zeigt, besteht der

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Zusammenhang zwischen der Beantwortung einer Hauptfrage und der Stützung einer Hypothese darin, daß eine gegebene Hypothese eine mögliche Antwort auf die Hauptfrage des Dialogspiels sein kann. Hintikkas Spiele können genuin dialogisch gespielt werden oder aber als Selbstgespräche bzw. Spiele gegen eine Spielerin „Natur", die der erste Spieler „befragt", d.h. bei der er Information sucht. Anwendungsfelder seiner Dialogspielkonzeption sieht Hintikka in der Logik der Forschung (Hintikka 1985; vgl. auch Rescher 1977), der Logik kriminalistischer Nachforschungen und Befragungen (Hintikka 1983a), der Logik des Lehrens und Lernens (Hintikka 1982) und der allgemeinen Dialogtheorie (Hintikka 1986). Das Regelwerk für Informationssuchspiele enthält neben den schon erwähnten Angaben zu den Spielern folgende Bestandteile: (i) Angaben zu den vorgesehenen Spielzügen (Handlungsmustern), zu deren Abfolge und zu gewissen Einschränkungen der Zugmöglichkeiten, (ii) Angaben zur Dokumentation des Spielstandes (Dialogbuchführung), (iii) Angaben zur Bestimmung von Gewinner und Verlierer. An Arten von Spielzügen sind vorgesehen: (a) Eröffnungszüge, (b) deduktive Züge, (c) interrogative Züge, (d) assertorische Züge, (e) definitorische Züge. Als Eröffnungszug äußert ζ. B. jeder der beiden Spieler eine Hypothese. Deduktive Züge sind Anwendungen von logischen Ableitungsregeln. Bei einem interrogativen Zug stellt ein Spieler eine Informationsfrage, die der andere Spieler beantwortet, sofern eine vollständige Antwort möglich ist. Bei einem assertorischen Zug äußert einer der Spieler eine zusätzliche These. Stimmt der Gegenspieler der These zu, übernimmt er die These in seinen eigenen Thesenbestand. Stimmt er nicht zu, übernimmt er die Negation der These. Mit einem definitorischen Zug führt ein Spieler einen neuen Begriff mithilfe einer expliziten Definition ein. Die Dokumentation des Spielstands wird, wie schon erwähnt, mit einem Tableauverfahren vorgenommen. Für jeden Spieler gibt es ein Tableau mit zwei Spalten, das ggf. in Subtableaux aufgegliedert wird. In die rechte Spalte werden eingetragen: die jeweiligen Ausgangshypothesen der Spieler, die zusätzlichen Thesen (bei assertorischen Zügen), die Präsuppositionen von eigenen Fragen und die eigenen Antworten. In die linke Spalte werden eingetragen: die Ergebnisse der sonstigen Züge (abgeleitete Propositionen, Definitionen, Antworten des Gegners). Wenn ein Spieler sich weigert, eine Frage zu beantworten, wird die Negation der mit der Frage gemachten Präsupposition in die rechte Spalte des Antwortverweigerers eingetragen. (Diese Praxis spielt z.B. eine Rolle bei Fragen mit unberechtigten Voraussetzungen, wie etwa Wann hast du aufgehört, dein Pferd zu schlagen? eine sein k a n n . )

Gewinner ist, wer zuerst sein Tableau abgeschlossen hat, d. h. wer zuerst die nötigen Züge zur Ableitung seiner These gemacht hat. Bei der Bewertung des Spielstands spielen aber auch die „Kosten" einzelner Züge eine Rolle. So hat ζ. B. eine Frage einen bestimmten Preis, der in einer voll ausgeführten Spielkonstruktion festzulegen wäre. Dieser Teil der Spielkonzeption ist noch nicht konsequent ausgearbeitet. Hintikka beschränkt sich hier auf Reflexionen zum Kosten-Nutzen-Verhältnis einzelner Züge

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(vgl. Hintikka 1984, 268ff.). Eine Frage, die in diesem Zusammenhang von Interesse ist, betrifft das Verhältnis von deduktiven und interrogativen Zügen: Wann ist es günstiger, sich die Mühe zu machen, neue Information zu suchen (d.h. Fragen zu stellen), und wann ist es günstiger, auf der Grundlage schon verfügbarer Information Schlußfolgerungen zu ziehen? Hintikka selbst führt keine Beispiele für genuin dialogische Spielverläufe vor. Um wenigstens eine einfache Illustration für die in derartigen Spielen möglichen Dialogverläufe zu liefern, konstruiere ich im folgenden eine dialogische Version eines der ganz wenigen (pseudo-dialogischen) Beispiele, die Hintikka gibt. Es handelt sich um die Übernahme eines Sherlock-Holmesschen Räsonnements aus der Geschichte „Silver Blaze" (vgl. Hintikka 1983a). In unserer dialogischen Version tritt Sherlock Holmes (A) gegen einen etwas apathischen Dr. Watson (Β) an. (6) III A: Der Besitzer eines bestimmten Wachhundes im Stall ist der Dieb. 121 B: Das bestreite ich. 131 A: War ein Wachhund im Stall? 14/ B: Ja. 15/ A: Hat irgendein Wachhund im Stall irgend jemanden angebellt? 161 B: Nein. ΠΙ A: Also hat kein Wachhund im Stall den Dieb angebellt. /8/ B: Richtig. 19/ A: Wen von allen Leuten bellt ein Wachhund nicht an? noi Β: Seinen Besitzer. /11/ A: Nehmen wir einen beliebigen Wachhund im Stall, nennen wir ihn W. /12/ Β: Gut. /13/ A: W hat den Dieb nicht angebellt. /14/ Β: Zugegeben. /15/ A: Wen W nicht anbellt, ist Ws Besitzer. 1161 Β: Das ist folgerichtig gedacht. /ΠΙ A: Also ist der Besitzer von W der Dieb. Sherlock Holmes gewinnt die Dialogpartie. Es gelingt ihm, aufgrund der Antworten auf seine geschickt gestellten Fragen - vor allem 191 - und mithilfe von Schlußfolgerungen - den deduktiven Zügen /7/, /II/, /13/, /15/ und /17/ - seine Hypothese zu beweisen. Man könnte diese Partie natürlich auch als einen kooperativen Dialog deuten, in dem die beiden Dialogpartner ihr gemeinsames Potential zur Wahrheitsfindung nutzen. Dr. Watson hat relevante Information, und Sherlock Holmes aktiviert diese Information durch die richtigen Fragen und zieht aufgrund dieser Information seine Schlußfolgerungen. Eine Veranschaulichung der logischen Struktur dieser Partie in einem vereinfachten Tableau findet sich in Hintikka (1983a, 175f.). Neben der Rekonstruktion der logischen Struktur bestimmter Typen von Frage/ Antwort-Dialogen ermöglicht Hintikkas Dialogspielkonzeption auch eine Betrachtung weitergehender dialogtheoretischer Probleme. Exemplarisch sei seine Auseinandersetzung mit den Griceschen Maximen, insbesondere der Relevanzmaxime, angeführt (vgl. Hintikka 1986). Eine vorgängige Übereinstimmung mit Grice besteht in

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zwei Punkten. Zum einen nehmen beide Autoren an, daß der Begriff der Rationalität grundlegend ist für die Formulierung von Handlungsmaximen (vgl. auch Kasher 1976). Zum anderen gilt das Interesse beider Autoren primär solchen Dialogformen, deren Hauptzweck der Gewinn von Information ist. Während Grice offenläßt, wie der von ihm favorisierte Begriff der Rationalität näher zu explizieren sei, orientiert sich Hintikka an einer spiel theoretischen Rationalitätsauffassung, d. h. an der Idee der Nutzenmaximierung durch die einzelnen Spieler. (Es sei am Rande angemerkt, daß auch nach spieltheoretischer Auffassung nur bei sehr übersichtlichen Spielen eine formal präzise Rekonstruktion von Rationalitätsurteilen möglich ist. Vgl. z.B. Luce/Raiffa 1957, 115.) Hintikkas Kritik an Grice setzt an dem Punkt an, wo Grice - Hintikkas Meinung nach - bei der Formulierung einzelner Maximen und bei der Analyse von Beispielen hinter seine eigenen, besseren Einsichten zurückfällt und einzelne Äußerungen weitgehend isoliert betrachtet. Nun läßt sich aber aus spieltheoretischer Sicht von einem isolierten Zug im Spiel grundsätzlich nicht sagen, ob er Prinzipien der Rationalität entspricht. Erst im Zusammenhang eines ganzen Spielverlaufs, d . h . unter dem Gesichtspunkt der Gesamtstrategie des Spielers, läßt sich die Funktion und damit der Wert eines Zuges bestimmen. Insofern müssen sich Handlungsmaximen auf ganze Strategien beziehen und erst davon abgeleitet auf einzelne Spielzüge. Als Beispiel für seine alternative Betrachtungsweise zieht Hintikka zunächst die Maxime heran, daß man seinen Gesprächsbeitrag nicht informativer machen solle als nötig. Grice sieht das Problem der Nichtbefolgung dieser Maxime vor allem darin, daß der Sprecher seine Zuhörer mit überflüssiger Information irreführen kann, weil diese die Relevanz der zusätzlichen Information nicht erkennen. Nach Hintikka hat diese Maxime in den Informationsdialogen einen viel brisanteren Status. Wer mehr behauptet als nötig, nimmt für den weiteren Dialogverlauf unnötige Verteidigungspflichten auf sich und gesteht gleichzeitig seinem Gegenüber für den weiteren Dialogverlauf unnötig viele Prämissen zu, die dieser für seine eigenen Ziele nutzen kann. M . a . W . , unnötige Information zu geben ist ein schlechter Zug im Zusammenhang einer Gesamtstrategie. Unabhängig davon, daß Hintikkas Hinweis auf die Wichtigkeit der Betrachtung größerer Dialogzusammenhänge in jedem Fall beherzigenswert ist, läßt sich der hier konstruierte Gegensatz zwischen ihm und Grice wohl durch den Hinweis etwas relativieren, daß Hintikka vor allem streng kompetitive Dialoge im Auge hat, während Grice eher an kooperative Dialoge denkt. Ein zweites Beispiel für die Konsequenzen von Hintikkas Betrachtungsweise ist die bei Grice notorisch unspezifisch gehaltene Relevanzmaxime. Hintikka expliziert den Begriff der Relevanz folgendermaßen: Eine Äußerung ist relevant in einem bestimmten Dialogspiel, wenn sie im Einklang mit den Spielregeln steht und nach Auffassung des betreffenden Spielers der Erreichung seiner Ziele im Spiel dient. Diese Explikation dient dann als Ausgangspunkt für die Klärung eines weiteren Grundbegriffs der Dialogtheorie, nämlich des Begriffs der Kohärenz. Ein Dialog ist kohärent, wenn die einzelnen Dialogbeiträge jeweils relevant sind. Es ist klar, daß die Anwendbarkeit dieser Begriffe entscheidend davon abhängt, wie weit es gelingt, die Spielregeln zu formulieren und festzulegen, wann ein Zug des Spielers seinen globalen Spielinteressen dient.

8. Formale Dialogspieltheorien

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Zusammenfassend lassen sich aus dialoganalytischer Sicht folgende Gesichtspunkte an Hintikkas Dialogspielkonzeption hervorheben. Er erweitert gegenüber den Dialoglogikern das Repertoire an sprachlichen Handlungsmustern - vor allem durch die Einbeziehung von Frage/Antwort-Zusammenhängen - , und er liefert eine differenzierte Semantik für einzelne Arten von Ausdrücken (Fragesatztypen, natürlichsprachliche Quantorenausdrücke, anaphorische Pronomina). Er zeigt explizit Konsequenzen seiner spieltheoretischen Auffassung für eine allgemeine Dialogtheorie (Strategiebegriff, Prinzip der zusammenhängenden Betrachtung, Fundierung von Dialogprinzipien, Vorschläge zur Klärung von dialogtheoretischen Grundbegriffen wie dem der Relevanz und dem der Kohärenz). Natürlich beschränkt sich auch Hintikka auf ein sehr kleines Dialogfragment, und viele Probleme der Dialogtheorie kommen auch bei ihm nicht ins Blickfeld, z.B. Verstehensprobleme, Probleme des gemeinsamen Wissens, Probleme der Offenheit von thematischen Zusammenhängen, Bedeutungsprobleme bei nichtlogischen Ausdrücken, komplexere syntaktische Probleme usw. Den Versuch, diese Einschränkungen zu überwinden, finden wir bei einem Schüler Hintikkas, dessen Dialogspielkonzeption wir im folgenden Abschnitt kurz behandeln.

2.3

Carlsons Dialogspielkonzeption

In mehreren Arbeiten hat Carlson eine kommunikationsanalytische Konzeption („an approach to discourse analysis") entwickelt, die sich aus zwei Quellen speist, aus Hintikkas spieltheoretischer Semantik und aus verschiedenen text- und dialogtheoretischen Traditionen vorwiegend linguistischer Provenienz (vgl. Carlson 1983; 1984a; 1984b; 1988). Auch er wählt als zentralen Gegenstand seiner dialogtheoretischen Reflexion Frage/Antwort-Dialoge. Diese Wahl bringt für ihn nicht nur den Vorteil, daß er sich auf Vorarbeiten von Hintikka zur Semantik und Pragmatik von Frage und Antwort stützen kann, sondern sie erlaubt ihm auch zwanglos, Probleme wie die Thema/Rhema-Verteilung oder den Begriff des Dialogthemas zu behandeln. So unterscheidet er den Dialoggegenstand („dialogue subject"), d.h. den Gegenstand, über den gesprochen wird (z.B. John Lennon, das Wetter oder die wissenschaftlichen Qualitäten von Mr. Morgan), und das Dialogthema. Das Thema eines Dialogs ist nach seiner Auffassung ein Problem, für das sich die Dialogteilnehmer interessieren und das in Form einer Frage formuliert werden könnte (z.B. „Welche wissenschaftlichen Qualitäten hat Mr. Morgan?". Vgl. Carlson 1983, 242ff.; Art. 10, Abschn.2.5). Wie die eben erwähnten Untersuchungsgegenstände schon zeigen, gilt Carlsons Interesse in weitaus stärkerem Maß als bei den bisher dargestellten Theorien den konkreten Details natürlich-sprachlicher Dialoge, z.B. der Pragmatik unterschiedlicher Frageund Antworttypen (Informationsfragen, Tendenzfragen, Echofragen; direkte Antworten vs. Hinweise auf mangelndes Wissen vs. Zurückweisen einer Präsupposition) und spezifischen sprachlichen Äußerungsformen (Wortstellungsvarianten, Intonationsmuster, Ausdrücke zur Kennzeichnung von thematischen Übergängen usw.). Er nimmt für die zu entwickelnde Dialogtheorie einen modularen Aufbau an, wobei diese Annahme bisher weitgehend programmatisch ist, da die Interaktion der verschiedenen

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Bausteine (Dialogpragmatik, Dialoggrammatik, Satzgrammatik) nur an einzelnen Stellen angedeutet ist, z.B. beim Zusammenhang zwischen Wortstellungsmustern, Intonationsmustern und der sequentiellen Position von Spielzügen im Dialog (vgl. Carlson 1984a). Eine methodische Grundannahme legt Carlson in der Auseinandersetzung mit Searles Sprechakttheorie dar. Im Gegensatz zu Searles Version einer Sprechakttheorie ist für Carlson das vollständige Sprachspiel die grundlegende Beschreibungseinheit. Die einzelne sprachliche Handlung wird näher bestimmt unter dem Gesichtspunkt, welche Stelle sie im Dialogspiel einnimmt - eine methodische Auffassung, die wir analog bei den Dialoglogikern finden und die auch Hamblin explizit vertritt (vgl. Hamblin 1970,259). Diese Grundannahme erlaubt nach Carlson eine besser begründete Unterscheidung des Status unterschiedlicher Handlungsmuster (z.B. in bezug auf ihre „felicity conditions"), eine begründete Unterscheidung zwischen der Bedeutung einzelner Äußerungsformen (z.B. der Interrogativsätze) und den weitergehenden strategischen Möglichkeiten ihrer Verwendung und schließlich eine theoretisch fundierte Analyse von Sprechaktsequenzen. Der spieltheoretische Rahmen liefert auch, ähnlich wie bei Hintikka, die Grundlage für die Klärung dialogtheoretischer Grundbegriffe. Ein rationaler Spieler im Sinne der Spieltheorie macht nur Züge, die seinen Zielen dienen, d. h. er wählt eine optimale Strategie. Das bedeutet, daß ein rationaler Dialogspieler nur relevante Züge macht. Im Kontext der Dialogspiele bedeutet „Mache relevante Handlungen!" nichts anderes als „Mache rationale Handlungen!" (vgl. Carlson 1983,45f.). Neben dem Relevanzbegriff erhält auch der Kohärenzbegriff eine spieltheoretische Deutung. Ein Stück Text oder Dialog ist dann kohärent, wenn es zu einer wohlgeformten Partie eines Dialogspiels erweitert werden kann. Damit wird das Problem der Charakterisierung kohärenter Texte bzw. Dialoge zurückgeführt auf das Problem der Beschreibung bestimmter Arten von Dialogspielen (vgl. Carlson 1983, xiv). Im ganzen ist Carlsons Theorieentwurf zweifellos attraktiv und ein wertvoller Beitrag zur Entwicklung einer formalen Dialogtheorie. Es ist aber auch bei seiner Konzeption eine generelle Schwierigkeit nicht zu übersehen, die für die Entwicklung formaler Dialogtheorien charakteristisch ist. Van Benthem formuliert dieses Problem - oder doch einen Teil dieses Problems - folgendermaßen: „Some first cues may be taken here from existing dialogical or game-theoretical approaches developed in philosophical logic. The difficult point will be to increase descriptive coverage of earlier theories with a more modest scope, without sacrificing former standards of precision" (van Benthem 1989, 204). Der eigentliche Konflikt tritt zutage bei dem Versuch, die Theorie um essentiell pragmatische Elemente zu bereichern und gleichzeitig formale Entscheidungsprozeduren zu behalten. Man kann das an einem einfachen Beispiel aus Carlsons Hauptwerk erläutern (Carlson 1983,153). Als Dialogregel für den Gebrauch von and gibt Carlson folgende Formulierung: (D. and) When a player has put forward a dialogue move, he may continue on the same topic by conjoining a further sentence to it by and.

8. Formale Dialogspieltheorien

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Die entscheidende Einschränkung für die Anschließbarkeit von Sätzen mit and ist die Bedingung der Fortsetzung desselben Themas. Mit dieser Einschränkung hat Carlson den Bereich wahrheitsfunktionaler oder auch dialoglogischer Konzeptionen klar überschritten. Es ergibt sich nun die Schwierigkeit, daß es keine generelle, formale Methode gibt zu entscheiden, wann mit einem Satz das Thema fortgesetzt wird und wann nicht. Natürlich könnte man für bestimmte thematische Bereiche stipulativ einführen, was es heißt, daß mit einem Satz über dasselbe Thema weitergeredet wird. Aber mit dieser Stipulation verdeckt man gerade eine nicht-zufällige Besonderheit natürlicher Dialoge, nämlich die, daß bisweilen umstritten ist oder einfach offen bleibt, was als Beitrag zu demselben Thema gelten kann und was nicht. Nicht-zufällig ist diese Besonderheit deshalb, weil sie zusammenhängt mit der essentiellen Möglichkeit, im Dialog neue thematische Zusammenhänge zu entwickeln. Das angesprochene Problem kommt in Carlsons Arbeiten nicht mit voller Schärfe zum Ausbruch, weil er nicht den Versuch unternimmt, in größerem Umfang realistische Dialoge nach seinen Regeln zu simulieren bzw. vorgegebene Dialoge an seinen Regeln zu messen. Auch wenn das Problem prinzipiell nicht lösbar erscheint - es zeigt eine gewisse Verwandtschaft mit dem sog. frame-Problem in der Künstlichen Intelligenz (vgl. Pylyshin 1987) - , so erscheint es doch wünschenswert, daß die Grenzen formaler Dialogtheorien in diesem Punkt weiter hinausgeschoben werden, und sei es nur, um damit die Familie realistischer Vergleichsobjekte zu erweitern.

2.4

Hamblins formale Dialektik und Waltons logische Dialogspiele

In diesem Abschnitt kehren wir von einer linguistischen Konzeption zurück zu den Logikern. Allerdings verfolgen die in diesem Abschnitt zu behandelnden Autoren teilweise andere Interessen als Hintikka und die Erlanger Dialoglogiker. Das Hauptthema der formalen Dialektik und der verwandten logischen Dialogspiele Waltons ist ein Aspekt der traditionellen Dialektik, der bei den bisher dargestellten Richtungen nur am Rande thematisiert wird, nämlich die Lehre von den fehlerhaften, unfairen oder anderweitig verfehlten Beiträgen zu argumentativen Dialogen. In seinem Buch „Fallacies" („Trugschlüsse") fordert Hamblin eine Theorie der Dialogkritik, speziell der Argumentationskritik („a theory of charges, objections or points of order"; Hamblin 1970, 303), eine Theorie, zu der seine eigenen Arbeiten in diesem Feld einen Beitrag leisten sollen (Hamblin 1970; 1971). Systematische Argumentationskritik kann man nach Hamblin auf zweierlei Weise betreiben, deskriptiv durch die Untersuchung der Regeln und Konventionen, die bei tatsächlichen Diskussionen wirksam sind, oder formal durch die Konstruktion von einfachen, wenn auch nicht unbedingt realistischen Regelsystemen und die Untersuchung der Dialogpartien, die im Rahmen dieser Regeln gespielt werden können. Hamblin selbst wählt den formalen Weg und konstruiert dialektische Systeme, d.h. regulierte Dialogformen bzw. ganze Familien von regulierten Dialogformen. Dabei ist der Vergleich verwandter Dialogformen, die dadurch entstehen, daß man in kontrollierter Weise die Dialogregeln verändert, ein besonders leistungsfähiges methodisches Mittel, von dem ja

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auch die anderen Dialogspieltheoretiker Gebrauch machen. Es ist leicht zu erkennen, daß die Lehre von den verfehlten Dialogbeiträgen teilweise eng zusammenhängt mit der Lehre von den kommunikativen Strategien und den Kommunikationsprinzipien, denn es sind ja u. a. diejenigen Dialogbeiträge verfehlt, die strategisch ungünstig oder kommunikationsmoralisch verwerflich sind. Einen Hinweis auf die Art der Probleme, um die es hier geht, gibt die traditionelle Auffassung, daß sophismata und Trugschlüsse dadurch gekennzeichnet sind, daß sie formal korrekt aussehen, es aber nicht sind. Zur Verdeutlichung seien zwei Beispiele für problematische Züge in argumentativen Dialogspielen angeführt. Im ersten Fall argumentiert ein Diskussionsteilnehmer folgendermaßen: (7) (a) Jeder Mann liebt eine Frau. (b) Also gibt es eine Frau, die jeder Mann liebt. Zumindest in einer der Lesarten von (7) (a) ist dieser Schluß nach den Schlußregeln der Prädikatenlogik nicht gültig. In der Notation der Prädikatenlogik ausgedrückt, enthält (7) (a) zwei unterschiedliche Quantoren, deren Reihenfolge nicht willkürlich vertauscht werden kann. Es handelt sich bei (7) um einen sog. formalen Trugschluß, der auch in einem dialektischen System Hamblinscher Prägung unzulässig wäre. (Vielleicht hat der Diskussionsteilnehmer diesen Schluß verwechselt mit dem von (7) (b) auf (7) (a), der in der Tat zulässig ist. ) Im zweiten Fall präsentiert ein Teilnehmer folgende Sequenz von Äußerungen: (8) (a) Es regnet, und die Straße ist naß. (b) Also ist die Straße naß. Dieser Schluß ist formal untadelig, aber der Diskutant verfolgt eine für ihn sehr ungünstige Strategie. Denn wenn gerade strittig ist, ob die Straße naß ist, wird der Opponent kaum eben diese Proposition als Prämisse akzeptieren. Wir haben hier einen einfachen Fall von petitio principii vor uns, einen nicht-formalen Trugschluß (vgl. Walton 1984,214ff.). Es ist hinzuzufügen, daß man eine petitio principii nicht immer so leicht erkennt und daß die petitio ein sehr häufiges argumentatives Mißgeschick bzw. eine sehr häufige argumentative Unsauberkeit ist. Die Struktur eines Hamblinschen dialektischen Systems kann folgendermaßen charakterisiert werden. Den Kern des Systems bildet die klassische Logik, in den ausgearbeiteten Systemen ist es jeweils die Aussagenlogik. Darüber hinaus sind zunächst folgende Bausteine zu unterscheiden: (i) eine Menge von Äußerungsformen („locutions"), (ii) eine Menge von Sequenzregeln („syntactical rules"), (iii) eine Menge von Festlegungsregeln („commitment-store operations"). Die einzelnen Spieler haben jeweils einen Festlegungsspeicher, den man sich als ein Blatt oder als Datenspeicher eines Computers denken kann. In ihm werden Behauptungen verzeichnet, auf die sich der Spieler im Lauf des Dialogspiels festlegt. Es folgen jetzt Beispiele für Äußerungsformen und die genannten Regeltypen (vgl. Hamblin 1970,265ff.). (i) Äußeningsformen (1) .Behauptung S' (2) ,Keine Festlegung auf S, Τ . . . X'

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8. Formale Dialogspieltheorien

(3) ,Frage S?' (4) Warum ST (ii) Sequenzregeln (1) An .Warum S?' muß angeschlossen werden: (a) .Behauptung nicht-S' oder (b) .Keine Festlegung auf S' oder (c) .Behauptung Τ, Τ => S' (iii) Festlegungsregeln (1) Nach .Behauptung S' wird S in den Festlegungsspeicher des Sprechers aufgenommen. (2) Nach .Warum S?' wird S in den Festlegungsspeicher des Hörers aufgenommen, es sei denn, S ist schon im Festlegungsspeicher des Hörers oder dieser reagiert mit .Behauptung nicht-S' oder .Keine Festlegung auf S'. Ein kurzer Hamblin-Dialog mit Festlegungsspeicher sieht folgendermaßen aus: (9)

Äußerungen

Festlegungsspeicher Α Β

A: ,S' Β: ,Warum S?' A: ,T,T=>S'

S Τ TDS

Der Sinn der Festlegungsspeicher besteht darin, eine Buchführung des Festlegungsbestandes des Dialogteilnehmers zu ermöglichen und damit in der Form eines Ergebnisprotokolls die Dialoggeschichte zu dokumentieren. Die Dialogbuchfiihrung wird u. a. benötigt zur Beurteilung der Konsistenz der Behauptungen, die ein Sprecher im Laufe des Dialogs macht. Sie spielt vor allem aber eine Rolle bei der Formulierung von Regeln eines weiteren Typs, die man als dialektische Prinzipien bezeichnen könnte. Auch dafür einige Beispiele: (iv) Dialektische Prinzipien (1) .Behauptung S' darf nicht geäußert werden, wenn S schon eine Festlegung des Hörers ist. (2) .Warum S?' darf nicht geäußert werden, wenn S eine Festlegung des Sprechers ist. (3) Die Reaktion auf ,Warum S?' muß Behauptungen enthalten, die schon Festlegungen von Sprecher und Hörer sind, es sei denn die Reaktion ist .Behauptung nicht-S' oder .Keine Festlegung auf S'. Diese Prinzipien sollen bestimmte dialektisch unwillkommene Dialogverläufe ausschließen, die aufgrund der Sequenzregeln möglich sind. So soll (iv) (1) uninformative Behauptungen ausschließen, (iv) (2) soll „akademische" Beweisforderungen verhindern, verhindert allerdings auch die oft nützliche Informations-warum-Fiage. (iv) (3) soll zirkuläres Argumentieren unterbinden. Gerade bei den dialektischen Prinzipien ist es interessant zu beobachten, welche Konsequenzen ihre Veränderung für das Dialogspiel hat. Schwächt man z.B. (iv) (1) so ab, daß die .Behauptung S' nur dann nicht gemacht werden darf, wenn S eine Festlegung von Hörer und Sprecher ist, so ermöglicht man eine Art Handlung, die man als ZUGEBEN-daß-S beschreiben könnte.

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Ähnliche Überlegungen kann man zu Veränderungen der anderen Prinzipien anstellen. Als Zweck der von ihm betrachteten Dialoge nimmt auch Hamblin primär den Informationsaustausch an, sei es in kooperativer, sei es in kompetitiver Form. Was strategische Gewinnregeln und Prinzipien angeht, so macht er nur Andeutungen. Hier geht Walton, der sich ansonsten weitgehend auf Hamblin stützt, über dessen Modell hinaus. Dabei bedient er sich teilweise der Vorarbeiten von Hintikka. Hier einige Beispiele für ein kompetitives Spiel (vgl. Walton 1984,134ff.): (v) Gewinnregeln (1) Für jede Behauptung S, die ein Spieler als Festlegung akzeptiert, bekommt er einen Punkt. (2) Derjenige Spieler, der zuerst zeigen kann, daß seine eigene These aus der Menge der Festlegungen des Gegenspielers unmittelbar folgt, hat gewonnen. (3) Wenn bis zum festgelegten Limit niemand nach Regel (2) gewonnen hat, gewinnt derjenige mit der größten Punktzahl bzw. es gibt ein Unentschieden nach Punkten. Eine Gewinnstrategie hat, ähnlich wie bei den Dialoglogikern und bei Hintikka, derjenige Spieler, der über einen Beweis seiner These verfügt. (vi) Strategische Prinzipien (1) Es ist strategisch günstig, die für den Beweis nötigen Prämissen einzeln und im Abstand vorzubringen. (2) Es ist strategisch günstig, die Beweisschritte über eine längere Dialogpassage hin zu verteilen. (3) Es ist strategisch günstig, den Gegenspieler zunächst dazu zu bewegen, sich auf eine Menge von Festlegungen einzulassen, die einen Zusammenhang bilden, der dem Opponenten nicht zu unakzeptabel erscheint. Diese Prinzipien beruhen alle auf der Tatsache, daß normale Dialogspieler die Zusammenhänge ihrer Festlegungen nicht vollständig überblicken. Ein in bezug auf seine Festlegungen allwissender und logisch perfekter Dialogspieler würde natürlich diese Strategien sofort durchschauen. Ein interessanter Aspekt der Äußerungs- und Festlegungsregeln sei noch erwähnt. Hamblin sieht in einem seiner Spiele die Möglichkeit vor, Festlegungen zurückzunehmen („retractions"). Man kann in diesem Spiel die Festlegung S zurücknehmen, indem man äußert ,Keine Festlegung S'. (Vermutlich müßte man dafür einen Strafpunkt in Kauf nehmen.) Diese Zugmöglichkeit unterscheidet die sog. nicht-kumulativen Spiele von den kumulativen Spielen, zu denen die im ersten Teil dieses Artikels behandelten Dialogspiele gehören (vgl. Walton 1985, 265; WoodsAValton 1989,153ff.). Der nichtkumulative Charakter bringt ein zusätzliches realistisches Element in diese Dialogspiele, da er z.B. die Möglichkeit eröffnet, beim Erkennen einer Inkonsistenz weiterzuspielen, während in einem streng kumulativen Spiel die Partie für denjenigen, der eine Inkonsistenz in seinen Festlegungen eingeht, verloren ist. Nicht-kumulative Spiele erlauben es, denjenigen Teil der Dialogdynamik zu betrachten, der durch Meinungsänderungen und Erkenntniszuwachs bedingt ist (vgl. Gärdenfors 1988).

8. Formale Dialogspieltheorien

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Die Anwendung der formalen Dialektik auf die verschiedenen Formen traditioneller Trugschlüsse ist schon relativ weit gediehen. Neben den Beobachtungen von Hamblin sind vor allem die ausführlichen Analysen von Walton und Woods zu nennen, die sie in zahlreichen Arbeiten vorgelegt haben (Walton 1984; 1987; Woods/Walton 1989). Wie die anderen Dialogspieltheorien auch, sind die Arbeiten zur formalen Dialektik über ihre engere dialektische Zielsetzung hinaus von Bedeutung für die Entwicklung einer allgemeinen Dialogtheorie. Ähnlich wie bei den zuvor behandelten Konzeptionen finden wir hier Überlegungen zur Explikation von Begriffen wie Kohärenz und Relevanz. Hamblins Begriff des „zulässigen Dialogs" („legal dialogue"; Hamblin 1971, 132) ist ein naher Verwandter des Begriffs des kohärenten Dialogs (vgl. Fritz 1982, 28ff.), und der Begriff der Relevanz wird an verschiedenen Stellen diskutiert, zumeist im Zusammenhang mit der sog. ignoratio elenchi, am ausführlichsten in Walton (1982). Über die Bedeutung von systematischen dialogstrategischen Analysen und die weitere Anwendung des Konzepts der Dialogbuchführung für eine systematische Dialogstandsanalyse wird im folgenden Abschnitt noch kurz zu reden sein.

3.

Zusammenfassende Betrachtung

Die bisher vorliegenden Dialogspieltheorien sind primär aus logischer Sicht entwickelt worden. Das zeigt sich darin, daß sie in erster Linie Beweisspiele zum Gegenstand haben. Eine beträchtliche Erweiterung der Perspektive liegt jedoch in der Aufnahme des Aspekts der Information und, damit verbunden, der Berücksichtigung von Frage/ Antwort-Zusammenhängen. Obgleich es sich bisher noch um relativ kleine Ausschnitte aus einem größeren Dialogspielkosmos handelt, lassen die hier behandelten Konzeptionen vielfältige theoretische und methodische Nutzungsmöglichkeiten zu. Man könnte grob zwei Typen der Nutzung unterscheiden: 1. Die Weiterentwicklung dieser Theorien hin zu größerer Reichweite und größerem Realismus im Detail. 2. Die Nutzung des konzeptuellen Rahmens zur Entwicklung von systematischen Fragestellungen außerhalb von im engeren Sinne formalen Theorien. Beim ersten Nutzungstyp gälte es zunächst, bei Fragmenten der vorliegenden Größenordnung eine engere Verknüpfung der logischen und dialektischen Elemente mit grammatischen und lexikalischen Theoriebausteinen zu erzielen. Hinweise auf derartige Verknüpfungsmöglichkeiten finden sich bei Carlson, auch früher schon in Heringer (1974). Eine wichtige Weiterentwicklung wäre die konsequente Einbeziehung der Wissenskonstellationen unter den Spielern (gemeinsames Wissens, nichtgemeinsames Wissen), die bei Hintikka, bei Carlson und auch bei Walton in Ansätzen zu erkennen ist (vgl. Waltons Unterscheidung von „heller", d.h. offen zugänglicher, und „dunkler", d.h. dem Gegenspieler verborgener Seite der Festlegungsspeicher). Mit dieser Einbeziehung wären in einem Zug zwei wichtige Möglichkeiten eröffnet: Es könnte faktisch das Spektrum der Handlungsmuster erweitert werden - da Handlungsmuster ja partiell durch Äußerungsformen plus spezifischen Wissens- bzw. Annahmen-

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bestand definiert werden können - , und es könnte der Aspekt des Verstehens systematisch in den Spielen verankert werden, ein wesentlicher Schritt zu einer realistischeren Dialogspielkonzeption. Eine weitere Entwicklungslinie bestünde darin, das Repertoire an Spieltypen zu erweitern. Es wäre zu denken an Aufforderungsspiele (rudimentär in Hamblin 1987), Bewertungsspiele, Begründungsspiele, Problemlösungs-, Planungsund Erzählspiele. In all diesen Spielen ließen sich die vorhandenen deduktiven und Frage/Antwort-Spielelemente integrieren. Eine aus spieltheoretischer Sicht interessante Erweiterung wäre auch die Erhöhung der Spielerzahl, die neue strategische Erwägungen verlangt, u.a. im Zusammenhang mit der Möglichkeit zur Bildung von Koalitionen unter den Spielern. Beim zweiten Nutzungstyp werden formale Spielkonstruktionen als Vergleichsobjekte zur Untersuchung von Grundstrukturen von Dialogformen genutzt. Sie bieten den konzeptuellen Rahmen für eine zusammenhängende Betrachtung von Dialogaspekten, die in anderen Theorietypen durch ein additives Verfahren abgedeckt werden (vgl. Weiterentwicklungen der Sprechakttheorie). Da ist zunächst der in den Spielkonstruktionen verankerte Zusammenhang von Spielausgängen, deren Bewertungen, Strategien und einzelnen Spielzügen, aus denen sich eine Strategie aufbaut. Diese Sichtweise erlaubt eine Betrachtung der Rolle einzelner sprachlicher Handlungen in ihren funktionalen Zusammenhängen, eine Möglichkeit, die der traditionellen Sprechakttheorie weitgehend abgeht. Die Idee der extensiven Form des Spiels, d.h. der vollständigen Aufschlüsselung der Entscheidungsmöglichkeiten in einem Spielbaum kann als Folie dienen für die systematische Analyse von strategischen Wahlmöglichkeiten in einer gegebenen Dialogsituation (vgl. die strategischen Analysen eines Frage- und eines Behauptungsspiels in Heringer 1974,192ff. und eines Verhandlungsspiels in Fritz 1982, 69ff.). Schließlich erscheint die Idee der Dialogbuchführung als konzeptueller Rahmen für eine systematische Dialogstandsanalyse besonders fruchtbar. Diese Konzeption bietet einen Analyseansatz für die grundlegenden, aber einer präzisen Analyse nicht leicht zugänglichen Probleme der Dialogdynamik. Aus philosophischer Sicht hat Lewis in seinem Aufsatz „Scorekeeping in a language game" (Lewis 1970) eine Reihe von Phänomenen genannt, die einer genauen Spielstandsanalyse bedürfen (z.B. die „Akkomodation" von Präsuppositionen, der Gebrauch von Kennzeichnungen, die Variation in der Anwendung von Kommunikationsprinzipien). Weitere Aspekte der Dialogdynamik werden aus linguistischer Sicht betrachtet in Fritz (1989) (z.B. Wissensaufbau im Dialog (vgl. auch Art. 10, Abschn.2.4), Einführung von neuen Gegenständen in den Dialog, Themenwechsel, Übergänge von einer Kommunikationsform zur anderen). Hier ist noch ein weites Feld für systematische dialoganalytische Arbeit, die auch vielfältige Anwendungsmöglichkeiten hat, von der Theorie des Lehrens und Lernens über die Verständlichkeitsforschung bis hin zur Betrachtung therapeutischer Strategien. Last but not least führt die Betrachtung formaler Vergleichsobjekte zur Einsicht in eine essentielle Eigenart natürlicher Dialoge, die sich wohl letztlich einer algorithmischen Modellierung entzieht, nämlich den prinzipiellen ad-hoc-Charakter der alltäglichen Dialogkonstitution, der durch alle Regeln und Routinisierungen durchscheint (vgl. Suchman 1987).

8. Formale Dialogspieltheorien

4.

151

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G. Fritz

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Gießen

ZWEITER T E I L

Theorie und Methodologie der Dialoganalyse

9.

Verstehen und Beschreiben von Dialogen

1. 2. 2.1 2.2 3. 3.1 3.2 3.3 3.4 3.5 4.

Verstehen, Beschreiben, Erklären Verstehen und Interpretieren Hermeneutik-Tradition Sprachanalytische, handlungstheoretische und kognitivistische Explikationsversuche Verstehende Analyse von Dialogen Partnerverstehen und Beobachterverstehen Verstehen als Voraussetzung und Ziel der Beschreibung von Dialogen Datenerhebung, Datenaufbereitung, Dateninterpretation Zum Problem der Transkription Quantitative und qualitative Analyse Literaturhinweise

1.

Verstehen, Beschreiben, Erklären

Stellt man die Frage nach dem Zusammenhang von Verstehen und Beschreiben an den Anfang der Überlegungen zur „Theorie und Methodologie der Dialoganalyse", so legt dies zu Recht die Vermutung nahe, daß wir es hier mit einer Frage von grundsätzlicher Bedeutung zu tun haben. Wie grundsätzlich diese Frage tatsächlich ist, läßt sich u.a. daran ablesen, wie leidenschaftlich und ausdauernd entsprechende erkenntnis- und wissenschaftstheoretische bzw. methodologische Kontroversen um die theoretische und methodische Rolle des Verstehens seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert geführt worden sind. Die alte Streitfrage nach dem Verhältnis von Naturwissenschaften und Geisteswissenschaften wird durch die Frage nach der Stellung der im 20. Jahrhundert aufkommenden Sozialwissenschaften neu belebt und gipfelt in den 60er Jahren schließlich im bekannten Methodenstreit zwischen Neopositivismus/Kritischem Rationalismus auf der einen und Kritischer Theorie der Frankfurter Schule auf der anderen Seite. Eine der Grundannahmen des Positivismus, die sich auch im Kritischen Rationalismus wiederfindet, ist der „methodologische Monismus", der die „Einheit der Wissenschaften", unabhängig von der Verschiedenartigkeit der einzelwissenschaftlichen Gegenstände, über eine einheitliche wissenschaftliche Methode sicherstellen möchte. Das

156

Β. U. Biere

dabei unterstellte Methodenideal ist freilich ein szientifisches, das sich am methodologischen Standard der sog. exakten Wissenschaften orientiert. Der einheitswissenschaftlichen Konzeption zufolge wären an diesem Standard auch methodologische Konzeptionen im Bereich der Geistes- und Sozialwissenschaften zu messen. Mit der Erfüllung des methodologischen Standards der exakten Wissenschaften ist schließlich auch die Frage verknüpft, ob und in welchem Sinn die Geistes- und Sozialwissenschaften überhaupt den Anspruch erheben können, .wissenschaftliche' Beschreibungen ihres Gegenstandsbereichs zu liefern. Ein solcher ,Unwissenschaftlichkeitsverdacht' ist wiederum begründet in einer weiteren Grundannahme des Positivismus, die als wissenschaftliche Erklärung nur einen bestimmten Erklärungstyp zuläßt, nämlich den hypothetisch-deduktiven oder nomologischen. Dieser ist im wesentlichen ,kausal' bestimmt. Kausale Erklärungen bestehen „in der Subsumption individueller Sachverhalte unter hypothetisch angenommene allgemeine Naturgesetze" (v. Wright 1974, 18), wobei für die Humanwissenschaften entsprechende Gesetze der ,menschlichen Natur' unterstellt werden. Ebenfalls seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert ist von bedeutenden Philosophen, Historikern und Sozialwissenschaftlern (z.B. Droysen, Dilthey, Simmel und Max Weber) jedoch auch die antipositivistische Auffassung vertreten worden, daß es einen fundamentalen Gegensatz gibt „zwischen jenen Wissenschaften, die wie die Physik, Chemie oder Physiologie auf Generalisierungen über reproduzierbare und prognostizierbare Phänomene abzielen, und jenen, die wie die Geschichtswissenschaft die individuellen und spezifischen Merkmale ihrer Gegenstände erfassen wollen" (v. Wright 1974, 19). Während die sog. exakten Wissenschaften Erklärungen liefern, deren Wert in der Prognostizierbarkeit von Ereignissen und damit in der „technischen Verfügung über vergegenständlichte Prozesse" (Habermas 1968, 157) liegt, haben es die Geschichtswissenschaften mit dem Verstehen von tradiertem und in die eigene Welt des Interpreten projiziertem Sinn zu tun. Im Unterschied zum technischen Erkenntnisinteresse der empirisch-analytischen Wissenschaften verfolgen sie - die historisch-hermeneutischen Wissenschaften - nach Habermas (1968) ein praktisches Erkenntnisinteresse, insofern ,Sinnverstehen' „sich seiner Struktur nach auf möglichen Konsensus von Handelnden im Rahmen eines tradierten Selbstverständnisses" richtet (Habermas 1968,158). ,Hermeneutisches Bewußtsein' stellt nicht nur das „objektivistische Selbstverständnis" der traditionellen historischen Geisteswissenschaften (Historismus) infrage, sondern kann auch die Sozialwissenschaften an die Probleme der Konstitution ihrer ,Daten' erinnern. Die ,Daten' des Sozialwissenschaftlers sind nicht in irgendeiner natürlichen Weise .gegeben', sondern werden von handelnden Subjekten, z.B. in Form sprachlicher Äußerungen, intentional erzeugt. Dies gilt größtenteils auch für diejenigen Daten, die die Soziologen schlicht als .gegeben' betrachten. Auch wenn diese bereits in einer Form vorliegen, die sie der quantitativen Auswertung zugänglich macht, sind sie doch ihrerseits bereits Ergebnis „vielfältiger Perzeptionen und Interpretationen, die in die Zusammenstellung dieser Daten eingingen", sie sind „Produkt bürokratisch organisierter Aktivitäten, zum Beispiel von Volkszählungsämtern, Stan-

9. Verstehen und Beschreiben von Dialogen

157

desämtern, Straforganen, Wohlfahrtsstellen und Gewerbeaufsichtsämtern" (Cicourel 1964; 1974, 60). Wenn es die empirische Sozialforschung demnach mit Untersuchungsgegenständen zu tun hat, die entweder selbst Handlungs- und Prozeßcharakter haben oder ihrerseits als Ergebnis von Handlungen zu interpretieren sind, so muß sie sich mit der Frage auseinandersetzen, wie ihr diese Art von Daten methodisch zugänglich ist und wie sie zu relevanten (!) Beschreibungen dieser Daten gelangen kann. Auf dem Hintergrund der kurz umrissenen wissenschaftstheoretischen Kontroversen gilt es auch für die Dialoganalyse abzuwägen, welche Konzeption in ihren methodologischen Konsequenzen die Anforderungen erfüllen kann, die wir aufgrund der Art unseres Untersuchungsgegenstandes und unseres spezifischen analytischen Interesses erfüllt sehen wollen. Welche Art von Beschreibungen kann und will die Dialoganalyse liefern, und welche Methoden sind jeweils angemessen? Ist diese Frage überhaupt für die Dialoganalyse schlechthin zu beantworten, oder nur unter Bezug auf je unterschiedliche Perspektiven, auf unterschiedliche theoretische oder auch anwendungsbezogene Zielsetzungen, unter denen ihr je spezifischer Gegenstand allererst konstituiert wird? Wenn wir uns im folgenden der Frage nach dem Verstehen und Beschreiben von Dialogen zuwenden und die Frage nach dem Zusammenhang von Verstehen und Interpretieren zu klären versuchen wollen, so ist dabei vorausgesetzt, daß .Verstehen' eine methodisch relevante Rolle für die Dialoganalyse, zumindest für die Analyse authentischer Dialoge, spielt. Dies würde zwar auch aus kritisch-rationalistischer Sicht nicht bestritten, strittig wäre dann aber, ob .Verstehen' in die Heuristik fällt oder ob es ein relevanter Aspekt der Forschungslogik selbst ist. (Siehe dazu weiter unten.) Wir werden uns also in der Tat fragen müssen, ob »Verstehen' eine positive Methode oder (nur) ein heuristisches Verfahren ist, das in die .Psychologie der Forschung' gehört. Um dies wiederum klären zu können, müssen wir uns zunächst über den Verstehensbegriff selbst verständigen. Nachdem wir mit dem Begriffspaar , Verstehen - Erklären' den wissenschaftstheoretischen Kontext angesprochen haben, wollen wir die Explikation des Verstehensbegriffs nun aus eher hermeneutischer Sicht fortführen. Dabei zielen wir in erster Linie auf die Unterscheidung von ,Verstehen' und interpretieren' (,Auslegen', ,Deuten') ab, die sich für die Dialoganalyse als besonders nützlich erweisen dürfte.

2.

Verstehen und Interpretieren

2.1

Hermeneutik-Tradition

Wilhelm Dilthey (1900; 1974, 324) siedelt die „endliche Konstituierung" der Hermeneutik im 16. Jahrhundert an. Dort sei erstmals versucht worden, „die bis dahin gefundenen Interpretationsregeln" zu einem ,Lehrgebäude' zu verbinden, welches die Hermeneutik nunmehr in den Rang einer Kunstlehre oder Theorie des Interpretierens, mithin in den Rang einer Wissenschaft treten lasse. Die in einer natürlichen Fertigkeit begründete Auslege-Kunst leitet durch Regelgebung zu einem methodisch disziplinier-

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Β. U. Biere

ten Auslegungsverfahren an. Wird,Auslegen', wie in der Zeit der Aufklärung etwa bei J. M. Chladenius, als eine Art sprachlichen Handelns in didaktischer Absicht verstanden, so setzt dies voraus, daß der Ausleger das, was er (für einen Schüler) auslegend verständlich zu machen versucht, selbst bereits verstanden hat. Im Akt des Auslegens macht er dem Schüler „gewisse dunckele Stellen" (Chladenius 1742, § 166) deutlich und versucht ihn so vom „Gar-Nicht-Verstehen" zum „Vollkommen-Verstehen" hinzuführen. Wir verstehen eine Stelle dann noch nicht vollkommen, wenn uns „noch einige von diesen Begriffen fehlen, die zum vollkommenen Verstände gehören" (Chladenius 1742, § 159). Gelingt es dem Ausleger, seinem Schüler die fehlenden Begriffe und das heißt für Chladenius: entsprechendes (ζ. B. historisches) Wissen - beizubringen, so hat er seine Aufgabe in diesem konkreten Fall dann erfüllt, wenn er gleichzeitig die Gültigkeit des zu vermittelnden und von ihm bereits gewußten „wahren Verstandes" argumentativ begründen kann. Denn auch der Schüler kann - im Zeichen der Aufklärung - eine andere Art von „Beweis [...] des wahren Verstandes" als den in der Autorität des Lehrers liegenden, eben eine „Rechtfertigung der Auslegung" (Chladenius 1742, § 659) verlangen. In moderner Terminologie reformuliert, unterscheidet Chladenius also zwischen dem Auslegen als zum Verstehen anleitendes, verständlichmachendes sprachliches Handeln und dem Verstehen im Sinne eines vorgängigen Verständnisses der auszulegenden Textstelle. Die partnerorientierte Auslegung führt jedoch den Schüler ebenfalls zu einem Verständnis, zu dem er ohne Intervention des Lehrers (Auslegers) nicht gelangt wäre. So finden wir hier im Grunde bereits eine dreifache Begrifflichkeit, nämlich einerseits den Begriff des Auslegens und andererseits zwei Verstehensbegriffe: Verstehen als Voraussetzung des Auslegens und Verstehen als Ziel der Auslegung. Wir werden weiter unten sehen, daß in diesem, hier bereits auf eine dialogische Situation bezogenen Weg vom Verstehen (Verständnis) eines Partners X über den Akt der expliziten Auslegung zum Verstehen (Verständnis) eines Partners Y ein Grundmuster auch für den Zusammenhang von Verstehen und Beschreiben im Kontext der Dialoganalyse liegen könnte. Das beim Ausleger vorausgesetzte Verstehen ist hier allerdings tatsächlich als der gewußte ,wahre Verstand', als das richtige Verständnis begriffen, das durch die Auslegung nicht mehr affiziert wird. Auslegung ist aufgrund des .Kompetenzgefälles' zwischen Lehrer und Schüler nur noch der didaktisch-vermittelnde Akt, durch den der Schüler zu einem mit dem Verständnis des Auslegers idealiter identischen Verstehen geführt werden kann. Gerade die hiermit unterstellte im Vernunftglauben der Aufklärung wurzelnde - grundsätzliche Identität des Verstehens, die Idee des einen, identischen „wahren Verstands" eines Textes oder einer Textstelle, wird in der Hermeneutik des 19. Jahrhunderts problematisch. Verbunden mit der Anerkennung der Individualität des Denkens, die auch im Medium der allgemeinen Sprache immer nur ,approximativ' aufgehoben ist, entwickelt Friedrich D. Schleiermacher eine Hermeneutikkonzeption, die den Auslegungsbegriff des Chladenius aus der Hermeneutik in die Rhetorik verweist. Betrachtet die Aufklärungshermeneutik das Verstehen überhaupt nicht als einen eigenen oder gar den Analysegegenstand der Hermeneutik, so wird nun - wie Dilthey

9. Verstehen und Beschreiben von Dialogen

159

(1900; 1974, 327), Gadamer (1965, 172ff.) und Szondi (1975, 160f.) übereinstimmend zeigen - die „einfache Tatsache des Verstehens" (Schleiermacher 1838; 1974,156) und der Gedanke einer inneren Einheit von Verstehen und Auslegen zum Kernstück einer neuen, .universalen' Hermeneutik. In dem Maße, in dem eine im Sinne der subtilitas explicandi als .Darlegung des Verständnisses' begriffene Auslegung in die Kunst der Darstellung verwiesen wird, verschmelzen der Begriff des Auslegens und der Begriff des Verstehens nun in der Tat zu jener von Gadamer (1965, 366) apostrophierten „inneren Einheit": Verstehen ist Auslegung. Dennoch ist das Verhältnis der beiden Begriffe bei Schleiermacher selbst letztlich nicht befriedigend geklärt. Wird in den „Akademiereden" (1829) „alles Verstehen fremder Rede" als „Auslegen" bezeichnet, so grenzt Schleiermacher in „Hermeneutik und Kritik" (1838) das „unmittelbare und augenblickliche Verstehen" von einem „kunstmäßige(n) Verfahren in der Auslegung" ab (Schleiermacher 1838; 1977, 326). Attribute wie sicher, vollkommen, unmittelbar, augenblicklich erinnern an eine ,verlorengegangene' Qualität unmittelbaren Verstehens, das nur in der „Auflösung des gesamten Denkens in die Sprache" möglich erscheint. Zu diesem ursprünglichen Verstehen über den Weg der kunstmäßigen Auslegung gleichsam zurückzufinden, ist als Ziel des Auslegens vorgestellt. In der hermeneutischen Reflexion kann deijenige, der seine „philosophische Unschuld verloren hat", zu einer neuen, dem alltagssprachlichen Glauben an gelingende Verständigung gegenläufigen Gewißheit finden, nämlich der, daß „das Nicht-Verstehen sich niemals gänzlich auflösen will", „weil jede Seele in ihrem einzelnen Sein das Nichtsein der anderen ist" (Kimmerle (Hg.) 1974,144). Im Hinblick auf die Dialoganalyse ist nicht zuletzt die Schleiermachersche Behandlung von Rede und Schrift von besonderem Interesse. Einerseits betont er die prinzipielle Auslegungsbedürftigkeit auch der Rede, andererseits räumt er aber ein, daß „der mündlichen Rede in der Regel vieles zu Hilfe kommt, wodurch ein unmittelbares Verständnis gegeben wird", so daß sich die „Kunst der Auslegung [...] mehr auf Schrift als auf Rede bezieht" (Schleiermacher 1838; 1977, 91). Ähnlich hatte bereits Chladenius argumentiert, wenn er glaubte, die Reden seien für das Auslegen „als dann erst beträchtlich, wenn sie aufgeschrieben werden" (Chladenius 1742, §28); die Gespräche seien durch die „Stimme der Redenden, durch die Gebärden, durch die Umstände der Zeit, des Ortes und der redenden Personen verständlich" (Chladenius 1742, § 12). Hier deutet sich ein Dilemma der Dialoganalyse an, die Gespräche per Transkription als Schrift repräsentiert und sie damit einerseits erst der kontrollierten Interpretation zugänglich macht, sie andererseits dadurch aber auch bereits so weit verfremdet, daß ein unmittelbares situationsbezogenes Redeverständnis nicht mehr möglich scheint. Über den Weg der Auslegung ist einerseits zwar nur noch eine „jenem unmittelbaren Verstehen m ö g l i c h s t gleiche Befriedigung" erreichbar, andererseits aber ein überprüfbarer Grad an Objektivität, „wenn die Objektivation in dauerhafter Form festgehalten ist, derart, daß sie dem Interpreten ermöglicht, immer wieder auf sie zurückzugreifen" (Betti 1967, 193). Analog zu Dilthey, in dessen späten Schriften mit zunehmender Abkehr von der Psychologie der Begriff der Objektivation (Hegel) stärker in den Vordergrund tritt, sieht auch Betti (1967) in der dauerhaften Form' eine entschei-

Β. U. Biere

160

dende Voraussetzung dafür, daß das methodische, auf intersubjektive Überprüfbarkeit gerichtete Moment auslegenden Handelns zum Tragen kommen kann, aufgrund dessen es seinen Rang als methodisch kontrolliertes, mithin wissenschaftliches Handeln behaupten kann.

2.2

Sprachanalytische, handlungstheoretische und kognitivistische Explikationsversuche

Wenn Betti ,Auslegen' als Handlung charakterisiert, kann er ,Verstehen' als Erfolg oder Ergebnis des auslegenden Handelns, mithin als eine Art Zustand begreifen. Damit nähert er sich der sprachkritischen Analyse Wittgensteins, der das Prädikat verstehen einerseits nicht als Handlungsprädikat, aber andererseits auch nicht als psychologisches Prädikat begreift, das auf irgendeinen inneren Vorgang oder seelischen Zustand verweist. (Vgl. zu Wittgensteins Analyse verschiedener Verwendungsweisen des Ausdrucks verstehen Biere 1989, 15ff.) Wenn Wittgenstein schreibt, wir könnten zum ,Verstehen eines Satzes' in dem Sinne reden, „in welchem er durch einen anderen ersetzt werden kann, der das Gleiche sagt; aber auch in dem Sinne, in dem er durch keinen anderen ersetzt werden kann" (Wittgenstein 1967, §531), so ist hiermit einerseits eine Art Operationalisierung des Verstehensbegriffs angedeutet (Paraphrasierbarkeit), andererseits aber gleichzeitig wieder in Zweifel gezogen. Das Bilden einer Paraphrase ist ein artikulierter Vorgang nicht „wie das Sprechen eines Satzes" (Wittgenstein 1973, 50), es ist das Artikulieren eines Satzes, in dem sich mein Verständnis zeigt. Die Paraphrase könnte allerdings auch am Anfang eines expliziten Interpretationsprozesses stehen, da sie ein - wie auch immer gewonnenes - vorläufiges Verständnis expliziert, das anschließend methodisch zu rekonstruieren versucht werden und zu einem argumentativ plausibel werdenden, d.h. intersubjektiv nachvollziehbaren Verstehen/Verständnis führen kann. So gesehen wäre ein mögliches Verständnis (unmittelbares Verständnis) als hypothetischer Ausgangspunkt für explizite Interpretationsbemühungen anzusetzen, an deren Ende ein methodisch rekonstruiertes, argumentativ abgesichertes Verständnis steht. Auch dieses wäre allerdings nicht mehr als eine neue, wenngleich methodisch legitimierte Verstehenshypothese, die an die Stelle der vormethodischen Gewißheit den grundsätzlichen methodischen Zweifel an der Identität des Verstehens setzt. (Was dies für das Beschreiben von Dialogen bedeutet, wird in Abschnitt 3 weiter diskutiert.) Während hier ,Verstehen' als ein Zustand gedeutet ist, der einerseits Ausgangspunkt, andererseits Ergebnis von Interpretationshandlungen ist, dem selbst aber kein Handlungscharakter zukommt, ist in neuerer sprachpsychologischer Literatur, insbesondere in der kognitiv orientierten Psychologie der Textverarbeitung, aber auch in neueren textwissenschaftlichen Ansätzen , Verstehen' in der Regel als Prozeß der Textbzw. Informationsverarbeitung aufgefaßt. Die Frage nach einer Explikation dessen, wie Sprachteilhaber Texte verstehen, welche .Strategien' sie anwenden, welches .Wissen' sie aktivieren, um etwa Kohärenz herzustellen, um Implizites zu erschließen

9. Verstehen und Beschreiben von Dialogen

161

(,Inferenz'), scheint die alte hermeneutische Frage nach der Kunst des Verstehens neu zu beleben. Damit entsteht die Orientierung auf das Verstehen an einer anderen Stelle im Zusammenhang der Wissenschaften (möglicherweise als Folge des Bruchs der Linguistik mit der philologischen Tradition) neu, wo die Vermittlung mit der philologischen Tradition aufgrund einer ganz anderen Wissenschaftstradition erst recht nicht stattfinden kann. Mit der Abkehr vom behavioristischen Paradigma entdeckt die Psychologie zwar die verschüttete Dimension des Kognitiven wieder, sie kann diese jedoch wiederum nur szientifisch bzw. unter einem technischen Erkenntnisinteresse konzeptualisieren. Das szientifische Moment wird dabei besonders deutlich in der Künstlichen-Intelligenz-Forschung (artificial intelligence), die - etwa im Hinblick auf automatische Textanalysen oder Übersetzungen - sprachverstehende Systeme zu implementieren versucht, die letztlich genau das leisten sollen, was ein intelligenter Sprachbenutzer leistet, wenn er Äußerungen oder Texte versteht. Wie entsprechende Modelle des Textverstehens bzw. der Textverarbeitung aussehen können, wird in der kognitiven Psychologie einerseits experimentell zu validieren versucht, andererseits gilt aber auch die Implementierbarkeit eines Modells zumindest als vorläufiges Indiz für dessen Validität. So sind mentale Modelle des Textverstehens zum großen Teil gleichzeitig Modelle natürlich-kognitiver Prozesse wie theoretische Repräsentationen dessen, was an expliziten verstehensrelevanten Informationen für das künstlich-intelligente, textverstehende System benötigt wird, um natürliche Verstehensprozesse erfolgreich simulieren zu können. Dabei ist in den letzten Jahren immer mehr die Frage nach der expliziten Repräsentation von Wissen in den Vordergrund gerückt, über das der natürliche Sprachbenutzer in der Regel unproblematisch verfügt und das ihn in die Lage versetzt, sprachliche Äußerungen semantisch und pragmatisch adäquat zu interpretieren. In unserem Zusammenhang ist von besonderem Interesse, daß die kognitionstheoretischen Modelle der Textverarbeitung von ,kognitiv-aktiven' Lesern ausgehen, deren Verstehensprozesse zwar einerseits textgeleitet („bottom up"), andererseits aber auch schemageleitet („top down") sind, so daß sich das Verständnis eines Textes erst im Zusammenspiel von bottom-up- und top-down-Prozessen und damit letztlich dialogisch konstituiert. So gelangt auch die moderne experimentelle Psychologie zu der aus hermeneutischer Sicht kaum überraschenden - Einsicht, daß unterschiedliche Leser zu durchaus verschiedenen Textverständnissen gelangen. Für bestimmte Bereiche der Dialoganalyse dürfte sich eine kognitive Orientierung als fruchtbar erweisen. Als kognitiv-aktiver Prozeß des Rezipienten vorgestellt, erweist sich .Verstehen' einmal mehr als bedeutungs- bzw. sinnkonstituierender und dementsprechend nicht bloß reproduktiver Prozeß. Das aber läßt sich genau auf die Formel Gadamers bringen, daß Verstehen ,immer schon' Auslegen ist. Erst im explizit verbalisierten, argumentativen Prozeß des Interpretierens allerdings gewinnt es den Charakter methodisch reflektierten Handelns, dessen Ziel es ist, ein vorgängiges, in der unhinterfragten alltagspraktischen Gewißheit begründetes Verständnis qua hermeneutischer Reflexion zu ,destruieren', auch wenn dieses andererseits als notwendiger Ausgangspunkt auf dem Weg zu einer methodischen Re-konstruktion zu begreifen ist.

162

Β. U. Biere

Fragen wir nun danach, welches Verstehen denn in der Beschreibung von Dialogen eigentlich rekonstruiert' wird, so fällt die Antwort einigermaßen komplex aus. Während in bezug auf monologische Texte nur metaphorisch von einem ,Dialog' oder einer .Interaktion' des Lesers mit dem Text die Rede ist, hat es die Dialoganalyse in einem doppelten Sinn mit .Verstehen' zu tun, nämlich mit dem der Partner auf der Objektebene und dem des Beschreibenden auf der Beschreibungsebene.

3.

Verstehende Analyse von Dialogen

3.1

Partnerverstehen und Beobachterverstehen

Obwohl bereits bei Chladenius und Schleiermacher auch Gespräche als Gegenstandsbereiche konzipiert werden, für die sich die Hermeneutik zuständig erklärt, ist dort das Verstehen von Gesprächen in seiner doppelten Struktur als Verstehen der Gesprächspartner untereinander und als Verstehen des Dialogs durch den Beschreibenden noch nicht hinreichend expliziert. Auch wenn Schleiermacher dem „Ausleger schriftlicher Werke dringend" anrät, die „Auslegung des bedeutsameren Gesprächs fleißig zu üben", bleibt das Verstehen von Gesprächen doch dem Modell des Textverstehens verhaftet. Unmittelbares ,Partnerverstehen' gilt zunächst als „Teil des gebildeten Lebens" (Schleiermacher 1829; 1976,137) und noch nicht als Gegenstand philologischer Studien. Demgegenüber ist derjenige, der einen Dialog ex post, d.h. zu einem nach Abschluß des Dialogs liegenden Zeitpunkt als aufgezeichneten und transkribierten Text analysiert, in einer grundsätzlich anderen Situation, nämlich in der des ,Beobachterverstehens'. Dieses hat zwar gemeinsame Merkmale mit dem Textverstehen, denn der dialogische Text ist als transkribierter ebenso wie der monologische von den Bedingungen seiner Konstitution abgelöst und dem Interpreten als ,Objektivation' gegeben. Andererseits ist der dialogische Text aber doch komplexer. Denn die transkribierten sprachlichen Äußerungen der Dialogpartner müssen auch in ihrem Bezug aufeinander verstanden werden. Der Beschreibende muß nicht nur einen Text als Produkt verstehen, sondern er muß verstehen, wie sich aus der Verständigungsorientierung der Partner heraus der dialogische Text konstituiert, d.h. wie die Partner kooperativ und kompetitiv an der Erstellung eines gemeinsamen Textes ,arbeiten' und dabei Einverständnis auch hinsichtlich der Deutung der einzelnen ,Züge' im Dialogspiel zu erzielen versuchen. K u r z e r muß den dialogischen Prozeß verstehen, in dem aus den alltagsweltlichen Deutungsperspektiven der beteiligten Partner - das Produkt ,Gespräch' konstituiert wird. Überdies gilt es zu reflektieren, daß dieses zunächst .flüchtige' Produkt erst über Aufzeichnung und Transkription zum Gegenstand der Dialoganalyse wird und damit gewissermaßen doppelt konstituiert bzw. aus der je eigenen Deutungsperspektive des Beschreibenden rekonstruiert ist. Aufgrund der Analyse ex post ist der Beschreibende einerseits in einer methodisch günstigeren Situation als die Dialogteilnehmer selbst. Er kann den Dialog als ganzen

9. Verstehen und Beschreiben von Dialogen

163

überblicken, er kann einzelne ,Züge' nicht nur interpretieren unter Bezug auf im Dialogablauf zeitlich vorausliegende Sequenzen, sondern auch unter Bezug auf zeitlich nachfolgende Sequenzen; er kann - zumal in der transkribierten Form - im Dialog wie in einem Text vor- und zurückblättern. Andererseits kann er den Situationsbezug einzelner Äußerungen nur soweit rekonstruieren, wie ihm die Transkription entsprechende als Kommentar verbalisierte Situationsspezifika (nonverbale Handlungen, Gestik, Mimik, Intonation usw.) mitliefert. Während die Dialogpartner in der Situation in spezifischer Weise ge- bzw. befangen sind, ihnen also die erst methodisch erzwungene Distanz fehlt, hindert diese Distanz den Beschreibenden tendenziell, zu einem angemessenen Situationsverständnis zu gelangen. Dann ist aber eine der entscheidenden Fragen, inwieweit sich das Dialogverständnis der Beschreibenden aufgrund objektivierbarer methodischer Schritte der verstehenden Rekonstruktion qualitativ gegenüber dem spontanen situativen Verstehen auszeichnet bzw. inwieweit sein Verstehen letztlich auch nur ein weiteres Verständnis des Dialogs neben den Situationsdeutungen der Interaktionspartner darstellt.

3.2

, Verstehen' als Voraussetzung und Ziel der Beschreibung von Dialogen

In der Tat hat auch der Beschreibende zunächst nur ein Verständnis, eben sein Verständnis einzelner Sequenzen des Dialogs. Er,liest' den dialogischen Text als Kette aufeinander bezogener sprachlicher Äußerungen mehr oder weniger wie ein naiver Leser, der dabei zwar mehr oder weniger intuitiv bereits gewisse ,Methoden' des Textverstehens praktizieren mag, diese aber nicht zum Gegenstand methodologischer Reflexion macht. Insofern als dieses Verständnis methodisch (noch) nicht expliziert ist, könnte man der neopositivistischen Sehweise zustimmen, ,Verstehen' sei gar keine wissenschaftliche Methode und mithin überhaupt nicht Teil der Forschungslogik, sondern ein heuristisches Verfahren, um zur Formulierung von Hypothesen zu gelangen, die dann - ganz im Sinn der einheitswissenschaftlichen Konzeption - Gegenstand eines hypothetisch-deduktiven Überprüfungsverfahrens sein könnten, in dem die Frage, wie es zu einer entsprechenden Hypothesenbildung gekommen ist, ausgeklammert bleiben könnte. Somit wäre die ,Psychologie' von der ,Logik' der Forschung abgekoppelt und auch für die Geistes- und Sozialwissenschaften, trotz der Spezifik ihres Objektbereichs, das gleiche hypothetisch-deduktive Verfahren zu reklamieren wie für die Naturwissenschaften. Obwohl wir gerade auch auf dem Hintergrund hermeneutischer Reflexion .Verstehen' in der Tat als hypothetisch, unser Verständnis eines Textes oder einer Dialogsequenz als Verstehenshypothese begreifen müssen, ist es fraglich, ob wir entsprechend der einheitswissenschaftlichen Konzeption den wissenschaftlichen Prozeß tatsächlich in einen der ,Psychologie' zuzurechnenden .context of discovery' und einen davon abgelösten, der Forschungslogik zuzurechnenden ,context of justification' aufspalten können, wobei letzterer auf eine reine Falsifikationsprozedur kritisch-rationalistischer Prägung reduziert wäre. (Vgl. zu dieser Argumentation Abel 1953.) Einer solchen Trennung entsprechend wäre der Prozeß der Hypothesenbildung als induktives

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Β. U. Biere

Schlußverfahren, der Prozeß der Hypothesenüberprüfung als deduktives Schlußverfahren anzusetzen. Folgen wir dagegen der Argumentation Peirces (1965—67), so ist das, was einerseits wie ein induktiver Schluß auf ein Gesetz aussieht, unter das dann wiederum einzelne Fälle subsumiert werden können, in Wirklichkeit ein Schluß komplexerer Art, der Elemente beider Schlußverfahren kombiniert: ein Schluß, durch den im Forschungsprozeß selbst das Gesetz hypothetisch erzeugt und der beobachtete Sachverhalt (Resultat) gleichzeitig als Fall dieses Gesetzes gedeutet wird. Diese eigene Form des Schließens, die Peirce ,Abduktion' nennt, involviert ein nicht durch Regeln determinierbares ,kreatives' Moment, das entscheidend für die Hervorbringung von Wissen ist, und mithin als integraler Teil der Forschungslogik zu behandeln ist (Peirce 1965 -67, Vol. 5,171). Eco (1985) hat die drei fundamentalen Schlußverfahren (unter Bezug auf Peirce) schematisch wie folgt dargestellt: Deduktion

Regel

Induktion

! Regel

Abduktion

;

:ι _ _ _Regel _

\t

Fall

Fall 1i

i

y Fall

ι

*

i

!

; Resultat ;

Resultat

Resultat

(Eco 1985,67) Das eigentliche Problem liegt demnach nicht darin, „ob man zuerst den Fall oder zuerst das Gesetz findet, sondern darin, Gesetz und Fall zugleich zu erkennen f...]" (Eco 1985, 295). Aufgrund des ,Schlußcharakters' des sprachlichen Zeichens, den Eco (1985) in der Auseinandersetzung mit dem traditionellen Äquivalenzmodell des sprachlichen Zeichens noch einmal deutlich herausgearbeitet hat, können Verstehenshypothesen, selbst wenn wir deren Bildung als eine nicht der Forschungslogik zuzurechnende ,Entdeckungsprozedur' auffassen wollten, überhaupt nicht hypothetisch-deduktiv falsifiziert werden. Denn die Überprüfung von Verstehenshypothesen, d. h. die Entscheidung, ob eine gegebene Äußerung (als Resultat) tatsächlich einen Fall darstellt, der unter das hypothetisch angenommene Gesetz (die Verstehenshypothese) subsumierbar ist, setzt einmal mehr voraus, daß das Resultat als Fall des entsprechenden Gesetzes gedeutet wird. Hierfür können zwar u.U. methodisch aufweisbare Indizien angeführt werden, diese sind jedoch ihrerseits als ,Zeichen' gedeutete Entitäten, die somit zwar eine Hypothese stützen, d.h. mehr oder weniger plausibel machen können, die sie jedoch letztlich ebensowenig verifizieren wie falsifizieren können. Wenn eine

9. Verstehen und Beschreiben von Dialogen

165

entsprechende - abduktiv oder divinatorisch (Schleiermacher 1838) gewonnene Verstehenshypothese notwendiger Ausgangspunkt für das Beschreiben von Dialogen ist, so ist das Beschreiben damit noch keineswegs ein deduktives Schlußverfahren zur Überprüfung dieser Hypothese, sondern vielmehr der Versuch einer methodischen Explikation, Spezifikation und Modifikation dieses hypothetischen Verständnisses. Es ist der Versuch, in Form einer argumentativ begründenden .Darlegung' des Verständnisses dieses methodisch abzusichern, d.h. nachvollziehbar und damit plausibel zu machen. Eine solche .Darlegung' des Verständnisses hat im Sinne des Chladenius den kommunikativen Zweck, zum besseren Verständnis eines Dialogs hinzuführen; im Hermeneutikverständnis Schleiermachers steht dagegen nicht nur die einzelne Verstehenshypothese, sondern die Idee des nichtigen' Verstehens überhaupt zur Disposition. Demnach wäre das Beschreiben von Dialogen zunächst einmal ein Verfahren, den interpretativen, d. h. hypothetischen Charakter jeglichen Verstehens zu verdeutlichen. Dies geschieht dadurch, daß der Beschreibende sein Verständnis eines gegebenen Dialogs bzw. einer Sequenz in dem Sinn hermeneutisch reflektiert, daß er es expliziert und .Indizien' ausfindig zu machen versucht, die seine (zunächst vormethodischintuitive) Interpretation stützen oder die es ihm ermöglichen, begründete Interpretationsalternativen zu entwickeln. Ziel eines solchen Verfahrens könnte es sein, die gegebene Dialogsequenz .besser' zu verstehen bzw. verständlich' zu machen. Dies aber bedeutet auch, alternative Deutungsmöglichkeiten aufzuzeigen und diese argumentativ abzuwägen. ,Besser verstehen' muß also nicht unbedingt heißen, ein Verständnis argumentativ als einzig mögliches, richtiges, angemessenes (usw.), respektive als nicht mögliches, falsches, unangemessenes (usw.) Verständnis auszuweisen, das durch ein anderes, .richtiges' Verständnis zu ersetzen ist, sondern es kann und sollte m.E. in erster Linie heißen: mehrere mögliche Verständnisse als mehr oder weniger plausibel gegeneinander abzuwägen, ohne letzten Endes normativ behaupten zu müssen, wie eine Sequenz definitiv zu verstehen ist. An die Stelle einer (normativen) ,Hermeneutik der Reduktion' (Reduktion auf ein Verständnis) könnte eine .Hermeneutik der Entfaltung' (Japp 1977, 46f.) treten, deren Ziel nicht in der Reduktion, sondern in der Explikation alternativer Verstehensmöglichkeiten läge. ,Hermeneutische Reflexion', als methodische Haltung begriffen, könnte damit dem prinzipiell innovatorischen Charakter von Rede (parole) Rechnung tragen, aufgrund dessen Rede nicht als bloße Realisierung eines vorgegebenen Systems (langue), sondern als ein dieses System immer auch modifizierender Akt vorzustellen ist. Obwohl eine solche Auffassung den Verdacht aufkommen lassen könnte, hiermit werde der methodische Anspruch der Dialoganalyse letztlich zugunsten interpretativer Beliebigkeit unterlaufen, dürfte doch unbestritten sein, daß etwa das Phänomen des Sprachwandels nur erklärt werden kann, wenn wir eine .dynamische' Wechselbeziehung von parole und langue unterstellen. Da diese Dynamik wohl nicht auf der Ebene der langue, sondern auf der Ebene der parole ihren Ursprung hat und wir es bei der Dialoganalyse mit Einheiten der parole, anders gesagt mit ,Sinn' und nicht mit ,Bedeutung' zu tun haben (vgl. Coseriu 1980, 35 zur Textlinguistik als Hermeneutik), dürfte nur eine ,dynamische' Konzeption der Beschreibung von Dialogen angemessen sein. Diese

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Β. U. Biere

ermöglicht es, Dialoge als sinnkonstituierende kommunikative Prozesse zu betrachten, die zwar - vielleicht sogar zu einem großen Teil - konventionelle Verfahren und Muster zur Anwendung bringen, die jedoch prinzipiell auch neue Verfahren und Muster herausbilden und in diesem Sinn nicht nur reproduktive, sondern produktive Akte sind bzw. prinzipiell sein können. In gleicher Weise ist nun auch das Verstehen und Beschreiben von Dialogen nicht nur als Reproduktion von vorgängig von den Dialogpartnern produziertem Sinn zu verstehen, sondern als ein (zweiter) sinnkonstituierender oder -entfaltender Deutungsprozeß. In methodologischer Hinsicht gewinnt damit die Frage zentrale Bedeutung, inwieweit dieser sinnkonstituierende Deutungsprozeß intersubjektiv kontrollierbar, zumindest nachvollziehbar gemacht werden kann. Welche Art von Informationen ist dem Beschreibenden zugänglich, über welche Art von Informationen muß er verfügen und welche muß er der Kommunikationsgemeinschaft der Wissenschaftler verfügbar machen, um den Beschreibungsprozeß in diesem Sinne kontrollierbar werden zu lassen? In erster Linie muß Dialoganalyse - und dies ist nicht nur eine ,Vor'-Bedingung, sondern eine der wesentlichen Bedingungen überhaupt - den Prozeß der Datenkonstitution selbst explizit reflektieren und so dokumentieren, daß er der intersubjektiven Kritik zugänglich ist. Dialoganalyse muß sich prinzipiell alle Informationen, die in irgendeiner Weise für die Beschreibung relevant sein könnten, zugänglich zu machen versuchen und diese, entsprechend dokumentiert, der fachwissenschaftlichen Diskussion, aber u.U. auch den Subjekt-Objekten der Beschreibung, d.h. den interagierenden Partnern zugänglich machen. Im folgenden werde ich daher auf die Probleme der Datenerhebung und Datenaufbereitung näher eingehen. In diesem Bereich ist es erfahrungsgemäß besonders schwierig, die bereits auf dieser Ebene involvierten interpretativen Entscheidungen so zu dokumentieren, daß sie der intersubjektiven Diskussion zugänglich sind.

3.3

Datenerhebung, Datenaufbereitung, Dateninterpretation

Gegenstand der Analyse authentischer Dialoge ist eine bestimmte Art empirisch erhobener sprachlicher ,Daten'. Bei diesen handelt es sich primär, aber nicht nur um mündliche sprachliche Äußerungen, die von mindestens zwei in einer konkreten Situation miteinander interagierenden und kommunizierenden Partnern intentional hervorgebracht werden. Diese ,Gesprächsdaten' werden durch Aufzeichnung auf Tonträger (ggf. auch durch Videoaufzeichnung) und eine entsprechende Aufbereitung mithilfe verschiedener Transkriptionsverfahren (s. 3.4) der linguistischen Analyse zugänglich gemacht. Die aufgezeichneten und transkribierten Gespräche sollen (möglichst) ,natürlich' sein, d. h. in der Regel nicht experimentell induziert und (möglichst) nicht durch technische Apparaturen (Tonband, Mikrofon, Videokamera) und die Anwesenheit des Beobachters ,verzerrt' sein. (Auf die Problematik des bekannten Beobachterparadoxons kann ich in diesem Rahmen nicht näher eingehen.) Einerseits kann der Einfluß des technischen Mediums auf die Natürlichkeit der aufgezeichneten Gespräche durch bestimmte Verfahren relativ gering gehalten werden, andererseits

9. Verstehen und Beschreiben von Dialogen

167

können und müssen mögliche .Verzerrungen' in der konkreten Fallanalyse selbst Gegenstand methodischer Reflexion werden. Verdeckte Erhebungsverfahren werfen nicht nur juristische Probleme auf, sondern auch Analyseprobleme, denn die Rekonstruktion des Erhebungskontextes kann in der Regel nur von einem teilnehmenden Beobachter geleistet werden. Dementsprechend wird die Erhebung von Gesprächsdaten i. allg. in irgendeiner Form von teilnehmender Beobachtung praktiziert, wobei vor allem hinsichtlich der Intensität der Teilnahme des Beobachters an den Aktivitäten der betreffenden sozialen Gruppe unterschiedliche Auffassungen vertreten werden. Für den hier diskutierten Zusammenhang von Beschreiben und Verstehen ist charakteristisch, daß die teilnehmende Beobachtung als Verfahren der Datenerhebung einerseits bestimmte methodische Probleme zu minimieren scheint, andererseits aber auch Probleme schafft, deren Reflexion von entscheidender Bedeutung für die Qualität der dialoganalytischen Beschreibung der gewonnenen Gesprächsdaten, d.h. für die Dateninterpretation ist. Einerseits erscheint es unumgänglich, durch teilnehmende Beobachtung diejenigen Elemente des Interaktionskontextes zu dokumentieren, ohne deren Kenntnis die Analyse der verbalen Äußerungen in ihrer transkribierten Form kaum angemessen zu leisten wäre, andererseits muß man sich fragen, inwieweit die notwendige analytische Distanz durch ein mehr oder weniger aktives Mitwirken des Beschreibenden an der Produktion der Daten, etwa durch seine Involvierung in Interaktionen in der Gruppe, tendenziell in Frage gestellt ist. (Dort, wo entsprechende Daten ohne eine solche Involvierung nicht zu gewinnen oder wo die Daten ohne intime Kenntnis der Deutungsperspektiven der Gruppenmitglieder nicht interpretierbar sind, kann analytische Distanz wohl nur durch Einbezug dieser Umstände in die methodische Reflexion tendenziell wiederhergestellt werden.) Ein besonderes Problem bei der Erhebung von Gesprächsdaten liegt darin, daß bereits in der Erhebungssituation selbst interpretative Entscheidungen getroffen werden müssen. Damit kommt zur Selektivität des zur Datenaufzeichnung gewählten Mediums die selektive Wahrnehmung des sozialen Umfeldes durch den teilnehmenden Beobachter hinzu. Dieser muß, um die ,Daten' anschließend so aufbereiten zu können, daß sie überhaupt interpretierbar sind, auch den nicht-sprachlichen Kontext sowie nicht-sprachliche Handlungen der Interaktions- und Kommunikationspartner, etwa in einem Beobachtungsprotokoll, festhalten. Da nicht-sprachliche Handlungen kein akustisches Korrelat haben - eine nicht-sprachliche Handlung vollziehen wir gerade nicht, indem wir eine sprachliche Äußerung machen - , ist das, was im Beobachtungsprotokoll als relevantes Datum festgehalten wird, immer schon die Beschreibung einer als Handlung interpretierten Aktivität der Interaktionspartner. Um eine Aktivität als Handlung beschreiben zu können, muß die Aktivität also intentional gedeutet werden, d. h. sie ist im Sinne Anscombes (1957) intentional unter der gewählten Beschreibung, die sie als in dieser oder jener Weise intentional interpretiert. Selbst wenn die Erfassung solcher Daten entsprechend standardisiert ist, indem z. B. ein Katalog von Handlungsmustern vorgegeben wird, impliziert die ,Zuordnung' einer beobachteten Aktivität zu einem der im Katalog aufgeführten Muster die interpretative Entscheidung, daß eine Handlung nach diesem oder jenem Muster zu verstehen ist. Da die im Protokoll

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Β. U. Biere

beschriebenen nicht-sprachlichen Handlungen letztlich für das Verständnis der sprachlichen Äußerungen, also für die Analyse des eigentlichen Dialogs, relevante Daten sein sollen, muß ihre (mögliche) Relevanz ein Selektionskriterium dafür sein, was dokumentiert wird und was nicht. Das bedeutet wiederum, daß auch die sprachlichen Äußerungen bereits in der Erhebungssituation (mehr oder weniger spontan) in ihrem Zusammenhang mit nicht-sprachlichen Handlungen verstanden werden müssen. Die Phase der Datenerhebung involviert also notwendigerweise interpretative Prozesse bzw. ein spontanes Verständnis sprachlicher und nicht-sprachlicher Handlungen und ihres Zusammenhangs. Sie ist mithin kein mechanisches, sondern ein interprétatives oder datenkonstituierendes Verfahren. Zwischen Datenerhebung, Datenaufbereitung und Dateninterpretation verläuft an keiner Stelle eine strikte Trennung von nicht-interpretativen und interpretativen Phasen des Forschungsprozesses. Vielmehr lassen sich die genannten Teilprozesse als stufenweise Explikation, Reformulierung, Modifizierung und vor allem Koordinierung unseres Verstehens aufeinander beziehen. Vom Standpunkt der zeitlich jeweils nachfolgenden Explikationsstufe ergibt sich das Problem, daß das jeweils vorgängige Verständnis in dem Maße nur noch retrospektiv' verfügbar ist, in dem sich die ursprünglich in die Handlungssituation eingebetteten, ein bestimmtes Situationsverständnis induzierenden Elemente des socialen Feldes von der Situation ablösen und tendenziell verselbständigen (oder auch nicht mehr verfügbar sind). So wird Datenaufbereitung und Dateninterpretation wesentlich zu einer Datenintegration, die analog zum Begriff der retrospektiven Beobachtung' bei Schwartz und Schwartz (1955) als der Versuch verstanden werden kann, „to re-create the social field [...] in all its dimensions, on a perceptual and feeling level" (345). Dies ist zwangsläufig ein retrospektiver Prozeß: since not all aspects of an event are observed simultaneously, the ,filling out' or bringing into awareness of the components of the event, as well as the field within it took place, becomes unavoidably a retrospective process (Schwartz/Schwartz 1955, 344). In diesem datenintegrierenden, das Feld retrospektiv neuerschaffenden Prozeß können die vorhergehenden Daten unverändert aufrechterhalten werden, es können aber auch signifikante Aspekte des Ereignisses zum Vorschein kommen, die vorher übergangen wurden; und Verbindungen zwischen Segmenten des Ereignisses und zwischen diesem Ereignis und anderen können sichtbar werden, die vorher nicht erkannt wurden (Cicourel 1964; 1970, 72). Diese im Hinblick auf soziologische Daten getroffene Feststellung gilt auch für die Beschreibung von Dialogen. In der verstehenden Rekonstruktion oder .Reconstitution' der komplexen Dialog- und Interaktionssituation, in der fortschreitenden Analyse etwa des Zusammenhangs von zeitlich nicht unmittelbar aufeinander folgenden Äußerungssequenzen, in der fortschreitenden Explikation von (alternativen) Verstehenshypothesen und deren argumentativer Absicherung liegt das methodische Potential der Dialoganalyse. Sie basiert auf einem vorgängigen, mehr oder weniger sponta-

9. Verstehen und Beschreiben von Dialogen

169

nen (impliziten) Verständnis zunächst einzelner Äußerungen oder unmittelbar zusammenhängender Sequenzen. In der methodischen, hermeneutisch reflektierten Rekonstruktion wird versucht, ein zunehmend explizites und argumentativ plausibel zu machendes Verständnis zu erzielen. Es wird eine Beschreibung des Dialogverlaufs entwickelt, deren Leistung vor allem darin besteht, daß sie uns Möglichkeiten zeigt, den Dialog in dem Sinn .besser' zu verstehen, daß die Gewißheit und ursprüngliche Sicherheit destruiert wird und an ihre Stelle methodisch begründete Verstehensalternativen gesetzt werden können. ,Verstehen' und .Beschreiben' sind hier also in dem Sinn aufeinander bezogen, daß .Beschreiben' als systematische, methodisch reflektierte Explikation und argumentative Entfaltung eines Dialogverständnisses bzw. möglicher Dialogverständnisse begriffen wird. Während ein (spontanes) Dialogverständnis Ausgangspunkt des als Interpretationsprozeß verstandenen Beschreibens ist, ist ein im Sinn der Entfaltung (und Begründung) alternativer Verstehenshypothesen durch die Beschreibung gewonnenes Dialogverständnis (ein mögliches) Ziel der Dialogbeschreibung. Damit ist freilich noch nicht geklärt, wie diese Form des Argumentierens im Prozeß der Beschreibung von Dialogen konkret aussehen, in welcher analytischen Begrifflichkeit sie geleistet werden kann und wo sie über die Verfahren traditioneller philologischer Textexegese hinausgehen muß. Da dies abhängig ist von den jeweiligen Zielen der Dialoganalyse und den jeweils gewählten konkreten analytischen Verfahren, konnten wir auf der Ebene allgemeiner methodologischer Reflexion nur auf die grundlegende Involvierung von Verstehens- bzw. Interpretationsprozessen hinweisen, die, unabhängig vom konkreten methodischen Vorgehen, bei jeder Art von Dialoganalyse, insbesondere natürlich bei der Analyse authentischer Dialoge, in Rechnung zu stellen sind.

3.4

Zum Problem der Transkription

Der skizzierte Zusammenhang von Datenerhebung, Datenaufbereitung und Dateninterpretation wird besonders virulent bei der Verschriftlichung authentischer (mündlicher) Dialoge. In der Literatur besteht Übereinstimmung darin, daß die Analyse gesprochener Sprache zwar auf entsprechenden Tonaufnahmen basieren muß, daß jedoch die „Tonbandaufnahmen selbst keine geeignete Grundlage für eine praktikable sprachwissenschaftliche Analyse sein können" (Schank/Schoenthal 1976,19). Erst die Verschriftung (Transkription) des auf Tonträger gespeicherten Textes ermöglicht die Überschaubarkeit des Textes als Ganzem, den Rückbezug auf frühere Stellen, den Vorausverweis auf Späteres, die beliebig lang ausdehnbare Beschäftigung mit einer Gesprächsstelle (Ramge 1978,24). Mit Hilfe verschiedener Verschriftungsverfahren (Transkriptionssyteme), die als spezifisches Instrumentarium zur ,Aufbereitung' verbaler, im weiteren Sinn aber auch zur Repräsentation non-verbaler Daten, verstanden werden können, wird versucht, ein für die spezifischen Analysezwecke aussagekräftiges Transkript zu erstellen. In eher traditionellen, phonetisch/phonologisch oder dialektologisch orientierten Analyseansät-

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Β. U. Biere

zen, die in der Regel mit monologischen, in mehr oder weniger standardisierten (Labor-)Situationen elizitierten Sprachdaten arbeiten, werden in der Regel standardisierte Notationsverfahren zur schriftlichen Repräsentation lautsprachlicher Phänomene (phonetische/phonologische Umschrift; International Phonetic Alphabet (IPA)) verwendet, wie sie etwa aus zweisprachigen Wörterbüchern bekannt sind. Daneben findet in der dialektologischen Tradition eine am schriftsprachlichen Alphabet und an der normalen Orthographie orientierte sog. literarische Umschrift Verwendung (Zwirner/Bethge 1958), wie sie in der einen oder anderen Form auch den meisten dialoganalytisch orientierten Transkriptionssystemen zugrundeliegt. Daneben wird gelegentlich auch versucht, in einer Art,populärer' phonetischer Umschrift die lautlichen Eigenheiten gesprochener Sprache wiederzugeben, z.B. in Mundartdichtungen. Die orthographische Schrift scheidet für gesprächsanalytische Zwecke i.allg. aus, da sie weder lautgetreu noch konsequent in der Laut-Buchstaben-Beziehung ist. Die genannten Möglichkeiten der Verschriftung sind zunächst im Hinblick auf die Repräsentation der rein verbalen Daten, dann aber auch im Hinblick auf die Erfassung para verbaler und nonverbaler Daten zu beurteilen. Hier wie dort scheint sich der Transkribent in einem Dilemma zu befinden. Einerseits fühlt er sich der wissenschaftlichen Präzision verpflichtet, so daß er die erhobenen Gesprächsdaten per Transkription möglichst exakt in ihrer phonetischen Realisierung erfassen möchte. Andererseits soll die Transkription für die Kommunikationsgemeinschaft der Forscher und eventuell darüber hinaus lesbar und auch einigermaßen ökonomisch zu erstellen sein. Beide Ansprüche scheinen nicht gleichzeitig zu realisieren zu sein, da die präzisen Transkriptionen relativ schwer lesbar und die lesbaren nicht präzis genug zu sein scheinen. Die Entscheidung für ein System mittleren Differenzierungsgrades wird daher gelegentlich als ,Kompromiß' begriffen. Tatsächlich ist jedoch kein absolutes Maß für Genauigkeit' vorgegeben. Die Art der Datenaufbereitung sollte zwar einer Reihe allgemeiner Anforderungen gerecht werden, sie ist jedoch letztlich danach zu beurteilen, inwieweit sie spezifischen Anforderungen gerecht wird, die sich aus den je spezifischen Fragestellungen und Arbeitszielen ergeben. (Einen Überblick über Transkriptionsverfahren geben u. a. Ehlich/Switalla 1976 sowie Schaeffer 1979. Vgl. auch entsprechende Kapitel in Brinker/Sager 1989 sowie Henne/Rehbock 1982.) Transkriptionssysteme ermöglichen über die Transliteration der rein verbalen Daten hinaus in der Regel die Repräsentation weiterer für die Analyse/Interpretation der verbalen Interaktion relevanter Daten. So werden innerhalb des transkribierten Textes etwa Pausen, nichtmorphemisierte Äußerungen (Lachen, Husten etc.), Dehnungen, Emphasen, Sprechgeschwindigkeit, Stimmlage, Intonation u.ä. notiert, soweit diese Daten entweder von grundsätzlicher Bedeutung sind oder für den jeweiligen Analysezweck für relevant gehalten werden. Da in dieser Phase der Datenaufbereitung natürlich in besonderem Maße interpretative Vorentscheidungen getroffen werden - die Relevanz eines Datums kann ja im Grunde erst die Analyse erweisen - , sollte man hier unter Abwägung des Arbeitsaufwands die erhobenen Daten möglichst nicht allzu selektiv repräsentieren und technisch bedingte UnVollständigkeiten (Abhörschwierigkeiten) kenntlich machen. Glaubt man schon bei der Transkription im Detail zu

9. Verstehen und Beschreiben von Dialogen

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wissen, welche spezifischen Daten (nicht: Arten von Daten!) benötigt werden, so besteht die Gefahr, zirkulär zu argumentieren, d.h. ein bestimmtes Analyseergebnis bereits dadurch zu insinuieren, daß die jeweils selegierten Daten im Hinblick auf gerade dieses Ergebnis ausgewählt und interpretiert sind. Die Interpretativität des Prozesses der Datenaufbereitung mithilfe verschiedener Transkriptionsverfahren führt zwangsläufig zu einer Reduktion der als Tonaufnahme vorhandenen Datenbasis. Die Reduktion ist hier jedoch nicht mechanisch bedingt, sondern durch interpretative Vorgaben, die stets auch zum Gegenstand methodischer bzw. hermeneutischer Reflexion werden können. Die prinzipielle Gebundenheit der Aufbereitung von Gesprächsdaten an das Verstehen der transkribierten Äußerungen erweist sich schon auf der Ebene der schlichten Wiedergabe des Wortlautes (unabhängig von der Wahl eines bestimmten Transkriptionssystems). Bei der Transkription des Tonmaterials ist die korrekte Wiedergabe des Wortlauts, der intonatorischen Merkmale, die Identifikation der Sprecher usw. ebenfalls davon abhängig, wie wir eine Äußerung im gegebenen Kontext verstehen. Besonders bei akustisch schwer identifizierbaren Äußerungsteilen ,hört' der Transkribent letztlich das, was ihm aufgrund von Kontext und Handlungskontext am wahrscheinlichsten erscheint, d.h. bereits die lautliche Identifikationsleistung ist u. U. ein interpretativer Vorgriff auf ein noch nichtexpliziertes spontanes Sinnverstehen. Dies wird besonders deutlich, wenn im Dialog selbst, etwa durch Rückfragen, ein (akustisches) Mißverstehen signalisiert wird. Nehmen wir an, wir hätten folgende Transkription vorliegen: A können denn Cowboys springen? Β rennen? A nee springen Was hat der Transkribent hier eigentlich verstanden? Hat er anders als Partner Β bei der ersten Äußerung von A .springen' bereits lautlich richtig identifiziert? Oder hat er erst nach der kommunikativen Klärung des akustischen Mißverstehens durch die Partner in der ersten Äußerung springen transkribiert, nachdem er zunächst auch rennen (oder irgendetwas anderes) verstanden hat? Wie kann er das akustische Verstehensproblem der Partner überhaupt angemessen notieren? (Vgl. dazu Biere 1978, 30ff.) Diese Problematik zeigt einmal mehr, daß es sinnvoll ist, zwischen Partnerverstehen und Beobachterverstehen (schon auf der Ebene des Hörverstehens) zu unterscheiden und das Partnerverstehen, soweit es im Dialog selbst thematisch wird, für die Profilierung des Beobachterverstehens zu nutzen. Noch deutlicher ist die Involvierung interpretativer Prozesse bei der Repräsentation nonverbalen Verhaltens, wie es in allen dialoganalytischen Transkriptionssystemen in der einen oder anderen Form vorgesehen ist. (Siehe 3.3; zur Problematik der Notation non-verbaler Phänomene vgl. die Beiträge in der Zeitschrift für Semiotik 1/1979, 177—249, insbes. die Unterscheidung sog. generischer und deskriptiver Notationen in dem Beitrag von U.S. Jörn, 225ff.) Jedes Transkript ist ein vorläufiges Produkt und damit, nicht zuletzt aufgrund seiner Interpretativität, offen für Spezifikationen oder Modifikationen, die sich aufgrund

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fortschreitender Analyse oder aufgrund von wiederholtem ,Einhören' in die Bandaufnahme ergeben. Deshalb ist das Transkriptionsformular so anzulegen, daß zusätzliche Informationen, sofern sie in der Analyse relevant werden, nachgetragen werden können. Ob sich ein gewähltes Verfahren bewährt bzw. ob sich einzelne Transkriptionsentscheidungen bewähren, zeigt sich letztlich erst in der Phase der eigentlichen Dateninterpretation, auf die zwar die Datenaufbereitung bereits vorgreift, die jedoch durch die Art der Datenaufbereitung nicht vollständig determiniert sein kann. Analytische Umorientierungen müssen also auch auf die Transkription zurückwirken können, so daß sich im Idealfall eine Wechselwirkung von Datenaufbereitung und -interpretation ergibt. Von daher ist die Gesamtanlage der Transkription nicht nur eine technische Frage des Layouts. Mit der Gesamtanlage ist festgelegt, welche Art von Daten in welcher Form an welcher Stelle erfaßt werden kann. (Dabei ist u. U. auch die Frage der elektronischen Erfassung und Verarbeitung der Transkripte zu bedenken.) Für die Transkription authentischer dialogischer Äußerungen war die Entwicklung der sog. Partiturnotation von entscheidender Bedeutung, die heute fast durchweg Verwendung findet bei Gesprächen mit mehreren Partnern, mit häufigem Sprecherwechsel und häufigem parallelem Sprechen der Partner. (Siehe etwa das sog. HIAT-Verfahren (Halbinterpretative Arbeitstranskription) nach Ehlich/Rehbein 1976. Zur Diskussion von sog. Textnotation und Partiturnotation siehe Brinker/Sager 1989,39-46.)

3.5

Quantitative und qualitative Analyse

Ein möglicher Einwand gegen die hier vorgeschlagene hermeneutisch reflektierte Beschreibung von Dialogen scheint zu sein, daß die geforderte argumentative Explikation von Verstehenshypothesen so aufwendig ist, daß auf diese Weise nur einzelne Dialoge, vielleicht sogar nur ausgewählte Sequenzen beschrieben werden können, nicht aber globalere Muster oder Strategien, die für bestimmte Typen von Dialogen konstitutiv sind. Wir könnten so zwar zu mehr oder weniger ad hoc hypostasierten mikrostrukturellen, nicht aber zu makrostrukturellen Analysen gelangen, deren Ergebnisse soweit generalisierbar wären, daß wir Aussagen über Verfahren der Konstitution von Dialogtypen, über Ablaufmuster und Strategien der Dialogsteuerung machen könnten. Wir könnten nur konkret abgelaufene Prozesse, nicht aber diesen zugrundeliegende (abstraktere) Prozeduren, Regeln oder Strategien beschreiben. Dafür müßten größere Datenmengen herangezogen werden, die mit der vorgeschlagenen Art hermeneutischer Reflexion überhaupt nicht zu bewältigen seien. Auch der Auszeichnung solcher Analysen als .exemplarisch' (s. Biere 1978, 82ff.) liege kein hinreichend objektivierbares Selektionskriterium zugrunde. Was exemplarisch sei und was nicht, zeige sich erst in der Analyse größerer Datenmengen. Insofern könnte man mit einigem Recht behaupten, ein unser Verständnis an Fallbeispielen explizierendes Verfahren sei im Grunde nicht mehr als eine Heuristik, um überhaupt zu relevanten analytischen Fragestellungen zu kommen, unter denen dann größere Datenmengen zu untersuchen wären.

9. Verstehen und Beschreiben von Dialogen

173

Es ist natürlich nicht zu bestreiten, daß Dialoganalyse nicht auf die Analyse einzelner Fallbeispiele beschränkt bleiben muß. Es hat sich aber, etwa in der Sozialisationsforschung, gezeigt, daß die latenten Sinnstrukturen der sozialisatorischen Interaktion nur durch eine extensive Strukturinterpretation und Sinnauslegung beobachteter Interaktionen sichtbar gemacht werden können [...]. Die sozialisatorische Interaktion läßt sich weder elementaristisch, unter verhaltenstheoretischem Ausschluß der Kategorie von Sinn beobachten oder vermessen noch befragen oder psychometrisch testen, sie kann nur beobachtet und als „protokollierter Text" einer ihre Bedeutungsmöglichkeiten aufschließenden Sinninterpretation unterzogen werden (Oevermann u. a. 1976, 373). Die Fallanalyse wird damit zum Paradigma qualitativer Sozialforschung. Zwar ist die Zielstellung, über den einzelnen Fall hinausweisend, die Analyse sozialisatorischer Prozesse. Ein Erklärungsansatz kann aber nur aus der (exemplarischen) Analyse sozialisatorischer Interaktion gewonnen werden. Für die linguistische Dialoganalyse bedeutet dies u.a. eine Neubestimmung des Verhältnisses von quantitativer und qualitativer Analyse. Wir haben die ,Daten' der Gesprächsanalyse als qualitative Daten charakterisiert, d.h. als Daten, die als Ergebnis sozialen Handelns intentional hervorgebracht worden und nicht auf ,Verhalten' reduzierbar sind. Dies schließt eine quantitative Analyse nicht aus, relativiert sie aber in einem entscheidenden Punkt. Wenn wir etwa daran interessiert sind, welche Sprechakttypen charakteristisch sind für die Dialogeröffnung, für die Übernahme des turns, für die .Steuerung' des Dialogs, für bestimmte Strategien der Durchsetzung von Gesprächszielen, für die Herstellung von Konsens usf., so ist das, was wir zählen (das Vorkommen bestimmter Sprechakttypen), Ergebnis einer vorgängigen interpretativen, also qualitativen Analyse. Wir müssen sprachliche Äußerungen als Realisierungen eines bestimmten Sprechaktes oder Handlungsmusters ,identifizieren', wir müssen in einem abduktiven Schlußverfahren (s.o.) Regelhypothese und Regelbefolgung zugleich »erfinden', um ein Äußerungsresultat als Fall, d. h. als Befolgung der hypostasierten Regel deuten zu können. Solche interpretativen Entscheidungen basieren zwar auch auf vorgängigem,Regelwissen', aber selbst dann bleibt die Entscheidung, daß ein Äußerungsresultat als Handeln nach dieser Regel zu verstehen ist, ein interpretativer Akt, in dem einerseits Schemata (im Sinne des kognitivistischen Paradigmas) aktiviert werden und in dem andererseits sprachliche Daten als ,Instantiierung' des Schemas gedeutet werden. Zählbar scheinen dagegen vorderhand solche Merkmale sprachlicher Äußerungen zu sein, die vorinterpretativ identifizierbar sind und als Indikatoren für den Vollzug bestimmter sprachlicher Handlungen angesehen werden. So könnten quantitative Analysen heuristische Funktion in dem Sinn haben, daß etwa ein gehäuftes Vorkommen bestimmter Äußerungsmerkmale indikatorische Funktion für bestimmte Interpretationshypothesen haben könnte, daß sie mich überhaupt erst auf den Gedanken bringen, hier eine möglicherweise relevante Korrelation zu unterstellen. Wenn andererseits die qualitative Entscheidung, eine bestimmte sprachliche Äußerung als Realisierung einer bestimmten Art von sprachlicher Handlung zu zählen, als

Β. U. Biere

174

heuristisch im Hinblick auf die quantitative Datenbeschreibung angesehen wird, zeigt sich, daß die Trennung von Heuristik und Analyse hier insofern obsolet ist, als die Frage, was zur Heuristik, was zur Analyse gehört, abhängig ist von dem jeweils unterstellten Ziel der Dialoganalyse. Wie auch immer man sich entscheidet, so hat man es, wenn auch verschieden gewichtet, an irgendeiner Stelle im Prozeß der Dialoganalyse immer mit dem Verstehen sprachlicher Äußerungen zu tun, d.h. mit einer .Datenbasis', in deren Konstitution bereits qualitative, interpretative Entscheidungen eingegangen sind, gleichgültig, ob man die eigentliche' Analyse in qualitativen oder quantitativen Parametern fortsetzt.

4.

Literaturhinweise

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9. Verstehen und Beschreiben von Dialogen

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Mannheim

10. Grundlagen der Dialogorganisation

1. 2. 2.1 2.2 2.3 2.4 2.5 2.6 3.

Dialogfähigkeit und Dialogtheorie Organisationsprinzipien von Dialogen Sequenzmuster Äußerungsformen Das Festlegungssystem Wissenskonstellationen und Wissensaufbau Themen und thematische Zusammenhänge Kommunikationsprinzipien Literaturhinweise

1.

Dialogfähigkeit und Dialogtheorie

Die Hauptaufgabe einer Dialogtheorie ist die Beantwortung der folgenden Frage: Worin besteht die Fähigkeit von Dialogteilnehmern, Dialogzusammenhänge zu produzieren und zu verstehen? So einfach und selbstverständlich das dialogische Reden oft praktiziert wird, so komplex erscheinen dem Analysierenden die Mittel und Organisationsprinzipien, deren sich die Sprechenden bedienen, um in zusammenhängender Rede ihre kommunikativen Ziele zu verfolgen. Sie verwenden bestimmte Satzformen und Intonationsmuster, um hervorzuheben, worum es ihnen gerade besonders geht; sie benutzen bestimmte syntaktische und lexikalische Mittel, um Verknüpfungen zwischen Teilen längerer Äußerungen zu verdeutlichen; sie bereiten die Bezugnahme auf Gegenstände des Gesprächs vor, indem sie notwendiges Wissen sichern; sie entfernen sich in kleinen Schritten, fast unmerklich, von einem Hauptthema und steuern ein anderes an; sie kontrollieren ihre eigenen Dialogbeiträge und die ihrer Dialogpartner auf Relevanz und auf Widersprüche hin; sie klären Mißverständnisse auf; sie wählen aus alternativen Reaktionsmöglichkeiten virtuos diejenigen aus, die ihre Ziele zu fördern versprechen. Manchmal mißlingen allerdings auch Teile dieser komplexen Aktivität. Im vorliegenden Artikel sollen einige Teilantworten auf die eingangs gestellte Frage gegeben werden, und zwar aus der Sicht einer Theorie sprachlichen Handelns. Es wird

178

G. Fritz

eine Verfahrensweise der theoretischen Betrachtung gewählt, die sich u.a. in der Linguistik bewährt hat, nämlich die analytische Trennung unterschiedlicher Aspekte der komplexen Fähigkeit zum dialogischen Handeln, die man einzeln untersuchen, dann aber auch in ihrem Zusammenwirken betrachten kann. Die Dialogfähigkeit, so könnte man versuchsweise sagen, besteht in der Fähigkeit, grundlegende Organisationsprinzipien von Dialogen anzuwenden, z.B. nach Sequenzmustern zu handeln, thematische Zusammenhänge zu sehen und herzustellen und kommunikative Prinzipien zu befolgen. Die in diesem Artikel behandelten Aspekte der Dialogfähigkeit lassen sich relativ gut analytisch trennen, und es gibt auch Indizien dafür, daß sich Dialogteilnehmer tatsächlich an diesen Organisationsprinzipien orientieren. Beispiele dafür habe ich am Anfang dieses Abschnitts gegeben. Die Vielfalt möglicher Dialogverläufe erscheint unendlich, und kaum ein Dialog verläuft wie der andere, abgesehen vielleicht von institutionell stark normierten Formen. Trotzdem ist es schon für den Laien erkennbar, daß Dialoge strukturiert sind, daß verschiedene Dialoge oder Dialogteile sich untereinander ähneln und daß sie sich Typen zuordnen lassen, die gemeinsame Regularitäten zeigen. Planungsgespräche, Erzählkommunikationen und Interviews sind jeweils gekennzeichnet durch das Vorkommen bestimmter Typen von Äußerungen. In Planungsgesprächen spielen z.B. Vorschläge eine zentrale Rolle. Und Vorschläge weisen ihrerseits ein charakteristisches Umfeld von anderen Äußerungen auf. Die Frage, wie die Dialogteilnehmer Kohärenz produzieren, und die Frage, wie die erkennbaren Regularitäten zu erklären sind, hängen eng miteinander zusammen. In diesem Abschnitt sollen einige Grundbegriffe eingeführt werden, die bei der Beantwortung dieser Fragen benötigt werden, ζ. T. aus der Sicht konkurrierender Auffassungen. In den darauffolgenden Abschnitten werden dann einzelne Organisationsprinzipien von Dialogen detaillierter behandelt. Eine grundlegende theoretische Entscheidung ist die, auf welcher Ebene und in bezug auf welche Einheiten man Kohärenzphänomene und Dialogregularitäten beschreiben will. Hier gab es in den 60er und 70er Jahren Versuche, mit dem Satz als Basiseinheit zu arbeiten. Es zeigte sich aber bald, daß die bekannten Sequenzregularitäten nicht primär über den Zusammenhang syntaktischer Strukturen erklärt werden können. Soweit man syntaktische Regularitäten erkannte, erwiesen sie sich als Reflexe nicht-syntaktischer Regularitäten. Der Versuch, eine Text- oder Dialoggrammatik als syntaktische Theorie auszuführen, erwies sich als verfehlt. Als alternative Grundeinheit bot sich der Sprechakt an, eine Einheit, für die man in Searles Version einer Sprechakttheorie auch eine geeignete Basistheorie zu haben glaubte (Searle 1969; vgl. Art. 6). Diese Theorie war aber, aufgrund ihrer besonderen Ziele, weder auf die vielfältigen Typen alltagssprachlicher Äußerungsformen zugeschnitten, noch auf das vielfältige Spektrum von sprachlichen Handlungsmustern, die nicht den Searleschen Grundtypen illokutionärer Akte entsprechen, noch auf Sequenzen von Sprechakten. Searle selbst vertritt in neueren Schriften die Auffassung, daß seine Theorie zur Erhellung von Dialogregularitäten wenig beitragen kann (vgl. Searle 1986). Autoren, die sich eng an die Searlesche Theorie anschlossen, sahen sich zu ad-hoc-Ergänzungen genötigt, z.B. zur Erweiterung des Regelwerks von konstitutiven Regeln für isolierte

10. Grundlagen der Dialogorganisation

179

Sprechakte um eine Sequenzregelkomponente. Derartige Konzeptionen (z.B. Labov/ Fanshel 1977, ähnlich schon Labov 1972) wurden, teilweise nicht zu Unrecht, heftig kritisiert (vgl. Levinson 1981; Taylor/Cameron 1987). Aus dieser Kritik folgt allerdings nicht, daß der Begriff der sprachlichen Handlung prinzipiell ungeeignet ist, als einer der Grundbegriffe einer Dialogtheorie zu dienen. Dem Einwand der ad-hoc-Ergänzung von Sequenzregeln entgehen Theorien, die den Status einer sprachlichen Handlung von vornherein von ihrem Handlungsumfeld her bestimmen. Derartige Theorien sind die verschiedenen Versionen von Dialogspieltheorien (z.B. Hamblin 1970; Heringer 1974; Carlson 1983; vgl. Art.8), die sich teils auf Wittgensteins Sprachspielkonzept, teils auf spieltheoretische Konzeptionen stützen. Grundlegende Einheit bei dieser handlungstheoretischen Auffassung ist das Dialogspiel bzw. das Sprachspiel. Ein bestimmter Zug im Spiel ist definiert durch seine Vorgängerzüge und/oder die Zugmöglichkeiten, die er eröffnet und verschließt. Wenn man annimmt, daß der Zug im Sprachspiel aus einer oder mehreren sprachlichen Handlungen besteht, so erhält man eine Konzeption, in der der sequentielle Charakter sprachlicher Handlungen systematisch verankert ist. Sprachspiele im Sinne Wittgensteins, d.h. konstruierte oder rekonstruierte Dialogformen, kann man als Vergleichsobjekte benutzen, deren Betrachtung durch Ähnlichkeit oder Unähnlichkeit den Blick schärft für die Eigenarten natürlicher Dialoge (vgl. Wittgenstein 1967, §§81, 130; zu Grundstrukturenbeschreibungen als Vergleichsobjekten vgl. Fritz 1982, 224ff.). Die Idee der Vergleichsobjekte erlaubt es, die methodischen Einsichten der Dialogspieltheoretiker aufzunehmen, ohne damit auch schon zu präjudizieren, welches der Grundbegriff für die Erklärung von Kohärenz und Regularität von Dialogen sein sollte bzw. ob man sich auf einen derartigen Grundbegriff beschränken sollte. Für eine Dialogspieltheorie liegt es nahe, Kohärenz und Abfolgeregularitäten mithilfe des Regelbegriffs zu erklären. Die Regularitäten ergeben sich daraus, daß die Dialogteilnehmer Regeln folgen. Insoweit diese denselben Regeln folgen, ist auch das wechselseitige Verstehen und die wechselseitige Abstimmung der Dialogbeiträge erklärt. Nun ist aber eine Regelerklärung eine sehr starke Erklärung, bei der man sich u. a. darauf festlegt, daß die Sprecher einer bestimmten Regel tatsächlich folgen, daß sie das voneinander wissen und daß es die Möglichkeit der Regelverletzung gibt (vgl. Shwayder 1965; Lewis 1969). (Allerdings gibt es auch andere Regelbegriffe, deren Anwendung mit anderen Festlegungen verbunden ist, z.B. in Chomsky 1986, 221ff.) Kriterien für das Regelfolgen könnten ζ. B. sein, daß Sprecher sich selbst korrigieren, wenn sie einen Fehler machen, oder daß sie ihre Dialogpartner kritisieren, wenn jene Fehler machen. Beispiele, die diese Kriterien erfüllen, sind etwa folgende Dialogverläufe. A macht Β einen Vorwurf, und Β entschuldigt sich für sein Fehlverhalten, bestreitet aber gleich anschließend, daß er sich falsch verhalten hat. In dieser Situation kann Α Β darauf aufmerksam machen, daß die beiden Handlungen von Β unverträglich sind. Diese Unverträglichkeit ist nicht einfach ungeschickt oder unerwartet, sondern sie erscheint geradezu unzulässig. Ähnlich wäre es, wenn jemand auf die Frage, warum er zu spät kommt, mit ja antwortet. In beiden Fällen würde man annehmen, daß man so normalerweise nicht reden kann und daß der Sprecher sich versprochen hat, daß er die

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G. Fritz

Sprache (noch) nicht richtig beherrscht, daß er etwas mißverstanden hat oder daß er mit dieser Abweichung etwas Besonderes ausdrücken will. Derartige Abweichungen deuten auf einen Regelhintergrund hin. Eine Alternative zur Regelerklärung ist in den letzten Jahren vor allem von Philosophen diskutiert worden (vgl. Dascal 1992). Nach dieser Auffassung erklärt sich die Struktur (und z.T. auch die Regularität) von Dialogverläufen aus grundlegenden Prinzipien rationalen Handelns, z.B. dem Relevanzprinzip, und den Zielen und Annahmen der Dialogteilnehmer. Jede sprachliche Handlung in einem Dialog stellt sozusagen eine Dialogaufgabe für die Folgeäußerung, die der Sprecher mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln adäquat zu lösen versucht. Zu diesen Mitteln gehört primär seine Fähigkeit, Schlüsse zu ziehen und strategische Erwägungen anzustellen. Diese Mittel sind nicht dialogspezifisch. Über die dialogspezifischen Mittel erfährt man bei den Vertretern dieser Auffassung im allgemeinen nichts Detailliertes. Es ergibt sich also folgendes Bild: an einem bestimmten Punkt im Dialog (oder radikaler: an jedem Punkt im Dialog) muß der Teilnehmer aufgrund seiner Kenntnis der lexikalischen und syntaktischen Möglichkeiten seiner Sprache, aufgrund seiner Kenntnis des Äußerungskontexts und aufgrund seines allgemeinen Weltwissens erschließen, was der andere meint, und aufgrund derselben Kenntnisse und in Abstimmung mit den von ihm (und dem Partner) verfolgten Zielen eine Lösung für das anstehende kommunikative Problem suchen, die allgemeinen Rationalitätskriterien genügt. Zweifellos gibt es Situationen, in denen es keine eingespielten Verfahrensweisen für den Dialogfortgang gibt und die Dialogpartner hart arbeiten müssen, um Zusammenhang und Verständigung zu sichern. Für diese Fälle, für deren Vorliegen man allerdings auch Indizien vorbringen muß, ist eine Problemlösungserklärung, die sich primär auf die hermeneutischen und strategischen Fähigkeiten der Dialogpartner stützt, zweifellos hilfreich. In vielen Fällen gibt es aber schon Lösungen für bestimmte Arten von Dialogaufgaben. Dazu gehören ζ. B. Themen Verläufe, die man in ähnlicher Form schon abgehandelt hat. Man verfügt über Muster, Vorbilder, Präzedenzen, an denen man sich orientieren kann (vgl. Strecker 1987). Hier wäre die Behauptung zu stark, man handle nach einer Regel, aber man befindet sich kommunikationshistorisch auch nicht in der Stunde Null. Die Mustersequenzen können zur Routine werden, so daß die einzelnen Dialogbeiträge einen gewissen Grad an Erwartbarkeit haben, was zur wechselseitigen Abstimmung der Dialogpartner beiträgt, ohne daß damit schon das normative Element des Regelfolgens vorliegt. Es ist weiterhin denkbar, daß für einen oder für beide Partner eine unter mehreren Sequenzalternativen besonders vorteilhaft erscheint. Diese Präferenz, zusammen mit dem gemeinsamen Wissen über diese Präferenz, kann dazu beitragen, daß diese Form der Abfolge einen ausgezeichneten Status erhält und als Regularität wahrgenommen wird. Schließlich kann sich ein bestimmtes Sequenzmuster als die Standardlösung für eine bestimmte Dialogaufgabe etablieren und an Dialogneulinge als die richtige Verfahrensweise weitertradiert werden. (Zur Frage der Standardisierung von sprachlichen Handlungsmustern vgl. Bach/Harnish 1979, 173ff.) Damit sind wir wieder beim Regelfolgen. Als Ergebnis der bisherigen Überlegungen kann man folgende Punkte festhalten:

10. Grundlagen der

Dialogorganisation

181

(i) Regelerklärungen und Problemlösungserklärungen ergänzen sich gegenseitig. Im Einzelfall ist empirisch zu entscheiden, ob eine Sequenz auf Regelfolgen oder auf problemlösendem Räsonnement beruht. Auch die Kombination ist denkbar: Die Regelkenntnis dient als Grundlage für das räsonnierende Entdecken und Verstehen neuer Abfolgemöglichkeiten. Schließlich kann eine Problemlösungserklärung zur Rekonstruktion der Gründe beitragen, die bestimmten Sequenzmustern zur regelhaften Geltung verholfen haben könnten. (ii) Es spricht einiges dafür, den Kanon an dialogtheoretischen Grundbegriffen nicht zu klein zu halten. Eine reine Regel- bzw. eine reine Problemlösungstheorie ist natürlich einfach und elegant, aber empirisch unzureichend. Begriffe wie Präzedenz, Präferenz, Routine erhöhen die empirische Aussagekraft der Theorie. (iii) Die Frage, ob die Dialogpartner Regeln folgen, ist nicht unbedingt mit ja oder nein zu beantworten, weil Konventionalisierung ein historischer Prozeß ist, der graduell verlaufen kann. (iv) Verknüpfungen zwischen Äußerungen können unterschiedlich eng sein, und das Verstehen kann graduell abgestuft sein. Ein Ideal der Kohärenz ist nicht vorgesehen, wie die Regelerklärung leicht suggerieren könnte. (v) Methodisch ist die Annahme, daß nach Regeln gehandelt wird, häufig auch dann fruchtbar, wenn nicht entschieden ist, ob die Annahme berechtigt ist. Die Annahme fördert die Suche nach Regularitäten und deren detaillierte Beschreibung. Dialogfähigkeiten zeigen sich immer in spezifischen Situationen und Dialogformen, und sie werden auch in und für solche Situationen erworben. Deshalb ist es auch für viele dialoganalytische Aufgaben - ζ. B . für die Erstellung von Typologien von Verstehensproblemen - unerläßlich, sich eng an den Besonderheiten einzelner Dialogteilnehmer(-typen) mit ihren spezifischen Fähigkeiten sowie an den Besonderheiten unterschiedlicher Dialogformen und -Situationen zu orientieren. Es scheint aber Grundelemente der Dialogfähigkeit zu geben, die sich in den verschiedensten Dialogen zeigen. Deshalb ist es gerechtfertigt, zum Zweck einer theoretischen Übersicht eine Abstraktionsebene zu wählen, die derartige Grundelemente erkennbar macht. Betrachtet man das Zusammenwirken der im folgenden beschriebenen Organisationsprinzipien, so tritt ein Aspekt der Entwicklung von Dialogen entlang der Zeitachse hervor, der in primär strukturell orientierten Dialoganalysen eher in den Hintergrund tritt, nämlich der Aspekt der Dialogdynamik (vgl. Fritz 1989). Gemeinsame Themenverfertigung, Themenwechsel, Übergänge von einer Dialogform zur anderen, Abstufungen in der Anwendung von Kommunikationsprinzipien, Dialogkrisen und Klärungsversuche sind Eigenarten natürlicher Dialoge, die in einer Dialogtheorie systematisch berücksichtigt werden müssen. Eine theoretische Konzeption - oder besser: eine Familie von Konzeptionen - , die mit der in diesem Artikel dargestellten handlungstheoretischen Konzeption teilweise konkurriert, teilweise konvergiert, ist die kognitionswissenschaftliche Betrachtungsweise. Ein Schwerpunkt der kognitionswissenschaftlichen Analyse der Dialogfähigkeit liegt in der theoretischen Modellierung und experimentellen Erforschung der psychischen Prozesse, von denen man annimmt, daß sie beim Verarbeiten von Äußerungen, d.h. beim Verstehen, ablaufen. Ähnliche Prozeßmodelle wie für das Verstehen werden auch für die Produktion von Äußerungen entwickelt. Ein verbreitetes Konzept für

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G. Fritz

die Erklärung des dialogischen Handelns ist das Planungskonzept, nach dem die Handelnden internalisierte Handlungspläne abarbeiten (vgl. z.B. van Dijk/Kintsch 1983; zu Problemen des Planbegriffs vgl. Fritz, im Druck). Ein wichtiger Gegenstand kognitionswissenschaftlicher Betrachtung, der in handlungstheoretischen Arbeiten wenig Beachtung gefunden hat, ist die Rolle des Gedächtnisses beim zusammenhängenden Handeln (vgl. Schank/Burstein 1985). Konvergenzen der beiden Theorierichtungen sind zu erkennen u. a. in der Einschätzung der Bedeutung des Wissens für das Handeln und in dem Versuch, charakteristische Strukturelemente von Kommunikationsformen zu bestimmen (vgl. Beiträge zur Diskussion um die sog. story grammars, z.B. Wilensky 1982). Bisher ist der Kanon der behandelten Dialogformen in der Kognitionswissenschaft relativ klein. Interessante Vergleichsobjekte für die natürlichen Dialogfähigkeiten bieten vor allem die vielfältigen Versuche zur Konstruktion von Frage/Antwort-Systemen in der Tradition der künstlichen Intelligenz (vgl. Wermter/Lehnert 1990; s. Art. 12). Das Verhältnis von kognitiver und interaktiver Betrachtungsweise diskutiert Suchman (1987).

2.

Organisationsprinzipien von Dialogen

2.1

Sequenzmuster

Die Spielanalogie ist besonders überzeugend bei der Analyse von kompakten Sequenzen wie z.B. zweiteiligen Gruß- und anderen Höflichkeitsroutinen, Frage/AntwortSequenzen, Vorwurf/Rechtfertigungs-Sequenzen usw. Derartige Elementarsequenzen sind sowohl von Konversationsanalytikern (z.B. Schegloff/Sacks 1973, sog. „adjacency pairs") als auch von handlungstheoretisch orientierten Autoren detailliert untersucht worden (z.B. Heringer 1974; Fritz/Hundsnurscher 1975; Frankenberg 1976; Muckenhaupt 1978; Wunderlich 1981; Fritz 1982; Carlson 1983). Aus handlungstheoretischer Sicht sind vier Eigenarten derartiger Sequenzen hervorzuheben: 1. Eine bestimmte sprachliche Handlung eröffnet zumeist mehrere Reaktionsmöglichkeiten. Die Menge der zu beschreibenden Reaktionsmöglichkeiten kann man als Zweige eines Spielbaums darstellen (vgl. Heringer 1974, 187ff.). Alternativen gehören zum Sequenzmuster. Das Vorhandensein von alternativen Dialogverläufen ist die Grundlage für die Wahl einer bestimmten Möglichkeit unter strategischem Gesichtspunkt. 2. Es gibt ganze Gruppen von Reaktionsmöglichkeiten, die in einem besonders engen Zusammenhang mit der Vorgängerhandlung stehen. Dazu gehören einerseits die sog. direkte Antwort auf eine Frage, die Entschuldigung nach einem Vorwurf und die Zustimmung zu einem Vorschlag sowie andererseits die Einwände, die sich auf die mit der Vorgängerhandlung eingegangenen Festlegungen beziehen. Diese spezifischen Einwände definieren geradezu die Art der Vorgängerhandlung (vgl. Fritz 1982, 229ff. ; Kasher 1987, 219f.), und sie können deshalb auch dazu verwendet werden, Festlegungen zu ermitteln. Wer vorschlägt, daß A und Β x-en sollen, legt sich darauf fest, daß er

10. Grundlagen der

Dialogorganisation

183

annimmt, daß A und Β x-en können. Auf diese Festlegung bezieht sich der Einwand, daß A und Β nicht x-en können. 3. Die Menge der Festlegungen und damit auch das Spektrum der Reaktionsmöglichkeiten hängt ab von der mdem-Struktur der ersten Handlung. Wer behauptet, daß Β ge-x-t hat, geht weniger Festlegungen ein als derjenige, der Β vorwirft, daß Β ge-x-t hat, indem er behauptet, daß Β ge-x-t hat. Dementsprechend eröffnet der Vorwurf auch mehr spezifische Reaktionsmöglichkeiten als die schlichte Behauptung. 4. Eine sprachliche Handlung wie z.B. ein Vorschlag eröffnet und verschließt nicht nur direkte Anschlußmöglichkeiten, was man als lokale Sequenzierung bezeichnen könnte, sondern sie eröffnet und verschließt auch globale Möglichkeiten des Dialogverlaufs. Beispielsweise eröffnet ein Vorschlag Themen wie etwa die verschiedenen Bewertungen von Handlungsmöglichkeiten, und er verschließt spätere Behauptungen des Vorschlagenden, z.B. diejenige, daß dieser gar kein praktisches Problem sieht, das durch Vorschläge zu lösen wäre (vgl. auch Abschnitt 2.3). Daran erkennt man, daß eine differenzierte Analyse einer Elementarsequenz schon ein beachtlicher Beitrag zur Analyse eines gesamten Dialogverlaufs sein kann. Eine weitere Gruppe von Sequenzmustern ist durch eine hierarchische Struktur gekennzeichnet. Hier handelt es sich z.B. um Sequenzen, die der Vorbereitung, Klärung und Stützung einer bestimmten sprachlichen Handlung dienen. Viele sprachliche Handlungen setzen zu ihrem Verständnis ein spezifisches Wissen voraus, von dem der Sprecher nicht wissen kann, ob es der Hörer besitzt. In derartigen Fällen kann der Wissensstand vorbereitend überprüft und das notwendige Wissen vermittelt werden. Hat der Sprecher das Hörerwissen überschätzt, kann auch nachträglich eine Klärungssequenz stattfinden. Derartige Nebensequenzen sind vor allem von Konversationsanalytikern differenziert beschrieben worden (z.B. Jefferson 1972; zu ReferenzklärungsSequenzen vgl. Fritz 1982, 152ff.). Der Sicherung einer Bezugshandlung dienen z.B. auch Begründungen, die an eine Aufforderung oder Behauptung direkt angeschlossen werden. Auch hier haben wir eine Art hierarchischer Struktur von dominierender und subsidiärer Handlung (vgl. Motsch/Pasch 1987). Derartige Mehrfachzüge und ihre Kombinationen stellen auch ein grundlegendes Strukturprinzip für längere monologische Sequenzen dar. Eine andere Form der Stützung einer Bezugshandlung ist das Insistieren, das vor allem im Nachfeld von Direktiven eine Rolle spielt (vgl. Hundsnurscher 1976). In vielen Dialogformen, z.B. Diskussionen und Planungsdialogen, beobachtet man eine zyklische Verlaufsstruktur. Bestimmte Elementarsequenzen wiederholen sich: Ein Vorschlag wird gemacht, kritisiert, begründet. Daraufhin wird ein Alternativvorschlag gemacht und auf dieselbe Art behandelt. Die illokutionären Muster wiederholen sich zyklisch, die propositionalen Gehalte verändern sich. Die Verknüpfung der Zyklen kann beschrieben werden über den thematischen Zusammenhang, ζ. T. direkt über den Zusammenhang von Vorschlag und Gegenvorschlag, Behauptung und Gegenbehauptung. Dieses Phänomen ist ein schönes Beispiel für das Zusammenwirken von illokutionärer und thematischer Organisation. Ein weiteres Strukturprinzip, das bisher in der dialoganalytischen Literatur noch nicht ausreichend behandelt worden ist, ist die systematische Verknüpfung von unter-

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schiedlichen Typen von Elementarsequenzen. So kann man z.B. feststellen, daß Grundstrukturen des Argumentierens (vgl. Öhlschläger 1979) sich mit vielen anderen Elementarsequenzen verbinden. A macht eine Bewertung, Β bestreitet die Richtigkeit der Bewertung. A legt seine Bewertungsprinzipien offen, die zu seinen Festlegungen beim Bewerten gehören. Nun bestreitet Β die Gültigkeit dieser Prinzipien, und A gibt Argumente für die Gültigkeit. Hier finden wir eine ganz enge Verknüpfung von Sequenzen des Bewertens und des Argumentierens. Ähnliches findet man in Aufforderungs-, Vorwurfs-, Planungs- und Erzählkommunikationen. Die Kombinatorik von Elementarsequenzen ist ein hochgradig produktives Organisationsprinzip. Damit sind wir schon bei den globalen Sequenzmustern. Umfangreichere Dialoge wie Lehr- und Lerngespräche, Erzähldialoge und Beratungsgespräche sind charakterisiert durch größere funktionale Bestandteile, die ihrerseits auf Elementarsequenzen zurückgeführt werden können. So gibt es beim Lehren und Lernen (z.B. eines Spiels oder der Benutzung eines technischen Geräts) typische Beschreibungs- und Anleitungssequenzen. In den Beschreibungssequenzen werden Inventarteile, Gerätebestandteile etc. eingeführt und beschrieben. In den Anleitungssequenzen werden Spielzüge bzw. Bedienungsvorgänge vorgeführt, und es wird zu ihrer Ausführung aufgefordert, die Ausführung wird korrigiert etc. Diese größeren funktionalen Bestandteile sind ζ. T. sequentiell weniger fest geordnet als die Bestandteile von Elementarsequenzen. Daraus ergibt sich die Möglichkeit von Sequenzierungsalternativen und die damit verbundene Möglichkeit von strategischen Problemen auf der Lehrerseite und von Verstehensproblemen auf der Lernerseite. Man kann z.B. das durch Beschreibung zu vermittelnde Wissen entweder en bloc zu Beginn vermitteln oder aber in homöopathischen Dosen immer an der Stelle, an der das betreffende Wissen gerade benötigt wird. Ähnliche Sequenzierungsmöglichkeiten und -probleme gibt es bei allen umfangreicheren Dialogmustern. Eine andere Ebene der Sequenzierung, die für Dialoge im engeren Sinne geradezu konstitutiv ist, ist der Sprecherwechsel. Dieses Organisationsprinzip wurde in erster Linie von Konversationsanalytikern untersucht (Sacks/Schegloff/Jefferson 1974; vgl. Art. 1). Die Organisation des Sprecherwechsels fällt z.T. mit der Organisation von Elementarsequenzen zusammen, etwa bei Frage und Antwort oder auch beim Erzählen, wo die Einräumung eines längeren Rederechts für die Ereignisdarstellung nicht ungewöhnlich ist. Teilweise liegen aber die Verfahren der Feinabstimmung des Sprecherwechsels quer zu den in diesem Abschnitt behandelten Sequenzmustern, wobei Gliederungsprinzipien der Äußerungsform eine wichtige Rolle spielen (z.B. fallende Intonation oder Pausen). 2.2

Äußerungsformen

Zur Form der Äußerung von Dialogbeiträgen gehören in erster Linie die syntaktischen Strukturen, die lexikalischen Einheiten, die Lautform und die prosodischen Mittel (Betonung, Intonation). In einem weiteren Sinne kann man auch gestische und mimische Mittel zur Äußerungsform rechnen. Da sich andere Artikel dieses Handbuchs mit

10. Grundlagen der Dialogorganisation

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verschiedenen Aspekten der Äußerungsformen beschäftigen, beschränkt sich dieser Abschnitt auf einige exemplarische Hinweise (vgl. Art. 2,13,14,15). Es erscheint fast trivial zu fordern, daß die systematische Analyse der Äußerungsformen, mit denen man Dialogbeiträge machen kann, ein Kernstück der Dialoganalyse sein muß. Tatsächlich ist es aber so, daß viele sprechakt- und dialoganalytische Arbeiten aus den Disziplinen Philosophie, Psychologie und Soziologie diese Forderung nicht erfüllen. Die verbreitetste Version der Sprechakttheorie - Searle (1969) - beschäftigt sich fast ausschließlich mit einem syntaktisch-lexikalischen Prototyp, der sog. explizit performativen Formel (Ich verspreche dir, daß ich komme). Viele psychologische Untersuchungen, etwa zum Problem der Verständlichkeit, konzentrieren sich fast ausschließlich auf den propositionalen Aspekt (vgl. van Dijk/Kintsch 1983). Und die ethnomethodologischen Konversationsanalytiker, die immerhin die detaillierte Untersuchung einzelner Äußerungen und ihrer Kontexte betreiben, beschäftigen sich weder mit einer systematischen Analyse der Struktur von Äußerungsformen einer bestimmten Sprache noch mit unterschiedlichen Besonderheiten verschiedener Sprachen. Hier liegt also eine besondere Aufgabe der linguistischen Dialoganalysc. Vergleicht man die Satzbeispiele, die in der philosophischen Sprechakttheorie behandelt werden, mit den Äußerungsformen, die in authentischen Dialogen vorkommen, so macht man eine Reihe von bemerkenswerten Beobachtungen: (i) Viele natürliche Äußerungsformen für sprachliche Handlungen sind nicht leicht unter den traditionellen Satzbegriff zu bringen (vgl. Rath 1979, 91ff.). Beispiele dafür sind etwa sequenzgebundene Kurzformen wie in (1) und (2), Strukturen an den Satzrändern wie freies Thema (3) und Rechtsversetzung (4), Parenthesen wie in (5) und Ellipsen und Anakoluthe wie in der letzten Äußerung von (6) (Wagner 1975,101): (1) A: Wie hast du das gemacht? Β : Mit der Beißzange. (2) A: Wir haben jetzt ein neues Gerät! Β : Das aber leider nicht funktioniert. (3) A: Und was hältst du von der Brigitte? Β : Die Brigitte? Die kann ich schon gar nicht leiden. (4) Er wars, der Peter. (5) Der - wie heißt er doch gleich - Peter Hacks hat schon wieder ein Stück geschrieben. (6) V: Johannes muß erst seine Körperteile zusammensuchen M: Haste se endlich! J: Ne! Τ: Teile / hahaha / ordnen / hahaha // M : Johannes wenn du jetzt nicht dalli machst T: Mama, ordnen! hahaha! ordnen! hahaha! da unten die Arme / am Füße die Köpfe hehe ! den Kopf hehe (ii) Es gibt einzelsprachlich ganz unterschiedliche Möglichkeiten, bestimmte sprachliche Handlungen zu vollziehen. So kann man im Deutschen dieselbe Aufforderung mit (7)—(9) machen. (7) Paß auf! (8) Aufpassen! (9) Du mußt aufpassen !

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Umgekehrt kann ein bestimmter Satz dazu verwendet werden, unterschiedliche Arten von Handlungen zu vollziehen. So kann ein Verb-Zweit-Satz wie (10) - traditionell „Aussagesatz" genannt - dazu verwendet werden, eine Feststellung zu machen, eine Aufforderung zu machen oder - mit steigender Intonation - eine Frage zu stellen: (10) Du holst das jetzt Das Verhältnis von Satzform und Illokution ist also verhältnismäßig kompliziert, (iii) Es gibt eine Vielfalt von Aspekten sprachlicher Handlungen, die die Sprechakttheorie nicht berücksichtigt und die jeweils durch besondere sprachliche Mittel realisiert werden können (ζ. B. die Verknüpfung sprachlicher Handlungen, die Organisation längerer Redebeiträge, das Signalisieren der Partnerorientierung, die Hervorhebung oder die Korrektur bestimmter Aspekte einer Proposition). Diese Beobachtungen machen deutlich, daß die theoretische Klärung und detaillierte Beschreibung des Verhältnisses von Äußerungsformen und ihren Funktionen ein zentrales Problem der Dialoganalyse ist. Zur Behandlung dieses Problems kann man im Prinzip zwei komplementäre Zugänge wählen, die natürlich auch kombinierbar sind: Man kann entweder zunächst untersuchen, welche kommunikativen Aufgaben im Dialog zu erfüllen sind, und dann angeben, mit welchen sprachlichen Mitteln diese Aufgaben erfüllt werden können. Oder man geht aus von den unterschiedlichen sprachlichen Mitteln und beschreibt, welche kommunikativen Funktionen diese haben. Im ersten Fall wird man z.B. folgende kommunikativen Aufgaben nennen: Fragen stellen, Gegenstände identifizieren, Aspekte einer Feststellung als besonders wichtig hervorheben, eine Begründung mit einer vorhergehenden Behauptung verknüpfen. Dann beschreibt man, mit welchen Mitteln diese Aufgaben zu erfüllen sind, z.B.: Man kann Fragen mit unterschiedlichen Satzformen stellen (Verb-Erst-Sätze, Verb-Zweit-Sätze, W-Fragesätze, Kurzformen). Man kann Gegenstände identifizieren, indem man, je nach Zusammenhang, Eigennamen, Kennzeichnungen oder Pronomina verwendet. Man kann Aspekte einer Feststellung hervorheben, indem man bestimmte Wortstellungsvarianten (z.B. Herausstellung), eine bestimmte Betonung oder Fokuspartikel wie sogar verwendet. Man kann eine Begründung mit einer vorhergehenden Behauptung verknüpfen, indem man die Konjunktion weil, die Partikel denn, die Modalpartikel ja oder gar kein Verknüpfungszeichen verwendet. Diese Betrachtungsweise findet man - zumindest teilweise - in Grammatiken mit einer kommunikativen oder funktionalen Ausrichtung (vgl. Leech/Svartvik 1975; Heringer 1978; Givón 1982/1990; Engel 1991, Abschn.T). Eine systematische Weiterentwicklung dieser Perspektive setzt eine Theorie der kommunikativen Aufgaben voraus, die es erst in Ansätzen gibt (vgl. Wunderlich 1976, 293ff.; Strecker 1986; Zifonun 1987; Gülich/Kotschi 1987). Die alternative Perspektive findet man sporadisch in vielen traditionellen Grammatiken, etwa bei der Behandlung der Satzarten (Aussagesatz, Fragesatz, Befehlssatz) oder der Konjunktionen. In systematischerer Form findet man sie in neueren grammatischen Arbeiten mit pragmatischer Perspektive (z.B. Ford/ Thompson 1986; Redder 1990; Brandt 1990; Reis 1991; Schiffrin 1992). Besondere Anstrengungen sind in den letzten Jahren zur Klärung des Satzmodusproblems (vgl.

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Meibauer 1987) bzw. des Verhältnisses von Satz und Illokution unternommen worden (vgl. Reis/Rosengren 1991; Rosengren 1992). Erwähnenswert sind auch Arbeiten zur Frage der Fokus-Hintergrund-Gliederung (ζ. B. Carlson 1984; Jacobs 1988) und zu den oben genannten Äußerungsformen, die nicht dem traditionellen Satzbegriff entsprechen: Herausstellungsstrukturen (Altmann 1981; Auer 1991), selbständige VerbLetzt-Formen (Oppenrieder 1989; Barton 1990), Ellipsen (Meyer-Hermann/Rieser 1985), Anakoluthe (Hoffmann 1991) und Parenthesen (Bassarak 1987).

2.3

Das Festlegungssystem

In Abschn. 2.1 wurde schon erwähnt, daß ein Sprecher mit jeder sprachlichen Handlung eine bestimmte Menge von Festlegungen eingeht, was sowohl lokal für die direkten Anschlußzüge als auch global für den ganzen Dialogverlauf Konsequenzen hat. Es soll jetzt der Aufbau des Festlegungssystems betrachtet werden. In den Festlegungen einer bestimmten Handlung spiegelt sich der spezifische Beitrag dieser Handlung zum Dialogstand. Man könnte auch sagen, jede Handlung verändert den Dialogkontext auf charakteristische Art. Diese Einsicht steht hinter sog. Kontextveränderungstheorien (vgl. Stalnaker 1978). Im Verlauf des Dialogs kommen von Handlung zu Handlung schrittweise neue Festlegungen hinzu. Diese kumulieren und bestimmen so Entwicklungsmöglichkeiten und Einschränkungen des weiteren Dialogverlaufs. So ergibt sich für jeden Sprecher als Produkt seiner gesammelten Dialogbeiträge ein ganzes Netz von Festlegungen. Von einem Festlegungsnetz oder -system zu sprechen ist deshalb berechtigt, weil die Festlegungen eines Dialogs normalerweise durch Folgerungsbeziehungen und thematische Beziehungen untereinander verknüpft sind. Die Festlegungen der Dialogteilnehmer werden Teil des gemeinsamen Dialogwissens (vgl. 2.4). Dabei ist allerdings folgendes zu berücksichtigen. Welche Festlegungen Teilnehmer Β der Teilnehmerin A unterstellt und ggf. auch einklagt, ist davon abhängig, wie er sie versteht. Versteht Β eine Feststellung von Α, Β habe geraucht, als Vorwurf, so wird er ihr die Annahme unterstellen, daß Β nicht hätte rauchen sollen. Dabei kann es sich aber auch um ein Mißverständnis handeln. Vielleicht wollte A mit dieser Feststellung nur ihre Überraschung ausdrücken und sich dementsprechend auch nur darauf festlegen, daß sie es überraschend findet, daß Β geraucht hat. Ein solches Mißverständnis kann natürlich seinerseits Konsequenzen für den ganzen Dialogverlauf haben. Weiterhin ist zu beachten, daß die Festlegungen, die ein Sprecher eingeht, unabhängig sind von seinen tatsächlichen Annahmen, Einstellungen und Gefühlen (vgl. Aiston 1964, 42f.). Ein unaufrichtiger Sprecher kann sich auf ein ganzes Annahmengeflecht festlegen und so einen Standpunkt vorgaukeln, den er in Wirklichkeit gar nicht teilt. Einen einflußreichen Versuch, ein Festlegungssystem in einem dialogtheoretischen Entwurf zu verankern, unternahm C.L. Hamblin, ein Logiker, der die traditionelle Lehre von den Trugschlüssen in einer sog. formalen Dialektik zu rekonstruieren suchte (vgl. Hamblin 1970; s.a. Art.8). In seiner Dialogspieltheorie ist ein Mechanismus vorgesehen, der wesentliche Aspekte der Dialoggeschichte repräsentiert, das System

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der sog. Festlegungsspeicher (commitment-stores). Jede Behauptung oder Frage eines Sprechers hinterläßt eine Spur im Festlegungsspeicher, so daß sich eine A r t Buchführung der Festlegungen ergibt. Die Festlegungsspeicher dienen als Grundlage f ü r die kritische Beurteilung von Dialogbeiträgen. In ihnen spiegelt sich, wenn sich ein Sprecher widerspricht, wenn er sich wiederholt oder penetrant „auf nichts festlegt". H a m blins Festlegungsspeicher sind ein interessantes formales Vergleichsobjekt f ü r den A u f b a u von Festlegungsnetzen in natürlichen Dialogen. In einer allgemeinen Dialogtheorie ist das Festlegungssystem ein deutlich abgrenzbarer Bestandteil der Theorie des Dialogwissens (vgl. A b s c h n . 2 . 4 ) . Verschiedene Aspekte der Dialogbuchführung werden behandelt in Lewis (1979) und Fritz (1989).

2.4

Wissenskonstellationen und Wissensaufbau

Das Wissen der Dialogteilnehmer gibt ihren Äußerungen Sinn und Zusammenhang. O h n e relevantes Wissen kann man weder einen kooperativen Dialogbeitrag machen noch einen Dialogbeitrag verstehen. Insofern ist eine Theorie des Dialogwissens ein notwendiger Bestandteil einer Dialogtheorie. D a r ü b e r herrscht Einigkeit zwischen Philosophen, Linguisten und Kognitionswissenschaftlern (vgl. Meggle 1981; Levinson 1983; Stillings et al. 1987). Gegenstand einer solchen Theorie sind u . a . folgende Fragen: (i) Welche Arten des Wissens kann man unterscheiden? - nach dem Gegenstand des Wissens (Wissen-daß, Wissen-wie, Wissen-wer, sog. episodisches Wissen (Ereigniswissen)), - nach der Herkunft des Wissens (allgemeines Erfahrungswissen, Fachwissen, Wahrnehmungswissen, spezielles Wissen aus dem laufenden Dialog), - nach der Wissenskonstellation (gemeinsames Wissen, nicht-gemeinsames Wissen, rollenspezifisches Wissen etc.), - nach der Art der Präsenz (Wissen, das gerade im Brennpunkt des Dialoggeschehens steht vs. Hintergrundswissen). (ii) Wie greift das Wissen in das sprachliche Handeln ein (z.B. als Voraussetzung für bestimmte Handlungen)? (iii) Wie entsteht Wissen im Dialog? Wie wird Wissen vermittelt? (iv) Welches Wissen ist jeweils bei einem bestimmten Dialogstand relevant? (v) Wie verändert sich das Wissen im Zeitverlauf, speziell: im Dialogverlauf? Ein kleiner Ausschnitt dieses Fragenkatalogs soll hier näher erläutert werden. Viele Dialogformen sind durch typische Wissenskonstellationen und Veränderungen von Wissenskonstellationen charakterisiert. Lehr- und Lerndialoge, Informationsdialoge und viele Erzähldialoge sind dadurch gekennzeichnet, daß zu Beginn des Dialoges eine Asymmetrie der Wissensverteilung in bezug auf das thematische Wissen gegeben ist. D e r Wissensvorsprung eines Teilnehmers ist charakteristisch für eine bestimmte Rolle in diesen Dialogen, sei es f ü r eine kurzfristige Rolle - die des Erzählers - oder eine institutionell dauerhaft etablierte Rolle wie die des Journalisten, des Experten oder des Lehrers.

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An einem einfachen Beispiel soll eine charakteristische Wissenskonstellation und Wissensentwicklung gezeigt werden. Es handelt sich um einen kurzen Informationsfragedialog, der erkennen läßt, in welcher Weise Wissen einerseits vorausgesetzt wird, andererseits intentional vermittelt wird und darüber hinaus noch als Nebeneffekt entsteht. In der Forschung finden sich Beobachtungen zu derartigen Wissenskonstellationen in Analysen des Referierens (vgl. Strawson 1971, 76ff. : „identifying knowledge") und Arbeiten zu Frage/Antwort-Sequenzen (vgl. Art. 12). (18) A: Und wo sind die Lautsprecherbuchsen? Β : Die sind hinten am Gerät, (zeigt die Buchsen) Bei einer naheliegenden Deutung dieser Sequenz können wir für den Dialogbeginn folgende Wissenskonstellation angeben ((19) und (20)), ohne dabei allerdings Vollständigkeit anzustreben: (19) (i) (ii) (iii) (iv)

A weiß, was Lautsprecherbuchsen sind. A nimmt an, daß es an dem Gerät Lautsprecherbuchsen gibt. A weiß nicht, wo die Lautsprecherbuchsen sind. A nimmt an, daß Β weiß, worauf sich A mit dem Ausdruck die Lautsprecherbuchsen bezieht. (ν) A nimmt an, daß Β weiß, wo die Lautsprecherbuchsen sind. (20) (i) Β weiß, was Lautsprecherbuchsen sind. (ii) Β weiß, daß es am Gerät Lautsprecherbuchsen gibt. (iii) Β weiß, daß die Lautsprecherbuchsen hinten am Gerät sind. (iv) Β weiß nichts über As Wissen in bezug auf die Lautsprecherbuchsen. Nachdem Β die Äußerung von A verstanden hat, hat sich auch sein Wissen verändert. Statt (20) (iv) kann man nun (21) (i) bis (iii) annehmen: (21) (i) Β weiß, daß A annimmt, daß es am Gerät Lautsprecherbuchsen gibt. (ii) Β weiß, daß A nicht weiß, wo die Lautsprecherbuchsen sind. (iii) Β weiß, daß A wissen möchte, wo die Lautsprecherbuchsen sind. Dieses Wissen ergibt sich unmittelbar aus dem Verständnis der Äußerung als Informationsfrage. Nach der Äußerung von B, von der wir annehmen wollen, daß A sie als zutreffende Information verstanden hat, ergibt sich (vereinfacht) folgende Wissenskonstellation ((22) und (23)): (22) (i) A weiß (jetzt), daß es an dem Gerät Lautsprecherbuchsen gibt. (ii) A weiß (jetzt), wo die Lautsprecherbuchsen sind. (iii) A weiß (jetzt), daß Β weiß, worauf sich A mit die Lautsprecherbuchsen bezogen hat. (iv) A weiß, daß Β weiß, daß (22) (i). (ν) A weiß, daß Β weiß, daß (22) (ii). (vi) A weiß, daß Β weiß, daß (22) (iv) (usw.) (23) (i) Β weiß, daß A jetzt weiß, daß es an dem Gerät Lautsprecherbuchsen gibt. (ii) Β weiß, daß A weiß, daß (23) (i). (iii) Β weiß, daß A jetzt weiß, wo die Lautsprecherbuchsen sind. (iv) Β weiß, daß A weiß, daß (23) (iii).

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Die Entwicklung der Wissenskonstellation ist in mehrfacher Hinsicht bemerkenswert: 1. A beginnt den Dialog mit einem Wissensdefizit. Durch die Antwort von Β erreicht A sein Ziel, dieses Wissensdefizit zu beheben. 2. A beginnt den Dialog mit Annahmen über das Wissen, speziell das Identifikationswissen von Β in bezug auf den Gebrauch des Ausdrucks die Lautsprecherbuchsen. Diese Annahmen erweisen sich als gerechtfertigt - das sehen auch wir als Beschreibende so - , so daß wir jetzt sagen können, daß A ein Wissen über Bs Identifikationswissen hat. 3. Es entsteht durch die Äußerung und deren Verständnis bei A und Β sog. gemeinsames Wissen, d.h. das verschränkte Wissen, das in (22) (iv) und (v) sowie in (23) (ii) und (iv) formuliert ist. Dieses gemeinsame Wissen erlaubt es A und Β im weiteren Dialogverlauf, problemlos Erklärungen zu geben und zu verstehen, die das Wissen voraussetzen, wo die Lautsprecherbuchsen sind. Wäre dieses Wissen nicht vorhanden, müßte es Β erst herstellen. Diese skizzenhafte Beschreibung eines äußerst einfachen Beispiels gibt einen Eindruck von der Komplexität der Wissenskonstellationen und ihrer Entwicklungen im Dialogverlauf. Drei Bemerkungen zur Theorie des gemeinsamen Wissens sollen dieses Thema hier abschließen. 1. Vollständiges gemeinsames Wissen in bezug auf einen Sachverhalt umfaßt unendlich viele Stufen des verschränkten Wissens (vgl. Schiffer 1972). Für die Erklärung selbst relativ subtiler Fälle des Verstehens in alltäglichen Kommunikationen scheint man nur die Annahme von drei Stufen dieses wechselseitigen Wissens zu benötigen (vgl. Heringer u.a. 1977, 97ff.; Smith 1982, 62ff.). 2. In vielen Fällen wird man als Beschreibender sich nicht darauf festlegen wollen, daß die Annahmen der Dialogteilnehmer gerechtfertigt erscheinen bzw. daß man als Beschreibender sie auch für wahr hält. In diesen Fällen wird man eher von wechselseitigen Annahmen als von wechselseitigem Wissen sprechen. 3. Gemeinsames Wissen ist nicht generell Vorbedingung für das Gelingen der Verständigung an einem bestimmten Punkt im Dialog. Oftmals bringen Dialogpartner ein bestimmtes, für die Deutung einer Äußerung vorausgesetztes Wissen nicht schon mit, sondern sie erschließen aus dem Zusammenhang, daß der Dialogpartner bestimmte Voraussetzungen macht bzw. sie unterstellen einfach versuchsweise das Gegebensein bestimmter Sachverhalte als Grundlage einer Deutung. Eine wichtige Frage für viele praktische Zielsetzungen der Dialoganalyse betrifft die Strategien des Wissensaufbaus. Bei einer Analyse von Erzähldialogen kann es von Bedeutung sein zu zeigen, an welchen Stellen der Erzählende welche Informationen bringt, um eine Pointe zu sichern oder um Spannung zu erzeugen. Für Beratungsdialoge und andere Formen der Wissensvermittlung spielt neben der Abstimmung des Ausgangswissens (Erkundung, Sicherung, Einführung von Voraussetzungen) der systematische und adressatenspezifische Wissensaufbau eine entscheidende Rolle. Die Analyse von Voraussetzungsstrukturen und damit verbundenen Sequenzierungsproblemen gehört zu den Zentralproblemen der Untersuchung von Lehr- und Lerndialogen, traditionellerweise ein Arbeitsfeld der Didaktik und Methodik, sowie der Verständlichkeitsforschung (vgl. Art. 24). Als Mitglied einer Sprechergemeinschaft verfügt man nicht nur über das mit bestimmten Partnern kommunikationshistorisch aufgebaute gemeinsame Wissen, son-

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dem man verfügt auch über Wissensbestände, von denen man annehmen kann, daß sie jedes erwachsene Mitglied der betreffenden Gesellschaft, jeder Generationsgenosse innerhalb dieser Gesellschaft oder jeder Mitfachmann in einem bestimmten Bereich besitzt. Besonders interessant für die Analyse alltäglicher Kommunikationen ist natürlich das als allgemein oder in bestimmten Gruppen verbreitet geltende stereotype Wissen der Mitglieder einer Gesellschaft über Einrichtungen, Praktiken und aktuelle Themen ihrer Gesellschaft, auf das sie unreflektiert zurückgreifen können, wenn sie mit beliebigen anderen Mitgliedern der Gesellschaft kommunizieren. Den Versuch, solche Wissensbestände zu beschreiben, haben in den letzten Jahren vor allem Vertreter der Kognitionswissenschaften unternommen (vgl. Schänk/Abelson 1977). Soweit man dabei über die Simulation des Verstehens von sehr einfachen und thematisch eingeschränkten Texten (z.B. Erzähltexten) hinauszugehen versuchte, stieß man auf eine Schwierigkeit, die auf ein Spezifikum der menschlichen kommunikativen Fähigkeit hinweist. Dialogteilnehmer halten ihr Wissen über den Dialogverlauf, aber auch über viele gleichzeitige Sachverhalte und Ereignisse außerhalb des Dialogs, auf dem neuesten Stand. Teilweise antizipieren sie auch Ereignisse. Auf diesem Hintergrund bedienen sie sich oft rasch wechselnder Wissensbestände, deren Relevanz nur auf der Höhe des Dialogstandes bestimmt werden kann und deren Anwendung, nach dem gegenwärtigen Stand der Forschung, nicht als Algorithmus repräsentiert werden kann (vgl. Dreyfus/Dreyfus 1987). Zur Dialogdynamik gehört nicht nur, daß das relevante Wissen rasch wechseln kann, sondern auch, daß Kriterien der Relevanz ad hoc neu eingeführt werden können.

2.5

Themaund thematischer Zusammenhang

Die thematische Organisation ist ein grundlegendes Strukturprinzip von Dialogen, das eng mit dem spezifischen Zweck eines Dialogs verknüpft ist. Ein reiches Repertoire an alltagssprachlichen Ausdrücken dient der Beschreibung von Aspekten des thematischen Handelns und Geschehens: über ein Thema diskutieren, ein Thema vermeiden, am Thema vorbeireden, vom Thema abkommen, das Thema wechseln, ein Thema abschließen. Auch bei Text- und Dialogtheoretikern herrscht Konsens darüber, daß der Begriff des Themas ein Grundbegriff einer Theorie zusammenhängenden Redens sein muß. Theoretische Divergenzen und Schwierigkeiten im Detail stellen sich allerdings ein, wenn man darangeht, das kommunikative Alltagswissen theoretisch zu explizieren. Das betrifft z.B. den Themabegriff selbst, die Auffassung vom Zusammenhang zwischen Thema und Dialog und die Analyse der Struktur thematischer Zusammenhänge. Textlinguistische Arbeiten strukturalistischer Provenienz untersuchten vor allem die sprachlichen Mittel, die für Themenkonstanz und Themenwechsel eine Rolle spielen können, z.B. den Gebrauch von Pronomina zur Wiederaufnahme der Referenz (vgl. Halliday/Hasan 1976). Die kommunikativen Verfahren zur gemeinsamen Produktion eines Dialogthemas und zur Themenbehandlung wurden zuerst von Konversationsanalytikern der ethnomethodologischen Richtung differenziert beschrieben (ζ. B.

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Adato 1971; Schegloff/Sacks 1973). Neuere linguistische Arbeiten verbinden zumeist die Ansätze dieser beiden Traditionen mit einer handlungstheoretischen Orientierung (van Dijk 1977; Fritz 1982; Carlson 1983; Lötscher 1987; Bublitz 1988). Manche Autoren kombinieren die Frage nach dem Thema eines Diskurses mit der Frage nach dem Diskursthema einer einzelnen Äußerung (z.B. Keenan/Schieffelin 1976; Bayer 1980; Carlson 1983; vgl. schon Strawson 1971, 92ff.). Zur Explikation des Begriffs des Themas gibt es drei verbreitete Auffassungen, die man als Propositionstheorie (Agricola 1976; Keenan/Schieffelin 1976; van Dijk 1977), Fragetheorie (Carlson 1983: „topic"; Hellwig 1984) und Gegenstandstheorie (Bayer 1980; Fritz 1982; Carlson 1983: „subject") bezeichnen könnte. Die Vertreter der jeweiligen Auffassungen nehmen an, daß der Prototyp der Themafonnulierung dazu dient, eine Proposition auszudrücken, eine Frage zu formulieren bzw. auf einen Gegenstand Bezug zu nehmen. Beispiele für derartige Themenformulierungen - in der genannten Reihenfolge der Auffassungen - sind: (24) Wir haben darüber gesprochen, ob/daß sich die Entwicklungspolitik

verändert hat.

(25) Wir haben über die Frage gesprochen, wie man die Entwicklungspolitik verändern könnte.

(26) Wir haben über die Entwicklungspolitik gesprochen. Die am wenigsten spezifische Themenangabe wird mit (26) gemacht. Wenn die mit (24) oder (25) gemachten Angaben zutreffen, trifft auch (26) zu. (24) und (25) sind also Spezifizierungen von (26), mit denen man auch Teilthemen des Globalthemas Entwicklungspolitik angeben könnte. Die Spezifik von (24) und (25) gegenüber (26) könnte man darin sehen, daß das Thema mit dem indirekten Fragesatz in (25) problemorientiert und mit dem daß-Satz in (24) thesenorientiert formuliert wird. Die Beispiele deuten darauf hin, daß die Fragetheorie besonders auf Problemlöse- und vielleicht auch Informationsdialoge zugeschnitten ist, während die Propositionstheorie besonders auf Dialogtypen wie Argumentationen anwendbar erscheint. Die drei scheinbar konkurrierenden Auffassungen sind also nicht unverträglich (vgl. auch Carlson 1983, 249ff.). Die Themaformulierung vom Typ über NP ist die offenste Möglichkeit der Themenangabe, eine Möglichkeit, die außerordentlich häufig benutzt wird und die sich regelmäßig auch in die Texte der Frage- und Propositionstheoretiker einschleicht. Frageformulierungen und propositionale Formulierungen sind demgegenüber spezifischer und können daher besonderen Zwecken dienen. Bei der Behandlung des Zusammenhangs zwischen Text/Dialog und Thema muß man einerseits verschiedene Aspekte unterscheiden, in denen sich die organisierende Funktion des Themas manifestiert, andererseits muß man berücksichtigen, daß Themaorientierung in unterschiedlichen Dialogformen in unterschiedlicher Weise zum Tragen kommt (explizit/implizit, kooperativ/kompetitiv, streng/locker etc.). Um einen ersten Überblick über die Aspekte des Zusammenhangs von Text/Dialog und Thema zu gewinnen, kann man die Verfahrensweisen untersuchen, mit denen ein Dialogbeobachter post festum zu einer Themaformulierung als Teil eines Dialogbe-

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richts kommen kann. Die entscheidende Vorannahme dabei ist, daß das Thema nicht irgendwie objektiv in den Dialogäußerungen enthalten ist, sondern daß es ein Aspekt des Verständnisses dieser Äußerungen ist. In schwierigen Fällen bedarf es also hermeneutischer Operationen, um zu klären, was das Thema des Gesprächs war. Bei diesen Operationen benutzt der Berichtende unterschiedliche Fähigkeiten, und er stützt sich auf unterschiedliche Wissensbestände und Indizien: (i) Er orientiert sich an Ausdrücken, die im Dialogtext besonders häufig oder an prominenter Stelle vorkommen bzw. die syntaktisch oder intonatorisch besonders hervorgehoben sind. (ii) Er nutzt sein Wissen über die für diese Dialogform charakteristischen Muster der Themenbehandlung (z.B. beim Argumentieren, Planen oder Erzählen). (iii) Er sieht oder sucht Folgerungsbeziehungen zwischen im Text ausgedrückten Propositionen und übergeordneten Propositionen (Kandidaten für Themapropositionen im Sinne der Propositionstheorie). (iv) Er nutzt sein Wissen über relevante thematische Zusammenhänge und seine Annahmen über das Wissen der Dialogpartner über thematische Zusammenhänge. (v) Er nutzt sein Wissen über aktuelle Interessen, Probleme, Fragestellungen der Dialogpartner (vgl. Fragetheorie). In besonders einfach gelagerten Fällen ist eine mechanische Themenextraktion aufgrund der Häufigkeit bestimmter Ausdrücke möglich. Aber die Häufigkeit ist weder eine notwendige noch eine hinreichende Bedingung für die zutreffende Bestimmung eines Ausdrucks zur Themaformulierung. Thematisch sind nicht die Ausdrücke, thematisch ist deren Verwendung. Und deshalb muß man ebenso wie beim illokutionären Aspekt mit mrfem-Zusammenhängen rechnen: Man kann über Umweltschutz reden, indem man über unterschiedliche Verkehrsmittel redet. Dementsprechend muß man damit rechnen, daß unterschiedliche Beobachter (bzw. Teilnehmer) zu unterschiedlichen Auffassungen davon kommen, worin das Thema des Dialogs besteht. Der Unterschied der Auffassungen kann gerade darin bestehen, daß der eine aufgrund weitergehenden Wissens ein weitergehendes thematisches Verständnis des Dialogs hat als der andere. Dieses Faktum und die Aspekte ( i ) - ( v ) muß man berücksichtigen, wenn man Verfahren der Themenzuschreibung rekonstruieren bzw. simulieren will. Aus einer anderen Perspektive sieht man den Status von Themen, wenn man Themaformulierungen in der Funktion als Themenvorgabe oder Themenankündigung betrachtet (z.B. Tagesordnung eines Gremiums oder Ankündigung einer Geschichte zu einem bestimmten Thema). Hier dient das Thema in zweierlei Hinsicht als Orientierung. Den jeweiligen Sprechern auferlegt die Vorgabe die Verpflichtung, thematisch relevante Beiträge zu machen bzw. die thematische Relevanz ihrer Beiträge zu verteidigen. Den jeweils Zuhörenden gibt das Thema einen Verstehenshorizont und das Recht, thematische Relevanz einzuklagen. Wiederum sind es Faktoren aus ( i ) - ( v ) , die das thematische Reden, das Verstehen und die Relevanzkritik determinieren. Von dieser Form der globalen Orientierung an einem explizit genannten Thema unterscheidet sich die implizite und teilweise eher lokale Themenorientierung in informellen Alltagsgesprächen mit diffuser Zweckbestimmung. Hier gibt es zwar situations-

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gebundene Vorgaben (Cafeteria-Gespräche, Wartezimmer-Gespräche, EisenbahnGespräche), aber das Eröffnen und Fortspinnen von spezifischen Themen ist eine interaktive Aufgabe für die Teilnehmer, die gemeinsam von Äußerung zu Äußerung zu lösen ist. Dabei kann die kooperative Feinabstimmung von Wissen und Interessen ebenso eine Rolle spielen wie der kompetitive Versuch der Themendurchsetzung. Die Techniken zur Themenkonstruktion sind schon relativ gut erforscht (z.B. Adato 1971 ; Covelli/Murray 1980; Maynard 1980; Lötscher 1987; Bublitz 1988). Was beim gegenwärtigen Forschungsstand wünschenswert erscheint, sind differenzierte Analysen der Themenbehandlung in verschiedenen Dialogtypen anhand von umfangreicherem Datenmaterial. Gute Ansätze finden sich in Schänk (1981), Holly/Kühn/Püschel (1986), und Brinker (1988). Die Struktur der thematischen Übergänge in einem Dialog kann man als thematischen Zusammenhang bezeichnen. Dementsprechend können thematische Zusammenhänge analytisch gewonnen werden durch eine thematische Beschreibung von Dialogverläufen. Abgelöst vom einzelnen Dialogverlauf ist ein thematischer Zusammenhang darstellbar als ein Netz thematischen Wissens. Als ein formales Vergleichsobjekt für diese Art von Zusammenhang kann man Netzgraphen verwenden, einen Typ von Graphen, in denen die Kanten von Knoten zu Knoten in beliebiger Richtung durchlaufen werden können, im Gegensatz zu Handlungsbäumen, die gerichtete Graphen sind (vgl. Fritz 1982,215ff.). Thematische Netze berücksichtigen allerdings nicht eine Eigenschaft, die viele thematische Zusammenhänge zu haben scheinen, nämlich hierarchische Struktur. In kreativen Gesprächen können neue thematische Zusammenhänge ad hoc konstruiert werden. Diesem Extremfall steht das andere Extrem gegenüber, daß ein vorgegebener thematischer Zusammenhang streng abgearbeitet wird. Letzteres findet man etwa in institutionell gebundenen Dialogen, z.B. in Lehr- und Lernkommunikationen, Beratungsgesprächen zu einem bestimmten Problemtyp oder Interviews. Aber auch in funktional weniger determinierten Dialogen lassen sich rekurrente und damit erwartbare Themenverläufe oder Verwandtschaften des Themenverlaufs feststellen. Dies deutet darauf hin, daß thematisches Wissen, das ja zu einem beträchtlichen Teil kommunikativ erworben wird, sei es durch Dialoge im persönlichen Umfeld, sei es durch Medienkommunikation, bei Mitgliedern von Kommunikationsgemeinschaften partiell ähnlich aufgebaut ist. Solche in Dialogroutinen fest etablierten thematischen Zusammenhänge erfüllen wesentliche Kriterien für das Vorhandensein von Regeln: Sie produzieren Erwartbarkeit, und sie haben ein normatives Element, das sich in der Möglichkeit der Abweichung und der Sanktionierung dieser Möglichkeit zeigt. Dem Themenmanagement dienen vielfältige sprachliche Mittel. Zunächst gibt es verschiedene Arten von sprachlichen Ausdrücken, mit denen man explizit Themenübergänge, Abschweifungen und Rückkehr zum Hauptthema kennzeichnen kann (und jetzt noch zu etwas Anderem, übrigens, was ich sonst noch sagen wollte, bevor ich es vergesse, ansonsten, also, auf jeden Fall, zurück zum Thema). Explizite Hinweise zur Themenabwicklung können Verstehensprobleme entschärfen und damit als Mittel der Verständlichkeit wirken. Es gehört aber zur Eigenart der alltäglichen Rede, daß man

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195

nicht dauernd die Organisationsprinzipien expliziert, denen man gerade folgt. Das heißt aber nicht, daß thematische Zusammenhänge nicht in irgendeiner Weise signalisiert werden. Wenn in mehreren aufeinanderfolgenden Äußerungen mit definiten Kennzeichnungen oder Pronomina auf denselben Gegenstand Bezug genommen wird, dann erlaubt das die zumindest vordergründig zutreffende Beschreibung, daß über diesen Gegenstand geredet wurde. Neben diesem wohlbekannten Faktum sind in den letzten Jahren eine ganze Reihe von Äußerungsformen unter dem Gesichtspunkt ihrer themaorganisierenden Funktion betrachtet worden, z.B. Herausstellungsstrukturen (Altmann 1981), Konditionale (Ford/Thompson 1986; Schiffrin 1992), Satzadverbiale und epistemische Modalverbverwendungen (Öhlschläger 1989, 226ff.) und Partikeln (Weydt 1983; Schiffrin 1987; Redder 1990).

2.6

Kommunikationsprinzipien

Im sprachlichen wie im nicht-sprachlichen Handeln gibt es häufig Situationen, in denen sich unterschiedliche Handlungsmöglichkeiten bieten. In solchen Wahlsituationen kann man sich an Prinzipien orientieren, die Bewertungen von Handlungsmöglichkeiten liefern. Diese Orientierung geschieht manchmal reflektiert, oft aber rein routinemäßig. Über derartige Prinzipien, manchmal auch Maximen genannt, ist in der Ethik, der Handlungstheorie und der Spieltheorie viel geschrieben worden. Im Bereich der Analyse sprachlichen Handelns waren besonders die Überlegungen von Grice einflußreich, der im Zusammenhang seiner Theorie der Implikaturen ein allgemeines Kooperationsprinzip formulierte und dieses in vier Gruppen von Maximen konkretisierte (Grice 1975,45f.). Das Kooperationsprinzip lautet: „Make your conversational contribution such as is required, at the stage at which it occurs, by the accepted purpose or direction of the talk exchange in which you are engaged". Die vier Kategorien von Maximen und ihre Konkretisierungen lauten: 1.

Quantity: 1. Make your contribution as informative as is required (for the current purpose of the exchange). 2. Do not make your contribution more informative than is required. 2. Quality: Try to make your contribution one that is true. 1. Do not say what you believe to be false. 2. Do not say that for which you lack adequate evidence. 3. Relation: Be relevant. 4. Manner: Be perspicuous. 1. Avoid obscurity of expression. 2. Avoid ambiguity. 3. Be brief (avoid unnecessary prolixity). 4. Be orderly. Die Gricesche Darstellung löste eine bis heute andauernde Diskussion aus. Auf der allgemeinsten Ebene geht es um Fragen, die den grundlegenden Status, die Universali-

196

G. Fritz

tat und den Begründungszusammenhang der Prinzipien betreffen. Dazu gehören folgende Fragen: Läßt sich das Kooperationsprinzip auf ein grundlegenderes Prinzip zurückführen (Rationalitätsprinzip (Kasher 1976), Relevanzprinzip (Sperber/Wilson 1986))? In welcher Weise wird das Kooperationsprinzip in Kommunikationen wirksam (vgl. Keller 1987)? Auf weitere, spezifischere Fragen wird im Laufe dieses Abschnitts hingewiesen. Aufgrund seines besonderen theoretischen Interesses konzentriert sich Grice auf die Betrachtung eines Anwendungsbereichs der Prinzipien, nämlich auf den Bereich des Meinens und Verstehens. Wenn ein Hörer annimmt, daß der Sprecher auf offensichtliche Art das Relevanzprinzip verletzt, und gleichzeitig annimmt, daß der Sprecher noch kooperativ am Dialog teilnimmt, dann wird er vermuten, daß ihm der Sprecher etwas anderes zu verstehen geben will, als dieser ausgedrückt hat. In dieser Lage kann der Hörer auf der Grundlage seiner Kenntnis des Dialogstands zu erschließen versuchen, was der Sprecher gemeint hat. Die Fähigkeit, durch Deutungen unklare Zusammenhänge zu erhellen, gehört zu den grundlegenden Fähigkeiten des kompetenten Dialogteilnehmers. Dies ist aber nur eine Form, in der Prinzipien in der Kommunikation wirksam werden. Ihre primäre Funktion ist diejenige als Basis von Qualitätskriterien für Kommunikationen und Kommunikationsbeiträge. Solche Qualitätskriterien kommen in unterschiedlicher Form zum Tragen. Man kann sich selbst an Prinzipien orientieren, um richtig, erfolgversprechend, sozial akzeptabel etc. zu reden. Man kann Einwände gegen die sprachlichen Handlungen des Partners machen oder ihm Ratschläge geben, an welchen Prinzipien er sich orientieren sollte. Und schließlich kann man die sprachlichen Handlungen bzw. Texte Dritter kritisieren oder rechtfertigen. Prinzipien spielen also eine Rolle bei der erfolgreichen Praxis des Einzelnen, bei der Vermittlung von Verfahren erfolgreicher Praxis an andere und bei der Kritik des Sprachgebrauchs. Diese kommunikativen Zusammenhänge gilt es zu berücksichtigen, wenn man den Status von Kommunikationsprinzipien für eine empirische Kommunikationstheorie bestimmen will. Um für die praktische Dialoganalyse eine systematische Betrachtung zu ermöglichen, müssen die Kommunikationsprinzipien weiter ausdifferenziert und konkretisiert werden. Dies kann man tun, indem man sie behandelt wie andere Bewertungsprinzipien auch und ihre Rolle in Bewertungshandlungen näher analysiert. Gegenstand der Bewertungen sind im hier zu diskutierenden Fall sprachliche Handlungen und ihre Zusammenhänge. Wie andere Gegenstände auch, kann man sprachliche Handlungen in unterschiedlicher Hinsicht bewerten und dabei auch unterschiedliche Aspekte der Handlungen in Betracht ziehen. Am Beispiel des Prinzips der Verständlichkeit kann man das verdeutlichen. Wer das Prinzip der Verständlichkeit befolgen oder einklagen will, wird u.a. folgende Aspekte sprachlicher Handlungen zu berücksichtigen haben: (i) den Zweck der Kommunikation bzw. die in der Kommunikation verfolgten Ziele der Teilnehmer, (ii) das themenspezifische Wissen und die kommunikativen Fähigkeiten der Teilnehmer, (iii) die Möglichkeiten des sequentiellen Aufbaus der Kommunikation (illokutionäre Mu-

10. Grundlagen der Dialogorganisation

197

ster, Themenverlauf, Wissensaufbau), (iv) alternative Möglichkeiten der Äußerungsform (Intonation, syntaktische Muster, lexikalische Mittel). Dabei muß man folgende Möglichkeiten in Rechnung stellen: Das Prinzip kann je nach Kommunikationsform unterschiedlich streng gelten, und man kann sogar innerhalb einer Kommunikationsform die Strenge der Anwendung wechseln. Das Prinzip muß je nach Adressat in unterschiedlicher Form angewendet werden. Bei der Anwendung des Prinzips kann man in Konflikt mit anderen Prinzipien kommen, ζ. Β. dem der Kürze, der Informativität, der Vollständigkeit (vgl. Fritz 1991; s. a. Art. 24). Diese Form der Differenzierung und Konkretisierung ist auch für andere Prinzipien notwendig. Das gilt z.B. auch für das notorisch vage Relevanzprinzip. Man muß zunächst einmal Relevanz in Bezug setzen zu den in einem Dialog verfolgten Zielen der Teilnehmer und den Besonderheiten der Kommunikationsform. Man könnte eine Klärung des Begriffs der Relevanz mit folgender Erläuterung beginnen: Eine Äußerung ist an einer bestimmten Stelle im Dialog relevant für einen Teilnehmer, wenn sie dort einen nützlichen Beitrag zum Erreichen seines kommunikativen Ziels leistet (vgl. Carlson 1983, 45f.). Diese Erläuterung ermöglicht es, divergierende Relevanzurteile zu erklären, und sie macht deutlich, warum Übereinstimmung in Relevanzurteilen häufig mit der Übereinstimmung in der Sicht der Ziele einer Kommunikation einhergeht. Diese Erläuterung läßt aber noch offen, in welchen Aspekten der Kommunikation sich Relevanz manifestiert. Man könnte unterscheiden: propositionale Relevanz, sequentielle Relevanz, thematische Relevanz (vgl. Dascal 1979; Walton 1982; Hintikka 1986). So ist es z.B. denkbar, daß eine Äußerung zwar zum Thema ist, aber nicht dem gerade erreichten Dialogstand entspricht. Eine derartige Äußerung ist in einem schwächeren Sinne irrelevant als eine Äußerung, die nicht einmal zum Thema ist. Aber sie ist auch in einem schwächeren Sinne relevant als eine Äußerung, die dem Dialogstand angepaßt ist. Relevanz ist also graduierbar und nach Aspekten differenzierbar. Dies scheint für alle Kommunikationsprinzipien zu gelten. Die systematische empirische Erforschung der Wirksamkeit von Kommunikationsprinzipien steht noch in ihren Anfängen, wobei allerdings einzelne Prinzipien und deren Anwendungsbereiche schon einige Zeit Gegenstand lebhafter Forschung in unterschiedlichen Disziplinen sind, z.B. Informativität im Bereich der Medienforschung, Verständlichkeit in der Linguistik und Psychologie (vgl. Art. 24), und Höflichkeit in der Soziolinguistik (vgl. Brown/Levinson 1987; Leech 1983). Systematische Analysen hätten folgende Fragen zu berücksichtigen, die z.T. schon in der bisherigen Diskussion eine Rolle gespielt haben: (i)

Welche Großkategorien von Prinzipien lassen sich unterscheiden und wie hängen diese Kategorien untereinander zusammen (strategische Prinzipien (vgl. Fritz 1982, 56ff.), moralische Prinzipien, ästhetische Prinzipien, Höflichkeitsprinzipien)? (ii) In welcher Weise lassen sich Prinzipien in Unterprinzipien konkretisieren (ζ. B. die Prinzipien der Explizitheit, der Übersichtlichkeit und der Anschaulichkeit als mögliche Konkretisierungen des Prinzips der Verständlichkeit)? (iii) Welche Prinzipien sind für welche Kommunikationsformen relevant (z.B. Genauigkeit, Vollständigkeit für bestimmte Formen der wissenschaftlichen Beschreibung

198

G. Fritz

(iv)

(v)

(vi) (vii)

(viii)

3.

und Erklärung, Spannung für manche Formen des Erzählens, Originalität für manche wissenschaftlichen und literarischen Kommunikationen)? Einen guten Ausgangspunkt für empirische Analysen bilden die Einwände, die Kommunikationsteilnehmer selbst in bezug auf die Anwendung von Prinzipien machen (vgl. Bucher 1986; Muckenhaupt 1986). In welchem Maß ist die Befolgung bzw. die Art der Befolgung von bestimmten Prinzipien kulturspezifisch (vgl. Keenan 1976), sozialgruppenspezifisch, rollenspezifisch oder individualstilspezifisch? Welche Konflikte gibt es bei der Anwendung konkurrierender Prinzipien in bestimmten Kommunikationsformen? (Vgl. auch Levinson 1987.) Wie lösen die Kommunikationspartner diese Konflikte? Gibt es für bestimmte Sprechergruppen und Kommunikationsformen Hierarchien von Prinzipien (Aufrichtigkeit vor Höflichkeit, Präzision vor Verständlichkeit - oder umgekehrt)? (Zu Prinzipienkonflikten in Fernsehdiskussionen vgl. Art. 23.) Welche Indizien gibt es dafür, daß jemand bestimmten Prinzipien folgt bzw. diesen nur zu folgen vorgibt? Welches sind die sprachlichen Mittel, die bei der Anwendung der Prinzipien eingesetzt werden (Höflichkeitsformen, Mittel der Präzision, Mittel der Explizitheit)? Wie unterscheiden sich unterschiedliche Sprecher in ihrer Fähigkeit, Prinzipien anzuwenden? In welcher Weise kann man ggf. diese Fähigkeiten lehren?

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Gießen

m 11. Dialog-Typologie

1. 2. 2.1 2.1.1 2.1.2 2.2 2.2.1 2.2.2 3. 3.1 3.2 3.3 3.3.1 3.3.2 3.3.3 4. 4.1 4.2 4.3 4.4 4.5 5. 5.1 5.2 5.3 5.4 5.5 5.6 6. 7.

Vorbemerkung Diverse phänomenologische Einteilungsvorschläge Sprachphilosophisch orientierte Ansätze O. F. Bollnows Vorschlag M. A. Bonfantinis Vorschlag für Dialog-Genres Literaturwissenschaftliche Positionen in der Gesprächsforschung G. Bauers Vorschlag Klaus L. Berghahns Beschreibungen Sprachwissenschaftliche Konzepte H. Brinkmanns Entwurf Ein sprechwissenschaftlich-didaktischer Entwurf Neuere linguistische Ansätze Das „Freiburger Modell" Die Skizze von H. Henne/H. Rehbock Ein globaler umfassender Vorschlag zur Gliederung von Kommunikationsformen: D. Holdcrofts Globalskizze Der Sprechhandlungs-Ansatz Anforderungen an eine analytische Dialog-Typologie Zum Zusammenhang von Sprechakt und Dialog Eine Typologie minimaler dialogischer Sprechaktsequenzen Illokutionsspezifische dialogische Sprechaktsequenzen Eine Typologie auf der Grundlage der Interessenlage beider Sprecher Offene Forschungsprobleme Das Problem einer generellen Einteilung der Kommunikationstypen Das Problem der Ausschnittypologien Das Problem der dominanten Gesprächsfunktion Das Problem der Untermuster von Sequenztypen Das Problem des lexikalischen Befundes als Klassifikationsgrundlage Das Problem der „Feinheit" derTaxonomie Schlußbemerkung Literaturhinweise

204

1.

F. Hundsnurscher

Vorbemerkung

Wie von einem Kenner der Forschungslage anläßlich einer 1985 veranstalteten Tagung zum Thema ,Kommunikationstypologie' als Ergebnis festgestellt wurde, steht die Forschung auf diesem Gebiet „wohl noch mehr am Anfang, als man hätte meinen können" (Kallmeyer 1985, 326), und es wird in diesem Zusammenhang auch betont, daß eine sachadäquate Typologie eher am Ende als am Anfang der Erforschung eines Gegenstandsbereichs zu erwarten sei (vgl. Ehlich 1985, 59). Ähnlich äußern sich K. Brinker und S.F. Sager (1989, 113): „Von der Aufstellung einer in sich stimmigen Gesprächstypologie ist man noch weit entfernt." Angesichts dieses Diskussionsstandes kann ein Handbuchartikel über ,DialogTypologie' zum jetzigen Zeitpunkt nicht so sehr gesicherte Erkenntnisse referieren, sondern muß sich vielmehr auf die exemplarische Unterbreitung und Besprechung vorläufiger Taxonomie-Vorschläge beschränken und sich dabei auch auf methodologische Klärungsdiskussionen einlassen, die bei der Darstellung .gesicherten Wissens' nicht in dem Maße erforderlich wären.

2.

Diverse phänomenologische Einteilungsvorschläge

In unterschiedlicher Weise sind Probleme der Gesprächsführung, der Gesprächscharakterisierung, der Beschreibung und Beurteilung von Gesprächsverläufen und der Erfassung gesprächsdeterminierender Faktoren außer in der Sprachwissenschaft auch in der Sprachphilosophie, in der Literaturwissenschaft und in rhetorischen, pädagogischen, didaktischen und sprecherzieherischen Zusammenhängen aufgegriffen und behandelt worden. Innerhalb dieser Disziplinen haben sich Traditionen des Redens über Gesprächszusammenhänge herausgebildet, die immer wieder auch auf die sprachwissenschaftlichen Untersuchungen eingewirkt haben. Es sollen deshalb hier einige der detaillierten Ansätze exemplarisch dargestellt und besprochen werden.

2.1

Sprachphilosophisch orientierte Ansätze

2.1.1 O. F. Bollnows Vorschlag Eine zusammenhängende sprachphilosophische Reflexion über „Formen des Gesprächs" findet in Deutschland ihren ersten Niederschlag bei O.F. Bollnow (1966) vornehmlich unter Berufung auf F. Schleiermacher (1913), B. Liebrucks (1964/65), H. Lipps (1938) und K. Löwith (1962). Bedingt durch sein Untersuchungsinteresse, die Rolle von Sprache und Gespräch im Erziehungsprozeß zu bestimmen und zu würdigen („Der Mensch bedarf des Gesprächs mit andern als Bedingung seiner Entfaltung", 1966,186), gelangt Bollnow zu folgender Typologie:

11. Dialog-Typologie

205 Formen des Gesprächs

das zufällige Gespräch

das Gespräch im engeren Sinn

Sprechformen im Zusammenhang der Arbeit

Besprechung Verhandlung Diskussion Aussprache

Prüfung

die (bloße) Unterhaltung

die Konversation

das tiefsinnige Gespräch unter Freunden

Verhör

Die Formen nähern sich in dieser Anordnung von links nach rechts dem „eigentlichen Gespräch" an; Bollnows Sicht ist von Wertungen bestimmt. Das zufällige Gespräch ist geprägt durch die Zufälligkeit der Begegnung, die Offenheit des Verlaufs und die Beliebigkeit des Gegenstandes; allgemeine Motivation: „Man will sich näher kommen" (Bollnow 1966, 37). Das Gespräch gehört nach Bollnow der Mußezeit zu; im Zuge der Arbeit hat das Gespräch selbst keinen Ort, erst Störungen des routinemäßigen Verlaufs machen sprachliche Verständigung erforderlich. Neben der sachgerichteten Besprechung gibt es die Verhandlung, „wo zwischen zwei Partnern im Gegeneinander ihrer Argumente eine strittige Sache ausgehandelt werden soll" (Bollnow 1966, 43); in der Diskussion hingegen spielt sich die Auseinandersetzung auf der theoretischen Ebene ab; die Aussprache „setzt Gemeinschaft voraus und sucht sie wieder herzustellen" (Bollnow 1966, 46); Prüfung und Verhör haben gemeinsam, daß durch die Tätigkeit eines Fragenden eine verborgene Wahrheit ans Licht gebracht werden soll. Für diese Gesprächsformen gilt allgemein: „Es ist eine durchgehende teleologische Energie, die alles Hin- und Herreden bestimmt" (Bollnow 1966, 41). Was die Unterscheidungen für das „Gespräch im engeren Sinn" angeht, so ist die Konversation eine gehobene Form der bloßen Unterhaltung, dem steht gegenüber „das Gespräch im tiefsten und eigentlichsten Sinn"; in ihm kommen die letzten Fragen des Lebens zur Sprache. Es bedarf zu seiner Entfaltung des tragenden Grunds einer Freundschaft. 2.1.2 M. A. Bonfantinis Vorschlag für Dialog-Genres Eine wohlreflektierte Globaltypologie mit philosophischem Anspruch, die das Problem des Dialogzwecks in besonderer Weise berücksichtigt, stellt der Vorschlag von Bonfantini (1989) dar (vgl. auch Bonfantini/Ponzio 1986). Auf der Grundlage der Peirceschen Zeichentheorie wird hier unterschieden zwischen: 1. 2.

dialogue consideré et vécu comme fin en soi ; dialogue fonctionalisé à l'obtention ou dialogue opérativ ;

206 3.

F. Hundsnurscher dialogue de réflexion pour la définition de problèmes, d'objets, de buts. (Bonfantini 1989,137)

Der erste Typ entspricht dem Sprechen als Selbstzweck, als Geplauder und Zeitvertreib; der Gegenstand ist nebensächlich, die Beziehung zum Gesprächspartner tritt in den Vordergrund; da er interesselos' ist, auf kein Ende hinzielt, kann er sprunghaft und vielgestaltig sein, ästhetischen Prinzipien folgen. Dieser Typ kennt zwei Spielarten: „1.1. dialogue divertissant et 1.2. dialogue conformatif-répétitif" (Bonfantini 1989, 138), d. h. er kann sich im freien Spiel der Phantasie auf abenteuerliche Weise entfalten oder sich im engen Kreise der Bestätigung von Gewohntem bewegen. Der zweite Typ hat instrumentalen Charakter und ist vor allem in der jetzigen westlichen Zivilisation dominant; auch er kommt in zwei Spielarten vor: „2.1. dialogue d'échange et 2.2. dialogue de competition" (Bonfantini 1989,140); diese Unterteilung entspricht den marktwirtschaftlichen Grundkategorien des friedlichen Austausche von Gütern und der harten Konkurrenz um den Markanteil. Die Dominanz dieses Typs hat auch Auswirkungen auf die Auffassung und Gestaltung des ersten Typs - bestimmte Zweckorientierungen wie Selbstbehauptung, Ausspielen des ,Gegners', Meinungsdurchsetzung usw. stellen sich ein und werden unterstellt. Dieser zweite Typ ist in besonderem Maße charakterisiert durch klare kommunikative Zielsetzungen der Gesprächspartner; die Gesprächsrollen sind aufgrund der Interessenlage fixiert und nicht, wie etwa beim ersten Typ, beliebig vertauschbar. Eine antagonistische Grundhaltung ist für diesen Typ konstitutiv und darüber hinaus signifikant für die Kommunikationshaltung allgemein in der modernen westlichen Gesellschaft. Der dritte Typ ist durch Erkundungsstreben und Kooperationsbereitschaft geprägt; er gliedert sich in drei Untertypen: „3.1. dialogue de re-découverte ( . . . ) ; 3.2. dialogue de recherche ( . . . ) ; 3.3. dialogue d'exploration et de problématisation ( . . . ) " (Bonfantini 1989, 142). Beim ersten Untertyp geht es um die Bestätigung einer These, deren Wahrheit im dialogischen Argumentieren (aufs neue) erwiesen werden soll, oft in expositorischer Manier. Beim zweiten Untertyp geht es um ein Abwägen von möglichen Deutungen und Lösungen einer genau umschriebenen Problemlage; es ist der im engeren Sinne wissenschaftliche Diskurs. Der dritte Untertyp stellt Meinungen und akzeptierte Lösungen in Frage, analysiert Zusammenhänge und sucht nach einem neuen Verständnis eines (alten) Problems; es ist der im eigentlichen Sinne philosophische Diskurs als sprachliches Vehikel der Erkenntnis. 2.2

Literaturwissenschaftliche Positionen in der Gesprächsforschung

2.2.1 G. Bauers Vorschlag Einen weiteren Bereich der Auseinandersetzung mit Gesprächstexten bildet die Literaturwissenschaft. In einer ersten fokussierenden Darstellung „Zur Poetik des Dialogs" stellt G.Bauer (1969, 5) fest: „Wo aber die Leistung des Gesprächs in der

11. Dialog-Typologie

207

Literatur thematisch wird, da wird sie ähnlich wie in der Philosophie prinzipiell und mit wertendem Akzent herausgestellt, vor allem wird ,Das Dialogische' in pauschaler Verallgemeinerung gegen alles .Monologische' ausgespielt. Vergleichende und historische, vor allem formgeschichtliche Arbeiten fehlen auf diesem Gebiet fast völlig." G. Bauer entwirft eine typologische Skizze, in der es ihm bezogen auf einen historischen Horizont, um die Herausstellung von vier Typen (I—IV) geht:

Literarische Gesprächsformen I „aufgabenorientiert" „vom individuellen Willen der Partner bestimmt"

I IV „absichtslos" „von Gemeinsamkeit bestimmt" Konversation

III

gegensätzlicher Umgangsstil

ι ι

„experimentierendes" „dialektisches" Gespräch

I „gesellige" Konversation

I „gesellschaftliche" Konversation

I II

„gebundene" „offene" „formvoll geschlossene" „formablehnende Gesprächsform impulsive" Gesprächsform

Es ist mit diese Skizze keine trennscharfe Typendefinition angestrebt; sie hat lediglich heuristischen Wert. In historischer Perspektive können die Werke der französischen Dramatiker des 17. Jh. als mustergültig für die .gebundene Gesprächsform' angesehen werden; der reflektierte und disziplinierte Austausch zwischen prinzipiell gleichberechtigten Gegnern mit gleichem geistigen Hintergrund und Ausdrucksmöglickeiten ist für sie kennzeichnend. Der Gegentyp, das offene, impulsive Gespräch, ist in Deutschland zum erstenmal im Sturm und Drang ausgebildet. Der dritte Typ ist durch eine gemeinsame Bemühung beider Gesprächspartner charakterisiert, die ein Fundament der Verständigung suchen und herstellen. Das künstlerisch gestaltete Gespräch stellt eine besondere literarische Gattung mit vielfältiger Ausprägung und langer Tradition dar (vgl. Hirzel 1895). Er hat seine mustergültige Ausprägung in den platonischen Dialogen gefunden; in der deutschen Literatur ist Kleist ein klassischer Vertreter. Die Konversation (IV) leitet sich als Lebensform und als literarische Kunstform vom französischen Kulturleben des 17. Jh. her; am vollständigsten ist sie als Gruppengespräch bei den deutschen Romantikern ausgebildet. Bewußt nicht berücksichtigt werden in diesem typologischen Entwurf: praktisches, sachbezogenes Miteinander-Sprechen; publikumsbezogene Diskussionen (z.B. Podiums-Diskussion); Formen des satirischen, grotesken und abnormen Gesprächs.

F. Hundsnurscher

208

In Auseinandersetzung mit Bauers Vorschlag vertritt W. Haug (1984, 255) die Position, daß die personale Beziehung als zentraler Aspekt des Dialogischen - „das Dialogische als Grundform menschlichen Miteinanders, das Gespräch als Weg zum Ich über das Du" - in einer solchen Typologisierung zu kurz komme. Modellhaft sei der grundlegende Widerspruch von Distanzierung und Verbindung im mystischen Dialog, der sich vorzugsweise des Musters des erotischen Dialogs bedient, aufgehoben. 2.2.2 Klaus L. Berghahns Beschreibungen Nach Hegel (1965, 527) gilt: „Die vollständige dramatische Form ist der Dialog." Berghahn weist nach, daß demgegenüber der aristotelische Handlungsbegriff für alle Dramentheorien bis hin zur Goethezeit bestimmend war; auch in der durch die französische Klassik vermittelten Auslegung bis Gottsched (1742) geht es in erster Linie um die sprachliche Einkleidung einer Fabel, durch die ein moralischer Lehrsatz auf eine sinnliche Art eingeprägt werden soll. Erst bei August Wilhelm Schlegel finden sich Anfänge einer Überwindung dieser Tradition und eine auch der inzwischen geübten Dramenpraxis entsprechende Theorie des Sprechdramas: das Drama ist die „Vorstellung einer Handlung durch Gespräche ohne alle Erzählung" (1966, 30). Aus dramatischer Situation ergeben sich Wechselreden mit dem Schein augenblicklicher Entstehung (Berghahn 1970). Kategorien aus der aktuellen sprachwissenschaftlichen Diskussion - vor allem H. Brinkmann aufgreifend (Dialoghorizont: Vorwissen der Personen; Dialogsituation: Umstände des Gesprächs; Dialogzusammenhang: Faktoren der Redeverkettung) gelangt Berghahn zur Unterscheidung einer Reihe von „Formen der Dialogführung" an denen Schillers dramatische Meisterschaft besonders sichtbar wird: 1. Der Berichtsdialog 2. Der Meldedialog 3. Das Verhör 4. Der Erörterungsdialog 5. Der Überredungsdialog 6. Der Streitdialog Mit dieser Liste ist keine umfassende Bestandsaufnahme von Dialogmustern angestrebt, aus denen sich Schillers Dramen etwa zusammensetzen, sondern lediglich das Aufzeigen einer Palette markanter dialogischer Gestaltungsmöglichkeiten.

3.

Sprachwissenschaftliche Konzepte

3.1

H. Brinkmanns Entwurf

Im Zusammenhang einer gestalt- und leistungsbezogenen Sprachbetrachtung als Grundlage einer grammatischen Gesamtdarstellung des Deutschen bezieht H. Brinkmann in der 2. Auflage seines Hauptwerks „Die deutsche Sprache. Gestalt und Lei-

11. Dialog-Typologie

209

stung" (1971) auch das Gespräch in seinen Reflexionshorizont ein. Er unterscheidet in einem ersten Entwurf zwischen „Kontaktgesprächen", „gerichteten" Gesprächen und „pluralistischen" Gesprächen. Sein Gliederungsvorschlag kann schematisch etwa so wiedergegeben werden: Gespräche

Kontaktgespräche

Einkauf

Gerichtete Gespräche

Auskünfte

Pluralistische Gespräche

unterschiedliche Auffassungen harmonisieren

zu einer Entscheidung kommen

Wegaus- Verkehrs- Verneh- Priifungs- Mei- DisPodiums- De- Pariakunft informa- mung gespräch nungs- kussion disbatte mentstion Verhör Interview auskussion beratausch tung

Ver- Konhand- ferenz lung

Kontaktgespräche entstehen in den Lebensgemeinschaften der Familie und des Berufs; sie variieren mit der wechselnden Beschäftigung, sind ihrem Inhalt und Verlauf nach nicht vorhersehbar, bleiben offen. „Gruß und Abschied sind die sprachlichen (und außersprachlichen) Grenzsignale für ein Kontaktgespräch" (Brinkmann 1971, 869). Gerichtete Gespräche kommen zustande, weil einer der Gesprächsteilnehmer (offen oder verdeckt) ein bestimmtes Ziel verfolgt. Das Ziel wird erreicht, wenn am Ende ein Ertrag steht; die Rollen sind auf die Partner in bestimmter Weise verteilt. Zur Charakterisierung der einzelnen Erscheinungsformen führt Brinkmann inhaltliche, situative, institutionelle und soziale Faktoren an; so unterscheidet sich etwa eine Sprechstunde durch ihren persönlichen Charakter von einer Vernehmung oder einem Verhör, bei dem die Auskunft durch eine Instanz gefordert wird. Das Prüfungsgespräch ist durch einen „externen Kommunikationszweck" charakterisiert, ähnlich wie das Interview, in dem jemand „für die Öffentlichkeit" befragt wird. Bei den pluralistischen Gesprächen geht es bei den harmonisierenden Varianten (Meinungsaustausch, Diskussion, Verhandlung) um Wahrheit oder Richtigkeit (Modalität der Information), bei den entscheidungsorientierten um den richtigen Entschluß zum Handeln (Modalität der Realisierung). Es handelt sich hier um eine erste probeweise Sichtung eines neuentdeckten Untersuchungsgebiets.

3.2

Ein sprechwissenschaftlich-didaktischer Ansatz

Reduktionsformen der im ganzen phänomenologisch-heuristisch orientierten Ansätze in Philosophie und Sprachwissenschaft finden sich im didaktischen Umfeld der sog. Sprechwissenschaft wieder, teilweise zusätzlich gespeist von Reminiszenzen an die

F. Hundsnurscher

210

antike Rhetorik, an Bühlers Organonmodell und verbunden mit Kategorien der pädagogischen Psychologie. Stellvertretend für viele andere sei hier ein Schema von W. Kuhlmann (1966) angeführt: Rede I Gespräch

Rede in weiterer Bedeutung

Ansprache

Rede in engerer Bedeutung

Fühlen

Wollen

Kundgeben

Vortrag

Denken

Auslösung

Unterhaltungs- Kampfgespräch gespräch

Lehrgespräch

Fühlen

Denken

Wollen

Bericht

Bemerkenswert an diesem Ansatz ist die Parallelführung von (monologischen) Redearten und (dialogischen) Gesprächsarten, indem man sie zu bestimmten „Seelenkräften" in bezug setzt und diese an die Funktionen des Sprachzeichens nach Bühler zurückbindet. Das Unterhaltungsgespräch ist durch einen „Wir-Charakter" geprägt; sein Verlauf ist bestimmt durch die Vorsorge dafür, daß der Gesprächsstoff nicht ausgeht und Gesprächsklippen umschifft werden; ernste Auseinandersetzungen sollen vermieden werden. In einem Kampfgespräch streben die Teilnehmer danach, „den anderen zu einer bestimmten Handlung zu veranlassen, sei es durch Überzeugen, sei es durch Überreden" (Kuhlmann 1966, 33). Das Lehrgespräch dient der Vermittlung bzw. Ermittlung von Sachverhalten. Sonderarten des Lehrgesprächs bilden das Prüfungsgespräch (Kenntnisse des Prüflings werden ermittelt) und das Interview (ein umgekehrtes Lehrgespräch: „Der ,Schüler', der weniger oder nichts von der Sache weiß, verhält sich als ,Lehrer', indem er fragt und das Gespräch lenkt", Kuhlmann 1966, 35). Die Erwähnung dieses sprachwissenschaftlichen Ansatzes, der gewissen didaktischen Vereinfachungsbestrebungen und Symmetrievorstellungen verpflichtet ist, soll vor allem als Hinweis darauf dienen, daß da Probleme der Gesprächsgestaltung zum genaueren Untersuchungsbereich der Sprechwissenschaft gehören, in deren Zusammenhang auch eine Vielzahl von Gliederungskonzepten erörtert werden.

11. Dialog-Typologie 3.3

211

Neuere linguistische Ansätze

Vor allem seit der .pragmatischen Wende' in den siebziger Jahren hat die Linguistik ihre reduktionistische Sicht auf die Sprache als Strukturkalkül weitgehend überwunden; sie hat sich der Erforschung aller sprachlichen Kommunikationsformen, nicht nur der schriftlichen, zugewandt und sich damit neue, schier unerschöpfliche Forschungsfelder erschlossen. Mit dieser Horizonterweiterung verbindet sich indes vielerorts die Tendenz, nun in das andere Extrem zu verfallen und zugunsten eines rein .phänomenbezogenen' Vorgehens jede aus methodologischen Erwägungen vorgenommene Restriktion des Untersuchungsbereichs und der Analyseaspekte abzulehnen. Durch fortgesetzte Detailbeschreibungen von authentischem Material („intensivierten empirischen Arbeiten", Kallmeyer 1985,335), glaubt man, daß es am Ende gelingen könnte, die wesentlichen typologischen Kriterien herauszuarbeiten und „in einem ,phänomenbezogenen' Theoriebildungsprozeß ( . . . ) durch Abstraktion über dieser Empirie theoretische Konzepte zu gewinnen" (Kallmeyer 1985, 330; vgl. auch Wunderlich 1978, 296).

3.3.1 Das „Freiburger Modell" Das oft thematisierte Bedürfnis nach einer umfassenden ,Kommunikationstypologie' ist nicht nur von einem allgemeinen pragmatischen Ansatz her verständlich, sondern auch aus der Problemlage bestimmter Forschungsprojekte heraus erklärlich (vgl. dazu auch die kurze Übersichtsskizze von Karrer 1991,166-176). So stellte sich ζ. B. für die „Forschungsstelle .Gesprochene Sprache' Freiburg i. Br." des Instituts für deutsche Sprache (gegr. 1966), als sie daran ging, „Texte gesprochener deutscher Standardsprache" aufzunehmen und zu dokumentieren, von Anfang an die Aufgabe, das gesammelte Material irgendwie hantierbar zu machen; auch um bei der Materialgewinnung nicht gänzlich ungezielt zu verfahren, verstand man sich dazu, „nichtsprachliche Kriterien heranzuziehen, um mögliche unterschiedliche Arten der gesprochenen Sprache voneinander abzugrenzen ( . . . ) " und „ ( . . . ) mit deren Hilfe die überwiegende Zahl der Texte gesprochener Sprache in ein übersichtliches Schema einzuordnen ( . . . ) " (Steger 1971,23). In diesem Zusammenhang wurde eine Redekonstellationstypologie entwickelt und sukzessive verfeinert. Es handelt sich also um ein Verfahren, das in erster Linie der praktikablen Sortierung von Textexemplaren gesprochener Sprache (Aufnahmetranskripten) dient, nicht um ein analytisches Klassifikationsverfahren von sprachlichen Handlungsformen. Eine Redekonstellation ist im Rahmen dieses Ansatzes definiert durch die spezifische Ausprägung von hochkomplexen Merkmalen wie: Sprecherzahl; Zeitreferenz; Situationsverschränkung; Rang; Grund der Vorbereitetheit; Zahl der Sprecherwechsel; Themafixierung; Modalität der Textbehandlung; Öffentlichkeitsgrad. Bestimmte Redekonstellationen bilden die Voraussetzung für das Auftreten charakteristischer Textexemplare, z.B. Vortrag, Interview, Diskussion, Erzählung, Un-

212

F. Hundsnurscher

terhaltung usw., die sich ihrerseits durch sprachliche Merkmale voneinander unterscheiden, vor allem durch eine spezifische Verteilung der lexikalischen (Substantive, Adjektive, Konjunktionen) und der syntaktischen Mittel (Satzgefüge, Nebensatzarten, Parenthesen). Dieses Verfahren ist pauschal auf die Erfassung gesprochener Sprache gerichtet und umfaßt dabei auch Gespräche, verfügt aber über keine explizite Methodologie, um der Spezifik von Gesprächen gerecht zu werden. Als paralleler Versuch ist B.Sandigs (1972) Matrixdarstellung gebrauchssprachlicher Textsorten zu sehen, der ebenfalls (monologische) Textsorten und (dialogische) Gesprächsformen gleichzeitig erfaßt (u.a. Interview, Telefongespräch, Diskussion, familiäres Gespräch). Eine weitere Anwendung des ,Freiburger Modells' findet sich bezogen auf argumentative Dialogsorten' bei Κ. H. Jäger (1976). Unter dem Eindruck gezielter Kritik (ζ. B. Mentrup 1977) wandte sich die Freiburger Forschergruppe einem neuen Projekt ,Dialogstrukturen' zu, das den dynamischen Aspekten dialoghaften Geschehens besser gerecht werden sollte (vgl. Lappé 1983, 34). Konzeptbestimmend war die Orientierung an der von der Ethnomethodologie her kommenden amerikanischen Konversationsanalyse (Hymes 1972; Schegloff 1968) und die Konzentration auf die Frage „nach den inhaltlich-verhaltenshaften und ausdrucksseitigen Abläufen und ihrer Struktur" (H. Steger in der Einleitung zu F. J. Berens (1976, 7)). Dies führte zur Etablierung der sogenannten Ablaufmusterhypothese, d.h. zu der Auffassung, daß Dialoge durch bestimmte Verläufe charakterisiert seien und auf dieser Grundlage typologisiert werden könnten (vgl. Schänk 1979). Der Typ wird so durch einen schematischen, nicht immer den statistisch häufigsten, Gesprächsverlauf konstitutiert; abweichende Verlaufsvarianten stellen Subtypen dar. Die Grundfrage, wodurch der Verlauf eines Gesprächs letztlich bestimmt wird, bleibt offen. 3.3.2 Die Skizze von H. Henne/H. Rehbock In ihrer „Einführung in die Gesprächsanalyse" (1982) versuchen H. Henne und H . Rehbock durch Zusammenfassen' relevante Gesprächsbereiche zu erhalten (Henne/Rehbock 1982, 30). Sie gelangen dabei zu der folgenden Bereichsgliederung: Gesprächsbereiche

arbeitsentlastet privat (1) Persönliche Unterhaltung (2) Feier-, Biertisch-, Thekengespräche (3) Spielgespräche

arbeitsorientiert öffentlich (4) (5) (6) (7) (8) (9) (10) (11)

Werkstatt-, Labor-, Feldgespräche Kauf- und Verkaufsgespräche Kolloquien, Konferenzen, Diskussionen Bediengespräche, Interviews Unterrichtsgespräche Beratungsgespräche Amtsgespräche Gerichtsgespräche

11.

Dialog-Typologie

213

Auf Spielgespräche treffen die Kriterien ,privat' und .öffentlich' nur zum Teil zu; von den ,arbeitsorientierten' Gesprächsbereichen sind (4) und z.T. (5) als ,hand-arbeitsorientierend', die übrigen als ,kopfarbeitsorientierend' zu betrachten. Durch die Belegung mittels „zehn kommunikativ-pragmatisch bedeutsamen Kategorien und deren Subkategorien" (Henne/Rehbock 1982, 33) wird es ermöglicht, ein faktisches Gespräch einem Gesprächstyp zuzuweisen; „Gesprächstypen sind somit als kommunikativ-pragmatische Veranschaulichung ( . . . ) der Gesprächsbereiche aufzufassen" (Henne/Rehbock 1982, 32). Die Kategorien, durch die faktische Gespräche typenmäßig charakterisiert werden können, sind im einzelnen die folgenden (Henne/Rehbock 1982, 32f.): 1.

Gesprächsgattungen 1.1 natürliches Gespräch; 1.1.1 natürliches spontanes Gespräch; 1.1.2 natürliches arrangiertes Gespräch; 1.2 fiktives/fiktionales Gespräch; 1.2.1 fiktives Gespräch; 1.2.2 fiktionales Gespräch; 1.3 inszeniertes Gespräch

2.

Raum-Zeit-Verhältnis (situationeller Kontext) 2.1 Nahkommunikation: zeitlich simultan und räumlich nah (face-to-face); 2.2 Fernkommunikation: zeitlich simultan und räumlich fern: Telefongespräche

3.

Konstellation der Gesprächspartner 3.1 interpersonales dyadisches Gespräch; 3.2 Gruppengespräch; 3.2.1 in Kleingruppen; 3.2.2 in Großgruppen

4.

Grad der Öffentlichkeit 4.1 privat; 4.2 nicht öffentlich; 4.3 halb öffentlich; 4.4 öffentlich

5.

Soziales Verhältnis der Gesprächspartner 5.1 symmetrisches Verhältnis; 5.2 asymmetrisches Verhältnis; 5.2.1 anthropologisch bedingt; 5.2.2 soziokulturell bedingt; 5.2.3 fachlich oder sachlich bedingt; 5.2.4 gesprächsstrukturell bedingt

6.

Handlungsdimensionen des Gesprächs 6.1 direktiv; 6.2 narrativ; 6.3 diskursiv; 6.3.1 alltäglich; 6.3.2 wissenschaftlich Bekanntheitsgrad der Gesprächspartner 7.1 vertraut; 7.2 befreundet, gut bekannt; 7.3 bekannt; 7.4 flüchtig bekannt; 7.5 unbekannt

7.

8.

Grad der Vorbereitetheit der Gesprächspartner 8.1 nicht vorbereitet; 8.2 routiniert vorbereitet; 8.3 speziell vorbereitet

9.

Themafixiertheit des Gesprächs 9.1 nicht themafixiert; 9.2 themabereichfixiert; 9.3 speziell themafixiert

10.

Verhältnis von Kommunikation und nichtsprachlichen Handlungen 10.1 empraktisch; 10.2 apraktisch

Mit Hilfe dieser Kriterien, die sich am ,Freiburger Modell' orientieren und offenbar ebenfalls hauptsächlich die Funktion einer Merkmalsmatrix zur Charakterisierung von Gesprächsexemplaren haben, lassen sich nicht nur die Gesprächsbereiche voneinander unterscheiden, sondern auch Gesprächstypvarianten innerhalb der einzelnen Gesprächsbereiche. Die Vielfalt der Unterscheidungskriterien, deren theoretisch-methodologischer Status und analytische Relevanz im einzelnen zu überprüfen wären, ergibt zwar ein deskriptives Raster, aber keine tragfähige Typologie.

214

F.

Hundsnurscher

3.3.3 Ein umfassender Vorschlag zur Gliederung von Kommunikationsformen : D. Holdcrofts Globalskizze Im Rahmen einer Gesamttaxonomie von ,Diskurstypen' (discourse types) liefert David Holdcroft (1979) auch eine Skizze für Gesprächstypen. Er unterscheidet in einem ersten Schritt zwischen dem Sprechen einer Person (unadressiert: Selbstgespräch; adressiert: z.B. Predigt, Verhöhnung, Bericht) und dem Sprechen mehrerer Personen. Als oberstes Kriterium verwendet er die Austauschbarkeit von Sprecher- und AdressaDiscourse type I I More than one person speaks

Only one person speaks

No addressee intended

(A) soliloquize talk to oneself

An addressee intended, but he is not, or may not be, expected to respond verbally

Role of speaker and addressee not interchangeable (E) description report statement

joint

deliver a

(B) disquisition sermon speech oration peroration

(C) malign vilify abuse defame grouse grumble at jeer at scold stigmatize exalt praise glorify

(D) Generalized Illocutionary acts confess describe report explain counsel advise criticize

Role of speaker and addressee interchangeable

chorus pray

Participants' discourse rights unequal

e

1 1 (F) Interests of participants not opposed

(G) Interests of participants opposed

confer consult deliberate discuss converse talk with have a tête-à-tête gossip chat joke with

negotiate debate bargain dispute argue quarrel squabble wrangle have words disagree

I (H) coss-examine interrogate interview question catechize examine grill pump

11. Dialog-Typologie

215

tenrolle (unaustauschbar: z.B. Litanei). Bei Austauschbarkeit der Rollen bildet die Verteilung des Rederechts das Unterscheidungskriterium; Beispiele für ungleiche Verteilung sind Verhör, Prüfung, Interview u. dergl. Bei gleichem Rederecht wird die Interessenlage herangezogen: bei entgegengesetzten Interessen: verhandeln, debattieren, schachern (bargain), disputieren, streiten (argue, quarrel); bei einander nicht widersprechenden Interessen: besprechen, beraten, diskutieren, plaudern, miteinander scherzen (joke with). Holdcroft unternimmt diesen klassifikatorischen Versuch, um die Reichweite und unterschiedliche Geltung der Konversationsprinzipien (Grice 1975) bezogen auf verschiedene Diskurstypen zu überprüfen. Die dyadischen Dialoge sind hier nicht als eigener Bereich abgegrenzt, sondern unter die Mehrpersonengespräche subsumiert. Man findet bei Holdcroft eine klare Argumentation für den methodologisch selbständigen Status einer ,Diskurs'-Einheit neben dem ,Sprechakt' als der grundlegenden Kommunikationseinheit. Er unterscheidet zwischen (individuellem) Kommunikationszweck und (gemeinsamem) Gesprächs-Zweck: „Whether or not they reach agreement the speech act sequence is unifiable by reference to a common purpose" (Holdcroft 1979, 126). Auch die Heranziehung des Kriteriums der Interessenlage verbindet Holdcrofts Vorschlag mit den unten angestellten Überlegungen zum SprechhandlungsAnsatz. Seinen Gliederungsvorschlag illustriert Holdcroft mit Listen von Sprechhandlungsverben, die auf die entsprechenden sprachlichen Aktivitäten verweisen.

4.

Der Sprechhandlungs-Ansatz

4.1

Anforderungen an eine analytische Dialog-Typologie

Von den Wesensbestimmungen philosophischer und literaturwissenschaftlicher Gliederungsentwürfe und von den Sortierungs- und Katalogisierungsinteressen empiriefixierter Materialsammlungen und -Untersuchungen sind die Interessen einer analytischen Dialog-Typologie deutlich zu unterscheiden. Es kann nicht darum gehen, das Eigentliche des ,echten' Gesprächs zu bestimmen oder beliebiges authentisches Gesprächsmaterial nach teils inner-, teils außersprachlichen Merkmalen zu ordnen, sondern es müssen dialogspezifische Kriterien analytisch erarbeitet werden, die für die Kommunikationsform Dialog konstitutive Momente betreffen und die die verschiedenen Erscheinungsformen dialogischen Sprechens adäquat und vollständig zu erfassen und zu gliedern erlauben. Darum ist es erforderlich, den verschwommenen Blick, der ,alles Gesprochene' gleichzeitig einzufangen versucht, auf einzelne Formen zu fokussieren, diese genauer zu bestimmen und von anderen abzugrenzen, in diesem Fall auf den dyadischen Dialog, d. h. auf die kommunikative Interaktion zweier Sprecher, als dem grundlegenden Paradigma allen Sprechens. Das ist ohne strenge methodologische Restriktionen und begrifflich-analytische Vorarbeiten nicht zu leisten. Es geht also zunächst darum,

F. Hundsnurscher

216

.Dialoge' als einen begrifflich bereinigten und in gewisser Hinsicht eigenständigen Untersuchungsbereich abzugrenzen und als spezifischen Teil einer allgemeinen Kommunikationstypologie darzustellen. Nach der Klärung der internen Struktur dieses Bereichs müßte allerdings auch versucht werden, die Zusammenhänge, die zwischen diesem Bereich und den anderen Kommunikationsformen bestehen, zu klären und explizit zu machen. ,Dialoge' bilden im Gesamt der sprachlichen Kommunikationsformen einen Untersuchungsbereich, der auf der einen Seite abzugrenzen ist gegen den Bereich der Sprechakte (das kommunikative Handeln eines Sprechers), und der auf der anderen Seite übergeht in die Bereiche komplexerer Kommunikationsformen wie Mehr-alszwei-Personen-Gespräche - und längere monologische ,'Texte'. Das grundlegende Problem einer Dialog-Typologie ist auf diesem Hintergrund präziser dahingehend zu bestimmen, die dyadischen Dialoge zwischen einem Sprecher 1 und einem Sprecher 2 als eine besondere, in sich differenzierte Klasse von Kommunikationsformen darzustellen und ihre interne Organisation zu beschreiben. Es liegt nahe, sich bei der analytischen und klassifikatorischen Arbeit von den Erfahrungen leiten zu lassen, die bei der Klassifikation der individuellen, aus dem Gesprächszusammenhang isolierten Sprechakte und bei den verschiedenen Versuchen, Gespräche und Texte zu klassifizieren, gemacht worden sind. Das Verbindende der Reihe Sprechakte - (dyadische) Dialoge - komplexe Mehrals-zwei-Personen-Gespräche - längere monologische Texte besteht aus der Sicht einer pragmatischen Linguistik darin, daß sie in gleicher Weise als Formen sprachlichen Handelns aufzufassen sind. Entsprechend werden die Kriterien, die bei ihrer Charakterisierung und Typologisierung eine Rolle spielen, generell dem Repertoire der Analysekategorien sprachlicher Handlungen zu entnehmen sein. Neben dem Handlungszweck als dem obersten Kriterium für die Handlungscharakteristik kommen vor allem die Handlungsbedingungen (situative Umstände) und die Handlungsmittel (sprachliche Äußerungsformen) als die konstitutiven Komponenten sprachlicher Handlungen in Frage. Eine sprachliche Handlung ist dadurch charakterisiert, daß ein Sprecher mit einer spezifischen Äußerungsform unter bestimmten situativen Umständen einen kommunikativen Handlungszweck erreichen will. Eine Klassifikation sprachlicher Handlungsformen wird sich dieser konstitutiven Komponenten als grundlegender typologischer Kriterien bedienen müssen.

4.2

Zum Zusammenhang von Sprechakt und Dialog

Searle bestimmt den Sprechakt als die Einheit sprachlicher Kommunikation schlechthin: „The production or issuance of a sentence token under certain conditions is a speech act, and speech acts ( . . . ) are the basic or minimal units of linguistic communication" (Searle 1969, 16). Diese Auffassung steht in der aristotelischen Tradition, nach der der einzelne Mensch das Prinzip des Handelns ist (Aristoteles (hrsg. von G. Bien) 1972, 53): „Der Mensch ist also, wie gesagt, Prinzip der Handlungen", und reflektiert die klassische Form des Handelns - die der praktischen Individualhandlung: ein

11. Dialog-Typologie

217

Handelnder, der mittels einer bestimmten Aktivität ein individuell gesetztes Ziel anstrebt. Sprachliche Kommunikation, als Handeln betrachtet, steht gegenüber den einfachen Formen praktischen Handelns unter spezifischen Zusatzbedingungen: Der sprachlich Handelnde bedarf eines Partners; sein Handeln ist an einen (in der Regel) menschlichen Adressaten gerichtet, und der Erfolg dieses (sprachlichen) Handelns ist weitgehend an die (intentionale) Reaktion des Partners gebunden, d.h. er stellt sich nicht als eine durch ein Tun ausgelöste kausaldeterminierte Folge, sondern seinerseits als Folge des zweckrationalen Handelns eines andern ein (vgl. von Wright 1974; Meggle 1990). Um der Spezifik sprachlichen Handelns in Gesprächen gerecht zu werden, kommt man nicht umhin, Dialogizität als konstitutives Moment von Sprache anzuerkennen (vgl. Weigand 1989). Gegenüber der kommunikationstheoretischen Sender-Empfänger-Konstellation oder der für die Sprechakttheorie typischen Konstellation Sprecher-Hörer ist die dialogtheoretische Konstellation als „Sprecher 1-Sprecher 2-Interaktion" zu bestimmen. Dialoge in dem hier präparierten Sinn setzen sich aus Sprechakten zweier sprachlich Handelnder zusammen, d.h. sie sind Sprechaktsequenzen, in denen Sp 1 und Sp2 abwechselnd aufeinander bezogene Sprechakte vollziehen, wobei sie gemeinsam handelnd individuelle Ziele verfolgen.

4.3

Eine Typologie minimaler dialogischer Sprechaktsequenzen

Für eine Typologie der Sprechakte hat Searle als oberstes Kriterium die Illokution, d. h. die spezifische Handlungscharakteristik des einzelnen Sprechakts, herangezogen. Auch bei der sprachlichen Interaktion, von der man im Falle dialogischer Sprechaktsequenzen ausgehen muß, bleibt die jeweilige Zielorientierung der einzelnen Sprecher als handlungsspezifisches Moment erhalten. Es ist also zunächst die Möglichkeit zu untersuchen, in Anlehnung an Searles Illokutionstypologie eine Typologie von Dialogen, hier verstanden als dialogische Sprechaktsequenzen, aufzustellen. In der Tat eröffnet sich eine Möglichkeit, so zu verfahren, wenn man den initialen Sprechakt als die dominierende Instanz auffaßt, die den Zusammenhang der Sequenz bestimmt. Der (initiale) Sprechakt von Sp 1 legt sozusagen den intentionalen Rahmen für die Sequenz fest, mit ihm gibt der Sprecher sein Handlungsziel zu erkennen : ζ. Β. im Falle einer Behauptung, daß der andere ihm Glauben schenken möge; im Falle einer Aufforderung, daß der andere sich zur Ausführung der gewünschten Handlung bereit finde ; im Falle eines Versprechens, daß der andere sich darauf verlassen möge ; im Falle einer Gefühlsäußerung, daß der andere dafür Verständnis zeige. Innerhalb dieses Rahmens werden die nachfolgenden (reaktiven) Sp2-Sprechakte von S p i danach beurteilt, ob sie im Hinblick auf das Handlungsziel von S p i kontributiv, d.h. dem angestrebten kommunikativen Handlungsziel dienlich sind oder nicht. Die Kohärenz einer Sequenz bestimmt sich ebenfalls von da her, d. h. ob ein Sprechakt sich in die Zielorientierung der Sequenz einfügt und sie weiterführt oder sie unterbricht und auflöst. Eine wesentliche Voraussetzung für die Konstruktion dialogischer Sprechaktsequenzen ist eine explizite Charakterisierung möglicher reaktiver Züge (vgl. Franke 1981; 1990; Frilling/König 1991).

218

F. Hundsnurscher

I. Basissystem Auf dieser Basis - sie entspricht im wesentlichen der Insistieren-Sequenz (vgl. Hundsnurscher 1976; 1980; Franke 1983) - läßt sich eine Systematik dialogischer Sequenzen entwickeln, die man als eine einfache formale Typologie von Minimaldialogen betrachten kann. Folgende Typen minimaler dialogischer Sequenzen lassen sich unterscheiden (ISPA = initialer Sprechakt): 1.

ISPA

2.

ISPA->• NEG. BESCHEID

POS. BESCHEID RESIGNIEREN

3.

ISPA NEG. BESCHEID (= POS. BESCHEID)

INSISTIEREN

4.

ISPA—»NEG. BESCHEID-> INSISTIEREN->NEG. BESCHEID (, Aufstecken') - » RESIGNIEREN

5.

ISPA—>NEG. BESCHEID-> INSISTIERENNEG. BESCHEID —» INSISTIEREN «

NACHGEBEN

Die Systematik umfaßt also vier „geschlossene" und ein „offenes" Muster. Hat S p i auf seinen initialen Sprechakt hin einen positiven Bescheid erhalten („ Kommst du mit ins Kino ? " - „Ja ". ) so hat er sein intendiertes Handlungsziel erreicht, der von ihm gewünschte perlokutionäre Effekt seines sprachlichen Handelns, nämlich, daß sein Partner Bereitschaft signalisiert, ist erreicht. Die Sequenz hat damit ihren (kommunikativen) Abschluß gefunden und ist insofern auch wohlgeformt. Das G e n f e r Dialogmodell (Moeschier 1985; Egner 1988) geht von einer minimalen Trias als Grundmuster einer Dialogsequenz aus: ISPA - BESCHEID - HONORIER U N G des Bescheids. Diese Auffassung ist analytisch durchaus gerechtfertigt und wird auch manchen authentischen Verläufen unmittelbar gerecht. Sie läuft aber auf eine zusätzliche Wohlgeformtheitsbedingung f ü r Minimaldialoge hinaus, nämlich, d a ß auf jeden Sprechakt eine H O N O R I E R U N G zu erfolgen habe, und birgt so in sich die G e f a h r einer rekonstruktiven Proliferation. Von einer Trias geht auch die sog. Britische Diskursanalyse aus (Sinclair/Coulthard 1975); dabei wird als Kernstruktur ein „Exchange" als dreizügige Sequenz angesetzt: Hier dürfte die Trias sich aus den Kommunikationsgewohnheiten eines bestimmten (frontalen) Unterrichtsstils erklären. II. Erweiterung des Basissystems Dieses Grundsystem kann dadurch eine Variation und Erweiterung erfahren, daß auf den initialen Spechakt ein nicht-definitiver (z.B. .aufschiebender') Bescheid erfolgt, d . h . eine Reaktion des Partners, aus der f ü r S p i nicht klar hervorgeht, ob er sein Handlungsziel, einen definitiv positiven Bescheid von S p 2 zu erhalten, erreicht hat. Erst auf dem Hintergrund einer Klärung erfolgen definitive Bescheide. 1.

ISPA - » INDEF. BESCHEID (z.B. NACHFRAGE) -> KLÄRUNG - » POS. BESCHEID

2.

I S P A I N D E F . BESCHEID (z.B. NACHFRAGE) - RESIGNIEREN

11.

219

Dialog-Typologie

3.

ISPA—»INDEF. BESCHEID (z.B. NACHFRAGE) —» KLÄRUNG —» NEG. BESCHEID -> INSISTIEREN NACHGEBEN

4.

I S P A I N D E F . BESCHEID (z.B. NACHFRAGE) ->KLÄRUNG-> NEG. BESCHEID INSISTIEREN NEG. BESCHEID -> RESIGNIEREN (.Aufstecken')

5.

ISPA —» INDEF. BESCHEID (z.B. NACHFRAGE) —» KLÄRUNG —» NEG. BESCHEID -> INSISTIEREN-> NEG. BESCHEID-> INSISTIEREN

Es gibt auch hier vier geschlossene und einen offenen Sequenztyp. Ein Beispiel für den Sequenztyp 11,2. könnte sein: (1) (a) „Ich lade dich zu einer Fahrt mit der Achterbahn ein." - (b) „Hast du auch genug Geld dafür?" - (c) „Aber ja." - (d) „Ich lasse es besser doch bleiben; mir wird so leicht schlecht." - (e) „Dann eben nicht; ich wollte dir nur eine Freude machen." Spi

Sp2

(a) ISPA

(c) KLÄRUNG

(b) NACHFRAGE

(e) RESIGN.

(d) NEG. BESCH.

Da bei jeder Interaktion gegensätzliche Interessen im Spiel sein können, ist eine direkte Reaktion oft wegen Informationsmangel nicht möglich oder sie ist mit einer Imagegefährdung (Goffman 1967) verbunden. Deshalb besteht gewissermaßen die Möglichkeit einer ,klärenden Schleife'. Die erfolgte Klärung kann in die Richtung eines positiven Bescheids führen, aber auch eines negativen. Entsprechend kann der indefinite Bescheid auch den Versuch darstellen, einem Interessenkonflikt auszuweichen. Eine explizite Rekonstruktion der Sequenzmöglichkeiten hängt von einer genaueren Spezifikation der Systematik zweiter (und weiterer) Züge ab (vgl. Frilling/ König 1991). III. Variation und Erweiterung des Basissystems In ähnlicher Weise wird das Grundsystem variiert und erweitert, wenn Sp2 auf den initialen Sprechakt mit einer Gegeninitiative reagiert, ζ. B. auf eine Frage eine Gegenfrage stellt, einer Behauptung eine Gegenbehauptung entgegensetzt oder einem Vorwurf einen Gegenvorwurf (GEGIN-SPA = gegeninitiativer Sprechakt). 1.

ISPA —» GEGENINITIATIVER SPA - » POS. BESCHEID

2.

ISPA -> GEGIN-SPA -> NEG. BESCHEID

3.

I S P A G E G I N - S P A —»NEG. BESCHEID->INSISTIEREN-»NACHGEBEN

4.

ISPA -»· GEGIN-SPA - » NEG. BESCHEID -> INSISTIEREN NEG. BESCHEID

5.

I S P A G E G I N - S P A - > NEG. BESCHEID -> INSISTIEREN — NEG. BESCHEID INSISTIEREN

RESIGNIEREN

220

F. Hundsnurscher

Im ersten Fall bedeutet ein positiver Bescheid von Sp 1, daß er sein ursprüngliches Handlungsziel aufgibt und sich dem Handlungsziel von Sp2 anschließt; die Initiative geht in diesen Sequenzen sozusagen auf Sp 2 über mit den systematischen Möglichkeiten von I und II als Fortsetzungsfolgen. Der letzte Sequenztyp ist ebenfalls wieder offen; es kann zum Abbruch der Kommunikation kommen oder zum Anschluß andersartiger Sequenzformen, ζ. B. zu Streitsequenzen. Es besteht auch die Möglichkeit einer Kombination von II und III. Ein Beispiel für eine solche Kombinationssequenz könnte sein: ISPA: „Dieses Mal sollten wir unsere Ferien in Spanien verbringen." GEGIN-SPA: „Ich meine, wir sollten lieber nach Schweden fahren." NEG. BESCHEID: „Nein, nach Schweden fahre ich auf keinen Fall." NACHFRAGE: „Was hast du eigentlich gegen Schweden?" KLÄRUNG: „In Schweden gibt's zu wenig Sonne." INSISTIEREN: „Es wird dir gefallen in Schweden, auch bei weniger Sonne ; da sollten wir hinfahren." NACHGEBEN: „Meinetwegen; wenn dir soviel daran liegt." In diesen Bahnen können einfache dialogische Sprechaktsequenzen (Minimaldialoge) prinzipiell verlaufen; auf die vielfältigen kombinatorischen Möglichkeiten soll hier nicht weiter eingegangen werden. 4.4

Illokutionsspezifische dialogische Sprechaktsequenzen

Die typologische und deskriptive Brauchbarkeit der Sequenzmuster I—III kann dadurch erhöht werden, daß dem ISPA eine spezifische Handlungscharakteristik (Illokution) unterlegt wird. Auf dieser Basis könnte, wenn man die Illokution des initialen Sprechakts nach Searles Globaltaxonomie festlegt, von repräsentativ, direktiv, kommissiv, expressiv und möglicherweise auch deklarativ orientierten dialogischen Sequenztypen die Rede sein. Allerdings sind diese Globalillokutionen noch genauer zu spezifizieren, wenn sie auf dialogische Sprechaktsequenzen anwendbar sein sollen, wie sie in der Alltagskommunikation vorkommen, d.h. es ist jeweils von bestimmten illokutionären Subtypen auszugehen. (Zum Problem der Untermustersystematik der globalen Sprechakttypen Searles vgl. Hindelang (1978), Zillig (1982), Rolf (1983), Graffe (1990), Marten-Cleef (1991).) Dabei würde eine empirische Überprüfung möglicherweise ergeben, daß z. B. eine BITTE zu längeren und variantenreicheren Sequenzen Anlaß geben kann als ein BEFEHL oder eine BESTELLUNG in initialer Position. Ähnliches gilt für Repräsentativa. Eine BEHAUPTUNG kann in höherem Maße Anlaß zu längeren und variierenden Sequenzen sein als etwa eine KONSTATIERUNG; dies gilt auch für die Kommissiva und Expressi va. Einige Typen initialer Sprechakte sind in besonderer Weise sequenzkonstituierend. So läßt sich etwa an -

eine BEHAUPTUNG eine ARGUMENTIEREN-Sequenz, an ein ANGEBOT eine AUSHANDELN-Sequenz,

11.

-

221

Dialog-Typologie

an einen VORSCHLAG eine VORSCHLAG-PRÜFEN-Sequenz, an eine AUFFORDERUNG eine DURCHSETZEN-Sequenz, an eine RATFRAGE eine PROBLEM-LÖSEN-Sequenz anschließen usw.

Es gibt daneben Sprechhandlungstypen wie den VORWURF, die Anlaß für eine RECHTFERTIGEN-Sequenz sein können, oder die verschiedenen Arten des BEWERTENS, die zu verschiedenen BEGRÜNDEN-Sequenzen führen können. Diese Sprechakttypen und ihre Folgeverläufe verbieten es, eine Taxonomie der dialogischen Sprechakt-Sequenzen zu eng an eine Taxonomie der Untermuster der globalen Sprechakttypen anzuschließen oder gar mit ihr zu identifizieren. Die systematischen Gestaltungsmöglichkeiten einer Sequenz, die auf einem illokutionsspezifischen Initialsprechakt basiert, sind bisher noch unzureichend erforscht; erste Versuche finden sich bei Fritz/Hundsnurscher (1975); Falkenberg (1979) für die VORWURFinitiierten Sequenzen; bei Fritz (1982) für die VORSCHLAG-initiierten Sequenzmöglichkeiten bei gemeinsamem Planen. Mit gewissen Einschränkungen können die Darstellung eines Argumentationszusammenhangs bei Toulmin (1958) und die Analyse des Aushandelns (Bargaining) bei Kelly (1966) als Vorstudien für BEHAUPTUNG-initiierte bzw. für ANGEBOT-initiierte Sequenzmöglichkeiten herangezogen werden. 4.5

Eine Typologie auf der Grundlage der Interessenlage beider Sprecher

Dem Typologisierungsansatz, der sich am initialen Sprechakt einer Sequenz mit dominierender Handlungscharakteristik orientiert, läßt sich eine andere Möglichkeit einer umfassenden Dialog-Typologie gegenüberstellen. Nimmt man den Unterschied von Individualhandlung (Aktion) und Gemeinschaftshandlung (Interaktion) ernst, so ist man gehalten, nicht so sehr auf das Handlungsziel eines Sprechers und dessen endlicher Durchsetzung oder Nichtdurchsetzung zu achten, wie dies für die eben behandelten Dialog-Sequenzformen gilt, sondern auf das Zusammenspiel der Handlungsintentionen beider Sprecher. Als Unterscheidungskriterien werden also nicht in erster Linie individuelle Sprecherziele, sondern die allgemeine Interessenlage und Verständigungsbereitschaft der beiden Sprecher angesetzt. Dies ergibt auf einer ersten Ordnungsstufe eine Einteilung in Dialoge mit konvergentem und mit divergentem Verständigungsinteresse. Dialoge

bei konvergenter Interessenlage

bei divergenter Interessenlage

Innerhalb dieser beiden Typen lassen sich wiederum bestimmte Zusatzbedingungen für die Interessenkonstellationen unterscheiden: Es gibt bei konvergenter Interessen-

222

F. Hundsnurscher

läge Dialoge, bei denen das kommunikative Interesse unausgewogen ist, und solche, bei denen es (einigermaßen) ausgewogen ist; man kann auf diesem Hintergrund suppletive von kontributiven Dialogen unterscheiden. Beispiel für den suppletiven Typ sind Auskunftsdialoge, Belehrungsdialoge und Beratungsdialoge; sie sind dadurch charakterisiert, daß der eine Partner zur Erreichung seines kommunikativen Handlungsziels in hohem Maße auf die Hilfe des anderen angewiesen ist; die Handlungsmöglichkeiten sind ungleich verteilt - der eine möchte etwas erfahren, der andere kann es ihm sagen und tut es auch. Franke (1990) spricht in diesem Zusammenhang von einem komplementären Verhältnis und von verschiedenartigen Defiziten (kognitiv, praktisch, emotiv-psychisch), deren Behebung der jeweilige charakteristische Handlungszweck dieser Dialogtypen ist. Beispiele für den kontributiven Typ sind Planungsdialoge, Beratschlagungsdialoge und Meinungsaustauschdialoge; sie sind dadurch charakterisiert, daß beide Partner ein gemeinsames Ziel anstreben und beide in etwa gleichermaßen in der Lage sind, zur Erreichung des kommunikativen Handlungsziels beizutragen; beide sind gemeinsam an der Erarbeitung eines Plans, einer Handlungsentscheidung, einer einheitlichen Lageeinschätzung usw. interessiert. Hinsichtlich von Dialogen bei divergenter Interessenlage der Gesprächspartner lassen sich ebenfalls zwei Gruppen unterscheiden, je nach Verständigungsinteresse: transigente Dialoge und intransigente Dialoge. Beispiele für den transigenten Typ sind die verschiedenen Arten von Verhandlungen und vor allem die Aushandlungsdialoge. Beide Partner haben ihren eigenen Vorteil im Auge, sind aber zur Wahrung ihrer eigenen Interessen gezwungen, mit Hilfe von modifizierten Vorschlägen und Gegenvorschlägen einen für beide Seiten tragbaren Kompromiß anzusteuern. Wenn jeder auf der Erfüllung seiner Vorstellungen ohne Abstriche beharrt, kommt kein Abschluß zustande; der Gesprächszweck wird verfehlt. Beispiele für den intransigenten Typ sind Disziplinierungsdialoge, Bekehrungsdialoge und die verschiedenen Streitformen (Meinungsstreit, Anspruchsstreit, Beziehungsstreit); sie sind dadurch charakterisiert, daß der eine Gesprächspartner sein kommunikatives Handlungsziel gegen den Widerstand seines Gesprächspartners zu erreichen versucht, ob es nun um die kompromißlose Durchsetzung eines Befehls, einer religiösen oder politischen Überzeugung, eines Anspruchs auf Besitz oder Nutzung einer Sache oder einer bestimmten Beziehungsdefinition geht. Es ist möglich, mit Blick auf das Vorkommen solcher Dialoge in der Alltagskommunikation, weitere Untergliederungen vorzunehmen, indem man beispielsweise die Art der Thematik als Kriterium heranzieht. Mit Franke (1990) kann man etwa im Bereich der suppletiven Dialoge die Art des zu behebenden Defizits als Kriterium heranziehen, und man erhält dann Dialoge, die der Behebung eines Wissensdefizits (Informationsvermittlungsdialoge) oder eines Defizits in praktischer Handlungserfahrung (Anleitungsdialoge) oder bei gefühlsmäßiger Desorientierung eines Defizits an emotionaler Stabilität dienen (Tröstungsdialoge). Abgesehen von der Schwierigkeit der Abgrenzung und genauen inhaltlichen Bestimmung dieser thematischen Bereiche scheint eine strikte Anwendung dieser Krite-

11. Dialog-Typologie

223

rien in den anderen Gruppen nicht ohne weiteres möglich zu sein. (Vgl. dagegen die weiterführenden Versuche bei Franke 1986 und Franke 1990.) Die interessenbasierten Dialogtypen lassen sich in einem Schema folgendermaßen darstellen: Dialoge

bei divergenter Interessenlage von Spi und Sp2

bei konvergenter Interessenlage von Spi und Sp2

suppletive Dialoge

Informa- Anleitungs- Stabiiitionsdia- dialoge sierungsloge dialoge

kontributive Dialoge

transigente Dialoge

BestärWahrheits- Beratschlagungs- kungsfindungsdialoge dialoge dialoge

Aushandlungsdialoge

intransigente Dialoge

Bekehrungsdialoge

Durchsetzungsdialoge

Diese neun zweckorientierten Dialogtypen bilden die Grundlage für die Erforschung davon abzugrenzender und weiter zu differenzierender Kommunikationsformen (z. B. Mehr-als-zwei-Personen-Gespräche, literarische Gattungen und Genres, MedienKommunikation) .

5.

Offene Forschungsprobleme

5.1

Das Problem einer generellen Einteilung der Kommunikationstypen

Die Versuche einer generellen Einteilung der Dialoge stoßen auf gewichtige Vorbehalte in der wissenschaftlichen Diskussion. Die Übertragbarkeit des obersten Klassifikationskriteriums für sprachliche Handlungen, nämlich des Handlungszwecks (purpose), auf Kommunikationsformen, die die Sprechaktgrenze überschreiten oder bei denen keine durchgehende Sprecherintention vorliegt wie bei monologischen Texten, wird in Zweifel gezogen. Man orientiert sich dabei an der Kommunikationsform „Conversation", dem geselligen Reden in einer Gruppe, und hebt hervor, daß für solche offenen und sprunghaften Interaktionsformen keine eindeutig bestimmbare Zwecksetzung gelte und daß ihre Verläufe daher nicht als regelhaft geordnet betrachtet werden könnten. Einen dezidierten Standpunkt in dieser Frage nimmt J.R. Searle (1986; 1992) ein. Von einer regelhaften Bindung von Folgesprechakten an einen Einzelsprechakt könne nur im Hinblick auf eine äußerst eng begrenzte Klasse die Rede sein; für Behauptungen (assertions) beispielsweise gelte dies nicht und auch kaum für die anderen Illokutionstypen. Da Searle nur von globalen Illokutionstypen her argumentiert, entgeht ihm, daß

224

F. Hundsnurscher

die einzelsprachlichen Dialogsequenzen sich nur auf der Basis von spezifischen illokutionären Subtypen entfalten, z.B. auf der Basis von Bitten, Vorschlägen, Bewertungen usw. Die Feststellung Searles, daß weder auf der Grundlage der Griceschen Konversationsmaximen noch auf der Grundlage der Turntaking-Mechanismen der Konversationsanalyse eine stringente Regelhaftigkeit und ein konsistentes Gliederungskonzept zu erkennen sei, ist keine hinreichende Begründung dafür, daß nicht auf andere Weise Regelhaftigkeit und Gliederungsfähigkeit für Gespräche gegeben sein kann. Ähnlich ist es um die kritischen Einwände von Taylor/Cameron (1987) bestellt, die das Vorhandensein von Einheiten und die Geltung von Regeln auf der Ebene des Gesprächs in Abrede stellen. Sie übersehen, daß ,Einheit' und ,Regel' auf jeder Sprachebene neu zu definieren sind, daß also die Prinzipien der Konstitution von Einheiten z.B. auf der Lautebene andere sein müssen als auf der Bedeutungsebene und daß entsprechend auch das Regelkonzept nicht einfach durchgängig übertragbar ist; die Bedingungen der Wohlgeformtheit von Sätzen sind andere als die Bedingungen der Wohlgeformtheit von Dialogen; dennoch kann es sinnvoll sein, von beider Regelhaftigkeit und Wohlgeformtheit zu sprechen. Gegen diese Position, die typologische Bemühungen im Bereich komplexer Kommunikationsformen von vornherein als aussichtslos beurteilt, ist weiterhin einzuwenden, daß es durchaus zielgerichtete Gespräche (purposeful dialogues) gibt, wie sich anhand von Wegauskünften, Beratungsgesprächen, Verhandlungen, Bekehrungsgesprächen usw. zeigen läßt, d.h. anhand von Kommunikationsformen, die durch bestimmte kommunikative Ziele charakterisiert sind, auf die die Gesprächspartner hinsteuern, wenn sie sich auf ein solches Gespräch einlassen. Zumindest für diese ist eine Typologisierung möglich und, wie gezeigt werden kann, auch aufschlußreich. Die strittige Frage ist, ob die Betrachtung vom Handlungszweck her allen Kommunikationsformen gerecht wird. Der Handlungszweck der sprachlichen Interaktion beruht auf den Handlungszielen der Interaktionspartner und hängt eng mit ihnen zusammen. Als Handlungszweck eines Argumentationsdialogs kann man z.B. den Erweis der Haltbarkeit einer Behauptung ansehen, als Handlungszweck eines Beratungsdialogs das Finden einer gangbaren Lösung usw.; die kommunikativen Handlungsziele der Partner können dabei divergieren - Sp 1 will die Wahrheit seiner Behauptung, Sp 2 deren Falschheit nachweisen - oder konvergieren - Sp 1 will eine Lösung für sein Problem finden und Sp2 ist willens und in der Lage, ihm den Lösungsweg zu zeigen. Beide Partner lassen sich auf den Dialog ein, weil er ihnen geeignet, d.h. zweckhaft erscheint, ihre individuellen kommunikativen Ziele in diesem Rahmen zu realisieren. Die Festlegung des Handlungszwecks eines authentischen Gesprächs ist zugegebenermaßen keine einfache Aufgabe; wie bei allem Handlungsverstehen sind wir auch hier auf hermeneutische Verfahren angewiesen; mit dem Unterstellen und Namhaftmachen eines Handlungszwecks wird eine sprachliche Interaktion in den Rahmen von Zweckrationalität gestellt, d. h. von einem Anfang auf ein Ende hin als rational rekonstruierbarer Zusammenhang bestimmt (Carlson 1984; Meggle 1990, 91). Dieses Rahmenkonzept von sprachlicher Interaktion ist notwendig, um gegenüber den authentischen Textverläu-

11. Dialog-Typologie

225

fen, die durch situative und zeitliche Limitation charakterisiert sind, die zugrundeliegenden Interaktionsstrukturen als die Einheiten analysieren zu können, die die Objekte der Typologisierung sind (,wohlgeformte Dialoge'). Authentische Interaktionen können rekonstruierten Dialogtypen in etwa entsprechen, sind aber selbst keine Typen, sondern eben performanzbedingte Realisierungen von Typen (Gesprächsexemplare). Die direkte Konfrontation von authentischen Texten (oder eigenen Kommunikationserfahrungen) mit den modellhaften Konstruktionen wissenschaftlicher Theoriebildung ist wenig hilfreich; die Schwierigkeiten des Wiederfindens eines dialogischen Sequenztyps in einer konkreten Mehr-Personen-Konversation können nicht als ernsthaftes Argument gegen einen analytisch-rekonstruktiven Ansatz in der Gesprächsanalyse vorgebracht werden. Die zugrundeliegende Struktur kann nämlich auf vielfältige Weise verdeckt sein. Es ist in diesem Zusammenhang etwa zwischen gesprächseröffnenden oder -schließenden und gesprächserweiternden Beiträgen auf der einen Seite und sequenzinitiierenden und sequenzexpandierenden Dialogzügen auf der anderen Seite zu unterscheiden. Zu den gesprächseröffnenden und -schließenden Beiträgen gehören z.B. Gruß- und Abschiedsformeln und dergleichen konversationeile Rituale (Schegloff 1968). Gesprächserweiternde Beiträge haben häufig - neben Einschüben, Nebenbemerkungen, Ablenkungsversuchen - vor allem metakommunikativen Status, d.h. sie dienen der internen Gesprächsorganisation; eine ausführliche Darstellung dieser Gesprächszusätze bietet B. Techtmeier (1984). Neben einer Gruppe deutlich zweckdeterminierter Gesprächstypen wie Unterweisung, Beratung, Bekehrung können sprachliche Interaktionen wie Unterredung, Besprechung, Meinungsaustausch, Konversation, Unterhaltung, Plauderei, Klatsch usw. möglicherweise einer im Hinblick auf den Grad der Zweckdeterminiertheit skalierbaren Gruppe zugerechnet werden, deren kommunikativer Handlungszweck mehr oder weniger auf ein bestimmtes, profiliertes Ergebnis zugeschnitten ist, sondern allgemeine soziale Zwecke erfüllt - der Kontaktpflege, Imagepflege, der Stabilisierung von Sozialbeziehungen unterschiedlichster Art, der Stimmungsgestaltung, der Unterhaltung, des Zeitvertreibs, der mehr oder weniger geistreichen Spielerei und dergleichen. Diesen beiden Gruppen kann man eine Gruppe sprachlicher Interaktionsformen gegenüberstellen, die sich an außersprachlichen Zusammenhängen orientieren; es ist dies die Gruppe der wahrnehmungs- oder handlungsbegleitenden Gespräche, wie sie etwa während einer Zugfahrt oder bei einer Museumsbesichtigung geführt werden, wenn sich die Gesprächspartner gegenseitig auf interessante Beobachtungen aufmerksam machen oder wenn bei gemeinsamen Tätigkeiten wie Kochen oder Basteln kommentierende, anleitende oder bewertende Äußerungen gemacht werden; der äußere praktische Handlungszusammenhang wirkt hier kohärenzstiftend. Es ließe sich daraus die folgende Globaltaxonomie ableiten: Dialoge Kommunikationszweckorientierte Dialoge

Beziehungsgestaltende Dialoge

Handlungsbegleitende Dialoge

F. Hundsnurscher

226

Die Brauchbarkeit und Reichweite dieses Ansatzes bedarf noch der näheren Erkundung (vgl. Hundsnurscher 1986).

5.2

Das Problem der Ausschnittypologien

In der empirieorientierten Forschung zur Gesprächsanalyse kann man vereinzelt Hinweise darauf finden, daß eine umfassende Kommunikationstypologie von der Untersuchung kommunikationsintensiver gesellschaftlicher Tätigkeitsbereiche her aufgebaut werden müsse, indem man „Ausschnittypologien" erstellt, und daß sich daraus nach und nach ein Gesamtbild der gesellschaftlich relevanten Kommunikationsformen ergeben werde (vgl. Kallmeyer 1985). Einen Vorläufer haben diese Überlegungen in der sogenannten Funktionalstilistik, nach der die Erscheinungsformen von Sprache durch die Bedingungen in den jeweiligen Bereichen geprägt sind. So sind nach Riesel/Schendels (1975,19) zu unterscheiden: -

Stil der Stil der Stil der Stil der Stil der

öffentlichen Rede Wissenschaft Presse und Publizistik Alltagsrede schönen Literatur.

Mit dem Stilproblem ist nur ein Teil der einschlägigen Untersuchungsaspekte angesprochen; die bereichsspezifischen Kommunikationsformen und die Bandbreite ihrer spezifischen Realisierungsmerkmale sind ein noch weitgehend unerforschtes Terrain. Man findet in der praxisbezogenen Literatur einzelner Bereiche manchmal aus der professionellen Erfahrung gewonnene Typisierungsversuche, die aber über einen adhoc-Status in der Regel nicht hinauskommen. Als beliebiges Beispiel für viele sei eine Einteilung der kaufmännischen „Gesprächsarten" angeführt (Roth 1964,66): 1. 2. 3. 4. 5.

der innerbetriebliche Erfahrungs- und Meinungsaustausch, das Einkaufsgespräch mit Lieferanten, das Verkaufsgespräch mit Kunden, das Fachgespräch mit Beratern und auf Tagungen, das Informationsgespräch mit Journalisten.

Bei der Charakterisierung der einzelnen „Gesprächsarten" wird deutlich, daß der Gesamtzusammenhang kaufmännischen Handelns einen .Rahmen' bildet, in dem auch anders profilierte Gespräche ihren Ort haben können; so werden etwa „harte" Gespräche zwischen Verkaufsleiter und Betriebsleiter über noch unerledigte Lieferungen und nicht eingehaltene Termine als Beispiele für den innerbetrieblichen Meinungsaustausch angeführt, wo es sich eher um Vorwurf/Rechtfertigungsinteraktionen handeln dürfte, d.h. um Disziplinierungs- und Durchsetzungsgespräche, die dem transigenten oder dem intransigentenTyp zuzuordnen sind. Es ist durchaus zu erwarten, daß im Rahmen der noch jungen Forschungsrichtung ,Kommunikation in Institutionen' interessante Subtypen genereller Dialogtypen, viel-

11. Dialog-Typologie

227

leicht auch bereichsspezifische Strategien und Verlaufs- und Kombinationsformen von Dialogen zutage gefördert werden (vgl. Ehlich/Rehbein 1986, siehe Rolf in diesem Band).

5.3

Das Problem der dominanten Gesprächsfunktion

Die Subsumierung beliebiger Gesprächsformen unter einer nach einheitlichen Kriterien angelegten Dialog-Typologie stößt auch deswegen auf einige Schwierigkeiten, weil manche Gespräche von ziemlich komplexer interner Struktur sind. So ist es zwar möglich, von einem Planungsgespräch, einem Kaufgespräch, einem Bekehrungsgespräch, einem Beratungsgespräch, einem Unterweisungsgespräch usw. als je verschiedenen Gesprächstypen (bei zwei Gesprächspartnern: Dialogtypen) zu reden und sie aufgrund ihres übergeordneten Handlungszwecks und der zugrundeliegenden Interessenlage dem oben entwickelten Schema des Sprechhandlungs-Ansatzes zuzuordnen. Bei näherer Untersuchung kann man allerdings zu der Auffassung gelangen, daß es sich hier um kombinatorische Muster handelt, die sich aus verschiedenen .einfachen Dialogmustern' zusammensetzen. So kann man etwa Planungsgespräche in einzelne ,funktionale Dialogsequenzen' zerlegen: -

in eine Problemfixierungsphase, in der die Art des vorliegenden Problems und die Notwendigkeit seiner Lösung erörtert wird, in eine Problemlösungsphase, in der zweckdienliche Vorschläge gemacht und überprüft werden, in eine Entscheidungsphase, in der man sich nach Abwägung verschiedener Lösungsmöglichkeiten für einen Lösungsweg entscheidet und in der Regel in eine Zuteilungsphase, in der die verschiedenen Aufgaben, die der Lösungsweg aufgibt, auf die Handlungspartner verteilt werden.

Diese Phasen, und darin liegt das Beschreibungsproblem, weisen unterschiedliche Handlungscharakteristiken auf: die Problemfixierungsphase kann eine suppletive Charakteristik haben: ein Gesprächspartner informiert den anderen über das Bestehen des Problems und die Notwendigkeit seiner (gemeinsamen) Lösung; die Problemlösungsphase kann eine kontributive Charakteristik haben: beide bringen Lösungsvorschläge ein und überprüfen sie wechselweise; die Entscheidungsphase kann intransigenten Charakter haben: jeder der Partner hat eine Lösung, die er favorisiert und um jeden Preis durchsetzen möchte; auch die Aufgabenzuteilungsphase kann intransigenten Charakter haben; wie bei der Entscheidungsphase wird aber, wenn das Planungsgespräch zu einem Ergebnis führen soll, auch die Aufgabenverteilungsphase eine transigente, d.h. modifikative, Charakteristik haben müssen: die Aufgabenzuweisung ist einvernehmlich auszuhandeln, weil sonst die praktische Problemlösung in Frage steht. Obwohl also verschiedene Phasen mit verschiedener Handlungscharakteristik ein Planungsgespräch ausmachen, ist die Kernphase, die das Planungsgespräch konstituiert, die Vorschlags-Vorschlagsprüfungssequenz.

F. Hundsnurscher

228

In ähnlicher Weise ist ein Beratungsgespräch in eine Problemfixierungsphase, eine Problemlösungsphase und eine Abwägungsphase zu zerlegen mit unterschiedlichen Handlungsanteilen der Gesprächspartner und unterschiedlicher Handlungscharakteristik. Ratfrage und Ratfragebehandlung bilden den konstitutiven Kern. Ein Bekehrungsgespräch kann zerlegt werden in eine Defizitaufdeckungsphase, in eine Verheißungsphase und in eine Einübungsphase, von denen jede für sich eine spezifische Handlungscharakteristik hat. Die Herbeiführung der Einsicht in die Verfehltheit der bisherigen Lebens-Orientierung bildet den Kern (Kohl 1984). Auch für Einkaufs/Verkaufsgespräche erweist sich eine Phasengliederung als brauchbarer Analyseansatz (vgl. Hundsnurscher/Franke 1985). Mit Kohl (1986, 51—67) kann die interne Strukturierung solcher Gesprächsformen als hierarchische Zuordnung funktionaler Teilziele zu einem „primären Kommunikationsziel" gesehen werden. Probleme ergeben sich notgedrungen, wenn Passagen authentischer Gespräche direkt zu solchen typologischen Kriterien in Beziehung gesetzt werden, die nur für eine Teilphase Geltung haben. Wie schon angedeutet, kann ein Planungsgespräch in seinem authentischen Verlauf in ein Streitgespräch ausarten und damit seinen Handlungszweck verfehlen. Konkrete Waffenstillstandsverhandlungen - auch wenn sie so genannt werden - können, wenn z.B. ein Gegner völlig geschlagen ist, praktisch keinen Verhandlungsspielraum haben und durch einen entsprechenden Akzeptierungsdruck als intransigent charakterisiert sein. Auf der anderen Seite dürfte es äußerst selten vorkommen, daß in einem Bekehrungsgespräch der Bekehrende von den Argumenten dessen, den zu bekehren er sich vorgenommen hat, seinerseits bekehrt wird. Dies unterstreicht nur den methodologischen Status einer Typologisierung; ein authentisches Gespräch kann davon in vieler Hinsicht abweichen, sei es, daß es seinen kommunikativen Zweck verfehlt, sei es, daß es vorzeitig abgebrochen wird, sei es, daß die Gesprächspartner in der authentischen Interaktion bewußt oder unbewußt, explizit oder stillschweigend, ihre Handlungsziele ändern oder gegenseitig umdeuten und mißverstehen (vgl. Hundsnurscher 1986).

5.4

Das Problem der Untermuster von Sequenztypen

Mit der Aussage, daß gewisse initiale Sprechakte Auslöser für charakteristische Sequenzen sein können und daß die konventionellen Formen der ,Initialsprechaktbehandlung' Hinweise auf eine Typologie spezifizierter dialogischer Sprechaktsequenzen liefern könnten, ist ein offenes Problemfeld angesprochen: die Frage nach den Spielarten solcher Sequenzen wie Aushandeln, Bewerten, Rechtfertigen, Vorschlag-prüfen usw. Als Beispiel diene hier das Sequenzmuster Argumentieren. Als allgemeines Strukturmuster für Argumentationen bietet sich Toulmins Schema (1958, 104) an: Am Anfang steht eine These (Behauptung eines Sachverhalts); durch kritisches Nachfragen (Problematisierung der These) und Einfordern weiterer Nachweise für die Gültigkeit der These kann entweder ihre Brüchigkeit erwiesen und so ihre Zurücknahme nahegelegt oder ihre Haltbarkeit nachgewiesen, vielleicht aber auch nur die Ausgangs-

11.

229

Dialog-Typologie

these in modifizierter Form plausibel und so akzeptabel gemacht werden. Somit wäre, auf das Gesprächsergebnis bezogen, mit mindestens fünf Verlaufsvarianten zu rechnen. These aufstellen (BEHAUPTEN)

HINTERFRAGEN

BEIPFLICHTEN I

Fakten beibringen

Fakten bezweifeln

BEIPFLICHTEN II

Schlußregel anführen

Schlußregel in Frage stellen

BEIPFLICHTEN III

Gültigkeit nachweisen

Modifikation anbringen

BEIPFLICHTEN IV

modifizierter These BEIPFLICHTEN V

Schwieriger ist die Frage zu klären, wie sich eine weitere inhaltliche Spezifizierung des Initialsprechakts auf die Sequenzstruktur auswirkt. J. Habermas (1981, 37) bestimmt „Argumentation" als „den Typus von Rede, in dem die Teilnehmer strittige Geltungsansprüche thematisieren und versuchen, diese mit Argumenten einzulösen oder zu kritisieren". Je nach Art des Geltungsanspruchs lassen sich verschiedene Argumentationsformen unterscheiden. Habermas unterscheidet fünf solcher Formen; er faßt zur Charakterisierung des „theoretischen Diskurses" den Geltungsanspruch hinsichtlich der „Wahrheit von Propositionen" und den Geltungsanspruch hinsichtlich der „Wirksamkeit teleologischer Handlungen" zusammen und benennt für den „praktischen Diskurs" als Geltungsanspruch die „Richtigkeit von Handlungsnormen". Vielleicht wäre es besser, hier drei Formen anzusetzen und zwischen einem theoretischen, einem praktischen und einem moralischen Diskurs zu unterscheiden und Aussagen über das Bestehen von Sachverhalten, über die (praktische) Zweckmäßigkeit von Handlungen und über die (moralische) Rechtfertigung von Handlungen als Initialsprechakte der Sequenzen zu unterscheiden.

230

F. Hundsnurscher

Habermas unterscheidet weiterhin eine „ästhetische Kritik", die der Rechtfertigung von Wertstandards dient, und eine „therapeutische Kritik", die der Aufklärung systematischer Selbsttäuschungen dient. Auch hier ist nach der Initialposition des Sequenzmusters zu fragen: in dem einen Fall offenbar eine (ästhetisch) wertende Aussage, ein Werturteil über eine Sache, in dem anderen Fall eine expressiv-deutende Aussage über ein persönliches Erlebnis oder ein Verhalten. Schließlich setzt Habermas einen fünften Typ an, den „explikativen Diskurs", der der klärenden Reflexion über die Mittel der Verständigung dient; an initialer Position ist hier wohl jeder kommunikative Beitrag anzusetzen, der den Anspruch auf Verständlichkeit und sprachkonventionelle Wohlgeformtheit erhebt. Die eine Frage, die sich auftut, ist die nach Zahl und Systematik typenkonstituierender Arten von Geltungsansprüchen (z.B. Machtansprüche, Zuständigkeitsansprüche, Besitzansprüche, Respektansprüche, zwischenmenschliche Verständnisansprüche usw.); eine andere Frage ist die nach den Strukturformen: hinsichtlich der Wahrheit von Propositionen wird anders und mit anderen Mitteln argumentiert als hinsichtlich der Wirksamkeit von Handlungen oder ihrer moralischen Rechtfertigung. Es mag so sein, daß für alle Argumentationsformen ein dem Toulminschen Schema entsprechendes formales Sequenzgerüst entworfen werden kann (conclusion - ground - warrant backing - modifier - resulting claim), aber wenn, wie Toulmin selbst anmerkt, zu berücksichtigen ist, „what kind of issues the argument is intended to raise (aesthetic rather than scientific, or legal rather then psychiatric) and what its underlying purpose is" (Toulmin/Rieke/Janik 1979, 106), so stellt sich die Frage, ob diese verschiedenen ,Formen' noch sinnvoll unter dem gemeinsamen Nenner Argumentation' zu versammeln wären. Die Einbindung in jeweils wechselnde Gesprächszusammenhänge kommt als formbestimmender und differenzierender Faktor noch hinzu. Wenn sich aber hinsichtlich der Sequenztypen, die durch einen repräsentativen Initialsprechakt (.problematische Äußerung') charakterisiert sind, derartige Differenzierungsprobleme auftun, und zwar auf der Basis von Inhaltskategorien, so gilt dasselbe auch für die Vorwurf-Rechtfertigungssequenz, für die Vorschlag-Vorschlagsprüfungssequenz (Problemlösen), für die Angebot-Angebotmodifizierungssequenz (Aushandeln), für die Ratfrage-Beratungssequenz usw. Hier ist noch umfängliche Analysearbeit in methodologischer Hinsicht und empirischer Beschreibungsarbeit an authentischen Gesprächen zu leisten, um den zugrundeliegenden Systembezügen gerecht zu werden. 5.5

Das Problem des lexikalischen Befundes als Klassifikationsgrundlage

Der Rückgriff auf einzelsprachliche Bezeichnungen sprachlicher Aktivitäten verweist auf ein allgemeines Problem im Zusammenhang der Typisierung und Typologisierung sprachlichen Handelns, nämlich auf das Problem des Verhältnisses der sprechhandlungsbezeichnenden Sprachmittel zu den entsprechenden Handlungen bzw. Handlungstypen. Eine extreme Position vertritt etwa A. Burkhardt (1986), der den Ansatz eines sprachlichen Handlungstyps abhängig macht vom Vorhandensein eines einzel-

11.

Dialog-Typologie

231

sprachlichen Sprechhandlungsverbs, durch dessen Bedeutung sich der entsprechende „Handlungsbegriff" erst etabliere; für ihn gilt „die Erkenntnis, daß jede Sprechakttypologie nichts anderes sein kann als eine Typologie der performativen Verben und Formeln, d.h. der metasprachlichen Kategorien, unter die aktuelle sprachliche Äußerungen interpretativ subsumiert werden" (Burkhardt 1986, 345). Die diesbezügliche sprechakttheoretische Diskussion hat ihre Parallelen auch in der Diskussion um die Diskurstypen. Das Deutsche als natürliche Einzelsprache verfügt über einen reichen Wortschatz an verbalen und substantivischen Ausdrücken, mit denen auf verschiedene Formen sprachlicher Interaktion Bezug genommen werden kann; W.Franke (1990, 175—183) bietet eine Liste von knapp 1000 substantivischen Gesprächsbezeichnungen, die allerdings nicht alle die dialogische Zweier-Konstellation als Gebrauchsbedingung haben (vgl. etwa ,Zwiesprache' gegenüber .Besprechung'). Nach der lexikalistischen Position, wie sie von Burkhardt für Performativa, aber auch von anderen (z.B. Searle/ Vanderveken 1985) und offenbar auch von Holdcroft vertreten wird, koinzidiert eine Taxonomie sprachlicher Handlungen mit einer Taxonomie einzelsprachlicher Sprechhandlungsausdrücke. Das würde aber bedeuten, daß eine semantische Analyse von Verben oder Substantiven an die Stelle einer entsprechenden Handlungsanalyse tritt. In der Tat orientieren sich die Regeln für den Gebrauch sprechhandlungsreferierender Ausdrücke nicht in erster Linie an der distinktiven Charakteristik bestimmter Sprechhandlungen. Z.B. wird ,Kaufberatung' allgemein auch als euphemistische Bezeichnung für ein .Werbegespräch' verwendet; ein anderes Beispiel sind die von Schänk untersuchten .Telefonberatungen' des Dr. W. von Hollander, unter denen sich Fälle finden, wo es z. B. mehr um Argumentationshilfen für bereits getroffene Entscheidungen und nicht eigentlich um das Aufzeigen von Lösungswegen für ein akutes Problem geht; dennoch werden diese Interaktionen unter .Beratungsgespräche' subsumiert. Ein anderer Einwand ist triftiger: Eine Analyse des lexikalischen Materials führt in der Hauptsache lediglich zu einer Systematik benennungsmotivationaler Zusammenhänge (vgl. Franke 1990, 72; Löffler 1994, 40f.). Die gewählte Bezeichnung kann sich benennungsmotivisch ableiten von mehr oder weniger zentralen Handlungsaspekten, z.B. von der (a) (b) (c) (d) (e) (f)

Sprechercharakteristik: z.B. Expertengespräch, Gelehrtengezänk Raum-/Zeitcharakteristik: z.B. Stammtischgespräch, Kaminplauderei Mediencharakteristik: z. B. Fernsehdebatte, Rundfunkinterview Statuscharakteristik : ζ. Β. Vorverhandlung, Nachbesprechung Inhaltscharakteristik: ζ.B. Abrüstungsgespräch, Terminabsprache Handlungszweckcharakteristik : z.B. Planungsgespräch, Bekehrungsgespräch, Trostgespräch.

Nur einer unter diesen, nämlich der zuletzt genannte, ist der relevante, für eine Klassifikation brauchbare zentrale Aspekt. Es ist eine verbreitete Hoffnung, daß man von dem lexikalischen Befund einer Einzelsprache ausgehend zu einer sachadäquaten Einteilung eines Gegenstandsbereichs gelangen könnte ; das oft diskutierte Verhältnis von folk taxonomies zu wissen-

232

F. Hundsnurscher

schaftlichen Taxonomien im naturkundlichen Bereich liefert viele Anschauungsbeispiele dafür (z.B. Walfisch, Seehund, Meerkatze), daß mit einer unmittelbaren Entsprechung nicht zu rechnen ist, und dies müßte als Warnung ausreichen. Gerade weil in die Benennungsmotivik Aspekte Eingang gefunden haben, die nicht typologierelevant sind, kann von einer direkten Entsprechung oder gar Gleichsetzung von Vokabular und Handlungstypen nicht die Rede sein. Es kann aber auch keinen Zweifel darüber geben, daß die umfangreiche und vielgestaltige Liste der einzelsprachlichen Gesprächsbezeichnungen für eine Gesprächstypologie eine Herausforderung darstellt und daß das Verhältnis zwischen dem lexikalischen Befund und dem typologischen Entwurf, wie immer er am Ende aussehen mag, geklärt werden muß. Eine Gesprächstypologie muß in irgendeiner Form alle Gesprächsformen berücksichtigen und unterbringen, für die im lexikalischen System einer Sprache eine Bezeichnung zur Verfügung steht. Eine kritische Sichtung des lexikalischen Befundes wird u. a. zu der Einsicht führen, daß bei einem großen Teil der Gesprächsbezeichnungen, eben weil sie keinen Bezug zu einem Kommunikationszweck aufweisen, ein direkter und einheitlicher typologischer Bezug auch nicht gegeben ist. So können etwa Tischgespräche, Stammtischgespräche, Stehkneipengespräche, Thekengespräche, Kaffeehausgespräche, Salongespräche, Kamingespräche, Partygespräche, Promenadengespräche u. dergl. hinsichtlich Thematik, Verlauf und Sprachstil durch charakteristische situative und soziale Faktoren bestimmt sein und entsprechende stereotypinhaltliche Assoziationen wecken, aber ohne nähere Kenntnis und Untersuchung der Kommunikationsabsichten der jeweiligen Gesprächsteilnehmer und der Zuschreibung von kommunikativen Handlungszwecken ist ein typologischer Zugriff nicht möglich. Es kann sich je nach Interessenlage der Sprecher um Meinungsaustausch, Beratungsgespräche, Trostgespräche, Aushandlungsgespräche, Auskunftsgespräche, Bekehrungsgespräche oder Teile oder Mischungen davon handeln, die aufgrund der äußeren Umstände frei abwechseln und variieren, auch unterbrochen, ineinander geschachtelt und mit wechselnder Beteiligung weitergeführt werden können ; man wird auf Kommunikationsformen dieser Art in Anlehnung an R. Harweg (1968) vielleicht die Charakterisierung „Gesprächskosmos" für solche lokal und temporal zusammenhängende Gesprächsbereiche anwenden können. Ähnliches gilt für allgemeine Bezeichnungen sprachlicher Interaktion wie Gespräch, Unterredung, Unterhaltung, Besprechung, Zwiesprache, Diskussion, Diskurs, Gedankenaustausch u.dergl.; auch diese Bezeichnungen lassen weder einen direkten Bezug zu einem spezifischen Kommunikationszweck noch zu einer spezifisch dialogischen Konstellation erkennen. So bleibt, wenn man auf der lexikalisch-phänomenologischen Ebene verharrt, am Ende ein Bestand von Bezeichnungen übrig, der funktional nicht unterscheidbare sprachliche Interaktionsformen bezeichnet und daher in ein funktional ausgerichtetes Typologiekonzept auch nicht integriert werden kann.

11. Dialog-Typologie 5.6

233

Das Problem der „Feinheit" der Taxonomie

Eine denkbare Forderung an eine „vollständige" Dialog-Typologie könnte sein, daß sie bis zu einer Stufe vorangetrieben sein müßte, auf der es möglich wäre, authentische Dialoge einem distinkten Untermuster zuzuordnen, d.h. bis nahe an die Stufe der Klassifizierbarkeit von dialogischen Textexemplaren, wie es etwa das Fernziel des „Freiburger Modells" war. Stellt man diesen Anspruch, von dem nicht sicher ist, ob er theoretisch und methodisch überhaupt einlösbar ist, einmal zurück, so bleibt doch die Frage, wie weit eine systematische Verfeinerung z.B. des Sprechhandlungs-Ansatzes fortgeführt werden kann. Der am weitesten ausgearbeitete Vorschlag in dieser Richtung ist der von W. Franke (1986). Auf der Grundlage einer methodischen Grundeinteilung (in Franke 1990 modifiziert) führt Franke den Zweig der von ihm so genannten „komplementären" Dialogtypen (die „suppletiven" Typen im dargestellten Sprechhandlungs· Ansatz) über eine zweite Stufe hinaus weiter. Diese zweite Stufe reflektiert mit den systematisch durchgeführten Unterscheidungen - kognitiv - praktisch - emotiv - bereits inhaltliche Aspekte der in der Kommunikation in Rede stehenden Gegenstände (siehe S. 234). Die kategorialen Charakterisierungen auf der dritten Stufe (Sp 1-dominiert, Sp2dominiert) sollen dem Umstand Rechnung tragen, daß die Kommunikationsinitiative in dem einen Fall aufseiten dessen liegt, der bestimmte Informationen erhalten möchte (BEFRAGUNGEN), in dem andern Fall auf Seiten dessen, der bestimmte Informationen abgeben möchte (ζ. B. Belehrungen). Auf einer vierten Stufe werden die BEFRAGUNGEN nach ihrer Situationsmodalität als explorativ und examinai, die INFORMATIONSDIALOGE als rekonstruktiv-deskriptiv und explikativ charakterisiert. So ergeben sich auf dieser vierten Stufe die Untertypen der ERKUNDUNGSDIALOGE und der TESTDIALOGE sowie SACHVERHALTSDARSTELLUNGEN und ERKLÄRUNGSDIALOGE. Auf der fünften Stufe kann bei den ERKUNDUNGSDIALOGEN zwischen Sachbezug und Meinungsbezug, wiederum einem inhaltlichen Kriterium, unterschieden werden; auf einer sechsten Stufe geht es um das Gewinnen von Orientierungs- und Entscheidungshilfen; konkrete Belegbeispiele sind das Einholen von Wegauskünften und das Ermitteln von Fakten bei Vernehmungen. Es ist in der Tat das Zusammenspiel von situativen und inhaltlichen Bedingungen mit spezifischen Handlungszwecken, aus denen sich einzelne in der kommunikativen Gesprächspraxis identifizierbare Kommunikationsformen rekonstruieren lassen. Es zeigt sich auch, daß der Differenzierungsgrad in den einzelnen Bereichen verschieden ist. Weiterhin wird deutlich, daß auch die Verteilung dialogischer und monologischer Realisierungsformen bereichsspezifisch ist. Die Zuordnung authentischer Gesprächs(text)exemplare zu diesen rekonstruktiven Mustern bemißt sich danach, wie stark das Textprofil von einem spezifischen Kommunikationszweck geprägt ist. Allgemein ist zu sagen, daß der Feinheitsgrad einer Typologie letztlich auch von ihrem Zweck abhängt. („Kannst du die Grenzen angeben? Nein. Du kannst welche ziehen: denn es sind noch keine gezogen.", Wittgenstein 1984, §68.)

234

F.

Hundsnurscher

Dialog-Typen

KOMPLEMENTÄRE DT

KOGNITIV

KOORDINATIVE DT

PRAKTISCH

KOMPETITIVE DT

EMOTIV

Spl-dominiert

Sp2-dominiert

BEFRAGUNGSDIALOGE

INFORMATIONSDIALOGE

explorativ

examinai

ERKUNDUNGSDIALOGE

TESTDIALOGE

SACHVERHALTSERKUNDUNG

EINSTELLUNGSERKUNDUNG

AUSKUNFTS- TATSACHENEINHOLUNG ERMITTLUNG

rekonstruktivdeskriptiv

explikativ

SACHVERHALTSDARSTELLUNG

ERKLARUNGSDIALOGE

a-praktisch prapraktisch

deskriptiv

instruktiv

proprophylak- pädeutisch tisch WEGAUSKUNFT

VERNEHMUNG

MEINUNGSBEFRAGUNG

QUIZ PRUFUNGSGESPRACH

VORSTELLUNGSGESPRACH

ERZAHLEN BERICHT- BESCHILDERN ERSTAT- LEHBESCHREI- TUNG RUNG BEN

LEHRGESPRACH

AUFKLÄRUNGSGESPRÄCH ι emI prakt. UNTEREINWEIRICHTSSUNGSGESPRÄCH GESPRÄCH

a-prakt.

11.

Dialog-Typologie

235

Auch die gegenläufige Sichtweise wird immer wieder angefordert. (Vgl. T. Nevalainen (1992, 398): „The majority of typologies are deductive in the sense that they correlate the function, or abstract text type, to textual propertes, instead of working inductively from the properties of individual texts to their functions".) Für sie gelten die methodologischen Bedenken, die unter 5.3 und 5.5 formuliert werden. Es ist mit einem solchen Ansatz zwar eine Gruppierung von Gesprächstexten (Typisierung), nicht aber eine Charakterisierung der konstitutiven Muster (Typologisierung) möglich.

6.

Schlußbemerkung

Im Gegensatz zu der Forschungslage im Bereich der Texttypologie, die gekennzeichnet ist durch eine lange Tradition der Diskussion über literarische Gattungen (Gedichte, Romane, Dramen) und über die Textsorten der Gelehrsamkeit und der staatlichen Verwaltung (z.B. Traktate, Kommentare; Urkunden, Erlasse, Pakte) ist die Gesprächstypologie vor allem noch insofern ein ungefestigter Bereich, als die Möglichkeit eines allgemeingültigen typologischen Zugriffs auf Gespräche von verschiedenen Seiten her grundsätzlich in Frage gestellt wird. Dies hängt mit der Andersartigkeit und dem höheren Komplexitätsgrad von Gemeinschaftshandlungen gegenüber Einzelhandlungen zusammen. So wie (monologische) Texte die konzeptprägende Anschauung für die in der philologischen Tradition stehenden Forschungsrichtungen bilden, so bilden Gespräche im Verband der sozialen Kleingruppe die konzeptbildende Anschauung für die sich an der Ethnomethodologie orientierende Gesprächsanalyse (Hymes, Schegloff). Erst die Einsicht in den dialogischen Charakter von Sprache eröffnet die Möglichkeit, beide Sichtweisen aufeinander zu beziehen und in der dyadisch-dialogischen Grundkonstellation die theoretische Mitte einer systematischen und einheitlichen Erfassung aller Kommunikationsformen zu begreifen.

7.

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Münster

12. Frage-Antwort-Dialoge

1. 2. 3. 3.1 3.2 4. 4.1 4.2 4.3 5. 6.

Einleitung: Frage-Antwort-Zusammenhänge Illokutionäre Aspekte von Fragen und Antworten Fragearten und Typen von Frage-Antwort-Dialogen Form-Funktions-Zusammenhänge Unterscheidungskriterien für Fragearten Frage-Antwort-Sequenzen im Dialogzusammenhang Fragehandlungen und Dialogsteuerung Fragevoraussetzungen und Dialogstand Beantwortungserwartungen Kommunikative Prinzipien in Frage-Antwort-Dialogen Literaturhinweise

1.

Einleitung: Frage-Antwort-Zusammenhänge

Frage-Antwort-Sequenzen gelten allgemein als eine Art dialogischer Prototyp, teilweise sogar als der Inbegriff des Dialogischen und des Gesprächs schlechthin (vgl. Gadamer 1965,344—360). Es sind vor allem zwei Gründe, die diese Auffassung begünstigen: Erstens ist die gegenseitige Abhängigkeit der beiden Dialogeinheiten so stark, daß es auch in Forschungstraditionen ganz unterschiedlicher Couleur - eine verbreitete Forderung ist, sie in ihrem dialogischen Zusammenhang zu behandeln. Und zweitens sind Frage-Antwort-Sequenzen Modellbausteine für Gesprächssequenzen, von denen aus sich die verschiedenen Ebenen der Dialogorganisation erschließen lassen: (i)

Der illokutionäre Aspekt von Sequenzmustern : Was kennzeichnet das Handlungsmuster FRAGEN und relativ dazu die Anwort- und Entgegnungshandlungen? (Vgl. Abschnitt2.) (ii) Propositionale und thematische Dialogzusammenhänge : Was wird gefragt, und wie hängt die Antwort inhaltlich und thematisch damit zusammen? (Vgl. Abschnitt 3.) (iii) Die Äußerungsform der Dialogbeiträge : Mit welchen sprachlichen und intonatorischen Mitteln können Fragen und Antworten formuliert werden? Wie hängen die Verwendungsregeln für fragespezifische Ausdrücke wie W-Wörter und Fragepartikeln mit Sequenzregeln für Frage-Antwort-Dialoge zusammen? (Vgl. Abschnitt 3 und 4.)

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(iv) Die Handlungsbedingungen relativ zum jeweiligen Dialogstand: Unter welchen Voraussetzungen können bestimmte Fragetypen realisiert werden? Welche Entgegnungsmöglichkeiten werden durch bestimmte Fragevoraussetzungen eröffnet oder verschlossen? In welcher Weise bestimmen Beantwortungs- und Entgegnungsformen die Dialogfortsetzung? (Vgl. Abschnitt 3 und 4.) (v) Die Strategien der Dialogsteuerung: Welche spezifischen Möglichkeiten eröffnen Fragehandlungen, um in den Dialogverlauf einzugreifen, die Dialogdynamik zu bestimmen? (Vgl. Abschnitt 4.) (vi) Das gemeinsame Wissen der Dialogpartner: Welche Wissensvoraussetzungen werden mit einer Fragehandlung gemacht, und wie trägt die Antwort zur Erweiterung des gemeinsamen Wissens bei? (Vgl. Abschnitt 5.) (vii) Die kommunikative Qualität einzelner Dialogbeiträge: Wie sind Frage- und Antworthandlungen im Hinblick auf die Kommunikationsziele der Dialogpartner zu beurteilen? (Vgl. Abschnitt5.) Meistens wird die dialogische Analyse von Fragen und Antworten genutzt, um Aufschluß zu erhalten über die Struktur der Fragehandlung, z.B. über die ausgedrückte „Antwortdetermination" (Conrad 1978) oder das „Desideratum" (Hintikka 1976), über die Unterschiede zwischen den Fragearten (Bäuerle 1979), über die Fragevoraussetzungen und Präsuppositionen (Belnap 1969; Carlson 1983) oder über den strategischen Sinn einer Frage (vgl. Bennett 1982; Churchill 1978; Rehbock 1985). Der Lichtschein einer dialogischen Analyse kann jedoch nicht nur erhellend von den Antworten auf die Fragen zurückfallen, sondern er leuchtet auch in die umgekehrte Richtung. Fragen können strukturelle Besonderheiten von Aussagen erhellen, wenn man die Aussagen als deren Antworten betrachtet (vgl. Manor 1981; Groenendijk/ Stokhof 1984). Welche Thema-Rhema-Struktur der Äußerung von (1) zugrundeliegt, ist beispielsweise nicht isoliert entscheidbar, sondern hängt davon ab, ob man sie als Antwort auf die Frage (2) oder die Frage (3) betrachtet: (1) Karl fliegt heute nach Berlin. (2) Wer fliegt heute nach Berlin ? (3) Wohin fliegt Karl heute ? Als Antwort auf (2) ist Karl das Rhema von (1), als Antwort auf (3) aber nach Berlin. Der Grund dafür liegt darin, daß die beiden Fragen jeweils verschiedene Voraussetzungen enthalten - relativ zu den Antworten die sogenannte „alte Information": Irgendjemand fliegt heute nach Berlin in (2) und Karl fliegt heute irgendwohin in (3). Der in der Textlinguistik - z.B. der Prager Schule - vorgeschlagene Fragetest zur Ermittlung von Thema und Rhema eines Satzes reflektiert zwar diesen Zusammenhang, zieht allerdings nicht die naheliegende Konsequenz: Die Thema-Rhema-Struktur - oder neuerdings die Fokus-Hintergrund-Gliederung - ist keine grammatikalische Eigenschaft isolierter Sätze, sondern eine kommunikative Eigenschaft von Dialogausschnitten (vgl. dazu Carlson 1983, 184-237; Jacobs 1988). Von Seiten der Sprachphilosophie und der Logik haben Strawson und Collingwood darauf hingewiesen, daß die Entscheidung über den Wahrheitswert einer Aussage davon abhängen kann, welcher Frage sie als Antwort zugeordnet wird (vgl. Strawson 1974). Auf der Grundlage dieser Komplementarität von Fragen und Behauptungen plädiert Collingwood für eine Er-

12. Frage-Antwort-Dialoge

241

Weiterung der Aussagenlogik zu einer „Logik von Frage und Antwort", da „zwei Behauptungen einander nur widersprechen, wenn sie Antworten auf dieselbe Frage sind" (Collingwood 1939,33, Übers.)· Zieht man aus den genannten Beispielen die naheliegende Konsequenz für eine dialogische Behandlung von Frage und Antwort, so hat das weitreichende theoretischmethodische Folgen. Erstens werden bei einer solchen Perspektive nicht isolierte interrogative Ausdrucksformen, z.B. Fragesätze, untersucht, sondern Verwendungen sprachlicher Ausdrücke als Frage- bzw. als Antworthandlungen (vgl. Schegloff 1978). Eine Doppelstrategie entsprechend dem Titel „On the semantics of questions· and the pragmatics of answers" (Groenendijk/Stokhof 1984, 209; vgl. auch Kiefer 1988) wird damit überflüssig: Will die Dialoganalyse nicht „the sins of noncontextuality" der Grammatiker erben (Goffman 1981, 32), so sind natürlich auch die Fragen einer pragmatischen Analyse zu unterziehen. Und zweitens ist mit der sequentiellen Orientierung die Beschränkung der Satzsemantik in natürlicher Weise auf eine Dialogsemantik („discourse semantics", Hintikka 1981, 277) ausgeweitet. Man beschreibt die Verwendungsregeln, also die Bedeutung, interrogativer Ausdrucksformen, indem man Verlaufsmöglichkeiten von Frage-Antwort-Dialogen beschreibt (vgl. dazu auch Artikel 13).

2.

I l l o k u t i o n ä r e A s p e k t e von F r a g e n u n d A n t w o r t e n

In der Frage-Antwort-Forschung ist ein methodisches Grundmuster verbreitet, das man als reduktionistisch bezeichnen kann. Fragen werden entweder auf andere Handlungsmuster zurückgeführt, wie z.B. BEHAUPTEN - „a Statement with a blank" (Hamblin 1958,163) - oder AUFFORDERN (Imperative bzw. Direktive), oder es wird vom illokutionären Aspekt abstrahiert, wenn Fragen beispielsweise als „defective propositions" (Leech 1983,116), „propositional functions" (Cohen 1929,353), „a set of propositions" (Hamblin 1973; Karttunen 1978,171) behandelt werden. In der Fragelogik dient dieser Reduktionismus primär dem Zweck, den illokutionären Aspekt aus der Analyse auszusondern oder doch so zu neutralisieren, daß die interrogativen Äußerungsformen mit dem traditionellen aussagenlogischen Instrumentarium behandelt werden können (vgl. Tichy 1978). Obwohl Hintikka den illokutionären Aspekt von Fragen in seinem imperativ-epistemischen Ansatz integriert (s.u.), schränkt auch er dessen ausführlichere Behandlung mit der Begründung ein, daß „the most of the semantics of questions is determined by their respective desiderata" (das, wonach gefragt wird; Hintikka 1976, 23). Die Analyse der Fragen als Propositionen erhellt zwar einige der propositionalen Aspekte des Handlungsmusters, ist aber unter illokutionären Gesichtspunkten unattraktiv. Unklar bleibt, in welchem Sinne Fragen „Behauptungen mit Leerstellen" (Hamblin) oder „unvollständige Behauptungen" sein sollen, da man ihnen nicht in dem Sinne einen Wahrheitswert zuordnen kann, wie das im Falle der Behauptungen möglich ist (vgl. Llewelyn 1964).

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Die illokutionäre Einordnung der Fragehandlungen als Aufforderungshandlungen geht zurück auf Frege : „Fragesatz und Behauptungssatz enthalten denselben Gedanken; aber der Behauptungssatz enthält noch etwas mehr, nämlich eben die Behauptung. Auch der Fragesatz enthält etwas mehr, nämlich eine Aufforderung" (Frege 1976 (1918/19), 35). In dieser Tradition der Frageanalyse steht Searles Einordnung der Fragen in die Sprechaktklasse der Direktiva sowie die imperativ-epistemische Frageauffassung, wie sie beispielsweise von Hintikka und Äqvist vertreten wird. Dieser Auffassung zufolge ist die Frage (4) mit (5) paraphrasierbar (vgl. Hintikka 1976,22): (4) Wer wohnt hier? (5) Sorge dafür, daß ich weiß, wer hier wohnt. Die Gleichsetzung von Frage- und Aufforderungshandlungen wird jedoch problematisch, wenn man als dialogisches Vergleichskriterium die jeweils möglichen Anschlußhandlungen heranzieht. So sind Äußerungen wie Das weiß ich nicht oder Vermutlich nicht an Aufforderungen anschließbar. EINE ANTWORT GEBEN ist ein anderes Handlungsmuster als EINE AUFFORDERUNG BEFOLGEN und das Handlungsmuster SICH WEIGERN hat im Falle der Aufforderung eine konstitutive Funktion für das Dialogmuster, was es für das Frage-Antwort-Muster nicht hat. Die Verwandtschaft zwischen Fragen und Auffordern, die zur Gleichsetzung der beiden Handlungsmuster verleiten kann, besteht darin, daß man beide einsetzen kann, um einen Partner dazu zu bringen, eine bestimmte Information zu geben, daß also „beide Hebel sind, die den andern in Bewegung setzen" (Waismann 1976, 599). Im Englischen wird die Gleichsetzung darüber hinaus durch die direktive-interrogative Mehrdeutigkeit von to ask begünstigt, womit beispielsweise Katz gerade die DirektivLesart von Fragen legitimiert (Katz 1977,205. Kritisch zu diesem Verfahren: Hiz 1978, 213—216). Die dialogischen Unterschiede zwischen den beiden Handlungsmustern legen es jedoch nahe, Fragehandlungen als eigenständiges Muster zu behandeln (vgl. Wunderlich 1976; Hermann 1942), worauf bereits Wittgenstein hingewiesen hat: „Man kann freilich statt der gewöhnlichen Form der Frage die der Feststellung, oder Beschreibung setzen: „Ich will wissen, ob...", oder „Ich bin im Zweifel, ob..." - Aber damit hat man die verschiedenen Sprachspiele einander nicht näher gebracht" (Wittgenstein 1967, § 24). Eine methodische Alternative zu den reduktionistischen Beschreibungsvorschlägen ist das dialogische Verfahren, bei dem die innere Struktur von Fragehandlungen aus den möglichen Anschlußhandlungen rekonstruiert wird. Neben den Antworthandlungen, die auf den propositionalen Aspekt der Fragehandlungen Bezug nehmen (vgl. dazu Abschnitt 3), lassen sich Entgegnungshandlungen unterscheiden, die sich auf die Fragevoraussetzungen beziehen (vgl. Abschnitt4; Poggi u.a. 1981). Auf die von A in (6) gestellte Frage hat Β eine ganze Reihe von Entgegnungsmöglichkeiten, die regelhaft mit jeweils spezifischen Fragevoraussetzungen zusammenhängen: (6) Ai : Wer wird neuer Finanzminister? Βj : Das wissen Sie doch. (Ich habs doch vorher gesagt.) B2: Das interessiert Sie doch nicht.

12. Frage-Antwort-Dialoge

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Bs : Ich weiß es nicht/noch nicht genau. B 4 : Das kann ich hier im Fernsehen nicht sagen. B 5 : Das ist noch nicht entschieden. Die Entgegnungsmöglichkeiten Bi bis B 5 zeigen, daß der Fragende auf folgende Voraussetzungen festgelegt werden kann, die sich als Regeln für Fragehandlungen formulieren lassen: (7) Wenn A eine Frage stellt, dann legt er sich darauf fest, (i) daß er die Antwort nicht kennt. (B^ (ii) daß er die Antwort wissen möchte. (B2) (iii) daß er annimmt, daß Β eine Antwort kennt. (B3) (iv) daß er annimmt, daß Β in der Lage ist, eine Antwort zu geben. (B4) (v) daß er annimmt, daß es eine Antwort auf die Frage gibt. (B5) Nutzt man die Entgegnungsmöglichkeiten, um die innere Struktur von Fragehandlungen zu rekonstruieren, so bringt das zwei Vorteile mit sich. Erstens wird dadurch die restriktive Bedingungsanalyse der Sprechakttheorie vermieden, derzufolge die Verwendung interrogativer Ausdrücke abweichend ist, wenn bestimmte Voraussetzungen nicht erfüllt sind (vgl. Carlson 1983,107-110). Die Umdeutung der Erfolgsbedingungen in dialogisch einklagbare Festlegungen des Fragenden eröffnet zweitens die Möglichkeit, verschiedene Fragetypen als Abwandlungen einer Standardform zu begründen. So lassen sich beispielsweise Informationsfragen, Prüfungsfragen und mäeutische bzw. Unterrichtsfragen in bezug auf die partnerbezogenen Wissensvoraussetzungen unterscheiden. Bei Informationsfragen geht der Fragende davon aus, daß der Befragte die Antwort kennt, bei Prüfungsfragen weiß er gerade nicht, ob der Befragte die Antwort kennt, sondern will es herausfinden, bei mäeutischen Fragen setzt er voraus, daß der Befragte die Antwort im Prinzip kennen kann. Intentionale Verstöße gegen die Standard Voraussetzungen, die der Partner als solche erkennen kann, eröffnen eine ganze Reihe strategischer Nutzungsmöglichkeiten von Fragen. Man kann z.B. eine Frage mit einer sarkastischen Gegenfrage zurückweisen, indem man die Wissensvoraussetzung unterläuft (Ist Bundeskanzler Kohl Christdemokrat? - Ist der Papst katholisch?).

3.

Fragearten und Typen von Frage-Antwort-Dialogen

3.1

Form-Funktions-Zusammenhänge

Mit dem Ausdruck Fragen wird eine ganze Familie sprachlicher Handlungsmuster bezeichnet. Die verschiedenen Versuche, diese Familie nach Verwandtschafts- und Ähnlichkeitsbeziehungen zu ordnen (Burkhardt 1986; Frier 1981; Luukko-Vinchenzo 1988; Zimmermann 1988; Carlson 1983), spiegeln einerseits die große Variationsbreite von Fragehandlungen, andererseits aber auch die Schwierigkeiten, eine homogene Typologie zu erstellen. Ein Reflex des Typologisierungsproblems ist die Vielfalt der

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Bezeichnungen für Fragearten - z.B. Entscheidungsfragen, Ergänzungsfragen, Satzfragen, Ja/Nein-Fragen, Echofragen, Rückfragen, rhetorische Fragen, Alternativfragen, herausfordernde Fragen - mit denen jeweils ganz unterschiedliche Gesichtspunkte von Fragehandlungen zum Einteilungskriterium gemacht werden. Man kann die Typologisierungsprobleme darauf zurückführen, daß der Zusammenhang von sprachlicher Form, propositionalem Gehalt und Funktion im Falle des Handlungsmusters FRAGEN in spezifischer Weise mehr-mehrdeutig ist. Erstens können Fragesätze zu verschiedenen Handlungen verwendet werden, nicht nur zum FRAGEN. Man kann Fragesätze verwenden zum AUFFORDERN (Gibst du mir mal das Buch rüber?), zum VORWERFEN (Kannst du nicht mal pünktlich sein?), zum BEGRÜSSEN (Wie gehts?) oder zum VORSCHLAGEN (Sollen wir nicht mal rausgehen?). Für eine Fragetypologie ergeben sich daraus zwei Konsequenzen: Es kann keine Eins-zu-eins-Relation zwischen den interrogativen Ausdrucksformen und den Verwendungen - ihrer Funktion - geben, und es sind Grenzfälle möglich, bei denen schwer entscheidbar ist, ob eine Frage gestellt oder beispielsweise eine Vermutung geäußert wurde. Dieselbe Frage kann zweitens ganz unterschiedlich formuliert werden. So kann man nach dem Grund fragen, aus dem A nicht kommt, indem man äußert Warum kommst du nicht?, Du kommst nicht? oder Kannst du mir sagen, warum du nicht kommst?. Da man in allen Fällen mit Ich habe Bauchweh antworten kann, folgt daraus, daß man Fragen nicht nur mit Fragesätzen stellen kann und daß syntaktische Kriterien auch für die Unterscheidung von Fragearten - z . B . Entscheidungs- und Ergänzungsfragen - nur begrenzt aussagekräftig sind (vgl. Kiefer 1980). Drittens kann derselbe Fragesatz zu unterschiedlichen Arten von Fragehandlungen verwendet werden. Je nach Kommunikationszusammenhang kann mit dem Ausdruck Wer soll das bezahlen? eine Informationsfrage, eine Rückfrage oder eine rhetorische Frage gestellt werden. Vor allem diese Art von Beispielen unterstreicht die Notwendigkeit, Aspekte des Dialogzusammenhangs in eine Typologie der Fragehandlungen einzubeziehen. Viertens ist der propositíonale Gehalt einer Frage - also das, wonach gefragt wird nicht eindeutig aus dem Frageausdruck ableitbar. So können z.B. bestimmte WFragen identifizierend gemeint sein (Wer kommt? - Karl.) oder aber generisch (Wer kommt? - Ein Freund.). Auch im Falle der Entscheidungsfragen greift eine am Ausdruck orientierte propositionale Analyse zu kurz, derzufolge „sie als Antwortmöglichkeiten eine Disjunktion von nur zwei Gliedern vorgeben, wobei das zweite Glied stets die Negation des ersten darstellt" (Conrad 1978,126; vgl. auch Hintikka 1976; Hamblin 1973; Searle/Vanderveken 1985). Erstens erschöpfen sich die Beantwortungsmöglichkeiten von Entscheidungsfragen nicht in den binären Ja/Nein-Antworten, sondern erlauben Graduierungen (Gefällt es dir? - Sicherl Vielleicht/ Wahrscheinlich/ Kaum! Ein bißchen.). Zweitens gibt es auch Entscheidungsfragen, die bestimmte Antworten problematisch erscheinen lassen (Bist du schon wach? - Ja/ So halb/ *Nein). Und drittens können Entscheidungsfragen mehr als zwei Antwortmöglichkeiten vorgeben, die im übrigen auch nicht in einer kontradiktorischen Relation - A kommt heute; A

12. Frage-Antwort-Dialoge

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kommt heute nicht - stehen müssen. Daß beispielsweise mit der Entscheidungsfrage Fliegt Hans morgen nach Berlin? in verschiedenen Kommunikationszusammenhängen nach Verschiedenem gefragt werden kann, zeigen folgende Anwortmöglichkeiten: (8) Ai: Bj: B2: B3: B4:

Fliegt Hans morgen nach Berlin? Nein, er fährt mit der Bahn. Nein, seine Frau fliegt. Nein, er fliegt heute. Nein, er fliegt nach London.

Erst wenn der Gefragte mit Hilfe bestimmter Hintergrundannahmen eine Fokussierung der Frage vornehmen kann, ist er überhaupt in der Lage, eine Antwort zu geben (vgl. Kiefer 1980). Fünftens gibt es eine ganze Reihe sprachlicher Mittel, durch deren Verwendung in Fragesätzen sich zwar der wahrheitsfunktional beschreibbare propositionale Gehalt nicht ändert, die aber den kommunikativen Sinn einer Fragehandlung beeinflussen. Das gilt beispielsweise für das folgende Ausdruckspaar: Kommst du?, Kommst du doch? Und sechstens sind die Verwendungsmöglichkeiten interrogativer Ausdrucksformen in einigen Fällen eng an den jeweiligen Dialogstand gebunden. Das gilt beispielsweise für Echofragesätze (Er kommt wann?), für Kurzformen von Fragen (Wann?) und Antworten (Heute) sowie für verschiedene Partikeln. Dementsprechend müssen Dialogregeln in die Beschreibungen der Verwendungsweisen dieser Ausdrucksformen integriert werden. Diese Vielfalt der Zusammenhänge zwischen Form, Inhalt und Funktion legt es nahe, bei der Typologisierung von Fragehandlungen konsequent pragmatisch zu verfahren und folgende Prinzipien zu beherzigen: (i) (ii) (iii) (iv)

Das Prinzip der konsequenten Unterscheidung von Form und Verwendung. Das Prinzip der integrativen Behandlung von Form und Verwendung. Das Prinzip der sequentiellen Analyse von Fragen und Antworten. Das Prinzip der dialogdynamischen Betrachtung von Kommunikationszusammenhängen, in die Frage-Antwort-Sequenzen eingebunden sind.

Gegenstand einer Typologisierung von Fragen sind im Grunde genommen nicht einzelne Fragehandlungen, sondern Frage-Antwort-Dialoge. Die folgende Übersicht illustriert die Anwendung der genannten Prinzipien und demonstriert die Reichweite einzelner Typologisierungskriterien.

3.2

Unterscheidungskriterien für Fragearten

Es besteht weitgehend Übereinstimmung darüber, daß aufgrund der Äußerungsform von Fragehandlungen unter lexikalischen, syntaktischen und intonatorischen Kriterien zwei Standardformen unterscheidbar sind: Die Entscheidungsfragen (Ja/Nein- oder auch Satzfragen), die gekennzeichnet sind durch Verb-Spitzenstellung und ansteigende Intonation, und die Ergänzungsfragen (W- oder Wortfragen), die immer ein W-

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H.-J. Bucher

Wort enthalten (vgl. z.B. Paul 1919, 13; Katz 1972, 207; Groenendijk/Stokhof 1984, 261; Áqvist 1975, 49). Aber bereits unter formalen Gesichtspunkten sind eine Reihe von Sonderfällen zu berücksichtigen, die eine übersichtliche Lösung erschweren. Man kann Entscheidungsfragen formulieren ohne Verb-Spitzenstellung (Du kommst heute abend?), was Hermann Paul zu dem Schluß veranlaßte, daß „als durchgängiges Charakteristikum nur der Frageton übrig bleibt" (Paul 1919,13; vgl. auch Grundzüge 1984, 769). Nimmt man die Wortstellung als Kriterium, so müßte als eine weitere Frageart die Echofrage (Du kommst wann?) angenommen werden (vgl. Bierwisch 1971). Unter Formaspekten lassen sich die Alternativ- oder disjunktiven Fragen als ein weiterer Fragetyp begründen (Kommst du heute oder kommst du morgen? vgl. Wunderlich 1976; Burkhardt 1986). Eine Vereinheitlichung der nach Kriterien der Äußerungsform unterschiedenen Typen läßt sich erreichen, wenn man die Art der Antwortmöglichkeiten und die Äußerungsform der Antwort in einer Typologie mitberücksichtigt. Sowohl die Ergänzungsfrage (Wann kommst du?) als auch die Echofrage (Du kommst wann?) und die Alternativfrage (Kommst du heute oder kommst du morgen?) können mit Morgen beantwortet werden. Allerdings erlaubt das nicht den Schluß, daß die übrigen Fragearten nur mit Ja oder Nein beantwortbar sind. So können beispielsweise negative Entscheidungsfragen (Kommst du heute nicht?) auch mit Doch beantwortet werden; sogenannte Fokusfragen (Kommst du heute?) führen im Verneinungsfall in der Regel zu einer Art Doppelbeantwortung (Nein, ich gehe), was Kiefer veranlaßte, sie entgegen ihrer syntaktischen Form als W-Fragen zu interpretieren (Kiefer 1980). Die Systematisierung von Fragen nach dem, was gefragt wird, also nach dem propositionalen Gehalt der Fragehandlung, ist eine Konsequenz aus den Unzulänglichkeiten der an Äußerungsformen orientierten Typologien (vgl. Conrad 1978, 30—34). In Abgrenzung zu ihnen werden die propositionalen Vorschläge, die vor allem von Fragelogikern gemacht wurden, semantisch genannt. Sie ermöglichen sowohl eine propositionale Begründung der Unterscheidung der Standardformen (Ergänzungs-, Entscheidungs- und Alternativfrage) als auch neue Differenzierungen anhand der Antwortvorgaben einer Frage, terminologisch „strukturelle Antwortdetermination" (Conrad 1978), „Desideratum" (Hintikka 1976) oder „Anforderung" (Belnap/Steel 1985) genannt. Je nachdem, ob eine Frage eine endliche oder eine offene Anzahl von Antwortalternativen präsentiert, unterscheiden Belnap/Steel zwischen Oft-Fragen und We/c/ie-Fragen. Eng damit verwandt ist die Einteilung in kategoriale und propositionale Fragen (vgl. dazu Bäuerle 1979; Groenendijk/Stokhof 1984, 38—57). Kategoriale Fragen gelten als in bestimmter Weise unvollständige Entitäten - „a Statement with a blank" (Hamblin 1958,163); „a propositional function" (Cohen 1929,353) - , die durch eine Antwort so zu vervollständigen sind, wie es der kategoriale Anspruch des WFragewortes erfordert. Bei propositionalen Fragen wird davon ausgegangen, daß die Antwortalternativen bereits als vollständige Propositionen in der Frage enthalten sind, in Entscheidungsfragen z.B. die explizit formulierte Alternative und ihre implizite Negation (vgl. Conrad 1978,126; Hintikka 1981). Eine weitere Einteilungsmöglichkeit eröffnet Hintikkas Vorschlag, den propositionalen Gehalt von Fragehandlungen mit

12. Frage-Antwort-Dialoge

247

Hilfe der beiden logischen Quantoren (x) und (Ex) zu analysieren (vgl. Abschnitt 2). So kann die Frage Wer kommt? entweder im Sinne von Wer kommt beispielsweise? oder aber im Sinne von Wer kommt alles? verstanden werden. Die erste Lesart nennt er existentiell, da sie mit dem Existenzquantor (Ex) dargestellt wird, die zweite Lesart, die auf der Anwendung des Allquantors (x) beruht, universell. Die propositionale Unterscheidung von Fragearten geht zwar in ihrer theoretischen Fundierung über die Ad-hoc-Systematik syntaktischer Einteilungen hinaus. Eine entscheidende Schwäche liegt jedoch darin, daß die Abhängigkeit des propositionalen Gehalts vom Kommunikationszusammenhang einer Fragehandlung nicht systematisch in die Analyse integriert wird. Dementsprechend zeigen sich die Nachteile solcher Beschreibungsvorschläge besonders deutlich in Fällen, bei denen das, was gefragt wird, nicht ohne weiteres aus der Frageformulierung ableitbar ist. Das gilt beispielsweise bei den sogenannten offenen Fragen -z.B. Warum- und Wi'e-Fragen - oder bei den bereits erwähnten Fokusfragen. Außerdem hat die Beschränkung des Einteilungsgesichtspunkts auf den Frageinhalt zur Folge, daß diejenigen Fragearten nicht in einer Typologie berücksichtigt werden können, die sich in bezug auf ihren kommunikativen Wert für die Dialogorganisation unterscheiden. Unter propositionalen Gesichtspunkten wären beispielsweise die beiden Fragen Kommt er? und Kommt er nicht? äquivalent - da sie ja dieselbe Disjunktion von zwei Alternativen präsentieren - , was sie natürlich unter dialogischen Gesichtspunkten nicht sind (vgl. dazu Abschnitt 4). Weitere Typologisierungskriterien für Fragehandlungen sind die sequentielle Stellung und der damit verbundene dialogische Sinn. Generell lassen sich drei Stellungstypen von Fragehandlungen unterscheiden: die initiative Stellung, die reaktive Stellung und die integrierte Stellung. Bei der zuletzt genannten Stellung handelt es sich um monologische Verwendungen von Frage-Antwort-Sequenzen, bei denen der Fragende die Antworten selbst gibt. Beispiele hierfür sind Überlegungsfragen oder Gliederungsfragen, die in bestimmten Textsorten auch Überschriften-Funktionen übernehmen. Auch rhetorische Fragen können in einen monologischen Beitrag integriert sein, beispielsweise in eine Argumentationsführung (vgl. Schwitalla 1984). Mit Fragehandlungen kann man im Prinzip auf alle Arten sprachlicher Handlungen reagieren, wobei die Klärung eines Aspektes der Vorgängeräußerung eine besonders prominente Funktion darstellt. Neben dieser Gruppe der Verständnisfragen lassen sich die sogenannten Checking-Fragen unterscheiden, deren Sinn darin gesehen werden kann, den Verifikationsgrad einer vorausgegangenen Äußerung zu erhöhen (vgl. Carlson 1983, 120-123): (9) Αι: Βι: A2: B2: A3:

Karl kommt heute. Karl kommt heute ? Ja sicher. Sicher? Aber ja doch, hundertprozentig.

In dem gewählten Beispiel werden die Checking-Fragen in der sprachlichen Form von Echofragen realisiert (vgl. Reis 1990). In ihrem Fall ist der Zusammenhang von

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248

sequentieller Stellung und Frageform besonders typisch: Die Frage ist so formuliert, daß die Vorgängeräußerung oder ein Teil von ihr wiederholt bzw. wiederaufgenommen wird, wobei im Falle von Ergänzungsfragen die Stellung des W-Wortes relativ frei ist (Karl kommt wann?). Da Echofragen auf verschiedene Weise verwendbar sind neben den Verständnisfragen auch zu Checking-Fragen oder rhetorischen Fragen stellen sie keinen Handlungstyp dar, sondern sind ein sequentiell gebundenes Formulierungsmuster. Die Sequenzstellung von Fragen eignet sich auch als Kriterium, mit dem Zusammenhänge zwischen den Standardfrageformen freigelegt werden können. Der folgende Frage-Antwort-Dialog zeigt einen regelhaften Zusammenhang zwischen Ergänzungs- und Entscheidungsfragen: Letztere kann man nutzen, um die Voraussetzungen - ζ . B. die Existenzvoraussetzung-zu sichern, die mit der entsprechenden Ergänzungsfrage gemacht werden. (10) Αχ: Bi: A2: B2:

Hat sich jemand angemeldet? Ja. Wer denn? Gitte, Eva und Josef.

Dieser Sequenz-Zusammenhang zwischen den beiden Fragearten kann zur Deutung von Konditionalfragen herangezogen werden : Fragen wie Wenn sich jemand angemeldet hat, wer alles? sind Abkürzungen für Dialogverläufe in der Art von (10). Der Gefragte kann bereits mit dem zweiten Zug entweder die eingeleitete Ergänzungsfrage mit B 2 beantworten - und akzeptiert damit die Fragevoraussetzung - , oder er weist die konditionale Fragevoraussetzung zurück (Es hat sich niemand angemeldet), wodurch die Frage obsolet wird. Bereits in Abschnitt2 wurde gezeigt, wie Informationsfragen, mäeutische Fragen und Prüfungsfragen über die jeweiligen Wissensvoraussetzungen voneinander unterscheidbar sind. In Abschnitt 4 werden die Fragevoraussetzungen in bezug auf die Beantwortung genutzt, um die Gruppe der sogenannten Tendenzfragen zu charakterisieren. Die Fragevoraussetzungen hängen eng mit der jeweiligen Sequenzstellung einer Fragehandlung zusammen, da sie sich meistens auf Aspekte des Dialogstandes beziehen, z.B. das gemeinsame Wissen, die Kenntnisse des Gefragten, seine Bereitschaft zu antworten oder vorausgegangene Dialogbeiträge. Die kommunikative Relevanz der Fragevoraussetzungen wird besonders deutlich erkennbar, wenn sie eine Beantwortung der Frage blockieren und den Befragten zu ihrer Bearbeitung zwingen. In provozierenden Fragen macht sich der Fragende genau dies zunutze (vgl. Art. 23, Abschn. 4.2).

12.

Frage-Antwort-Dialoge

4.

Frage-Antwort-Sequenzen im Dialogzusammenhang

4.1

Fragehandlungen und Dialogsteuerung

249

Im Rahmen einer Theorie der Dialogspiele wurde verschiedentlich der Vorschlag gemacht, die Dialogdynamik über eine Beschreibung der Veränderungen des jeweiligen Spielstandes zu analysieren (Hamblin 1970; Lewis 1979; Carlson 1984b; Fritz 1989). Folgt man dieser Idee, so kann man die Möglichkeiten der Dialogsteuerung durch Fragehandlungen rekonstruieren, indem man zeigt, wie der Spielstand eines Dialogs durch diese Handlungsform beeinflußbar ist. Es sind vor allen Dingen folgende Aspekte eines Spielstandes, die durch Fragehandlungen veränderbar sind: die Verteilung des Rederechts, die Handlungsalternativen, das Dialogthema, die Wissenskonstellationen und die Festlegungs-Konten der Dialogpartner (vgl. zum Festlegungssystem Art. 10, Abschnitt2.3). Daß Fragehandlungen Mittel zur Organisation des Rederechts sowie der Dialogverläufe sind, ist auf ihre sequenzeröffnende Stellung zurückzuführen: Wer fragt, kann einen Sprecherwechsel initiieren, einen neuen Sprecher, den Adressaten der Frage, auswählen und ein Relevanzkriterium für eine angemessene Dialogfortsetzung einführen. In der ethnomethodologischen Konversationsanalyse werden diese strukturellen Merkmale von Frage-Antwort-Sequenzen in zweierlei Hinsicht exploratorisch genutzt: einerseits zur Analyse von Mechanismen des Sprecherwechsels („Organization of turntaking", Sacks/Schegloff/Jefferson 1974) und andererseits zur Beschreibung von Paarsequenzen („adjacency pairs", Schegloff/Sacks 1973; Schegloff 1978). Die themensteuernde Funktion von Fragehandlungen beruht einerseits auf ihrer sequenzeröffnenden Stellung und andererseits auf ihrer relativ freien Plazierbarkeit. So kann man mit Fragen auf ein neues Thema übergehen oder aber durch Rückbezüge auf vorausgegangene Beiträge an einem Thema festhalten. Eine weitere Form der Dialogsteuerung mittels Fragehandlungen läßt sich auf die Voraussetzungen zurückführen, die der Fragende mit seiner Äußerung in den Dialog einzuführen versucht. Im Gegensatz zu den aseptischen Frageformulierungen, wie sie in Grammatiken oder in der Fragelogik zu finden sind, werden in alltagssprachlichen Frageäußerungen eine Reihe von Ausdrücken verwendet, mit denen zusätzliche und dialogspezifische Voraussetzungen gemacht werden können. Der Fragende kann auf sie festgelegt werden und der Befragte muß sie in seiner Entgegnung bearbeiten. Da dadurch der Beantwortungsspielraum beeinträchtigt wird, werden solche Fragen als ,geladene' („biased", „loaded", Carlson 1983) oder als Tendenzfragen („conducive", Bolinger 1957; Stenström 1984; Rehbock 1985; 1987) bezeichnet. Ihre jeweilige Ladung oder Tendenz beruht darauf, daß mit den Fragen Voraussetzungen gemacht werden bezüglich (i) des erreichten Festlegungsstandes, (Wann hat Egon aufgehört, seine Frau zu schlagen ? Hast du doch abgeschlossen?)

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250 (ii) der Antwortevidenz, (Du hast doch abgeschlossen, oder?) (iii) der Antwortpräferenz, (Hast du etwa abgeschlossen?) (iv) der Antworteinschätzung (Konsens-Dissens), (Du hast doch nicht etwa abgeschlossen?) (v) des gemeinsamen Wissens der Dialogpartner.

Wie die Beispielsätze zeigen, gibt es typische sprachliche Mittel, mit denen die Voraussetzungen des Fragenden angezeigt werden können: Negation, Fragepartikeln, Wortstellung oder Frageanhängsel („tag questions"). Dennoch spielt letztendlich der Kommunikationszusammenhang die entscheidende Rolle für eine Rekonstruktion der Fragevoraussetzungen und damit für die Deutung der Fragetendenz. Aus diesem Grunde sind Tendenzfragen verschiedentlich als Gegenbeispiele zu einer engen semantischen Analyse von Fragen ins Feld geführt worden (vgl. Kiefer 1980; Carlson 1983; Groenendijk/Stokhof 1984).

4.2

Fragevoraussetzungen und Dialogstand

Unter dialogischer Perspektive stehen sprachliche Äußerungen in einer Kommunikationsgeschichte, die sich u. a. in den Festlegungen manifestiert, die die Kommunikationspartner im Verlauf des Dialogs eingegangen sind. Vertreter einer Theorie der Dialogspiele haben daraufhingewiesen, daß mit Fragehandlungen einerseits vorausgegangene Festlegungen aktualisiert (z.B. Carlson 1983, 59f.) und andererseits neue Festlegungen auf die Konten beider Dialogpartner eingetragen werden können (Hintikka 1981b, 223—225). Da, wie die folgenden Beispiele zeigen, sich der Antwortende unabhängig von der Art seiner Antwort auf die Fragevoraussetzung festlegt, hat sich für diese Fälle der Ausdruck „Presupposition" eingebürgert (vgl. Belnap 1969; Keenan/Hull 1973; Hintikka 1981a; Walton 1988). (11) A ^ Bj: B2: (12) Al· Bl· B2:

Hat Egon aufgehört zu rauchen? Nein. Ja. Wann hat Egon aufgehört zu rauchen? Letzte Woche. Ich weiß es nicht.

Ganz gleich, ob in (11) und (12) die Frage von A mit Bi oder B 2 beantwortet wird, Β hat sich in jedem Falle auch darauf festgelegt, daß Egon geraucht hat. Wenn dieser Sachverhalt bereits zum Bestand der gemeinsam geteilten Annahmen der Dialogpartner gehört, ist diese Konsequenz unproblematisch. Ist das aber nicht der Fall, so hätten Dialogverläufe der Art von (11) und (12) zur Folge, daß der Befragte sich bei Beantwortung auf Annahmen festlegt, die eventuell mit anderen Annahmen seines Festlegungskontos unverträglich sind. Da dies dem Zweck eines rationalen Dialogs zuwiderläuft, muß die Möglichkeit vorgesehen werden, Fragevoraussetzungen, über die noch kein Konsens besteht, zurückzuweisen. Wie insbesondere Politikerinterviews zeigen

12. Frage-Antwort-Dialoge

251

(vgl. Artikel23, Abschn. 5), erübrigt sich damit die Sanktionierung von Tendenzfragen. Da die Zurückweisung einer Fragevoraussetzung in jedem Fall weniger informativ ist als eine Beantwortung, sind Tendenzfragen in Informationsgewinn-Dialogen kontraproduktiv, d.h. nicht rational (vgl. Hintikka 1986, 269). Dennoch kann es in natürlichen Dialogen strategische Gründe geben, für die ein Fragender die Zurückweisung der Voraussetzungen in Kauf nimmt, z.B. wenn er genau diese Zurückweisung publik machen will oder wenn er versuchen will, dem Gesprächspartner - ζ. Β. in einem Verhör - eine Festlegung unterzuschieben (vgl. Bucher 1993). Diese dialogische Behandlung der Frage-Präsuppositionen eröffnet auch eine Möglichkeit für eine Auflösung des „Fehlschlusses der vielen Fragen" („fallacia plurium interrogationum"). Irreführend an Fragen der Art Hast du aufgehört, deine Frau zu schlagen?, von denen die Problemfälle auch ihren Namen „spouse-beating-questions" erhalten haben, ist nicht, daß „man aus zwei Fragen eine macht" (Aristoteles, Sophistische Widerlegungen) oder daß sie falsche Präsuppositionen enthalten (Áqvist 1975). Ob solche „geladenen" Fragen irreführend sind, hängt ab vom erreichten Stand des gemeinsamen Wissens der Dialogpartner, also von den Festlegungen, die beide auf ihrem Konto kumuliert haben. Wenn beide wissen, daß der Gefragte seine Frau geschlagen hat, verliert die Frage ihre Tendenz.

4.3

Beantwortungserwartungen

Fragen werden nicht immer aus einer völligen Unwissenheit und Neutralität gegenüber ihrer Beantwortung gestellt. Das liegt daran, daß Frage-Antwort-Kommunikationen meistens in Dialoge eingebettet sind, in deren Verlauf die Teilnehmer Wissen und Annahmen ansammeln und sich bestimmte Konstellationen gemeinsamen Wissens ausbilden (vgl. Art. 23, Abschn. 4.1). Deshalb lassen sich neben der Standard-Wissenskonstellation „A kennt die Antwort nicht, Β kennt die Antwort" auch Abstufungen partiellen Wissens bezüglich der Beantwortung einer Frage unterscheiden. Aufgrund des allgemeinen Weltwissens und des im vorausgegangenen Dialogverlauf gesammelten Wissens kann der Fragende Annahmen darüber machen, (i) wie die gestellte Frage zu beantworten ist („Antwortevidenz"; vgl. Conrad 1978, 43), (ii) wie die Frage beantwortet werden sollte („Antwortpräferenz"; vgl. Rehbock 1987, 364-378), (iii) wie verträglich die vermutete und die präferierte Antwort sind (Antwortbeurteilung). Über die Sequenzregeln und die Fragepräsuppositionen hinaus kann der Fragende die Dialogsteuerung verfeinern, indem er diese Annahmen in die Formulierung seiner Frage aufnimmt. Um dem Gesprächspartner diese Beantwortungsannahmen zu signalisieren, kann er sich auf verschiedene fragespezifische sprachliche Mittel stützen, die man als tendenzindizierend bezeichnen könnte: die Negation, die Fragepartikeln, die Frageanhängsel („tag-questions"), die Wortstellung und die Intonation. Beispielswei-

252

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se unterscheiden sich die Fragen Kommt Karl? und Karl kommt, nicht wahr? darin, daß der Fragende mit der zweiten Formulierung eine „Antworterwartung" (Conrad 1978, 4 2 - 5 0 ) anzeigt, nämlich die Erwartung, daß Karl kommt. Da sich solche Erwartungen aus der Dialog-Vorgeschichte speisen, sind tendenzindizierende Ausdrucksmittel zugleich Mittel um anzuzeigen, inwiefern eine Frage im jeweils aktuellen Kommunikationszusammenhang relevant ist. Der Bedeutungsbeitrag dieser sprachlichen Mittel zum möglichen kommunikativen Sinn einer Fragehandlung kann dementsprechend nicht propositional beschrieben werden, sondern nur dialogdynamisch. Mit tendenzindizierenden Mitteln kann ein Sprecher anzeigen, in bezug auf welche Hintergrundannahmen des bisherigen Dialogverlaufs eine Frage relevant ist („semantic constraints on relevance", Blakemore 1987) und damit auch, inwiefern „vom gemeinsamen Wissen Gebrauch zu machen ist" (Heringer 1988). Daß Beantwortungserwartungen aus vorausgegangenen Dialogabschnitten abgeleitet sind, läßt sich besonders deutlich am Beispiel der mit Betonung verwendeten Partikel doch zeigen. Wer die Frage (13) stellt, setzt voraus, daß im bisherigen Dialog verschiedene Erkenntnisstadien bezüglich des Kommens von Karl durchlaufen wurden. (13) Kommt Karl doch (betont)? Die verschiedenen Erkenntnisstadien lassen sich in folgendem Beispieldialog modellhaft darstellen: (14) A: Β: C:

Egon hat sich für die Tagung in Bonn angemeldet, Karl nicht. Karl hat aber in Bonn ein Zimmer reserviert. Kommt Karl doch?

Die Äußerungen von A und Β drücken zwei verschiedene Erkenntnisstadien bezüglich Karls Kommen aus, die mit der Frage von C vorausgesetzt und mit der betonten Partikel doch angezeigt werden: -

Es gibt Indizien, daß Karl nicht kommt. Es gibt Indizien, daß Karl kommt.

Dementsprechend könnte man den Bedeutungsbeitrag der betonten Partikel doch folgendermaßen beschreiben: Mit doch kann man anzeigen, daß eine Entscheidungsfrage, ob p, relevant ist in bezug auf das Sequenzmuster „Vermuten, daß nicht ρ Etwas nennen, was gegen die Vermutung spricht". In diesem Sinne sind Fragen mit betontem doch eine besondere Form von Vergewisserungsfragen. Eine extreme Form der Dialogsteuerung ist die rhetorische Verwendung einer Frage, kurz rhetorische Frage genannt. In diesem Fall nimmt der Fragende an, daß bestimmte Fragevoraussetzungen nicht erfüllt sind und die Frage sich deshalb überhaupt nicht stellt. Eine Analyse der rhetorischen Frage als indirekte Behauptung (vgl. z.B. Meibauer 1986; Rehbock 1984) trifft den kommunikativen Sinn dieser Handlungsform nicht ganz, weil damit gerade ihr spezifischer kommunikativer Witz unberücksichtigt bleibt, den Adressaten auf das als gemeinsam vorausgesetzte Wissen zu verpflichten.

12. Frage-Antwort-Dialoge 5.

253

Kommunikative Prinzipien in Frage-Antwort-Dialogen

Frage-Antwort-Sequenzen bilden einen natürlichen Dialogzusammenhang für die Anwendung kommunikativer Prinzipien. Wer Fragen stellt, tut das mit bestimmten kommunikativen Absichten, auf deren Hintergrund er die erhaltenen Antworten beurteilt. Diese Urteile können explizit formuliert werden, ζ. B. in Einwänden gegen die erhaltene Antwort. Sie können sich aber auch darin zeigen, wie der Fragende nach der Beantwortung im Gespräch fortfährt. Wechselt er zu einem neuen Thema, so kann das heißen, daß er die Frage für beantwortet hält, fragt er nach oder spezifiziert bzw. modifiziert er die Frage, so kann das darauf hindeuten, daß er mit der Beantwortung noch nicht zufrieden ist (vgl. Blum-Kulka 1983). Über die Beantwortungsbewertung hinaus dienen die kommunikativen Prinzipien auch als Basis für das Verständnis oder die Deutung von Frage-Antwort-Zusammenhängen. Ob und inwiefern eine Äußerung als Antwort zählen soll, ist vielfach nur entscheidbar, wenn man dem Antwortenden die Befolgung kommunikativer Prinzipien unterstellt (vgl. Grice 1975, 51f.). Nutzt man solche Kommunikationszusammenhänge methodisch für die Klärung kommunikativer Prinzipien, so läßt sich eine Schwäche vermeiden, die der Griceschen Begründung kommunikativer Maximen verschiedentlich angelastet wurde: In vielen Fällen lassen sich Maximen nicht sinnvoll auf Einzeläußerungen oder isolierte Äußerungspaare anwenden, sondern nur auf Dialogverläufe und Strategien (vgl. Hintikka 1986). Bei der kommunikativen Beurteilung von Antworten spielen vor allem zwei Bezugspunkte eine wichtige Rolle: Erstens das Wissen des Fragenden und zweitens der kommunikative Zweck, den er mit der Frage verfolgt. Die Art der Wissenserweiterung des Fragenden liefert den Maßstab zur Beurteilung der Informativität einer Antwort (vgl. Keenan/Hull 1973; Hintikka 1986; Lehnert 1984), ihre Nützlichkeit für einen bestimmten Zweck des Fragenden kann als Basis zur Beurteilung ihrer Relevanz dienen (vgl. Kiefer 1980; 1988; Grewendorf 1981). Antworten können auf verschiedene Art gegen die Maxime oder das Prinzip der Informativität verstoßen: Sie können uninformativ sein, weil sie Informationen liefern, über die der Fragende bereits verfügt (vgl. (15)); sie können eine Frage unterbeantworten (vgl. (16) und (17)), d.h. ein Wissensdefizit offenlassen (,indefiniteness'), sie können eine Frage überbeantworten (vgl. Grice 1975, 52f.) und sie können von falschen Wissensvoraussetzungen ausgehen (,nonconclusiveness\ vgl. (18)). (15) A: B: (16) A. Β: A: (17) A: B: A: (18) A: Β: A:

Wer wohnt hier? Irgendjemand. Wer wohnt hier? Ein Bekannter von mir. Und welcher? Wohnt Karl hier? Nein. Werdann? Wer wohnt hier? Der eifrigste Bibliotheksbenutzer. Und wer ist das?

254

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Erst die Nachfragen von A in den Beispielen (16) bis (18) zeigen, daß Β nur partielle Antworten liefert, aber keine erschöpfenden. Für eine Frage-Antwort-Theorie ergeben sich daraus zwei wichtige Schlußfolgerungen: Erstens zeigen solche Beispiele, daß syntaktische und semantische Kriterien nicht ausreichen, um Frage-Antwort-Zusammenhänge in Dialogen zu beschreiben, da diese Art von Kriterien im Falle der Beispiele keine Unterscheidung zwischen partieller und erschöpfender Antwort ermöglicht. Und zweitens: Die Informativität einer Antwort ist nur relativ zu einem bestimmten Kenntnisstand bestimmbar. Wenn beispielsweise Β in (18) weiß, wer der eifrigste Bibliotheksbenutzer ist, dann ist für ihn die Antwort auch informativ (vgl. Hintikka 1976, 41—58). Je nachdem, in welchem Maße eine Antwort das Wissen des Fragenden erweitert, lassen sich Grade der Informativität unterscheiden. Ein dialogisches Kriterium der Informativität einer Antwort ist die Anzahl der Nachfragen, die notwendig sind, um einen Ziel-Wissensstand zu erreichen. Die Deutung von Entscheidungsfragen als verkappte Ergänzungsfragen - die aufgrund ihrer spezifischen Betonung als Fokus-Fragen bezeichnet werden (vgl. Kiefer 1980) - läßt sich ebenfalls mit Hilfe des Informativitätsprinzips begründen. So ist im folgenden Beispiel (19) die Antwort Bx keine Überbeantwortung der Entscheidungsfrage, sondern die informativere Variante von Bx in (20), da sie der Nachfrage von A vorbeugt: (19) A,: Fliegt Karl morgen nach New York? Bi: Nein, übermorgen. (20) Ai: Fliegt Karl morgen nach New York? Bi: Nein. A2: Wann denn? B2: Übermorgen. Ein Vergleich der Beispiele (19) bis (20) macht deutlich, daß das Prinzip der Informativität auf ein Ökonomieprinzip zurückgeführt werden könnte: Informativere Antworten kürzen den Dialogverlauf ab. Nicht in allen Fällen reicht das Informativitätsprinzip aus, um zu begründen, warum eine Antwort angemessen oder unangemessen ist. So ist in Beispiel (21) die Antwort B! zwar informativ, jedoch möglicherweise unangemessen, im Beispiel (22) dagegen nicht informativ aber - unter bestimmten Voraussetzungen - angemessen. (21) Αχ: Bj: (22) A] : Bi:

Für welchen Tag brauchen sie die IC-Reservierung? Für den 3.7. im Jahr 2001. Fliegt Karl morgen nach Stockholm? Nein.

Grundlage für die Beurteilung der Antworten in (21) und (22) ist ihre Relevanz für den Kommunikationszweck des Fragenden. Die Datumsangabe in (21) ist irrelevant für den Schalterbeamten, der eine IC-Reservierung buchen möchte. Die Nein-Antwort in (22) ist für A genau dann geregelt, wenn er nur wissen möchte, ob Karl am folgenden Tag nach Stockholm fliegt, z.B. weil er selbst an diesem Tag reist und dabei auf keinen Fall Karl treffen will. Beurteilt man Antworten in diesen angedeuteten weiterreichenden Kommunikationszusammenhängen, so wird der Versuch verschiedener Autoren

12. Frage-Antwort-Dialoge

255

nachvollziehbar, den Begriff der Relevanz auf den Begriff der Rationalität oder der Nützlichkeit zurückzuführen (vgl. Hintikka 1986; Kasher 1976; Carlson 1983; Grewendorf 1981; s. a. Artikel 8 und 10). Eine Äußerung kann als Antwort unter ganz verschiedenen Aspekten relevant für den Kommunikationszweck des Fragenden sein. Sie kann relevant sein, weil sie das - eventuell versteckte - Thema der Frage aufgreift, weil sie auf eine Fragevoraussetzung oder -präsupposition Bezug nimmt, weil sie den Frageinhalt ergänzt oder weil sie ein Sequenzmuster fortsetzt, das mit der Frage eröffnet wurde - beispielsweise eine Vermutung bestätigt, die mit der Frage vorgebracht wurde. Für den Fragenden kann sich das Problem ergeben, daß er nicht nur verstehen muß, inwiefern eine Äußerung als Antwort relevant ist, sondern inwiefern eine Äußerung überhaupt einen relevanten Beitrag zur gestellten Frage darstellt. Dies gilt beispielsweise im Falle der Zwischensequenzen, bei denen der Gefragte nicht mit einer Antwort, sondern mit einer Gegenfrage reagiert, um Voraussetzungen zu klären, die er für die Beantwortung benötigt (vgl. Stenström 1988; Churchill 1978; s. a. Art. 1). Bisher wurden die kommunikativen Prinzipien der Informativität und der Relevanz nur im Hinblick auf die Antworten behandelt. Sie lassen sich jedoch auch auf die Fragehandlungen anwenden. Es kann beispielsweise für einen Befragten irritierend sein, wenn er nicht sieht, auf was der Fragende mit einer Frage hinaus will, also die Relevanz der Frage nicht versteht - was sich der Fragende natürlich strategisch zunutze machen kann (vgl. Bennett 1982). Die verschiedenen Formen der Fragevorbereitung sind in diesem Sinne Maßnahmen, die die Relevanz einer Frage verdeutlichen. (23) A:

Als einziger FDP-Abgeordneter haben Sie gegen die neuen Sicherheitsgesetze gestimmt. Können Sie ihre Partei heute abend überhaupt vertreten?

Das Prinzip der Informativität kann man heranziehen, um zu erklären, warum ein Interviewer die Form der Entscheidungsfrage und nicht die der Ergänzungsfrage wählt. Die Frage Kommt Karl morgen? ist aus der Sicht des Gefragten informativer als die Frage Wann kommt Karl?, weil sie neben der Annahme, daß Karl kommt, eine zusätzliche Annahme enthält: Es ist möglich, daß Karl morgen kommt (vgl. Kiefer 1980, 105). Deshalb können Fokusfragen einen Dialogverlauf eröffnen, wie er im Anschluß an Ergänzungsfragen nicht möglich ist: (24) A: Β:

Kommt Karl morgen? Wie kommst du darauf?

Die in Interviews häufig anzutreffende Praxis, Ergänzungsfragen durch entsprechende Entscheidungsfragen zu spezifizieren, kann auf diesem Hintergrund als informativitätsfördernde Maßnahme aufgefaßt werden, mit der der Fragebereich eingeschränkt wird. (25) Pleitgen: Welche Fehler haben Sie gemacht? Ist es beispielsweise ein Fehler, daß Sie andere neben sich nicht dulden? (Frage an Bundeskanzler H. Kohl, ARD 14.12. 90) Neben kommunikativen Prinzipien können Frage-Antwort-Dialoge auch von anderen Prinzipien und Maximen geleitet sein, die teilweise mit den ersteren konfligieren. Man

256

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kann beispielsweise aus strategischen Gründen Fragen sowie Antworten möglichst uninformativ halten oder aufgrund des Prinzips der Höflichkeit relevante Fragen unterlassen.

6.

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Tübingen

13. Dialoganalyse und Semantik

1. 2. 2.1 2.2 2.3 2.4 2.5 3. 3.1 3.2 3.3 3.4 4. 5.

Einleitung Semantische Aspekte der Dialoganalyse Dialogbeiträge machen und verstehen Ausdrücke, Verwendungsweisen und Dialogorganisation Äußerungsformen und ihre Verwendung Arten von Kommunikationen und typische Äußerungsformen Dialoganalyse als strenge Wissenschaft? Bedeutung und Dialogverläufe Dialogsemantik und Gebrauchstheorie Wahrheit und Gebrauch Bedeutungsbeziehungen Bedeutungsbeschreibungen Sprachtheorie, Handlungstheorie, Kognitionswissenschaft Literaturhinweise

1.

Einleitung

Die Grundfragen der Semantik und der Dialogtheorie lassen sich am besten stellen und beantworten als Fragen nach den Fähigkeiten der Sprecher, die eine Sprache und bestimmte Formen des Sprachgebrauchs beherrschen (Dummett 1976, 69ff.). Solche Fragen sind z.B.: Was heißt, die Bedeutung eines Wortes kennen? Was heißt, einen Satz (einer Sprache) verstehen? Wie kommen Sprecher von geäußerten Ausdrücken zu dem, was jemand mit ihrer Äußerung gemeint hat? Was kann ein Sprecher, der Sätze aufgrund seiner Kenntnis der Satzbestandteile versteht? Worin besteht die Fähigkeit zur zusammenhängenden Rede und die Fähigkeit, Dialogbeiträge zu machen und zu verstehen? Von diesen Fragestellungen her betrachtet, sind semantische Fähigkeiten ein Teil der Fähigkeit zur zusammenhängenden Rede. Auf diese Fähigkeiten und ihren Zusammenhang läßt sich aus zwei Perspektiven blicken. Aus der Perspektive der Dialogorganisation lautet die zentrale Frage: Welchen Beitrag leistet die Kenntnis der Bedeutung sprachlicher Ausdrücke (die Beherrschung der konventionellen Verwen-

260

T. Gloning

dungsmöglichkeiten) zur Organisation von Dialogen (Abschnitt 2). Aus der Perspektive der Bedeutung sprachlicher Ausdrücke lautet die zentrale Frage : Inwiefern läßt sich die Einsicht in die Verwendungsmöglichkeiten sprachlicher Ausdrücke für die semantische Beschreibung nutzbar machen (Abschnitt 3).

2.

Semantische Aspekte der Dialoganalyse

2.1

Dialogbeiträge machen und verstehen

Die Fähigkeit von Sprechern und Hörern, Dialogbeiträge zu machen und zu verstehen, beruht zumindest partiell auf ihrer Beherrschung der semantischen Möglichkeiten der Sprache, die sie benutzen, d.h. auf der Beherrschung des normalen Gebrauchs sprachlicher Ausdrücke. Sprecher sind ζ. Β. in der Lage, aufgrund von referentiell verwendeten Ausdrücken den Gegenstand zu identifizieren, den ein Partner gemeint hat. Sie wissen auch, wie man auf einen Gegenstand weiter Bezug nehmen kann, der bereits eingeführt ist, und sie sind in der Lage, von Partnern so verwendete Ausdrücke auf bereits eingeführte Gegenstände zurückzubeziehen. Sie wissen, welche Ausdrücke gebraucht werden können, um etwas Bestimmtes über einen Gegenstand auszusagen, und welche Ausdrücke hierfür mehr oder weniger austauschbar sind (A: Da habe ich zum ersten Mal ein Auto geklaut. - B: Und warum hast du das Auto gestohlen?). Sie wissen, welche typischen Äußerungsformen man braucht, um bestimmte sprachliche Handlungen zu machen, z.B. Vorschläge (wir könnten x-en; wie wär's mit x-en), Ratschläge (Du solltest x-en; Am besten, du x-st), Versprechen (Ich komme bestimmt; Ich verspreche dir hiermit, daß ich komme), Grüße (Grüß Gott; Hallo), Glückwünsche usw. Sie wissen, mit welchen sprachlichen Mitteln man bestimmte Handlungen auf unterschiedliche Weise ausführt, z.B. mehr oder weniger höflich (Salz!; Ich brauche das Salz; Ich möchte das Salz; Ich hätte gern das Salz; Kannst du mir das Salz reichen; Würdest du mir bitte das Salz reichen). Die Sprecher beherrschen elementare Handlungszusammenhänge, die häufig Grundlage für das weitergehende Verständnis von Äußerungen sind. Sie wissen z.B., daß man als Reaktion auf eine Einladung normalerweise die Einladung annimmt oder sie ablehnt. Sie wissen, daß man eine Einladung u.a. dadurch ablehnen kann, daß man einen Grund angibt, warum man der Einladung nicht nachkommen kann. Und sie wissen, daß dazu unter bestimmten Bedingungen gewöhnliche Feststellungen genügen (A: Kommst du mit ins Kino? - B: Ich muß für eine Prüfung lernen). Die Sprecher wissen, daß man aus einer Äußerung wie A hat Β zur Sau gemacht nicht schließen kann, daß Β nun eine Sau ist, sondern daß Α Β angeschnauzt hat, daß Α Β harte Vorwürfe gemacht hat o.ä. Wenn Dialogbeiträge mehrdeutig sind, dann kann das u.a. darauf beruhen, daß die semantischen Eigenschaften der verwendeten Ausdrücke zwei oder mehr Lesarten erlauben. Mehrdeutigkeiten können von Sprechern auch intentional eingesetzt werden, falls sie die Gebrauchsmöglichkeiten sprachlicher Ausdrücke gut genug überblicken. Sprecher sind in

13. Dialoganalyse und Semantik

261

der Lage, ihre Dialogbeiträge bestimmten Forderungen (Maximen) anzupassen: sie können sie so genau, so verständlich, so ausführlich, so unterhaltsam usw. gestalten, wie es der Zweck der Kommunikation, die Voraussetzungen des Partners und die Bedingungen der Kommunikation erfordern. Auch die Fähigkeit, an Zielen und an Maximen orientiert unter Alternativen zu wählen, beruht zu einem beträchtlichen Teil auf der Beherrschung der Gebrauchsmöglichkeiten sprachlicher Ausdrücke. Die genannten Fähigkeiten haben die Sprecher sicherlich in sehr unterschiedlichem Ausmaß, und sie sind in der Regel nur bedingt in der Lage, über ihre Fähigkeiten auch Auskunft zu geben. Bei dieser Sichtweise des Zusammenhangs von Semantik und Dialoganalyse ist ein Verständnis von Semantik vorausgesetzt, wonach die konventionellen Gebrauchsmöglichkeiten sprachlicher Ausdrücke als Gegenstand der Semantik betrachtet werden. Und zum Gegenstand einer linguistisch orientierten Form der Dialoganalyse gehört u.a. die Beantwortung folgender Fragestellungen: (i) Wie können sprachliche Ausdrücke verwendet werden? Was ist mit ihrer Verwendung normalerweise oder in einem bestimmten Fall gemeint? (ii) Wie hängt die Verwendung von Ausdrücken mit vorausgehenden oder nachfolgenden Äußerungen zusammen? Wie wird die Verwendung von Ausdrücken als zusammenhängend verstanden? (iii) Welche charakteristischen Eigenschaften haben einzelne Kommunikationsformen und welche Rolle spielen bestimmte (Arten von) Ausdrücke(n) in Kommunikationen dieser Art?

2.2

Ausdrücke, Verwendungsweisen und Dialogorganisation

Dialoge bestehen aus sprachlichen Handlungen, die aufgrund verschiedener Organisationsprinzipien als zusammenhängend gemeint und verstanden werden können. Die sprachlichen Ausdrücke und ihre Verwendungszusammenhänge tragen in unterschiedlicher Weise zur Organisation von Dialogen bei. Der folgende Abschnitt enthält einen Überblick über unterschiedliche Arten von Ausdrücken und über ihren typischen Beitrag zur Dialogorganisation. Viele Bestandteile von Konversationen werden mit mehr oder minder konventionellen bzw. stark routinisierten Äußerungsformen vollzogen. Die Bedeutung zusammengesetzter Ausdrücke kann in vielen Fällen nicht aus der Bedeutung der Bestandteile heraus erklärt werden und die Dialogfunktion dieser Ausdrücke muß als festes Bedeutungselement betrachtet werden. Solche Ausdrücke sind z.B. (Coulmas 1981): Formeln für Gruß und Gegengruß (Grüß Gott, Guten Tag, Hallo, Servus); Abschiedsformeln (Auf Wiedersehen, Tschüs)·, Kontaktäußerungen (Entschuldigen Sie bitte); Formeln zum Ausdruck der Überraschung oder des Entsetzens (Du liebe Zeit, Ach Herrjeh) ; Ausdrücke zur Sicherung des Rederechts für längere Dialogbeiträge (Soll ich dir mal was sagen?; Weißt du was?); Beileidsbekundungen (Herzliches Beileid); Zustimmungsformeln (ja, eben, ganz meine Meinung, genau, warum nicht?); Entschuldigungsformeln und Formeln zur Erwiderung darauf (Verzeihung, Entschuldigung, Tut mir leid, Hoppla - Macht nichts, nichts passiert); Feiertagswünsche (Fröhliche Weihnachten, Schöne Ostern); Eß- und Trinkformeln (Mahlzeit, Guten Appetit, Prost);

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Dankesformeln und Formeln zur höflichen Reaktion (Danke (schön) - Keine Ursache, gern geschehen, nicht der Rede wert)·, Eröffnungen von Dienstleistungsgesprächen (Was kann ich für sie tun?). Neben diesen Formen sprachlicher Routine werden viele sprachliche Handlungen mit konventionellen bzw. quasi-idiomatischen Äußerungsformen vollzogen: Die Bedeutung von Schimpfwörtern ist, daß sie konventionellerweise zur Beschimpfung verwendet werden. Um auf etwas (einer bestrittenen Behauptung, einem verweigerten Befehl) zu insistieren kann man doch verwenden. Für Vorschläge steht ein Repertoire typischer Äußerungsformen zur Verfügung (vgl. Fritz 1982, 241ff.). Die Bedeutung dieser und ähnlicher Ausdrücke kann man auffassen als ihr Verwendungspotential für sprachliche Handlungen der jeweiligen Art. Eine weitere Gruppe von Ausdrücken hat die Funktion, die Art eines Gesprächsbeitrags zu kennzeichnen. Die Annahme, daß jeder Satz einen Illokutionsindikator, ein sprachliches Element, das die Illokution anzeigt, enthält, hat sich zwar als unbegründet erwiesen, von dieser Einsicht bleibt aber unberührt, daß es eine wesentliche Rolle bestimmter Ausdrücke ist, die Illokution zu signalisieren. Hierzu gehören explizit performativ verwendete Wendungen (z.B. Ich weise die Unterstellung hiermit zurück), Satzadverbien (z.B. vielleicht, wahrscheinlich, vermutlich, angeblich) und gewisse Verwendungsweisen von Modalverben (Er soll in Stuttgart sein) zur Kennzeichnung quellengestützter Behauptungen oder Vermutungen. Wörter wie übrigens und Wendungen wie Da fällt mir ein kennzeichnen den folgenden Gesprächsbeitrag als thematische Abschweifung bzw. als thematischen Übergang. Modalverben stellen auch einen wichtigen Teil derjenigen Ausdrücke dar, mit denen man im Deutschen höfliche Sprechhandlungen vollzieht. Zur Bedeutung der Modalverben in Kannst du mir das Salz reichen ? oder in Darf ich Sie bitten, mir das Salz zu reichen? gehört z.B. die (konventionelle) Kennzeichnung einer Äußerung als höfliche Bitte. Höfliche Ausdrucksweisen dienen nach der Auffassung von Brown und Levinson vor allem dazu, diejenigen sprachlichen Handlungen zu entschärfen, die die persönliche und soziale Integrität eines Partners angreifen können (face threatening acts). Weil das Bedürfnis nach gegenseitiger Rücksicht auf das ,face' der Partner ein offenbar universaler Grundzug menschlichen Zusammenlebens ist, gehören die sprachlichen Mittel und die Verwendungsweisen, mit denen dies bewerkstelligt werden kann, in vielen Sprachen zum konventionellen und lexikalisierten Bestand (Brown/ Levinson 1978, 99 und Kap. 5). Einige Typen von Ausdrücken dienen u. a. dazu, den Zusammenhang einer Handlung mit anderen Handlungen zu kennzeichnen. Solche Zusammenhänge bestehen zunächst auf der Ebene des Gegenstandsbezugs. Die kohärenzstiftende Funktion von referentiell verwendeten Ausdrücken, die von Textlinguisten als grundlegend für die Kohärenz von Texten betrachtet wurde, besteht allerdings nicht auf der Ebene der Ausdrücke selbst, sondern auf der Ebene ihrer Verwendung und ihres Verstehens. Die Verwendung von Konjunktionen kann ebenfalls der Kennzeichnung von Handlungszusammenhängen dienen. Ζ. B. kann ein Sprecher mit der Verwendung von weil eine Äußerung als Begründung bzw. Angabe einer Ursache kennzeichnen (vgl. Heringer 1974, 175ff.; diese Verwendungsmöglichkeiten werden bisweilen mit Ausdrücken

13. Dialoganalyse und Semantik

263

wie „finale Bedeutung" oder „kausale Bedeutung" mehr verschleiert als beschrieben). Sog. discourse connectives wie engl, but, and, or, so dienen dazu, klar zu machen, wie sich ein folgender Beitrag auf die Vorgängerhandlung oder den bisherigen Gesprächsverlauf bezieht (vgl. Schiffrin 1987, Kap. 6). Im Deutschen dient ζ. B. die Verwendung von ja, aber dazu, einen Beitrag als Einwand oder Einschränkung zu kennzeichnen. Auch mit explizit performativ gebrauchten Wendungen kann der Zusammenhang mit anderen Handlungen deutlich gemacht werden, sofern die betreffende Sprechhandlung sequentiell gebunden ist (z.B.: Meine Antwort ist: Nein!). Schließlich dienen spezielle textdeiktische bzw. kommunikationsdeiktische Wendungen zum Riickbezug auf andere Teile des Gesprächs (wie gesagt; Um auf Ihren Einwand zurückzukommen). Eine wichtige Gruppe von Ausdrücken zur Strukturierung und zur Organisation von Gesprächen sind sog. discourse marker und Gesprächswörter (Burkhardt 1982; Carlson 1984; Schiffrin 1987). Neben den bereits genannten Satzadverbien und Konjunktionen gehören dazu schwer zu beschreibende Ausdrücke wie engl, oh, well, y'know, I mean oder dt. so, gell, naja, hm, ach. Solche Wörter haben in der Regel mehrfache und nur filigran beschreibbare Funktionen, weil ihre Verwendung oft nach dem Vorkommen des Ausdrucks an einer bestimmten Stelle einer Sequenz variiert (vgl. Schiffrin 1987). Sie dienen im Gespräch u. a. dazu, den Bezug auf einen gemeinsamen Wissenshorizont zu signalisieren oder den Sprecher der Aufmerksamkeit des Hörers zu versichern. Besonders gut beschrieben sind die Ausdrücke, mit deren Verwendung Sprecher typischerweise das Ende eines Gesprächs einleiten (A: Also B: Also - A: Gut - B: Gut - A: Also Tschüs - B: Tschüs; vgl. Schegloff/Sacks 1973). Hier wird besonders deutlich, daß es eine der Aufgaben semantischer Beschreibung ist, den Zusammenhang von dialogstrukturierenden Verwendungsweisen mit den übrigen Verwendungsweisen des betreffenden Ausdrucks (z.B. also) zu zeigen. Die Wahl bestimmter sprachlicher Ausdrücke hat Konsequenzen für die möglichen Dialogverläufe. So eröffnet bzw. fordert die Äußerung Warum hast du das gemacht? andere Anschlußzüge als die Äußerung Wie hast du das gemacht? Andererseits verschließt der Gebrauch bestimmter sprachlicher Ausdrücke auch ganz bestimmte Anschlußzüge, die sich auf die Bedeutungskomponenten des betreffenden Ausdrucks beziehen. Wenn A auf Β mit dem Ausdruck der Junggeselle Bezug nimmt, dann darf er im Verlauf des Gesprächs nichts mehr tun, bei dem er sich darauf festlegt, daß Β verheiratet, weiblich oder nicht im heiratsfähigen Alter ist. Denn sonst könnte ein Gesprächspartner einklagen, daß A unverträglich redet. Die charakteristischen Dialogverläufe beziehen sich allerdings nicht auf die Bedeutung, sondern auf bestimmte Verwendungsweisen bzw. Verständnisse von Äußerungen. Beispielsweise kann man Fragesätze mit warum nicht nur zu Fragen nach dem Grund oder der Ursache verwenden, sondern auch, um jemandem einen Vorwurf zu machen (warum hast du ge-x-t?). Die beiden Verwendungsweisen unterscheiden sich dadurch, daß der Sprecher sich bei einer Frage darauf festlegt, daß er nicht weiß, warum Β ge-x-t hat und daß er dies wissen möchte, während er sich beim Vorwurf zusätzlich darauf festlegt, daß Β nicht hätte x-en sollen. Je nach Verwendungsweise bzw. Verständnis unterscheiden sich sowohl die Handlungsmöglichkeiten von A als auch die von B. Die Unterscheidung

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von möglichen Dialogverläufen und Handlungsspielräumen kann deshalb bei der semantischen Beschreibung als Mittel zur Differenzierung von Verwendungsweisen sprachlicher Ausdrücke dienen. Zwischen Äußerungsformen und sprachlichen Handlungsmöglichkeiten besteht kein eindeutiges Zuordnungsverhältnis. Wie eine Äußerung jeweils gemeint und verstanden wurde, kann sich in spezifischen Reaktionszügen im anschließenden Dialogverlauf zeigen und dies kann ggf. Ausgangspunkt für die Klärung von Mißverständnissen werden. Der thematische Zusammenhang von Äußerungen kann eines der Indizien darstellen, die für das Verstehen bzw. die Deutung von verwendeten Ausdrücken eine Rolle spielen. In einem Gespräch über Blumen wird die Verwendung des Ausdrucks Tulpe anders verstanden werden als in einem Gespräch über verschiedene Arten von Gläsern (Mir gefallen Tulpen). Voraussetzung für ein angemessenes Verständnis ist es jeweils, daß ein Partner die betreffende Verwendungsweise (z.B. Tulpe ,Bierglas') kennt und daß er annimmt, daß keine thematischen Übergänge stattgefunden haben. Die Fähigkeit, über bestimmte Themen zu reden, besteht zu keinem geringen Teil aus der Beherrschung der betreffenden thematischen Wortschätze. Analog dazu setzt die Fähigkeit von Sprechern, sich auf das sprachliche Handeln selbst zu beziehen, die Kenntnis von Ausdrücken voraus, die sich sprachreflexiv verwenden lassen. Dies sind an erster Stelle redekennzeichnende Verben und Nominalisierungen (vorwerfen, Vorwurf, auffordern, Aufforderung usw.), dazu gehören aber auch Spezifizierungen für Arten von Handlungen bzw. Dialogverläufen (z.B. unhöflich, langweilig) und die Bezeichnungen für Sprechertypen, in denen sich das Alltagswissen um typische Rollenverteilungen, kommunikative Stereotype und ggf. auch ihre Bewertung lexikalisiert hat (Klatschbase, Labersack).

2.3

Äußerungsformen und ihre Verwendung

Nun stellt sich die Frage, welche Rolle die Beherrschung der konventionellen Gebrauchsmöglichkeiten sprachlicher Ausdrücke für die Fähigkeit, sprachliche Äußerungen zu verstehen, spielt. Für die Pragmatik und die Dialogtheorie lautet die entsprechende Frage, mit welchen Erklärungsmitteln man von geäußerten Ausdrücken zu dem kommt, was jemand mit der betreffenden Äußerung gemeint hat und mit welchen Mitteln man den Zusammenhang von Äußerungen erfassen kann. Zu dieser Frage lassen sich zwei unterschiedliche Theoriefamilien ausmachen. In der einen Gruppe fungieren Regeln für den Gebrauch sprachlicher Ausdrücke als zentrales Erklärungsprinzip, in der anderen Gruppe dienen prinzipiengestützte Ziel-Mittel-Raisonnements als Haupterklärungsweisen, z.B. Gricesche Raisonnements, Indirektheits-Ableitungen nach Searleschem Format, prinzipiengesteuerte Ziel-Mittel-Analysen (Leech 1983) oder speziell relevanz-gestützte Kalkulationen (Sperber/Wilson 1986; Blakemore 1987; Kempson 1988). Bemerkenswert ist, daß in beiden Gruppen ähnliche Bestandteile zur Erklärung verwendet werden (Bedingungen der Äußerung, Annahmen bzw. gemeinsames Wissen der Sprecher u. dgl.). Das läßt sich an einem einfachen Standardbeispiel verdeutlichen (A: Komm, wir gehen heute abend ins Kino. - B: Ich

13. Dialoganalyse und Semantik

265

muß für eine Prüfung lernen). In Searles prinzipiengestützter Ableitung (1979/82,53ff.) dessen, was Β gemeint hat, spielen die von ihm angenommene wörtliche Bedeutung der Äußerung als Feststellung eine Rolle, das Kooperationsprinzip, das Relevanzprinzip, inhaltliches Hintergrundwissen und Folgerungen. In einer regelgestützten Theorie ließe sich der Zusammenhang dagegen durch eine Regel etwa folgender Art erklären: Im Anschluß an einen Vorschlag kann ein Sprecher den Vorschlag ablehnen, indem er etwas feststellt, wovon die Beteiligten wissen, daß es gegen den Vorschlag spricht bzw. mit dem Vorgeschlagenen unverträglich ist. Aus dieser Sicht gehören Handlungszusammenhänge zu den konventionellen Gebrauchsweisen sprachlicher Ausdrücke, die die Sprecher beherrschen. Was Searle „relevante Reaktion" und „inhaltliches Hintergrundwissen" nennt, ist hier Bestandteil der Regel für eine Reaktionsweise auf einen Vorschlag. In Entsprechung zu diesen unterschiedlichen Auffassungen über die Äußerungsbedeutungen und die Handlungszusammenhänge gibt es auch zwei unterschiedliche Auffassungen bzw. Forschungsstrategien zur Beschreibung von Wort- und Satzbedeutung. Die Vertreter des sog. Bedeutungsminimalismus neigen zur Annahme minimaler, möglichst eindeutiger (.wörtlicher') Wort- und Satzbedeutungen; sie verwenden die genannten prinzipiengestützten Verfahren zur Erklärung weiterführender Äußerungsbedeutungen. Vertreter des sog. Bedeutungsmaximalismus dagegen sehen Wort- und Satzbedeutungen als das Potential für die (regelhaft möglichen) Verwendungen von Ausdrücken, als das geordnete Spektrum von Äußerungsbedeutungen an (vgl. Posner 1979).

2.4

Arten von Kommunikationen und typische Äußerungsformen

Zum Gegenstandsbereich der linguistischen Dialoganalyse gehört die Beschreibung derjenigen Handlungsmuster und Kommunikationsformen, die zu den Gepflogenheiten einer bestimmten Sprachgemeinschaft gehören. Ein wichtiger Bestandteil solcher Darstellungen ist die Beschreibung einzelsprachlich ausgeprägter Mittel und ihrer Gebrauchsweisen, die dabei typischerweise oder regelhaft eine Rolle spielen. Zu dieser Aufgabe können folgende Teilaufgaben gehören: (i) die Beschreibung von sprachlichen Mitteln, die zum Vollzug bestimmter Bestandteile einer Kommunikation nötig sind, z.B. Orts- oder Entfernungsangaben bei Wegauskünften (vgl. Schegloff 1972), typische Äußerungsformen für Vorschläge beim gemeinsamen Planen und für Reaktionen darauf, für Aufforderungen (Hindelang 1978) oder die Rolle von Bewertungsausdrücken in Bewertungskommunikationen (Fritz 1986). (ii) Die Beschreibung sprachlicher Mittel, die für die Befolgung von Prinzipien von zentraler Bedeutung sind (z.B. Höflichkeit, Präzision, Variation).

2.5

Dialoganalyse als strenge Wissenschaft?

Die germanistische Sprachwissenschaft ringt seit den Tagen Jacob Grimms mit dem Problem, eine ungenaue Wissenschaft zu sein. In bezug auf die Dialoganalyse stellen manche Autoren die Diagnose, daß sie über mehr oder weniger subjektive Umschrei-

266

T. Gloning

bungen des Sinns von Äußerungen nicht hinausgekommen ist (vgl. Frawley 1987; Grewendorf/Hamm/Sternefeld 1989, 378f.). Daß dies kein notwendiger Zustand ist bzw. bleiben muß, läßt sich in bezug auf zwei Ebenen zeigen: die Ebene des Gegenstandes und die Ebene der Methoden. Gegenstand der Dialoganalyse sind sprachliche Äußerungen, ihr Verständnis und die zugrundeliegenden Regeln bzw. Organisationsprinzipien des Sprachgebrauchs. In einer Kommunikations- und Bedeutungstheorie, die von den konventionellen Verwendungsmöglichkeiten sprachlicher Ausdrücke ausgeht, läßt sich die Tatsache fundieren, daß Verständnisse von Äußerungen, genauso wie das, was jemand mit einer Äußerung meint und in einer Sprache konventionellerweise meinen kann, der Beliebigkeit des Einzelnen und damit auch der Beliebigkeit der Analyse entzogen sind. Der Bezug auf den herrschenden (öffentlichen) Sprachgebrauch einer Sprachgemeinschaft stellt sowohl bei der Bedeutungsbeschreibung als auch bei der Analyse von Kommunikationen oder der Beschreibung von Kommunikationsformen eine empirische, soziale und nicht nur subjektiv zugängliche Grundlage dar. Auf der Ebene der Methoden sind neben der bedeutungstheoretischen Fundierung gegenwärtig zwei Haupttendenzen zur Sicherung methodischer Strenge erkennbar: Reflexivität und Formalisierung. Reflexivität ist eine methodische Einstellung, bei der der Analytiker begleitend zu seiner Analyse die Bedingungen seiner Tätigkeit reflektiert und kontrolliert. Elemente dieser Reflexion sind u.a. die Vergegenwärtigung unterschiedlicher Verständnismöglichkeiten von Äußerungen; der kontrollierte und womöglich kommentierte Einsatz von Deutungszügen; die Prüfung und Diskussion derjenigen Indizien, von denen bei der Deutung von Äußerungen und bei der Beschreibung von Dialogverläufen Gebrauch gemacht wurde; die Beschreibung alternativer Verständnismöglichkeiten und die Explikation ihrer semantisch-syntaktischen Grundlagen (vgl. Biere 1978). Auf diese Weise wird weder die Dialoganalyse noch die Semantik eine strenge Wissenschaft im Sinne eines Zweiges der Mathematik. Sie gewinnen aber Anschluß an eine „strengere Praxis" (Schleiermacher) der methodischen Selbstvergewisserung bei der Analyse, die sich in der Tradition der Hermeneutik verankern läßt (vgl. Biere 1989 und Art. 9). In bezug auf die Strategie der Formalisierung lehren die Erfahrungen mit der Textlinguistik, daß formale Darstellungsmittel erst nach der begrifflichen Klärung und auf der Grundlage einer gesicherten Methodik sinnvoll sind (vgl. zur Kritik Brown/Yule 1983,109ff.). Unabhängig von diesem Caveat zeigen die Ansätze zu formalen Dialogspieltheorien, daß formale Dialogspiele nützliche Vergleichsobjekte sind, mit denen sich (bei begrenzter Reichweite) bestimmte Aspekte der Dialogorganisation und der Bedeutung von Ausdrücken präzise erfassen lassen (vgl. Art. 8).

13. Dialoganalyse und Semantik 3.

Bedeutung und Dialogverläufe

3.1

Dialogsemantik und Gebrauchstheorie

267

3.1.1 Der Grundgedanke, daß das Potential einer Äußerungsform für Dialogbeiträge (und damit für die Bestimmung von Dialogverläufen) zu einem beträchtlichen Teil auf der konventionellen Bedeutung der geäußerten sprachlichen Ausdrücke beruht, läßt sich für semantische Zwecke in unterschiedlicher Weise nutzen. Varianten dieser Auffassung wurden in unterschiedlichen Traditionen der Philosophie, Logik, Semantik und Dialektik und mit unterschiedlichen Graden der Systematizität und des empirischen Bezugs entworfen und angewendet. Als Dialogsemantiken lassen sich diejenigen Varianten bezeichnen, die die Bedeutung nicht nur auf Aspekte sprachlicher Handlungen zurückführen, sondern explizit den Handlungszusammenhang berücksichtigen. In allgemeiner Form findet sich der genannte Grundgedanke in Wittgensteins Sprachspielkonzeption, nach der die Bedeutung eines Ausdrucks in seinem Gebrauch in bestimmten Sprachspielen besteht. Mit dem Gebrauch sprachlicher Ausdrücke verfolgen Sprecher Ziele. Dies ist der instrumentalistische Aspekt des Sprachgebrauchs. Die Sprecher stützen sich dabei aber (in weiten Teilen) auf das, was zu den Gepflogenheiten, den Konventionen einer Sprache gehört. Dies ist der Aspekt der Konventionalität, der Aspekt der Regelorientierung am Sprachgebrauch. Ein Sprachspiel beherrschen heißt, den konventionellen Gebrauch der sprachlichen Mittel kennen, mit denen sich bestimmte sprachliche Ziele erreichen lassen. Die einzelnen Sprachspiele sind ihrerseits gekennzeichnet durch die Handlungszusammenhänge, in denen sie stehen (Wittgenstein 1984a; Meggle 1985; Baker/Hacker 1980). Teilweise unter Berufung auf Wittgenstein haben Autoren der Erlanger Schule (Lorenzen/ Lorenz 1978; Lorenz 1981), der spieltheoretischen Semantik (Hintikka 1973; 1979; Saarinen 1977; 1979; Carlson 1983; 1984; Posch 1987) und der formalen Dialektik (Hamblin 1970a, b; 1971) Dialogsemantiken entwickelt. Zu ihren Kennzeichen gehört die Identifizierung der Bedeutung eines Ausdrucks mit der (formal darstellbaren) Regel für seinen Gebrauch in bestimmten Handlungszusammenhängen (vgl. Art. 8). Den Hauptbeitrag sprachanalytischer Philosophen zur Bedeutungs- und Kommunikationstheorie kann man in der Diskussion des Zusammenhangs von Grundbegriffen der Kommunikation sehen (meinen, verstehen, deuten, Intention, Konvention, sprachliche Handlung usw.). Zu den sprachanalytisch orientierten Autoren gehören Strawson (1950; 1964), Hare (1952; 1970), Urmson und andere Beiträger zur sog. metaethischen Diskussion (vgl. Grewendorf/Meggle 1974), Grice (1989) und Schiffer (1972), aber auch kontinentale Autoren wie Tugendhat (1976) und Meggle (1981; 1985; 1987). Zur Klärung der Frage nach der Form einer handlungstheoretischen Semantik haben schließlich eine Reihe von philosophischen Arbeiten beigetragen, die aus der exegetischen Bemühung oder in der Auseinandersetzung mit Logikern und Linguisten entstanden sind (Dummett 1975; 1976; 1979; Kasher 1979). Die Standardvariante der Sprechakttheorie war zugleich als Bedeutungstheorie für die Sätze konzipiert, mit denen die Sprechakte (kraft Bedeutung der Sätze) vollzogen

268

T. Gloning

werden können (Searle 1969, 18; vgl. Searle 1962; 1979; Searle/Vanderveken 1985). Als Bedeutungstheorie, die an eine Dialogtheorie angeschlossen werden soll, weist die Konzeption drei Schwächen auf: (i) Sprachliche Handlungen werden monologisch gesehen. Das gemeinsame Wissen von Sprechern und Hörern bleibt als wesentlicher Bestandteil einer Theorie des sprachlichen Handelns und des Verstehens unberücksichtigt. (ii) Der sequentielle Zusammenhang sprachlicher Handlungen und seine Rolle für die Verwendungsmöglichkeiten und das Verstehen von Sätzen bleibt aus dem Blick (vgl. aber Searle 1986 für Ansätze einer Berücksichtigung dialogischer und konversationeller Aspekte des Sprachgebrauchs), (iii) Die Annahme einer eng gefaßten wörtlichen Bedeutung von Sätzen macht es nötig, für viele konventionelle Verwendungsmöglichkeiten der Sätze Ableitungsprozeduren zu entwerfen. Demgegenüber ist die Sprechakttheorie Aistons zumindest in Ansätzen dialogisch angelegt; sie enthält überdies den Grundgedanken, daß die Bedeutung von Wörtern ihr Beitrag ist, den sie zu den Verwendungsmöglichkeiten von Sätzen, dem illocutionary-act-potential, leisten (Aiston 1964, 33ff.; 1986; 1991). Vanderveken hat eine erweiterte Sprechakttheorie entwickelt, die für die diejenigen attraktiv sein dürfte, die an einer strengen Formalisierung interessiert sind. Sie zeigt, daß eine formale und strenge Semantik nicht nur auf wahrheitsfunktionaler Grundlage konstruierbar ist, sondern auch als handlungstheoretisch konzipierte „formal semantics of success and satisfaction" (Vanderveken 1990). Linguistisch orientierte Beiträge zielen vor allem auf die Berücksichtigung einzelsprachlicher Äußerungsformen und die Anwendbarkeit für linguistische Beschreibungen. Dazu gehören u.a. die Arbeiten zur metalexikographischen Diskussion über Grundlagen und Formen der Bedeutungsbeschreibung (z.B. Wiegand 1985), Arbeiten über den Zusammenhang von Gebrauchstheorie und lexikologischer Beschreibung großer Wortschatzausschnitte (Hundsnurscher/Splett 1982), die Arbeiten der Praktischen Semantik (vgl. Art. 7) und Arbeiten zur pragmatischen Fundierung der Idiomatik (Coulmas 1981). 3.1.2 Wie lassen sich die produktiven Ergebnisse dieser im ganzen heterogenen Diskussionsbeiträge zu einem standard picture (vgl. Alston 1986,49f.) einer handlungstheoretischen Semantik verbinden? Ein Regelbegriff (Heringer 1974), Konventionsbegriff (Lewis 1969) oder ein schwächerer Musterbegriff (Strecker 1985a, b; 1987) bleibt ein wesentlicher Bestandteil einer Bedeutungstheorie. Konventionen verbinden Äußerungsformen mit ihren Verwendungsmöglichkeiten in sprachlichen Handlungen unter bestimmten Bedingungen. Gegenstand von Konventionen für die Verwendung sprachlicher Ausdrücke sind auch die Intentionen und Ziele von Sprechern bzw. die Zwecke von Äußerungen, die man den Sprechern bzw. den Äußerungen aufgrund der Verwendung bestimmter Ausdrücke zuschreiben kann. Zu den relevanten Handlungsbedingungen, die eine Regel erfaßt, gehören u. a. die Stellung einer Äußerung in einer Sequenz, die Wissensbedingungen des Sprechers und des Hörers, aber auch Standardziele, die durch bestimmte Situationstypen vorgegeben sind. Eine sprachliche Handlung ist ihrerseits durch ihre Stellung in sequentiellen Zusammenhängen gekennzeichnet, also durch die Züge, die regelhaft vorausgehen und regelhaft daran angeschlossen

13. Dialoganalyse und Semantik

269

werden können. Die Bedeutung eines Satzes ist eine Funktion, die Äußerungen des Satzes und Bedingungen der Äußerung (sequentielle Stellung, Wissensbedingungen und Annahmen der Sprecher) in mögliche Äußerungsbedeutungen (Meinungen) bzw. Verständnisse von Äußerungen abbildet. Prinzipiengestützte Raisonnements und Schlußfolgerungen kommen da ins Spiel, wo die Fähigkeit von Sprechern erklärt werden muß, Äußerungen zu verstehen und zu machen, die mehr oder weniger über die konventionell geregelten Möglichkeiten einer Sprache hinausgehen bzw. von ihnen abweichen. 3.1.3 Als die grundlegende Einheit, aus der Dialoge und andere Kommunikationen aufgebaut sind, gilt die sprachliche Handlung. Sprachliche Handlungen werden in der Regel mit Sätzen vollzogen, auf jeden Fall mit Äußerungsformen, die in vielen Fällen syntaktisch organisiert sind. Die Bedeutung ihrer Bestandteile (Wörter, Wortgruppen, Satzglieder) läßt sich auffassen als ihr unterscheidender Beitrag zur Bedeutung (zu den konventionellen Verwendungsmöglichkeiten) der Sätze. Wesentlicher Inhalt des sog. Kompositionalitäts- oder Fregeprinzips ist die Auffassung, daß die Beherrschung des Gebrauchs komplexer Äußerungsformen auf der Beherrschung des Gebrauchs einfacherer Äußerungsformen beruht und daß es Typen von Ausdrücken gibt, die jeweils einen unterschiedlichen Beitrag zur Bedeutung des Satzes leisten („The meaning of an expression is a function of the meaning of its parts and of the way they are syntactically combined"; Partee 1984, 281). Frege hat den Bau eines Behauptungssatzes aus Subjektausdruck und Prädikatsausdruck mit dem Bau einer mathematischen Funktion verglichen: wenn in eine Funktion ein oder mehrere Argumente eingesetzt werden, ergibt sich ein Wahrheitswert. Genauso ergibt sich ein Wahrheitswert, wenn man einen referentiellen Ausdruck (Hans) in einen ungesättigten Prädikatsausdruck (ist kahl) einsetzt (Frege 1891; 1892). In einer handlungstheoretischen Semantik werden auch diejenigen Ausdrücke berücksichtigt werden müssen, die nach Frege nur als „Winke in der Rede" dienen (1918, 37). Die kommunikative Funktion bzw. der Bedeutungsbeitrag von Teilen kann jeweils unterschiedliche Aspekte der Regel für den Gebrauch eines Satzes betreffen: eine Teilhandlung (z. B. Referieren, Prädizieren, Angabehandlungen verschiedener Art), die Art der sprachlichen Handlung (z. B. leider, ich befehle dir hiermit), die Art, eine Handlung auszuführen (z.B. höflich; Darf ich Sie auffordern), eine Festlegung (angeblich), speziell das Wissen, das man bei der Verwendung eines Ausdrucks voraussetzen muß (bekanntlich, ja) oder etwas, was man aufgrund einer sprachlichen Handlung schließen darf. Der Bedeutungsbeitrag kann aufgrund minimaler Änderungen im Bestand der Äußerungsform als Änderung der Verwendungsmöglichkeiten) der betreffenden Äußerungsform beschrieben werden. Für einen streng homomorphen Aufbau von Syntax und Semantik fehlen gegenwärtig auf der Semantikseite systematische Darstellungsweisen für Illokutionspotentiale und für Typen von Bedeutungsbeiträgen. 3.1.4 Das Problem der Zersplitterung der Bedeutung in zahllose ,Gebrauchsweisen' wurde sowohl aus empirisch-deskriptiver Sicht (Hundsnurscher/Splett 1982; Heringer 1988) als auch von philosophischer Seite formuliert (Dummett 1978, 437ff.). Das Problem betrifft einerseits die Ökonomie der angestrebten Beschreibungen und ande-

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rerseits die Frage, ob eine systematische Bedeutungstheorie auf der Grundlage der Verwendungsweisen überhaupt möglich ist. Wenn die Bedeutung von Ausdrücken in den konventionellen Gebrauchsmöglichkeiten besteht, dann ist eine der zentralen Aufgaben, in der Vielfalt von Gebrauchsmöglichkeiten die grundlegenden Verwendungsweisen zu ermitteln und die Zusammenhänge zwischen Verwendungsweisen zu erhellen. An systematischen Mitteln wurden bisher zwei Lösungsansätze vorgebracht. Eine ganze Reihe von Verwendungsweisen lassen sich mit Hilfe des indem-Zusammenhangs zwischen Handlungen bzw. Handlungsmustern in einen Zusammenhang bringen. Ausgehend von grundlegenden Verwendungsweisen (z.B. Bewertungen) lassen sich weiterführende Verwendungsweisen (Empfehlen, Abraten, Benoten usw.) von entsprechenden Sätzen mit Bewertungs-Ausdrücken wie gut, häßlich, obszön und die hierfür nötigen Zusatzannahmen beschreiben (vgl. Fritz 1986). Ein anderes Verfahren besteht darin, prototypische Verwendungsweisen zu ermitteln und mit Hilfe von Griceschen Raisonnements Zusammenhänge zu den einzelnen weiterführenden Verwendungsweisen aufzuzeigen (vgl. Heringer 1988). Drei Gesichtspunkte sind aber bei der Forderung nach einheitlicher Bedeutungsbeschreibung zu berücksichtigen: (i) Ausgangspunkt bleibt in jedem Fall die Analyse und Typisierung tatsächlicher Verwendungen. Der Versuch, grundlegende Verwendungsweisen zu ermitteln bzw. Zusammenhänge zwischen unterschiedlichen Verwendungsweisen aufzuzeigen, ist forschungsmethodisch ein zweiter Schritt, bei dem die Einheitlichkeit der Bedeutung bzw. ihrer Beschreibung als Leitziel der Beschreibungsökonomie fungiert, (ii) Verwendungsweisen entwickeln sich historisch. Es gibt die Möglichkeit, daß sich Verwendungsweisen im Lauf der Zeit völlig von anderen Verwendungsweisen isolieren, so daß synchron kein Zusammenhang mehr zwischen ihnen zu ermitteln ist. Die Frage nach der Einheitlichkeit der Bedeutung ist deshalb keine theoretische Frage, die sich für alle Ausdrücke vorab entscheiden läßt, sondern eine, die von Fall zu Fall geprüft werden muß. (iii) Semantische Analysen dienen unterschiedlichen Zwecken. Je nach dem Zweck kann eine einheitliche oder eine mehr atomare Beschreibung sinnvoller sein. Aus einer Beschreibung prototypischer Verwendungsweisen lassen sich z.B. kaum oder nur unter Schwierigkeiten Quasi-Synonyme oder Übersetzungsäquivalente in bezug auf einzelne Verwendungstypen und ihre Umgebungen (Kollokationsklassen) ableiten. Soll eine Analyse diesen Aspekt semantischer Fähigkeiten erfassen, dann ist eine atomisierte Beschreibung von Verwendungsweisen unter Umständen geeigneter als eine einheitliche. 3.1.5 Beschreibungsbeispiele für unterschiedliche Arten von Ausdrücken wurden in den oben genannten handlungs- bzw. dialogsemantischen Ansätzen in verschiedenen Formaten vorgelegt: z.B. als Analyse des weitverzweigten Netzes von Familienähnlichkeiten, das die Fälle verbindet, in denen die Ausdrücke der Möglichkeit und der Fähigkeit (können) gebraucht werden (Wittgenstein 1984b, 162ff.); als Versuch, den Gebrauch logischer Ausdrücke wie der Quantoren (Hintikka 1973) oder der logischen Partikeln (Lorenzen/Lorenz 1978) bzw. alltagssprachlicher discourse connectives wie and oder but (Carlson 1984, 152ff.) spieltheoretisch zu rekonstruieren; als Semantik explizit performativer Wendungen in Searles Sprechakttheorie (Searle 1969); als Ver-

13. Dialoganalyse und Semantik

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such, den Bedeutungsbeitrag natürlichsprachlicher Ausdrücke für sprachliche Handlungen zu ermitteln (Fritz 1982, Kap. 6; 1986; Heringer 1988; Gloning 1991) oder als Versuch, die strukturalistischen Werkzeuge der Quasi-Synonymik, der Antonymik und der Kollokationsklassen für die Binnendifferenzierung des Verwendungsspektrums von Ausdrücken zu nutzen (Hundsnurscher/Splett 1982,48ff. und 99ff.).

3.2

Wahrheit und Gebrauch

3.2.1 Die Auffassung, daß die Bedeutung eines Ausdrucks in seinen konventionellen Gebrauchsmöglichkeiten besteht, ist nicht unumstritten. Eine konkurrierende Auffassung besteht darin, daß sich φ ε Semantik mit den Wahrheitsbedingungen von Sätzen zu befassen habe und daß die Pragmatik als Zusatztheorie für den Gebrauch dieser Sätze aufzukommen habe (vgl. Gazdar 1979; Levinson 1983). Die unterschiedlichen Varianten der wahrheitsfunktionalen Semantik spielen gegenwärtig vor allem da eine beherrschende Rolle, wo mit formalen Beschreibungsmitteln gearbeitet werden soll. Der Grundgedanke wahrheitsfunktionaler Semantiken besteht in der Annahme, daß die Bedeutung eines Satzes seine Wahrheitsbedingungen sind. Die Bedeutung eines Satzes kennen, heißt wissen, welcher Sachverhalt bestehen muß, damit der Satz (bzw. seine Äußerung) wahr ist. Ausgangspunkt der wahrheitsfunktionalen Semantiken des 20. Jahrhunderts sind die Schriften von Frege, Wittgensteins „Tractatus", die Arbeiten von Carnap und die sog. semantische Konzeption der Wahrheit, die auf Tarski zurückgeht (vgl. Black 1949). Daß sich der Wahrheitsbegriff als Grundlage für die semantische Beschreibung natürlicher Sprachen eignet, haben vor allem Lewis (1972), Montague (1974; vgl. Dowty/Wall/Peters 1981) und Davidson (1984) vertreten (vgl. v. Stechow/Wunderlich 1991). 3.2.2 Bei der Frage, ob sich der Begriff der Wahrheit als Grundlage der semantischen Beschreibung natürlicher Sprachen und als Grundlage einer allgemeinen Dialog- und Kommunikationstheorie verwenden läßt, ergeben sich eine Reihe von Schwierigkeiten bzw. Einschränkungen, die von vielen Vertretern einer wahrheitsfunktionalen Semantik auch gesehen wurden, die aber aufgrund andersartiger Zielsetzungen oder zugunsten formaler Strenge zunächst außer Betracht bleiben konnten. Erstens gibt es Sätze bzw. Verwendungen von Sätzen, bei denen die Frage nach der Wahrheit nicht sinnvoll gestellt werden kann, z.B. Sätze, mit denen man fragen, befehlen, taufen usw. kann. Ein wichtiger Gesichtspunkt, warum dies nicht sinnvoll ist, sind die möglichen Anschlußzüge: Fragen, Befehle, Taufen usw. können nicht bestritten werden (vgl. aber Lewis 1972,205ff. ; dazu Grewendorf 1979 ; 1984). Zweitens : Für die Explikation dessen, was „wissen unter welchen Bedingungen ein Satz wahr ist" heißt, muß man bei natürlichen Sprachen auf die Beschreibung der Verwendungsregeln der Ausdrücke zurückgreifen, aus denen der in Frage stehende Satz besteht. In interpretierten logischen Kalkülen stellt sich dieses Problem nicht in voller Schärfe; dort ist die Zuordnung von singulären Termini zu Gegenständen, das Zutreffen von Prädikatsausdrücken, die Zuordnung von sog. semantischen Werten mit Hilfe von Listen oder Mengen behandelt. Drittens: Wird bei der Formulierung der Wahrheitsbe-

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dingungen von Sätzen auf ein Quasi-Synonym des zu beschreibenden Ausdrucks oder auf einen Sprechhandlungs-Ausdnick zurückgegriffen und fallen Objekt- und Metasprache zusammen, dann werden die Verwendungszusammenhänge dieser Ausdrücke bei der Beschreibung unanalysiert vorausgesetzt. Viertens: Wenn man ein Adäquatheitskriterium für Sprachbeschreibungen akzeptiert, demzufolge eine Sprachtheorie auch für den sozialen Gebrauch sprachlicher Mittel aufzukommen hat, dann läßt sich der Einwand formulieren, daß dies im Rahmen wahrheitsfunktionaler Theorien (noch) nicht gelungen ist. Auch Behauptungen machen Sprecher nicht, sobald ihnen eine wahre Proposition zu Gebote steht, sondern weil sie bestimmte Zwecke verfolgen, z.B. jemandem etwas mitteilen, was er oder sie noch nicht weiß und wovon sie glauben, daß er oder sie es wissen sollte (vgl. Kasher 1987). Solche Zweckorientierungen gehören vielfach zu den konventionellen Verwendungsaspekten von Sätzen, so daß eine Auslagerung in eine (pragmatische) Zusatztheorie sich allenfalls unter Berufung auf andere Prinzipien der Theoriekonstruktion plausibel machen läßt (vgl. Grewendorf 1984, 534f.). Fünftens wurde geltend gemacht, daß der Begriff der Wahrheit in natürlichen Kontexten nicht vorausgesetzt werden kann, sondern auf die Rechtfertigbarkeit von Behauptungen zurückgeführt werden muß. Behaupten und Rechtfertigen sind beides sprachliche Handlungen. Bei der Rechtfertigung von Behauptungen spielt neben der Berufung auf den Zustand der Welt die Berufung auf die Gebrauchsweisen sprachlicher Ausdrücke eine zentrale Rolle (vgl. Tugendhat/Wolf 1983; Kasher 1987). Schließlich läßt sich anführen, daß unter den Beziehungen zwischen Sätzen und ihren Verwendungsweisen neben den propositionalen Folgerungsbeziehungen auch Fälle von illocutionary entailment bestehen, z. B. zwischen Vorwurf und Behauptung. Wenn Α Β den Vorwurf gemacht hat, daß Β ge-x-t hat, dann muß A auch behaupten bzw. darf nicht mehr bestreiten, daß Β ge-x-t hat. 3.2.3 Aus der Sicht einer allgemeinen Dialog- und Kommunikationstheorie lassen sich die reichen Ergebnisse wahrheitsfunktionaler Theorien vielleicht auf zweierlei Weise einbauen. Einerseits lassen sich Wahrheitsbedingungen auffassen als ein Teil der Gebrauchsregeln für die Verwendung von Ausdrücken (ohne daß umgekehrt die Regeln für den Gebrauch von Ausdrücken restfrei in Wahrheitsbedingungen überführbar sind). Wahrheitstheorien kann man als Gebrauchstheorien für die Sätze auffassen, mit denen man Behauptungen machen kann (Vanderveken 1990/91 II, 2; vgl. Bartsch 1972, 68ff.). Andererseits erscheint es möglich und aussichtsreich, den Begriff der Wahrheit dialogisch über den Begriff der Rechtfertigung zu rekonstruieren (Kasher 1987,293ff.; Tugendhat 1976,253ff.).

3.3

Bedeutungsbeziehungen und die Struktur von Wortschätzen

Die Aspekte des Gebrauchs von Ausdrücken und ihre dialogtheoretische Rekonstruktion bilden eine wesentliche Grundlage für die Beschreibung der Struktur von Wortschätzen. Grundgedanke ist, daß Wortschätze nicht unstrukturierte Mengen von Wörtern sind, sondern daß zwischen den Elementen eines Wortschatzes vielfältige Bedeutungsbeziehungen bestehen. Die Elemente selbst werden aufgefaßt als zerlegbar in

13. Dialoganalyse und Semantik

273

kleinere Inhaltsfiguren, semantische Merkmale oder dergleichen. Aufgrund dieser Merkmale gelangt man in der lexikalischen Semantik zu Bedeutungsbeziehungen wie Synonymie, Homonymie, Hyperonymie, Antonymie, Ambiguität (Lyons 1977 I, Kap. 8 und 9; vgl. Wiegand/Wolski 1980 und Lüdi 1985 für bibliographische Nachweise). Aus der Sicht einer Gebrauchstheorie stellen semantische Merkmale Kurzformen für Festlegungen dar, die man regelhaft beim Gebrauch von Ausdrücken eingeht. Die semantischen Eigenschaften eines Ausdrucks, auf denen die Festlegungen beruhen, zeigen sich in regelhaft möglichen bzw. unverträglichen Dialogverläufen. Daß dem Ausdruck Junggeselle bzw. engl, bachelor semantische Merkmale wie ADULT, MALE und UNMARRIED zugesprochen werden können, beruht darauf, daß man beim Gebrauch dieser Ausdrücke die oben bereits genannten Festlegungen eingeht. Berücksichtigt man darüber hinaus, daß Merkmale wie ADULT, UNMARRIED oder MALE in der Regel aus einer natürlichen Sprache genommen sind, dann erscheint es sinnvoll, die Merkmale nicht als übereinzelsprachliche Bedeutungszüge zu fassen, sondern als Bedeutungsbeziehungen zwischen natürlichsprachlichen Ausdrücken (z.B. engl, bachelor, male, unmarried, adult). Sinnrelationen beruhen auf Folgerungsbeziehungen, die eine Art der regelhaften Festlegung beim Gebrauch von Ausdrücken sind. Hyponymie läßt sich auf dieser Grundlage nach folgendem Muster explizieren: Wer etwas als Tulpe bezeichnet, der legt sich darauf fest, daß der betreffende Gegenstand auch eine Blume ist. Wer etwas als Blume bezeichnet, der legt sich aber nicht darauf fest, daß der betreffende Gegenstand eine Tulpe ist. Deshalb ist das Wort Tulpe hyponym zu Blume. Mit Hilfe dieser Folgerungsbeziehungen lassen sich auch unterschiedliche Verwendungsweisen von Ausdrücken und damit die Sinnrelation der Ambiguität behandeln (vgl. Heringer 1981). In einer anderen Verwendungsweise legt man sich beim Gebrauch von Tulpe nämlich nicht darauf fest, daß der betreffende Gegenstand eine Blume ist, sondern darauf, daß der betreffende Gegenstand eine Art von Bierglas ist (vgl. Lutzeier 1985,75f.). Grundlegende Einheit der lexikologischen Beschreibung ist die Verwendungsweise (Bedeutungsposition) eines Ausdrucks, mit der ein Ausdruck in Opposition zu den Verwendungsweisen anderer Ausdrücke steht (Hundsnurscher/ Splett 1982, llf.). Über diese Bedeutungsbeziehungen hinaus erscheint eine funktionale Gliederung des Wortschatzes möglich. Grundgedanke ist, daß ein Wortschatz nicht (nur) das Spiegelbild der Welt bzw. einer Weltsicht ist, sondern ein Spiegelbild des sprachlichen Handelns einer Zeit oder eines Korpus von Texten. Funktionale Kategorien sind z.B. die Ausdrücke, mit denen man Ortsangaben, Zeitangaben, Querverweise im Text machen kann, Personenbezeichnungen, Kennzeichnungen von Berichten aus zweiter Hand, von Vermutungen, Ausdrücke des Bedauerns, sprachliche Mittel der Höflichkeit u.dgl. Die Einrichtung eines Systems funktionaler Wortschatz-Kategorien setzt umfangreiche und detaillierte Dialog- bzw. Kommunikationsanalysen voraus. Kommunikationsanalysen sind gewissermaßen die Form des ,Ablauschens' der Gliederungskategorien. Funktionale Analysen nach diesem Prinzip sind auch auf historische Wortschätze anwendbar. Ihr Ergebnis ist die in der neukonzipierten Wortgeschichte

274

T. Gloning

geforderte Wortschatzbeschreibung als Modell der sprachlichen Mittel, die in einem Sprachstadium zum sprachlichen Handeln verwendet werden (vgl. Steger 1986; Fritz 1991b).

3.4

Formen der Bedeutungsbeschreibung

Bedeutungsbeschreibungen dienen u.a. als Anschlußzüge auf Fragen, wie ein Ausdruck in einer Sprache oder in einer bestimmten Äußerung verwendet wird, sie dienen als präventive Maßnahme der Verständnissicherung in bezug auf Probleme, die von einem Sprecher antizipiert werden oder als systematische Beschreibung der Verwendung von Ausdrücken in der Sprachwissenschaft. Wenn die Bedeutung eines Ausdrucks als das Spektrum der konventionellen Gebrauchsweisen, als das Verwendungspotential bezeichnet wird, dann stellt sich die Frage, ob und inwiefern unterschiedliche Formen der Bedeutungsbeschreibung auch Beschreibungen des konventionellen Gebrauchs von Ausdrücken sind. Klassische Bedeutungsbeschreibungen geben jeweils Aspekte der Verwendung von Ausdrücken (in Dialogen) an, die isoliert oder verkürzt erscheinen, die sich aber dialogsemantisch ausbuchstabieren lassen: (i) Die Angabe eines synonymen Ausdrucks hat in der Regel die Form „Rävelin ,Halbmondschanze'". In den einfachen Anführungsstrichen steht keine Bedeutung, sondern ein Ausdruck, der seinerseits eine bestimmte Bedeutung hat und die derjenige kennen muß, dem die Bedeutungserklärung etwas nutzen soll. Der konventionelle Gebrauch eines Ausdrucks wird hier mit Hilfe des konventionellen Gebrauchs eines anderen Ausdrucks erklärt (vgl. Heringer 1974, 83ff.). In manchen Fällen sind nur bestimmte Verwendungsweisen der in Beziehung gesetzten Ausdrücke synonym oder es werden minimale Bedeutungsunterschiede als für die Zwecke der Bedeutungsbeschreibung unerheblich betrachtet (Lesarten-Synonymie ; Quasi-Synonymie). (ii) Paraphrasieren kann man nicht nur die Bedeutung eines Ausdrucks, sondern auch das, was ein Sprecher an einer bestimmten Stelle gemeint hat. Bedeutungsparaphrasen sind längere Ausdrücke, die normalerweise nicht selbständig verwendet werden, außer für die Zwecke der Bedeutungserklärung, z.B. „Junggeselle Unverheirateter Mann im heiratsfähigen Alter'". Wer eine solche Angabe als Bedeutungsparaphrase meint, der legt sich darauf fest, daß damit relevante Aspekte des Gebrauchs von Junggeselle angegeben sind, (iii) Die Beschreibung der Gegenstände, die mit einem Ausdruck normalerweise bezeichnet werden, kann dieselben Bestimmungsstücke enthalten, wie eine Bedeutungsparaphrase. Wenn jemand sagt Ein Junggeselle ist ein unverheirateter Mann im heiratsfähigen Alter ist dies aber keine Paraphrase eines Ausdrucks, der zitiert wird, sondern die Angabe von Eigenschaften der Gegenstände (Junggesellen), die mit dem Wort Junggeselle normalerweise bezeichnet werden, (iv) Gegenstände sind nicht die Bedeutung von Ausdrücken, aber man kann erklären, welche Gegenstände normalerweise mit einem Ausdruck bezeichnet werden, indem man auf einen Gegenstand zeigt (vgl. Wittgenstein 1984a, § 43). Problematisch an solchen ostensiven Erklärungen ist, daß man nicht auf Arten von Gegenständen, sondern eben nur auf Gegenstände zeigen kann, denen man nicht ansehen kann, welche ihrer Eigenschaften für den Gebrauch eines bestimm-

13. Dialoganalyse und Semantik

275

ten Ausdrucks erheblich ist. Eine ähnliche Funktion und eine ähnliche Problematik weist die Verwendung von Bildern auf, die eine lange Tradition im Wortschatzunterricht und in der Lexikographie hat. (v) Die Nennung der sprachlichen Handlung, zu deren Vollzug ein Ausdruck normalerweise verwendet wird bzw. beiträgt, kann als Bedeutungserklärung dann genügen, wenn die Eigenschaften der betreffenden sprachlichen Handlung bekannt (und unkontrovers) sind. Solche Hinweise finden sich in versteckter Form auch in traditionellen semantischen Kommentaren (z.B. in iussiver Bedeutung heißt: wird normalerweise zur Kennzeichnung einer Aufforderung, einer Weisung, eines Befehls verwendet), (vi) Sowohl die Beschreibung von Gegenständen als auch die Nennung oder Beschreibung von Handlungsweisen kann die Erläuterung kulturgeschichtlicher Zusammenhänge, in denen die Verwendung eines Ausdrucks steht, nötig machen. Dazu gehört an erster Stelle die Beschreibung sozialer Wissensbestände. Diese Art der Bedeutungsbeschreibung spielt besonders bei der Beschreibung historisch, sozial oder ethnographisch entfernter Wortgebräuche eine Rolle (vgl. Malinowski 1923). (vii) Man kann die Bedeutung eines Ausdrucks angeben, indem man beschreibt, in welchen minimalen Aspekten des konventionellen Gebrauchs sich ein Wort von bedeutungsähnlichen Wörtern unterscheidet, deren Kenntnis bzw. Beherrschung man dabei voraussetzt, (viii) Die dialogsemantische Beschreibung der (Teil-) Handlungen, zu deren Vollzug ein Ausdruck normalerweise verwendet wird bzw. beiträgt, ist eine explizite Form der Bedeutungsbeschreibung als Beschreibung des Gebrauchs. Dabei wird nicht vorausgesetzt, daß der Adressat die Eigenschaften der betreffenden Handlung kennt. Erster Schritt ist die Angabe der sprachlichen Handlung bzw. des Bedeutungsbeitrages, den ein Ausdruck leistet. Zweiter Schritt ist die Beschreibung der betreffenden (Teil-)Handlungen und der regelhaft möglichen Anschlußzüge, durch die eine Handlung des betreffenden Typs bestimmt ist.

4.

Sprachtheorie, Handlungstheorie, Kognitionswissenschaft

Die Theorie der Sprache und des Sprachgebrauchs steht gegenwärtig in einem Spannungsfeld zwischen den konkurrierenden Forderungen nach Einbindung in eine Theorie des sozialen Handelns, sozialer Institutionen und der Kultur bzw. in eine Theorie des Geistes und der mentalen Organisation. Die unterschiedlichen Interessen zeigen sich einerseits in Problemen hinsichtlich der Verträglichkeit von zentralen Grundbegriffen wie dem Verstehensbegriff. In kognitionswissenschaftlichen Arbeiten wird das Verstehen als mentaler Prozeß aufgefaßt, in der Wittgenstein- und Ryle-Tradition dagegen als ein Zustand (vgl. Fritz 1991a, 7f. und Art. 9), und die Commitments, die Sprecher bei ihren Handlungen eingehen, sind nicht zu verwechseln mit ihren tatsächlichen mentalen Einstellungen. Gleichwohl muß man auch für die Commitment-Buchführung einen dieser Buchführung analogen mentalen Mechanismus vorsehen (Hamblin 1970b, 258f.). Immerhin sind gegenwärtig erste Bemühungen um eine einheitliche

T. Gloning

276

und verträgliche Berücksichtigung sozialen Handelns und mentaler Organisation zu erkennen (vgl. Kasher 1979; 1991a, b). Einstweilen kann man aus der Sicht einer Dialogtheorie und einer handlungstheoretischen Semantik nur auf die Berechtigung einer Adäquatheitsforderung für eine umfassende Sprachtheorie verweisen: „A theory about anything which is of some standard use - be it a tool, an artifact, an institution, or what have you - is explanatorily inadequate if it fails to specify the constitutive elements of the use, such as function or purpose" (Kasher 1979,38; vgl. Dummett 1979 und Lorenz 1980).

5.

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13. Dialoganalyse und Semantik

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Tübingen/Gießen

14. Dialoganalyse und Grammatik

1. 2. 3. 4. 5. 5.1 5.2 5.3 5.4 5.5 6.

Grammatische Analyse als Problem der Dialoganalyse Kooperationsprobleme Der Bedarf an grammatischer Erklärung Auf der Suche nach einer kommunikativ-funktionalen Grammatik Eine Grammatik für die Dialoganalyse : eine Skizze Elementare Propositionen Formen der Modifikation von Propositionen Der modus dicendi von Dikta Modifikationen von modi dicendi Kommentierung, handlungsorganisierende Bemerkungen, Abtönung Literaturhinweise

1.

Grammatische Analyse als Problem der Dialoganalyse

Im akademischen Lehr- und Forschungsbetrieb koexistieren Dialoganalyse und Grammatik als verschiedene Bereiche der Sprachbetrachtung, die in einem schlecht erklärten Verhältnis zueinander stehen. Die Fragestellungen, die Dialoganalyse und Grammatik leiten, scheinen auf den ersten Blick nicht viel mehr gemeinsam zu haben als ihren allgemeinsten Gegenstand: die Sprache. Die Dialoganalyse interessiert sich vorrangig dafür, was wir mit sprachlichen Mitteln tun, die Grammatik konzentriert sich auf diese Mittel selbst. Bei sorgfältiger Betrachtung zeigt sich allerdings, daß beide ideale Partner sein können, wenn sie ernsthaft von den Phänomenen Rechenschaft geben wollen, mit denen sie befaßt sind. Die Dialoganalyse kann nicht darauf verzichten aufzuklären, welche Rolle die komplex gebauten Ausdrücke spielen, mit denen die Handlungen durchgeführt werden, die Dialoge konstituieren, denn schließlich beruht das meiste, was wir über Dialoge sagen können, auf einer Auswertung der verbalen Hervorbringungen der Dialogpartner. Die Grammatik ihrerseits steht vor dem Problem, eine Vielfalt von Ausdrucksformen festzustellen, die als solche unverstanden bleibt, wenn sie nicht im

282

Β. Strecker

Hinblick auf ihre Rolle beim kommunikativen Handeln begriffen wird - und dialogisches Handeln ist nichts anderes als prototypisches kommunikatives Handeln. Grammatische Analyse ist f ü r die Dialoganalyse, wie man sieht, nicht bloß eine Nachbarwissenschaft, sondern gehört, bis zu einem gewissen G r a d , zu ihren eigenen Aufgaben. Ist dies erkannt, liegt es nahe, sich als Dialoganalytiker an jene Forschung zu wenden, die, gewissermaßen von Haus aus, mit Fragen der grammatischen Analyse befaßt ist. Wieso sollte man das R a d neu erfinden, wenn längst ein hochspezialisierter Forschungszweig existiert, der sich mit nichts anderem beschäftigt? Wenn hier und in der Folge von Grammatik die Rede ist, dann ist damit stets die eigensprachliche Grammatik oder die Grammatiktheorie im allgemeinen gemeint, weil sie sich über die bloße Erfassung des Fonnbestands hinaus grundsätzlich mit der Aufklärung von Ausdrucksstrukturen befassen. Fremdsprachliche Grammatiken dagegen konzentrieren sich darauf, fremde Ausdrucksformen zu als unproblematisch erachteten eigenen Formen ins Verhältnis zu setzen. Sie blenden dabei funktionale Aspekte weitgehend aus und kommen deshalb als Partner einer Dialoganalyse weniger in Frage. (Siehe in diesem Zusammenhang auch Heringer/Strecker/Wimmer 1980, Kap. 1.)

2.

Kooperationsprobleme

Nur sprachwissenschaftliche Laien werden erwarten, daß sich die naheliegende Kooperation von Dialoganalyse und Grammatik problemlos gestaltet. Schwierigkeiten ergeben sich vor allem in zwei Bereichen: (a)

Die Dialoganalyse ist, da Dialoge überwiegend die Form mündlicher Kommunikation haben, stark an einer Grammatik mündlicher Sprache interessiert. Die Grammatikschreibung hat sich, durchaus nicht ohne gute G r ü n d e , zu allen Zeiten mehr f ü r Sprache in ihrer schriftlichen Form interessiert. In neuerer Zeit haben sich - vorzugsweise diskursanalytisch interessierte - Grammatiker verstärkt mit Formen der mündlichen Rede befaßt.

(b)

Die sprachtheoretischen Grundlagen der Dialoganalyse und der einflußreichsten Grammatiktheorien sind nicht so ohne weiteres in Einklang zu bringen.

Bei (a) handelt es sich um ein eher praktisches Problem: Die Aufgabe einer Grammatik wurde und wird in aller Regel darin gesehen, die korrekte Formulierung von Texten zu unterstützen, und an korrekter Formulierung sind wir vorzugsweise im Hinblick auf schriftliche Äußerungen interessiert, (b) führt zu grundsätzlichen Schwierigkeiten. Dabei gehörte, was von der Dialoganalyse an Grammatik einzufordern ist, traditionell durchaus zu d e m , was Grammatiken zu erfassen suchten. Sie haben, wenn man so will, einer künftigen Dialoganalyse zugearbeitet, indem sie den sprachlichen Ausdruck auch in Hinsicht auf seine kommunikative Leistung analysiert haben. Es wäre sicher überzogen zu sagen, die prästrukturalistische Grammatik hätte eine kommunikativ-funktionale Ausrichtung, aber ihre Terminologie belegt, daß sie entsprechende Überlegungen in ihre Analysen einbezog. Sie kann - natürlich ex post - mit

14. Dialoganalyse und Grammatik

283

ihren partes orationis, denen sie, zum Teil über Gebühr, kommunikative Funktionen zugeschrieben hat, als Alternative zur mehr formal orientierten modernen Grammatik gelten. Sie spricht von Fragesatz, Redeteilen, Subjekt, Prädikat, Attribut, Dativ, Akkusativ, um nur einige Beispiele zu nennen. Sie hat damit, bei allen Schwächen, die man ihr aus heutiger Sicht vorhalten mag, auch Grundlagen für eine funktionale Grammatik geschaffen, wie sie in eine moderne Dialoganalyse einzubinden ist. Die prästrukturalistische Grammatik zeichnet sich durch eine ausgesprochen heterogene Kategoriebildung aus. Neben den genannten kommunikativ-funktionalen Gesichtspunkten berücksichtigt sie semantische, topologische und morphologische Charakteristika sprachlicher Ausdrücke. Ihre besten Vertreter waren sich der daraus resultierenden Schwierigkeiten durchaus bewußt. Das zeigen etwa Hermann Pauls anspruchsvolle Unterscheidungen zwischen grammatischen und psychologischen Subjekten und Prädikaten (Paul 1919). Die strukturalistische Kritik hat ihr die wenig transparente Vermischung von Charakterisierungsaspekten vorgehalten und eine Entwirrung der Gesichtspunkte eingeleitet, die in - bisher - letzter Konsequenz zur These von der Autonomie der Syntax geführt hat (siehe dazu Chomsky 1977, Teil 1.II; Fanselow/Felix 1987, Bd. 1.; kritisch: Givón 1979, Kap. 1). In dem Maß, in dem sich die moderne Grammatiktheorie auf formale Aspekte bei der Analyse des sprachlichen Ausdrucks konzentrierte, verlor sie an Interesse für Theorien des sprachlichen Handelns. Diese sehr pauschale Feststellung gilt sicher nicht für alle neueren Grammatiktheorien in gleichem Maß. Sie gilt insbesondere nicht für die verschiedenen funktionalistischen Theorien (Prager Schule, Halliday, Dik, Givón), die unten noch angesprochen werden. Auch die an die Arbeiten Montagues anschließenden logischen Analysen natürlicher Sprachen sind hier auszunehmen. Aber diese Theorien bestimmen nicht die Haupttendenzen der aktuellen Forschungslandschaft. Da, wohl auch als Reaktion auf diese Entwicklung, zur gleichen Zeit neue Forschungsrichtungen wie die Dialoganalyse und die Konversationsanalyse aufgekommen sind, wäre das nicht weiter problematisch, wenn mit der Konzentration auf die syntaktische Form nicht die erwähnte These von der Autonomie der Syntax verbunden worden wäre, die postuliert, daß die Form natürlichsprachlicher Ausdrücke in keiner Weise von den kommunikativen Funktionen bestimmt wird, die dieser Ausdruck erfüllen kann (siehe dazu Chomsky 1977,48-97). Wenn, wie damit behauptet wird, der sprachliche Ausdruck unter funktionalem Aspekt nicht erschlossen werden kann, dann heißt das auch, daß das grammatische Programm der Dialoganalyse gegenstandslos ist, denn es trifft bei der Betrachtung des sprachlichen Ausdrucks auf funktional nicht zu analysierende Blöcke, die nur ganzheitlich für die Zwecke kommunikativen Handelns zu gebrauchen sind. Die Dialoganalyse kann ihr grammatisches Programm aber unter keinen Umständen aufgeben, denn damit würde sie auf ihre Grundlagen verzichten. Die Grammatiktheorie kann mit der These von der Autonomie der Syntax leben. Auch wenn sie Fragen des Sprachgebrauchs ausschließt, bleibt ihr ein Untersuchungsgegenstand erhalten. Die Dialoganalyse hingegen hängt völlig in der Luft, wenn sie ihre Deutungen sprachlicher Handlungen nicht auf eine funktionale Analyse des dabei gebrauchten Ausdrucks stützen kann.

284

Β. Strecker

Es gibt für die Dialoganalyse zwei Optionen, ihr Verhältnis zur derzeit einflußreichsten Grammatikforschung zu gestalten: Sie kann deren Thesen ganz einfach ignorieren und sich an alternative Forschungsrichtungen halten, die, wie sie, davon ausgehen, daß sich sprachliche Ausdrücke zumindest auch unter funktionalem Aspekt analysieren lassen, oder sie kann sich der Herausforderung stellen und versuchen zu zeigen, daß die These von der Autonomie der Syntax nicht zwingend und ohne Not überzogen ist. Der weitergehende Versuch, diese These zu widerlegen, kann aus logischen Gründen nicht erfolgreich sein, was nicht bedeutet, daß sie besonders gut begründet sein muß. Sie entzieht sich, trotz ständiger Beschwörung ihres empirischen Charakters, der Falsifikation, nach Popper (1934) nicht gerade ein Zeichen gehobener Wissenschaftlichkeit. (Siehe hierzu auch Strecker 1979; 1986.) Unter wissenschaftspraktischen Gesichtspunkten mag die erste Option vorzuziehen sein. Für die zweite Option spricht, daß sie zugleich fundamentale Einsichten in die Organisation des sprachlichen Handelns und sprachlichen Ausdrucks erwarten läßt.

3.

D e r Bedarf an grammatischer Erklärung

Unsere Möglichkeiten, sprachlich zu handeln, sind zwar nicht unbegrenzt, aber, zumindest in der Theorie, unendlich vielfältig. Wer eine natürliche Sprache beherrscht, verfügt über Verfahren, die ihm erlauben, auf der Basis eines endlichen Inventars elementarer Ausdrucksmittel unendlich viel Verschiedenes zu sagen. Es ist gleichermaßen Sache der Grammatik wie der Dialoganalyse, davon Rechenschaft zu geben, was es mit diesen Verfahren auf sich hat: Die Grammatik hat zu klären, über welche komplexen Ausdruckseinheiten ein kompetenter Sprachteilhaber dabei verfügen kann, und die Dialoganalyse muß zeigen, wie es ihm gelingen kann, die verfügbaren Einheiten im Zuge kommunikativer Akte sinnvoll einzusetzen. Auf den ersten Blick scheinen die beiden Probleme wenig miteinander zu tun zu haben. Bei sorgfältiger Betrachtung zeigt sich, daß sie nicht unabhängig voneinander zu lösen sind. Die Grammatik muß sich, um überhaupt in der Lage zu sein, ihre Aufgabe zu bestimmen, darauf einlassen zu klären, was die Ausdruckseinheiten auszeichnet, deren Struktur sie erfassen will. Die Dialoganalyse wiederum muß erkennen, daß die Mittel, die in kommunikativen Akten zum Einsatz kommen, nicht nur ganzheitlich betrachtet werden können, weil kein noch so kompetenter Sprachteilhaber auf diese Weise über die erkannte Vielfalt der Rede verfügen könnte. Die Schnittstelle von Grammatik und Dialoganalyse bildet dabei, was man als selbständigen Gesprächsbeitrag bezeichnen kann. Ein solcher Gesprächsbeitrag vereinigt beides: Er ist zunächst einmal eine Einheit des kommunikativen Handelns und erfüllt als solche kommunikative Funktionen, konstituiert aber, wie sich zeigen läßt, zugleich eine Einheit des Ausdrucks und bietet damit einen Ansatzpunkt für die Bestimmung von Sätzen, jener ausgezeichneten Ausdruckseinheiten, die Gegenstand grammatischer Analysen sein können. (Für eine Herleitung des Satzbegriffs aus dem Begriff des Gesprächsbeitrags siehe Strecker 1991.)

14. Dialoganalyse und Grammatik

285

Wenn es in der Praxis nicht zu der naheliegenden Kooperation von Grammatiktheorie und Dialoganalyse kommt, so deshalb, weil sich die derzeit herrschende Lehre in der Grammatikforschung einer Grundlegung ihres Forschungsgegenstands mehr oder weniger elegant entzieht. Die Ausblendung des Grundlagenproblems erlaubt ihr, formale Ausdruckskonfigurationen als Gegenstand grammatischer Analysen zu begreifen. Wie weit sie dies legitimerweise tut, braucht hier nicht zu interessieren. Die Dialoganalyse jedenfalls wird dadurch um die Unterstützung gebracht, die sie sich von der Grammatiktheorie erwarten könnte. Wenn die Einheiten des sprachlichen Ausdrucks ausschließlich unter konfigurationalem Aspekt analysiert werden, bleiben gerade jene formbestimmenden Faktoren auf der Strecke, die erlauben, die sprachlichen Mittel, mit denen Gesprächsbeiträge zu realisieren sind, nicht als holistische Blöcke zu betrachten, sondern als Kompositionen, deren Elemente für die Erledigung verschiedener Teilaufgaben kommunikativer Akte zuständig sind. Unter dieser Voraussetzung kann es aber nicht gelingen, davon Rechenschaft zu geben, wie Menschen in der Lage sein können, die prinzipiell verfügbare Ausdrucksvielfalt sinnvoll einzusetzen. Genau das ist aber eines der großen Probleme bei der Erklärung der Möglichkeit des Erwerbs natürlicher Sprachen: Wir produzieren nicht einfach, wie Chomskys „idealer" Sprecher-Hörer (Chomsky 1969, 13), mögliche Ketten von Ausdrücken, sondern einigermaßen sinnvolle Mitteilungen. Hier ist jetzt zu fragen: Wie ist das möglich, wenn wir dazu Ausdrucksketten zu verwenden haben, deren Struktur nicht in wesentlicher Hinsicht funktional ist? Es gibt ein Modell für die Kommunikation mit in ihrer Struktur größtenteils nicht sinnhaften Mitteln: der Gebrauch, den wir von Signalen machen. Wir sind in der Lage, eine größere Anzahl von Signalen zu benutzen, denen Bedeutung nur durch willkürliche Konventionen zugeteilt wird und die wir deshalb ganzheitlich zu erlernen haben. Auch die Wörter natürlicher Sprachen sind von der Art solcher Signale. Aber der Punkt ist: Wir müssen die meisten dieser Wörter - alle Simplicia - einzeln lernen. Zwar kennen wir das „Alphabet", mit dessen Mitteln sie gebildet werden, aber das hilft uns ziemlich wenig beim Erlernen ihrer Bedeutung. Die Ausdrücke, mit denen die möglichen Gesprächsbeiträge zu artikulieren sind, d.h. die möglichen Sätze, sind unmöglich in derselben Weise wie die Wörter zu erlernen. Ein schönes Beispiel für die Beschränkungen, denen eine solche Sprachbeherrschung unterliegt, bieten die geistlosen Sprachführer für Touristen, die einen ganzheitlich mit Sätzen für die wichtigsten alltäglichen Kommunikationsanlässe versorgen und einen im Regen stehen lassen, wenn freundliche Menschen auf den Gebrauch der Sätze reagieren. Eine Beherrschung der unendlichen Vielfalt an Sätzen ist nur möglich, wenn wir ihre Bedeutung, d.h. ihr kommunikatives Potential, als Funktion der Bedeutungen der sie konstituierenden Wörter verstehen können, die ihrerseits ganzheitlich erlernt werden. Sätze werden zwar nach Maßgabe des syntaktischen Systems einer Sprache gebildet, sind damit aber sowenig Einheiten dieses Systems wie etwa Häuser Einheiten ihrer Baumaterialien sind. Eine rein formale Grammatik ist deshalb außerstande, Sätze als

286

Β. Strecker

Gegenstand ihrer Analyse zu begreifen, denn die Ansprüche, die ein sprachlicher Ausdruck erfüllen muß, damit er als Satz gelten kann, sind von einer Art, die eine solche Grammatik nach ihrer eigenen Voraussetzung gar nicht wahrnehmen kann. (Siehe hierzu auch Strecker 1991.) In Sätzen manifestiert sich Sinn, und erst dieser Sinn ist es, der sie als Mittel des kommunikativen Handelns qualifiziert. Für eine auf die Deutung solchen Handelns gerichtete Dialoganalyse werden Sätze vor allem als Sinneinheiten zum Problem. Sie kann ihren Sinn nicht, wie den von Signalen, holistisch erfassen, sondern muß Rechenschaft davon geben, wie sich dieser Sinn aus den Bedeutungen nicht weiter hintergehbarer Teile aufbaut. Das heißt: Sie ist an grammatischer Analyse gerade soweit interessiert, wie es dieser gelingt, den Aufbau des kommunikativen Potentials von Sätzen und eventuell umfassenderer Ausdruckseinheiten transparent zu machen.

4.

Auf der Suche nach einer kommunikativ-funktionalen Grammatik

Der Hauptstrom der aktuellen Grammatikforschung bietet, wie bereits festgestellt, wenig, was die Dialoganalyse in ihrem Bemühen unterstützen könnte. Mehr zu erwarten ist von alternativen Theorieansätzen, die in der Ausdrucksstruktur nicht ausschließlich formale Prinzipien wirksam sehen. Von Interesse ist in diesem Zusammenhang auch, was von Aristoteles bis Montague (siehe etwa Montague 1970) an logischen Analysen von Sätzen entwickelt wurde. Zwar konzentrieren sich diese Analysen - in aller Regel - auf sog. Aussagesätze, aber, was sie zu Propositionen feststellen, kann auch für eine kommunikativ-funktionale Analyse genutzt werden, wenn der Status der entsprechenden Thesen relativiert wird. Genuin grammatische Ansätze einer für dialoganalytische Zwecke geeigneten Betrachtung finden sich bei Theoretikern, die - im Gegensatz zur generativen Schule - in der kommunikativen Funktion sprachlicher Ausdrücke ein formrelevantes Moment erkennen, das zur Erklärung des Formenbestands heranzuziehen ist. Hier ist vor allem die funktionale Satzperspektive der Prager Schule zu nennen. (Siehe hierzu Nehring 1946; Danes 1960; Grewendorf 1980; Eroms 1986 sowie, aus etwas anderer Sicht, Jacobs 1984.) Grundsätzliche Überlegungen zum Verhältnis von Form und Funktion sprachlicher Ausdruckseinheiten finden sich auch in den Papieren der „Parasession on functionalism" der Chicago Linguistic Society (1975), in dem von Givón (1979a) herausgegebenen Band „Discourse and syntax" sowie in dessen Monographie „On understanding grammar", in der er einen pragmatischen und einen syntaktischen Kommunikationsmodus unterscheidet und letzteren durch einen Prozeß der Syntaktifizierung (syntacticization) begründet sieht. Strecker (1987) sucht in Form eines Gedankenexperiments zu zeigen, wie sich die heute beobachtbaren festen Ausdrucksstrukturen im Zug der Entwicklung erfolgversprechender kommunikativer Strategien ausgebildet haben könnten.

14. Dialoganalyse und Grammatik

287

Grammatische Strukturen aus einer primär kommunikativen Sicht beschreiben Leech/Svartvik (1975), Dik (1980; 1981; 1983), Halliday (1985) sowie Givón (1984/90). Eine neue deutsche Grammatik, die ausdrücklich auch eine kommunikativ-funktionale Perspektive einnimmt, entsteht derzeit am Institut für deutsche Sprache in Mannheim. (Für eine Darstellung der leitenden Überlegungen zu diesem Projekt siehe Zifonun 1986.) Daneben finden sich zahllose Detailuntersuchungen insbesondere zu Form und Gebrauch definiter und indefiniter Kennzeichnungen (siehe dazu etwa Geach 1972; Donnellan 1966; Kripke 1972; auch Tugendhat 1976, 20.-26. Vorlesung), zu einzelnen Wörtern und Wortpaaren (exemplarisch: Redder 1990 zu denn und da\ Altmann 1976; König 1991; Weydt 1977; 1983 zu Grad- und Modalpartikeln; Ehlich 1986 zu Interjektionen) und zu verschiedenen syntaktischen Mustern (Meibauer 1987; Altmann 1987; Pasch 1989 und Zifonun 1991 zum Satzmodus; Hoffmann 1990; 1991 zu Ellipse und Anakoluth). Speziell zur Grammatik der mündlichen Rede siehe Edmondson (1981) sowie den Beitrag Gesprochene Sprache - dialogisch gesehen von J. Schwitalla in diesem Band.

5.

Eine Grammatik für die Dialoganalyse : eine Skizze

Für die Dialoganalyse sind Grammatiken, die sich mit dem formalen Regelsystem von Sprachen befassen, nur insoweit von Interesse, als sie natürlich, bei aller Konzentration auf Formales, wichtige Detailbeobachtungen zum Bau von Redeeinheiten machen, die in kommunikativer Funktion genutzt werden. Das Hauptinteresse der Dialoganalyse sollte jedoch der Struktur der sinnhaften Konstruktionen gelten, die mit den Mitteln solcher Systeme zu bilden sind, denn in diesen Konstruktionen manifestieren sich Strategien zur Lösung von Kommunikationsproblemen. Und insofern, als diese Konstruktionen in Ausdrucksketten der Sprache bestehen, gilt das Interesse der Dialoganalyse natürlich auch der semantischen Form dieser Ketten. Eine für die Dialoganalyse interessante grammatische Analyse muß bei Gesprächsbeiträgen ansetzen, die einfachen kommunikativen Akten entsprechen. Damit sie das kann, muß es zunächst gelingen, beliebige Gesprächsbeiträge in elementare Beiträge aufzusplitten. Als kompetente Sprachteilhaber können wir dies, doch, was zu unserem Know how gehört, ist damit freilich nicht automatisch Bestand unseres theoretischen Wissens über den Bau von Gesprächsbeiträgen. Aber wir verfügen als kompetente Sprachteilhaber nicht nur über das praktische Wissen, wir können auch jeden noch so komplexen Gesprächsbeitrag so analysieren, daß alle einfachen, nicht weiter aufzuschließenden Akte erkennbar werden, die den komplexen Beitrag ausmachen. Im Ergebnis könnte eine solche Analyse so aussehen: Es wird gesagt, daßp, dann gesagt, daß q, dann gefragt, ob r, und dann verlangt, daß s... Was mit einem komplexen Gesprächsbeitrag zu verstehen zu geben ist, kann also in jedem Fall in einfache Einheiten des damit Gesagten, Gefragten, Verlangten aufgelöst werden. Für diese Einheiten gilt, was auch für das mit den komplexen Beiträgen

288

Β.

Strecker

insgesamt Gesagte festzustellen ist : Sie werden auf der Basis der verwendeten sprachlichen Äusdrucksmittel verstanden, sind aber nicht einfach mit diesen Mitteln zu identifizieren. In linguistischer Terminologie ausgedrückt: Diese einfachen Einheiten des Gesagten, Gefragten, Verlangten sind die Bedeutungen der Sätze, mit denen die elementaren Akte des Sagens, Fragens, Verlangens realisiert werden. Mit der Analyse der pauschalen Einheit des mit einem Gesprächsbeitrag Gesagten, Gefragten oder Verlangten in elementare Einheiten steht das Explikandum der kommunikativ-funktional ausgerichteten Grammatik fest. Man kann diese elementaren Einheiten, um einfacher davon sprechen zu können, als Dikta bezeichnen. Die Aufgabe einer kommunikativ-funktional ausgerichteten Grammatik besteht dann darin, die funktionsbedingte Struktur der Dikta aufzuklären, die mit den Mitteln einer Sprache zu artikulieren sind. Die Aufklärung der funktionsbedingten Struktur von Dikta erfolgt in zwei Schritten : (a)

(b)

Zunächst muß davon Rechenschaft gegeben werden, welche Funktionen ein Diktum im einzelnen erfüllen kann, worin also das Illokutionspotential - seine Eignung für die Durchführung spezifischer kommunikativer Handlungen - besteht, das es darstellt. Sind die Funktionen geklärt, ist zu eruieren, welche Ausdrucksmittel unter welchen Bedingungen geeignet sind, diese Funktionen zu erfüllen.

Man kann einem Diktum nicht ansehen, welches Illokutionspotential es darstellt. Dieses Potential ist über die Wirkungen zu erheben, die es bei kompetentem Einsatz zeitigt. Dikta sind auf der Basis von Fallstudien zu gewinnen. Die Erhebung des Illokutionspotentials gestaltet sich dabei schwieriger, als man auf den ersten Blick vermuten könnte, weil die Wirkungen, die wir in Kommunikationen erzielen, oft genug nicht unmittelbar auf das zurückzuführen sind, was wir sagen. Besonders ausgeprägt ist die Diskrepanz zwischen Gesagtem und damit Gemeintem bei ironischer und betont höflicher Rede. Um herauszufinden, welchen Anteil ein Diktum an dem hat, was letztlich als Wirkung eines kommunikativen Aktes zu verzeichnen ist, muß man sich stets an das halten, was vor jeder Verrechnung spezieller Wissenshintergründe und Sprecherabsichten als gesagt gelten kann. Das mag manchmal wenig geistreich wirken, ist aber immer möglich, weil die Auswertung des prima facie Gesagten notwendig am Anfang jeder Deutung eines kommunikativen Aktes stehen muß. Man wird dabei nicht soweit kommen, ein Rekognitionsverfahren zu entwickeln, das die automatische Zuordnung von Ausdrucksketten zu Funktionseinheiten erlaubt, doch gelingt dies auch formalen Grammatiken nur in sehr bescheidenem Maß. (Für eine ausführliche Betrachtung dieser grundlegenden Problematik siehe Strecker 1986. Ähnliche Überlegungen stellen auch Autoren an, die eine Konzeption der „wörtlichen Bedeutung" haben. Siehe dazu Searle 1979; Dascal 1987.) Die erste Feststellung zur kommunikativen Leistung von Dikta gilt der Unterscheidung von zwei nach Art und Funktion grundsätzlich verschiedenen Klassen: primär informationszentrierte und primär interaktionszentrierte Dikta. Informationszentrierte Dikta exemplifizieren etwa die folgenden Ausdrucksketten:

14. Dialoganalyse und Grammatik (1) (2) (3) (4) (5)

289

Mach das Licht aus! Hast du heute abend Zeit für mich? Wenn doch bloß die Preußen kämen. Sei „x" eine beliebige reelle Zahl. Der Kanzler bestimmt die Richtlinien der Politik.

Als interaktionszentrierte Dikta können die folgenden Ausdrucksketten gedeutet werden: (6) (7) (8) (9)

Himmelherrgottsakrament! Gute Nacht! Danke! So!

Für die Grammatik sind vor allem die informationszentrierten Dikta von Interesse. Das hat nichts damit zu tun, daß sie in irgendeinem Sinn als wichtiger zu betrachten sind, sondern allein damit, daß die Entwicklung so raffinierter semantischer Strukturen, wie sie in Sätzen natürlicher Sprachen anzutreffen sind, nur im Hinblick auf die Informationsfunktion zu erklären ist. Interaktionszentrierte Dikta haben dagegen einen eher holistischen Charakter. Eine vergleichende Betrachtung informationszentrierter Dikta zeigt, daß diese sich in verschiedener Weise gleichen oder unterscheiden können. Rundum verschieden sind etwa die Dikta, die oben mit ( l ) - ( 5 ) exemplifiziert wurden. In einer Hinsicht gleich, doch in anderer verschieden, sind etwa die mit (10)-(14), mit (15)—(17) und mit (18)—(20) exemplifizierten Dikta: Gleicher Sachverhalt wird entworfen, jedoch ein Akt anderer Art: (10) ( 11 ) (12) (13) (14)

Leihst du mir einen Fünfer? Leih mir einen Fünfer ! Du leihst mir einen Fünfer. Liehest du mir [doch nur] einen Fünfer! [Angenommen] du liehest mir einen Fünfer.

Gleichartiger Akt, doch verschiedener Sachverhalt wird entworfen: (15) (16) (17) (18) (19) (20)

Hat er einen Hammer benutzt? Kommen Sie aus Fellbach oder aus Cannstatt? Wissen Sie überhaupt, was das heißt? Dreh das Ding ab! Halt die Ohren steif! Komm mir bloß nicht so !

Auf der Grundlage dieser Beobachtungen kann die Leistung informationszentrierter Dikta zwei Hauptfunktionen zugeordnet werden: (i) Bereitstellung eines Sachverhaltsentwurfs (einer Proposition), (11) Bestimmung einer Weise des Sagens (modus dicendi). Die Unterscheidung stützt sich auf die Auswertung von Informationen, die nicht eigens mit einer lexikalisch faßbaren Ausdruckseinheit gegeben werden, sondern der Form

290

Β. Strecker

der Sätze zu entnehmen sind. Dabei entsprechen den beiden Hauptfunktionen keine augenfälligen Ausdruckskomponenten. Wenn man, wie das in der Regel geschieht, dennoch mit Propositionen und modi dicendi zwei Funktionseinheiten unterscheidet, dann handelt es sich bei diesen Einheiten um theoretische Konstruktionen und nicht um etwas, das bei der Analyse vorgefunden wurde. (Siehe hierzu Prior 1971, 3ff.) Beide Hauptfunktionen können mehr oder weniger aufwendig erfüllt werden. Aus Gründen einer überschaubaren Darstellung setzt diese Skizze jeweils bei den strukturell elementaren Formen an, um dann Schritt für Schritt komplexere Formen aufzubauen. 5.1

Elementare Propositionen

Ein Sachverhaltsentwurf bzw. eine Proposition umfaßt in elementarer Form zwei Komponenten: (a) (b)

die Bestimmung einer Charakteristik (eines Prädikats) des „Verhalts", die Bestimmung des Gegenstands bzw. - bei mehrstelligen Relationen - der Gegenstände dieser Charakteristik, wobei Gegenstand in denkbar weitem Sinn zu verstehen ist. /

Die erste Komponente operiert auf die zweite Komponente, die gewissermaßen einen Ort bzw. Orte für die Verrechnung der Charakteristik bzw. des Prädikats einrichtet. Die zweite Komponente kann dabei als Eigenname, als Kennzeichnung, als Anapher oder als Verweis realisiert sein. Etwa so: (1) (2) (3) (4) (5)

Hans Werner Schulze ein alter Esel die kleinen grünen Männchen er jene

Je nach Natur der Charakteristik kann diese zweite Komponente ein- oder mehrgliedrig sein. Man bezeichnet diese Eigenschaft des Prädikats als seine Stelligkeit oder auch seine Valenz. Den oder die Operanden des Prädikats bezeichnet man als Argument bzw. als Argumente. Die Komponenten von Propositionen können, wie die Propositionen insgesamt, einfach oder mehr oder weniger komplex gebaut sein. Ihren Bau bzw. die Möglichkeiten ihres Baus transparent zu machen, ist eine der wesentlichen Aufgaben der kommunikativ ausgerichteten Grammatik. Für die Dialoganalyse ist dabei von besonderem Interesse, wie Argumente zu formulieren sind, denn ihrer Gestaltung kommt im Rahmen des kommunikativen Handelns besondere Bedeutung zu: Während Prädikate im wesentlichen unabhängig von den spezifischen Voraussetzungen zu formulieren sind, unter denen ein Sprechakt auszuführen ist, hängt der Kommunikationserfolg entscheidend von der Formulierung der Argumente ab. So kann man etwa, um auf ein und dieselbe Person Bezug zu nehmen, gegenüber verschiedenen Adressaten so verschiedene Formulierungen wählen wie der Peter, mein Bruder,

der kleine Dicke

mit

14. Dialoganalyse und Grammatik

291

dem schwarzen Hut. Nur wenn es einem Hörer oder Leser gelingt, über ein geeignetes, idealerweise auf ihn zugeschnittenes Argument herauszufinden, welchem Gegenstand die mit dem Prädikat vorgenommene Charakterisierung gelten soll, wird er wissen, welcher Sachverhalt entworfen werden sollte. Der besonderen kommunikativen Funktion der Formulierung von Argumenten entspricht ein breites Spektrum von Formulierungsverfahren, angefangen von Eigennamen, determinierten Appellativa und Deiktika (Zeigewörtern) bis zu ganzen Ketten von spezifizierenden Attributen. Die Struktur von Argumenten und ihre semantische Interpretation gehört zu den bestuntersuchten Bereichen von Syntax und Semantik. Linguisten, Logiker und Sprachphilosophen von Frege bis Kripke haben sich damit befaßt. Literatur zu diesen Fragen findet sich in der Regel unter Stichwörtern wie definite vs. indefinite Beschreibungen, referierende Ausdrücke, Referenz, Bezugnahme. Ohne Wertung seien genannt: Linsky (1967), der die klassische Diskussion darstellt; Kripke (1972); Donnellan (1972); Tugendhat (1976), 358-496.

5.2

Formen der Modifikation von Propositionen

Elementare Propositionen, aber auch bereits modifizierte Propositionen, können in mehrfacher Hinsicht ausgebaut werden. Formorientierte Grammatiken tendieren dazu, die verschiedenen Modifikationen als Operationen mit gleichem Status und gleichartiger Wirkung zu betrachten und dabei insbesondere auch Modifikationen einzubeziehen, die bei genauer Betrachtung gar nicht der Proposition eines Diktums gelten. In dieser Skizze werden verschiedene Arten der Modifikation von Propositionen und modus dicendi unterschieden. Hier zunächst die Formen der Propositionsmodifikation. Eine geradezu klassische Form der Modifikation von Propositionen ist die Spezifikation von Ort, Zeit, Dauer, Frequenz und allgemeinen Begleitumständen. Spezifikationen dieser Art können als Antizipation allfälliger Fragen gedeutet werden: Wo? Wann? Wie oft? Unter welchen Umständen? Die Möglichkeiten, solche Spezifikationen zu formulieren, sind denen der Formulierung von Argumenten in verschiedener Hinsicht verwandt. Da diese Spezifikationen im Zug ihrer Feinabstimmung unbegrenzt auf definite wie indefinite Beschreibungen zugreifen können, lassen sie eine mindestens ebenso differenzierte Bestimmung zu wie Argumente. Spezifikationen dieser Art sind als eine eigene Klasse von Modifikationen anzusehen, weil sie in Dimensionen operieren, die als solche bereits mit dem zentralen Prädikat der zu modifizierenden Proposition eingerichtet wurden. Sie führen mithin nichts grundsätzlich Neues ein, sondern machen den Fall zum Spezialfall. Von Propositionen, die sich über eine solche Spezifikation aus einer Basisproposition ergeben haben, kann immer auf diese Basisproposition geschlossen werden. Dieselbe Schlußregel gilt für eine weitere Klasse von Propositionsmodifikationen, die man als freie Propositionsmodifikationen bezeichnen kann, weil sie nicht auf immer schon vorhandene Dimensionen zugreifen, sondern neue Aspekte ins Spiel bringen. Zu dieser Klasse gehören diese Typen von Modifikation: Kausalmodifikation,

Β. Strecker

292

Finalmodifikation, Konsekutivmodifikation, Konzessivmodifikation, Adversativmodifikation und Substitutivmodifikation. Kausalmodifikationen zeigen diese Beispiele: (1) Sie weint, weil sie zuhause bleiben muß. (2) Wegen Umbauarbeiten bleibt unser Laden heute geschlossen. Finalmodifikationen werden hier exemplifiziert: (3) Peter verriegelte jedesmal alle Türen, um vor Einbrechern sicher zu sein. (4) Du mußt fleißig üben, damit du mal ein ganz Großer wirst. Konsekutivmodifikation, Konzessivmodifikation, Adversativmodifikation und Substitutivmodifikation in dieser Reihenfolge: (5) (6) (7) (8)

Der Junge war zu schlau, als daß er gefaßt worden wäre. Die Sängerin bestand auf ihrer Gage, obwohl sie nicht gesungen hatte. Hannes ähnelt seiner Mutter, während Frieder ganz der Vater ist. Statt ins Kino zu gehen, solltest du dein Zimmer aufräumen !

Die Verfahren für die Formulierung solcher freier Propositionsmodifikation sind im Rahmen der Analyse von Adverbialphrasen und -Sätzen in Gebrauchsgrammatiken wie wissenschaftlichen Grammatiken hinreichend differenziert beschrieben und müssen hier nicht eigens dargestellt werden. Von grundsätzlich anderer Wirkung als die bisher angeführten Modifikationen sind Propositionsmodifikationen, die man als Propositionsrestriktionen bezeichnen kann. Sie folgen nicht der oben genannten Schlußregel, sondern schränken die Bedingungen ein, unter denen gelten soll, was die Basisproposition besagt: (9) Komm, wenn du Zeit findest] (8) Kannst du mich daran erinnern, falls ich es vergessen sollte? Noch radikaler ist die Wirkung der Modifikationen der nächsten und letzten Klasse, der Negation, einer einstelligen Propositionsfunktion. Auf eine Basisproposition angewandt, kehrt sie ihren Sachverhaltsentwurf um in eine Ausschlußbestimmung: Was auch immer, jedenfalls nicht das, was hiermit entworfen wird. Negationen im Deutschen sind, anders als verschiedentlich behauptet wird, immer sog. Satznegationen, was nichts anderes heißen soll, als daß sie die Proposition insgesamt betreffen. Es ist allerdings zu beobachten, daß durch entsprechende Intonation und Positionierung der Negationspartikel eine Fokussierung von Redeteilen vorgenommen werden kann, die Leser oder Hörer zu bestimmten Erwartungen ermuntert: (10) Nicht ich habe den Kuchen gegessen. (11) Ich habe nicht den Kuchen gegessen. (12) Ich habe den Kuchen nicht gegessen. In jedem Fall möchte man gleich fortsetzen: „sondern der und der bzw. dies und dies." Die Regularitäten, die sich hinsichtlich des Fokus von Negationen bestimmen lassen, sind bei Jacobs (1982) beschrieben. Eine Übersicht über die wichtigsten Schriften zur Negation bietet die Studienbibliographie von Brütsch/Nussbaumer/Sitta (1990).

14. Dialoganalyse und Grammatik 5.3

293

Der modus dicendi von Dikta

Dikta sind im Deutschen - und wohl in allen voll entwickelten natürlichen Sprachen so zu bilden, daß sie die Deutung einer sprachlichen Handlung etwa als Feststellung, Frage oder Aufforderung unterstützen. Erreicht wird das dadurch, daß zu der Proposition die Indikation einer Weise des Sagens tritt. Diese Indikation geht - auch wenn die gängigen Bezeichnungen der verschiedenen Modi dies nahezulegen scheinen - nicht soweit, den Typus der Handlung zu bestimmen, in der ein Diktum eingesetzt wird. Sie bringt jedoch Festlegungen ein, die ein Illokutionspotential begründen, das ein Diktum für die Ausführung bestimmter kommunikativer Handlungen qualifiziert. Diese Festlegungen betreffen zum einen den Typus von Wissen, in Hinblick auf das die Proposition auszuwerten ist, zum andern die Verbindlichkeiten, auf die sich einläßt, wer das Diktum vorbringt. Um Mißverständnisse zu vermeiden, ist daraufhinzuweisen, daß ein Diktum ins Spiel zu bringen nicht dasselbe heißt wie einen sprachlichen Ausdruck äußern. Mit dem Äußern allein erwirkt man nicht automatisch die Verbindlichkeiten (in der angelsächsischen Literatur: commitments), die mit dem Sagen verbunden sind. So kann man etwa einen Ausdruck nachäffend verwenden oder im Rahmen einer Mikrofonprobe, ohne sich auf das festgelegt zu haben, was mit diesem Ausdruck bei kommunikativer Verwendung zu sagen wäre. Ein Diktum, d. h. die Bedeutung eines Satzes, kommt erst dann zum Tragen, wenn eine kommunikative Verwendung vorliegt. Man kann das vergleichen mit der Bedeutung eines Verkehrsschilds. Das Schild hat ein Regelungspotential, doch erst wenn es korrekt an einer Straße piaziert wurde, kommt dieses Potential zum Einsatz. Solang das Schild in einem Schuppen beim Straßenverkehrsamt liegt, entfaltet es nicht die vorgesehene Wirkung. (Siehe in diesem Zusammenhang auch Strecker 1985.) Wie Zifonun (1991) zeigt, können grundsätzlich zwei Typen von Wissen mit einem Diktum angesprochen sein: repräsentatives Wissen und Erfüllungswissen. Unter repräsentativem Wissen ist dabei das Wissen um die Verhältnisse in der Welt zu verstehen, unter Erfüllungswissen das Wissen um soziale Verbindlichkeiten. Die Wirkung der jeweiligen Festlegung im Rahmen eines Diktums läßt sich in etwa so charakterisieren: (i) repräsentatives Wissen ist betroffen : „Betrachte, was die Proposition entwirft, unter dem Aspekt, daß sich die Dinge so verhalten." (ii) Erfüllungswissen ist betroffen: „Betrachte, was die Proposition entwirft, unter dem Aspekt, daß der entworfene Sachverhalt herbeizuführen ist." Mit der Festlegung des Wissenstypus steht erst teilweise fest, welches Illokutionspotential ein Diktum hat. Ohne die weitergehende Festlegung der Verbindlichkeiten, auf die man sich damit einläßt, bliebe ein Diktum im Bereich bloßer Gedankenspiele - eine Art „brain storming". Solche Spiele sind manchmal durchaus sinnvoll und können auch mit sprachlichen Mitteln realisiert werden, doch, wie der Bestand an Ausdrucksformen zeigt, eignen sich entsprechende Dikta nicht als Standard. Unter den Bedingungen eines arbeitsamen Alltags brauchen wir - vor allem als Hörer, denn vorwiegend Hörer haben an der Genese natürlicher Sprachen mitgewirkt - schnell Klarheit darüber, wie

294

Β.

Strecker

ein Sprecher zu dem steht, was er vorbringt. Diese Klarheit wird geschaffen durch die Festlegung der Verbindlichkeit, die sich so beschreiben läßt: (i) „Ich, der Sprecher, lege mich darauf fest, daß das so ist bzw. daß das so sein soll." (ii) „Ich, der Sprecher, lege mich nicht darauf fest, daß das so ist bzw. daß das so sein soll." Durch die Kombinationen beider Arten von Festlegungen ergeben sich verschiedene Illokutionspotentiale, die modi dicendi. In der einschlägigen Literatur (Altmann 1987; Rosengren 1988; Brandt/Rosengren/Zimmermann 1989; Pasch 1989) ist, entsprechend der mehr syntaktischen Orientierung der Autoren, in der Regel von Satzmodi die Rede. Dabei werden dann, mehr oder weniger im Anschluß an die traditionelle Unterscheidung von Satzarten, Modi direkt unter Bezug auf Sprechakttypen bestimmt. Soweit die dabei getroffenen Unterscheidungen sich auf die Kombinatorik der beiden Arten von Festlegungen stützen, ist nichts dagegen einzuwenden, daß diese einprägsamen Bezeichnungen gewählt werden. Nicht selten scheinen die Modi allerdings aus dem Hut gezaubert, und diese besonders interessante Verbindung zwischen kommunikativer Funktion und Ausdrucksform bleibt letztlich unverstanden. Die Unterscheidung der beiden Arten von Festlegungen ist eine theoretische Konstruktion, der im sprachlichen Ausdruck keine einfach zu isolierenden Komponenten entsprechen. Für die verschiedenen modi dicendi insgesamt lassen sich, wie vor allem Altmann (1987) gezeigt hat, sehr differenziert Informationsträger im sprachlichen Ausdruck bestimmen. 5.4

Modifikationen von modi dicendi

Wie Propositionen können auch die verschiedenen modi dicendi in elementarer und modifizierter Form gebildet werden. Dabei sind grundsätzlich zwei Typen von Modifikationen zu unterscheiden: solche, die den Wissenstypus betreffen und solche, die die Verbindlichkeit - den Interaktionsstatus - betreffen. Wissensbezogene Modifikationen sind durchweg mit Wörtern oder Wortketten zu formulieren. Sie sind mithin in gewisser Weise digitalisiert. Verbindlichkeitsbezogene Modifikationen haben häufig einen eher analogen Charakter. So kann etwa das ganze Spektrum von Aufforderungsakten bei gleicher syntaktischer Form des verwendeten Ausdrucks durch Variationen in der Tonlage realisiert werden. Wissensbezügliche Modifikationen beziehen sich häufig auf die Wahrscheinlichkeit des Bestehens des entworfenen Sachverhalts. Dabei überwiegen bei weitem Modifikationen hinsichtlich des repräsentativen Wissens: (1) Sie hat dich wahrscheinlich versetzt. (2) Sicher haben Sie vergessen, das Kellerfenster zu schließen. (3) Man kann mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit davon ausgehen, daß keine Rettung mehr möglich ist. Daneben finden sich Modifikationen, die erklärenden oder einschränkenden Charakter haben:

14. Dialoganalyse und Grammatik

295

(4) Der Laden bleibt heute geschlossen, weil meine Nachbarin das gesagt hat. (5) Der Laden bleibt heute geschlossen, wenn meine Nachbarin sich nicht irrt. Sätze dieser Art werden von normbewußten Sprachteilhabern nicht ohne weiteres akzeptiert, doch kommen sie im Alltag fraglos gar nicht selten vor und gehören mithin zu dem, was die Grammatik zu erfassen hat. Durch Stimmführung bewirkte verbindlichkeitsbezogene Modifikationen finden sich in der Hauptsache bei Dikta mit einer Festlegung auf Erfüllungswissen. Zwar können auch Feststellungen mehr oder weniger energisch vorgetragen werden, doch schlägt dies nicht so eindeutig auf die Verbindlichkeiten durch, die man sich damit einhandelt. Wer hingegen eine Bitte zaghaft oder allzu derb vorträgt, kann seinem Anliegen schaden. Auch im Bereich der verbindlichkeitsbezogenen Modifikationen finden sich Modifikationen mit erklärendem und einschränkendem Charakter: (6) Das kann nicht gut gehen, weil du danach fragst. (7) Ich bin in der Bibliothek, wenn jemand nach mir fragt. In (6) wird erklärt, warum man sagt, was man sagt. In (7) wird - so seltsam das klingt das Sagen auf den Fall eingeschränkt, in dem jemand nach dem Sprecher fragt: Betrachte dies für den Fall als gesagt, in dem jemand nach mir fragt. Eine Grammatik kann nur die Verfahren erfassen, mit denen eine Modifikation von modi dicendi bewirkt werden kann. Wenn sie es dabei auch mit Verfahren zu tun hat, die jenseits der Kontrolle von Sprechern liegen können - etwa ungewollt zaghaftes Sprechen - , ist dies für die Grammatik selbst ohne Belang. Für die Dialoganalyse dagegen ist gerade dieser Aspekt verbindlichkeitsbezogener Modifikationen von Dikta von Interesse.

5.5

Kommentierungen, handlungsorganisierende Bemerkungen und Abtönungen

Neben Propositionsmodifikationen und Modifikationen von modi dicendi finden sich im Deutschen noch eine Reihe weiterer Möglichkeiten, Dikta auszubauen: (i) Kommentierungen (ii) handlungsorganisierende Bemerkungen (iii) Abtönungen Es handelt sich dabei um semantische Einheiten, die lange Zeit Stiefkinder der Grammatik waren und es zum Teil noch sind, weil sie schlecht in den tradierten Ausdrucksklassen unterzubringen sind. Unter Kommentíeningen sind Operationen zu verstehen, die auf im übrigen abgeschlossene und in nichts modifizierte Dikta angewandt werden können, um zu diesen in kompakter Form Stellung zu nehmen. Ein Sprecher, der sein Diktum um eine Kommentierung erweitert, erspart sich eine umständlichere Wertung, auf die er, aus welchen Gründen auch immer, nicht ganz verzichten will. (Siehe in diesem Zusammenhang auch Niehüser 1987.) Einige Beispiele:

296

Β. Strecker

(1) Ausländische Zeitschriften führen wir natürlich nicht. (2) Erfreulicherweise können wir Ihnen mitteilen, daß Sie den ersten Preis in unserem Preisausschreiben gewonnen haben. (3) Schiller hat die letzten Jahre seines Lebens bekanntlich in Jena verbracht. (4) Zum Glück kann das jetzt nur noch besser werden. Kommentierungen treten ausschließlich in Verbindung mit Dikta im sog. Assertionsmodus auf. Sie wirken sich dabei, obwohl sie nicht in das eingreifen, was im übrigen gesagt wird, doch auf die Wahrheitsbedingungen eines solchen Diktums aus. Das zeigt sich daran, daß es möglich ist, gegen ein derart erweitertes Diktum Einwände vorzubringen, obwohl man akzeptiert, was das Basisdiktum besagt. Die beiden verbleibenden Klassen, die handlungsorganisierenden Bemerkungen und die Abtönungen, unterscheiden sich von allen anderen Formen des Ausbaus von Dikta insofern, als sie ohne jede Wirkung auf die Geltungsansprüche sind, die mit einem Diktum verbunden sein können. Zunächst einige Beispiele für handlungsorganisierende Bemerkungen: (5) Du hast aber versprochen, daß wir heute abend ins Kino gehen ! (6) Zum einen hast du schon wieder vergessen, das Geld zu überweisen, zum andern hast du die ganze Nacht die Garage offenstehen lassen ! (7) Von einer brauchbaren Textverarbeitung erwarte ich zum Beispiel, daß sie automatisch ein Inhaltsverzeichnis erstellen kann. Für Abtönungen: (8) Die Leute sind ja Kummer gewöhnt. (9) Hätt' ich bloß an die Eier gedacht ! (10) Sie haben wohl den Zug verpaßt. Abtönungen wurden in den letzten Jahren intensiv untersucht. (Siehe insbesondere Weydt 1977; 1983.) Man hat ihnen verschiedentlich doch eine modifizierende Wirkung nachgesagt, aber diese Auffassung läßt sich nicht erhärten, denn es gelingt nicht, ihre Bedeutung im Hinblick auf eine solche Wirkung zu explizieren. Ihre Wirkung liegt wohl auf einer ganz anderen, vielleicht eher interpersonellen Ebene und ist bis heute nicht zufriedenstellend zu beschreiben. Handlungsorganisierende Bemerkungen hingegen leisten, was ihr sprechender Name besagen soll: Sie dienen der Einordnung des mit dem Diktum vollzogenen Sprechakts in einen Interaktionszusammenhang, der unter Umständen erst durch sie als solcher konstituiert wird. Die in Syntax wie Semantik eher unbefriedigende Behandlung der besonders diskurssensitiven Einheiten der handlungsorganisierenden Bemerkung und der Abtönung dürfte nicht zuletzt darauf zurückzuführen sein, daß die Kooperation zwischen Grammatik und Dialoganalyse noch kein zufriedenstellendes Maß erreicht hat. Die Grammatik wird in diesen Fragen erst weiterkommen, wenn von Seiten der Dialogoder Diskursanalyse besser geklärt werden konnte, welche kommunikative Leistungen mit diesen Einheiten der Rede zu erbringen sind.

14. Dialoganalyse und

6.

Grammatik

297

Literaturhinweise

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Β. Strecker

298

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Mannheim

15. Dialoganalyse und Prosodie

1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8.

Einleitung Implikationen eines empirischen Zugriffs Begriffsklärungen Methodologische Aspekte Orientierung an einem Sprachmodell Grundzüge eines analytisch-rekonstruktiven Zugriffs Zusammenfassung Literaturhinweise

1.

Einleitung

Zur Analyse eines lautlich realisierten Textes (d. h. gesprochener Sprache) gehört auch die differenzierte Einbeziehung der akustischen Form, ihrer Merkmale und Regelhaftigkeiten. Neben der (schriftlich-)symbolischen Darstellung der segmentalen Einheiten, die die Grundlage für die grammatischen Repräsentationen bilden, geht es um die systematische Charakterisierung weiterer Zeichenfunktionen, die man nach ihrem Anteil an der Gesamtbedeutung bzw. an der Signalisierung von Relationen zwischen den Äußerungsteilen als intonatorisch bzw. prosodisch bezeichnet (sog. suprasegmentale Merkmale). Für dialogische Texte sind prosodische Merkmale (Stimme, Tempo, emotionelle Abtönungen u.ä.) und intonatorische Kategorien (an der betonten Silbe orientierte Konturmerkmale) von konstitutiver Relevanz. Damit stellt sich auf der einen Seite die Aufgabe einer adäquaten empirischen Erfassung der einschlägigen Phänomene im Rahmen eines spezialisierten Beschreibungsmodells, auf der anderen Seite das Problem einer rekonstruktiven Profilierung der unterschiedlichen Kategorien von Intonationsmustern und sonstigen lautlichen Phänomenen, die zur funktionalen Organisation von Dialogen beitragen. Die übergeordnete Aufgabenstellung wird in der Konstruktion eines Modells der Integration von prosodischen und intonatorischen Kategorien bestehen.

300

C. Sappok

2.

Implikationen eines empirischen Zugriffs

2.1

Methodische Schritte zur Erfassung der konkreten lautsprachlichen Erscheinungsform von Texten

Als problemaufzeigendes Beispiel diene der folgende Dramentext von V. Rozov (aus: Der Kulturleiter): (0) Al: Bl: A2: B2: A3: B3: A4: B4: A5: B5: A6: B6:

„ . . . Was machst du hier?" „Ichlebe..." „Seit langem?" „Sieben Jahre." „Hier?" „Ja." „Arbeitest du?" „Hm-ja..." „In diesem Erholungsheim?" „Ja, hier." (zögernd) „Und als was?" „Ich hab die kulturelle Betreuung in der Hand."

Eine erste Analyseebene liefern die Konventionen der schriftlichen Repräsentation Druckbild, Interpunktion, Regieanweisung. Die Information „Ich lebe seit sieben Jahren hier und arbeite in diesem Erholungsheim als Kulturleiter" wird von Sprecher Β nicht in geschlossener Satzsukzession abgegeben, sondern sie wird ihm von seinem Partner in Einzelpositionen abgerungen. Die Vorhersage der Konturen, auch ihre Unterbrechung bzw. Unvollständigkeit in Bl und B4, ist grammatisch-einzelsprachlich motiviert. Daß damit nicht alles erfaßt wird, was sich im hier dramatisierten Kommunikationsfall abspielen soll, ist ohne weiteres klar. Diesen weiteren Rahmen stimmlich getragener Ausdrucksmittel kann man unter dem Begriff der Prosodie zusammenfassen. Aufgrund unserer kommunikativen Erfahrung können wir dem Text die prosodisch-intonatorischen Muster unterlegen, die zögerliche, mehrfach unterbrochene Sprechweise charakterisieren. Wir können uns vergegenwärtigen, daß diese Prosodie nicht erst mit dem Beitrag Bl einsetzt, sondern schon in A l durch ein anfängliches Zaudern initiiert wird. Der interpretierenden Ausgestaltung bietet sich ein weiter Spielraum. In einem systematischen Untersuchungsverfahren geht es darum, diese Intuitionen explizit zu machen und sich in gezielter Beschreibung den lautlichen, akustisch manifesten, konkret prosodischen Eigenschaften der sprachlichen Realisierung zuzuwenden. Traditionsgemäß geht man entweder (a) (b)

von einem authentischen lautsprachlichen Ereignis aus und führt dann alle Analyseschritte durch, die den Bereich prosodisch orientierten Wissens erschöpfen; oder man legt der Untersuchung von Anfang an die Schriftversion des Dialogs zugrunde und bezieht lautsprachliche Besonderheiten nur dann von Fall zu Fall mit ein, wenn dadurch zusätzlichen Analyseaspekten Genüge getan wird; man vermeidet so das Eindringen in die „reale" akustische Welt.

301

15. Dialoganalyse und Prosodie

Das zuletzt genannte Verfahren hat insoweit seine Berechtigung als es die tatsächliche prosodische Kompetenz des Analytikers miteinbezieht; es ist beliebig reproduzierbar, d.h. es kann mit mehreren Informanten unter gleichen Bedingungen durchgeführt werden und liefert entsprechend vergleichbare Ergebnisse. Es ist auch ökonomisch, denn es hilft den nicht unerheblichen Aufwand der rein akustisch ausgerichteten Analyse zu vermeiden. Der enge Bezug zur Lautform bleibt auch bei der Gegenprobe erhalten: -

-

Das angewendete Notationsverfahren bedarf der Überprüfung, inwieweit es dem konkreten Verhalten der an der Kommunikation Beteiligten entspricht; die Erstellung einer symbolischen Repräsentation (Notation) des Lautereignisses kann so selbst Gegenstand kritischer Untersuchung werden. Die kritische Frage ist allemal, ob bei der Umsetzung in das Medium der den Lauteindruck wiedergebenden Symbole etwas übesehen wird oder verloren geht, was für das Funktionieren der Kommunikation wesentlich ist.

Die Aufgabe einer Beschreibung der lautsprachlichen Erscheinungen im Zusammenhang dialogischer Kommunikation kann auch so umschrieben werden: Es sind die theoretischen und methodischen Voraussetzungen dafür zu schaffen, daß genau die lautlichen Besonderheiten systematisch erfaßt werden, die in der konventionellen Verschriftlichung der Beispiele (1) und (2) nicht zum Zuge kommen. Frequenzverl. der Datei 71M.SIG von

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Abb. Ia: A2-Repliken aus dem Dialog (1), mit unterschiedlichen Kontextvorgaben gesprochen: a) die Zeitangabe B1 ist später als erwartet, b) sie entspricht der Erwartung, c) sie ist früher als erwartet. Die verwendete Analysesoftware ist beschrieben in Knipschild/Sappok (1991).

C. Sappok

302 (1) A l B1 A2 B2 -

Wann müssen wir denn los? Um halb sieben. Um halb sieben? Um halb sieben.

Der Dialog (1) wurde dreimal mit unterschiedlicher Situationsvorgabe aufgezeichnet, und zwar so, daß die Zeitangabe in B1 für Sprecher A a) später als erwartet, b) in Übereinstimmung mit der Erwartung oder c) früher als erwartet war. In der Abb. I a sehen wir die drei entsprechenden Rückfragen A2, zum Zweck der besseren Übersichtlichkeit aneinandergereiht; beim Hören tritt ein deutlicher Unterschied zutage: in a) ist Enttäuschung, in c) freudige Überraschung spürbar. Im Dialog (2) wurde ein vergleichbarer Effekt erzielt, indem die Sprechereinstellung durch verschiedene Versionen der Al-Replik beeinflußt wurde. Auch hier zeigt die Montage der drei A2-Repliken, vgl. Abb. IIa, Unterschiede in der Realisierung. (2) A l B1 A2 B2 -

a) Wer kommt als nächster dran? b) Wer hat denn hier so schön aufgeräumt? c) Wer hat denn das kaputt gemacht? Frau Donner. Frau Donner? Ja, Frau Donner.

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[ms] Abb. IIa: A2-Repliken aus dem Dialog (2), im Anschluß an unterschiedliche Al-Repliken. Außer diesen unterschiedlichen Al-Versionen von A l wurden keine weiteren Kontextvorgaben in die Instruktion aufgenommen.

303

15. Dialoganalyse und Prosodie

Es ist nun auf die Frage einzugehen, inwieweit diese Unterschiede in das System sprachlicher Kategorien einzuordnen sind. Zumindest im Fall (2) und dem entsprechenden Schema II a kann man mit Sicherheit ausschließen, daß es sich um unterschiedliche Intonationskonturen handelt. Wir wollen diese zentrale Frage hier nur zum Teil beantworten: Die Unterschiede werden vom Dialogpartner wahrgenommen, interpretiert und in das eigene prosodische Verhalten integriert. Das zeigen die Abb. I b und I I b mit aller Deutlichkeit.

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[ms] Abb. Ib: B2-Repliken aus dem Dialog (1) in Reaktion auf die entsprechenden A2-Repliken aus Abb. 1 a, ohne daß die Sprecherin externe Informationen über die Kontextbedingungen hatte. Prosodische Unterschiede können deshalb nur auf prosodische Information aus den A2-Repliken zurückgehen. Um auszuschließen, daß bei diesen Repliken vom TypB2 nicht die eigene Einstellung des Sprechers Β unabhängig von der Prosodie von Sprecher A zum Durchbruch kommt, wurde Sprecher Β in einem speziellen Versuchsaufbau zum Dialog mit dem Computer motiviert; er spielte seinen Part ohne einen real anwesenden A und - was noch wichtiger ist - ohne Kenntnis der jeweiligen Kontextbedingungen. Die Unterschiede in der Prosodie der B2-Repliken basiert also ausschließlich auf dem akustischen Eindruck der vorausgehenden Replik A2. Bevor wir uns mit den methodologischen Voraussetzungen für die Erforschung dieser Zusammenhänge, ihrer modellhaften Abbildung und den theoretischen Grundlagen befassen, wollen wir ein Grundgerüst an terminologischen Konventionen vereinbaren.

C. Sappok

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[ms]

Abb. IIb: B2-Repliken aus dem Dialog (2) in Reaktion auf die entsprechenden Al-Repliken aus Abb.IIa, ohne daß die Sprecherin über die Motivation der unterschiedlichen Versionen Informationen besaß; sie realisierte die B2-Repliken im gleichbleibenden Kontext von A l a .

3.

Begriffsklärungen

Eine mögliche Sicht auf die Zusammenhänge ist die, daß wir es mit akustischen Ereignissen zu tun haben und mit deren prosodischen Parametern, also denjenigen Dimensionen, die von den menschlichen Artikulationsorganen produziert und von einem auditiven System perzipiert und an ein höheres, interpretierendes System weitergeleitet werden. Die beiden Systeme, das perzeptive des Hörsystems und das interpretative des Verstehens, sind integriert und arbeiten im Normalfall nicht unabhängig voneinander. Die auditiv ermittelten Werte werden stets gehörten Gegenständen, einem Auto, einer Tür, einer bestimmten Person, zugeordnet (vgl. Handel 1989, 182: „ . . . an object or event, not an array of sensations is perceived"), d. h. die Vielfalt der akustischen Umwelt wird stets zu einer diskreten Zahl von Lautquellen (streams oder sources) und Hintergründen (scenes; vgl. dazu die umfangreiche Monographie von Bregmann 1990) verarbeitet. Jede lautsprachliche Äußerung nimmt im prosodischen Raum einen Platz als Lautquelle ein, jeder Bestandteil erhält einen psychoakustischen Wert, z.B. laut, leise,

15. Dialoganalyse und Prosodie

305

steigend, fallend, hoch, tief usw. Dabei gibt es Werte, die direkt und gezielt auf die schon genannte symbolische Repräsentation Bezug nehmen. Diesen Teilbereich der Repräsentation kann man als Intonation bezeichnen. Es handelt sich um die kategorial geprägte, sprachspezifische Relation zwischen prosodischen Werten und einer grammatikalisch wohlgeformten Trägerstruktur, die als Bestandteil der Lautstruktur einer Äußerung an deren Bedeutungsstruktur teilhat. Als Ausdrucksstrukturen werden hier, im Falle der Intonation, fallende und steigende Grundtonverläufe, Maxima und Minima dieser Verläufe sowie ihr Verhältnis zu Intensitätsverläufen angesetzt; ausdrucksseitig wird vor allem die Festlegung von Fokus- und Modus-(Satztyp-)strukturen oder die Zuordnung zu Diskurstypen in die Beschreibung miteinbezogen. Zu den Schwierigkeiten bei der intensitätsbezogenen Fokusbestimmung vgl. die Arbeit von Batlineret al. (1991). Wenn man das Verhältnis zwischen der prosodischen Struktur einer lautsprachlichen Äußerung und der Intonation betrachtet, so handelt es sich um eine vergleichbare Datenreduktion, wie sie bei der Extraktion der diskreten Symbolkette bereits anzusetzen war. Die verwendeten Symbolisierungen der Intonation sind auch entsprechend informationsärmer und nur in Einzelfällen kann man in den informationsreichen Verlaufskurven prosodischer Werte die „gehörte" Intonationskategorie wiedererkennen (vgl. Pierrehumbert 1980; Bryzgunova 1980; Kodzasov 1990) - was den Aussagewert dieser Kategorien keineswegs schmälert, es sei denn, man interessiert sich für den oben genannten Bereich der akustischen Sprachverarbeitung, oder man hat es mit lautsprachlichen Dialogen zu tun; dann ist eine nichtintonatorische prosodische Komponente konstitutiv für den Untersuchungsgegenstand. Mit „lautsprachlich" wird global auf das konkrete, akustisch manifestierte Kommunikationsereignis verwiesen; „prosodische" Merkmale betreffen die zeichenmäßige Verwendung, das kommunikative Funktionieren akustischer Parameter; soweit diese grammatisch einzelsprachlich geregelt sind, erhalten sie die Kennzeichnung „intonatorisch"; „konkret lautsprachlich" bedeutet, daß das Objekt der Analyse eine akustische Realisierung eines auch schriftlich repräsentierten Textes oder Textfragments ist und der Analyse als Referenzobjekt dient. „Dialog" wird hier verstanden als ein Text mit kollektiver, alternierender Autorenschaft. Bei schriftlicher Repräsentation wird die Zuordnung von Autor und Textteil graphisch signalisiert, bei lautsprachlicher Realisation durch unterschiedliche Stimmzugehörigkeit. Um deren spezifische Rolle und ihre Zeichencharakteristik zu untersuchen, wenden wir uns den prosodischen Merkmalen zu. In jedem Fall ist die Zugehörigkeit eine abstrakte Relation, es bedarf nicht des Vorhandenseins eines konkreten anderen Menschen, sondern des „Wissens" um alternierende Stimmen, das auch bei eintönigen, ohne Imitationstalent vorgetragenen Dialogtexten übermittelt wirksam werden kann. Das Kernproblem ist der Zeichenstatus der prosodischen Merkmale. Wir hören Gegenstände und Ereignisse, heißt die Botschaft der Psychoakustik. Genauer gesagt, wir verbinden akustisches und nichtakustisches Welt wissen auf eine spezifische Weise, die besagt, daß ein bestimmter akustischer Eindruck mit einem bestimmten Gegen-

306

C. Sappok

stand oder Ereignis in ursächlichem Zusammenhang steht, wenn nicht andere Evidenzen dagegen sprechen. Auf diese Default-Charakteristik kommen wir in Abschnitt 4 nochmals zurück. Das folgende Beispiel zeugt in anschaulicher Weise davon, daß Stimme und Stimmalternation nicht eindeutig von der objektiven Wirklichkeit determiniert werden, sondern im Spiegel des interpretativen Einsatzes von Wissen gesehen werden müssen. In (3) haben wir einen Text vor uns, der, seiner lexikalischen Grundlage entsprechend, entweder als eine einzelne Replik oder als aus zwei Repliken zusammengesetzt interpretierbar ist. (3) Dialog im Aufzug, Version a) Al - Mne äestoj. (Ich muß in den sechsten Stock.) B1 - Mne vySe. (Und ich muß höher.) Dialog im Aufzug, Version b) Al - Mne éetvertyj. (Ich muß in den vierten Stock.) B1 - Mne Sestoj, mne vyáe. (Ich muß in den sechsten, ich muß höher.)

[ms] Abb. lila: Dialog (3) wurde in Version a) zweimal mit vertauschten Rollen realisiert, dann Al und Bl, vom selben Sprecher gesprochen, zusammengefügt. Die Bestandteile stammen aus Dialogversionen, ohne daß sie dialogisch interpretiert werden. Abb. Illb zeigt eine Β1-Aufzeichnung aus der Version b), die an ihrer monologischen, d.h. einstimmigen Natur, keinerlei Zweifel aufkommen läßt. Fügt man an der Grenze zwischen den beiden Bestandteilen, also an der Stelle, die in der a)-Version durch einen Replikenwechsel gekennzeichnet ist, eine Pause von wenigen Millisekunden ein,

15. Dialoganalyse und Prosodie

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|ms] Abb. Illb: Realisation der Replik B1 aus Version 3.2. Der senkrechte Strich im F0-Verlauf markiert die Stelle, an der die Einfügung einer kurzen Pause einen Übergang zur Interpretation des ganzen als dialogische Version auslöst. zerfällt die Äußerung in zwei klar erkennbare Stimmen. Das Wissen darüber, daß eine Pause von dieser speziellen Charakteristik im Zuge einer monologischen Replik nicht vorkommt, von einer einzelnen Stimmquelle nicht produziert werden kann, erzwingt eine Uminterpretation in zwei Repliken und im Gefolge davon zu zwei Stimmen, die in der „objektiven" Realität gar nicht vorhanden sind. Die Abb. III a zeigt eine Kombination des Vorsatzes mit einem Nachsatz, den der gleiche Sprecher im dialogischen Replikenwechsel geäußert hat - interessanterweise ohne daß dadurch der oben erwähnte Effekt auftaucht. Dies kann als ein starker Hinweis auf die Zeichenhaftigkeit der Prosodie und die Interpretativität der Wahrnehmung gewertet werden. Die „Stimmzugehörigkeit" hat also einen Stellenwert im prosodischen Raum; sie kann auf kategoriale Weise an den funktionellen Besonderheiten der Trägeräußerung beteiligt sein, ohne mit der oben abgegrenzten Intonation zusammenzufallen. Es lassen sich funktionelle Gruppen zusammenstellen: -

-

Manifestation einer personalen Sprecherquelle, eines „stream" in einer auditiven Szene, vgl. etwa Experimente von Ljublinskaja und Ross (1991); diese Funktion ist insbesondere beim sog. Partyeffekt beobachtet und untersucht worden. Manifestation von Gruppenzugehörigkeit, männliche vs. weibliche Stimme, soziale Gruppe in Opposition zu einer kanonischen Aussprachenorm. Man wendet sich z. B. an ein Kind in einer prosodisch modifizierten Stimme.

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Steuerung des Dialogverhaltens: Initiierung, Fortsetzung, Anknüpfung, Unterbrechung; parallel zur vorausgehenden Äußerung, anknüpfend, gerade noch dazu, aber schon auf etwas anderes hinzielend. Die Trägeräußerung bekommt dadurch eine bestimmte Position im dialogischen Text, der damit eine Struktur erhalten kann, die nicht an die Linearität und unverrückbare Sukzessivität der Schriftversion gebunden ist. In dieser Hinsicht kann die Partikelforschung als wegweisend angesehen werden, vgl. Fraser (1990) und Parrot (1990); letztere beschreibt z.B. die Partikelfunktion (von russ. ,,ved'" und „ze") in der Form, daß die betroffene Proposition als Vorsatz zu einer „p hence q"-Verbindung einzuordnen ist; die Entscheidung zugunsten einer Partikel hängt davon ab, ob diese Verbindung im gemeinsamen Aufmerksamkeitsbereich liegt oder nicht (Parrot 1990, 91). Information über Relationen zwischen der Bedeutung der Trägerstruktur und emotionalen Zuständen, Wertungen, Einstellungen: Überraschung, positive, negative, sich ändernde Einschätzung gegenüber referentiellen und prädikativen Ausdrücken, Neutralität, Ablehnung. Hier müssen ganz offensichtlich zwei Situationen streng getrennt werden: a) Eine emotionale Kategorie kann einer sprachlichen Äußerung bzw. deren prosodischer Struktur direkt entnommen werden, in bestimmtem Umfang sogar ohne Kenntnis der Sprache der Trägerstruktur; b) Prosodie als Zeichen für das Vorhandensein eines emotionalen Zustandes, wobei dieser aus den Bedeutungen der Trägerstruktur und den prosodischen Kategorien resultiert.

Prosodische Merkmale in dieser Funktion haben keine selbständige Bedeutung; sie signalisieren Relationen zwischen Wissensbeständen und haben in dieser Funktion kategorialen Status. Dieser ist, seinem hybriden Status entsprechend, nicht in Isolation von anderen Wissensbeständen zu beschreiben. Man hat Funktionen dieser Art unter dem Etikett „paralinguistisch" zusammengefaßt und aus dem Kernbereich grammatischer Bedeutungen ausgeklammert - mit einem gewissen Recht: Ein scharfer Schnitt zwischen grammatisch distinktiven und psychoakustisch distinktiven Merkmalen kann der Aufgabe nur förderlich sein, die Untersuchung, Beschreibung und Modellbildung auf eine eigene methodische Basis zu stellen. Die funktionelle Abhängigkeit wird diese Eigenständigkeit nicht in Zweifel setzen, sie wird vielmehr dazu animieren, ein integrales Modell vom Wissenstransfer zur Form von lautsprachlichen, insbesondere dialogischen Kommunikationsprozessen anzustreben.

4.

Methodologische A s p e k t e

Eingangs wurde der Bereich der Prosodie auf eine spezifische Weise aus der globalen Menge der an lautsprachlicher Kommunikation beteiligten Komponenten herausgelöst. Aus dem Kreis der Faktoren, die als Wissen repräsentierbar sind und somit in der Diskurssituation (Yokoyama 1986) eine Funktion haben können, wird zunächst der

15. Dialoganalyse und Prosodie

309

engere Kreis der akustischen Parameter ausgegrenzt, soweit er im Bereich der artikulatorischen, auditiven und interpretativen Kompetenz der beteiligten Personen liegt; auch diese Parameter haben den Status von Wissensbeständen. Aus den akustisch vermittelten Merkmalen gliedern sich diejenigen aus, die direkt und gezielt auf den segmentalen Bestand der Äußerungen bezogen sind - auch wenn ihre Musterbildung suprasegmental ist. Diese Bezogenheit ist grammatisch einzelsprachlich geregelt und bildet den Bereich der Intonation. Von der einzelsprachlichen Grammatik aus gesehen kann der Kreis prosodischer Merkmale als paralinguistisch oder nichtdistinktiv gelten. Für den lautsprachlichen Dialog spielen sie eine konstituierende Rolle, da der Replikenwechsel auf prosodischem Wissen beruht. Wie jedes Wissen ist auch dieses austauschbar, die Funktionen der Prosodie können von anderem Wissen flankiert, ersetzt oder gar überdeckt werden. Wenn man die beiden Sätze „Kommst du morgen?" + „Wo denkst du hin!" betrachtet, dann können wir aus ihrer Bedeutung schließen, daß eine Äußerung in dieser Reihenfolge hintereinander als Folge von Repliken zu interpretieren ist, auch wenn beispielsweise die Stimme die gleiche bleibt. Eindeutiger funktionieren entsprechende orthographische Signale, auch wenn sie wie im hier zur Debatte stehenden Falle eigentlich nicht nötig wären. Die konstituierende Rolle, die Unumgänglichkeit der Prosodie, wird durch diese Ersetzbarkeit nicht angetastet. Die stimmlichen, räumlichen, zeitlichen Merkmale sind vorhanden und werden interpretiert, unabhängig davon, ob sie in vollem Umfang oder überhaupt benötigt werden. Selbst wenn sich der Sprecher dieser Interpretation zu entziehen wünschte und ein Dritter die Funktion übernähme, etwa durch geeignete Beleuchtung seine Repliken von anderen als abgetrennt zu markieren, die prosodischen Merkmale würden dadurch keineswegs nichtdistinktiver. Die Analyse und Beschreibung von Dialogen basiert auf der integrativen Koexistenz von Prosodie und von Bedeutungsstrukturen. Die Kategorien der Prosodie vermitteln Wissen unter anderem über alternierende Stimmzugehörigkeit, aber nicht nur über diese, ohne dabei selber an der Bedeutungsstruktur stets mitbeteiligt sein zu müssen. Sie teilen diese Funktion mit anderen sprachlichen Mitteln; am nächsten sind ihnen die Partikel, und von diesen wiederum am nächsten die pragmatischen Partikel im Sinne von Fraser (1990). Diese beiden Funktionsmerkmale, die enge Verknüpfung mit und die Angewiesenheit auf Bedeutungsstrukturen, stellen die Analyse vor eine komplexe Aufgabe. Die Schwierigkeit beruht vor allem auf der diffizilen Materiallage, wovon uns der Blick auf zwei Beispiele aus der Literatur überzeugt: a) Weintraub (1985) untersucht das monaurale Streaming: sukzessiv auf einem Ohr gebotene Signale werden, wenn sie bestimmte Merkmale aufweisen, als von zwei Schallquellen kommend interpretiert. Die entsprechenden Experimente werden mit großem apparativen Aufwand durchgeführt, mit synthetisch erzeugten einfachen Signalen. Welche Schwierigkeiten die Einbeziehung natürlichsprachlicher Signale und der prosodischen Merkmale, wie sie den Dialog prägen, der Analyse entgegensetzen, kann man am besten am Fehlen entsprechender Analysen ablesen, b) Schegloff und Sacks führen in ihrer Pionierarbeit über Schlußsi-

310

C. Sappok

gnale in Dialogen Beispiele dafür an, wie eine einfache Pause als „Schweigen von A . " interpretiert und auf idiosynkratische Weise umgedeutet, d.h. auf das Konto des Partners übertragen werden können (1973,294). Wer prosodische Gegenstände analysiert, muß der Analyse zugänglich machen, was er hört. Eine meßtechnische Erfassung mit der entsprechenden visuellen Darstellung ist eine sehr nützliche Sache, ist aber nicht mit der Erfüllung dieses Postulats gleichzusetzen. An einem Beispiel kann gezeigt werden, daß visualisierte Darstellungen und die auditive prosodische Analyse zu abweichenden Ergebnissen führen können. Das Beispiel IV stammt aus der Sammlung von Royé (1983), dem Mitschnitt einer Fernsehdiskussion. Auf die Frage, was er zu einem bestimmten Vorwurf zu sagen habe, reagiert der Sprecher mit „Ich habe eine ganz Sammlung (sc. von solchen Vorwürfen)". Das Wort „Sammlung" ist dabei mit Emphase ausgesprochen, die vor allem die uneigentliche Verwendung dieses Ausdrucks signalisiert. a) Frequenzverl, der Datei SAMM1.SIG von 0.000 ms bis 1631.950 ms b) Frequenzverl, der Datei SAMM1CC.SIG von 0.000 ms bis 1631.950 ms

[ms] Abb.rVa: Das Original a) mit einer charakteristischen Emphase auf dem Wort „Sammlung". Selbst drastische Eingriffe im Energiebereich, vgl. Kontur b), führen nicht zu einer neutralen Prosodie, obwohl sie deutlich erkennbar sind. Diese Emphase ist in den spezifischen Verlaufseigenschaften von Grundton und Intensität zum Ausdruck gebracht, die man in den mit a) markierten Linien von IV a) erkennt. Die mit b) markierten Linien in IVa und IVb zeigen Manipulationen, in denen die Intensität, die Tonhöhe und beides zusammen verändert wurde. Die hier sichtbar gemachten Manipulationen sind nur ein Teil der Operationen, die einen

15. Dialoganalyse und Prosodie

311

durchaus natürlichen Höreindruck vermitteln. Die Emphase des Originals ist in keinem Fall auch nur annähernd beseitigt worden. a) Frequenzverl. der Datei SAMM1.SIG von 0.000 ms bis 1631.950 ms b) Frequenzverl. der Datei SAMM1AA.SIG von 0.000 ms bis 1628.300 ms

(ms) Abb. IVb: Auch Modifikationen sowohl im Energie- als auch im F0-Bereich, vgl. Kontur b) im oberen und im unteren Teil der Darstellung, lassen, obwohl deutlich hörbar, die Prosodie des Originals a) unberührt. Dieses Postulat der Analyse durch Hören muß in seinem konkreten Wortsinn aufgefaßt werden; jemand, der den Satz hört „Das ist nun doch die Höh!", ihn vermißt und ihn dann in dieser Version weiterbehandelt, hat auch in einem bestimmten Sinne analysiert, was er hört (vgl. Abb. Vb). Er sieht, daß dieser Satz eine Intonation hat, daß ihm eine wohlgeformte grammatische Struktur entspricht, aber er wird nicht merken, daß die Prosodie dieser Äußerung, als Replik gehört, zu keiner anderen Replik in einem prosodisch interpretierbaren Verhältnis steht. In dieser Hinsicht ist dieser Fall repräsentativ für eine große Fülle von Lautdatenbankmaterial (in diesem Falle vom Projekt PHONDAT), das in jeder Hinsicht technologische Vorreiterrolle übernehmen kann, ohne der Dialoganalyse in entscheidender Weise zu nützen. Wie der Vergleich mit dem Verlaufsschema von V a zeigt, ist hier mit ziemlicher Sicherheit eine listenmäßige Vorlage realisiert worden, die Satztypen von sehr unterschiedlicher Funktion mit einer stereotypen, auf Inerz basierenden Prosodie realisieren läßt. Wer lautsprachliche Dialoge analysieren will, muß Repliken und Replikenfolgen hören und analysieren können. Dabei muß er darauf achten, welche spezifischen

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Λ J 1 0.0

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[ms] Abb. Va: Vgl. TextS. 311. Frequenzverl, der Datei MAID235.SIG von

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Das

ist

' nun doch ' die Höh! '

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[ms] Abb. Vb: Erläuterungen im Text.

15. Dialoganalyse und Prosodie

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Relationen zwischen den Repliken bestehen und wie sie mit den prosodischen, hörbaren Merkmalen bzw. mit den Bedeutungsstrukturen der Repliken korreliert sind. Wenn es solche Kategorien gibt, dann ist zu vermuten, daß auch isolierte Repliken an dieser Analyse auf spezifische Weise teilhaben können. Wer die prosodischen Kategorien ausgrenzen will, muß sie substituieren und das Ergebnis der Substitution wiederum hören können. Die Substitution prosodischer Merkmale ist ein technisch schwieriger und vor allem auch nicht unproblematischer Schritt. Gesetzt man verändert ein Merkmal auf eine Weise, die nicht der kategorialen Gliederung des prosodischen Raumes entspricht, dann wird auch dieses Produkt beim Hören interpretiert werden, möglicherweise ohne daß man mit dem Interpretationsergebnis etwas anfangen kann. Man entdeckt einen Mangel im Signal, eine Abweichung vom Normalen, ohne jedoch die Ursache angeben zu können. Die Substitution muß in mindestens zwei Richtungen erfolgen: (a) Es wird ein prosodisches Merkmal verändert, die Trägerstruktur bleibt gleich. (b) Trägerstruktur und prosodische Struktur bleiben gleich, aber die replikenmäßige Umgebung ändert sich. Auf dieser Grundlage ist ein großangelegtes lautsprachliches Datenbankprojekt für das Russische initiiert worden, deren Organisationsprinzipien in Sappok (1990) zusammengefaßt werden. Die Substitutionsergebnisse müssen wiederum hörbar sein, der zeitliche Abstand muß - bei der vergleichenden Wertung - dabei nicht nur gering sein, um eventuelle Verarbeitungs- und Gedächtnisschwellen nicht zu überschreiten, und er muß im Ermessen des hörenden Benutzers liegen. Dessen Rolle ist dabei nicht nur auf die des perzipierenden und interpretierenden Hörers beschränkt; er ist gleichzeitig Informant und Analysator. Die technologischen Voraussetzungen für die Erfüllung dieser Postulate, die sich aus dem Wesen des Untersuchungsgegenstandes ableiten lassen, sind durch die jüngsten Entwicklungen auf diesem Gebiet als erfüllt zu betrachten. Um konkret Hörbares der Analyse zu unterwerfen, muß lediglich eine Motivationsschwelle überwunden werden.

5.

Orientierung an einem Sprachmodell

Ein Modell lautsprachlich-dialogischer Kommunikation ist nicht ein Zeichenmodell, das, der komplexen Datenlage (Verarbeitung von stimmlicher, prosodischer Information) entsprechend, lediglich komplexer ist als ein Modell, das nur mit Schriftversionen umgeht und prosodisches Wissen nur im Ausnahmefall heranzieht. Es besteht vielmehr aus zwei Zeichensystemen, die in einem komplexen Interaktionsverhältnis stehen, aber dennoch, vom grammatisch - einzelsprachlichen System aus betrachtet - diskret und autonom funktionieren. Was die Konstruktion eines solchermaßen umfassenden Modells betrifft, liegt eigentlich eine Verschiebetaktik nahe: zuerst muß man ein Modell der Grammatik mit einer vollständigen Intonationskomponente zur Hand

314

C. Sappok

haben, dann braucht man ein Modell der menschlichen Stimme, ihrer individuellen und kollektiven Bedingtheit, ihrer artikulatorischen und ihrer intentionalen Steuerung. Dann kann man daran gehen, die Aufgabe der integrativen und interaktiven Modellbildung in Angriff zu nehmen. Welchen Beitrag die Dialoganalyse zur Konstruktion eines solchen Modells leisten kann, läßt sich anhand des Replikenbegriffs skizzieren. Eine Replik ist ein grammatisch und intonatorisch wohlgeformtes Textfragment mit einer spezifizierbaren Stimmzugehörigkeit. Die grammatischen (lexikalischen, pragmatischen, usw.) Eigenschaften entscheiden darüber, mit welchen anderen Textfragmenten es kombiniert werden kann, um wiederum einen wohlgeformten Text zu bilden. Alterniert dabei die Stimmspezifikation, so treten dialogspezifische Textbedingungen in Kraft. Die stimmlich-prosodischen Kategorien manifestieren dabei den Zusammenhalt, können ihn jedoch noch modifizieren, indem sie zusätzlich zur Bedeutungsstruktur des Gesamttextes bestimmte Relationen zwischen den Repliken signalisieren: Ist die nachfolgende Replik gegenüber der vorausgehenden fortführend, parallel oder unterbrechend? Ist das Verhältnis zwischen Replikenpaaren adjacent oder distant? Weist die Vorgängerreplik auf die Art der Nachfolgereplik hin, greift letztere diese progressiven Signale auf oder nicht? Wird der Bereich des gemeinsamen Wissens, speziell der aktuelle Bereich (im Sinne von Yokoyamas 1986 „current concern"), durch die Replik erst geschaffen oder als gegeben vorausgesetzt? Wenn man in jedem Einzelfall untersucht, wodurch die Werte für die hier postulierten Kategorien spezifiziert werden, dann wird klar, daß bereits die nichtprosodische Repräsentation eines Textes, auch eines dialogischen, eine Art Standardbesetzung mit sich bringt: Vorausgehende Sätze sind gegenüber den nachfolgenden „vorausweisend", nachfolgende „zurückweisend", benachbarte „distant"; gesprächseröffnende Repliken „schaffen" gemeinsame Bereiche, weiterführende „erweitern". Prosodische Kategorien, die mit dem Stimmeinsatz notwendigerweise verbunden sind und auf diesen Bereichen ihr funktionelles Terrain haben, können diese durch die „schriftliche" Version vorausgesetzten Relationen unterstützen, wobei sie gegebenenfalls schneller funktionieren; sie können in Zweifelsfällen Sicherheit signalisieren, und sie können signalisieren, daß für bestimmte Textfragmente die Standardannahmen außer Kraft gesetzt sind. Die Textinterpretation, gestützt auf die (schrift-)symbolische Repräsentation der Äußerung, greift also im Fall des lautsprachlichen Äußerungsmodus auf prosodische Signale zu und bezieht sie in die Interpretation mit ein. Sind keine konkreten Signale vorhanden, so werden sie - entsprechend dem prosodiebezogenen Wissen und den zugrundegelegten Standardannahmen - als in bestimmter Weise spezifiziert angesetzt. Es handelt sich dabei um eine Informationsübertragung zwischen zwei ganz unterschiedlichen Zeichensystemen, die das Verhältnis der Teile zum Ganzen auf differenzierte Weise zum Gegenstand hat. Das Funktionieren dieser Integration ist wenig erforscht, es ist nicht einmal allgemein anerkannt, daß es sich bei stimmlich - prosodischen Merkmalen um Kategorien handelt, wenn auch nicht im Sinne einzelsprachlich - grammatisch geregelter Zeichenfunktionen. An einem Beispiel soll dieses kritische Gegenüber nochmals verdeutlicht werden; es handelt sich um

15. Dialoganalyse und Prosodie

315

die Dialoge, die der Untersuchung Sappok/Kasatkina/Kodzasov (1991) zugrunde liegen. Die Gleichförmigkeit der letzten drei Repliken eines experimentell simulierten Dialogs (4) bietet eine gute Grundlage f ü r Beobachtungen der Prosodie und ihrer Veränderungen bei positiv und negativ besetzten Handlungen von Seiten der Referenzperson Ivanova, verschiedener Einstellungen von Seiten der Sprecher und verschiedener Beeinflussungsintentionen zwischen diesen beiden. (4) A l B1 A2 B2 -

Es würde mich interessieren, wer das war. Ivanova. Ivanova? Ja, Ivanova.

A b b . V i a und V I b zeigen die Realisierung unter der Vorgabe „ A und Β verhalten sich Ivanova gegenüber neutral". Die beiden Versionen sind nun keineswegs gleich, man könnte in erster A n n ä h e r u n g sagen, d a ß im Fall V I b die negative Handlung, die in der diesbezüglichen Realisierung vorgegeben war - freilich mit dem Zusatz, A und Β seien Ivanova gegenüber neutral - , käme in irgendeiner Weise zum Ausdruck. Eine direkte Analyse der Verlaufseigenschaften von FO und Energie wird den Unterschied nicht ohne weiteres zutage fördern. M a n könnte für diese Ausdrucksfunktionen in B1 den kleinen Anstieg von FO in der betonten Silbe verantwortlich machen, in der Rückfrage A2 die mangelnde Ausprägung des Frageanstiegs, in B2 die Verschleifung des „Ja"

Frequenzverl, der Datei D31.SIG von

0.000 ms bis 2229.200 ms

[ms]

Abb. Via: Die Einstellung der Sprecher gegenüber Ivanova ist neutral, die Handlung von Seiten Ivanovas war positiv.

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316

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Abb. VIb: Die Einstellung der Sprecher gegenüber Ivanova ist neutral, die Handlung von Seiten Ivanovas war negativ. (russ. da) mit der nachfolgenden Äußerung. All diese rein intuitiven Ansätze müssen überprüft werden, aber es wird jetzt schon klar, daß es sich nicht um ein einheitliches Inventar von Mitteln handelt und daß die Intonation im eigentlichen Sinne hier nicht den Schlüssel für die einwandfrei feststellbaren Unterschiede bieten kann.

6.

Grundzüge eines analytisch-rekonstruktiven Zugriffs

Neben dem empirischen Zugriff auf die konkreten lautsprachlichen Textrealisierungen gibt es erfolgversprechende Ansätze im Rahmen spieltheoretischer Entwürfe von Dialogzusammenhängen. Die allgemeine Orientierung gewinnen diese Ansätze aus dem Sprachspielkonzept Wittgensteins (Philosophische Untersuchungen) und dessen analytischer Vertiefung in den Arbeiten von Stenius (1967), Hintikka (1973) und Carlson (1984) (vgl. Art. 8). Dialog-Spiele (dialogue-games) werden als Spezialfälle von Sprachspielen aufgefaßt, es sind Satzverwendungsspiele. In seiner einfachsten Form hat ein solches Spiel zwei Spieler, die mit ihrem Spiel ein internes Ziel verfolgen und dies auf der Grundlage übergeordneter Handlungsmotive. (Im Schachspiel etwa ist das interne Ziel, den Gegner matt zu setzen; das übergeordnete Handlungsmotiv z.B. der Wunsch, sich auf

15. Dialoganalyse und Prosodie

317

angenehme Weise die Zeit zu vertreiben.) Weiterhin sind zwei Extremvarianten zu unterscheiden, durch die das Rollenverhalten der Spieler bestimmt ist: kooperatives und kompetitives Verhalten. Dialogische Spiele folgen Regeln, durch die Dialogsequenzen konstituiert werden, etwa als Zug-Gegenzug-Sequenzen. Die charakteristische Intonation der verwendeten Sätze ist auf diesem Hintergrund als Diskursphänomen zu betrachten. Die Regelhaftigkeit der Intonationsmuster erlaubt es den Diskursteilnehmern, in diesem Fall den beiden Dialogpartnern, auf bestimmte Zusammenhangs- und Kontrastbeziehungen zwischen den einzelnen Dialogzügen aufmerksam zu machen. Als Veranschaulichungsbeispiel diene das intonationsgestützte Fokussieren (Intonational Focusing), auch als hervorhebende Betonung oder Emphase bezeichnet. Eine Äußerung „Otto wohnt hier" (wobei die Kursivsetzung hervorhebende Betonung andeuten soll) ist natürlicherweise als Antwort auf eine Frage „Wer wohnt denn hier?" aufzufassen. Die Funktion der hervorhebenden Betonung ist es, diesen Gesprächszug als Reaktionszug, genauer als Antwortzug, zu charakterisieren. Fokussierte Sätze eignen sich nicht für Gesprächseröffnungen. Carlson (1984,309) leitet daraus eine Wohlgeformtheitsprognose ab: „No sentence with focusing emphasis can be an initial move of a well-formed dialogue." Eine Äußerung „Otto wohnt hier" (mit kontrastiver Betonung) könnte natürlicherweise verstanden werden als Widerspruch oder als Korrektur einer (fälschlichen) Annahme des Gesprächspartners; es ist dieser spezifische Zusammenhang, der auf diese Weise signalisiert wird. Dasselbe Intonationsmuster tut auch Dienst bei einer autoritativen Feststellung („Wer soll hier wohnen? Ich hätte auch Interesse". - „Otto wohnt hier"). Entscheidend ist auch hier die Sequenzabhängigkeit und der Hinweis auf den reaktiven Status der Äußerung. Schließlich gibt es noch die Möglichkeit der „schwebenden" Betonung (Nonfinal Accent). Eine Äußerung wie „Otto wohnt hier" kann bei entsprechender Intonation auch verstanden werden als Antwort auf eine Frage „Wer wohnt hier?" mit der Zusatzimplikation, daß außer Otto womöglich noch andere da wohnen, als Anfang einer offenen Liste. Intonationsverhältnisse reflektieren also typischerweise dialogische Sprechaktzusammenhänge. Eine genauere Erforschung dieses Bereichs hängt ab von einer genaueren Erforschung der Typen von Sequenzabhängigkeiten von Sprechakten (Franke 1990). Wenn Carlsons Grundidee richtig ist, daß die Fokussierungsintonation, wie überhaupt womöglich die Mehrzahl der lautsprachlichen Phänomene im Paralingualbereich, von ihrer dialogorganisierenden und zugcharakterisierenden Funktion her zu beurteilen sind, dann erweist sich der größte Teil der Fokus-, Intonations- und Akzentforschungen als verfehlt, weil sie als Bezugsgröße den isolierten Satz bzw. den isolierten Sprechakt zugrundelegen, auch wenn in obligater Form immer wieder auf die Wichtigkeit „des Kontexts" hingewiesen wird (vgl. Geluykens 1987). Besonders aufschlußreich sind Nevalainens Untersuchungen über „Intonation and discourse type" (1992), die sich auf die LLG-Daten beziehen, eine ähnliche Mischung von gesprochenem britischem Englisch wie es das Freiburger Corpus für das Deutsche darstellt. Seine Ergebnisse sind durchwegs negativ: „The most frequent tones, the fall and rise, did not

318

C. Sappok

correlate significantly with any one dimension" (Nevalainen 1992,423). (Gemeint sind die sechs diskurscharakterisierenden funktionalen Dimensionen von Biber (1986): 1) Involved v. Informational Production, 2) Narrative v. Non-narrative Concerns, 3) Explicit v. Situation-dependent Reference, 4) Overt Expression of Persuasion, 5) Abstract v. Non-abstract Information and 6) Online Informational Elaboration.) Der Schluß, den Nevalainen (1992,423) zieht, erscheint zwingend: „My results also show that the traditional clause-domain model cannot adequately deal with some, or in certain cases most, actual tonal variation in discourse." Dieses Urteil gilt auch für die neueren Intonationsforschungen im Deutschen (Altmann (Hg.) 1988; Altmann/Batliner/Oppenrieder (Hg.) 1989). Die Hinwendung zu einem dialogisch orientierten Paradigma scheint überfällig. Erste Versuche zur Klärung der Dialogintonation mit stark experimenteller Orientierung finden sich bei Hoepelmann (im Druck). Eine Untersuchung der funktionalen Typen der im Nebenton gesprochenen „redecharakterisierenden Adverbiale" liefert Niehüser (1987). Die Erforschung der Funktionalität der verschiedenen Aspekte der Sprechqualität steht erst am Anfang. Wenn man an Austins Maximalprogramm festhält („The total speech act in the total speech act situation is the only actual phenomenon which, in the last resort, we are engaged in elucidating") und Carlsons Beobachtung hinzunimmt, daß die meisten der charakteristischen Sprechqualitäten an Reaktionszügen festzustellen sind (wie sie in Äußerungsberichten reflektiert werden:... sagte er höhnisch,... sagte er verbittert,... sagte er belustigt,... sagte er gekränkt usw.), weniger an initialen Zügen (z.B sagte er vorwurfsvoll,... sagte er herausfordernd,... sagte er höflich), so scheint der Weg einer künftigen Erforschung vorgezeichnet: Es sind typische Zug-Gegenzug-Sequenzen systematisch auf ihre intonatorischen Qualitäten hin zu untersuchen und auf diese Weise der funktionale Zusammenhang im Paralingualbereich aufzudecken, nicht nur was die Lautqualität der Äußerung angeht, sondern auch im Hinblick auf andere Parameter im körpersprachlichen Bereich (vgl. Haiwachs (im Druck)).

7.

Zusammenfassung

Die Spezifik des Dialogs als Text mit alternierender Stimmzugehörigkeit seiner Grundbausteine (Repliken) macht einen direkten, kontrollierbaren, wiederholbaren Zugriff auf die Lautgestalt notwendig. Es reicht nicht aus, nur zur verschriftlichten Form von „gesprochener Sprache" Zugang zu haben; diese kann zwar sicher die Position der Stimmalternation und Einzelheiten der prosodischen Gestaltung festhalten (vgl. Replik A6 aus Beispiel (0): „zögernd"); doch bleiben dies Kategorien, die der Interpretation eines Dritten entstammen. Das Wissen der Dialogpartner um akustisch manifestierte Kategorien spielt im Prozeß dialogischer Kommunikation eine zentrale Rolle, steuert das Sprecher- und Hörerverhalten und muß folglich im Beschreibungsmodell seinen systematischen Niederschlag finden.

15. Dialoganalyse

und

Prosodie

319

Wir haben diese Kategorien in prosodische im weiteren Sinne und intonatorische im engeren Sinne eingeteilt. Letztere haben ein fixierbares Verhältnis zu grammatischen Einheiten („nuclear tone") und einzelsprachlich geregelte Funktionen, die mit dem Satz- und Diskurstyp zusammenhängen. Prosodische Kategorien wie Stimmzugehörigkeit, Raumposition, Klarheit, Tempo- und Lautstärkedynamik u.a. liegen außerhalb des grammatisch geregelten Bereichs, sind jedoch in diskret gegliederter Form Gegenstand von Wissen, das, mit grammatischer Kompetenz koordiniert, in produktives und interprétatives Verhalten Eingang findet. Die Tatsache, daß die Natur und die genaue Wirkungsweise prosodischer Kategorien nicht bekannt sind, hat weitgehende Konsequenzen für die Dialoganalyse. Die Grundeinheiten dialogischer Texte, Repliken und ihre Kombination mit ihresgleichen, müssen prosodisch zugänglich, akustisch wiederbelebbar und gezielt modifizierbar bzw. substitutierbar sein. Methoden gewinnen dabei zunehmend an Bedeutung, die solches Material nicht nur konservieren und die Konserve analysieren, sondern den Originalton des Materials unter Einbeziehung möglichst vieler Kommunikationsbedingungen zu rekonstruieren erlauben. Dies eröffnet den experimentellen Zugang zur Integration von Wissen heterogener Natur und ihren Regularitäten im Fall sprachlich gesteuerten Wissensaustausches. Der Dialog ist, so gesehen, nicht nur ein Explanandum einer spezialisierten linguistischen Analyse, sondern ein Explanans für ein prozeßorientiertes Modell menschlicher Kommunikation.* * Ich danke F. Hundsnurscher für eine Reihe wertvoller Anregungen und Hinweise.

8.

Literaturhinweise

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320

C. Sappok

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Bochum

16. Dialogein Institutionen

1. 2. 2.1 2.2 2.3 2.4 2.5 2.6 2.7 2.8 2.9 2.10 2.11 2.12 3.

Institutionen als außersprachliche Einrichtungen Dialoge in einzelnen Institutionen Vorbemerkung Kirche: Dialoge in Gottesdienst und Messe Dialoge beim Militär Dialoge vor Gericht Die polizeiliche Vernehmung Schiedsmann: Schlichtungsgespräche Gespräche am Sozialamt Politik: Die „Bonner Runde" Dialoge in der Schule Hochschule : Das Prüfungsgespräch Krankenhaus (Klinik) : Die Visite Klinik (Krankenhaus): Das medizinische Aufklärungsgespräch Literaturhinweise

1.

Institutionen als außersprachliche Einrichtungen

Die Erforschung institutioneller Kommunikation geht in der Regel, schon deshalb, weil sie darauf angewiesen ist, von einem eher konkreten Institutionsverständnis aus. Was Institutionen sind, ist dabei allerdings letztlich noch nicht geklärt. Institutionen sind sicherlich zu unterscheiden von den Bereichen ,Wirtschaft', ,Recht', Wissenschaft', .Politik', ,Religion' und .Erziehung', also von dem, was bei Luhmann zu den Funktionssystemen der Gesellschaft als des umfassenden Sozialsystems (vgl. Luhmann 1984, 555) gerechnet wird. Zum Teil ist auch von Organisationen' bzw. von organisierten Sozialsystemen' die Rede, wenn (zumindest unter anderem) von Institutionen gesprochen wird (s. Luhmann 1984, 551; Luhmann 1975,12; Giesecke 1988, 5; Willke 1992, 155). Was Organisationen und Institutionen unterscheidet und was sie gemein haben, ist eine Frage, von deren Beantwortung auch für die Erforschung institutioneller Kommunikation letztlich ebenso Klärungen zu erwarten sind wie von einer - etwa im Rahmen einer „Gesellschaftstheorie des Staates" (Willke 1992, 8) zu erstellenden -

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umfassenden Übersicht über die bestehenden Institutionen, über ihre (vermeintlichen) Verflechtungen sowie über ihre jeweilige Genese und Entwicklung. Insbesondere von den Entwicklungen einzelner Institutionen ist anzunehmen, daß sie sich in der Art niederschlagen, auf die in den Institutionen kommuniziert wird. Hält man Ausschau nach - im Interesse der Erforschung institutioneller Kommunikation liegenden - hinreichend konkreten Aufschlüssen bezüglich dessen, was Institutionen sind, sucht man, so jedenfalls hat es den Anschein, beispielsweise bei Soziologen (als den zunächst zu Befragenden), bei Anthropologen und bei Philosophen in vielen Fällen vergebens. Die angebotenen Bestimmungen sind zumeist abstrakt und vergleichsweise ,weit' gefaßt. So etwa bei Berger/Luckmann (1970, 58), die unter einer Institution jede Typisierung verstehen, die vorgenommen wird, „sobald habitualisierte Handlungen durch Typen von Handelnden reziprok typisiert werden". Münch (1984, 15f.) spricht von der Institution eines bestimmten (beispielsweise ökonomischen oder politischen) Handelns, wenn das System eines solchen Handelns „durchgehend von einer gemeinschaftlich fundierten normativen Ordnung überspannt wird"; für ihn sind Institutionen eine Art normativ verankerter Muster des Handelns. Parsons (1986,218) versteht unter Institutionen einen bestimmten Typus „handlungsleitender Regeln", und Furth (1991,220) weist daraufhin, daß der Begriff der Institution (sogar) „mit dem Rollenbegriff in einem theoretischen Kontinuum" stand (zum soziologischen Institutionsbegriff s. z.B. auch Schelsky (Hg.) (1970), Luhmann (1972, 64ff.) und Schülein (1987), zum anthropologisch-philosophischen Institutionsbegriff s. z.B. Gehlen (1977)). Die Sozialanthropologin Mary Douglas hat ebenfalls einen weiten Institutionsbegriff. Sie schlägt vor, „jede legitimierte soziale Gruppierung als Institution [zu] begreifen, ob es sich dabei nun um eine Familie, ein Spiel oder eine Zeremonie handelt" (Douglas 1991, 81). Der dabei ins Auge gefaßte Institutionsbegriff ist zudem auch vergleichsweise abstrakt. Douglas (1991, 80) sagt: „Im Minimum ist eine Institution lediglich eine Konvention." Bestimmungen wie diese sind sicherlich interessant und diskutabel; was ihre Beurteilung im Zusammenhang des hier darzustellenden Sachbereichs anbelangt, so scheint man sich allerdings der Bemerkung Hollys anschließen zu müssen, der feststellt: „Für die Beschreibung konkreter Handlungen im Zusammenhang mit konkreten Institutionen leisten diese Ansätze wenig" (Holly 1990,82). Etwas anders sieht es mit den Bestimmungen Searles aus. Searle (1971,80f.) spricht zwar beispielsweise von der „Institution des Heiratens" sowie von der „Institution des Baseballspiels". Und auch für ihn sind Institutionen zunächst einmal Systeme von Regeln, genauer gesagt sind es „Systeme konstitutiver Regeln" (Searle 1971, 81). Searle (1986,78) geht dabei davon aus, daß Ausdrücke, die gesellschaftliche Phänomene bezeichnen, „eine eigenartige Selbstbezüglichkeit haben". Anders als bei natürlichen Phänomenen ist bei vielen gesellschaftlichen „der Begriff, der das Phänomen bezeichnet, selbst ein konstitutiver Bestandteil des Phänomens" (Searle 1986,78). Die Selbstbezüglichkeit, von der hier die Rede ist, geht nach Searle (1986, 81) mit gesellschaftlichen Einrichtungen und dem Besitz menschlicher Sprachen gleichermaßen

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einher, und da Searle Institutionen als Systeme oder Mengen konstitutiver Regeln auffaßt, ist es nur konsequent, wenn er auch von so etwas wie der „Institution der Sprache" (Searle 1987, 223) spricht. Eine solche Redeweise scheint mit der Neigung, unter Institution' Systeme von Regeln oder Normen zu verstehen, unmittelbar zusammenzuhängen. Etwas anders verhält es sich, wenn Searle, im Rahmen seines die illokutionären Akttypen betreffenden TaxonomieVorschlags, genauer gesagt, bei der Behandlung der Deklarativa, erneut auf Institutionen zu sprechen kommt. Dann nämlich meint er außersprachliche Einrichtungen, und dabei scheint er vergleichsweise konkrete Gebilde im Auge zu haben. Und wenn nun im Hinblick auf diese außersprachlichen Einrichtungen bei Searle weiterhin von einem System konstitutiver Regeln die Rede ist, dann sind damit nicht mehr sprachliche Regeln gemeint, sondern außersprachliche Regeln, die zu den sprachlichen Regeln hinzukommen. Searle stellt in bezug auf die von ihm in Betracht gezogenen Beispiele für deklarative Sprechakte ausdrücklich fest, daß bei diesen allen eine außersprachliche Einrichtung im Spiel ist, ein System konstitutiver Regeln, das zu den konstitutiven Sprachregeln hinzukommt, damit die Deklaration erfolgreich vollzogen werden kann. Daß Sprecher und Hörer diejenigen Regeln beherrschen, die die sprachliche Kompetenz ausmachen, reicht im allgemeinen nicht aus, damit eine Deklaration zustande kommt. Zusätzlich muß es eine außersprachliche Einrichtung geben, in der Sprecher und Hörer besondere Positionen einnehmen. Nur dank solcher Einrichtungen wie der Kirche, dem Rechtswesen, Privatbesitz, dem Staat und besonderer Stellungen von Sprecher und Hörer in ihnen kann exkommuniziert, ernannt, vererbt und Krieg erklärt werden. (Searle 1982, 37f.) Searle, auch wenn er einerseits - wie etwa schon de Saussure oder Whitney (s. dazu auch Werlen 1984, llff.) - von Gebilden wie der „Institution der Sprache" spricht, hat andererseits also auch außersprachliche Einrichtungen im Auge; und die letzteren sind es, die gemeint sind, wenn, wie hier, von Dialogen in Institutionen die Rede ist: Die Sprache - wenn auch sie eine Institution darstellen soll - könnte dann, etwa mit Apel (1962/1973, 217), als .Institution der Institutionen' bzw. als ,Meta-Institution' bezeichnet werden, als eine Institution, die den sog. außersprachlichen Institutionen vorgelagert ist. Weymann-Weyhe, auch wenn sie sich letztlich (vgl. Weymann-Weyhe 1978, 227ff.) gegen eine solche Einschätzung der Sprache als (Meta-)Institution ausspricht, stellt dazu fest: Kommunikative Handlungsprozesse sind ohne Sprache nicht möglich; mit anderen Worten: ohne Sprache ist die Konstituierung von Institutionen nicht denkbar; oder: die Sprache ist eine conditio sine qua non von Institutionen. Aus diesem Grund wird Sprache häufig als ,Institution der Institution[en]', als ,Grundinstitution' oder ,Meta-Institution' bezeichnet. (Weymann-Weyhe 1978,224) Für die hier zur Debatte stehende Thematik erscheint es als empfehlenswert - im Anschluß beispielsweise an Dittmann (1979,207ff.) - von Institutionen nicht bereits im Hinblick auf symbolisch vermitteltes Handeln oder gar hinsichtlich bestimmter Routineformeln zu sprechen, sondern erst dort,

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wo Handlungs- bzw. Interaktionszusammenhänge als Muster fest etabliert, in der Verteilung auf wohldefinierte soziale Rollen vergegenständlicht und in Norm-Sanktions-Schemata abgesichert sind. Institutionen in diesem Sinne basieren [...] auf Systemen institutioneller Rollen, entsprechender ,Status-Differenzierung' und auf Systemen expliziter, gesetzter Normen mit entsprechender ,Sanktionen-Kontrolle' (Dittmann 1979, 210). Einer letztlich auf Malinowski zurückgehenden Sichtweise zufolge, „die die Existenz und die Merkmale einer Institution [...] aus der Funktion erklären will" (Castoriadis 1984, 197), welche sie in der Gesellschaft erfüllt, ist davon auszugehen, daß eine Institution einem bestimmten gesellschaftlichen Zweck dient (vgl. Wunderlich 1976, 312; Ehlich/Rehbein 1980, 338; Hoffmann/Nothdurft 1989,118). Aus dieser (gelegentlich, z.B. bei Castoriadis 1984,198ff., auch relativierten) Zweckbestimmtheit erklären sich die soeben erwähnten Rollen, Statusdifferenzen und Sanktionsmöglichkeiten. Institutionen dienen der Durchsetzung und Aufrechterhaltung bestimmter gesellschaftlicher Interessen (vgl. Dittmann 1979,211), und es ist zudem folgendes vorauszusetzen: „Aufgrund der Zweckbestimmtheit der Institution gibt es mindestens implizite Prozeduren, die die Erreichung des Zwecks sichern, und zwar unabhängig von den persönlichen Eigenschaften der in der Institution Agierenden. Solche Prozeduren legen die möglichen Sequenzen von Sprechakten fest" (Wunderlich 1976, 313). Vergleichsweise konkret ist die folgende, bei Peters zu findende Bestimmung des Begriffs Institution. Peters (1991,201f.) sagt: Unter Institutionen verstehe ich differenzierte soziale Handlungsfelder oder Handlungszusammenhänge. Sie haben Sinngrenzen oder normative Strukturen, die in gewisser Weise in entsprechenden Überzeugungen der jeweiligen Akteure bestehen, und andere symbolische Elemente (zum Beispiel spezielle Wissensvorräte, eine Art kollektives Gedächtnis u. ä.). Institutionen sind also nicht die symbolischen Elemente oder normativen Handlungsschemata allein, sondern deren ,Instantiierung' in realen Handlungsabläufen. ,Rolle' oder ,Familie' als Institution in diesem Sinn meint also nicht nur die entsprechenden Normen, sondern ein spezifisches Handeln in einer Rolle oder eine bestimmte familiäre Lebensgemeinschaft. Und als vergleichsweise konkret einzuschätzen ist es auch, wenn von soziologischer Seite darauf hingewiesen wird, daß als Institutionen [...] auch Personenmehrheiten (Kollektivitäten, Assoziationen, Organisationen, Verbände) bezeichnet [werden], insofern das Handeln ihrer Mitglieder innerhalb dieser bzw. in ihren Verhältnissen zueinander durch die gleichen oder mehrere aufeinander bezogene Institutionen kontrolliert' [wird] [...]. In einem noch weiteren Sinn bezeichnet man mit Institutionen oder institutionellen Ordnungen umfassende gesellschaftliche Lebensbereiche, sofern die in ihnen Handelnden durch (möglicherweise unterschiedliche) institutionelle Regeln in ihren Handlungen und Verhältnissen zueinander in (möglicherweise einer Mehrzahl unterschiedlicher) Assoziationen und Organisationen so .kontrolliert' werden, daß diesen Regeln und den sie tragenden Kollektivitäten von den Beteiligten ein einheitlicher ,Sinn' zugeschrieben wird (z.B. Erziehungsund Bildungssystem als Institution im weiteren Sinne; Religion als institutionelle Ordnung). (Hummel/Bloch 1987,188)

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Eine als funktional anzusehende allgemeine Bestimmung von Institutionen gibt Luckmann, der folgendes feststellt: Gesellschaftliche Institutionen organisieren die Lösung grundlegender (und auch nicht so grundlegender) menschlicher Lebensprobleme. Sie tun das, indem sie bestimmte Ausschnitte gesellschaftlichen Handelns einigermaßen verpflichtend steuern und dafür Durchsetzungsmechanismen und - unter Umständen - einen Zwangsapparat bereitstellen. Sie entlasten den einzelnen durch die Vorlage mehr oder minder selbstverständlicher Lösungen für die Probleme seiner Lebensführung und gewährleisten und bewahren dadurch zugleich - sozusagen en détail - den Bestand gesellschaftlicher Ordnungen. (Luckmann 1992,130) Was für Institutionen lassen sich unterscheiden? Gute Beispiele für Institutionen sind: die Schule, die Universität, das Krankenhaus, die therapeutische Einrichtung, das Asyl, das Gefängnis, das Gericht, der Schiedsmann, die Polizei, das Militär, das Amt (Sozialamt, Arbeitsamt, Finanzamt, Prüfungsamt etc.), die Kirche, die Telefonseelsorge. Von Institutionen spricht man ζ. B. auch im Hinblick auf die Ehe und die Familie (vgl. dazu Ehlich/Rehbein 1980, 339ff. und Wodak 1987, 804) sowie hinsichtlich solcher wiederkehrenden, im Anschluß an Wahlen stattfindenden Veranstaltungen wie der „Bonner Runde". Aus den obigen Beispielen ergibt sich, daß die gesellschaftlichen Zwecke, denen die Institutionen dienen, in unterschiedlichen Regelungen bestehen können: in der Regelung der Beziehungen der Geschlechter (Ehe), in der Regelung der gesellschaftlichen Reproduktion (Familie), in der Regelung zu vermittelnder Bildung (Schule, Universität), in der Regelung von Problemen und Fragen der Kontingenzbewältigung (Kirche, Telefonseelsorge), in der Regelung besonderer Probleme bei der Wiederherstellung der Gesundheit einzelner Individuen (Krankenhaus, therapeutische Einrichtungen) (vgl. Ehlich/Rehbein 1980, 340), in der Regelung von Problemen der Verwahrung (Asyl, Gefängnis), in der Regelung von Problemen der inneren und äußeren Sicherheit (Polizei, Militär), in der Regelung rechtsbezogener Konfliktbewältigung (Schiedsmann, Gericht), in der Regelung sozial-ökonomischer Probleme (Sozialamt, Arbeitsamt, Finanzamt), in der Regelung und Kontrolle des Erwerbs von Qualifikationen (Prüfungsamt) oder in der Regelung der Verbreitung von Vorschlägen, die der Verarbeitung politisch relevanter Ereignisse dienen („Bonner Runde"). Bei einem Teil der Institutionen handelt es sich um Gebilde einer besonderen Art. Goffman (1972, 16) spricht von .totalen Institutionen', und zwar im Hinblick auf Blinden- und Altersheime, Waisenhäuser und Armenasyle; Tuberkulose-Sanatorien, Irrenhäuser und Leprosorien; Gefängnisse, Zuchthäuser, Kriegsgefangenenlager; Kasernen, Schiffe, Internate, Arbeitslager; Abteien, Klöster und Konvente etc. Obwohl jede Institution „einen Teil der Zeit und der Interessen ihrer Mitglieder in Anspruch [nimmt] und [ . . . ] für sie eine Art Welt für sich dar[stellt]" (Goffman 1972, 15), um totale Institutionen - in dem Sinne, daß sämtliche Tätigkeiten ihrer Mitglieder sozusagen auf einen Ort eingeschränkt sind - handelt es sich bei den meisten der oben genannten Institutionen nicht. Auch von ,Sprachgebundenheit' - in dem Sinne, daß „Institutionen ihre Zwecke nur über sprachliches Handeln (Diskurse, Texte)

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erreichen können" (Hoffmann/Nothdurft 1989, 119) - kann nur im Hinblick auf einen Teil der oben erwähnten sozialen Einrichtungen die Rede sein (und zwar vor allem hinsichtlich der Schule, der Universität, des Prüfungsamts, des Gerichts, der Telefonseelsorge) . Anders als der Gesichtspunkt der Totalität ist der der Sprachgebundenheit im vorliegenden Kontext aber von besonderem Interesse. Denn eine spezifische Ausprägung des sprachlichen Handelns und mithin der Dialogizität ist gerade in sprachgebundenen Institutionen zu erwarten. Gespräche, welcher Art auch immer, finden in allen sozialen Einrichtungen in mehr oder weniger großem Umfang statt. Und in allen Institutionen gibt es zudem auch das, was Ehlich/Rehbein (1980, 343) als „homileischen Diskurs" bezeichnen: Unterhaltungen, die „außerhalb der institutionellen Regelung" (Gülich 1981,433) stehen. Das gilt nicht nur für Pausengespräche, sondern auch für Sequenzen, wie sie z.B. in Gerichtsverhandlungen vorkommen können, und zwar in Gestalt von Dialogen zwischen Richter und Angeklagtem, die mit der zu verhandelnden Sache (zumindest auf den ersten Blick) nichts zu tun haben (Gülich 1981,433). Ehlich/Rehbein (1980, 343) stellen diesbezüglich fest: „Untersucht man Sprache in Institutionen empirisch, so wird man immer wieder neben den auf die institutionsspezifischen Zwecke bezogenen Handlungen auf solche scheinbar für die Institution dysfunktionale Kommunikation stoßen." Institutionsspezifische, „d.h. eigens für die Zwecke in der Institution" (Hoffmann/Nothdurft 1989, 120) ausgebildete Handlungsmuster und damit im Zusammenhang stehende Dialogsequenzen aber gibt es am ehesten in den sprachgebundenen sozialen Einrichtungen. Dies jedenfalls ist zu erwarten, wenn man bedenkt, daß insbesondere solche Institutionen ihre Zwecke in Gestalt von Verfahren verfolgen, die ohne Sprache nicht vorhanden wären. Wenn von Dialogen in (oder mit Vertretern von) Institutionen die Rede ist, dann läßt sich der Ort, an dem die jeweilige Kommunikation stattfindet, in der Regel näher beschreiben: gemeint sind Gebilde wie Schulstunden, Visiten, Gerichtsverhandlungen, Beratungen, Therapien, Vernehmungen, Prüfungen oder Einrichtungen wie die „Bonner Runde" etc. Wenn Giesecke (1988, 5) im Hinblick auf Gebilde wie diese von „organisierten Sozialsystemen" spricht, dann deutet das auf die im Bereich der Systemtheorie vorherrschende, hier bereits erwähnte und sicherlich nicht unproblematische Neigung hin, den Begriff der Institution oder das, was in Institutionen abläuft, durch den Begriff der Organisation zu substituieren. Hinsichtlich der Erforschung institutioneller Kommunikation ist so etwas wie eine Definition des Begriffs Institution' unerläßlich, zumal die Erforschung institutioneller Kommunikation auf Bereiche bezogen worden ist, deren Institutionscharakter fragwürdig ist. Das gilt beispielsweise für die vermeintliche Institution ,Speiserestaurant' im Sinne von Ehlich/Rehbein (1972). In bezug auf das Speiserestaurant ist mit guten Gründen zu vermuten, daß es sich dabei - ebenso wie bei der Imbißstube, dem StehCafé, der Bäckerei, der Metzgerei, der Parfümerie, dem Friseursalon oder der Apotheke - nicht um eine Institution handelt; jedenfalls nicht in dem Sinne, in dem öffentliche Einrichtungen wie die Schule, das Gericht, das Sozialamt, das Prüfungsamt oder die Kirche Institutionen sind. Es ist zudem fraglich, ob von so etwas wie „Institutionen der Produktion und Zirkulation" (Ehlich/Rehbein 1980,339) überhaupt gespro-

16. Dialoge in Institutionen

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chen werden kann. Auch im Hinblick auf Fabriken, Unternehmen, Konzerne und Dienstleistungsbetriebe jeglicher Art könnte ein Verdacht der obigen Art zu Recht bestehen. Es ist zwar grundsätzlich nicht davon auszugehen, daß dem Begriff .Institution' die Eigenschaft der Randbereichsunschärfe abgesprochen werden sollte. Aber während das Krankenhaus durchaus als Institution wird angesehen werden können, ist selbiges bezüglich ärztlicher Praxen (s. Becker-Mrotzek 1990, 159) oder Bausparkassen (vgl. Schröder (Hg.) 1985, 105ff.) eher in Abrede zu stellen - vielleicht deshalb, weil Einrichtungen' wie die letzteren nichtstaatlicher, nichtgesamtgesellschaftlicher und eher privatwirtschaftlicher Art sind. Eine jegliche Beschäftigung mit Institutionen im allgemeinen und mit Dialogen in Institutionen im besonderen geht von einem bestimmten (Vor-)Verständnis dessen aus, was Institutionen sind. In dem ihnen jeweils zugrunde gelegten Institutionenverständnis unterscheiden sich die bisher vorgelegten Analysen institutioneller Kommunikation (vgl. Becker-Mrotzek 1990, 159), und es wird für die Zukunft „sicherlich notwendig sein, das theoretische Konzept der Institution weiterzuentwickeln" (vgl. Becker-Mrotzek 1990,159). Entsprechende Bemühungen werden darauf bedacht sein müssen, eine Bestimmung des Begriffs Institution' zu erarbeiten, die hinreichend konkret ist und einem alltäglichen Institutionenverständnis gerecht wird. Denn von einem solchen gehen die Arbeiten zur institutionellen Kommunikation, wie eingangs bemerkt, in der Regel aus.

2.

Dialoge in einzelnen Institutionen

2.1

Vorbemerkung

Im folgenden wird - exemplarisch und selektiv - auf Arbeiten Bezug genommen, die sich analytisch mit der Art bestimmter Gespräche befassen, wie sie in Institutionen geführt werden. Nicht alle Institutionen - man denke etwa an das Finanzamt - sind zur Erreichung ihres eigentlichen Zwecks auf dialogische Interaktion i.e.S. angewiesen; bei den hier in Augenschein genommenen Institutionen dürfte aber die Rolle, welche die Sprache bzw. deren Ingebrauchnahme im Hinblick auf die Erreichung des jeweiligen institutionellen Zwecks spielt, offensichtlich werden. Dem vornehmlich sprechakttheoretisch ausgerichteten Interesse an dem hier aufgeworfenen Thema entsprechend, sind dabei insbesondere solche Arbeiten fokussiert worden, die, was die in ihnen angewandten Analysemethoden betrifft, eine sprechakttheoretische Ausrichtung erkennen lassen; es werden aber auch andere Arbeiten berücksichtigt. Dialoge in Institutionen - wenn man dazu auch all die Gespräche rechnet, die ζ. B. zwischen Vorgesetzten und Untergebenen oder unter Gleichgestellten geführt werden, dann sind es Gespräche vielfältiger Art, die zu berücksichtigen wären. Eine eigentümliche Brisanz - und das hat die bisherige Erforschung institutioneller Kommunikation von Anfang an gezeigt - haben die Dialoge aber dann, wenn diese zwischen einem

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Vertreter der Institution auf der einen Seite und einem Klienten i. w. S. auf der anderen geführt werden. Dann wirken sich die für die institutionellen Arten der Kommunikation kennzeichnenden Prägungen und Beschränkungen in zumeist voller Schärfe aus. Infolgedessen sind die hier zu besprechenden Typen von Gesprächen immer solche zwischen Vertretern der jeweiligen Institution und deren Klienten. Letzteres kann zumindest partiell - auch im Hinblick auf die Kommunikation beim Militär gesagt werden; denn auch diese betrifft (größtenteils) .Klienten'. Im Rahmen der folgenden Ausführungen sind Institutionen bzw. in diesen realisierte Veranstaltungstypen aus unterschiedlichen Bereichen berücksichtigt worden, aus dem juristischen, dem politischen, dem militärischen, dem religiösen, dem medizinischen Bereich ebenso wie aus den Bereichen der Schule und Verwaltung. Nicht berücksichtigt worden sind: die Familie (s. dazu aber Martens 1974 und 1983 sowie Frankenberg 1979), die Ehe, die psychotherapeutische Kommunikation (s. dazu aber Flader/Wodak-Leodolter (Hg.) 1979, Flader/Grodzicki/Schröter (Hg.) 1982 sowie Hindelang 1989 und 1990, vgl. Art. 21), die Telefonseelsorge (s. dazu Gülich 1981, Behrend/Gülich/Kastner 1992 und Glas-Bastert 1992) und die betriebliche Ausbildung (s. Brünner/Fiehler 1983, Brünner 1987 und Brünner 1992).

2.2

Kirche: Dialoge in Gottesdienst und Messe

Obwohl zutiefst ritualisiert, erscheinen (der evangelische) Gottesdienst und (die römisch-katholische) Messe - auf den ersten Blick - als Veranstaltungen, die ausgeprägte Dialogsequenzen aufweisen. Was von den Gemeindemitgliedern, was vom Volk gesagt oder gesungen wird, ist zwar vorgegeben, für viele der Bemerkungen, die von Seiten des Pfarrers beziehungsweise des Priesters gemacht werden, gilt aber das gleiche. Dialogizität setzt nicht voraus, daß die Äußerungen neu, informativ, kreativ oder unerwartbar sind. Ritualisiertheit schließt Dialogizität nicht aus. Und daß Wort- und Gesangsbeiträge sowohl von den Vertretern der Institution ,Kirche' gemacht werden als auch von den Gläubigen, ist in der römischen Messe ebenso zu beobachten wie im (evangelischen) Gottesdienst. Die vermeintliche Dialoghaftigkeit der für den Gottesdienst und die Messe konstitutiven Äußerungsfolgen ist aber im großen und ganzen in Abrede zu stellen; jedenfalls dann, wenn man - mit Harweg (1971) und Canisius (1986) - für die Dialogizität einer Äußerungsfolge fordert, daß sie bidirektional ausgerichtet sein muß. Für die überwiegende Mehrzahl der Äußerungsfolgen in Gottesdienst und Messe läßt sich nun aber zeigen (s. dazu Rolf 1992), daß sie dieses Kriterium nicht erfüllen: Bis auf wenige Ausnahmen sind diese Äußerungsfolgen lediglich ihrer Form nach ,dialogisch', nicht aber im Sinne kommunikativen Handelns; obwohl bi- bzw. multipersonal konstituiert, ist die Mehrzahl dieser Äußerungsfolgen monologischer Art, d.h. unidirektional an den als anwesend gedachten Gott in seiner Dreifaltigkeit adressiert. (Zu Messe und Gottesdienst s. Gülich 1981, Paul 1983 und 1990 sowie Werlen 1984.)

16. Dialoge in Institutionen 2.3

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Dialoge beim Militär

Setzt auch die Institution .Militär' auf den Dialog? Ist die militärische Kommunikation dialogisch strukturiert? Könnte man sich den Überlegungen von Hanssen/Klein/Sauer (1981) in vollem Umfang anschließen, hätte man durchaus den Eindruck, der Dialog würde auch im Militärwesen eine große Rolle spielen. Hanssen/Klein/Sauer (1981, 182) führen nämlich das „Handlungsmuster ,Befehl-(Bestätigung)-Gehorsam"' ins Feld. In dem Sinne, in dem seine Realisierung einen institutionellen Rahmen voraussetzt, erscheint ihnen dabei der ,„Befehl' als ein institutionsbezogener Sprechakt" (Hanssen/Klein/Sauer 1981,184). Diesem stellen sie zunächst die Bestätigung' an die Seite, einen Sprechakt, der als komplementär zum Befehl aufgefaßt wird und dem „eine zweifache Funktion zu[kommt]: erstens zeigt er dem Vorgesetzten, ob der Untergebene den Inhalt des .Befehls' verstanden hat - eventuelle Fragen und Korrekturen können erst jetzt geäußert werden; zweitens gibt der Untergebene mit seiner Äußerung zu verstehen, daß er den ,Befehl' akzeptiert hat und ihn auch ausführen wird." (Hanssen/Klein/Sauer 1981,194) So rosig dialogisch, wie hier dargelegt, sehen aber auch die obigen Autoren die Sache nicht. Im Hinblick auf das von ihnen angeführte Handlungsmuster stellen sie selbst einschränkend fest: Wir haben die .Bestätigung' deshalb in Klammern gesetzt, weil das Vorkommen einer .Bestätigung' abhängig ist von den einzelnen Befehlsarten - das .Kommando' kennt grundsätzlich keine .Bestätigung', desgleichen schriftlich fixierte .Befehle' (z.B. die .Dienstvorschrift'). Wenn eine Befehlsart, die potentiell eine .Bestätigung' nach sich ziehen kann (,Befehl i.e.S.' oder .Auftrag'), realisiert wird, so sind weiterhin die Umstände und der Inhalt des ,Befehls' maßgebend dafür, ob eine Bestätigung' erfolgt. (Hanssen/Klein/Sauer 1981,194) In dem Maße, in dem die Bestätigung als fakultative Komponente der BefehI-(Bestätigung)-Gehorsam-Sequenz unrealisiert bleibt, geht mithin der (potentiell) dialogische Charakter der militärischen Kommunikation verloren - verloren, denn die dritte Komponente des oben erwähnten Handlungsmusters, der Gehorsam, hat schließlich nicht grundsätzlich, sondern nur in einem vergleichsweise kleinen Teil der Fälle die Gestalt einer Sprechhandlung, im weitaus größeren Teil der Fälle von Befehlsvergabe aber ist das dadurch hervorgerufene Verhalten (der Untergebenen) selbst nichtsprachlicher Art: Der Gehorsam nimmt dann „die Form einer nicht-sprachlichen Handlung an" (Hanssen/Klein/Sauer 1981,195). In dieser Form aber kann der Gehorsam nicht als Teil eines Dialogs angesehen werden. In Anbetracht eines Befehls geht es um dessen Ausführung; es kommt in der Regel nicht darauf an, sich mit ihm auseinanderzusetzen - und verbal schon gar nicht. Von Dialogizität kann im Hinblick auf diejenige Kommunikation, die für das Militärwesen charakteristisch ist, also nur in einem stark eingeschränkten Sinn die Rede sein - jedenfalls dann, wenn man in der Befehlshierarchie von oben nach unten blickt. In der entgegengesetzten Richtung scheint Dialoghaftigkeit schon eher gegeben zu sein: beispielsweise dann, wenn Meldungen in den Blick genommen werden. S.: Stube dreiundzwanzig mit acht Mann zum Appell angetreten! H: Rühren! Der im

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Anschluß an eine Meldung gegebene Befehl läßt die Sequentialität der Kommunikation deutlich hervortreten - und vielleicht deutlicher, als es das oben erwähnte Handlungsmuster tut. 2.4

Dialoge vor Gericht

Die Hauptverhandlung in einem gerichtlichen Strafverfahren läßt sich in die folgenden elf Phasen zergliedern: 1. Eröffnung der Verhandlung (Aufruf, Anwesenheitsfeststellung, Belehrung), 2. Vernehmung des Angeklagten zur Person, 3. Verlesung der Anklage, 4. Vernehmung des Angeklagten zur Sache, 5. Beweisaufnahme (Zeugenvernehmung, Gutachtenerstattung, Urkundenverlesung, Augenscheineinnahme), 6. Verlesung der Vorstrafen, 7. Plädoyers (Staatsanwalt, Verteidiger), 8. Schlußwort des Angeklagten, 9. Urteilsberatung des Gerichts, 10. Urteilsverkündung und Begründung, 11. Abschluß der Verhandlung (Belehrung, Entlassung) (vgl. Hoffmann 1983, 28).

Es ist offensichtlich, daß die meisten dieser Phasen monologisch realisiert werden: am häufigsten ist es der Richter, der allein spricht (Phasen 1,6,10 und 11), sonst sind es der Staatsanwalt und der Verteidiger (Phase 3 bzw. 7) oder es ist der Angeklagte (Phase 8). Klar dialogisch strukturiert sind die Phasen 2 und 4, die Vernehmungen des Angeklagten zu seiner Person und zu der ihm zur Last gelegten Sache; zumindest partiell dialogisch strukturiert ist aber auch die Phase 5, insbesondere die Vernehmung der Zeugen, die ebenfalls zu ihrer Person und zu der verhandelten Sache befragt werden, und ebenso die Phase 10, die Urteilsberatung des Gerichts; auch sie kann dialogisch strukturiert sein. Besonders aufschlußreich für die Ausprägung von Gesprächen in der Institution .Gericht' sind die Vernehmungen des Angeklagten. Ob zur Person oder zur Sache, die Vernehmung ist in ihrem Kern ein spezifisches Frage-Antwort-Spiel. „Es handelt sich um eine reine ,Frage-Antwort'-Interaktion, wobei nur der Richter die Fragen stellen darf, dem Angeklagten sind Verständnisfragen erlaubt." (Leodolter 1975,211) „Konstitutiv für die Vernehmung des Angeklagten zur Person sind zwei Fragetypen" (Hoffmann 1983, 39): die Informationsfrage und die Bestätigungsfrage. Eine Frage der ersteren Art bringt zum Ausdruck, daß der Fragende, der Richter, nicht weiß, wonach er sich erkundigt; eine Frage der anderen Art bringt zum Ausdruck, daß der Fragende zwar bereits weiß oder zu wissen meint, wonach er sich erkundigt, letzteres aber bestätigt sehen möchte. Sowohl die Informationsfrage als auch die Bestätigungsfrage eröffnen charakteristische Sequenzen. Ideali ter sind das die Sprechaktfolgen .Informationsfrage - Informieren - Feststellen' und ,Bestätigungsfrage - Bestätigen - Feststellen'. In eine Sequenz der letzteren Art kann von Seiten des Antwortenden, des Angeklagten, eine Präzisierung eingebaut werden. Für den Fall, daß er nicht bestätigen kann, wonach er befragt worden ist, kann der Angeklagte eine Korrektur vornehmen. Geschieht das nicht, kommt es entweder zu einer Selbstkorrektur des Richters oder zu einer durch diesen initiierten ergänzenden Informationsfragesequenz. Bezüglich der Sequenzen und Feststellungen an ihrem Ende ist zu sagen:

16. Dialoge in Institutionen

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Die Sequenzen werden typischerweise damit abgeschlossen, daß die vom Richter gewünschte Information durch den Angeklagten bereitgestellt und institutionell gespeichert wird. In vielen Fällen wird der Speicherungsakt durch Feststellungen des Richters indiziert; dies gilt vor allem da, wo Korrekturen an den dem Richter vorliegenden Daten anzubringen sind. (Hoffmann 1980,220) Mit dem FESTSTELLEN werden die einzelnen Sequenzen definitiv abgeschlossen, und zwar meist im dritten oder fünften Zug. Damit ergibt sich die für diesen institutionellen Zusammenhang charakteristische Struktur, die die Position des Vorsitzenden heraushebt: er initiiert die Sequenzen und schließt sie ab. Sein Kommunikationspartner ist einer Zwangskommunikation ausgesetzt. Er hat nichts zu tun, als bestimmte Informationen auf Abruf bereitzustellen; hier liegt ein zentraler Unterschied zur Vernehmung zur Sache. (Hoffmann 1983,42) Ein Wort zu den Reaktionsmöglichkeiten des Angeklagten, durch die sich dieser gegen die von ihm verlangte Informationsabgabe zur Wehr setzen kann: solche Reaktionsmöglichkeiten sind eher gegeben, wenn Informationsfragen gestellt werden. Anders als in Reaktion auf Bestätigungsfragen, kann der Angeklagte idealiter auf dreierlei Weisen reagieren, wenn ihm eine Informationsfrage gestellt wird: er kann ausweichen, er kann sie zurückweisen, oder er kann Nichtverstehen signalisieren. All diese Reaktionen führen zu charakteristischen Sequenzen: Das Ausweichen führt zu einer präzisierten Informationsfrage, die dann in der Regel in Form von Informieren beantwortet wird. Das Zurückweisen einer Informationsfrage führt in Verbindung mit einer Begründung in der Regel dazu, daß der Richter die Begründung anzweifelt und dabei dieses Anzweifeln selbst begründet - und das hat dann wiederum ein Informieren durch den Angeklagten zur Folge ; erfolgt das Zurückweisen in Verbindung mit dem Stellen einer Legitimationsfrage, kommt es zu einem Rechtfertigungsversuch durch den Richter. Und wenn der Angeklagte Nichtverstehen signalisiert, führt das in der Regel, wie beim Ausweichen, zu einer präzisierten Informationsfrage; wird diese in Verbindung mit einer Begründung durch den Angklagten zurückgewiesen, erfolgt von seiten des Richters ein Bestreiten der Begründung; in der Regel folgt dann das eingeforderte Informieren, und dieses wird, wie üblich, mit einer Feststellung abgeschlossen (vgl. Hoffmann 1983,47f.). Was die Vernehmung des Angeklagten zur Sache anbelangt, so ist zunächst zu beachten, daß hier mit den folgenden vier Teilphasen zu rechnen ist: einer Einleitungs-, einer Darstellungs-, einer Befragungs- und einer Abschlußphase. In der Einleitungsphase folgt auf die Anrede eine Belehrung des Angeklagten über seine Rechte. Daraufhin versucht der Richter die Kooperationsbereitschaft des Angeklagten zu ermitteln. Wird diese von Seiten des Angeklagten signalisiert, wird sie durch den Richter festgestellt, kann zur nächsten Phase übergegangen werden. Verweigert der Angeklagte hingegen die Aussage, signalisiert er also, daß er nicht zur Kooperation bereit ist, kann ein Kooperationsdiskurs stattfinden, mit dem Ziel, doch noch zur Kooperation zu motivieren. Ist der Kooperationsdiskurs erfolglos, muß die Aussageverweigerung festgestellt werden (vgl. Hoffmann 1983,60ff.). Die Phase der Darstellung ist im wesentlichen narrativ. Die grundlegenden Strategien, die der Angeklagte dabei befolgen kann, sind: Ausweichen, Leugnen und Geste-

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hen - letzteres mit einem Angebot zur Wiedergutmachung (Hoffmann 1983,80ff.). Es ist klar, daß sich auf die Befragungsphase auswirkt, wie sich der Angeklagte in der Phase der Darstellung verhalten hat. Je nach Sicht des Tatsachverhalts - aufgrund von Darstellung bzw. Strategie des Angeklagten - kann die Befragung im Format eines Informationsaustauschs' (INFORMATIONSFRAGE-INFORMIEREN-FESTSTELLEN-Sequenzen o.ä.) mit kooperativem Modus oder im Format problematisierender ,Argumentation' (BEHAUPTEN-BESTREITEN/ANZWEIFELN-BEGRÜNDEN etc.) mit kompetitivem (selten: antagonistischem oder inkonvenientem) Diskursmodus ablaufen; schließlich kann der Angeklagte aber auch an jedem Punkt die Aussage verweigern [...], so daß es zu einem Kooperationsdiskurs oder einem Übergang zur Beweisaufnahme kommt. (Hoffmann 1983,144) Abgeschlossen wird die Vernehmung des Angeklagten dadurch, „daß ein Konsens zwischen Vorsitzendem, Staatsanwalt und ggf. Verteidiger darüber hergestellt wird, daß zum betreffenden Zeitpunkt niemand mehr das Fragerecht wünscht" (Hoffmann 1983,236). Zur Vernehmung des Zeugen: Die Vernehmung des Zeugen zur Person hat naturgemäß gewisse strukturelle Ähnlichkeiten mit der entsprechenden Vernehmung des Angeklagten; sie fällt aber, weil der Zeuge normalerweise nichts zu befürchten hat, in der Regel moderater als diese aus. Hoffmann (1983,247f.) stellt dementsprechend fest: Für die Mehrzahl aller Fälle kann der Befund dahingehend verallgemeinert werden, daß die Vernehmung des Zeugen zur Person gekennzeichnet ist durch (a) einen kooperativen Diskursmodus; (b) weitgehenden Verzicht des Vorsitzenden auf Sprechakte des INSISTIERENS bzw. NACHFRAGENS; (c) weitgehende Tolerierung alltagsspezifischer Handlungsmuster bzw. Manifestationen alltagsspezifischer Erfahrungs- und Wissensformen; (d) weitgehende Vermeidung kontroverser oder für den Zeugen prekärer Themenbereiche; (e) einen relativ hohen Anteil ritualisierter Interaktionselemente. Die Vernehmung des Zeugen zur Sache weist, wie die des Angeklagten, die Phasen der Einleitung, Darstellung, Befragung und des Abschlusses auf. Was diesen Teil der Gerichtsverhandlungen betrifft, so sei hier lediglich darauf hingewiesen, daß das Verhalten des Zeugen im Kern dieses Teils, in der Darstellungsphase, auf dreierlei hinauslaufen kann: Wenn der Zeuge nicht ausweicht, wird er entweder zur Belastung oder zur Entlastung des Angeklagten beitragen - und das heißt, institutionell gesehen, daß der Zeuge (wenn er nicht, durch sein ausweichendes Verhalten, gerade gegen das institutionelle Relevanzsystem verstößt) die Anklage entweder stützt oder Zweifel an ihr aufkommen läßt - eventuell bis zu ihrer Erschütterung (vgl. Hoffmann 1983, 262ff.). 2.5

Die polizeiliche Vernehmung

Schmitz (1979, 25) zufolge sind polizeiliche Vernehmungen als Veranstaltungen zu begreifen, in denen der die Vernehmung durchführende Beamte und der Vernommene

16. Dialoge in Institutionen

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(ein Zeuge, ein Geschädigter oder ein Verdächtigter) in einer „als Aushandeln verstehbaren" Interaktion miteinander stehen. Der Gegenstand des Aushandelns muß nicht immer in einer Beantwortung der Frage „Was ist geschehen?" thematisiert werden; es kann auch darum gehen, Fragen der folgenden Art zu beantworten: „Wie war es wirklich? und War es wirklich so?" (Schmitz 1979,27). Wie eine Vielzahl von Interaktionen in Institutionen, hat der entsprechende Aushandlungsprozeß den Charakter eines Frage-Antwort-Spiels. Schmitz schließt sich bei der Beschreibung dieses Spiels einer besonderen Sichtweise an: Danach bestehen Prozesse des Aushandelns im wesentlichen in Folgen von , Vorschlägen' und ,Reaktionen' auf diese ,Vorschläge', die solange fortgesetzt werden, bis ein .Vorschlag', eine .Situationsdefinition', erreicht wird, die für alle beteiligten Parteien akzeptabel ist bzw. akzeptiert wird. Als,Reaktionen' ^responses') sind in der Regel die Fragen anzusehen, als ,Vorschläge' (,offers') die Antworten. (Schmitz 1979,26) Es sind aber „nicht nur die Art der einzelnen Züge und der Aushandlungsprozeß als strukturierte Abfolge von Zügen" relevant, sondern auch die „Stärke der Einflußnahme von Beamten, Geschädigten oder Zeugen auf das Aushandlungsergebnis, also die relative Dominanz oder Macht der Interaktionspartner in der Bestimmung der inhaltlichen oder formalen Ergebnisse von Vernehmungen" (Schmitz 1979, 33). Alle Aushandlungszüge lassen sich zumindest einer der folgenden sechs Ebenen zuordnen, die, eine Art Themenangabe, „aufgrund ihrer unterschiedlichen Bedeutung für die Bestimmung des Aushandlungsergebnisses bezüglich ihrer Gewichtigkeit in eine Rangordnung gebracht werden können" (Schmitz 1979, 33): 1. Aushandeln des Geschehens; 2. Aushandeln der Formulierung für die Darstellung der Ergebnisse auf Ebene 1; 3. Aushandeln der Bedeutung einer geschriebenen Formulierung im Protokoll; 4. Aushandeln einer schriftlichen Veränderung an Protokollformulierungen; 5. Aushandeln der Glaubwürdigkeit des Zeugen; 6. Aushandeln des Verfahrens der Vernehmung (vgl. Schmitz 1979, 33). Vernehmungen weisen in der Regel zwei Phasen auf: Das Vorgespräch und die Protokollierungsphase. Im Vorgespräch handelt es sich in aller Regel um vorläufige' Ergebnisse, die später nochmals bestimmt und detailliert werden. Zudem werden hier die Aushandlungen noch nicht so weit in die Einzelheiten vorangetrieben. In der Protokollierungsphase dagegen wird ausdrücklich auf schriftliche Ergebnissicherung hingearbeitet, die Ergebnisse werden ,hart' gemacht, d. h. weitgehend irreversibel (Schmitz 1979, 34f.). 2.6

Beim Schiedsmann: Schlichtungsgespräche

Es gibt zwei Wege, die zum Schiedsmann führen: einen direkten und einen indirekten. Wenn sich jemand durch einen anderen z.B. bedroht, beleidigt oder geschädigt fühlt bzw. wenn ihm eine Verletzung zugefügt worden ist und wenn der Betroffene daraufhin eine Wiedergutmachung verlangt, diese ihm aber nicht zuteil wird, dann kann er bei der Polizei eine Anzeige machen. Diese wird an die Staatsanwaltschaft weitergeleitet, die darüber entscheidet, „ob für die Verfolgung der Anzeige ein öffentliches Interesse

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besteht" (Nothdurft 1989,201). Ist letzteres nicht der Fall, bleibt die Möglichkeit, den Streitfall dem Schiedsmann vorzutragen. Diese Möglichkeit kann aber auch direkt wahrgenommen werden. O b indirekt (über Polizei und Staatsanwaltschaft vermittelt) oder direkt, beim Schiedsmann m u ß nach einem Vorgespräch ein A n t r a g auf die A n b e r a u m u n g einer Güteverhandlung gestellt werden, und in einer solchen Güteverhandlung wird entschieden, o b es zu einer Einigung - oder vielleicht doch zu einem Verfahren vor Gericht kommt (vgl. Nothdurft 1989, 198ff.). Letzteres soll durch die Institution des Schiedsmanns nämlich vermieden werden. „ D e r .Schiedsmann' ist eine Institution der vorgerichtlichen Konfliktregelung für diejenigen Konflikte, die a) strafrechtlicher A r t sind und f ü r die b) der Staatsanwalt ein öffentliches Interesse verneint hat" (Nothdurft 1989,198f.). (Man m u ß hinzufügen: wenn der Staatsanwalt von dem Konflikt Kenntnis erhalten hat.) Die zentrale Aufgabe des Schiedsmanns in einer Güteverhandlung besteht darin, in deren Verlauf „zwischen den Konfliktparteien eine gütliche Einigung herbeizuführen" (Klein/Nothdurft 1987, 548). D e r Schiedsmann versucht, den Streit zwischen dem Antragsteller und dem Antragsgegner zu schlichten. Als „idealtypische Ablauffigur" (Klein/Nothdurft 1987, 550) weist die Schlichtung ein Handlungsschema auf, das „aus zwei Aktivitätskomplexen, der ,Rekonstruktion des Konflikts' und der .Herbeiführung von Einigung'" (Klein/Nothdurft 1987, 549) besteht. Das sich darin manifestierende Schlichtungsgeschehen ist von zwei Rahmungsaktivitäten umgeben, durch die es „aus dem einbettenden Interaktionskontext herausgelöst und markiert" (Klein/Nothdurft 1987, 550) wird: der H e r s t e l l u n g ' und der .Auflösung' der Schlichtungssituation. Z u den beiden zentralen Aktivitätskomplexen ist folgendes festzustellen: Zur .Rekonstruktion des Konflikts' gehört, daß erst die eine, dann die andere Streitpartei ihre Position zum debattierten Gegenstand vorbringt (,Etablierung der Anschuldigung', Stellungnahme'), woraufhin unter Anleitung des Schlichters eine Phase beginnt, in der die Beteiligten den Konfliktgegenstand in kontroverser Auseinandersetzung entfalten, Übereinstimmungen feststellen, kurz: einen schlichtungsfähigen Sachverhalt herausarbeiten (,Konfliktaushandlung'), an dessen Ende gegebenenfalls eine gemeinsam akzeptierte Konfliktformulierung steht. (Klein/Nothdurft 1987, 549) Die .Herbeiführung der Einigung' beginnt damit, daß der Schlichter Möglichkeiten und Bedingungen von Einigungsvorschlägen sondiert und Vorschläge unterbreitet, die damit soweit ausgearbeitet werden, daß sie einigungsfähig sind (,Entwicklung eines Einigungsvorschlags'). Dieser zweite komplexe Bearbeitungsschritt schließt mit einer ausdrücklichen Feststellung der Erreichung des Verfahrensziels (,Ratifizierung des Vorschlags'). (Klein/Nothdurft 1987,549f.) Was geschieht dabei im einzelnen? Was den ersten zentralen Aktivitätskomplex, die .Rekonstruktion des Konflikts', anbelangt, so ist folgendes festzustellen: Die Etablierung der Anschuldigung erfolgt in Gestalt einer Darstellung des „Vorfalls" durch den Antragsteller, den „Geschädigten". Wie die bei Nothdurft (1987, 577ff.) angeführten Aspekte Konstellation', ,Rahmung', Lokalisierung', ,Szene', ,Vorfall', ,Nachschlag', ,Codex', .Delikt', .Forderung' und .Schaden' erkennen lassen, ist die Anschuldigung, grob gesagt, narrativer A r t .

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Die auf die Anschuldigung bezogene Stellungnahme' ist im wesentlichen auf die folgenden vier Strategien begrenzt: -

die in der Anschuldigung dargestellte Handlung wird bestritten [...] die in der Anschuldigung vorgenommene Beurteilung wird problematisiert [...] die Faktizität der in der Anschuldigung dargestellten Ereignisse wird offengehalten [...] die in der Anschuldigung dargestellte Handlung wird gerechtfertigt [...] (Nothdurft 1987, 582ff.)

In der bei Klein und Nothdurft zum Exempel erhobenen (und detailliert analysierten) Güteverhandlung ist die „Stellungnahme deutlich dem Reaktionstyp .rechtfertigen' zuzuordnen" (Klein/Nothdurft 1987, 588), und dieser Umstand manifestiert sich insbesondere darin, daß in der Stellungnahme aus dem Anschuldigungskomplex die dort aufgestellte Forderung herausgegriffen, zurückgewiesen und mit einer - mit dem Hinweis auf eigene Schäden versehenen - Gegenforderung abgeschlossen wird (vgl. Klein/Nothdurft 1987, 587f.). Das wird für manche Güteverhandlung charakteristisch sein. Spranz-Fogasy (1986) - darauf sei an dieser Stelle hingewiesen - macht geltend, daß in Schlichtungsgesprächen bestimmte Widerspruchs-Sequenzen vorkommen; eine solche Sequenz umfaßt „in ihrer Normalform" die folgenden vier Schritte : - die Behauptung eines Sachverhalts durch einen Gesprächsteilnehmer, - den Vollzug von ,widersprechen' durch einen anderen Teilnehmer, - den Vollzug einer Bearbeitungsaktivität und schließlich - die Ratifikation erfolgreicher Bearbeitung. Diese Normalform kann .gespreizt' werden durch den Vollzug mehrerer Bearbeitungsaktivitäten. (Spranz-Fogasy 1986,111) Nicht ganz unproblematisch, legt Spranz-Fogasy dem von ihm untersuchten Aktivitätstyp .widersprechen' ein weites Wort- oder Begriffs-Verständnis zugrunde - ein Verständnis, das ihn die folgenden zehn „Handlungstypen" als „Techniken des .widersprechens'" (Spranz-Fogasy 1986, 31) auffassen läßt: .Reklamation', .Konträre Beurteilung', , Gegeneinschätzung', Gegenbehauptung', , Alternativbehauptung', ,Einschränkung' und ,Erweiterung', ,Begründung', .Erläuterung', .Berufung', .Bekräftigung' (vgl. Spranz-Fogasy 1986, 31ff.). Ob man Begründungen, Erläuterungen und Bekräftigungen als Fälle von .widersprechen' auffassen kann, ist nicht unumstritten (zu einer alternativen Sichtweise vgl. Rolf 1983,188ff.). Die dritte Phase des ersten zentralen Aktivitätskomplexes, die ,Konfliktaushandlung', scheint eine Berücksichtigung der Aktivitäten der Teilnehmer „während des gesamten Gesprächs-Verlaufs" (Spranz-Fogasy 1986, 595) erforderlich zu machen. Nothdurft (1987, 595) zufolge sind es nicht „Interaktionskomplexe [...], sondern individuelle Handlungszüge", die nun den analytischen Gegenstand darstellen. Das scheint besondere Vorgehensweisen erforderlich zu machen. (Zu den dabei gegebenen (methodologischen) Problemen und Einzelheiten siehe Nothdurft 1987,593ff.) Was schließlich den zweiten zentralen Aktivitätskomplex einer Güteverhandlung, die ,Herbeiführung der Einigung', betrifft, so ist - mit Klein (1987, 613) - darauf

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hinzuweisen, daß sich diese idealtypisch in die folgenden Teilkomponenten untergliedern läßt: Entwicklung eines Einigungsvorschlags - Sondierung von Einigungsmöglichkeiten - Unterbreitung eines Einigungsvorschlags - Bewertung des Einigungsvorschlags - ggf. Unterbreitung eines modifizierten bzw. alternativen Einigungsvorschlags Ratifizierung des Einigungsvorschlags - Annahme des Einigungsvorschlags - Formulierung der Einigung - Dokumentation der Einigung (Vergleichsprotokoll). Dem Schiedsmann stehen dabei, zur Wahrnehmung seiner Vermittlungsrolle, drei Schlichtungsstrategien zur Verfügung, die jeweils fallbezogen modifiziert werden: - er appelliert an die Friedensbereitschaft der Parteien - er hilft den Parteien, ,ihr Gesicht zu wahren', 2.7

er weist die Parteien auf die Nachteile eines Gerichtsverfahrens hin. (Klein 1987,620) Gespräche am Sozialamt

Als eine Einrichtung „mit starkem ,Publikumsverkehr', d . h . mit (z.T. regelmäßigen) Kontakten zwischen Professionalisierten und Laien" (Gloy 1981, 88) ist das Sozialamt anzusehen. Dieses widmet sich Problemfällen, die sozial „auffällig" geworden sind (Verhaltensauffälligkeit bei (Schul-)Kindern, Mietrückstand etc.). In den Gesprächen zwischen Vertretern der Institution ,Sozialamt' und seinen Klienten werden diese zumeist nach so etwas wie einer Erklärung zu dem auffällig gewordenen Problem befragt. Und die dabei von Seiten des Klienten vorgetragenen Darstellungen geraten nicht selten in Konflikt mit den Deutungen, Motiv-Zuschreibungen, Sichtweisen des Vertreters der Institution. Bereits die jeweils zugrunde gelegten Deutungsschemata differieren. In der Regel ist es - Gloy zufolge - so, daß Vertreter der Institution ,Sozialamt', Sozialarbeiter etwa, in ihrer Sprache Deutungsschemata [artikulieren], die sich nicht an den Denkweisen und Wertvorstellungen der Klienten orientieren, sondern an denen der Institution. Die Sprechhandlungen der Sozialarbeiter werden von den dominierenden bürokratischen Handlungsmustern derart geprägt, daß sie im Effekt die Klienten nicht beraten, sondern bevormundend verwalten. (Gloy 1981,122) Das geschieht in erster Linie in Gestalt von Uminterpretationen, denen die Institutionsvertreter die Situationsdefinitionen und Alltagserklärungen der Klienten in der Regel aussetzen. Der Sozialarbeiter leistet mit seiner Art der Problemformulierung einen ersten Schritt der Übersetzung von Sachverhalten in institutions-spezifische Relevanz-Kategorien; den zweiten Schritt lei-

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stet die Sozialadministration, die die Problemformulierung des Außendienstes (die psycho-soziale Diagnose) abermals, und zwar nun in juristische Schlüsselbegriffe übersetzt, deren implizite Konsequenzanweisungen in Gestalt der Amtsentscheidungen wirksam werden. (Gloy 1981,122) Das Sozialamt ist eine Verwaltungsorganisation, die Entscheidungen produziert. Seine Beratungen sind schon aufgrund der Andersartigkeit der zugrunde gelegten Deutungsschemata eher Bevormundungen; aus der Sicht der Klienten sind sie deshalb selten akzeptabel. Da letztere von den Entscheidungen der Institution betroffen sind, bringen sie den „Beratungen" zudem prinzipiell kaum Wohlwollen entgegen. Aus der Sicht des Klienten sieht das folgendermaßen aus: „solange die Institutionen schaden können, werden ihre Bemühungen, z . B . auch zu beraten, von ihm beargwöhnt, in den Wind geschlagen, als einfach nicht relevant ausgeblendet." (Gloy 1981,107) Nicht immer aber hat die Interaktion mit einem Vertreter des Sozialamts für den Klienten negative Konsequenzen. Und es ist natürlich auch grundsätzlich so, daß der letztere bei der Sichtung seines Problems und bei der Erarbeitung diesbezüglicher Lösungen den kürzeren ziehen würde. Im Gegenteil: Die Problemdefinitionen und Problemlösungen, um die sich ein Gespräch auf dem Sozialamt (das sich in seinem Kern in „eine Phase der Problemsichtung und eine Phase der Problemlösung" (Wenzel 1984, 15) einteilen läßt) in der Regel dreht, das, worum es in einem solchen Gespräch geht, ist ein Gegenstand des Aushandelns (s. Wenzel 1984,17). Wie ein solcher Aushandlungsprozeß aussieht, hat Wenzel in einer detaillierten Analyse dargestellt. Sie zeigt, in welchem Ausmaß der Beamte als Vertreter der Institution den Kommunikationsprozeß mit dem Klienten steuert. In der Phase der Problemsichtung findet diese Art der Einflußnahme vor allem in der Veranlassung des Klienten zu institutionsrelevantem Sprechen, d . h . zur Übermittlung derjenigen Informationen ihren Niederschlag, die der Beamte institutionell gesehen benötigt (vgl. Wenzel 1984, 40f.). In der Phase der Problemlösung manifestiert sich die Steuerung in der Vorgabe einer Problemlösung. Ihre Interpretation der Problemsichtungsphase faßt Wenzel (1984, 44f.) folgendermaßen zusammen: Der Aushandlungsprozeß wird in überwiegendem Maße von Beamten gesteuert. Bei ihm liegen fast alle initiierenden Aspekte. Er ist es auch, der vom Klienten eingeführte Themen ausklammert, indem er durch Aufforderung zur Beschreibung den Aspekt, den er im Vordergrund sehen möchte, ausspricht oder indem er die Äußerungen des Klienten mit seinen eigenen Worten wiederaufnimmt, dabei aber bestimmte Aspekte herausgreift (rekonstruierende Paraphrasen). Der Klient hat dagegen nicht die Möglichkeit, das Gespräch so stark zu steuern, sondern muß auf alle von Beamten eingeführten thematischen Aspekte eingehen. Außerdem werden die Themen dann abgearbeitet, wenn der Beamte es für richtig hält. Wenn auch die meisten thematischen Aspekte durch Aufforderungen zur Bestätigung und durch Aufforderungen zur Beschreibung vom Beamten eingeführt werden, so handelt es sich doch insoweit um einen gemeinsamen Aushandlungsprozeß, als der Beamte dem Klienten immer die Möglichkeit gibt, sein Verständnis der behandelten Gegenstände zu korrigieren und abzusichern.

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Die Sprechakttypen, die dabei im Spiel sind, sind vornehmlich direktiver und assertiver Art: Der Beamte handelt vorwiegend nach dem Handlungsmuster .Auffordern', der Klient nach dem Handlungsmuster informieren'. Verwirklicht wird die Teilintention , Auffordern' durch die Sprechintention , Aufforderung zur Benennung', Aufforderung zur Zustimmung/Ablehnung', Aufforderung zur Beschreibung' und durch die Sprechintention ,Behaupten', die meist gleichzeitig als .Aufforderung zur Bestätigung' realisiert wird. Beim Klienten stehen im Rahmen der konstitutiven Teilintention informieren' die Intentionstypen .Benennen', ,Konsens-Dissens-Äußerungen', .Beschreiben' und .Behaupten' im Vordergrund. (Wenzel 1984, 45) In der Problemlösungsphase hat die Interaktion zwischen dem Sachbearbeiter und dem Klienten die folgende Gestalt: Obwohl der Sachbearbeiter einen Plan zur Problemlösung vorgibt, verläuft die Interaktion nicht vollkommen einseitig, geht der Sachbearbeiter doch kooperativ auf die von Seiten des Klienten vorgetragenen Probleme ein, die eine Verwirklichung des Plans mit sich bringen würde. Der Beamte ist letztlich jedoch immer bemüht, Konsens herzustellen; möglicher Dissens wird unterbunden. Die dabei realisierten Sprechakttypen sind wiederum Auffordern und Informieren, hinzu kommen Begründungen. Die Problemlösung selbst und die einzelnen Schritte, die zur Problemlösung führen, werden vom Beamten durch Ankündigungen von Handlungsplänen [...] dargestellt (konstitutive Teilintention: Informieren [...]). Zumeist enthalten diese Ankündigungen bestätigungsheischende Partikeln, mit denen der Klient dazu aufgefordert wird, die Pläne zu ratifizieren. Des weiteren stehen in der Problemlösungsphase die Aufforderungen zum aktionalen Handeln [...] und deren Begründungen [...] im Vordergrund. Sowohl diese Form der Aufforderung als auch die Begründungen enthalten als fakultative Intentionen Aufforderungen zur Bestätigung [...]. Bei fast jedem Schritt wird also der Gesprächspartner miteinbezogen, indem immer wieder seine Zustimmung und Bestätigung eingeholt wird (Wenzel 1984, 67). Der institutionelle Zweck kann gerade dadurch erreicht werden. 2.8

Politik: Die „Bonner Runde"

Viele - um nicht zu sagen: so gut wie alle - Gespräche, die in Institutionen geführt werden, sind durch Frage-Antwort-Sequenzen entscheidend strukturiert. Das gilt für die polizeiliche Vernehmung, die Gerichtsverhandlung, Gespräche auf Ämtern ebenso wie für den Unterrichtsdiskurs, das Prüfungsgespräch und die Visite (s.u.) oder die parlamentarische Anfrage als einer für das Funktionssystem Politik besonders charakteristischen Einrichtung. Es gilt auch für die „Bonner Runde", einen institutionalisierten Gesprächskreis, der am Abend eines Wahltages vom Fernsehen übertragen wird. An diesem Gesprächskreis nehmen außer jeweils einem Vertreter der maßgeblichen Parteien zwei Moderatoren teil. Wie in den anderen Institutionen hat das Frage-Antwort-Spiel auch in der Bonner Runde eine institutionspezifische Ausprägung - eine Ausprägung, die sich vornehm-

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Institutionen

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lieh in dem Charakter der gestellten Fragen und in der Art der darauf gegebenen „Antworten" niederschlägt. Hoffmann (1985) zufolge handelt es sich bei den Fragen größtenteils um Stichwortfragen; diese werden gestellt, wenn die turn-Zuweisung durch den Moderator nicht einfach durch das Erteilen des Wortes realisiert wird. Im Unterschied zu Informationsfragen, die „der Antwort einen festen thematischen Rahmen vorgeben, wird hier nur ein ,Stichwort' geliefert, auf das zwar im Verlauf der Antwort irgendwo einzugehen ist, über das aber auch wesentlich hinausgegangen werden kann" (Hoffmann 1985,116). Die Frage-Antwort-Sequenz erhält den Charakter einer Inszenierung, und die Stichwortfrage hat „den Zweck, zur medialen Inszenierung einer Befragung beizutragen" (Hoffmann 1985,117). Aufgrund der nur schwachen thematischen Vorgaben der Stichwortfragen ist den Politikern unter anderem die Möglichkeit gegeben, in ihren Antworten (die dann auch eine lediglich lockere Relation zu der jeweils gestellten Frage erkennen lassen) dem Problem der Mehrfachadressierung ihrer Ausführungen gerecht zu werden: es sind schließlich außer dem Fernsehpublikum, das sich zu einem großen Teil aus den Wählern zusammensetzt, auch Mitglieder (insbesondere Wahlhelfer) der eigenen Partei anzusprechen, zudem ist ein Teil der Ausführungen an die Adresse möglicher Koalitionspartner gerichtet bzw. an die Adresse der Partei(en), die in der Opposition sein wird (werden) oder zu der (denen) man in Opposition stehen wird. Außerdem „kommen Aspekte der Außendarstellung und Imagepflege" (Hoffmann 1985,133) ins Spiel. Die Ausführungen einzelner Politiker können, wie sich aus dem oben Gesagten ergibt, z.B. auch Zusagen enthalten (vgl. Hoffmann 1985,133), also kommissiver Art sein. Größtenteils aber sind sie assertiver Art. Das heißt, sie bestehen - Hoffmann (1985, 123ff.) zeigt das an der „Einleitungskomponente" des von ihm analysierten Gesprächs - insbesondere aus Behauptungen und Begründungen, Bekräftigungen, Ankündigungen und sogenannten Folgerungsbehauptungen; eine große Rolle spielt dabei eine auf den Zeitpunkt, an dem das Gespräch stattfindet (wenige Stunden nach einer Wahl), zurückgehende Art von Äußerungen - Hoffmann nennt sie „Einschätzungsbehauptungen"; diese nehmen z.B. auf das Wahlergebnis, auf dessen Ursachen oder auf anstehende Parteientscheidungen Bezug. Versuchen die Politiker mit ihren normalen Behauptungen bestimmte Sachverhalte zu diskursiv akzeptierten Tatsachen zu machen, haben ihre Einschätzungsbehauptungen den Zweck, Einschätzungen zu übermitteln. Da Begründungen in beiden Fällen eingefordert werden können, werden sie oftmals antizipierend gegeben. Was die Reaktionsmöglichkeiten des Moderators betrifft, so kann dieser „einerseits den turn an den folgenden Politiker weitergeben durch eine STICHWORTFRAGE oder WORT ERTEILEN, er kann aber auch den Darstellungsraum des Vorredners erweitern, indem er an ihn den turn zurückgibt" (Hoffmann 1985,120f.). Hält er dabei für klärungsbedürftig, was zuvor gesagt worden ist, „kann eine NACHFRAGE, VERSTÄNDNISFRAGE, REFORMULIERUNG oder als für den Moderator stärkste Möglichkeit ein Sprechakt des ANZWEIFELNS realisiert werden" (Hoffmann 1985,121). Was die für politische Fernsehdiskussionen wie die „Bonner Runde" typischen Handlungsmuster betrifft, so unterscheiden Holly/Kühn/Püschel (1986, 105ff.) drei

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Sorten solcher Muster: „Politiker-Muster", „Journalisten-Muster" und „ModeratorenMuster". Wie für Diskussionen charakteristisch, gehören in das von den Politikern in Fernsehsendungen wie der oben erwähnten aktualisierte Repertoire von Handlungsmustern durchaus im wesentlichen assertive Handlungstypen wie die folgenden: Behauptungen, das Aufstellen von Thesen, Begründungen, Bestreitungen, Zurückweisungen, Bewertungen, Einstellungsbekundungen, Schlußfolgerungen, Bekräftigungen, Exemplifizierungen und Absichtserklärungen (vgl. Holly/Kühn/Püschel 1986, llOff.). Dennoch ist nicht davon auszugehen, daß Kategorisierungen der Politikeräußerungen, die mit Hilfe dieser Begriffe vorgenommen werden, hinreichend zu erfassen erlauben, worum es den Politikern, in Fernsehsendungen und auch sonst, in Wirklichkeit geht: um Legitimierung und Werbung. Dazu sagen Holly/Kühn/Püschel (1986,109): Die diskussionstypischen Muster werden meist nicht einfach durch Muster des LEGITIMIERENS und WERBENS ersetzt, sondern auf diese hin funktionalisiert, wobei die angezielten Muster aber im Hintergrund bleiben. Die vordergründigen Diskussionsmuster dienen als Argumentationsfilter, als Diskussionsfassadenstücke, als positiv wirkender Ausgangsrahmen, der allmählich in einen anderen Rahmen verschoben wird. Anstelle einer Diskussion findet in Wirklichkeit nur die Inszenierung einer Diskussion statt, zu Zwecken der Tarnung und Immunisierung der eigentlichen Textsorte, die eben eine spezifische POLITISCHER WERBUNG ist. Für Fälle, in denen in Fernsehsendungen der hier zu betrachtenden Art auch Journalisten an der „Diskussion" teilnehmen, ist das Folgende zu beachten: Die Aufgabe der Journalisten ist es zunächst, Politiker zu Äußerungen zu PROVOZIEREN, die für den Zuschauer von informativem Wert sind. Dies geschieht, indem sie - je nach Einstellung - den Politikern Gelegenheit zur Darstellung ihrer Position geben (kooperativ) bzw. sie in eine Situation bringen, in der sie ihre Position rechtfertigen müssen (kompetitiv). Journalistenäußerungen lassen sich demnach unterscheiden, je nachdem ob sie die Politiker kooperativ ins Spiel bringen durch STICHWORTFRAGEN oder kompetitiv herausfordern durch KRITISCHE FRAGEN. (Holly/Kühn/Püschel 1986,120f.) Das ist, was die sogenannten „Journalisten-Muster" anbelangt, aber noch nicht alles. „Besonders längere Journalistenbeiträge und zweite/dritte Schritte zum selben Thema können zur Initiierung diskussionsartiger Passagen genutzt werden" (Holly/Kühn/ Püschel 1986, 126). Dabei kann es z.B. auch zu Vorwürfen kommen, die an die Adresse eines oder mehrerer der Politiker gerichtet sind. Solche Vorwürfe fungieren dann aber, aufgrund ihrer provokativen Kraft, in der Regel wiederum als Aktivitäten, die, wie die Fragen, „auf eine Reaktion mit informativem Charakter zielen und damit interviewartige Züge in Gang bringen" (Holly/Kühn/Püschel 1986,127). Zum Repertoire der von den Moderatoren realisierten Muster gehören nicht nur gesprächsorganisierende Handlungstypen, also nicht nur ERÖFFNEN, BEENDIGEN, WORTERTEILEN, ZUSAMMENFASSEN, STRUKTURIEREN [...], sondern darüber hinaus IMPULSE GEBEN, PROVOZIEREN, ABBLOCKEN, KOMMENTIEREN u.ä., und zwar gerade nicht im Sinne sach-

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licher Auseinandersetzung über ein festes Thema - das wird er sogar selbst u.U. wechseln - , sondern nach Gesichtspunkten wie Abwechslung und Ausgewogenheit. (Holly/ Kühn/Püschel 1986,136) 2.9

Dialoge in der Schule

Der Zweck der Institution .Schule' besteht vornehmlich darin, daß den Schülern etwas Bestimmtes beigebracht wird (vgl. Hundsnurscher 1989, 239), etwas, das von der Gesellschaft für nützlich gehalten wird. Den Schülern soll zum einen Wissen vermittelt werden, sie sollen zum anderen bestimmte Fertigkeiten erwerben, d.h. etwas Bestimmtes können, „Unterrichten zielt [...] darüber hinaus auf die Vermittlung von Einsichten in Zusammenhänge, d.h. auf Verstehen" (Hundsnurscher 1989, 250) ab (vgl. auch Weigand 1989,262). Wie viele andere Arten von Kenntnissen, so ist auch das in der Schule zu vermittelnde Wissen, ob theoretischer oder eher praktischer Art, ungleich verteilt. Es gibt aber einen Diskurstyp, der dazu dient, die Ungleichheit aufzuheben, die bestehenden Defizite kommunikativ zu beheben (vgl. Hundsnurscher 1989,244): „Zweck der Interaktion ist die Behebung eines Wissens- oder Könnensdefizits" (Hundsnurscher 1989, 245). Ehlich (1981, 338ff.) spricht diesbezüglich vom „Lehr-Lern-Diskurs". „Der Lehr-Lern-Diskurs setzt zwei unterschiedliche Gruppen voraus, solche, die über ein Wissen verfügen, und solche, die darüber nicht verfügen, die aber darüber verfügen wollen" (Ehlich 1981,339). Ehlich zeichnet das folgende Bild: Der Lehr-Lern-Diskurs, als solcher auf der wechselseitigen Anerkennung seiner Charakteristika durch die beiden Gruppen beruhend, ist in Gestalt des sogenannten Unterrichtsdiskurses institutionalisiert. Der einzelne Schüler ist zur Teilnahme am Unterricht verpflichtet. Das gesellschaftliche Gesamtwissen, das der Lehrer zu vermitteln sucht und mit dem sich der Schüler konfrontiert sieht, trifft aufseiten des letzteren nicht unbedingt auf ein entsprechendes Aneignungsbedürfnis. Anders als im alltäglichen Lehr-Lern-Diskurs ist dessen Freiwilligkeit im Unterrichtsdiskurs nicht mehr gegeben. „Es ist nicht mehr problemlos der Wille des Lernenden vorhanden, sein Wissensdefizit zu beseitigen" (Ehlich 1981,342). Und gerade vor dem Hintergrund der allgemeinen Schulpflicht kann es zuweilen durchaus so aussehen, daß der Lehrer „in Verfolgung seiner professionellen Interessen dem Schüler gegen dessen Interessensrichtung und Lernbereitschaft etwas .einzupauken'" (Hundsnurscher 1989,248f.) versucht. Die Bereitschaft zur Teilnahme an diskursiv geregelter Wissensvermittlung ist jedenfalls oftmals nur partiell vorhanden, im allgemeinen muß sie - durch die Schulpflicht - erzwungen werden. Wenn auch erzwungenermaßen - der Unterricht findet statt. Obwohl weit davon entfernt, reines Medium der Erkenntnis, uneingeschränkter Ort der Wahrheitsfindung zu sein - und damit einem emphatischen Verständnis des Wortes .Dialog' zu genügen (vgl. dazu Ehlich 1981,334f.) - , hat der Unterrichtsdiskurs dennoch einen dialogischen Charakter - zumindest in dem Sinne, daß von Seiten des Lehrers bestimmte Aufgaben gestellt und von Seiten der Schüler Lösungsversuche dazu dargeboten werden (vgl. Ehlich 1981, 352ff.); daß von Seiten des Lehrers Fragen gestellt und von Seiten der Schüler Antworten (z.B. Begründungen oder Erklärungen, Interpretationen) vorge-

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bracht werden; oder daß von Seiten der Schüler Kritik an dem Unterrichtsgeschehen formuliert - und von Seiten des Lehrers entsprechende Rechtfertigungsversuche unternommen werden (vgl. Ehlich 1981,358ff.). Folgt man den Überlegungen Ehlichs weiter, dann ist es die sogenannte Lehrerfrage, in deren Gestalt das für den Unterrichtsdiskurs charakteristische Frage-AntwortSpiel seine deutlichste institutionelle Ausprägung erfährt. Teil eines institutionellen Geschehens, ist auch die Lehrerfrage, darin z.B. der Examensfrage vergleichbar, keine echte Frage. Sie bringt nicht zum Ausdruck, es verhalte sich so, daß der Lehrer „das, was er fragt, nicht weiß" (Ehlich 1981, 346). Die Lehrerfrage ist aber mit der Examensfrage dennoch nicht gleichzusetzen. Dient letztere dazu, ein Wissen über das Wissen des Befragten, also ein „Wissen zweiter Stufe zu erzielen" (Ehlich 1981, 347), dient die Lehrerfrage (eher) der Anregung: sie soll „bestimmte mentale Tätigkeiten im Schüler in Gang" (Ehlich 1981, 349) setzen, bestimmte Vorstellungen hervorrufen, bestimmte Wissenspartikel aktivieren. Aus dem Umstand, daß die Lehrerfrage keine echte, keine „normale" Frage ist, ergeben sich - Ehlich zufolge - mehrere „Widersprüche". Einer dieser Widersprüche besteht darin, daß der Schüler als Adressat einer solchen Frage nicht „,aussteigen'" (Ehlich 1981,351) kann, sich also anders verhalten muß als im Alltag. Das Aussteigen, im Alltag eine kommunikationsadäquate Reaktion, ist in der Schule inadäquat. Bei der Analyse von Handlungsmustern, die im Alltag ebenso vorkommen wie in (bestimmten) Institutionen, der Schule z.B., zeigen sich „eigenartige Modifikationen. Gegenüber den alltäglichen Musterstrukturen findet sich z.B. verschiedentlich eine merkwürdige Verschiebung in der Verteilung einzelner Musterpositionen auf die Aktanten bzw. in den Voraussetzungen, die die Aktanten mitbringen müssen, um ihrerseits ein Muster anzuwenden oder um in ein Muster involviert zu werden" (Ehlich/Rehbein 1986, 173). Vielleicht muß das so sein, wenn eine entsprechende Institution ihre Identität bewahren will. Wenn nicht, dann könnte, zumindest was die Schule betrifft, eine reelle Chance zu ihrer Veränderung bestehen. Da sie eine „weitgehend versprachlichte Institution" (Ehlich/Rehbein 1986,170) ist, würde diese Chance in der „Sprachlichkeit der Institution Schule" (Ehlich/Rehbein 1986,172) liegen. Nach Pfaff (1983,113ff.) sind es auf Seiten des Lehrers insbesondere Aufforderungen und Bestätigungen, die für dessen Verhalten im Unterricht kennzeichnend sind, während von Seiten der Schüler insbesondere Behauptungen, Beschreibungen, Begründungen und Bewertungen geliefert werden. Die als Informationshandlungen bezeichneten Handlungen der Schüler sind zugleich respondierend und initiierend: „respondierend, weil sie durch Lehrerakte elizitiert wurden[,] und initiierend, weil der Unterrichtsdialog durch sie fortgeführt wird" (Pfaff 1983, 125). Auf die Informationshandlungen der Schüler reagiert der Lehrer in der Regel mit einer Bestätigung. Als für den Ablauf des Unterrichts zentral sieht Pfaff folglich die Sequenz „Elizitieren-Informieren-Ratifizieren" (Pfaff 1983, 153) an: Der Lehrer fordert zu einer Informationshandlung auf, ein Schüler realisiert sie, der Lehrer bestätigt diese. „Die Schülerantworten, d. h. der Lernerfolg der einzelnen Schüler, werden vom Lehrer geprüft, bewertet" (Weigand 1989, 266). Neben sogenannten „Konzentrierungshandlungen" und „Been-

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digungshandlungen", durch deren Realisierung der Lehrer strukturierend in den Dialogablauf eingreift (Pfaff 1983,155f.), sind es im wesentlichen noch zwei weitere Arten von Regeln, durch die Unterrichtsdialoge - Pfaff zufolge - ausgezeichnet sind: bestimmte Regeln der Dialogsicherung sowie bestimmte Regeln des Sprecherwechsels. Erstere sind dem Umstand zu verdanken, daß der Unterricht weit davon entfernt ist, störungsfrei zu verlaufen. Nach Hundsnurscher (1989, 240) sind für die Kommunikation im Unterricht auch solche Gesprächsanteile charakteristisch, mit denen Schüler vorwiegend eigenen Kommunikationsbedürfnissen nachgehen (,Schwätzen') und damit u.U. Disziplinierungssequenzen von Lehrerseite auf sich ziehen. Diese Kommunikationsanteile beruhen auf den besonderen Bedingungen schulischen Unterrichts, der als planmäßiges, zweckgebundenes Handeln natürlich störanfällig ist; hinzu kommt die Klassensituation als Versammlung einer Vielzahl möglicher Sprecher mit typisch kindlich-jugendlichem Rollenverhalten (,Unfug treiben'). Eine für Störungsfälle typische Abfolge von Handlungen besteht in der folgenden Sequenz: Auf eine sogenannte „Störungshandlung" eines Schülers erfolgt eine Korrekturhandlung des Lehrers. Letztere kann beispielsweise die Gestalt eines Aufforderungsaktes haben. Daraufhin realisiert der Schüler einen „Korrekturvollzug" und dieser wird wiederum (durch den Lehrer) bestätigt (Pfaff 1983,148ff.). Die Regeln des Sprecherwechsels verdanken sich dem Umstand, daß die Aufforderungsakte des Lehrers Meldungen eines oder mehrerer Schüler nach sich ziehen. Diese Meldungen sind ihrerseits Aufforderungen bzw. Bitten um die Zuweisung der Sprecherrolle. Diese Bitten ziehen eine vom Lehrer vollzogene Zuweisungshandlung nach sich. Der Schüler, der Adressat dieser Zuweisung ist, übernimmt, indem er seinerseits eine Informationshandlung realisiert, die Sprecherrolle (vgl. Pfaff 1983, 133f.). (Zur Struktur der Lehreraktivitäten, die der Wahl eines sich meldenden Schülers vorausgehen, s. auch Sinclair/Coulthard 1975.) Ist die oben erwähnte Hauptregel für den Unterricht konstitutiv, verhält es sich mit den beiden anderen Regelarten so: Die institutionsspezifischen Regeln des Sprecherwechsels sind obligatorisch, die institutionsspezifischen Regeln der Dialogsicherung fakultativ (vgl. Pfaff 1983,155). Man darf bei alledem natürlich nicht verkennen, daß auch von Seiten der Schüler Aufforderungen an den Lehrer ergehen, und zwar insbesondere in Gestalt von Fragen, Verständnisfragen beispielsweise (vgl. auch Hundsnurscher 1989, 248). Und es dürfte klar sein, daß eine Vielzahl der Aktivitäten des Lehrers seinerseits Akte des Informierens sind. Das jedenfalls geht aus den Kategorisierungen hervor, die sich bei Martens (1977, 240ff.) finden: Diese enthalten - neben Aufforderungen (Fragen) und Bestätigungen u.a. auch Begründungen, Schlußfolgerungen, Feststellungen, Kommentare, Berichte, Erläuterungen, Behauptungen und Relativierungen (vgl. auch Weigand 1989, 262f.). (Zu Fragen der Strukturierung des Unterrichts und der dort realisierten Handlungen siehe auch Redder 1983.)

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2.10 Hochschule: Das Prüfungsgespräch Ein vergleichsweise markantes Beispiel für die an Hochschulen stattfindenden Veranstaltungen ist das Prüfungsgespräch - Dedering/Naumann (1986) zufolge - ein Dialogtyp, dessen Realisierungen eine Verlaufstypik der folgenden Art erkennen lassen: Durch den PrüferP wird der Prüfling Κ zunächst begrüßt·, ihm werden weitere Prüfer und/oder Beisitzer/Protokollführer vorgestellt; er wird gebeten, auf einem bestimmten Stuhl Platz zu nehmen; „allgemeine auflockernde Bemerkungen von P" (Dedering/ Naumann 1986,129) leiten gegebenenfalls zum Kern der Prüfung über. Am Ende der Prüfung schließen entsprechende Sprechakte den Dialogtyp Prüfungsgespräch ab: Abbruch der Prüfung durch P, Verabschiedung von K, eventuell Mitteilung und Kommentar des Prüfungsergebnisses oder Hinweis auf spätere Bekanntgabe der Note, auf Prüfungszeugnisse und Konsequenzen von Κ etc. (Dedering/Naumann 1986, 129) Das .eigentliche' Prüfungsgespräch kann durchsetzt sein von „prüfungsbegleitenden Sprechakten [...], die mit der Prüfung selbst nur mittelbar zu tun haben: Bemerkungen von Ρ zur Uhrzeit/Prüfungszeit, Zwischenbemerkungen an andere Ρ oder an den Beisitzer/Protokollanten, Überleitungen zwischen Prüfungsteilen, Anbieten von Pausen, Zigaretten, Kaffee etc." (Dedering/Naumann 1986,129f.). In seinem Kern aber besteht das Prüfungsgespräch aus (einer Reihe von) initiierenden Sprechakten, die der Prüfer Ρ realisiert, und den Antworten, die der Prüfling Κ gibt. Die Reaktionen des Prüfers auf diese Antworten - sie können ζ. B. kommentierender, bewertender, korrigierender, nachfragender Art sein - sind zumeist wiederum „als gesprächsaktinitiierend" (Dedering/Naumann 1986, 132) aufzufassen. Letzteres ist auf den Umstand zurückzuführen, daß Prüfungsgespräche asymmetrisch in dem Sinne sind, daß der Prüfling verpflichtet ist, auf die prüfungsinitiierenden und prüfungskontinuierenden Bemerkungen des Prüfers zu reagieren, während letzteres für den Prüfer selbst nicht gilt: „er kann, muß aber nicht auf die Äußerungen von Κ eingehen" (Dedering/Naumann 1986,131). Im Zentrum des Prüfungsgesprächs stehen die sogenannten Examensfragen. Diese zielen nicht darauf ab, den von ihnen angesprochenen Inhalt in Erfahrung zu bringen, sie zielen darauf ab, in Erfahrung zu bringen, ob der Prüfling den erfragten Inhalt weiß und inwiefern er in der Lage ist, diesen Inhalt darzustellen. Die Prüfung hat das Ziel bzw. die Funktion der „Ermittlung und Bewertung von Wissen" (Steuble 1986, 47), soweit dieses auf Seiten des Prüflings vorhanden ist. In einer Prüfung können natürlich auch echte Informationsfragen gestellt werden „Fragen zum technischen Verlauf der Prüfung [...], [...] Fragen nach Präferenzen von Κ in bezug auf den Prüfungsablauf" (Steuble 1986,131) - , solche Fragen beziehen sich aber zumeist nur auf die Organisation des Prüfungsgesprächs. Das Prüfungsgespräch besteht in seinem Kern allerdings nicht allein aus den Prüfungsfragen und den Antworten darauf. Neben Nachfragen, Verständnisfragen, Rückversicherungsfragen, Zwischenfragen, Zweifelsfragen, Präzisierungsfragen kommen z.B. auch Konkretisierungen, Erläuterungen, Anzweifelungen, Bestätigungen, ver-

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schiedenartige Aufforderungen (Aufforderungen zur Korrektur etwa) und Hinweise (z.B. Lückenhinweise und Benennungshinweise) vor (vgl. Steuble 1986,60; Dedering/ Naumann 1986,135f.). Assertive Sprechakte der letzteren Art aber fungieren wiederum „als Aufforderungen an K, das, was fehlt, bzw. den entsprechenden Terminus zu nennen" (Dedering/Naumann 1986,136). Und schon im Hinblick auf die prüfungsinitiierenden und prüfungskontinuierenden Steuerungsversuche ist davon auszugehen, daß der Prüfer nicht einfach eine Frage stellt: er formuliert „seine Frage (z.T. mehrmals) um, [er] modifiziert oder konkretisiert sie" (Steuble 1986,50). Es sind zudem nicht nur Fragen, die der Prüfer stellt; er selbst stellt oftmals auch bestimmte Informationen bereit, er lenkt die „Aufmerksamkeit in eine bestimmte Richtung, um die gewünschte Reaktion" (Dedering/Naumann 1986,133) des Prüflings wahrscheinlicher zu machen. Und was schließlich die Gesprächsbeiträge des Prüflings anbelangt, so beschränken sich diese zumeist nicht auf in Form einzelner Sätze gegebene Antworten; die Gesprächsbeiträge des Prüflings können z.B. auch narrativer, deskriptiver und/oder argumentativer Art sein. 2.11 Krankenhaus (Klinik) : Die Visite Die Visite ist ein besonders gutes Beispiel für den Einfluß, den eine Institution, in diesem Fall das Krankenhaus, auf Gespräche ausüben kann. Den naheliegenden, gewöhnlich aber laienhaften Vorstellungen des Patienten über den Besuch des Ärzteteams zuwider; dem mehr als verständlichen, weil seinem Leiden und seinem Wunsch nach Genesung entspringenden Bedürfnis nach Kommunikation mit einem Experten, von dem die Beendigung des Leidens und die Erfüllung des Genesungswunsches erwartet wird, entgegen ; dem oftmals langen und Geduld erfordernden Warten auf den Moment der Begegnung, von der eine entscheidende Wende erhofft wird, zum Trotz stellt die Visite ein Ereignis dar, das primär deshalb stattfindet, weil sich das die Behandlung durchführende Team, sozusagen an Ort und Stelle, über den Stand und die Aussichten der Therapie einen Eindruck zu verschaffen sucht. Wodak (1987, 807) beschreibt die sich daraus ergebende Situation so: Im Rahmen der Institution dient die Visite der Information für den diensthabenden Arzt und Abteilungsleiter. Der Patient wird nur kurz nach seinem Befinden gefragt, das Gespräch unter den Ärzten steht im Mittelpunkt [...]. Da aber auch sonst keine Zeit für Gespräche eingeplant ist bzw. stattfindende Kommunikation nicht als Gespräch bezeichnet werden kann, sondern eher als Befragung oder Verhör, versuchen Patienten die Visite für eine Kontaktnahme zu nützen. Ob nun aus einem Mißverständnis heraus oder ob aufgrund seines Leidensdrucks, bei der täglichen Stationsvisite kommt es immer wieder zu einem kommunikativen Konflikt zwischen dem Patienten auf der einen Seite und dem Arzt und seinen Begleitern auf der anderen. Das sieht dann so aus: Während der Arzt sich - nach einer Hinwendung zum Patienten - mit seinen Begleitern bespricht, versucht der Patient, sich mit eigenen Fragen und Bemerkungen in das Gespräch einzuschalten, um seinen Bedürfnissen Geltung zu verschaffen. Das Personal ist dementgegen bestrebt, ihn mit

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abweisenden Antworten wieder aus dem Gespräch auszuschließen, um das klinische Arbeitsprogramm durchführen zu können. (Bliesener 1982,7) D e r Patient, von dem A u s m a ß des seinen Bedürfnissen zuwiderlaufenden „Nichtbeachtetwerdens" enttäuscht, sieht sich also gezwungen, selbst die Initiative zu übern e h m e n , und das Personal zielt mit seinen Antworten darauf ab, „den Patienten zu einem Verzicht auf die Artikulation seiner Bedürfnisse zu bewegen" (Bliesener 1982, 9). Insofern sind „es gerade die Initiativen (des Patienten) und die Antworten (des Personals) [ . . . ] , in denen sich der Konflikt in der Visite manifestiert" (Bliesener 1982,9). E s ist aber darauf hinzuweisen, daß es oft genug vorkommt, daß der Arzt sich mit bestimmten seiner Ausführungen direkt an den Patienten wendet. Wie QuasthoffHartmann (1982) jedoch darlegt, sind es dann gerade diese Ausführungen, die sich auf Frage-Aktivitäten des Patienten hemmend auswirken und dessen Informationsbedürfnis infolgedessen weitgehend ungestillt lassen. Quasthoff-Hartmann führt das auf bestimmte konversationstechnische Aspekte des ärztlichen Diskurses zurück, die allesamt darauf hinauslaufen, d e m Patienten das Rederecht vorzuenthalten. D e r Diskurs des Arztes bewirkt ein „Binden der verbalen Aktivität des Patienten durch Fragen unmittelbar nach dem E n d e von informationsgebenden Sequenzen" (Quasthoff-Hartmann 1982,84); der ärztliche Diskurs ist dadurch ausgezeichnet, daß den Gesetzen des turn-taking-Mechanismus zuwiderlaufende global-strukturelle Zäsuren innerhalb der Redebeiträge des Arztes piaziert werden, Zäsuren, „die keine Pause f ü r die Übernahm e der Sprecherrolle durch den Patienten lassen" (Quasthoff-Hartmann 1982,84). Außerdem wurde festgestellt, daß das Geben von Informationen in Form von längeren Diskurseinheiten die Möglichkeit der Patienten, im Gespräch initiativ zu werden, stark behindert, weil für Diskurseinheiten spezielle Gesetze des Sprecherwechsels gelten, die den Initiator der Diskurseinheit konversationstechnisch begünstigen. (Quasthoff-Hartmann 1982, 84) Die Struktur des Ereignisses, in dem die Visite besteht, läßt sich folgendermaßen beschreiben : Die Visite beginnt, wenn sich der Arzt zum Patienten hinwendet und das Gespräch mit ihm oder über ihn beginnt. Das kann, muß aber nicht durch die Begrüßung oder Nennung des Namens geschehen. Durch diesen Beginn wird der Patient zu einem legitimen Beteiligten der Visite, die Visite wird ,seine' Visite. Sie endet, wenn das Visiteteam nicht mehr über den Patienten redet und ihm nicht mehr zuhört. (Bliesener 1982, 51) Innerhalb der Visite lassen sich Phasen unterscheiden, innerhalb einer Phase kann es Abschnitte geben, „die sich entweder durch ein einheitliches Thema oder durch eine einheitliche Themenentwicklung auszeichnen" (Bliesener 1982, 52); Bliesener spricht diesbezüglich von Episoden. U n d innerhalb einer solchen Episode ist die oben bereits erwähnte Sequenz von Initiative und Antwort anzusiedeln. D e n n innerhalb „einer Episode geht das Gespräch oft nur deswegen voran, weil einer der Teilnehmer die Initiative ergreift und einen anderen zu einer Reaktion veranlaßt, auf die hin weitere Reaktionen und Gegenreaktionen in Gang kommen k ö n n e n " (Bliesener 1982,52). Im

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Hinblick auf solche Sequenzen spricht Bliesener vom Austausch, und er stellt fest, daß ein Austausch in Visiten „üblicherweise nicht länger als vier Züge" (Bliesener 1982,52) wird: außer der Initiative und der Antwort kommen (normalerweise) noch eine Rückmeldung und eine sogenannte Gegenzeichnung' vor (s. Bliesener 1982,52). Welches Aussehen haben die Initiativen des Patienten - und von welcher Art sind die Antworten, die von Seiten des Personals gegeben werden? Bliesener zufolge hat ein Patient grundsätzlich zwei Möglichkeiten, eine Initiative in das Gespräch während der Visite einzubringen: „Entweder hat der Patient bereits das Wort und nutzt die Gelegenheit, um ,im selben Atemzug' auf Dinge zu sprechen zu kommen, die ihm selbst wichtig sind, oder aber er ist nur Zuhörer und ergreift erst das Wort. Er kann also seine Initiative an einen laufenden Beitrag anhängen oder als selbständigen Beitrag piazieren" (Bliesener 1982, 67). Als Initiative einzuschätzen ist eine Äußerung oder Äußerungssequenz nach Bliesener (1982,58f.), die einen spontan vorgetragenen, einen adressierten, einen dringlichen Anspruch auf eine verbindliche und spezifische (kohärente) Antwort darstellt. Gerade die drei zuletzt genannten Arten oder Aspekte von Ansprüchen sind es, durch deren Nichterfüllung die „Antworten" des Personals in erster Linie ausgezeichnet sind. Bliesener unterscheidet unter der Bezeichnung sog. .Vorfeld-Elemente' wie .Wortmeldung', ,Voranzeige' und ,Vorreiter' eine ganze Reihe von Arten, auf die die Patienten ihre Initiativen starten (s. Bliesener 1982, 93ff.). Von Vorfeld-Elementen spricht Bliesener in Anbetracht des Aufbaus, durch den ein (Gesprächs-)Zug (vgl. dazu auch S. 53) gekennzeichnet sein soll. Ein Zug ist Bliesener zufolge in einen Kern, Mittelfeld genannt, in ein Vorfeld und ein Nachfeld eingeteilt: „Alle Äußerungen, die dem Kern des Zuges vorangeschickt sind, bilden zusammen das ,Vorfeld', und der Kern selbst bildet das .Mittelfeld' des Zuges" (Bliesener 1982,93f.). Da die Antworten des Personals im wesentlichen aus mehr oder weniger direkt vorgetragenen Zurückweisungen der in der Patienten-Initiative zum Ausdruck kommenden Anliegen bestehen, wird nicht überraschen, wenn darauf hinzuweisen ist, daß von Seiten des Personals häufig bereits auf die noch laufenden Initiativen reagiert wird. Das geschieht in Gestalt sogenannter ,Einwürfe' und ,Eingriffe'. Als Einwürfe können Äußerungen bezeichnet werden, „mit denen der Zuhörer zwar auf die Planbildung des Initianten Einfluß nimmt, es aber dem Sprecher selbst überläßt, den Plan für seinen Zug nach eigenem Ermessen abzuwandeln und umzubilden" (Bliesener 1982, 104). Von Eingriffen kann im Hinblick auf Äußerungen gesprochen werden „mit denen der Zuhörer der laufenden Initiative zu Ergänzungen verpflichtet, die weit über den eigentlichen Plan hinausgehen, oder mit denen er sogar eigenmächtig die Ausführung selbst übernimmt" (Bliesener 1982,104). In der Visite spielen Einwürfe und Eingriffe eine wichtige Rolle. Es ist vor allem interessant, daß sie nicht bloß formal zeitlich vor der Übernahme der Rednerrolle auftreten. Der Adressat setzt sie vielmehr oft als erste Versuche ein, seinen bereits fertigen Antwortplan zu verwirklichen. Wenn Ärzte Initiativen von Patienten abweisen wollen, so bilden ihre Zuhöreräußerungen vielfach auch in strategischer Hinsicht das Vorfeld ihrer Antworten. (Bliesener 1982,105)

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Wie bereits angedeutet, sind die „Antworten" des Personals, insbesondere die der Ärzte, im wesentlichen Zurückweisungen der Anliegen, die die Patienten formuliert oder zum Ausdruck gebracht haben. Die Antworten, die gegeben werden, haben zum überwiegenden Teil die Gestalt von Äußerungen, die - etwa mit Franke (1981) - als „nichtspezifische reaktive Sprechakte" bezeichnet werden können (s. dazu jedoch auch Bliesener 1982,72). Dabei wird auf den in den Initiativen zum Ausdruck kommenden Anspruch auf Verbindlichkeit von Seiten des jeweils Antwortenden in Gestalt von Problematisierungen und Zurückweisungen reagiert ; auf den Anspruch auf Dringlichkeit wird implizit in Form von Verzögerungen Bezug genommen; und auf den Anspruch auf Spezifität (Kohärenz) wird durch Inkohärenz-manifestierende Arten der Mißachtung zumindest eines Aspekts der jeweiligen Initiative reagiert (vgl. Bliesener 1982, 75ff.). Bliesener unterscheidet insgesamt neun Arten solcher Mißachtungen (s. Bliesener 1982, 87ff.). Die Wichtigkeit, die Thematik oder die Ernsthaftigkeit der Initiative sind es beispielsweise, die mißachtet werden. Die Visite wird nur selten nach der Initiative eines Patienten direkt abgebrochen, „aber es kommt häufiger vor, daß der Arzt die Beendigung der Visite forciert" (Bliesener 1982,90f.). Die Beendigung der Visite, meistens „eine einseitige Aktion des Arztes" (Bliesener 1982, 91), kann auf dreierlei Art erfolgen: Der Arzt „kann das Gespräch inhaltlich ,leerlaufen lassen'; er kann sich zurückschauend auf das abgelaufene Gespräch beziehen ; und er kann sich vorausschauend auf Ereignisse in der weiteren Zukunft beziehen. Durch alle drei Methoden wird die kontinuierliche Entwicklung des Gesprächs zum Stillstand gebracht" (Bliesener 1982,91). Obwohl die Antworten des Arztes auf Initiativen des Patienten tendenziell so gut wie immer auf eine Beendigung der Visite abzielen, mithin im wesentlichen die Gestalt nichtspezifischer reaktiver Sprechakte aufweisen, ist damit - darauf muß an dieser Stelle ausdrücklich hingewiesen werden - selbstverständlich nicht all das benannt, worin die Aktivitäten des Arztes und des Personals bestehen. Die nichtspezifischen Reaktionen sind Reaktionen auf Patienten-Initiativen! Der Arzt und das Personal sprechen aber von sich aus verschiedene Themen an, und dabei ist der Patient - wenn auch eher als Zuhörer - durchaus einbezogen. Was nun diese, in der Regel nichtinitiierten Bemerkungen des Arztes anbelangt, so ist zu beobachten, daß dieser sein Ziel oftmals „noch nicht beim ersten Anlauf erreichen" (Bliesener 1982, 105) kann. Beispielsweise in Form von Verständigungsschwierigkeiten treten dem Arzt verschiedene Hindernisse in den Weg. Bliesener unterscheidet acht solche, dem Redeerfolg im Weg stehende Hindernisse, und er benennt dementsprechend acht Maßnahmen (wie ,Wiederholung', ,Erläuterung' und .Paraphrase') zu deren Umgehung, Beseitigung; er bezeichnet diese Maßnahmen als wohlgemerkt zu den Zügen des Arztes gehörige - Nachfeld-Elemente (vgl. Bliesener 1982,105ff.). Bliesener und andere haben inzwischen Versuche zur Umgestaltung der Visite unternommen, Versuche, die in der Visite eine Chance zum Gespräch zu sehen lehren

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sollen. Bliesener berichtet über die allgemeine Zielsetzung dieser Versuche u . a . folgendes: Bei der unspezifischen Umgestaltung der Visiten ging es darum, allgemeine und schon seit längerem erkannte Mißstände in der Kommunikation zwischen Arzt und Patient zu überwinden. So sollte es nicht mehr vorkommen, daß der Dialog mit dem Patienten unter extremem Zeitdruck steht, daß Gesprächsinitiativen von Patienten routinemäßig verhindert oder abgewiesen werden oder daß das Gespräch zwischen Arzt und Patient zurückgedrängt wird durch das Gespräch innerhalb der Ärzte und des Personals. Die Visite sollte also so angelegt werden, daß weniger über den Kranken und mehr mit ihm gesprochen werden kann. (Bliesener 1986,18) Die hier ausführlich dargestellte, weil trotz der beispielsweise bei Quasthoff-Hartmann (1982, 73ff.) geäußerten Bedenken auch in sprechakttheoretischer Hinsicht recht aufschlußreiche Visitenanalyse stellt, zusammen mit einem Verbesserungshinweis wie dem soeben wiedergegebenen, ein typisches Beispiel für die kommunikationsanalytische Erforschung der Visite dar. Eine „kritische Haltung gegenüber der institutionellen Praxis und das Anliegen, zu einer aufgrund empirischer Analysen reflektierbaren Verbesserung beizutragen" (Fehlenberg 1983 , 32), ist kennzeichnend für Analysen dieser Art. Gemeinsam ist ihnen zudem die Auffassung der Visite als eines Spezialfalls der Arzt-Patient-Kommunikation. Insoweit es sich bei dieser Auffassung um ein zumindest partielles - Mißverständnis handelt, wird es von den Analytikern und den Patienten geteilt. Fehlenberg (1983, 20) macht demgegenüber geltend, „daß in der Visite wesentlich mehr Aufgaben erledigt werden müssen, als mit dem Patienten zu sprechen." Mit der Visitenkommunikation verhalte es sich deshalb so, daß sie nach „ihren klinischen und arbeitsorganisatorischen Funktionen [ . . . ] nicht adäquat als ein (nur) Arzt-PatientGespräch zu charakterisieren" (Fehlenberg 1983 , 31) sei. Der letztere Umstand aber werde von einer Analyseweise der oben dargestellten Art nicht adäquat erkannt (vgl. Fehlenberg 1983,46). Einem Großteil der Erforschung gerade der Visitenkommunikation liegt ein Bild von der vermeintlich unverzerrten Alltagskommunikation zugrunde - mit der Implikation, daß die institutionell geprägte Arzt-Patient-Kommunikation verzerrt ist. Eine entsprechende Gegenüberstellung von ,Alltag' und .Institution' unterzieht Quasthoff (1990,79) der folgenden Kritik: Ein Großteil der Forschungen zur Arzt-Patient-Interaktion erfolgt aus einem gesellschaftlichen Engagement zur Veränderung einer als verbesserungsbedürftig beurteilten Praxis. Gerade wenn man ein derartiges Engagement für eine der legitimen Aufgaben von Wissenschaft hält, muß man die Kriterien seiner Beurteilung der Praxis einer besonders strengen wissenschaftlichen Überprüfung unterziehen und darf sich nicht implizit und unreflektiert zum ,Kumpanen' eines der in der Interaktion Beteiligten vorzugsweise des vermeintlich Schwächeren - machen. Und hinsichtlich der von ihr angestellten Analyse stellt Quasthoff fest, diese habe gezeigt, daß Unzufriedenheit an einer jeweils bestehenden untersuchten Praxis, die implizit oder explizit mit dem Denkmodell der ,Verzerrung' der Kommunikation in

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Institutionen gegenüber der (,herrschaftsfreien'?) Alltagskommunikation begründet wird, nicht haltbar ist. Eine Klinik-Interaktion ist nur in dem Maße eine gute KlinikInteraktion, in dem sie eine professionelle und eben keine Alltagsinteraktion ist. Versuche von Patienten, diesen Rahmen zu einem privaten umzudefinieren [...], müssen scheitern, und zwar im Interesse der Zwecksetzung der Institution (Quasthoff 1990, 79). 2.12 Klinik (Krankenhaus): Das medizinische Aufklärungsgespräch In Krankenhäusern, Kliniken, Sanatorien etc. finden Gespräche nicht nur während der Visite statt - und die stattfindenden Gespräche haben auch beileibe nicht alle die Form eines verhinderten Dialogs, wie sie aus der Visite bekannt ist. Zu den anderen in Krankenhäusern etc. geführten Gesprächen gehört z.B. auch das medizinische Aufklärungsgespräch. Wann und zu welchem Zweck wird es geführt, und welche Handlungsstrukturen weist es auf? Medizinische Aufklärungsgespräche werden vor operativen Eingriffen geführt. Durch das Gespräch soll sichergestellt werden, daß der Patient weiß, welche Erkrankung bei ihm vorliegt, welche Eingriffe geplant sind, aber auch welche Gefahren und Risiken mit der Operation verbunden sind. In einem engeren Sinne haben die Gespräche das institutionell bedingte Ziel, den Patienten in die Lage zu versetzen, die von den Ärzten vorformulierte Einverständniserklärung zur Operation zu verstehen und zu unterschreiben. (Hindelang 1986,143) Medizinische Aufklärungsgespräche lassen sich in zwei Phasen einteilen: „In der ersten Phase steht die Information durch den Arzt im Vordergrund, in der zweiten Phase wird der Patient aufgefordert, Fragen zu stellen. Am Ende händigt der Arzt dem Patienten die Einverständniserklärung mit der Bitte aus, diese zu unterschreiben" (Hindelang 1986,143f.). Die Verläufe medizinischer Aufklärungsgespräche haben, zumindest in ihrer ersten Phase, „eine vergleichsweise einheitliche Struktur" (Hindelang 1986, 145): „Die Gesprächsverläufe zeigen, daß der Arzt nach Zwischenfragen oder Initiativen des Patienten immer wieder zu den aus seiner Sicht wesentlichen Aufklärungsinformationen zurückkommt" (Hindelang 1986, 145). Sich an den Aufbau der vorbereiteten Einverständniserklärung anlehnend, folgt der Arzt dem folgenden quasi-monologischen Muster: er informiert über die Krankheit, er informiert über den vorgesehenen Eingriff, er informiert über die damit verbundenen Gefahren, er fragt den Patienten, ob dieser von sich aus noch Fragen hat, und er fordert den Patienten auf, die vorbereitete Einverständniserklärung zu lesen und zu unterschreiben (vgl. Hindelang 1986,145). Dabei ist zu beachten, daß die ersten drei Muster jeweils in Gestalt umfangreicherer Wortbeiträge realisiert werden (zu deren Feinstruktur siehe Hindelang 1986,146f.). Die Reaktion der Patienten auf die ihnen dargebotenen Informationen lassen sich zunächst durch die folgenden vier Reaktionszüge erfassen. Der Patient kann: -

rezipierend reagieren, d . h . Verständnis oder Nicht-Verständnis ausdrücken; er kann stellungnehmend reagieren, d . h . bewertende oder emotionale Einstellungen verbalisieren; er kann

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informationsvertiefend reagieren, d.h. nach weiteren Details, nach Konsequenzen, Ursachen, Bewertungen durch den Arzt etc. fragen - und er kann informationsproblematisierend reagieren, d.h. die ihm dargebotenen Informationen zurückweisen, bezweifeln oder korrigieren (vgl. Hindelang 1986,149f.).

Da dem Patienten ein Teil der ihm gegebenen Informationen in der Regel bereits bekannt ist, kann er zudem informationserweiternd reagieren, d.h. von sich aus weitere Informationen zur Sprache bringen (vgl. Hindelang 1986,151). Charakteristisch für medizinische Aufklärungsgespräche ist zudem, daß, in der Regel an ihrem Ende, die Zustimmung des Patienten zu dem geplanten Eingriff zu erfolgen hat. Dieser Umstand eröffnet die Möglichkeit, im Rahmen des Gesprächs das „aufgrund der überlegenen Fachkompetenz des Arztes und aufgrund der unterschiedlichen Betroffenheit immer als asymmetrische Kommunikation einzustufen" (Hindelang 1986, 151) ist - „in ein GEMEINSAM-PLANEN-Spiel einzusteigen. Der Patient kann ζ. B. ZWEIFEL, BEDENKEN oder EINWÄNDE äußern. In Einzelfällen sind auch explizite GEGENVORSCHLÄGE, die die Therapie betreffen, zu beobachten" (Hindelang 1986, 151). Es werden zuweilen z.B. auch Vorwürfe, Bitten oder Klagen vorgetragen (vgl. Hindelang 1986,153). Mit der Kommunikation zwischen Ambulanzschwestern und Ärztinnen befassen sich Lalonschek/Menz/Wodak (1988). Da eine Kommunikation dieser Art zwischen Mitgliedern einer Institution, die in der Institutionshierarchie unterschiedliche Positionen innehaben, abläuft, nicht aber, wie in den hier besprochenen Arbeiten, an der „Schnittstelle [...] zwischen Klient und Institution" (Lalonschek/Menz/Wodak 1988, 171), sei auf diese Untersuchung hier lediglich verwiesen. (Zur Arzt-Patient-Kommunikation s. ζ.B. auch Lörcher 1984 und Löning/Sager 1986).

3.

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16. Dialoge in Institutionen

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Münster

17. Beziehungsgestaltung in Dialogen

1. 2. 3. 4. 4.1 4.2 4.3 5.

Zur Forschungsgeschichte Zu den Begriffen .Beziehung' und ,Beziehungsgestaltung' Zur Varianz von Beziehungskompetenzen und zur Dynamik von Beziehungen Bereiche linguistischer Untersuchungen zur Beziehungsgestaltung Beziehungsrituale und konventionelle Ausdrucksmittel der Beziehungsdefinition Beziehungszentrierte Dialogtypen Indirekte Formen der Beziehungsgestaltung Literaturhinweise

1.

Zur Forschungsgeschichte

Die Untersuchung der Beziehungsgestaltung im kommunikativen Austausch ist in der Bundesrepublik besonders befruchtet worden durch die in den 70er Jahren intensiv rezipierte Arbeit der mit Blick auf Probleme der Familientherapie und Schizophrenieforschung arbeitenden Autoren Watzlawick et al. (1969), in der als eines der „Axiome" der Pragmatik menschlicher Kommunikation formuliert wird: „Jede Kommunikation hat einen Inhalts- und einen Beziehungsaspekt" (ebd., 56). In einem weiteren Axiom wird die Annahme ausgedrückt, „daß der Inhaltsaspekt digital übermittelt wird, der Beziehungsaspekt dagegen vorwiegend analoger Natur" ist und daher überall, „wo die Beziehung zum zentralen Thema der Kommunikation wird, [...] sich die digitale Kommunikation als fast bedeutungslos" erweist (ebd., 64). Unter digitaler Kommunikation ist dabei etwas vereinfacht gesehen sprachliche Kommunikation zu verstehen, die analoge Modalität umfaßt demgegenüber parasprachliche und nonverbale Phänomene. Für die speziell an der Erklärung der Pathologien menschlicher Kommunikation interessierten Forscher sind nun „paradoxe Kommunikationen" besonders relevant, in denen die Botschaften, die auf den beiden Ebenen übermittelt werden, einander in einer Weise widersprechen, die den Rezipienten nicht nur in einen Interpretations- und Verhaltenskonflikt bringt, sondern ihm auch keine Chance läßt, sich ,richtig' zu verhalten, so etwa, wenn eine Mutter ihr Kind auffordert, auf den Schoß zu kommen, durch Gestik, Mimik und Tonfall aber feindselige Abwehr signalisiert (sog. „Doppel-

358

Κ. Adamzik

bindungstheorie"). Der Versuch, solche Formen gestörter Kommunikation im Rahmen eines generellen Erklärungsansatzes zu analysieren, der eben .Axiome menschlicher Kommunikation' überhaupt zu formulieren sucht, dürfte als der Hauptgrund dafür angesehen werden, daß der Ansatz von Watzlawick et al., der die psychotherapeutisch orientierte Fragestellung nirgends verleugnet, mit solcher Emphase in der Linguistik und der (Sprach-)Didaktik aufgegriffen wurde. Es mag als eine Ironie der Forschungsgeschichte aufgefaßt werden, daß damit jedoch zugleich ein genuin linguistischer Zugang zum Thema erschwert, z.T. gar verbaut wurde. Denn nicht nur kann eine pragmatisch ausgerichtete Sprachanalyse selbstverständlich nicht Sonderformen gestörter Interaktion ins Zentrum der Betrachtung stellen, sondern sie muß sich ja auch als gewissermaßen unzuständig betrachten, wenn axiomatisch festgelegt wird, daß sprachliche Mittel bei der Beziehungsgestaltung eine höchstens untergeordnete Rolle spielen. Bei der i.e.S. linguistischen Beschäftigung mit dem Thema hat man daher oft vorrangig auf andere Traditionsstränge zurückgegriffen, und zwar einerseits auf verschiedene Ansätze der Differenzierung von Sprachfunktionen, in denen eine - oft als elementar verstandene - „phatische" Funktion unterschieden wird, bei der die Herstellung oder Aufrechterhaltung sozialen Kontakts das Hauptgewicht habe (vgl. für genauere Nachweise Adamzik 1984, 11—26), andererseits auf das von dem amerik. Soziologen Erving Goffman ausgearbeitete Konzept der „Imagearbeit", dessen Kategorien sich für konkrete Analysen als besonders fruchtbar erwiesen haben und die eine besondere Rolle in den Forschungen zur sprachlichen Höflichkeit spielen, unter die heute die relevanten Arbeiten zu dem hier diskutierten Generalthema (zumindest bibliographisch) am ehesten subsumiert werden. Die bei näherem Hinsehen relativ problematischen und speziell für linguistische Forschung z.T. wenig ergiebigen Ausführungen von Watzlawick et al. haben zu einer oft scharfen Kritik geführt (vgl. u. a. Ziegler 1977; Sager 1981, Kap. 3; Adamzik 1984, Kap. 1), die freilich nicht verhindert hat, daß man bei eher pauschalen oder punktuellen Hinweisen zur Bedeutung des Beziehungsaspekts noch immer auf die Arbeit dieser drei Autoren als eine Art Standardwerk zurückgreift, eine Rezeptionshaltung, die einerseits den ,forschungsgeschichtlichen Zufall' widerspiegelt, daß es nun einmal dieses Buch war, durch dessen Diskussion der Blick für Beziehungsphänomene auch im linguistischen Sektor geöffnet bzw. geschärft wurde, die aber andererseits auch die Tatsache reflektiert, daß die Lektüre dieses ein breites Publikum ansprechenden Buchs überaus anregend ist. Für spezialisiertere Untersuchungen im Bereich der Dialoganalyse ist von einer unreflektierten Übernahme der eingängigen Axiome und Termini von Watzlawick et al. jedoch abzuraten, da die Autoren unbefangen Modellbildungen aus unterschiedlichen Wissenschaftsbereichen .parallelisieren' und dabei großenteils mit einer äquivoken Begrifflichkeit (vgl. dazu v.a. Ziegler 1977) arbeiten, die immer wieder zu Verwirrung Anlaß gibt. Dies gilt auch für den hier zentralen Begriff der .Beziehung'.

17. Beziehungsgestaltung in Dialogen 2.

359

Zu den Begriffen .Beziehung' und ,Beziehungsgestaltung'

Sager (1981, 78—98) hat sich des näheren mit verschiedenen Lesarten des Begriffs ,Beziehung' bei Watzlawick et al. kritisch auseinandergesetzt. Mir scheint am folgenschwersten die von Säger allerdings nicht explizit thematisierte Qualifizierung des Beziehungsaspekts als einer ,Metakommunikation' zu sein, die sich aus einer Anlehnung an Konzepte aus Mathematik, Logik und Computertechnik ergibt. Für die Annahme, daß der (analog übermittelte) Beziehungsaspekt erkennen lasse, wie das sprachlich Übermittelte .aufzufassen' sei, werden so unterschiedliche Phänomene wie das (Vor-)Wissen, ob der Partner wahrheitsliebend ist oder nicht, para- und nonverbal zum Ausdruck kommende Freundlichkeit, Ironie u. dergl. angeführt, kurz: es wird ein so weiter Phänomenbereich angesprochen, der sich zudem z. T. so weit von alltagsweltlichen Vorstellungen über das, was Beziehung sei, loslöst, daß die Begriffsbestimmung von Watzlawick et al. für konkrete linguistische Analysen nicht mehr praktikabel ist. Um ein auch für spätere Überlegungen noch relevantes Beispiel dafür zu geben, daß die damit angedeutete Gefahr einer begrifflich-sachlichen Verwirrung nicht nur latent vorhanden ist, sei auf den Beitrag von Burkhardt (1986) zur Klassifikation von Fragen verwiesen. Er unterscheidet als zwei Haupttypen .strukturelle (phatische)' und .inhaltliche Fragen'. Die erste Gruppe, zu der verständnissichernde, bestätigungsheischende und Echofragen gehören, „regeln rein die Beziehungsebene im Gespräch, sichern Kontakt, Aufmerksamkeit und Konsens" (ebd., 39). Diesen nach Burkhardt v.a. gesprächsorganisatorisch bedeutsamen Fragen wird nun - m.E. unverkennbar im Gefolge der Gleichsetzung von Beziehungsaspekt und Metakommunikation bei Watzlawick et al. Beziehungsrelevanz zugesprochen, während z.B. die perfide Frage, die „lediglich der öffentlichen Bloßstellung oder Beschämung des Adressaten dienen soll" (ebd., 41) unter die anscheinend ,beziehungsneutralen' inhaltlichen Fragen subsumiert wird. M. E. ist es sinnvoller, bei der Frage nach der Beziehungsgestaltung in Dialogen an ein alltagssprachliches Konzept von Beziehung (vgl. dazu Sager 1981, 161—176) anzuschließen, das in sich schon weit genug ist, indem es sowohl sozial vorgeprägte Rollenverhältnisse (Chef-Untergebener) als auch individuell geprägte persönliche Beziehungen (gute Bekannte), sowohl dauerhafte (Mutter) als auch höchst instabile (ein .Unterhalter' im Eisenbahnabteil) Beziehungen und schließlich auch den weiten Bereich der relativ dauerhaften (Sympathie) oder temporären (Ärger) psychischen Einstellungen und Reaktionen auf das Gegenüber umfaßt (vgl. dazu weiter Adamzik 1984, Kap. 4.1). Ein so weitgespannter Begriffsinhalt, der sowohl Rollenverhältnisse als auch Einstellungen umgreift, mag auf den ersten Blick für konkrete Analysen als unpraktisch erscheinen; er wird hier jedoch propagiert, weil er nicht nur dem alltagssprachlichen Begriff von ,Beziehung' nahe kommt, sondern sich auch aus sachlichen Gründen aufdrängt. Rollenbeziehungen und psychische Einstellungen sind nämlich faktisch so eng miteinander verzahnt, bedingen sich wechselseitig so fundamental, daß ihre Trennung nur analytisch möglich ist. Da es in diesem Beitrag jedoch weniger darum gehen kann, einen konkreten analytischen Ansatz, der sich auf einen Aspekt konzentriert, vorzustellen, sondern es mehr darauf ankommt, das Feld, in dem verschiedene Zu-

360

Κ.

Adamzik

gangsweisen einen Platz finden können, abzustecken, müssen die verschiedenen beziehungsrelevanten Elemente gleichermaßen einbezogen werden. Zur weiteren Klärung des Beziehungsbegriffs ist es notwendig zu bestimmen, in welchem Verhältnis Beziehung und (kommunikatives) Verhalten zueinander stehen. Nach Sager (1981, 82ff.) lassen die Ausführungen von Watzlawick et al. auch die Interpretation zu, nach der „Kommunikation mit Beziehung einfach identifiziert, indem Kommunikation mit Verhalten gleichgesetzt wird" (ebd., 82). Er selbst schlägt demgegenüber vor, .Beziehung' nicht als ein einzelnes Kommunikationsereignis aufzufassen, sondern als „die Menge konkret beobachtbarer verbaler (und nonverbaler) Verhaltensweisen, die Menschen im Umgang miteinander zeigen" (ebd., 179; i.O. unterstrichen), eine Definition, die dann noch durch weitere Bestimmungen wie die, daß es sich um einen Prozeß aufeinander orientierter Verhaltensweisen handelt, ergänzt wird. Die damit vorgenommene Rückführung der Beziehung auf beobachtbare Verhaltenseinheiten soll verhindern, daß ,Beziehung' als ein intrapsychisches Phänomen aufgefaßt wird, „was sich dann lediglich nur in Erlebniskategorien fassen ließe" (ebd., 180). Daß es Säger besonders darum zu tun ist, ,Beziehung' an kommunikative Verhaltenseinheiten rückzubinden, scheint mir überaus sinnvoll und tatsächlich erst die Gewähr dafür zu bieten, daß das Phänomen auch einer linguistisch-pragmatischen Analyse zugänglich wird. Dennoch müssen seine Bestimmungen m.E. in zweierlei Hinsicht abgeändert bzw. ergänzt werden. Zunächst ist es wenig sinnvoll,,Beziehung' auf beobachtbare Einheiten reduzieren zu wollen, und die Ausführungen Sagers lassen darauf schließen, daß er dies auch selbst in letzter Konsequenz nicht tut. Für ihn stellt sich der Prozeß, nach dem man zu einem Wissen bzw. einer Annahme über die Beziehung kommt (und diese dann - als Sprecher - qualifiziert), nämlich folgendermaßen dar: Der Sprecher erlebt das Verhalten bestimmter Personen [...]. Dieses Verhalten stellt sich ihm dar als eine unbestimmt große Menge spezifischer einzelner Handlungen. Der Sprecher interpretiert nun sowohl die einzelnen Handlungen wie auch die Gesamtmenge aller ihm in seiner Erfahrung gegebenen Handlungen der betreffenden Personen nach bestimmten sozial wie individuell bedingten Normen und Konventionen. [...] Aufgrund dieser erfahrenen und gedeuteten Handlungen kommt der Sprecher zu Urteilen über das Verhalten bestimmter Personen, die dann ihren Ausdruck finden in Wendungen wie „sich lieben" [...], „Kommilitonen sein" etc. [...] Diese zusammenfassenden Urteile vom jeweils erfahrenen Verhalten stellen dann das Bild dar, das der Sprecher sich von einer bestimmten Beziehung gemacht hat. (ebd., 177f.) Das Wissen um eine Beziehung, ein Urteil darüber - so wird hier klar hervorgehoben - , ist das Ergebnis eines Deutungsprozesses. Der materielle Gegenstand dieses Prozesses sind ausschließlich beobachtbare Verhaltensweisen, und wir können durchaus zugestehen, daß diese beobachtbaren Verhaltensweisen auch der einzige materielle Ausdruck für die Beziehung selbst sind. Doch folgt daraus keineswegs, daß die Beziehung mit diesen beobachtbaren Daten zusammenfällt, daß, wie Sager meint, die „Beziehung [...] das Verhalten i s t " (ebd., 179; i.O. gesperrt). Eine Menge von (beobachteten) Verhaltensweisen ist zunächst eine Menge von (beobachteten) Verhaltensweisen - und sonst nichts. Erst der Versuch, diese gemäß einem bestimmten Deutungssystem zu

17. Beziehungsgestaltung in Dialogen

361

interpretieren, macht diese Menge von Verhaltensweisen zu einem kategorial anderen Etwas, nämlich einer ,Beziehung', ebenso wie es bereits einer deutenden Kategorisierung bedarf, um ein empirisch gegebenes und beobachtbares komplexes Faktum, das selbst auch schon mit keineswegs selbstverständlichen sprachlichen Kategorisierungen belegt werden muß, als eine bestimmte kommunikative Verhaltenseinheit zu erfassen (man führe sich z.B. vor Augen, was eigentlich ,objektiv/neutral' an Verhaltensweisen beobachtbar ist, wenn es um eine Verhaltensweise geht, die wir als ,Gruß per Handschlag' kategorisieren). .Beziehung' ist somit als gedeutete Menge von Verhaltensweisen zu definieren. Die zweite Erweiterung der Sagerschen Definition betrifft die Frage, inwieweit Beziehungen und Urteile darüber unter Rückgriff auf aktualisierte (und beobachtete) Verhaltensweisen zu definieren sind. So sinnvoll es ist, das empirisch zugängliche Korrelat einer Beziehung als eine Menge von Verhaltensweisen aufzufassen, so problematisch ist es, von den Einheiten dieser Menge reale Existenz zu fordern. So wenig es uns heute sinnvoll erscheint, eine Sprache als die Menge der in dieser Sprache geäußerten Sätze aufzufassen - wir können sie als die Menge der in dieser Sprache möglichen Sätze definieren - , so fragwürdig ist es, eine Beziehung anders als über die Menge der in dieser Beziehung möglichen Verhaltensweisen zu charakterisieren. Wie sollte es sonst möglich sein, daß Interaktionspartner sich bei einer einmaligen oder einer Erstbegegnung, wo ja noch (fast) keine beobachteten aufeinander bezogenen Handlungen vorliegen, im sozialen Raum orientieren und situationsadäquat agieren? Tatsächlich liegt auch bei einer Erstbegegnung, d.h. vor aller Erfahrung des kommunikativen Verhaltens des konkreten Gegenübers, eine Situationsdefinition vor, die eine Beziehungsdefinition impliziert und damit eine Vorstellung darüber, welche Verhaltensweisen möglich, zulässig, ,normal' wären. Das konkret aktualisierte Verhalten des Gegenübers wird dann mit dieser Vorstellung verglichen, und diese Beobachtungen geben mitunter Anlaß, die Eingangsvorstellung zu revidieren und daraufhin u.U. für das eigene Verhalten andere Möglichkeiten zuzulassen oder zunächst für möglich gehaltene auszuschließen. .Beziehung' soll also hier als gedeutete Menge von möglichen partnerorientierten Verhaltensweisen bestimmt werden. Sie wird damit in der Tat als intrapsychisches Phänomen aufgefaßt, wodurch sie jedoch nicht zu einer .Erlebniskategorie' wird, sondern zu einer (das Verhalten steuernden) Vorstellung darüber, welches Verhalten angemessen ist, und sie gewinnt damit einen ähnlichen Status wie Elemente der individuellen Sprachkompetenz. Wir können damit so etwas wie eine ,Beziehungskompetenz' ansetzen, zu der die Fähigkeit gehört, beobachtetes Verhalten als Beziehung zu deuten, es auf seine Angemessenheit hin zu beurteilen, ferner selbst Beziehungen einzugehen, zu verändern, abzubrechen, d.h. konkrete Verhaltensweisen zu zeigen, die diese Kompetenz aktualisieren. Ebenso wie die Sprachkompetenz kann diese Beziehungskompetenz von den kompetenten Individuen nur teilweise expliziert werden. Dies führt auf einen letzten Aspekt, der unter der Frage, was unter Beziehung und Beziehungsgestaltung zu verstehen sei, kurz angesprochen werden soll, inwieweit nämlich Beziehungsgestaltung einen intentional vollzogenen Verhaltensaspekt darstellt und Beziehungen sowie beziehungsrelevantes (sprachliches) Verhalten bewußt reflektiert werden. Freilich ist die einzig mögliche

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Κ.

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Antwort auf diese Frage die, daß es eine eindeutige Antwort nicht gibt, mit anderen Worten: der Bewußtheitsgrad, mit dem sowohl das eigene Verhalten auf seine Beziehungsrelevanz hin befragt als auch fremdes Verhalten entsprechend gedeutet wird, ist überaus variabel und bildet damit lediglich als solcher eine relevante Kategorie bei der Beschreibung konkreter Interaktionsabläufe. Es scheint mir daher auch müßig, Spekulationen darüber anzustellen, was hier als ,Normalfall' zu gelten hätte, zumal es mangels klarer äußerer Anhaltspunkte über entsprechende Gewohnheiten anderer nur allzu naheliegt, den eigenen Bewußtheitsgrad für normal zu halten und ihn auf andere zu projizieren. Als sicher kann nur gelten, daß der Reflexionsgrad individuell bzw. gruppenspezifisch sowie situationsspezifisch variiert. Man denke hier z.B. an die Konsequenzen, die eine psychologische (Aus-)Bildung auf das Deutungsverhalten haben kann; der Unterschied, mit dem die beiden Geschlechter entsprechende Phänomene wahrnehmen und bearbeiten, ist bereits zum Gemeinplatz geworden, und es ist evident, daß die Konzentration auf Beziehungsphänomene tendenziell überall dort ansteigt, wo ein latenter oder gar aktueller Beziehungskonflikt sichtbar wird. Unabhängig davon, mit welchem Bewußtheitsgrad die Interaktanten tatsächlich Beziehungen gestalten, ist jedoch die Frage zu beurteilen, in welchem Modellrahmen das Phänomen der Beziehungsgestaltung bei der wissenschaftlichen Beschreibung zu fassen ist. Da es dabei letzten Endes darum geht, die Beziehungskompetenz zu explizieren, scheint es mir sinnvoll, hier grundsätzlich so vorzugehen, als ob die Beziehungsgestaltung ein bewußter Akt wäre (so etwa Adamzik 1984, Kap. 4.2). Diese Als-ObAnnahme ist jedoch nur ein methodisches Verfahren, das nichts darüber präjudiziert, welcher Bewußtheitsgrad tatsächlich vorliegt. Auch wenn z.B. Goffman (1978) - und an ihn anschließende Forscher - bei der Beschreibung von „Techniken der Imagepflege" (diese stehen in engem Zusammenhang mit der Beziehungsgestaltung, erfassen den Bereich der dabei interessierenden Phänomene jedoch nicht erschöpfend) von Strategien spricht, so ist damit gerade nicht notwendig vorausgesetzt, daß es sich um einen intentionalen Akt handelt. Unabhängig davon, ob jemand eine Verhaltensstrategie verfolgen will, wird ihm eines Tages bewußt werden, daß er in Wirklichkeit immer schon einer solchen folgt. Die anderen nehmen in der Regel an, daß er mehr oder weniger absichtlich eine bestimmte Position vertritt. (Goffman 1978,10) Ob wir tatsächlich alle früher oder später merken, welcher (unbewußten) ,Strategie' wir schon immer gefolgt sind, bleibe hier dahingestellt; und auch die Frage, ob den anderen ihre Deutungen des Fremdverhaltens bewußt sind oder ob es sich wiederum um eine Als-Ob-Annahme handelt, ist für das grundsätzliche methodische Vorgehen nicht entscheidend und einer eindeutigen Beantwortung auch nicht zugänglich, insofern Deutungen ja nicht notwendigerweise verbalisiert werden. Im Gegenteil: Es muß sogar davon ausgegangen werden, daß ein großer Teil auch der bewußten Verhaltensweisen und Deutungen sehr absichtsvoll nicht verbalisiert wird. Denn soziale Beziehungen und ihre (bewußte) Veränderung sind ein überaus heikles Phänomen, das in weiten Teilen einem Tabu unterliegt. Wie jedes Tabu (zumindest ursprünglich) einen guten Sinn hat, so auch dieses: In bestimmten Beziehungen zu stehen, insbesondere

17. Beziehungsgestaltung in Dialogen

363

gute oder enge Beziehungen zu bestimmten Partnern zu haben bzw. solche zuzulassen ist ein sozialer Wert, der für das Image (im Sinne Goffmans) beider Partner entscheidende Bedeutung hat. Wer sich bestimmter Beziehungen rühmen kann, dessen sozialer Wert steigt; wer sich vergebens bemüht, eine Beziehung zu einem anderen aufzubauen, dessen sozialer Wert sinkt. Überdies steigt in der Regel (in gewissen Subkulturen gilt das Gegenteil) das Image dessen, der i. a. mit anderen gut auskommt. Es liegt damit oft im Interesse beider Partner, die Beziehungsgestaltung nicht offen vorzunehmen, damit wenigstens beide das Gesicht wahren können, wenn die potentielle Imagebedrohung Realität wird. Auch wenn die (einseitig) gewünschte Beziehungsentwicklung nicht zustandekommt, kann - bei verdeckt gehaltener Beziehungsgestaltung, zu der nicht selten das Leugnen der tatsächlichen und durchaus bewußten Absicht gehört - einer damit einhergehenden Schädigung des Images eines oder beider Partner vorgebeugt werden. Von hier aus erklärt sich auch, daß das Ausmaß, in dem über Beziehungen offen gesprochen wird, keineswegs als Gradmesser für die Bewußtheit und auch die eventuelle Problematik der Beziehung(sgestaltung) gelten kann und daß explizite und absichtlich herbeigeführte Gespräche über die Beziehung und ihre Probleme zu einem Ritual degenerieren können, in dem die eigentliche Beziehungsgestaltung wiederum auf einer verdeckten Ebene abläuft und sich darin ausdrückt, wie gesprochen wird, während das, was explizit über die Beziehung gesagt wird, fast irrelevant für die Entwicklung der Beziehung werden kann. Für die linguistische Analyse wird es daher umso wichtiger, den verdeckten Formen der Beziehungsgestaltung nachzuspüren.

3.

Zur Varianz von Beziehungskompetenzen und zur Dynamik von Beziehungen

Die oben skizzierte Sichtweise, nach der Beziehungen intrapsychische Deutungen von kommunikativen Verhaltensweisen auf der Grundlage individueller Beziehungskompetenzen sind, scheint mir besonders geeignet, dem dynamischen Charakter der Beziehungsgestaltung in kommunikativer Interaktion und damit auch der relativen Labilität bzw. Offenheit zwischenmenschlicher Beziehungen überhaupt Rechnung zu tragen. Daß diese umso größer ist, je mobiler eine Gesellschaft ist, je weniger rigide (kommunikative) Verhaltensweisen vordefiniert sind, versteht sich von selbst. Zur ohnehin schon sehr hohen sozialen Mobilität der modernen postindustriellen Gesellschaft gesellt sich nun in immer stärkerem Ausmaß eine Mobilität im Raum, die Individuen aus unterschiedlichen Sprach- und Kommunikationskulturen für kürzere oder längere Zeitabschnitte oder auch endgültig zusammenführt, Individuen, die auch unterschiedliche Beziehungskompetenzen haben, denn letztere haben sich selbstverständlich in der Sozialisation in der eigenen (Sub-)Kultur ausgebildet (wozu noch die Besonderheiten der individuellen Lebenserfahrung hinzukommen; diesen Aspekt hebt Kreis (1985) besonders hervor). Die sich dadurch ergebenden und u. a. für einen kommunikativ orientierten Fremdsprachunterricht relevanten Probleme werden in den Forschungen zur interkulturellen

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Kommunikation (vgl. Rehbein 1985; Asante/Gudykunst 1989) reflektiert. Daß solche Studien und ein entsprechender Unterricht, selbst wenn sie die wesentlichen Elemente einer durchschnittlichen Beziehungskompetenz der Fremdkultur explizieren können, nicht notwendig den Abbau von Irritationen und Konflikten in interkultureller Kommunikation nach sich ziehen, dürfte nicht nur daran liegen, daß für Beziehungsverhalten dasselbe gilt wie für Sprachverhalten: das bewußte Studium von Regeln und kognitive Regelkenntnis sind nicht der beste Garant für adäquate Performanz. Vielmehr spielt wohl auch eine entscheidende Rolle, daß die Verhaltenskonventionen der eigenen Kultur den Individuen meist als die natürlicheren' erscheinen und die Abweichung davon - auch wider besseres Wissen - als unhöflich,,seltsam' oder gar bedrohlich empfunden werden kann. Die bekannten kulturellen Unterschiede (z.B. in bezug auf die zulässige und ,normale' körperliche Distanz und den Körperkontakt, die übliche Lautstärke von sprachlichen Interaktionen oder die Frage, inwieweit man anderen Zugang zur eigenen Privatwohnung gestattet) können von der einen Seite als bedrohliche Verletzung der Intimsphäre, des privaten .Territoriums', von der anderen Seite als kühl-unfreundlich-feindseliger Habitus wahrgenommen werden. Zu diesen bei Kontakten zwischen Angehörigen unterschiedlicher Kulturen besonders bedeutsamen Problemen kommen nun diejenigen hinzu, die sich aus Elementen ergeben, die jedweder Interaktion eignen. Es wurde schon oben darauf hingewiesen, daß ein interaktionskompetentes Individuum (wir wollen hier absehen von der Frage, wie diese Kompetenz erworben wird, wie also etwa Kinder in das soziale Beziehungsnetz hineinwachsen) in jede Interaktion, d.h. auch in solche mit einem noch völlig unbekannten Partner, mit einer vorgängigen Beziehungsdefinition hineingeht, die sich aus seinen früheren Erfahrungen in ähnlichen Situationen und/oder aus Wissen aus zweiter Hand bzw. Analogien zu ähnlichen Situationen ergibt. Das Individuum kategorisiert die Situation in bestimmter Weise und schreibt dabei sich und dem Partner bestimmte Rollen und - damit verbunden - eine Menge von erwartbaren Verhaltensweisen zu. Ohne vorgängige Erfahrung im kommunikativen Austausch mit dem konkreten Partner oder Wissen aus zweiter Hand über dessen typisches Verhalten kann das Individuum ihm im Grunde nur solche Verhaltensweisen zuschreiben, die unmittelbar spezifisch für seine jeweilige soziale Rolle sind. Der Terminus ,soziale Rolle' soll dabei in einem sehr weiten Sinn verstanden werden und neben institutionsspezifischen Rollenbeziehungen (z.B. Lehrer-Schüler) auch Beziehungen umfassen wie Vater-Sohn, Nachbar, Passant, guter Bekannter, Freund etc., die überdies miteinander kombiniert auftreten können, was jede konkrete Relation zu einer (potentiell) sehr komplexen Größe macht. Nun ist freilich (auch den Interaktanten) klar, daß mit der sozialen Rolle nur bestimmte Eckwerte vorgegeben sind, anders gesagt: eine soziale Rolle wird notwendigerweise individuell ausgestaltet, d. h. individuell spezifische Verhaltensweisen überlagern und ergänzen den durch die soziale Rolle vordefinierten Verhaltensbereich. Diese individuell typische und relativ dauerhafte Rollenausgestaltung, die wesentlich ist für das Selbstbild und das Image des Interaktanten, wird nun nochmals durch zwei weitere Faktoren überlagert. Erstens kann ein Interaktant von seinem typischen Verhalten aktuell, und zwar aufgrund ,zufälliger' Faktoren, seiner jeweiligen

17. Beziehungsgestaltung in Dialogen

365

Tagesform, Laune etc., mehr oder weniger stark abweichen. Zweitens wird er sein individuell typisches Rollenverhalten, das ihm in der Regel immer noch einen breiten Spielraum läßt, an den jeweiligen Interaktionspartner anpassen. Hier kommen Einstellungen zum Gegenüber (wie Sympathie und Antipathie) zur Geltung, die sich bei einer Erstbegegnung unmittelbar einstellen oder sich auch in der gemeinsamen Kommunikationsgeschichte langsam ausbilden und verändern können. Wir haben damit vier verschiedene Faktoren - soziale Rolle, individuelle Rollengestaltung, Tagesform, psychische Einstellungen zum Gegenüber - , die das aktuelle Verhalten eines Individuums (A) beeinflussen und von denen der Partner (B) zunächst nicht unbedingt wissen kann, welcher Faktor für eine bestimmte Verhaltensweise verantwortlich zu machen ist. Die Situation kompliziert sich dadurch, daß Β jeweils auch eine bestimmte Beziehungsdefinition in die Situation einbringt und daß beide zudem bestimmte Vorstellungen darüber haben bzw. im Laufe der Zeit entwickeln, welche Beziehungsdefinition der andere hat, was also A darüber glaubt, welches die von Β ist; was A darüber glaubt, was Β glaubt, daß A glaubt usw. - diese Vorstellungen lassen sich theoretisch ebenso ad infinitum weiterführen wie die Vorstellungen über das Selbst- und Fremdbild, die ja in die Beziehungsdefinition eingehen. Der einfachste Fall für die weitere Beziehungsgestaltung liegt selbstverständlich vor, wenn die vorgängigen Beziehungsdefinitionen einander weitgehend entsprechen. Selbst dann bleibt die Beziehung jedoch - sofern weitere Interaktionen stattfinden nicht statisch, da ja (abgesehen von ,Störungen', die durch Schwankungen in der Tagesform bedingt sind) immerhin auch abzutasten ist, welche Besonderheiten die individuelle Rollengestaltung denn nun hat und welche Einstellung der Interaktant zur Person des Gegenübers hat bzw. entwickelt. Und auch wenn die drei zur sozialen Rolle hinzukommenden Faktoren gelegentlich eine nur sehr untergeordnete Rolle spielen, d.h. wenn das Individuum als Person soweit als möglich hinter seine soziale Rolle zurücktritt, so ist dies eine spezifische Form individueller Rollengestaltung, trägt dies zum spezifischen Image bei und ist dies eine spezifische Form einer interindividuellen Beziehung. Stimmen die Beziehungsdefinitionen nicht überein, so werden die Interaktanten - mit mehr oder weniger großem Erfolg - im weiteren Austausch entweder versuchen, sowohl ihr Verhalten als auch ihre jeweiligen Beziehungsdefinitionen stärker aneinander anzupassen oder ihre eigene Vorstellung gegen die des anderen durchzusetzen. Dieser Prozeß wird dadurch kompliziert, daß Interaktanten nicht nur inhaltlich unterschiedliche Vorstellungen darüber haben können, was in einer gegebenen Konstellation üblich oder erwartbar ist, sondern auch - individualspezifisch - die verschiedenen Faktoren unterschiedlich stark gewichten können. So gibt es ζ. B. einen Typ von Mensch, der ,immer alles gleich persönlich nimmt', also den Faktor der psychischen Einstellung, die er beim Gegenüber auslöst, überbewertet, einen anderen, der im Gegenteil dazu tendiert, etwaige Störungen grundsätzlich der psychischen (Fehl-)Struktur des anderen anzulasten - hier wird die Komponente individueller Rollengestaltung überbewertet - und einen Typ, der dazu tendiert, Faktoren, die die Individualpsychen, u. U. auch den Persönliches tangierenden Bereich der Beziehungsgestaltung überhaupt, betreffen, insgesamt unterzubewerten und etwaige Störungen

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Schwankungen in der Tagesform zuzuschreiben, die nicht weiter gedeutet oder ernst genommen werden müssen. Zur konkreten Exemplifizierung stelle man sich ein Individuum vor, das an einem Tag als Zeuge vor Gericht geladen ist, als Student zum ersten Mal an einem Hochschulseminar teilnimmt, als Kunde in einem Bäckerladen, den er sonst nicht frequentiert, ein Stück Kuchen kauft und am späten Abend in einem Bus auf einen einzigen weiteren Fahrgast trifft. Bei Beginn aller vier Interaktionen ist für dieses Individuum klar erwartbar, daß eine bestimmte Menge von eigenen und fremden Verhaltensweisen unausweichlich ist: Der Richter wird Fragen stellen, der Zeuge wird antworten, der Seminarleiter wird etwas über den Gegenstand des Seminars und den organisatorischen Ablauf sagen, der Student - entsprechend seinem individuellen Rollengestaltungsplan, den er ja kennt - versuchen, erste Kontakte zu Mitstudenten aufzunehmen, der Kunde wird seinen Wunsch formulieren und vom Verkäufer die Ware ausgehändigt bekommen, der Fahrgast den Bus besteigen und am Zielort wieder verlassen usw. Viele andere Verhaltensweisen sind für dieses Individuum aber nicht sicher voraussehbar, und zwar insbesondere deswegen nicht, weil es mit der ersten Situation überhaupt nicht vertraut ist, mit der zweiten zwar noch keine persönlichen Erfahrungen hat, hier aber immerhin auf die ähnliche Situation in der Schule zurückgreifen kann. Außerdem hat es die konkreten Partner in allen vier Situationen noch nie gesehen, hat auch kein Wissen aus zweiter Hand über sie und weiß deswegen nichts darüber, welches ihr individuell typisches Verhalten ist. Noch weniger weiß es selbstverständlich, welches ihre jeweilige Tagesform ist oder wie sie wohl auf seine Person reagieren werden. Es hat lediglich ein (weitgehend unbewußtes) Bild davon, wie es selbst normalerweise auf andere wirkt. Am Beginn der vier Interaktionen könnte sich nun für dieses Individuum die Frage stellen, welches beziehungsrelevante Verhalten das Gegenüber wohl zeigen und von ihm erwarten wird. Ist es ζ. B. angemessen, alle vier Interaktionen mit einem Gruß zu eröffnen, hat der Zeuge das Recht/die Pflicht, als erster zu grüßen, sollte der Student einen eventuellen allgemeinen Gruß des Seminarleiters stumm entgegennehmen oder erwidern usw.? Nehmen wir an, daß unser Protagonist in allen vier Fällen nicht (wieder-)gegrüßt wird, so könnte er annehmen, daß es nicht üblich ist, Zeugenvernehmungen mit einem Gruß zu eröffnen (Spezifik der sozialen Situationsrolle), daß es zur individuell typischen Rollenausgestaltung des Seminarleiters gehört, die Seminarsitzungen nicht mit einem Gruß zu eröffnen, daß der Verkäufer einen schlechten Tag hatte und der andere Fahrgast ihn nicht gegrüßt hat, weil er ihm persönlich überaus unsympathisch erschien. Er kann sich selbstverständlich mit allen diesen Deutungen irren, was ihn nicht hindert, ihnen entsprechendes Folgeverhalten zu zeigen und z.B. den Seminarleiter für unsympathisch zu erklären, ab sofort dem Seminar fernzubleiben usw.

4.

Bereiche linguistischer Untersuchungen zur Beziehungsgestaltung

Im folgenden soll überblickartig dargestellt werden, welche Felder sich auf der Grundlage des bisher Ausgeführten für linguistische Untersuchungen eröffnen. Dabei können Ergebnisse bisher vorliegender einschlägiger Spezialstudien nicht im Detail referiert werden; dies soll durch bibliographische Hinweise kompensiert werden, die freilich aus Platzgründen nur in Auswahl gegeben werden können.

17. Beziehungsgestaltung in Dialogen

4.1

367

Beziehungsrituale und konventionelle Ausdrucksmittel der Beziehungsdefinition

Die Annahme, daß Beziehungsgestaltung in jedwedem kommunikativen Austausch von Bedeutung ist, oder anders gesagt: daß Interaktionen nicht auf ihre zweckrationale Komponente reduziert werden können, findet ihren offensichtlichsten Niederschlag darin, daß der ,eigentliche' sachorientierte Austausch von Elementen umrahmt ist, die die sozial notwendigen Vorbedingungen dafür schaffen, daß dieser Austausch überhaupt stattfinden kann. Es muß zunächst der Kontakt zum anderen hergestellt werden, und die Partner müssen sich ihrer gegenseitigen Wertschätzung und Kooperationsbereitschaft zumindest in dem Maße versichern, wie es das aktuelle Anliegen und u. U. zu erwartende spätere Interessen erfordern. Neben der notwendigen Einstimmung auf die Sachinteraktion, die am Beginn des Dialogs stattfindet, ist daher auch eine formelle Beendigung des Dialogs erforderlich, die die Fortdauer der grundsätzlichen Kommunikationsbereitschaft sichern soll. Für diese beiden eminent beziehungsrelevanten Stellen einer Interaktion sind in allen Gesellschaften Grußrituale entwickelt worden, die auch - als Minimum der Signalisierung von (fortdauernder) Kommunikationsbereitschaft - realisiert werden müssen, wenn sich die Partner zufällig begegnen und aktuell kein Interesse an sachorientiertem Austausch vorliegt. Die Dauer und die konkrete Ausgestaltung dieser Dialogteile variieren (sub-)kulturspezifisch, situativ und individuell sehr stark und können sich auf den einfachen Austausch einer Begrüßungs- und Abschiedsformel beschränken oder aber durch Erkundigungen nach dem Befinden sowie einen Austausch über relativ ,neutrale' Themen wie das hierfür sprichwörtlich gewordene Wetter mehr oder weniger stark ausgedehnt werden (vgl. Hartmann 1973; Knuf/Schmitz 1980; Coulmas 1981a, b; Werlen 1984; Klein 1987 und weiter Abschn. 4.2). Abgesehen von diesen obligatorischen Eckelementen finden sich beziehungsrelevante Sequenzen auch innerhalb von Dialogen, und zwar speziell dann, wenn irgendwelche ,Zwischenfälle' eingetreten sind, durch die soziale Verpflichtungen entstehen (z.B. Gefälligkeiten, auf die hin Dank abgestattet werden muß) oder die die Beziehung belasten oder das Image eines Interaktanten bedrohen (könnten) und die durch Korrektursequenzen (ζ. B. Entschuldigungen, vgl. dazu bes. Lange 1984) r e p a riert' werden müssen. Sie können aber auch - gewissermaßen präventiv bzw. allgemein beziehungssichernd/-bestätigend - an geeigneten Stellen in den Dialog eingestreut werden (z.B. Komplimente; vgl. dazu Manes/Wolfson 1981). Solche Formen der ,Imagearbeit' sind besonders in den Arbeiten Goffmans (vgl. v.a. 1978) beschrieben und von Holly (1979) ausführlich an deutschen Dialogbeispielen untersucht worden. Neben diesen speziellen beziehungsrelevanten Dialogsequenzen ist im Bereich der konventionalisiert-ritualisierten Ausdrucksformen v. a. auf Anredeformen hinzuweisen. Diese unterscheiden sich in zwei wesentlichen Hinsichten von den eben besprochenen Formen der ,Imagearbeit'. Erstens nämlich muß ein Teil von ihnen obligatorisch und zwar fortlaufend realisiert werden, wann immer der Partner direkt angesprochen wird; zweitens setzen sich die Anredesysteme aus einer beschränkten Anzahl vorgegebener diskreter Einheiten zusammen, die bestimmte Höflichkeitsstufen mar-

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kieren und die dementsprechend eine graduelle Abstufung in nur beschränktem Ausmaß erlauben. Grundsätzlich ist zu unterscheiden zwischen der Anrede mittels nominaler Formen (Eigennamen, Titel, Verwandtschaftsbeziehungen usw.) und den pronominalen Formen der zweiten Person (verbunden mit einer bestimmten Verbform). Während in den europäischen Sprachen nur letztere als grammatikalisierte Ausdrucksform für soziale Beziehungen gelten können (vgl. Vorderwiilbecke 1984), ist das grammatische System der Honorativa oder Soziativa in anderen Sprachen sehr viel differenzierter und umfaßt z.B. auch Affixe, die an Nomina, Adjektive usw. gehängt werden. Besonders differenziert ist das System im Japanischen (vgl. Nagatomo 1986). Das im Anschluß an die grundlegende Studie von Brown/Gilman (1960) in der Regel als fundamental betrachtete (kritisch dazu Kohz 1982, Kap. 4.2 und 4.3) Zweiersystem aus einer formellen (dt.: Sie) und einer informellen Form (dt. du) gibt insofern keineswegs einen einfachen Aufschluß über die vorliegende Beziehungsdefinition, als die formelle Form sowohl Ehrerbietung als auch Distanz, die informelle Form sowohl Herablassung als auch Vertrautheit ausdrücken kann. Zwischenstufen sind bei diesen Systemen nur insofern möglich, als die jeweils gewählten Formen reziprok oder nichtreziprok gebraucht werden können und sich mit unterschiedlichen Personenbezeichnungen verbinden lassen (z.B. Sie + Titel; Sie + Herr/Frau + Nachname; Sie + Vorname; du + Vorname; du + Spitzname). An weiterer Literatur sei Winter (1984) und v.a. die umfangreiche kommentierte Bibliographie von Braun/Kohz/Schubert (1986) genannt. Soweit die in diesem Abschnitt behandelten Höflichkeitsformen tatsächlich als ritualisierte verwendet werden, kann es nur darum gehen, die Konventionen der jeweiligen Sprachgemeinschaft und bestimmter Gruppen in ihr zu beschreiben und ihre Realisierung in konkreten Dialogen aufzuzeigen. Dies reicht jedoch nur dann aus, wenn die Beziehungskompetenzen und -definitionen der Interaktanten, soweit sie den Gebrauch dieser Höflichkeitsformen betreffen, übereinstimmen. In diesem Fall dient ihre Verwendung der notwendigen, aber völlig unproblematischen, ritualisiert (und daher weitgehend unbewußt) ablaufenden Bestätigung der vorhandenen Beziehung. Für Dialoganalysen besonders interessant sind aber die Fälle, in denen Unsicherheiten oder Differenzen in der Einschätzung dessen, was situationsadäquat wäre, vorliegen. In welchen Situationen muß man ζ. B. auch Fremde grüßen? Duzen Studenten einander nun grundsätzlich oder nicht, und gilt dies auch gegenüber erheblich älteren Mitstudenten (vgl. Bayer 1979)? Wie gehen die Interaktanten mit solchen Unsicherheiten um, und wie gehen sie vor, wenn sie die Beziehung (nach einer längeren gemeinsamen Kommunikationsgeschichte) ändern wollen - wie kommt man ζ. B. im Deutschen vom Sie zum DM? Bei der teilnehmenden Beobachtung von spontanen Dialogen lassen sich bestimmte Verhaltensmuster - z.B. die Vermeidungsstrategie, bei der man nicht Pronomina der 2. Person, sondern unpersönliche Formen wählt, oder (fingierte) Versprecher (Ach, jetzt hab ich einfach, du' gesagt) usw. - relativ oft beobachten ; allerdings dürfte es schwierig sein, ein Korpus entsprechender Aufnahmen zu erstellen, da solche Sequenzen für jedes Interaktantenpaar doch nur relativ selten vorkommen (ein Wechsel in der Anrede ζ. B. in der Regel nur einmal) und es sich allemal um heikle Stellen

17. Beziehungsgestaltung in Dialogen

369

handelt, die vor Fremdbeobachtung geschützt werden. Ergiebig könnte es u . U . sein, systematische Beobachtungen in Problemsituationen (Erstbegegnungen bei nicht rigide vorgegebener Beziehungsdefinition wie ζ. B. in Volkshochschulkursen, Reisegruppen und dergl.) anzustellen, wobei auch die Frage zu klären wäre, in welchem Ausmaß solche Unsicherheiten sofort explizit angesprochen werden und welche Wirkungen das auf die anderen Teilnehmer hat.

4.2

Beziehungszentrierte Dialogtypen

Während unter 4.1 beziehungsrelevante ritualisierte Sequenzen von Dialogen zusammengefaßt wurden, soll es in diesem Abschnitt um solche Dialoge gehen, bei denen die Beziehung(sgestaltung) im Vordergrund steht. Der Typ, der dabei immer zuerst genannt wird, ist eigentlich nichts anderes als eine expandierte und für sich stehende Form des Grußrituals. Gemeint ist natürlich der small talk (ausführlich analysiert von Schneider 1988). Kontrovers diskutiert wird bei dieser phatischen Kommunikation die Frage, ob die Beziehungsgestaltung bzw. -sicherung/-aufrechterhaltung als spezifische Funktion dieses Dialogtyps anzusehen ist oder ob es sich um einen Dialogtyp handelt, der gar keine Funktion i.e. S. hat, sondern sich selbst genügt, was zugleich die Frage aufwirft, inwieweit es überhaupt sinnvoll ist, Dialogtypen und Textsorten nach einem einheitlichen Konzept kommunikativer Funktionen zu unterscheiden. M . E . ist es jedoch praktisch überaus schwierig, Dialoge mit rein phatischer Funktion sauber auszugrenzen. Der small talk zumindest ist ja insofern keineswegs die reinste Form phatischer Kommunikation, als immerhin irgendwelche Informationen ausgetauscht, Inhalte übermittelt werden, was z. B. - wenigstens in seinem Effekt - nicht gilt für das Sprechen zu einem Kleinkind, das den Sinn der Worte nicht versteht. Abgesehen davon ist neben der spielerischen (vgl. Sequenzen, in denen Witze erzählt werden), Lustgewinn verschaffenden und die Beziehung positiv bestätigenden Komponente auch zu berücksichtigen, daß der small talk einen kompetitiven Charakter gewinnen kann, in dem Images, also die sozialen Werte der Interaktanten auf dem Spiel stehen bzw. in einer Art Wettkampf ausgehandelt werden, so daß sich die Beziehungsstruktur in diesem Spiel verändern kann. Diese Image- oder Beziehungsarbeit muß freilich, damit der Dialog von den Interaktanten noch als small talk kategorisiert werden kann, verdeckt vorgenommen werden, was zugleich bedeutet, daß die spielerische Desinteressiertheit ζ. T. eine sozial relevante, gemeinschaftlich geschützte Fiktion ist, kommt es doch sehr wohl darauf an, wer die besseren Witze zu erzählen weiß, am besten auf dem laufenden ist über die letzten Neuerscheinungen auf dem philosophischen Büchermarkt, die Fußballergebnisse, amouröse Affären im Bekanntenkreis etc. Da es aber notwendigerweise auch im small talk um irgendwelche Inhalte geht, kann er ebensogut umschlagen in bzw. von einzelnen Interaktanten genutzt werden als Informationsbörse, die mehr ist als spielerischer Zeitvertreib. Wie unterschiedlich wir den sachlichen Wert solcher im small talk behandelten Themen einschätzen können, möge die Beschreibung der möglichen Themen dieses Dialogtyps illustrieren, wie sie sich im Kap. 13 von Senecas De brevitate vitae findet und wo zu dem .überflüssigen Zeugs', mit

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dem man sich beschäftigen kann, nicht nur solche Fragen gerechnet werden wie die, welcher Feldherr in einem Triumphzug als erster Elefanten mitgeführt habe, sondern auch die, ob die Ilias oder die Odyssee eher geschrieben wurde und ob beide denselben Verfasser hatten. Während der small talk aber immerhin als überwiegend beziehungssichernder, d.h. vorhandene Beziehungsdefinitionen bestätigender und allenfalls verdeckt ändernder Dialogtyp angesehen werden kann, ist für andere Dialogtypen von einer gezielt vorgenommenen Beziehungsänderung auszugehen. Dabei können wir erstens solche Dialogtypen unterscheiden, in denen eine Beziehung neu etabliert oder eine bestehende intensiviert werden soll, zweitens solche, in denen Beziehungskonflikte thematisiert, und drittens solche, in denen bestehende Beziehungen abgebrochen werden sollen. Eine besondere Schwierigkeit zumindest für die erste Gruppe besteht darin, daß wohl nur institutionalisierte Untertypen wie Eheschließung, Ernennung bzw. Wahl eines Ehrenmitglieds, Vorsitzenden etc., Aufnahme von Mitgliedern in Vereinen usw. der Beobachtung durch die Öffentlichkeit zugänglich sind, während Koalitionsverhandlungen, Kommissionsberatungen oder Vorstellungsgespräche, Beratungen in einer Wohngemeinschaft über die Aufnahme eines neuen Mitbewohners und dergl., erst recht aber die für die Etablierung rein privater Beziehungen (vgl. Leisi 1983) einschlägigen Dialogtypen (Liebeserklärungen, Heiratsanträge u.ä.) wiederum vor Fremdbeobachtung geschützt werden. Die Texte, in denen öffentlich ein Beziehungswunsch kundgetan wird (Kontaktanzeigen), sind charakteristischerweise anonym, die u.U. darauf folgende persönliche Kontaktnahme streng privat. Es könnte sich daher in diesem Gesamtbereich als besonders sinnvoll erweisen, neben der persönlichen Kompetenz und spontanen Beobachtungen auch auf fiktionale Dialoge (Literatur, Film) als Analysematerial zurückzugreifen. Anscheinend leichter beobachtbar sind, geht man von der vorhandenen Forschung aus, konfliktäre Interaktionen, was auch damit zusammenhängen mag, daß bestehende Beziehungen sehr viel öfter von Konflikten bedroht sind, als daß neue Beziehungen gezielt aufgenommen bzw. bestehende ausdrücklich abgebrochen werden, und daß in jeder zweckrationalen Kommunikation irgendwelche sachlichen Interessendivergenzen auftreten und sich in einen Beziehungsstreit ausweiten können, sofern diese Differenzen nicht ohnehin nur Symptom eines latenten Beziehungskonflikts sind. Die Grenzen sind hier sicherlich fließend, eben weil eine Beziehungsdefinition als Vorstellung darüber bestimmt werden kann, welche Verhaltensweisen als zulässig, .normal' anzusehen sind. Zu berücksichtigen sind in diesem Zusammenhang also konfliktäre Interaktionen aller Art (vgl. Apeltauer 1978; Schank/Schwitalla 1987; Grimshaw 1990; konkrete Analysen auch bei Fiehler 1990, dessen grundlegende Studie zur Rolle der Emotionen in verbaler Interaktion für das Studium von sozialen Beziehungen auch in vielerlei anderer Hinsicht überaus ergiebig ist). Kommunikative Strategien zur Beendigung von Liebesbeziehungen haben Wilmot/Carbaugh/Baxter (1985) untersucht. Eine Sonderform von Gesprächen über Beziehungskonflikte, in denen ein außenstehender ,Fachmann' zu Rate gezogen wird, liegt in psychotherapeutischen Familien- oder Paarberatungen vor (vgl. Frankenberg 1979).

17. Beziehungsgestaltung in Dialogen

4.3

371

Indirekte Formen der Beziehungsgestaltung

Auf die große Bedeutung indirekter Formen der Beziehungsgestaltung ist schon oben ausdrücklich hingewiesen worden; die Überlegungen zur konkreten Realisierung der beziehungszentrierten Dialogtypen und Dialogsequenzen sowie zu Übergangsphänomenen unterstreichen diese Einschätzung. Für indirekte Formen der Beziehungsgestaltung läßt sich nun - das ergibt sich aus der Natur der Sache - keine auch nur annähernd vollständige Liste von Phänomenen aufstellen, es geht hier im Grunde um den Stil der Rede insgesamt (vgl. für einen pragmatischen Analyseansatz Sandig 1986, beziehungsrelevante Aspekte werden dort speziell in Kap. 2.2 behandelt). Vielmehr können potentiell alle möglichen Elemente und Ebenen des sprachlichen Ausdrucks von Relevanz sein. Sie lassen sich immerhin unter bestimmten generellen Fragestellungen zusammenfassen. Unter die hierher zu stellenden Formen sprachlicher Höflichkeit (vgl. u.a. Brown/Levinson 1987; Raible 1987) können nämlich einerseits all die Erscheinungen gerechnet werden, die geeignet sind, Konsens- oder Kompromißwilligkeit zu signalisieren, andererseits diejenigen, bei denen irgendwelche Differenzen zwischen den Interaktionspartnern zum Ausdruck kommen, wobei sich die Beziehungsrelevanz verstärkt, wenn bestimmte Positionen, Kenntnisse und dergleichen auch mit dem sozialen Status korrelieren. Konkret gesprochen, gehören zu der ersten Gruppe alle Formen vorsichtig-zurückhaltend-abschwächenden Ausdrucks (im Deutschen speziell Partikeln und Adverbien, Konjunktivgebrauch, Modalverben usw.; eine Liste mit Beispielen bei Lange 1984, 35; ein entsprechende Ausdrucksformen einbeziehender Analyseversuch bei Adamzik 1984, Kap. 5), da in diesem Fall gewährleistet ist, daß ein etwaiger sachlicher Dissens zwischen den Interaktionspartnern zumindest formal heruntergespielt wird. Differenzen zwischen Interaktionspartnern können sowohl sachliche Positionen, Kenntnisse, Wertvorstellungen als auch alles, was zur sprachlichen Kompetenz gehört, betreffen. Durch den Gebrauch von Fremd- oder Fachwörtern (vgl. Wiegand 1979), dialektalen oder gruppenspezifischen Ausdrücken und Formen kann z.B. dem Partner seine (Nicht-)Zugehörigkeit zur relevanten Gruppe implizit mitgeteilt werden. Solche impliziten Formen der Beziehungsgestaltung sind freilich mitunter schwer zu fassen und der kommunikative Wert entsprechender Verfahren darf auf gar keinen Fall generalisiert werden, da der Gebrauch solcher Mittel ja keineswegs auf die Funktion der Beziehungsgestaltung zugeschnitten ist und je nach den konkreten Voraussetzungen unterschiedlich wirken kann. So kann eine vorsichtige Ausdrucksweise ebensogut sachliche Unsicherheit oder Abgewogenheit des Urteils wie präventive Konfliktreduzierung signalisieren. Für konversationsanalytische Untersuchungen sind darüberhinaus die Formen der Gesprächsorganisation und der Themenwahl bzw. Themensteuerung besonders ergiebig. Wenn eine Beziehung sich darin ausdrückt, welche Menge von Verhaltensweisen den Interaktanten offensteht, so kommt natürlich konversationsspezifischen Verhaltensweisen, also den Redeanteilen und dem turn-taking besonderes Gewicht zu. Z.T. sind die Rollen institutionell vordefiniert (Diskussionsleiter, Interviewer usw.), zum größten Teil werden sie jedoch implizit .ausgehandelt' und tragen erheblich zur Image-

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arbeit und Beziehungsgestaltung bei. Diverse Untersuchungen liegen speziell zum unterschiedlichen Verhalten von Frauen und Männern vor (vgl. Werner 1983). Was die Themenwahl und Themensteuerung betrifft, so sind sie deswegen unmittelbar relevant, weil die Interaktanten in bezug auf bestimmte Themen unterschiedlich kompetent und interessiert sein können und überdies bestimmte Themen für einen der Interaktanten heikel und unangenehm sein können. Wiederum gibt die Frage, wer das Recht hat, die Themen zu bestimmen, die Behandlung eines Themas zu verweigern usw., unmittelbaren Aufschluß über die Beziehungsstruktur und sind die Formen der Themensteuerung direkt relevant für die Ausgestaltung der Beziehung. Zum Abschluß sei noch kurz ein m.E. recht ergiebiger Ansatz der Untersuchung der Beziehungsgestaltung in einer sprechakttheoretisch orientierten Dialoganalyse angedeutet. Abgesehen von bestimmten Sprechakten (z.B. Vorwürfe, Partnerbewertungen, Zurückweisungen, vgl. dazu Kohnen 1987), speziell solchen aus der Gruppe der Expressiva (Entschuldigungen, Dank etc.) und der Deklarativa (Trauung, Ernennung etc.), die als direktere Formen der Beziehungsgestaltung in den Abschnitten4.1 und 4.2 berührt wurden, ist der sprechakttheoretische Rahmen insofern besonders geeignet, indirekte Formen der Beziehungsgestaltung zu erfassen, als für viele Sprechakttypen und -untertypen in den Einleitungsbedingungen eine bestimmte Beziehung oder beziehungsrelevante Sachverhalte als Voraussetzungen für den erfolgreichen Vollzug solcher Sprechakte formuliert werden. Ein Befehl etwa setzt ein asymmetrisches Verhältnis zwischen den Interaktanten voraus, die oben bereits kurz behandelte perfide Frage setzt voraus, daß der Frager annimmt, daß der Gefragte die Antwort nicht kennt, daß er sie aber kennen sollte und damit ein Nichtwissen eingestehen muß, was einem stark imagebedrohenden Akt gleichkommt. Es ist nun eines, solche beziehungsrelevanten Einleitungsbedingungen zu formulieren und Dialoge auf das Vorkommen solcher Sprechakte zu analysieren. Sofern wir damit jedoch nur die Situationsvoraussetzungen als feste Vorgabe spezifizieren, können die betreffenden Sprechakte nur als Realisationen, Bestätigungen der gegebenen Beziehungsdefinition gelten. Sie fungieren noch nicht als die Dynamik der Beziehungsgestaltung erhellendes Moment. Dies wird jedoch möglich, wenn wir die Spezifik der außersprachlichen Situation nicht als fixes und unser Handeln lediglich beschränkendes, sondern als ein stets neu hervorzubringendes und durch das sprachliche Handeln veränderbares Moment begreifen. Oft ist es ja nur eine bestimmte Formulierung, die Wahl eines bestimmten Ausdrucksmusters, die uns den betreffenden Spechakt als mit einer bestimmten Beziehung korrelierenden Untertyp (z.B. Befehl) eines allgemeineren Sprechakttyps (Aufforderung) interpretieren läßt. Die Ausdrucksmuster können aber in einer bestimmten Bandbreite variieren - ein nicht-abgeschwächter Imperativ macht eine Aufforderung nicht gleich zu einem Befehl. Dieser Umstand bringt es mit sich, daß Interaktanten in sehr implizit-subtiler Form Sprechaktuntertypen und bestimmte Ausdrucksmuster wählen können, die eigentlich (eher) mit einer anderen Beziehung assoziiert werden als der tatsächlich' bestehenden. Man kann etwa die Aufforderungen an ein gleichberechtigtes Gegenüber mit einem Befehlsunterton formulieren, ihm Fragen stellen, die an ein Verhör erinnern usw., ohne das Recht zu haben, dem anderen Befehle zu geben

17. Beziehungsgestaltung

in

Dialogen

373

oder ihn ins Verhör zu nehmen und ohne auch damit unmittelbar den Dialog in eine Befehlsausgabe bzw. ein Verhör umwandeln zu können. Wird jedoch eine solche ,Mustermischung' systematisch durchgeführt und wehrt sich der Partner nicht gegen solche zunächst ja nur unhöflichen, aber nicht klar unangemessenen Äußerungen, so etabliert sich - sekundär - ein Gefälle zwischen den Interaktanten, bei dem der eine seine Beziehungsdefinition, die ihm eine überlegene Stellung einräumt, durchsetzen kann. Allgemeiner formuliert: Die Beziehungsdynamik kann besonders dann verdeutlicht werden, wenn nicht einseitig von den konkret gegebenen Einleitungsbedingungen auf adäquate Sprechakt(unter)typen und Ausdrucksmuster geschlossen wird, sondern die Ausdrucksformen zum Ausgangspunkt für die Rekonstruktion der jeweiligen Beziehungsdefinitionen genommen werden. Wie wenig vorgängig feststellbare Situationsvoraussetzungen unseren Handlungsspielraum tatsächlich beschränken müssen, läßt sich daran ermessen, daß die Anmaßung einer Rolle faktisch sogar eine Institution erschüttern oder ganz außer Kraft setzen kann. So ist die Auflösung der Ehe Heinrichs VIII. mit Katharina von Aragonien wohl nicht als fehlgeschlagener Sprechakt im Sinne Austins anzusehen: der dazu einzig befugte Interaktant spielte zwar nicht mit, faktisch kam die Handlung aber dennoch zustande - mit der Konsequenz, daß eine neue Institution, die anglikanische Kirche, begründet wurde. Ein Landsmann Heinrichs VIII., Lewis Carrolls Goggelmoggel, würde sagen: Es fragt sich nicht, welche Beziehungsdefinition richtig ist, es fragt sich nur, wer der Stärkere ist, weiter nichts.

5.

Literaturhinweise

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Κ.

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Genf

DRITTER T E I L

Anwendungsbereiche der Dialoganalyse

18. Die Entwicklung der Dialogfähigkeit bei Kindern

1. 2. 3. 4. 4.1 4.2 4.3 4.4 5. 6.

Dialog und Dialogfähigkeit Dialogbezogene Ansätze in der frühen kinderpsychologischen Forschung Neuere Forschungen zum kindlichen Dialog Fragestellungen der gegenwärtigen Kinderdialogforschung Spracherwerb und Dialogentwicklung Einheiten der sprachlichen Kommunikation und ihre Aneignung durch Kinder Die Sprecher-Hörer-Interaktion im kindlichen Dialog Phasen der Aneignung von Dialogfähigkeit, Typen von Kinderdialogen Methodologische und methodische Fragen der ontogenetischen Dialogforschung Literaturhinweise

1.

Dialog und Dialogfähigkeit

Dialoge sind Formen sprachlicher Kommunikation. Als solche bilden sie Einheiten interaktionellen sprachlichen Handelns mit allen dafür konstitutiven Merkmalen: (a) sie sind gerichtet auf die Abstimmung des Denkens, häufig aber auch des Wahrnehmens, Fühlens und praktischen Handelns der Partner, (b) sie werden realisiert durch aufeinanderfolgende Repräsentationen von Bewußtseinsinhalten in sprachlichen Äußerungen, (c) sie werden vollzogen auf der Basis der Sprachhandlungsfähigkeit der Partner, in der gesellschaftliche Verfahren zur Bewältigung kommunikativer Aufgaben durch Sprache angeeignet sind. (Zu den konstitutiven Merkmalen sprachlichen Handelns vgl. u.a. Härtung 1991; Ehlich 1986.) Dialogisches sprachliches Handeln zeichnet sich gegenüber nicht-dialogischem sprachlichem Handeln in der Regel durch folgende Merkmale aus: (i) Es ist mündliches sprachliches Handeln: neben und gemeinsam mit gesprochenen sprachlichen Äußerungen spielen nonverbale phonische Äußerungen und parasprachliche Äußerungskomponenten eine Rolle, (ii) es ist unmittelbare Kommunikation, Kommunikation von Angesicht zu Angesicht: die wechselseitige optische Wahrnehmung der Partner erlaubt den Einschluß von mimischer und gestischer Kommunikation und darüber hinaus von praktischen Handlungen der Partner; der gemeinsame Wahrnehmungsraum ermöglicht Kommunikation über aktuell

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Κ. Meng

gemeinsam Wahrgenommenes (d.i. situative Rede im Sinne von Rubinstein 1941/ 1979), (iii) es ist Kommunikation mit Sprecherwechsel (der auch ein vorübergehend expandiertes Rederecht eines Sprechers einschließen kann). (Zu den Merkmalen des Dialogs vgl. Jakubinskij 1923/1986 und de Laguna 1927/1963 - zwei frühe grundlegende Arbeiten; Techtmeier 1984 u. a.),Dialogfähigkeit' meint hier die überwiegend impliziten handlungsorganisierenden Verallgemeinerungen über Dialoge, auf deren Basis Kommunikationspartner Dialoge einleiten, durchführen und abschließen können. Da Kommunikation von Kleinkindern und Vorschulkindern fast vollständig aus Dialogen im oben angeführten Sinne besteht, ist die Frage nach der Entwicklung ihrer Dialogfähigkeit gleichbedeutend mit der Frage nach der Entwicklung ihrer Kommunikationsfähigkeit, und da Sprache dasjenige Kommunikationsmittel ist, auf das alle anderen Mittel interpersonaler Kommunikation mehr oder weniger direkt bezogen werden, und hier ein funktionaler, handlungsbezogener Sprachbegriff vorausgesetzt wird, werden ,Dialog-' und ,Kommunikationsfähigkeit' im gegebenen Kontext gleichbedeutend mit,Sprachfähigkeit' und .Sprachhandlungsfähigkeit' verwendet. Analoges gilt, wenn nicht ausdrücklich anders gesagt, für das Verhältnis von ,Dialog', .Kommunikation' und .kommunikativem' und .sprachlichem Handeln'.

2.

Dialogbezogene Ansätze in der frühen kinderpsychologischen Forschung

Die klassischen Arbeiten zum Spracherwerb (Preyer 1882/1989; Stern/Stern 1907; 1928/1987 u. a.) waren in einer bestimmten Hinsicht dialogbezogen. Das war vor allem gegenstandsbedingt und veranlaßte die Forscher zur Rechtfertigung ihrer Zielsetzung, insbesondere gegenüber der zeitgenössischen Sprachwissenschaft. Im Gegensatz zur Sprachwissenschaft, die „die Wissenschaft von einem objektiven Kulturgebilde Sprache'" ist, „muß die Erforschung der Kindersprache vom .Sprechen' ausgehen. Aber auch das ,Sprechen' selbst darf noch nicht letzter Ausgangspunkt sein. Denn es ist keine für sich bestehende Aktivitätssphäre, sondern ein unselbständiger Bestandteil persönlichen Lebens überhaupt" (Stern/Stern 1928/1987, 122). „Als Ausdrucksbewegung steht sie (die Sprache, d.V.) zu den Affekt- und Willensfunktionen in engster Beziehung; als Verlautbarung von Vorstellungen und Begriffen, Urteilen und Schlüssen ist sie mit dem intellektuellen Leben unlöslich verknüpft ; als vornehmstes Verbindungsmittel zwischen Mensch und Mensch ist sie die Hauptträgerin aller sozial-psychischen Erscheinungen" (Stern/Stern 1928/1987, 4). Es ging um die „Entwicklungsgeschichte des Sprechens als einer Gesamtfunktion", um die „Darstellung des sprachlichen Gesamtkönnens" (Stern/Stern 1928/1987, 12). Folgende Entwicklungsaspekte wurden dokumentiert: (a) die Herausbildung willentlichen kommunikativen Handelns beim Kind auf der Basis vorhergehender reflektorischer kommunikativer Aktivitäten und ihrer erfahrenen Wirkung auf die Erwachsenen (vgl. Preyer 1882/1989; Stern/Stern 1928/1987), (b) der Prozeß der Konventionalisierung und insbesondere der Versprach-

18. Die Entwicklung der Dialogfähigkeit bei Kindern

379

lichung der kommunikativen Äußerungen (vgl. Preyer 1882/1989; Stern/Stern 1928/ 1987), (c) der zunehmend symbolisch-darstellende Charakter der kindlichen Kommunikation (vgl. insbes. Bühler 1918, aber auch Stern/Stern 1928/1987). Letztlich blieb jedoch der Konflikt zwischen der angestrebten Orientierung der Spracherwerbsforschung auf das „sprachliche Gesamtkönnen" und der Fixierung der Sprachwissenschaft auf ein „objektives System von Lauten, Wörtern, Phrasen, Redeweisen, Flexions- und syntaktischen Formen" (Stern/Stern 1928/1987, 121) unausgeschöpft und unausgetragen. Ein durchgreifender Wechsel in der Konzeptualisierung des Sprechens (vom Sprechen als Ausdruck von Ideen des Individuums zum Sprechen als partner- und gegenstandsbezogenem Handeln mit Vorbereitungs- und Koordinierungsfunktion für nichtsprachliches Handeln), wie er u.a. von Voloäinov (1926) und de Laguna (1927) vorgeschlagen wurde, kam nicht zum Tragen. Die klassischen Darstellungen des Spracherwerbs bleiben nichtsdestoweniger Quellen theoretischer Neubesinnung (vgl. Deutsch 1981) und natürlich in ihrem Reichtum immer wieder überraschende Materialsammlungen, die nicht oft genug konsultiert werden können. Piagets frühe Arbeit zur Entwicklung des logischen Denkens (Piaget 1923/1972) warf ein neues Licht auf den kindlichen Dialog: Er fragte nach den Funktionen kindlicher Äußerungen und unterschied in diesem Zusammenhang egozentrische Äußerungen (Unterklassen: Nachsprechen, Monolog, Kollektivmonolog) vs. partnergerichtete Äußerungen (Unterklassen: auf intellektuelle Zusammenarbeit gerichtete Äußerungen (angepaßte Mitteilung, Frage, Antwort) vs. nicht auf intellektuelle Zusammenarbeit gerichtete Äußerungen (Bitte, Befehl, Drohung, Kritik, Spott)) und stellte eine erste Typologie von kindlichen Gesprächen auf, die zugleich eine Stufenfolge der Entwicklung verkörpern sollte: (a) Kollektivmonolog: Wechselrede ohne gemeinsamen Gegenstand, (b) Wechselrede über vergleichbare, jedoch individuell bleibende Gegenstände, (c) Wechselrede über gemeinsame konkrete Gegenstände, (d) Wechselrede als Verwirklichung von Zusammenarbeit im abstrakten Denken. Weiterhin organisierte und analysierte er experimentelle Erzähl- und Erklärungssituationen. Piagets Analyse der „kindlichen Rede" wurde von den Zeitgenossen als durchaus neuartig empfunden (vgl. Stern/Stern 1928/1987, 146ff.). Sie löste bis in die 60er Jahre hinein zahlreiche Debatten und Folgeuntersuchungen aus (vgl. McCarthy 1930; Wygotski 1934/1964; Slama-Cazacu 1961/1977 u. a.). Dennoch kann man nicht sagen, daß Piaget den Dialog und die Dialogfähigkeit des Kindes als wissenschaftlichen Gegenstand etabliert hat. Der Dialog stellte für ihn nur einen Zugang zum kindlichen Denken dar, und am Denken interessierten ihn nicht etwa Verallgemeinerungen über den Dialog, sondern wesentlich abstraktere Momente wie Zeit und Kausalität. Das gilt teilweise auch für Katz/Katz, die eine umfangreiche Sammlung von stenographierten Kind-Eltern-Gesprächen veröffentlichten, zusammen mit einer programmatischen Einführung (vgl. Katz/Katz 1928). Auch ihnen war das Kindergespräch wichtig als eine Möglichkeit, die kindliche „Weltanschauung" zu rekonstruieren. Daneben aber forderten sie eine „formale Betrachtung der Gespräche", die die „Gesprächshaltungen" oder „dialogischen Bewußtseinshaltungen" des Kindes zum Gegenstand haben sollte, „welche in der Kinderpsychologie bislang unbeachtet geblieben

380

Κ. Meng

sind" (Katz/Katz 1928, 13). Diese Orientierung vermochte nicht, einen neuen Trend einzuleiten. 3.

Neuere Forschungen zum kindlichen Dialog

Der kindliche Dialog hat auch nach der klassischen Periode der Kinderpsychologie immer wieder die Aufmerksamkeit einzelner Wissenschaftler gefunden. Besonders zu erwähnen ist Slama-Cazacu (1961/1977). Zu einem intensiv bearbeiteten Forschungsgebiet konnten Dialog und Dialogfähigkeit aber erst werden, nachdem zwei Paradigmen ihre Dominanz verloren hatten: (a) das behavioristisch-positivistisch-sozialwissenschaftliche Paradigma: die Nötigung zur vorrangig quantitativen Auswertung großer Korpora stand einer neuen differenzierteren Konzeptualisierung des Spracherwerbs im Wege (ein repräsentatives Beispiel ist McCarthy 1930), (b) das Paradigma der Generativen Transformationsgrammatik mit dem zentralen Konzept der sprachlichen Kompetenz als der abstrakten Fähigkeit zur Bildung grammatisch wohlgeformter Sätze (ein repräsentatives Beispiel ist Fodor/Bever/Garrett 1974). Die empirischen Eigenschaften der kindlichen Sprachverwendung (ihre Gebundenheit an Wahrnehmen und praktisches Handeln), Anregungen aus anderen Bereichen der kinderpsychologischen Forschung (Piaget mit allen seinen Veröffentlichungen; Flavell et al. 1968; Saporoshez/Lissina 1978) sowie drängende Probleme in den Bildungs- und Erziehungsprozessen bewirkten eine zunehmende Ausweitung des Gesichtskreises. Für die Formulierung und Bearbeitung der neuen Fragen wurden Entwicklungen in der Linguistik (Kasus-Theorie von Fillmore, Hallidays Funktionalismus), der Philosophie der normalen Sprache (Grice, Austin, Searle), der qualitativen Soziologie (Goffman, Cicourel), der ethnomethodologischen Konversationsanalyse (Sacks, Schegloff, Jefferson), der Ethnographie des Sprechens (Hymes, Gumperz) oder der Psychologie (Tätigkeitstheorie von A.N.Leont'ev) aufgegriffen. Teils konkurrierend, teils komplementär zum Begriff der sprachlichen Kompetenz' wurden Begriffe wie ,Kommunikationsfähigkeit', pragmatische', ,konversationelle' oder kommunikative Kompetenz' gebildet. Qualitative Verfahren wie teilnehmende Beobachtung, Interpretation, Fallstudien und Tagebuchmethode wurden rehabilitiert und teils erheblich verfeinert (vgl. Ochs/Schieffelin 1979). Mitte der 70er Jahre setzte eine bis heute anhaltende Flut von Veröffentlichungen ein. Kurz: Die Hinwendung zum kindlichen Dialog war Bestandteil und teilweise auch Motor der .pragmatischen Wende' in der Sprachwissenschaft und einer generellen Neuorientierung in den Sozial- und Geisteswissenschaften auf komplexe Zusammenhänge und ihre Bedeutsamkeit für die Subjekte. Naturgemäß war und ist dieser Prozeß einer veränderten Konzeptualisierung des Spracherwerbs mit zahlreichen Kontroversen verbunden. Schwerpunkte sind das Verhältnis von Spracherwerb und kognitiver, kommunikativer und sozialer Entwicklung und damit auch Wesen, Determinanten und Mechanismen des Erwerbsprozesses (nativistische, neonativistische und funktional-interaktionale Ansätze) sowie daraus abgeleitete methodologische Probleme (modulare vs. holistische Modelle, Anforderungen an Theorie-

18. Die Entwicklung der Dialogfähigkeit bei Kindern

381

bildung und Methodenentwicklung). (Zur neueren Geschichte der Spracherwerbsforschung vgl. u. a. Miller 1976; Deutsch 1981; McTear 1985; Oksaar 1987; Kraft 1991). Kinderdialogforschung wird im englischen und romanischen Sprachraum, aber auch in Polen überwiegend im Rahmen der Psychologie und der Erziehungswissenschaften betrieben, im deutschen und skandinavischen Sprachraum sowie in Ungarn stärker im Rahmen der Sprachwissenschaft. Im russischen Sprachraum ist Kinderdialogforschung bisher nicht stark ausgeprägt (vgl. Negnevickaja/Sachnaroviò 1981). Knotenpunkte des wissenschaftlichen Austausche sind die seit 1970 nunmehr in dreijährigem Abstand stattfindenden internationalen Tagungen der International Society for the Study of Child Language (zuletzt Budapest Juli 1990) und die jährlichen Tagungen der Universität Boston zum Spracherwerb (15. Jahrestagung im Oktober 1990). In Europa gibt es bisher keine regelmäßig stattfindenden überregionalen Tagungen zum Spracherwerb. Wichtige Publikationsorgane sind die Zeitschriften Journal of Child Language, Child Development, Discourse Processes und Developmental Psychology sowie die Reihe Children's Language (seit 1978). Hilfreich für das Auffinden von Literatur bis 1977 sind Adamzik/Schmitter (1983) und die dort aufgeführten Spezialbibliographien.

4.

Fragestellungen der gegenwärtigen Kinderdialogforschung

4.1

Spracherwerb und Dialogentwicklung

In der Kindersprachforschung begegnen uns die gleichen Kontroversen wie in anderen Bereichen der Sprachwissenschaft, Psycholinguistik und Psychologie : „harte", strukturell orientierte Linguisten bzw. dem Experiment verpflichtete Psychologen und Psycholinguisten stehen „weichen", funktional orientierten Dialoganalytikern bzw. der teilnehmenden Beobachtung verpflichteten Psychologen gegenüber. Ein zentraler Punkt der Debatten sind Wesen und Determinanten des Spracherwerbs. Ist der Spracherwerb rekonstruiert, wenn man vor allem die Aneignung phonologischer, morphologischer und syntaktischer Einheiten und Regeln durch Kinder dargestellt hat, oder gehört zum Wesen des Spracherwerbs auch die Fähigkeit, das funktionale Potential sprachlicher Einheiten und Regeln in bezug auf sprachliche Interaktionen rezeptiv und produktiv nutzen zu können? Ist die Sprachfähigkeit zu erklären als eine relativ isolierte Fähigkeit (als Modul der Ontogenese, vgl. Clahsen 1988), die das Kind mit Hilfe modul-spezifischer Analysestrategien, unabhängig von den variierenden Merkmalen seiner sprachlich-kommunikativen Umgebung, aufbaut? Oder ist der Spracherwerb wegen seiner notwendigen Zusammenhänge mit anderen Bereichen der psychischen Entwicklung und ihren biologischen sowie sozialen Determinanten nur holistisch erfaßbar? Die Kontroverse hat zu spezifischen, systematisch bearbeiteten Fragestellungen (z.B. Input-Forschung) geführt, ist aber nicht abgeschlossen. Immerhin wurde jedoch erreicht, daß die Ausgangspositionen heute differenzierter gesehen werden: rein nativistische oder rein sozial-deterministische Erklärungen des Sprach-

382

Κ. Meng

erwerbs werden kaum noch vertreten. Es ist zum Gemeinplatz geworden, daß dem Spracherwerb sowohl Eigenschaften der Gattung Mensch zugrundeliegen wie auch charakteristische Interaktions- und Kommunikationsbedingungen, die auf die Lernmöglichkeiten des Kleinkindes zugeschnitten sind. Allgemein anerkannt ist auch, daß die kognitive und sensomotorische sowie die soziale Entwicklung des Kindes wenigstens bis zu einem bestimmten Grade und Zeitpunkt Schrittmacher der Sprachentwicklung ist. Es gibt verschiedene Kompromißmodelle, die zwischen nativistischen und sozial-deterministischen Positionen vermitteln, z . B . derart, daß neben einer „Sprachkonstruktionsfähigkeit" (language-making capacity, vgl. Slobin 1985) ein „Spracherwerbs-Hilfssystem" (language acquisition support system, vgl. Bruner 1987) angenommen wird, oder derart, daß neben das Konzept der Sprachfähigkeit im engeren Sinne additiv ein Konzept der Kommunikationsfähigkeit gesetzt wird (vgl. ζ. B . ErvinTripp/Mitchell-Kernan 1977; Grimm 1977; Oksaar 1987; Klann-Delius 1990). Dies hat immerhin für sich, daß Forschungen zu nichtklassischen Aspekten des Spracherwerbs nicht nur nicht unterdrückt, sondern ermutigt werden. Jedoch ist eine wirkliche Synthese von formalen und funktionalen, gattungsbedingten und gesellschaftlich vermittelten Aspekten des Spracherwerbs gegenwärtig nicht möglich. Dementsprechend muß im folgenden die Dialogfähigkeit des Kindes in weitgehender Isolierung vom Spracherwerb i. e. S. behandelt werden.

4.2

Einheiten der sprachlichen Kommunikation und ihre Aneignung durch Kinder

Sprachliche Interaktionen sind hochkomplexe Tätigkeiten mit einer mehrdimensionalen funktional determinierten Struktur, für deren Rekonstruktion die verschiedensten Modelle entwickelt wurden, ohne daß bisher eine hinreichende theoretische Durchdringung erreicht wurde. Die Beteiligung an sprachlichen Interaktionen ist nicht möglich, wenn die Partner nicht wenigstens über vorläufige implizite (d. h. empirische, handlungspraktische) Kenntnisse möglicher Typen sprachlicher Aktivität auf verschiedenen Komplexitätsebenen (globale vs. lokale Ebenen) verfügen. Mindestens drei Komplexitätsebenen sind anzunehmen, wenn man sprachliche Kommunikation im allgemeinen und auch bei Kindern beschreiben will: (a) die Ebene der Prozeduren als unselbständiger elementarer Einheiten sprachlichen Handelns (vgl. Ehlich 1986), (b) die Ebene sprachlicher Handlungen als selbständiger Einheiten der sprachlichen Aktivität eines Dialogpartners und (c) die Ebene von Sequenzen und/oder Verkettungen der sprachlichen Handlungen mehrerer Dialogpartner (vgl. Fritz 1982; Ehlich 1986). Die Einheiten einer jeden Ebene können untereinander nach bestimmten Regeln kombiniert werden, die Einheiten der jeweils unteren Ebenen gehen in die jeweils höhere Ebene ein, ohne sie vollständig zu determinieren. Deshalb können und müssen Untersuchungen zur Ontogenese der Dialogfähigkeit auf den verschiedenen Ebenen gleichzeitig ansetzen. Von den Einheiten der untersten Ebene, den Prozeduren, haben in der Kinderdialogforschung die deiktische Prozedur und die Benennungsprozedur die größte Aufmerksamkeit gefunden. Hinsichtlich der deiktischen Prozedur geht es vor allem um die Rekonstruktion des Entwicklungsweges von vorsprachlichen deikti-

18. Die Entwicklung der Dialogfähigkeit bei Kindern

383

sehen Verfahren (proto-deiktischen Prozeduren) durch Blickverhalten und Gesten (besonders Zeigen, im Unterschied zu Hinlangen) zu sprachlichen deiktischen Verfahren sowie um die entwicklungsmäßigen Beziehungen zwischen deiktischen und anaphorischen Prozeduren (vgl. Miller 1976; Marková 1978; Myers 1979; Fletcher/Garman 1986). - Das Benennen bildet ein zentrales Moment in der Ontogenese der Sprachhandlungsfähigkeit, insofern es der Beginn der Versprachlichung und Voraussetzung aller komplexeren sprachlich-kommunikativen Aktivitäten des Kindes ist (vgl. dazu u. a. Ochs/Schieffelin 1979). Die zunehmende Integration elementarer Prozeduren („Funktionen") im Verlauf des frühen Spracherwerbs ist ein Forschungsschwerpunkt von Halliday (1975). Zur Aneignung von Typen sprachlicher Handlungen durch Kinder gibt es zahlreiche Untersuchungen. Die Typenbildung erfolgt teilweise mit Hilfe der Unterscheidung initiierender, respondierender, reinitiierender usw. Handlungen (vgl. Slama-Cazacu 1961/1977; McTear 1985), teilweise mit dem begrifflichen Instrumentarium der Sprechakttheorie. Untersucht wurden insbesondere Aufforderungen (vgl. z.B. Reski 1982; Nelson 1983; Kuczay 1984), Bitten (vgl. z.B. Bruner 1987), Fragen (vgl. z.B. ContiRamsden/Snow 1990), Antworten (vgl. z.B. Ervin-Tripp/Mitchell-Kernan 1977) und Ankündigungen (vgl. z.B. Lindner 1983). Einige Autoren stellen sich die Aufgabe, die Reihenfolge der Aneignung von Sprachhandlungstypen zu beschreiben und/oder das Repertoire von Sprachhandlungstypen in einer bestimmten Phase der Ontogenese zu erfassen (vgl. z.B. Slama-Cazacu 1961/1977; Miller 1976; Bates 1976; Greenfield/ Smith 1976; Ramge 1976; Zaefferer/Frenz 1979; Ochs/Schieffelin 1979; Myers 1979; Boueke/Klein 1983). Nicht- und vorsprachliche Alternativen sowie sprachliche Varianten von Sprachhandlungstypen finden dabei eingehende Betrachtung. Sequenzen und/oder Verkettungen von Sprachhandlungen in der kindlichen Kommunikation sind ebenfalls unter verschiedenen Aspekten untersucht worden. Es geht um Eröffnungen und Beendigungen von Sequenzen und/oder Verkettungen, um Sequenzen des Typs der adjacency pairs, um eingebettete Reparatursequenzen (vgl. Garvey 1984; Meng/Kraft/Nitsche 1991) und um komplexe Einheiten sprachlicher oder auch sprachlich-praktischer Interaktion wie z.B. Streiten (vgl. Biere 1978; Boueke/ Klein 1983), Hilfeersuchen und Hilfegewähren (vgl. Sturm 1985; Bruner 1987), Erzählen und Zuhören (vgl. Bamberg 1987; Hausendorf/Quasthoff 1989; Ehlich/Wagner 1989; Meng/Kraft/Nitsche 1991; Meng/Quasthoff 1992), kommunikative Organisation von Spielen (vgl. Dore 1985; Meng/Kraft/Nitsche 1991), sprachliche Interaktion beim Bilderbuchbetrachten (vgl. z.B. Boueke/Klein 1983; Bruner 1987) oder Instruieren (vgl. Weber 1975; Metze 1979). In bezug auf solche Typen sprachlicher Interaktion oder auf komplexe Kommunikation überhaupt wird auch nach globalen Strukturen, Kohärenz- und Kohäsionsbeziehungen, Themenentfaltung oder Strategien gefragt (vgl. z.B. Wagner 1974; Nelson 1978; Myers 1979; Deutsch 1981).

384

4.3

Κ. Meng Die Sprecher-Hörer-Interaktion im kindlichen Dialog

Die Sprecher-Hörer-Interaktion kann unter verschiedenen Aspekten betrachtet werden. Ein Aspekt wurde bereits genannt: Aufbau und Erfüllung wechselseitiger Erwartungen mit Hilfe von Typen von Sprachhandlungen und Sprachhandlungssequenzen und -Verkettungen. Ein weiterer Aspekt ist der Sprecherwechsel. Dieser stellt nach allgemeiner Auffassung nur einen Spezialfall des turn-taking in der Interaktion dar. Entsprechend wird in der Kinderdialogforschung nach Vorformen des Sprecherwechsels in der frühen Proto-Konversation gesucht und der Übergang zum sprachlichen turn-taking rekonstruiert (vgl. Marková 1978; Myers 1979; Garvey 1984; McTear 1985; Dore 1985). Auch sind Varianten der Regeln für den Sprecherwechsel in der informellen bzw. der formellen Kommunikation und die Aneignung dieser Varianten durch Kinder analysiert worden (vgl. Ochs/Schieffelin 1979). Reparatur-Phänomene sind ebenfalls unmittelbar mit der Sprecher-Hörer-Interaktion und ihrer Überwachung durch die Partner verbunden. Ihre Aneignung und adäquate Nutzung durch Kinder sind ein wichtiges Entwicklungsmoment (vgl. Myers 1979; Garvey 1984; McTear 1985; Meng/Kraft/Nitsche 1991). Ihr Gelingen hängt mit der zunehmenden Fähigkeit der kindlichen Sprecher zusammen, die wissens- und wahrnehmungsbezogenen spezifischen Voraussetzungen ihrer Hörer zu berücksichtigen - u . a . in der topic-commentStruktur der eigenen Äußerungen - und aus deren Hörersignalen und Anschlußhandlungen Konsequenzen für die Fortführung der Kommunikation zu ziehen. Auf Seiten des Hörers ist dessen Fähigkeit involviert, den eigenen Verstehensprozeß aktiv zu gestalten und zu bewerten und notfalls Verstehenshilfe beim Sprecher einzufordern. Untersuchungen zu diesem Themenkreis haben u.a. Greenfield/Smith (1976) und Lloyd/Beveridge (1981) vorgelegt. Schließlich ist auch das Prinzip der Höflichkeit als wesentlicher Regulator der Sprecher-Hörer-Beziehung zu nennen. Der ontogenetischen Aneignung dieses Prinzips sind u. a. Bates (1976) und McTear (1985) nachgegangen. 4.4

Phasen der Aneignung von Dialogfähigkeit, Typen von Kinderdialogen

Ontogenetische Entwicklung ist wesentlich ein Zuwachs an Handlungskompetenz, d. h. an Fähigkeit, immer mehr verschiedenartige und zunehmend komplexere Aufgaben zu lösen (vgl. Schmidt 1985). Die Anwendung dieses Verständnisses von Entwicklung auf die sprachliche Kommunikation führte zu Versuchen, Typen von Kinderdialogen zu bestimmen und mit ihrer Hilfe Phasen der Aneignung von Dialogfähigkeit zu definieren. Piagets Typologie kindlicher Gespräche wurde schon erwähnt (vgl. Piaget 1923/1972). Zu nennen ist weiterhin Rubinstein (1941/1979): seine Unterscheidung von wahrnehmungsgebundenen und wahrnehmungsentbundenen Gesprächen als zwei wesentlichen Typen von Kindergesprächen, die als dominierende Kommunikationsformen zwei aufeinanderfolgende Entwicklungsabschnitte charakterisieren, hat sich weitgehend bewährt (vgl. Ochs/Schieffelin 1979; Deutsch 1981; Meng/Kraft/Nitsche 1991). Diese Unterscheidung ist mit einer anderen, ebenfalls entwicklungsrelevanten Unterscheidung verbunden, ohne daß eine in der anderen voll aufginge: mit der Typisierung

18. Die Entwicklung der Dialogfähigkeit bei Kindern

385

von Kindergesprächen in praktisch dominierte vs. nicht praktisch dominierte Gespräche (action discourse vs. topical discourse, vgl. Shugar 1982). Ihre unterschiedliche Dominanz in verschiedenen Abschnitten der Ontogenese ist ebenfalls Ausdruck von Entwicklung (vgl. Meng 1988a). Dies gilt auch für die Unterscheidung von KindErwachsenen-Gesprächen einerseits, in denen die Kinder aufgrund des von Wygotski formulierten Gesetzes der „Zone der nächsten Entwicklung" (vgl. Wygotski 1934/ 1964) anfangs stets höhere kommunikative Leistungen vollbringen als zusammen mit Altersgefährten, und Kind-Kind-Gesprächen andererseits (vgl. Ochs/Schieffelin 1979; McTear 1985):-Die Verfahren der Erwachsenen, kleine Kinder in ihrer kommunikativen Aktivität zu stimulieren, zu stützen und sie auf die ihnen mögliche nächsthöhere Entwicklungsstufe zu begleiten, sind in den Untersuchungen zu baby-talk/motherese/ Sprachinput beschrieben worden (vgl. Nelson 1983 und 1985; Wells 1985; Nelson/van Kleeck 1987; Conti-Ramsden/Snow 1990). Einen komplexeren Ansatz zur Periodisierung der Aneignung von Dialogfähigkeit entwirft Dore (1985), indem er Phasen der Entwicklung des Kindes und jeweils phasenspezifische Sozialisationsinstanzen (Mutter-Kind-Dyade, Familie im weiteren Sinne, Kindergarten, Schule) zu den dialogischen Aktivitäten des Kindes in Beziehung setzt. Derartige Fragestellungen sind bisher viel zu wenig aufgeworfen und im Detail verfolgt worden. Die Variation von Kinderdialogen in Abhängigkeit von Institutionen (z.B. Familie, vgl. Martens 1974; Kindergarten, vgl. Meng/Kraft/Nitsche 1991) und Kulturen (vgl. Schieffelin 1990) wurde bisher nur zögernd in Angriff genommen, sofern der frühe Spracherwerb betroffen ist es überwiegt die Suche nach Entwicklungsuniversalien. Die Arbeiten der BernsteinSchule wären hier erneut zu rezipieren und zu bewerten (vgl. u. a. Bernstein 1975). Weitere Themen der gegenwärtigen Kinderdialogforschung sind Dialoge behinderter Kinder (vgl. z.B. Nelson 1983 und 1985; Kuczaj 1984), Kinderdialoge in der interkulturellen Kommunikation und beim ungesteuerten Fremdsprachenerwerb (vgl. u.a. Kutsch/Desgranges 1985; Conti-Ramsen/Snow 1990), soziolinguistische Aspekte der Kinderkommunikation (vgl. Meng 1990) sowie die Bedeutung bestimmter Arten von Kommunikation für den späteren Schriftspracherwerb (vgl. z.B. Cook-Gumperz 1986).

5.

Methodologische und methodische Fragen der ontogenetischen Dialogforschung

Ontogenetische Dialogforschung ist notwendigerweise ein empirisches Unternehmen. Sie hat letzten Endes die Aneignung von Dialogfähigkeit in ihren charakteristischen Etappen in Sequenzaussagen zu beschreiben und in Kausal- und Konditionalaussagen zu erklären. Wenn man dieser Auffassung folgt, die die ontogenetische Entwicklung als individuelle Aneignung von gesellschaftlicher Handlungskompetenz versteht (vgl. Schmidt 1979), dann kann man davon ausgehen, daß eine konkrete Untersuchung zur Entwicklung von Dialogfähigkeit folgende Phasen zu durchlaufen hat:

386 (a)

(b)

(c)

(d)

(e) (f)

Κ. Meng

Bestimmung eines Aspekts von Dialogfähigkeit und eines Zeitraums in der Ontogenese, in dem der gewählte Aspekt vermutlich eine nachweisliche Höherentwicklung durchmacht. Die Basis dafür kann sowohl in vorhandenen wissenschaftlichen Untersuchungen wie auch in Alltagserfahrungen aus der Kommunikation mit Kindern gefunden werden. Analyse des gewählten Aspekts der Dialogfähigkeit auf der Basis von vorhandenen wissenschaftlichen Untersuchungen, Reflexion der eigenen Kommunikationserfahrungen und/oder Befragung von (naiven) Kommunikationsteilnehmern, Zusammenfassung der Analyse zu einem Rekonstrukt dieses Aspekts der Dialogfähigkeit bei kompetenten Kommunikationsteilnehmern; dabei besondere Berücksichtigung der Beziehungen zwischen - sprachlichen und anderen symbolischen Formen, - ihren interaktioneilen Funktionen und - bestimmten Konstellationen von Bedingungen. Gewinnen der empirischen Basis: Aufsuchen und/oder Organisieren von kindlicher Kommunikation des zu untersuchenden Entwicklungsraums, der vermutlich u.a. der gewählte Aspekt der Dialogfähigkeit zugrundeliegt; Konservieren der Kommunikation auf Ton- und/oder Videomitschnitten und Transkribieren als Bedingung für wiederholte und prozeßbezogene Analysen und für Entdeckungsprozeduren. Vorsichtige Nutzung des Rekonstrukts als „Vergleichsmodell" (Fritz 1982) für die Analyse der Mitschnitte und Transkripte, insbesondere für die Gewinnung von Fragen und Interpretationsvarianten im Hinblick auf die kindlichen kommunikativen Aktivitäten mit ihren formalen und funktionalen Dimensionen sowie für die Erkennung von Entwicklungsfortschritten, eventuell auch als Anregung für die Suche nach ergänzendem empirischem Material. Erörterung der Beobachtungen zu den untersuchten kindlichen kommunikativen Aktivitäten im Hinblick auf mögliche Typen von Determinanten. Zusammenfassung der Beobachtungen und Interpretationen zu vorläufigen Sequenz- sowie Kausal- und Konditionalaussagen über den untersuchten Aspekt der Dialogfähigkeit (als eine Basis für Anschlußuntersuchungen).

Bei dieser Beschreibung der Phasen einer empirischen Untersuchung zur Entwicklung der Dialogfähigkeit sind einige Probleme mit Bedacht ausgespart worden, weil sich in bezug auf sie keine allgemeinen Regeln formulieren lassen. Dies betrifft u. a. folgende Aspekte: (i) die Natur des zu untersuchenden Aspekts der Dialogfähigkeit: Es ist nicht von prinzipieller Bedeutung, ob der fokussierte Aspekt mehr globaler oder mehr lokaler Natur ist. Prinzipiell wichtig ist hingegen die beständige Orientierung auf das Wechselverhältnis - von sprachlicher Form und interaktioneller Funktion sowie - von globalen und lokalen Funktionen. (ii) die Art der empirischen Basis: natürliche vs. (quasi-)experimentelle Daten. Beide Typen von Daten haben ihre Vor- und Nachteile. Wichtig ist, die Vorteile beider

18. Die Entwicklung der Dialogfähigkeit bei Kindern

387

Datenarten zu nutzen und sich die Wirkungen der sie konstituierenden Kommunikationssituationen auf die beobachteten kommunikativen Aktivitäten klarzumachen, (iii) die Art der Analyse: quantitativ vs. qualitativ. Die Gegenüberstellung ist unberechtigt. Quantitäten existieren immer nur in bezug auf bestimmte, auszuweisende Qualitäten. Qualitäten haben stets auch eine quantitative Seite. Die Erfassung der Qualität ist ein unverzichtbarer Schritt der Analyse, sie ist mit größter Sorgfalt und Entdeckungsbereitschaft vorzunehmen. Auf diesem Gebiet hat die traditionelle sozialwissenschaftliche Forschung viele Unterlassungssünden oder aber Kapitulationen begangen, weshalb sie wenig zur Erkenntnis der Dialogfähigkeit beigetragen hat. Wenn man aber nicht nur Einzelfälle von Kommunikation analysieren will, sondern Entwicklungstrends und -phasen zu ermitteln bestrebt ist, dann muß man sich mindestens über die Repräsentanz der untersuchten Kommunikationseinheiten Gedanken machen; und letzten Endes erfordert die ontogenetische Dialogforschung auch statistische Aussagen, deren Voraussetzungen freilich nicht in Widerspruch zum komplexen Charakter der sprachlich-kommunikativen Interaktion stehen dürfen. Abschließend sollen die skizzierten Untersuchungsphasen durch ein Beispiel illustriert werden. Ich wähle dazu meine Untersuchung zu „Erzählen und Zuhören" (E&Z) bei Vorschulkindern. (a)

Sie wurde konzipiert unter dem übergeordneten Ziel, wesentliche Entwicklungsdimensionen der sprachlichen Kommunikation im Vorschulalter zu ermitteln. In der Fachliteratur (vgl. insbesondere Rubinstein 1941/1979) und von Vertretern vorschulpädagogischer Institutionen wird die wohlbegründete Auffassung vertreten, daß die Ausbildung komplexer wahrnehmungsentbundener Kommunikation mit asymmetrischer Verteilung des Rederechts im Zentrum der Aneignung von Sprachhandlungsfähigkeit durch Vorschulkinder steht. Als ein wesentlicher und für die Altersstufe repräsentativer Typ dieser Kommunikation wird seit langem das Erzählen angesehen. Als konversationelles Erlebniserzählen hat es in seiner Realisation durch Vorschulkinder bisher jedoch kaum wissenschaftliche Aufmerksamkeit gefunden. Diese Argumente führten zu der Entscheidung, die Erzählkompetenz von Vorschulkindern zu untersuchen.

(b)

Die erforderliche Vergleichsinstanz für die Beschreibung und Interpretation kindlicher Erzähl- und Zuhöraktivitäten wurde auf der Basis der inzwischen zahlreich vorliegenden Untersuchungen zum konversationeilen Erzählen erarbeitet. Sein Kernstück bilden die Aufgaben, die Erzähler und Zuhörer gemeinsam zu lösen haben. Vgl. dazu Übersicht 1 sowie genauer zum Rekonstrukt der Erzählkompetenz Meng (1988b). Übersicht 1: Gemeinsame Aufgaben von Erzähler und Zuhörer in Kommunikationseinheiten des Typs E & Z 1. Einleitungsphase 1.1 Einbettung von E & Z in die laufende Kommunikation bzw. in die Beziehung zwischen den Partnern 1.2 Verständigung darüber, daß man im Kommunikationstyp E & Z kommunizieren will

388

Κ. Meng

1.3 Die Verteilung der Rollen von Erzähler und Zuhörer 2. Durchführungsphase 2.1 Schaffung und Aufrechterhaltung von Verstehensvoraussetzungen beim Zuhörer (Orientieren) 2.2 Darstellung und Rekonstruktion der Ereignisfolge 2.3 Verdeutlichung und Rekonstruktion der Sicht des Erzählers auf die Ereignisfolge 2.4 Kennzeichnung und Erkennung der Art des Realitätsbezugs der Ereignisdarstellung 3. Abschlußphase 3.1 Markierung des Abschlusses der Ereignisdarstellung und Erkennung dieser Markierung 3.2 Der Vergleich der Sichtweisen von Erzähler und Zuhörer in bezug auf die erzählten Ereignisse (c) Die empirische Basis hatten wir uns einerseits in den Transkripten der Longitudinalbeobachtung einer Kindergartengruppe von 2; 10 bis 6 ;3 Jahren und andererseits in den Transkripten quasi-experimenteller Geburtstagsfeiern („Gespräche mit dem Geburtstagsteddy") bereitgestellt. Vgl. Meng/Kraft/Nitsche (1991). (d)—(e) Für die Erläuterung des analytisch-interpretierenden Vorgehens vgl. ebenfalls Meng/Kraft/Nitsche (1991). (f) Die wesentlichen Ergebnisse der vergleichenden Analyse von 3- und 6jährigen Kindern können folgendermaßen zusammengefaßt werden. Unter den Bedingungen der Gruppensituation im Kindergarten und von Kindern, deren Eltern keinen kommunikationsintensiven Beruf ausüben, erwarten wir aufgrund unserer Beobachtungen von 3 j ä h r i g e n folgende Aktivitäten als Erzähler bzw. Zuhörer: In der Einleitungsphase übernehmen die Kinder die Erzählerrolle überwiegend im Rahmen des normalen Sprecherwechsels, teils noch impulsiv (d.h. ohne Prüfung und Schaffung von Rezeptionsbereitschaft beim Zuhörer), teils aber auch schon interaktioneil angemessen (d.h. Herstellung von kommunikativem Kontakt; Übernahme der Sprecherrolle an übernahmerelevanten Punkten der Kommunikation; bei laufender Kommunikation überwiegend Themenfortführung). Als Zuhörer zeigen 3jährige in dieser Phase noch kaum beobachtbare sprachliche Aktivitäten. In der Durchführungsphase stellen die Erzähler-Kinder die Ereignisfolge überwiegend durch eine einfache Mitteilung dar, die die Orientierung durch Ersterwähnungen und verbale Tempusformen gibt und gleichzeitig das Ereignis zusammengefaßt darstellt, inhaltsgebundene Wertungen kommuniziert und im Realitätsbezug gelegentlich unbestimmt ist. Oder die Ereignisdarstellung erfolgt durch eine Mitteilung sowie Antworten auf Zuhörerfragen. Seltener sind noch kurze Folgen von Mitteilungen mit minimaler Detaillierung der Orientierung oder der Ereignisfolge. Die 3jährigen Zuhörer zeigen ambivalente kommunikative Aktivitäten: sie bestätigen das Verstehen der Erzähleräußerungen, beanspruchen aber auch gleichzeitig das Rederecht. In der Abschlußphase betonen die Erzähler-Kinder vor allem die aktuellen Konsequenzen des erzählten Ereignisses und bestätigen die Perspektivenübernahme des (erwachsenen) Zuhörers. Die

18. Die Entwicklung der Dialogfähigkeit bei Kindern

389

kindlichen Zuhörer zeigen in der Abschlußphase kaum beobachtbare sprachliche Aktivitäten. In Verallgemeinerung unserer Beobachtungen erwarten wir von 6 j ä h r i g e n unter vergleichbaren situativen und familiären Bedingungen folgende Aktivitäten als Erzähler bzw. Zuhörer: In der Einleitungsphase zeigen sie als eventuelle künftige Erzähler mehrdeutige Bemühungen um ein ausgedehnteres Rederecht. Sie übernehmen die Sprecherrolle meist interaktioneil angemessen, d.h. sie stellen kommunikativen Kontakt her, nutzen übernahmerelevante Punkte der Interaktion und vermögen bei laufender Kommunikation sowohl Themen zu eröffnen wie auch fortzusetzen. Von den eventuellen künftigen Zuhörern kann man kaum Bitten an einen kindlichen Partner, die Erzählerrolle zu übernehmen, erwarten. In der Durchführungsphase produzieren die kindlichen Erzähler teilweise bereits selbständige Orientierungsäußerungen, überwiegend aber geben sie die Orientierung durch funktionsgerechte Ersterwähnungen, verbale Tempusformen und Episodenmerkmale. Sie haben nicht selten noch Schwierigkeiten mit der Einführung von Personen und Gegenständen, insbesondere aber von Orten. Die Darstellung der Ereignisfolge geschieht überwiegend durch Folgen von Mitteilungen mit Detaillierung der Ereignisfolge, den Aufbau vonTopikketten und die Nutzung verschiedener Mittel zur Darstellung der zeitlichen Beziehungen. Chronologische und nichtchronologische Verfahren werden noch unsystematisch verwendet. Die Kennzeichnung der eigenen Sicht geschieht durch inhaltsgebundene und sprachlich-kommunikative Verfahren. Die Kinder unterscheiden fiktive und wahre Ereignisse und erheben bei Erlebniserzählungen den Wahrheitsanspruch. Die 6jährigen differenzieren deutlich Erzähler- und Zuhörerrolle. Als Zuhörer zeigen sie klar auf den Erzähler abgestimmte kommunikative Aktivitäten: Sie bestätigen Empfang und Verstehen der Erzähleräußerungen; sie signalisieren Verstehensprobleme; sie bekunden die Übernahme der Perspektive des Erzählers und erheben die Forderung nach wahrheitsgemäßer Darstellung. In der Abschlußphase betonen die Erzähler-Kinder die aktuellen Konsequenzen des erzählten Ereignisses und bestätigen die Perspektivenübernahme des Zuhörers. Als Zuhörer signalisieren sie die Erkennung des Abschlusses der Erzählung und bekunden die Übernahme der Perspektive des Erzählers. Der Vergleich der 3jährigen mit den 6jährigen zeigt, daß unter den gegebenen situativen und familiären Bedingungen folgende Dimensionen der Erzählkompetenz im Vorschulalter eine deutlich zunehmende Ausprägung erfahren: (a) (b)

(c) (d)

Es wird eine höhere Komplexität der Ereignisdarstellung angestrebt. Dafür geeignete sprachliche Mittel und Verfahren werden erworben. Es wird ein bestimmtes Verständnis für den monologischen Charakter von Erzählungen entwickelt. Die Konsequenzen für die Beanspruchung des Rederechts durch den Erzähler bzw. die Nichtbeanspruchung des Rederechts durch den Zuhörer werden zunehmend erkannt und beachtet. Die Einführung neuer Themen in ein Gespräch und ihre Ausgestaltung zu Erzählgegenständen wird besser bewältigt. Die Kennzeichnung der Sicht auf die erzählten Ereignisse durch sprachlich-

390

(e)

Κ. Meng

kommunikative Verfahren (und nicht nur durch inhaltsgebundene Verfahren) wird möglich. Es entwickeln sich das Zuhören und das Reagieren auf Ereignisdarstellungen aus der Zuhörerposition.

3- und 6jährige gleichen sich darin, daß der Vergleich der Perspektiven von Erzähler und Zuhörer und die Perspektivenübernahme von besonderer Bedeutung sind. Das Bedürfnis nach sozialem Kontakt ist für sie ein dominierendes Bedürfnis beim E&Z. Auch 6jährige scheinen unter den gegebenen situativen und familiären Bedingungen (noch) nicht über eine klare, an Bewußtheit grenzende Vorstellung von Erzählen als einer monologischen Kommunikationsform zu verfügen, die unter Umständen eindeutig anzukündigen und zu erwarten und systematisch auszugestalten ist (u.a. durch nichtzufälligen Einsatz chronologischer und nichtchronologischer Verfahren). Der Aneignungsprozeß kann und muß fortgeführt werden. Soweit einige (notwendigerweise hypothetische) Sequenzaussagen zur Entwicklung der kindlichen Erzählfähigkeit. Sie wären zu ergänzen durch Konditional- und Kausalaussagen, die Verbindungen zwischen den festgestellten Entwicklungsmomenten und -phasen und Typen von natürlichen und gesellschaftlichen Entwicklungsbedingungen herzustellen hätten (vgl. dazu im Hinblick auf Erzählfähigkeit Hausendorf7Quasthoff 1989; Meng/Kraft/Nitsche 1991; im Hinblick auf Typen von Entwicklungsbedingungen Schmidt 1979 und 1986).

6.

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Katharina Meng, Mannheim

19. Sprachstörungen im Dialog Analyse und Therapie

1. 2. 2.1 2.2 3. 3.1 3.2 3.3 4. 5.

Einleitung Neurolinguistik und Dialoganalyse Ziele und Methoden neurolinguistischer Forschung Der Beitrag der Dialoganalyse zur Neurolinguistik Analyse von Dialogen zwischen Sprachgestörten und Sprachgesunden Verhalten und Handeln, Handlungsversuche, Hinweise Möglichkeiten der Verständnissicherung Diagnostische Relevanz der Dialoganalyse gestörter Kommunikation Sprachtherapie im Dialog Literaturhinweise

1.

Einleitung

Die klinisch unterscheidbaren Störungen der Fähigkeit zu sprechen werden aufgrund ihrer Ätiologie in zwei große Gruppen gegliedert: Störungen, die auf soziale und psychische Ursachen zurückgeführt werden oder deren Ätiologie schlicht ungeklärt ist, und organisch bedingte Störungen. Zu den Sprachstörungen sozialer, psychischer oder ungeklärter Genese zählen etwa die Beeinträchtigung der Kommunikationsfähigkeit bei bestimmten psychischen Erkrankungen (Schwartz 1978) oder bei Sprechangst unterschiedlichster Genese (Lotzmann 1986). Die organischen Störungen der Sprachfähigkeit kann man im Hinblick auf den Ort der Schädigung weiter unterteilen in periphere und zentrale Sprachstörungen. Periphere Störungen sind Beeinträchtigungen der Stimme, der Artikulation oder des Gehörs, die durch Läsion der sensorischen oder motorischen Organe oder der sie versorgenden Nervenbahnen verursacht sind. Zentrale Sprachstörungen sind durch Schädigung des Zentralnervensystems bedingt. Bei funktioneller Beeinträchtigung von Teilen des Gehirns entstehen ganz verschiedene charakteristische Sprachstörungen. Das Spektrum reicht von Lähmungen im Bereich der Artikulatoren, verursacht durch Schädigung im primären motorischen Cortex, über Koordinationsstörungen der Artikulationsbewegungen, wie sie bei basalen,

394

F. Pulvermüller

cerebellaren und cortikalen Schädigungen auftreten, bis hin zu Sprachentwicklungsbehinderungen und Aphasien, die meist auf Cortexläsionen, in einigen Fällen aber auch auf Läsionen in tieferliegenden Hirnteilen zurückgehen. Sprachstörungen treten auch im Rahmen von verschiedenen neurologischen Erkrankungen zusätzlich zu anderen neuropsychologischen Symptomen auf. Ein Beispiel hierfür ist die Alzheimer'sche Krankheit, zu deren Symptomen neben einer Merkfähigkeitseinbuße auch eine typische Sprachstörung gehört. Umfassende Darstellungen der Sprachstörungen, die von neurologischer, psychiatrischer und phoniatrischer Seite unterschieden werden, geben einschlägige Lehrbücher (Böhme 1978ff.; Leischner 1987; Poeck 1989; Rosenbek/ LaPointeAVertz 1989). Linguistisch betrachtet sind organische Sprachstörungen unter verschiedenen Aspekten beschreibbar. Artikulationsstörungen können unter phonetischen und phonologischen Gesichtspunkten charakterisiert werden. Aphasien, Sprachentwicklungsbehinderungen und Sprachstörungen bei Alzheimer-Demenz treten unabhängig von Lähmungen der Artikulationsmuskeln und auditiven Ausfällen auf. Sie können unter phonologischen, morphologischen, syntaktischen, semantischen und pragmatischen Aspekten näher spezifiziert werden. Diese Syndromgruppen (Aphasien, Sprachentwicklungsbehinderungen und Alzheimer-Demenz) eröffnen somit für die Dialoganalyse ein wichtiges Anwendungsfeld. Auf sie wird deshalb in den nachfolgenden Abschnitten vor allem eingegangen. Aus dialoganalytischer Sicht ergeben sich u. a. nachfolgende Fragestellungen, die in den jeweils in Klammern angegebenen Abschnitten dieses Artikels zur Sprache kommen sollen: (a)

Wie hängt kommunikatives Handeln mit dem Funktionieren des Gehirns zusammen? (vgl. 2.) (b) Welche Hirnteile sind für die Fähigkeit zu sprechen und zu verstehen notwendig? (vgl. 2.) (c) Welche neurophysiologischen Vorgänge laufen ab, wenn wir sprachlich handeln? (vgl. 2.1) (d) Wie lassen sich kommunikative Handlungen und mißlungene Handlungsversuche von Sprachgestörten beschreiben und erklären? (vgl. 2.2 und 3.1) (e) Wie läßt sich die Fähigkeit eines Sprachgestörten, kommunikative Handlungen zu vollziehen, differenziert beschreiben oder sogar bewerten? (vgl. 3.1 und 3.3) (f) Wie lassen sich aufgrund von Sprachstörungen entstehende Kommunikationsprobleme überwinden? (vgl. 3.2) (g) Welche Möglichkeiten gibt es für die Therapie von Sprachstörungen, wenn diese die Verbesserung der Verständigung im Alltag zum Ziel hat? (vgl. 4.)

19. Sprachstörungen im Dialog - Analyse und Therapie

2.

Neurolinguistik und Dialoganalyse

2.1

Ziele und Methoden neurolinguistischer Forschung

395

Grob gesagt ist es das Ziel neurolinguistischer Forschung, den Zusammenhang zwischen Sprechen und Gehirnvorgängen zu klären. Zu diesem Zweck werden empirische Untersuchungen durchgeführt, die unterschiedlichste Datengrundlagen nutzen. Eine besonders intensiv ausgeschöpfte Datenquelle sind dabei die Handlungen von Aphasikern in bestimmten Testsettings. Neurolinguistische Untersuchungen an Aphasikern beantworten zunächst die Frage nach denjenigen Hirnteilen, die für bestimmte sprachliche Fähigkeiten notwendig sind. Der aufgrund solcher Ergebnisse oft gezogene Schluß auf den „Sitz" der Sprachfähigkeit in einzelnen Hirnteilen ist streng genommen nicht gelungen. Man kann aber unproblematisch von einem Hirnteil als Sprachzentrum reden, wenn man damit meint, daß eine Läsion in diesem Gebiet eine Verminderung der Fähigkeit zu sprechen nach sich zieht. Nachfolgend seien einige Zusammenhänge zwischen der Beeinträchtigung der Sprachfähigkeit und Läsionen in bestimmten Hirnteilen genannt. Der neuroanatomisch ungeschulte Leser sei im Hinblick auf diesen Abschnitt auf Einführungsbücher, wie etwa Forssmann/Heym (1982), verwiesen. Abbildung 1 gibt einen Überblick über cortikale Sprachzentren. Schädigungen im primären motorischen Bereich beider Cortexhemisphären können Lähmungen der Artikulatoren und damit eine Störung der Artikulation verursachen. Im sensorischen Bereich bewirkt die Schädigung der primären akustischen Rinde (Brodmann Area 41 und 42) auf beiden Seiten eine Beeinträchtigung des Hörvermögens. Außer für die traditionellen Sprachzentren, das Broca· und das Wemicke-Areal (Area 44 und 45 bzw. hintere Hälfte von Area 22) ist für weitere Cortexteile gezeigt, daß ihre Schädigung eine Aphasie verursachen kann. Hier ist zunächst die direkte Nachbarschaft von Area 22 zu nennen (Area 37, 39 und 40) sowie das sekundäre motorische Areal und andere präfrontal gelegene Bereiche (vgl. Fuster 1989). Diese Sprachzentren sind meist in nur einer Hemisphäre lokalisiert. Es wurde schon früh behauptet, daß Aphasie bei Rechtshändern nur durch Schädigung der linken Großhirnhemisphäre verursacht werden kann (Broca 1861; Wernicke 1874). Diese Faustregel hat zwar Ausnahmen - sogenannte gekreuzte Aphasie bei Rechtshändern mit rechtshemisphärischer Schädigung (Basso et al. 1985) - , doch ist sie in der großen Mehrzahl der Fälle zutreffend. Bei Linkshändern ist die Lage komplizierter. Meist zieht auch bei dieser Gruppe eine kontralaterale Cortexläsion eine Aphasie nach sich, doch kann häufig auch eine ipsilaterale Schädigung eine aphasische Sprachstörung auslösen. Neben cortikalen Läsionen können auch subcortikale Schädigungen im Bereich von Thalamus, Capsula interna, Nucleus caudatus oder Putamen aphasische Sprachstörungen hervorrufen. (Für einen Forschungsüberblick vgl. Caplan 1987, 345-402 und Rosenbek/LaPointe/Wertz 1989.) Insgesamt zeigt sich, daß ein großer Teil des Gehirns für die Verwendung und das Verstehen von Sprache notwendig ist. Die Frage nach den neurophysiologischen Vorgängen, die eine notwendige Voraussetzung für Sprachverwendung und -verstehen

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Abbildung 1: Gebiete der linken Großhirnrinde (Cortex), deren Läsion beim Rechtshänder in der Regel Sprachstörungen verursacht: - Broca Region - Brodman Area 44 und 45, - Wernicke Region - posteriorer Teil von Brodman Area 22 - Andere Regionen in der Umgebung dieser klassischen Sprachzentren, wie z.B. Teile von Area 6 und vor der Broca-Region gelegene Gebiete oder große Bereiche der Area 21, 37, 39 und 40, die die Wernicke-Region umschließen. Weiterhin das dorsal im prämotorischen Bereich gelegene „tertiäre Sprachzentrum", das in etwa das Gebiet des sekundären motorischen Cortex umfaßt (Teile von Area 6 und 8). - Eine Läsion in Bereichen des primären motorischen Feldes (Area 4) in der Nähe der sylvischen Furche bzw. im primären akustischen Feld (Area 41) führt zu zentralen Artikulations- bzw. Hörstörungen.

sind, bleibt aber weitgehend unbeantwortet. Nach dem Fodor'schen kognitionspsychologischen Konzept (Fodor 1975) kann das Ziel der Aufklärung der Zusammenhänge zwischen Funktionsweise des Gehirns und kognitiven Zuständen und Vorgängen mit zwei unterschiedlichen, sich gegenseitig ergänzenden Strategien verfolgt werden. Erstens durch eine genaue Untersuchung, Charakterisierung und Modellierung der kognitiven Fähigkeit, eine Sprache zu verwenden; zweitens durch Untersuchung, Charakterisierung und Modellierung der Funktionsweise des Gehirns. Die beiden entste-

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henden Typen von Theorien sollen schließlich zur Deckung gebracht werden. Zur Zeit verfolgt die große Mehrzahl der Arbeiten zur Neurolinguistik und zur linguistischen Aphasieforschung die zuerst genannte Strategie. Es wird dort versucht, die Fähigkeit zu sprechen mit einem naturgesetzlich funktionierenden Mechanismus zu identifizieren - wobei allerdings Reflexionen über die neuronalen Grundlagen des Apparates in der Regel unterbleiben (vgl. Garrett 1984; Kean 1979; 1985; Leuninger 1989). Als Grundlage für solche psychologischen Modelle der Sprachfähigkeit dient vor allem die modulare Konzeption, die eine separate Repräsentation verschiedener (Beschreibungs-)Aspekte der Sprachfähigkeit in funktionellen Einheiten oder Modulen postuliert (Fodor 1983). In der Zukunft könnten derartige psychologische Modellbildungen sinnvoll durch neurobiologische ergänzt werden, so daß ein Zusammenhang hergestellt werden kann zwischen vermuteten psychologischen Repräsentationen oder Prozessen einerseits und neuroanatomischen Strukturen und neurophysiologischen Abläufen andererseits. Die Entwicklung solcher neurobiologischen Modelle der Sprachverarbeitung befindet sich bisher in einem Anfangsstadium (Anderson 1984; Brakenberg/ Schüz 1992; Braitenberg/Pulvermiiller 1992; Damasio/Damasio 1989; Pulvermüller 1992; Pulvermüller/Preißl 1991; Rumelhart/McClelland 1986; Wood 1982). Die Datengrundlage neurolinguistischer Theoriebildungen sind in vielen Fällen die sogenannten „sprachlichen Fähigkeiten" von Aphasikern. „Sprachliche Fähigkeiten" werden aufgrund von Untersuchungen der Spontansprache, des Benennens, des Zuordnens von Bildern zu sprachlichen Einheiten, des Lesens und des Schreibens ermittelt (Caplan 1987, 329; Huber et al. 1983; 1989; vgl. auch schon Lichtheim 1885). Weiter finden Grammatikalitätsurteile von Aphasikern häufig als Evidenzquelle Verwendung (Leuninger 1989). Die typischen neurolinguistischen Untersuchungssettings sind so organisiert, daß der Patient mit großer Wahrscheinlichkeit Versuche unternimmt, bestimmte Äußerungsformen zu verwenden bzw. bestimmte vorgegebene Äußerungsformen zu verstehen. Aus dialoganalytischer Sicht muß festgehalten werden, daß sich die Untersuchungsverfahren nicht für die Bestimmung von Fähigkeiten des Patienten eignen, unterschiedliche sprachliche Handlungen zu vollziehen. Die Untersuchungsverfahren erlauben lediglich die Bestimmung von Äußerungsfähigkeiten und von Fähigkeiten, Äußerungshandlungen zu verstehen. Die Fertigkeit, Äußerungen einzusetzen, um zu kommunizieren, ist im Rahmen solcher Untersuchungen nicht oder nur unzureichend erfaßbar (zu einer Diskussion vgl. Pulvermüller 1990a; 1991b; Pulvermüller/Roth/Schönle 1992).

2.2

Der Beitrag der Dialoganalyse zur Neurolinguistik

Aphasien wurden früher als Sprachstörungen betrachtet, die ausschließlich unter phonologischen, morphosyntaktischen und semantischen Aspekten zu beschreiben sind (vgl. Huber et al. 1989). Das ist u.a. damit zu erklären, daß die traditionellen klinischen und neurolinguistischen Untersuchungsverfahren keine weiteren Informationen über Defizite der Patienten im Bereich sprachlichen Handelns ermöglichten. Sie lieferten lediglich Informationen im Hinblick auf Äußerungsfähigkeiten und Fähigkei-

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ten, Äußerungshandlungen zu verstehen. Erst in jüngster Zeit wurde mit der Anwendung pragmatischer Verfahren auf gestörte Kommunikation die systematische Beschreibung von Defiziten unter weiteren Aspekten sprachlichen Handelns möglich. Empirische Ergebnisse zeigen, daß kommunikative Handlungen von Aphasikern unter verschiedenen pragmatischen Aspekten als abweichend beschrieben werden müssen (z.B. Prutting/Kirchner 1987). Entsprechend konnte auch gezeigt werden, daß Patienten mit organisch bedingter Sprachentwicklungsstörung spezifische pragmatische Defizite aufweisen (Füssenich 1987; Harden 1989; Prutting/Kirchner 1983). Im Rahmen der Dialoganalyse können kommunikative Defizite z.B. unter folgenden Aspekten systematisch erfaßt werden : (i)

die phonologische und die morphosyntaktische Struktur verwendeter Äußerungsformen, (ii) die sprachlichen Handlungsmuster, denen Äußerungshandlungen zugeordnet werden können, (iii) die Wissenskonstellationen, bei denen Handlungen vollzogen werden, (iv) die Intentionen und Ziele, die mit sprachlichen Handlungen verfolgt werden, (v) die sequentiellen Zusammenhänge, in denen die sprachlichen Handlungen vollzogen werden, (vi) die thematischen Zusammenhänge, in denen die sprachlichen Handlungen vollzogen werden, (vii) die Strategien, mit denen die Gesprächspartner handeln, (viii) die strategischen Prinzipien, an denen sich die Gesprächspartner orientieren. Charakterisierungen unter sprachstrukturellen Gesichtspunkten bilden also ein mögliches Element dialoganalytischer Beschreibungen. Im Zusammenhang einer Beschreibung der kommunikativen Handlungen von Sprachgestörten können darüberhinaus in manchen Fällen vermeintliche semantische oder syntaktische Defizite als Resultat angewandter Gesprächsstrategien erklärt werden (vgl. Mellies/Winnecken 1990). Nachfolgend soll vor allem auf kommunikative Defizite von Sprachgestörten aufmerksam gemacht werden, die im Rahmen der Dialoganalyse für die systematische linguistische Beschreibung erschlossen werden können. Es ist weitgehend bekannt, daß Aphasiker mit Läsion der Temporalregion häufig eine mangelhafte Krankheitseinsicht im Hinblick auf ihre kommunikativen Störungen zeigen. Ein neurologisch bedingtes Defizit im Hinblick auf die Krankheitseinsicht wird in der Medizin Anosognosie oder (in leichten Fällen) Anosodiaphorie genannt (Prosiegel 1988). Die Frage, wie sich anosognostische Defizite bei Aphasikern zeigen, kann mit dialoganalytischen Mitteln unproblematisch beantwortet werden. Das Wissen des Sprachgestörten um Defizite beim sprachlichen Handeln und Verstehen sprachlicher Handlungen zeigt sich in erster Linie anhand seiner Reaktionen im Verlauf von Verständnissicherungssequenzen. Mithilfe einer Dialoganalyse solcher Teile von Gesprächen können unterschiedliche Grade des Wissens des Kranken um das eigene kommunikative Defizit differenziert werden (vgl. Pulvermüller 1990a, 107ff.). Anosognostische Defizite im Hinblick auf sprachliche Probleme sind also dialoganalytisch als ein Symptomtyp der Kommunikationsstörung bei bestimmten Aphasieformen zu beschreiben.

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Verschiedentlich wurde darauf hingewiesen, daß bei Aphasie häufig Störungen der Aufmerksamkeit zu beobachten sind. Aufmerksamkeitsstörungen manifestieren sich bei Sprachgestörten vor allem in Turn-Taking-Defiziten, d.h. in Problemen beim Sprecherwechsel. Dialoganalytisch orientierte Methoden, mit deren Hilfe das kommunikativ relevante Aufmerksamkeitsdefizit beim Turn-Taking detailliert erfaßbar ist, können also einen wertvollen Beitrag zur Beschreibung eines weiteren Charakteristikums bestimmter Sprachstörungen leisten. Der englische Neurologe Hughlings Jackson hat Ende des vergangenen Jahrhunderts ein bei Aphasie regelmäßig anzutreffendes Phänomen beschrieben, dessen Analyse ebenfalls die Nützlichkeit des begrifflichen Instrumentariums der Dialoganalyse im Hinblick auf die Kommunikationsstörung Aphasie zeigt (vgl. Jackson 1958). Jackson beschrieb Aphasiker, die eine Äußerungsform beim Handeln nach einem bestimmten Handlungsmuster nicht mehr verwenden konnten, die aber dieselbe Äußerungsform bei Handlungen nach anderen Mustern ohne weiteres gebrauchten. Ein Beispiel hierfür ist die Aphasikerin, die aufgefordert wird, den Namen ihrer Tochter zu nennen, und schließlich nach mißlungenen Versuchen aufgibt mit den Worten: „Meine arme kleine Jacqueline, ich weiß nicht einmal mehr Deinen Namen." Die Beschreibung des Defizits, das hier zum Vorschein kommt, erfordert eine Charakterisierung der Handlung, die die Aphasikerin mit der fraglichen Äußerungsform zu vollziehen versucht bzw. vollzieht. Es gelingt ihr nicht, auf Aufforderung den Namen der Tochter zu nennen. Sie kann aber auf ihre Tochter Bezug nehmen, indem sie den Namen gebraucht. Dieses Defizit kann nicht adäquat sprachstrukturell beschrieben werden. Das Hughlings-Jackson-Phänomen ist als Beeinträchtigung, so und so sprachlich zu handeln, näher zu spezifizieren. Auch im Hinblick auf die Sprachstörung, die bei der Senilen Demenz vom Alzheimer-Typ auftritt, erscheint ein dialoganalytisches Beschreibungsinstrumentarium erforderlich. Verschiedene Autoren haben gezeigt, daß Alzheimerkranke spezifische Störungen des kommunikativen Handelns zeigen. Solche Störungen wurden bisher vor allem unter den Aspekten des Wissens um sequentielle und thematische Zusammenhänge beschrieben (Blanken et al. 1987; Ulatowska et al. 1988). Weitergehende Beschreibungsversuche typischer Abweichungen von Alzheimer-Patienten scheinen die Nützlichkeit der Berücksichtigung auch anderer dialoganalytischer Beschreibungsaspekte zu erweisen (vgl. 3.3).

3.

Analyse von Dialogen zwischen Sprachgestörten und Sprachgesunden

In den nachfolgenden Abschnitten werden zunächst Elemente einer dialoganalytischen Begrifflichkeit für die Beschreibung gestörter Kommunikation vorgestellt. Im zweiten Abschnitt komme ich dann auf kommunikative Handlungsmuster und Strategien zu sprechen, die im Hinblick auf das Ziel der Reparatur von kommunikativen Unfällen relevant werden. Im dritten Abschnitt wird schließlich exemplarisch auf

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Anwendungsfelder dialoganalytischer Methoden im klinisch-linguistischen Bereich hingewiesen.

3.1

Verhalten und Handeln, Kommunikationsversuche, Hinweise

Im Hinblick auf Äußerungen von schwer Sprachgestörten kann zunächst fraglich erscheinen, ob artikulierte Lautfolgen überhaupt in irgendeiner Hinsicht absichtlich, intentional gebraucht sind. Hier wird im Rahmen der Dialoganalyse die in der sprachanalytischen Philosophie übliche Unterscheidung zwischen naturgesetzlich determiniertem Verhalten und intentionalem Handeln relevant (v. Wright 1971). Eine Äußerung eines Aphasikers oder eines Sprachentwicklungsbehinderten kann zunächst als naturgesetzlich verursachtes Phänomen beschrieben werden, als etwas, was dem Produzenten der Lautfolge widerfahren ist. Der Beschreibende geht dann keinerlei Festlegungen ein im Hinblick auf das, was der Lautproduzent mit seiner Bewegung wollte oder bei seiner Äußerung angenommen hat. Solche Beschreibungen können im Hinblick auf Äußerungen angemessen sein, für die der Beschreibende kein Verständnis als intentionales Handeln sieht. In der Klinik kann das sicher bei Artikulationen von Apallikern, in einzelnen Fällen aber auch bei Äußerungen von Patienten mit schwerer Sprachstörung der Fall sein. Sieht der Beschreibende die Möglichkeit eines Interesses des Sprachgestörten (As), sich zu verständigen, so kann er eine Äußerung als Kommunikationsversuch beschreiben. Er legt sich dann auf die Annahme fest, (i) daß A mit seiner Äußerung eine kommunikative Intention verfolgt hat. Im Falle schwerer Sprachstörungen können die Indizien, die u.U. für eine Beschreibung von Äußerungen als Kommunikationsversuche sprechen, von unterschiedlichster Art sein. Neben dem sequentiellen Zusammenhang, in dem eine Äußerung steht, können gleichzeitige gestische oder mimische Handlungen ebenso relevant werden, wie eventuelle prosodische Besonderheiten der Äußerung selbst. Das Wissen oder die plausiblen Annahmen des Beschreibenden über die kommunikativen Ziele des Sprachgestörten, der einen Kommunikationsversuch unternimmt, können unterschiedlich weit reichen. Der Beschreibende wird in vielen Fällen sehen, daß der Patient ein Turn Übernahmeinteresse signalisiert, daß er zu verstehen zu geben versucht, daß er etwas sagen will. Oftmals kann der Beschreibende verstehen oder wenigstens Vermutungen anstellen, von welchem Gegenstand der Sprachgestörte zu reden versucht, was er von einem Gegenstand zu prädizieren versucht oder welchen Typ kommunikativer Handlung der Sprachgestörte zu vollziehen versucht. Manchmal kann der Beschreibende aufgrund von Indizien aus dem Kommunikationszusammenhang das Handlungsmuster genau beschreiben, nach dem der Sprachgestörte zu agieren versucht hat. Schließlich gibt es Fälle, in denen darüberhinaus evident ist, welche Äußerungsform zu verwenden intendiert war. Im Hinblick auf den Zusammenhang zwischen Äußerungshandlung und kommunikativem Handlungsmuster unterscheiden sich geglückte Sprechakte und Kommunika-

19. Sprachstörungen im Dialog - Analyse und Therapie

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tionsversuche grundlegend. Mit der Charakterisierung als geglückte kommunikative Handlung legt sich der Beschreibende auf die Annahme fest, (ii) daß die Verwendung der Äußerungsform S im gegebenen Kommunikationszusammenhang aufgrund des Könnens oder Wissens von A und in der betreffenden Sprachgemeinschaft ein adäquates Mittel ist, um eine Handlung nach dem Muster X zu vollziehen. Im Fall der Beschreibung einer Äußerung als Resultat eines Kommunikationsversuchs geht der Beschreibende die Festlegung (ii) nicht ein. Er kann also die Behauptung an die Beschreibung anschließen, daß die Verwendung von S in der betreffenden Sprachgemeinschaft kein adäquates Mittel ist, um eine Handlung nach dem Muster X zu vollziehen. Der Beschreibende kann sogar darauf hinweisen, daß die Verwendung von S im gegebenen Zusammenhang auch in den Augen dessen, der die Äußerung vollzogen hat, ein nur schwer oder nicht verstehbares Mittel war, um zu x-en. Viele besonders eindrucksvolle mißlungene Kommunikationsversuche von Sprachgestörten zeichnen sich dadurch aus, daß die Verwendung der geäußerten sprachlichen Einheiten der kommunikativen Intention des Sprachgestörten zuwiderläuft. Unter den gelungenen kommunikativen Handlungen ist eine weitere Unterscheidung sinnvoll. In vielen Fällen ist das Repertoire von Verständigungsmitteln, die einem Sprachgestörten zur Verfügung stehen, in charakteristischer Weise eingeschränkt. Wenn er diese Repertoireeinschränkung überblickt, so kann er Strategien entwickeln, die es ihm erlauben, die ihm zur Verfügung stehenden reduzierten Mittel für seine kommunikativen Interessen effektiv einzusetzen. Äußerungen sind dann oft ohne weiteres verständlich, obwohl sie unter phonologischen, morphologischen, syntaktischen oder semantischen Aspekten als abweichend klassifizierbar sind. Von solchen sprachlichen Handlungen kann in Anlehnung an ethnomethodologische Arbeiten als von hints oder Hinweisen gesprochen werden. Ein Beschreibender, der eine Handlung As als Hinweis charakterisiert, legt sich darauf fest, (iii) daß die Verwendung der Äußerungsform S im gegebenen Kommunikationszusammenhang aufgrund des Wissens von A und in der betreffenden Sprachgemeinschaft ein unter einem Aspekt abweichendes Mittel ist, um eine Handlung nach dem Muster X zu vollziehen. Natürlich kann der Beschreibende nur aus dem Kommunikationszusammenhang Indizien für die Ansicht gewinnen, daß ein Sprachgestörter eine Äußerungsform als abweichend betrachtet. Solche Indizien können zum Beispiel präventive Verständnissicherungsmaßnahmen sein, wie etwa DARAUF HINWEISEN, DASS EINEM DAS RICHTIGE WORT NICHT EINFÄLLT oder DEN GESPRÄCHSPARTNER UM GEDULD BITTEN. Auch eine Folge mißlungener Kommunikationsversuche kann ein Indiz dafür sein, daß eine nachfolgende sprachliche Handlung angemessen als Hinweis zu beschreiben ist. Die hier besprochenen Unterscheidungen zwischen Verhalten, Handlungsversuch und Hinweis sind exemplarisch erläutert und weiter ausdifferenziert in Pulvermüller (1990a, b; 1991b). Verwandte Differenzierungen finden sich bei verschiedenen Autoren (ζ. B. bei Andresen 1985; 1990; Kotten 1979; Lubinski et al. 1980).

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Neben der detaillierten Charakterisierung der sprachlichen Handlung eines Sprachgestörten wird es in vielen Fällen relevant, auch ein abweichendes Verständnis zu beschreiben, das ein Patient mit Sprachverständnisdefizit von einer kommunikativen Handlung eines Gesprächspartners hat. Das vorliegende kommunikationsanalytische Instrumentarium erlaubt die Beschreibung von Inkongruenzen zwischen Gemeintem und Verstandenem (Fritz 1989). Die dort angewandten Beschreibungsprinzipien lassen sich unproblematisch bei der Analyse gestörter Kommunikation verwenden.

3.2

Möglichkeiten der Verständnissicherung

Macht ein Aphasiker oder ein anderer Sprachgestörter einen Kommunikationsversuch, der scheitert, so ist immer eine Reihe von Möglichkeiten eröffnet, die beeinträchtigte Kommunikation zu „reparieren". Sowohl der Sprachgestörte selbst als auch einer seiner Gesprächspartner hat die Möglichkeit, durch einen Anschlußzug oder eine Folge von Zügen zur Sicherung der Verständigung beizutragen. In teilweise sehr komplexen Verständnissicherungssequenzen können die Gesprächspartner auch nach gravierenden Mißverständnissen oft noch das Gelingen der Kommunikation erreichen. Direkte Anschlußmöglichkeiten eines Sprachgestörten (A) an einen eigenen mißglückten kommunikativen Versuch zu x-en sind beispielsweise die nachfolgend genannten. -

A kann sich selbst korrigieren, indem er x-t, A kann eine Korrektursequenz einleiten, A kann einen Hinweis darauf geben, daß er x-en wollte, A kann einen zweiten Versuch unternehmen, zu x-en, A kann einen Versuch unternehmen, eine Äußerungsform für das x-en herzuleiten.

Durch solche Züge des sprachlich Handelnden zeigt sich sein Wissen um die Defizite der von ihm vollzogenen Handlungen. Nur wenn Züge dieser Typen unterbleiben, kann ein Beschreibender die Hypothese aufstellen, daß der Patient einen mangelhaften Überblick über seine kommunikativen Probleme hat oder das Störungsbild einer Anosognosie zeigt. Ein Gesprächspartner von Sprachgestörten hat in aller Regel viel weitergehende Möglichkeiten als diese, nach einem Mißverständnis zur Herstellung von Verständigung beizutragen. Je nachdem, wie weit seine Vermutungen, seine Annahmen oder sein Wissen um die kommunikativen Intentionen und Fähigkeiten eines Sprachgestörten gehen, kann der Gesprächspartner (B) unterschiedlichste Anschlußzüge an einen mißglückten Kommunikationsversuch zu x-en seitens des Sprachgestörten (A) folgen lassen. Nachfolgend ist wieder eine Auswahl von Anschlußmöglichkeiten genannt. -

Β kann A auffordern, den mißglückten Versuch unter dem und dem Aspekt zu klären, Β kann A auffordern, einen weiteren Versuch, zu x-en zu unternehmen, Β kann A fragen, was A zu verstehen geben wollte,

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-

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Β kann die Vermutung äußern, daß A das und das zu verstehen geben wollte, Β kann A die Rückversicherungsfrage stellen, ob A das und das zu verstehen geben wollte.

Der Gesprächspartner kann nur dann die ersten beiden Alternativen wählen, wenn er annimmt, daß der Sprachgestörte grundsätzlich dazu in der Lage ist, eine Präzisierung oder einen (besser gelingenden) Versuch, zu x-en zu unternehmen. Fragen, was A zu verstehen geben wollte, kann Β dann stellen, wenn er im Hinblick darauf keine plausible Vermutung und kein Wissen hat. Hat Β ein plausibles Verständnis des Kommunikationsversuchs As, so kann er seine Vermutung äußern, und falls er sich im Hinblick auf sein Verständnis sicher ist, so kann er sich rückversichern, ob sein Verständnis angemessen ist. Typische Verständigungsmittel für den Vollzug von VERMUTUNGSÄUSSERUNGEN und RÜCKVERSICHERUNGSFRAGEN sind Entscheidungs- und Alternativfragesätze. Mit solchen Äußerungsformen können dem Sprachgestörten sozusagen Vorgaben gemacht werden, auf die er mit wenig komplexen sprachlichen Mitteln reagieren kann, um so kommunikative Handlungen zu vollziehen, die ihm ohne Vorgaben nicht möglich wären (Roth 1984). Zu einer ausführlichen Diskussion der in diesem Abschnitt erwähnten und anderer Verständnissicherungszüge vgl. Pulvermüller (1990 a, 115—141).

3.3

Diagnostische Relevanz der Dialoganalyse gestörter Kommunikation

In diesem Abschnitt sollen zwei Beispiele angeführt werden, an denen sich die klinische Relevanz dialoganalytisch orientierter Untersuchungsverfahren zeigt. Die Bestimmung der kommunikativen Fähigkeiten von Aphasikern ist eine notwendige Voraussetzung für die sinnvolle Planung von Sprachtherapie. Erst wenn der Therapeut ein Wissen um die kommunikativen Defizite und die verbliebenen Fertigkeiten eines Patienten hat, kann er diejenigen Sprachübungen auswählen, mit denen Ziele verfolgt werden können wie einerseits der systematische Abbau der individuellen Defizite und andererseits der strategisch günstige Einsatz der verbliebenen Fertigkeiten. Verschiedentlich wurden sprachtheoretische Argumente angeführt, warum traditionelle Sprachtests, die auf den phonologischen, den morphosyntaktischen und den semantischen Aspekt der Sprachverwendung beschränkt sind, keine weitgehenden Aussagen über kommunikative Fähigkeiten und Defizite erlauben können (vgl. 2.2). Darüberhinaus scheinen neuere empirische Arbeiten zu belegen, daß traditionelle Sprachtests nur ein unzureichendes Bild der kommunikativen Kompetenz von Aphasikern übermitteln (Herrmann et al. 1989; Holland 1980; Lomas et al. 1989; Pulvermüller 1991b). Die Beurteilung der kommunikativen Kompetenz Sprachgestörter kann mit Hilfe dialoganalytischer Verfahren vorgenommen werden. Die Kommunikation, die die Datengrundlage bildet, kann entweder frei, d.h. ohne thematische oder sequentielle Einschränkungen (Andresen 1990; Bauer/Kaiser 1989) oder im Rahmen eines standardisierten Testsettings (Herrmann et al. 1989; Pulvermüller 1990c) durchgeführt werden.

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Die Bestimmung kommunikativer Fähigkeiten mit Hilfe des begrifflichen Instrumentariums und der Methodik der Dialoganalyse ermöglicht zunächst eine angemessene individuelle Therapieplanung. Darüberhinaus kann sie entscheidend zur Feststellung des Erfolgs von Sprachtherapie beitragen. Gegen die bis heute durchgeführten Studien, mit denen zu belegen gesucht wird, daß Sprachtherapie erfolgreich ist, kann jeweils der Validitätseinwand geführt werden. Die bisher durchgeführten Therapiestudien zeigen allenfalls, daß sich die Scores behandelter Patienten in traditionellen Sprachtests signifikant verbessert haben (vgl. z.B. Poeck et al. 1989; Rosenbek et al. 1989, 104—130). Der Nachweis, daß tatsächlich die kommunikativen Fähigkeiten der therapierten Patienten infolge von Sprachtherapie zugenommen haben, ist in keinem Fall gelungen (zu einer Diskussion vgl. Pulvermüller 1990a). Es erscheint fraglich, ob valide Sprachtherapiestudien überhaupt ohne die Bestimmung kommunikativer Fortschritte mit Hilfe differenzierter dialoganalytischer Methoden möglich sind. In verschiedenen linguistischen Arbeiten wird darauf hingewiesen, daß die Senile Demenz vom Alzheimer-Typ (SDAT) u. a. durch eine spezifische Sprachstörung gekennzeichnet ist (vgl. Abschnitt 2.2). Die Frühdiagnose dieser Demenzform stellt den Kliniker vor große Probleme, weil sich Alzheimerkranke sowohl aufgrund ärztlicher Untersuchungen als auch aufgrund der Ergebnisse in einschlägigen neuropsychologischen Tests nur schwer von Kranken anderer Syndrome (z.B. Major Depression) unterscheiden lassen. In einer neuerdings durchgeführten Studie wurde versucht, das kommunikative Verhalten bzw. Handeln von Patienten in einem ca. zehnminütigen Dialog zur Grundlage der Früherkennung der Alzheimer'schen Krankheit zu machen (Romero et al. 1990). Es zeigte sich, daß für einen sehr großen Prozentsatz der SDATKranken schon in einem frühen Stadium der Krankheit aufgrund bestimmter Besonderheiten ihres kommunikativen Handelns eine korrekte Diagnose gestellt werden konnte. Folgende Aspekte des kommunikativen Handelns von Alzheimerkranken im Frühstadium waren dialoganalytisch als abweichend charakterisierbar: die thematischen und die sequentiellen Zusammenhänge von Mehrfachzügen des Patienten, die Kalkulation Gemeinsamen Wissens durch den Patienten, die sequentiellen Zusammenhänge zwischen den sprachlichen Handlungen des Untersuchers und den Anschlußzügen des Patienten.

4.

Sprachtherapie im Dialog

Das vordringlichste Ziel der Therapie organischer Sprachstörungen ist die Verbesserung der Verständigung zwischen dem sprachgestörten Patienten und seinen Gesprächspartnern im Alltag. Dieses Ziel kann prinzipiell auf zwei sich ergänzenden Wegen verfolgt werden, (a) durch die Therapie des Sprachgestörten, mit der eine Vergrößerung seiner kommunikativen Fähigkeiten angestrebt wird, und (b) durch das Training derjenigen Personen, die im Alltag häufig oder regelmäßig mit Sprachgestörten kommunizieren, womit zunächst eine Vergrößerung deren Fähigkeiten angestrebt

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wird, verständnissichernde Maßnahmen angemessen und effektiv einzusetzen. Während die erste Strategie von der Mehrzahl der sprachtherapeutischen Ansätze verfolgt wird, wurde die zweite bisher oft etwas stiefmütterlich behandelt. Erst neuerdings diskutieren verschiedene Autoren die Einbeziehung von Alltagsgesprächspartnern Sprachgestörter in die Therapie (Lyon 1988; Norlin 1986; Roth 1984; 1989; Währborg/ Borenstein 1988). Für die Arbeit mit Angehörigen von Aphasikern führt Roth (1984; 1989) weiterhin nachfolgendes Argument an: Im Alltag der Familie mißlingen in vielen Fällen aufgrund der Sprachstörung sowohl Streitgespräche und argumentative Auseinandersetzungen als auch gegenseitige Aussprachen der Partner. Das führt zu einem Bedarf, in der Therapie solche Kommunikationen nachzuholen. Die von Roth vorgeschlagene PAKT-Therapie („Partner-Aphasiker-Kommunikations-Therapie") bietet die Möglichkeit, im Zusammenhang von Familientherapie und handlungstheoretisch fundierter Aphasietherapie zunächst diejenigen familieninternen Probleme zu thematisieren, die die Entstehung der Kommunikation im Alltag des Aphasikers möglicherweise behindern. Als Mittel, mit dessen Hilfe dieses Ziel erreicht werden soll, wird vor allem der Einsatz therapeutischer Rollenspiele favorisiert. Darüberhinaus bietet der Rahmen der PAKT-Therapie Möglichkeiten für die Arbeit an den kommunikativen Fähigkeiten von Aphasikern wie Angehörigen. Für die Sprachtherapie mit dem Ziel der Verbesserung der kommunikativen Fähigkeiten der Patienten kann heute ein breites Spektrum entwickelter Therapiemethoden angeboten werden (für einen Überblick vgl. Chapey 1986; Grohnfeldt 1989). Grob lassen sich einerseits traditionelle Therapieverfahren unterscheiden, die in der Regel an neuro- oder psycholinguistischen Modellen orientiert sind und den Zusammenhang zwischen dem Handeln des Patienten in der Therapie und der Kommunikation im Alltag oft nur unzureichend berücksichtigen. Andererseits sind kommunikative Methoden der Sprachtherapie abgrenzbar, für die das Ziel einer möglichst weitgehenden Verwandtschaft zwischen therapeutischen Interaktionsformen und Kommunikationsformen des Alltags charakteristisch ist. Die Verwandtschaft zwischen therapeutischer Interaktionsform und Dialogform des Alltags ist unter dialoganalytischen Aspekten beschreibbar. Für die Anwendung von kommunikativen Therapieverfahren lassen sich eine Reihe sprach theoretischer und neurologischer Argumente anführen (vgl. Pulvermüller 1990 a; Pulvermüller/Roth/Schönle 1992). Nachfolgend sei auf kommunikative Verfahren der Aphasietherapie exemplarisch eingegangen. Vielleicht die bisher am besten etablierte kommunikative Übungsform ist die von Davis und Wilcox Ende der Siebzigerjahre entwickelte PACE-Therapie („Promoting Aphasies Communicative Effectiveness", Davis/Wilcox 1985; Davis 1986). Für die Aphasietherapie brachte die PACE-Therapie im Vergleich zu traditionellen Methoden einen wesentlichen Fortschritt in Richtung auf die Annäherung des therapeutischen Settings an Alltagsdialoge. Andererseits zeigt das PACE-Setting eine Reihe von Beschränkungen, die es wünschenswert machen, ein breiteres Spektrum kommunikativer therapeutischer Übungsformen zu erschließen. Beschränkungen des PACE-Settings betreffen vor allem die Auswahl der vollziehbaren und trainierbaren kommunikativen Handlungen und Handlungssequenzen, die Auswahl der verwendbaren Äußerungs-

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formen und die aphasischen Symptome, die im PACE-Setting sinnvoll behandelt werden können. Erweiterungen und Veränderungen der PACE-Therapie wurden deshalb verschiedentlich vorgeschlagen (Glindemann/Springer 1989; Pulvermüller 1988). Im Rahmen eines neuerdings vorgelegten Therapiekonzepts wird eine Gruppe kommunikativer Übungsformen beschrieben, die unter den in 2.2 genannten Aspekten mit unterschiedlichen Kommunikationsformen oder Sprachspielen des Alltags verwandt sind (Pulvermüller 1990 a; 1991a). Die bisher vorgestellten therapeutischen Sprachübungsspiele haben beispielsweise die Dialogformen AUFFORDERUNGs-, WEGBESCHREIBUNGs-, ERZÄHL- und PLANUNGsdialog zum Vorbild. Verwandtschaften zwischen Dialogform des Alltags und Sprachübungsspiel bestehen im Hinblick auf in 2.2 genannte Aspekte. Die Übungsformen wurden für unterschiedlichste Symptomkonstellationen entwickelt, so daß die oben genannten Beschränkungen des PACE-Settings mit Hilfe unterschiedlicher Sprachübungsspiele überschreitbar sind. Als Desiderat des Sprachübungsspielkonzepts gilt eine Sammlung von kommunikativen Übungen, die Kongruenzen zu wichtigen Dialogformen des Alltags aufweist und Gelegenheit für das Training eines großen Repertoires an Äußerungsformen bietet. Die empirischen Resultate einer kürzlich vorgelegten Therapiestudie sprechen für die Effizienz kommunikativer Sprachtherapie mit Sprachübungsspielen (PulvermüIler/Roth 1991).

5.

Literaturhinweise

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19. Sprachstörungen im Dialog - Analyse und Therapie

407

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19. Sprachstörungen im Dialog -Analyse und Therapie

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Friedemann Pulvermüller, Los Angeles

20. Dialoganalyse und Sprachunterricht

1. 2. 2.1 2.1.1 2.1.2 2.1.3 2.1.4 2.2 2.3 2.4 3. 3.1 3.2 4.

Einleitung Dialoganalyse und Muttersprachunterricht Dialog als Faktorenkonstellation Rolle Beziehung Thema Intention und Sprachfunktion Dialog als empirischer Prozeß Dialog als Handlungsmuster Didaktik des Dialogs Dialoganalyse und Fremdsprachenunterricht Das Problem der Reflexion Dialogtraining Literaturhinweise

1.

Einleitung

Der Bezug zwischen Dialoganalyse und Sprachunterricht kann nicht mit dem Anspruch bearbeitet werden, einen vollständigen Überblick über vorliegende Ansätze zu geben. Die Literatur ist kaum überschaubar, die einzelnen Ansätze sind zu vielfältig und lassen sich mitunter nur schwer Typen zuordnen. Gegliedert wird nach Muttersprach- und Fremdsprachenunterricht. Während der Muttersprachunterricht als Unterricht in der Schule verstanden wird, erfaßt der Fremdsprachenunterricht auch den Unterricht für Erwachsene. Zu fragen ist, welche dialoganalytischen Beschreibungsansätze für den Sprachunterricht verwendet und wie sie didaktisch umgesetzt werden. Nicht einbezogen werden Ansätze, die vornehmlich die Gesprächsfähigkeit der Lehrenden trainieren wollen oder so allgemein gehalten sind, daß sie sich nicht direkt auf den Schulunterricht beziehen (vgl. dazu Art. 22); ebensowenig werden Arbeiten einbezogen, die das Problem der Unterrichtssprache und die Frage thematisieren, wie sich das Unterrichtsgespräch dialoganalytisch beschreiben läßt (vgl. z.B. Art. 4).

412

2.

E. Weigand

Dialoganalyse und Muttersprachunterricht

Im Unterschied zur Wissenschaft ist in der Didaktik ein methodisches Verfahren besonders beliebt, das sich keinem Konsistenzanspruch verpflichtet fühlt. Unter dem Hinweis, die Wissenschaft könne noch kein allgemein akzeptiertes, im ganzen schlüssiges Modell anbieten, fühlt man sich berechtigt, aus verschiedenen, u.U. auch kontroversen Ansätzen relevant erscheinende Komponenten herauszunehmen und miteinander zu kombinieren. Wie schon zur Zeit der „Linguistisierung" des Sprachunterrichts, als man in der Didaktik unterschiedliche Grammatikmodelle zu Mischgrammatiken zusammensetzte (vgl. Weigand 1980), wird dieses Verfahren auch bei der Thematisierung von Kommunikation und Dialog angewendet. Der Dialog wird dabei als Konstellation verschiedener einzelner Faktoren beschrieben, die im Grunde beliebig erweiterbar ist. Dialog als ein einheitliches Ganzes dagegen wird in Ansätzen erfaßt, die zum einen den konkreten empirischen Dialog als individuellen Prozeß, zum anderen das dialogische Handlungspotential als Handlungsmuster beschreiben.

2.1

Dialog als Faktorenkonstellation

Als Grundkategorie des kommunikativen Unterrichts wird die Kategorie der Situation angesehen (vgl. Hundsnurscher 1989 u. allg. Scherer 1989). Das Konzept des situativen Unterrichts erlaubt es, der Erkenntnis gerecht zu werden, daß die Sprachverwendung von zahlreichen situativen Faktoren abhängt, ohne daß die interne Struktur dieses Zusammenhangs konsistent beschrieben sein müßte. Es genügt, Komponenten der Situation zu unterscheiden und auf ihren Einfluß auf die Sprachverwendung zu verweisen. Vor allem vier Faktoren sind es, die unter dialoganalytischem Aspekt in der Didaktik in den Vordergrund rücken: das Konzept der Rolle, die Beziehung zwischen Sprecher und Hörer, der thematische Gesichtspunkt und der Faktor der Handlungsfunktion, dem man sich über die Konzepte der Intention oder der Sprachfunktionen zu nähern sucht.

2.1.1 Rolle Das Konzept der Rolle, ein ursprünglich soziologischer Begriff, erhielt vor allem deshalb für die Beschreibung der Sprachverwendung eine besondere Bedeutung, weil man mit ihm einem Teil dessen gerecht werden konnte, was eigentlich unter den Handlungsbegriff fällt. So läßt sich z.B. die Besonderheit eines Beratungsdiskurses, die in den Handlungen des Ratgebens und des Um-Rat-Fragens liegt, auch z.T. dadurch beschreiben, daß man den Kommunikationspartnern die Rollen des Ratgebers und des Um-Rat-Fragenden zuweist. Daher wird die Rolle in vielen Ansätzen als wichtiges bzw. „wichtigstes strukturelles Merkmal von Situationen" angesehen (Grönwoldt 1977). Indem Handlungsfunktionen als Rollenfunktionen beschrieben werden, glaubt man der allgemein vorausgesetzten, aber nicht explizierten These vom sprachli-

20. Dialoganalyse und

Sprachunterricht

413

chen Handeln gerecht werden zu können. Meist wird von Sprachhandlungskompetenz gesprochen, darunter aber allein die Orientierung an der Situation verstanden (z.B. Ingendahl 1978). Die linguistische Begründung für das RoUenspiel in der Schule sieht B.Kochan (1974), die nach Nündel (1976a, 96) dem Rollenspiel in der deutschen Pädagogik zum Durchbruch verholfen hat, in der Rückführung der Handlung auf die Situation: Wir handeln gemäß den in einer Situation gegebenen Rollen unter Berücksichtigung von Motiv und Absicht. Die Situation sei vor allem durch ihre soziale Struktur, d.h. durch die Beziehungsverhältnisse der Partner bestimmt, die in Anlehnung an soziale Konzepte am besten mit dem Begriff der sozialen Rolle beschrieben werden könnten (Ingendahl 1978). Sofern man den Begriff der sozialen Rolle nicht sogleich unter der Hand als Handlungsfunktion versteht (wie z.B. die Rolle des Ratgebers), sondern in seinem sozialwissenschaftlichen Kontext beläßt, erlaubt er auch bei einer Differenzierung nach Status-, Positions- und Situationsrollen (Grönwoldt 1977) keinen unmittelbaren Zugriff auf Handlungstypen. Unterschiedliche Handlungen können der gleichen Rollenfunktion zugewiesen werden, wie z.B. bei Gutte (1972), der allerdings den Begriff der Handlung noch nicht verwendet. Für ihn gehören Verkaufsgespräche wie Beschwerden zu „Situationsspielen, die durch eine bestimmte Lage fixiert sind", oder Beschimpfungen, Kritik und Tadel wie auch Vorurteile werden in „Situationen mit kommentierender Rollenfunktion" zusammengefaßt. Auch werden Situationen zunächst nach Watzlawick/Beavin/Jackson (1967) in symmetrische und komplementäre gegliedert, denen dann bestimmte Rollenkonzepte oder Register zugeordnet werden (Geißner 1978; Dietrich-Zuhrt et al. 1977). Nicht nur allgemein wird das Rollenkonzept mit der Handlungsqualität in Verbindung gebracht, z.T. erfolgt der Zugriff auf die Handlungsqualität auch etwas präziser, indem man erkennt, „daß spezifische Rollen spezifische Sprechakte, ein ganzes Arsenal von Floskeln, Phrasen, Kommunikations-Schablonen, Intonationsmustern, Sprachebenen, Gruppensprachen, Registern, schichten- und fachspezifische Sprache verlangen" (Daub 1976). Mit dialogischen Handlungskategorien wie „argumentieren, verteidigen, einlenken, angreifen" werden unterschiedliche „Verhaltensweisen bei einem Gespräch" bezeichnet (Räuchle 1976/78, 63). Kommunikative Übungen beziehen sich auf die Form des Fragens, auf Kürzung und Erweiterung der Beiträge (Geißner). Allerdings gelingt es nicht, hier auch nur einen annähernd konsistenten Zusammenhang herzustellen, was dazu führen kann, daß gleichzeitig strukturelle Sprachanalyse betrieben wird (Ingendahl). Auch unterschiedliche Gesprächsstrategien (Räuchle, Ingendahl) und Gesprächsformen werden differenziert, so das Klärungs- und das Streitgespräch in der Sprecherziehung (Geißner), wenn auch nur in einem allgemeinen, analytisch kaum ertragreichen Sinn. Daneben wird explizit der Bezug zu Handlungsfunktionen nach Bühler (1934/1982) oder Schmidt (1973) thematisiert (Daub, Ingendahl). Generell überwiegt der starke soziologische oder soziolinguistische Akzent der Unterrichtsmodelle, der die soziologische Kategorie der Rolle auch unter linguistischer Fragestellung nicht problematisiert. So bekennt Ingendahl, daß die notwendigen wissenschaftlichen Erkenntnisse aus der Soziologie stammten, deren

414

E. Weigand

Aufgabe es sei, soziale Situationen in unserer Gesellschaft zu beschreiben. Gebrauchsweisen von Sprache sind für ihn gruppenspezifische Stile. Die Beliebtheit des Rollenkonzepts in der didaktischen Literatur erklärt sich nicht nur daraus, daß die Rolle eine erste Erklärungsmöglichkeit für unterschiedliches Sprachverhalten in unterschiedlichen Situationen bietet, sondern auch daraus, daß sich das Rollenverständnis sprachlicher Interaktion sehr anschaulich und unterrichtswirksam in Rollen- bzw. Planspielen didaktisch umsetzen und mit verschiedenen aktuellen Zielsetzungen verbinden läßt. So standen Rollenspiele in der Anfangsphase der 70er Jahre im Dienst des kompensatorischen Unterrichts mit dem Lernziel der Rollenflexibilität, das dann auch emanzipatorisch oder materialistisch interpretiert wurde (Räuchle), später dann unter Zielen wie Antizipation von Situationen im Unterricht (B. Kochan) oder Identitätsbalance (Grönwoldt). Auch Einübung alternativen Sprachverhaltens, durchaus im Sinn des Gesprächstrainings, gehört zu den Zielen (D.C. Kochan 1974; 1975).

2.1.2 Beziehung Neben dem soziologischen Rollenbegriff bildet die Unterscheidung zwischen der Inhalts- und Beziehungsebene der Kommunikation nach Watzlawick/Beavin/Jackson (1967) (vgl. auch Art. 17) einen wichtigen Orientierungspunkt für sprachdidaktische Ansätze. Z.T. fließen beide Unterscheidungen ineinander, da unterschiedliche Partnerbeziehungen auch unterschiedliche Rollen implizieren können. Immer wieder zitiert wird vor allem die Unterscheidung von symmetrischen und asymmetrischen oder komplementären Gesprächssituationen, die Watzlawick/Beavin/Jackson hinsichtlich der Gleichberechtigung der Gesprächspartner vorgenommen haben. Da der Beziehungsaspekt beliebig fein differenziert werden kann - denn fast jeder konkreten Situation liegt eine andere Beziehung zugrunde - , können auch sprachliche Nuancen erfaßt werden, für die der Rollenbegriff zu grob wäre. Daher scheint es, als ob es Arbeiten, die sich am Beziehungsaspekt orientieren, besser gelingt, sprachliche Besonderheiten einer Sprechsituation zu analysieren als Arbeiten, die dem Rollenkonzept verpflichtet sind. So werden für eine bestimmte Handlung, z. B. das Auffordern, verschiedene Äußerungsvarianten diskutiert (Nündel 1976b) bzw. die These formuliert, daß für die Kommunikation eine Grammatik erarbeitet werden müßte, die durchaus dialogisch genannt werden kann, da sie von erwartbaren Reaktionen ausgeht (Cordes 1980). Doch muß die konkrete Analyse hinter diesen mit Begriffen und Thesen abgesteckten Schritten zurückbleiben, da die entscheidenden Kategorien für eine kommunikative Grammatik nicht situativer Art, sondern Handlungskategorien sind. Es genügt nicht, als Funktion der Handlung festzustellen, daß sie Situationen herstellt und verändert, bzw. die Sprachhandlungskompetenz mit den Ebenen des Inhalts und der Beziehung zu fassen, zu denen die linguistische Kompetenz im engeren Sinn (Syntax und Lexik) addiert wird (Nündel 1976b). Auch läßt sich eine Grammatik der Kommunikation nicht mit einem behavioristisch gefaßten Verständigungsbegriff entwickeln, der Kommunikation als einen Prozeß von „Kommunikationsintention,

20. Dialoganalyse und Sprachunterricht

415

selektiver Wahrnehmung, Situationsinterpretation, realisierter Sprechhandlung, Feedback, Neu-Interpretation" versteht (Cordes). Ähnlich behavioristische Akzente finden sich auch in der psychologischen Literatur zur Kommunikations- und Verhaltenstherapie (z.B. Mandel/Mandel 1971), auf die verschiedentlich verwiesen wird. Der Beziehungsaspekt bleibt, wie letztlich auch das Rollenkonzept („Situationsrollen"), ein Undefinierter Begriff, unter den so heterogene Faktoren wie Höflichkeitsformeln einerseits und der Wunsch, beachtet zu werden, andererseits subsumiert werden. Gesprächserziehung soll in enger Verzahnung von Analyse und Training erfolgen, wobei für die Analyse auf dem Boden ethnomethodologischer Modelle authentisches Material verlangt wird, das das eigene Sprechen der Schüler in ihren jeweiligen sozialen Kontexten beinhalten soll (Cordes). Für das Training wird auf kommunikationspsychologische Trainingsprogramme verwiesen, deren Ziel jedoch nicht primär Verbesserung des Gesprächsverhaltens, sondern „optimale Bedürfnisbefriedigung" ist (Mandel/Mandel 1971,124). Den Ausgangspunkt für Arbeiten, die den Beziehungsaspekt in den Vordergrund stellen, bilden häufig kommunikative Störungen mit dem Hinweis, daß unsere Alltagskommunikation nicht intakt sei und die Beziehungsverhältnisse im Unterricht erst geregelt werden müßten. Ohne Problematisierung wird so nach dem Vorbild von Watzlawick/Beavin/Jackson der normale Sprachgebrauch am Sprachgebrauch gestörter Kommunikation gemessen (Cordes 1980; Sitta/Tymister 1978).

2.1.3 Thema In dem Katalog relevanter Komponenten und Faktoren, die Einfluß auf die Kommunikationsfähigkeit haben, findet sich neben dem Beziehungsfaktor auch vielfach eine thematische Komponente. Bereits bei Watzlawick/Beavin/Jackson war der Aspekt des Gegenstands oder der Sache in der Dichotomie „Inhalts- versus Beziehungsaspekt" vorgegeben. So unterscheiden z. B. Behr u. a. (1975,67) im Anschluß an Hymes (1968) drei Kategorien von „faktoren, die unmittelbar die Situationseinschätzung bzw. das funktionsverständnis der beteiligten steuern": situative Bedingungen, Bedingungen der Beziehung und thematische Bedingungen. Ritz-Fröhlich (1982,15) zeigt in ihrem Faktorenmodell des Gesprächs drei „charakteristische Faktoren" auf: die Redepartner, die Themen und die Redeformen. Vertreter von Faktorenmodellen glauben im allgemeinen, Kommunikationsfähigkeit durch eine Vielfalt spezifischer Teilqualifikationen erreichen zu können. Eine dieser Teilqualifikationen ist die „Verfügung über die Themenbereiche", wobei Mihm (1981, 192) davon ausgeht, daß „in der Gesellschaft für bestimmte Sprechsituationen auch bestimmte Themenbereiche festgelegt sind". Auch für Bayer (1984, 323ff.) beinhaltet die kommunikative Kompetenz die Teilfähigkeit der thematischen Kompetenz und das heißt der „reflektierten Kenntnis wichtiger gesellschaftlicher Bereiche". Dementsprechend werden Gespräche nicht nur nach Situationen, sondern auch nach Themen klassifiziert (so z.B. bei Behme 1988, 154,159: „Zum Thema: Mini-Einkauf", „Zum Thema: Mein Lehrerdasein"). Nicht immer wird die thematische Kompetenz als Wissenskompetenz in bezug auf

416

E. Weigand

ein Thema gefaßt, die zusammen mit anderen Faktoren Kommunikationsfähigkeit ergibt. Für linguistische Untersuchungen steht vor allem die Abfolge einzelner Themen im Gespräch im Vordergrund, wobei diese Abfolge ein Schlüssel zur Kohärenz des Gesprächs zu sein scheint. Mitunter bleibt auch unklar, was eigentlich als Thema zu verstehen ist.

2.1.4 Intention und Sprachfunktion Was für Linguisten ein zentrales Problem darstellt, die Klärung dessen, was es heißt, daß wir dialogisch handeln, wenn wir sprechen, wird in didaktischen Abhandlungen zum Thema „Mündliche Kommunikation" häufig als bekannt vorausgesetzt. Man spricht von Sprechhandlungen, ohne die Notwendigkeit zu sehen, den Handlungsbegriff zu rechtfertigen. Wohl werden Versuche unternommen zu umschreiben, was mit Sprechhandeln gemeint sei. Diese Versuche bemühen sich jedoch meist nicht, sprachliches Handeln in Begriffen des Handelns, d. h. auf der Basis einer Handlungstheorie zu erfassen, sondern laufen darauf hinaus, die Handlungsqualität von anderen Faktoren, wie dem Faktor der Rolle, abzuleiten oder allgemein Sprachhandlungskompetenz mit Situationskompetenz gleichzusetzen. Daneben aber gibt es auch in der Didaktik Ansätze, den Handlungsbegriff zu explizieren. Nur selten wird dabei Bezug genommen auf die Sprechakttheorie, meist wird der Handlungsbegriff funktional in Anlehnung an Bühler (1934/1982), Jakobson (1960) und Hymes (1968) oder intentional in Anlehnung an von Wright (1971) verstanden, oder es werden Funktionen und Intentionen miteinander vermischt. So verbindet Folkers (1981, 53ff.) den Handlungsbegriff im wesentlichen mit Bühlers Funktionen der Darstellung, des Appells und des Ausdrucks, wenngleich daneben verschiedene andere, z.T. kontroverse Ansätze referiert werden. Auch Wolff (1981, 77ff.) orientiert sich an Bühler, kombiniert damit aber Ansätze von Hymes und die intentionale Darstellung von Wrights zu einer sog. intentionalen Tiefenanalyse über vier Ebenen. Sprachfunktionen oder kommunikative Funktionen spielen auch bei Hebel (1976, XXIIff.) eine wichtige Rolle bei der Diskussion der Frage, „wie Sprache und Situationen sich gegenseitig beeinflussen", wobei er das Problem der Sprachfunktionen in kritischer Auseinandersetzung mit Bühler, Jakobson und Hymes abhandelt. Neben diesen funktionalen Ansätzen lassen sich stärker intentionsorientierte Ansätze unterscheiden, wie z.B. Baurmann (1984, 263ff.), der sich auf Halliday (1973) und Hymes bezieht und den Handlungscharakter oder die kommunikative Funktion über Begriffe wie „Zweck/Motiv/Intention" zu erklären sucht. Nach Baurmann „wird der Lehrer darauf achten, daß möglichst viele kommunikative Funktionen zum Tragen kommen [...]. Dialogisches Sprechen wird auf jeden Fall im Vordergrund stehen [...]." Auch Grünwaldt (1974,40ff.) verwendet den Intentionsbegriff als Klassifikationskriterium für Handlungen wie „agitieren, informieren, kontaktieren, fragen". Das methodische Vorgehen dieser sog. Faktorenmodelle findet sich in einer Fülle von Abhandlungen und Unterrichtsmodellen, vor allem in Unterrichtsmaterialien für die Sekundarstufe II (z.B. Pschibul 1980; Bayer 1982; Wolff 1983; Henrici et al. 1977;

20. Dialoganalyse und Sprachunterricht

417

Hölsken/Rötzscher/Sauer 1976). Hier werden dann, meist mit Textausschnitten aus der wissenschaftlichen Literatur belegt, die einzelnen Faktoren aneinandergereiht, und es wird eine quasi-wissenschaftliche Einführung in den Themenbereich gegeben. Zwar werden relevante Gesichtspunkte angesprochen, aber vielfach in Zusammenhänge gestellt, in die sie nicht gehören. Das Gespräch als Ganzes wird punktuell und additiv, aber nicht als konsistente Einheit analysiert. Demgegenüber gibt es nicht nur in der Wissenschaft, sondern auch mit Bezug auf die didaktische Umsetzung durchaus Arbeiten, die sich bemühen, dialogische Kommunikation unter einer einheitlichen Perspektive zu sehen und theoretisch-methodisch konsistent zu analysieren. Dabei wird der Dialog zum einen als konkretes, individuelles Ereignis, als Prozeß verstanden, der transkribiert und analysiert werden muß; zum anderen wird nicht von der Empirie der Mittel, sondern von der kommunikativen Kompetenz der Gesprächsteilnehmer ausgegangen, deren potentielle Handlungsmöglichkeiten aufzuzeigen, zu bewerten und zu trainieren sind.

2.2

Dialog als empirischer Prozeß

Zwar wird in Unterrichtsmodellen zur mündlichen Kommunikation immer wieder betont, daß man von authentischen Gesprächen ausgehen und z.B. die individuellen Schüleräußerungen analysieren müsse, doch finden sich nur wenige Arbeiten, die diese Analyse geschlossen und methodisch relativ konsistent vornehmen, so daß der Dialog als Ganzes, als einheitliches Phänomen beschrieben wird. Zwei Beispiele sollen hervorgehoben werden, die in dieser Weise den Dialog als empirischen Prozeß zu erfassen und den Schülern zu vermitteln suchen. Ramge (o. J./1978) will in seinem Arbeitsheft für die Sekundarstufe II „Alltagsgespräche" nicht nur eine Reihe relevanter Faktoren aufzeigen, sondern ein „vollständiges Verfahren" (97), „die wichtigsten Prinzipien" erarbeiten, „durch die Gesprächsabläufe gegliedert und zu der strukturierten Einheit des ,Gesprächs' organisiert werden" (78). Er geht von einem authentischen Verkaufsgespräch aus, das transkribiert und nach Phasen wie Einleitungsphase, Kernphase, Ausleitungsphase gegliedert wird. Sodann versucht er, auch für die Kernphase, für das eigentliche Alltagsgespräch, Organisationsprinzipien aufzustellen. Diese reichen von den Gesprächsthemen als Gliederungskriterien bis zu „Handlungsplänen", die aus einer Abfolge von Interaktionssequenzen bestehen. Beschrieben werden Sprecherwechsel und Verständigungsprozeduren. Die Analyse wird nach Arbeitsgängen gegliedert und die Struktur des behandelten Verkaufsgesprächs in einem Strukturplan zusammengefaßt. Ziel dieses methodischen Vorgehens ist es, die Schüler propädeutisch in die wissenschaftliche Analyse von Alltagsgesprächen einzuführen. Auf dieser Grundlage könnten dann die Schüler selbständig Alltagsgespräche aufnehmen und analysieren. Zwischen der analytischen Reflexion über Alltagsgespräche und der Verbesserung des Sprachgebrauchs wird jedoch kein Bezug hergestellt. Angesichts der detaillierten Analyse eines individuellen empirischen Gesprächs ließe sich ein solcher Brückenschlag auch nur schwer durchführen.

E. Weigand

418

Das nächste Beispiel stammt von einer Arbeitsgruppe um Wildgen, die die vorgeschlagenen Analysen im Rahmen eines Universitätsseminars durchgeführt hat und den Seminarversuch auf den Schulunterricht übertragen will (von Ammon/Forster/Huber/ Jodlbauer/Wildgen 1979). Auch hier muß zunächst im Sinn der empirischen Konversationsanalyse authentisches Material aufgenommen und transkribiert werden, sodann wird die Analyse auf einzelne Fragestellungen bezogen: auf den Sprecherwechsel, den thematischen Ablauf und die Klassifikation von Redebeiträgen. Dieses Vorgehen sei vor allem im projektorientierten Unterricht auf die Schule übertragbar. Zitate aus Lehrplänen scheinen dies zu belegen, wobei allerdings ohne Übergang an das globale Lernziel der Verbesserung der Kommunikationsfähigkeit „die Analyse konkreter Sprechsituationen" angeschlossen wird. Im Hinblick auf das „Verfahren arbeitsteilender Gruppenarbeit" bei der Aufnahme und Transkription der Gespräche wie auch im Hinblick auf „die Möglichkeit, den Unterrichtsgegenstand selbst zu erzeugen", wird die vorgestellte „Gesprächsanalyse" als „ein ausgezeichnet didaktisch realisierbares Unterrichtsprojekt" bewertet (36). Es scheint, als ob die Methoden, die in der ersten, grammatischen Phase der „Linguistisierung" des Sprachunterrichts angewandt und dann aus der Schule verbannt worden waren, in veränderter Gestalt erneut in die Schule drängen: einmal das Mischverfahren in Form von kommunikativen Faktorenmodellen und zum anderen die direkte, nur leicht vereinfachte Übernahme wissenschaftlicher Modelle in den Unterricht.

2.3

Dialog als Handlungsmuster

Die Analyse eines authentischen Dialogs als eines einmaligen, nicht wiederholbaren Prozesses kann im Unterricht nur unter dem Lernziel der Reflexion über unser Sprachverhalten eingesetzt werden. Nicht von ungefähr sind daher Arbeiten wie Ramge (o. J./ 1978) und von Ammon/Forster/Huber/Jodlbauer/Wildgen (1979) als Unterrichtsmaterialien für die Sekundarstufe II konzipiert. Zu unserer kommunikativen Kompetenz gehört jedoch auch die Fähigkeit, Dialoge zu antizipieren, zu planen, Gesprächssituationen im voraus hinsichtlich potentieller Handlungsmöglichkeiten zu reflektieren. Dialog unter dieser Perspektive meint nicht den individuellen, einmaligen Gesprächsverlauf, sondern die konventionellen Handlungsmöglichkeiten, die uns im Rahmen eines Handlungsspiels und damit für einen bestimmten Dialogtyp zur Verfügung stehen. Den Zusammenhang aller konventionellen Handlungsmöglichkeiten, unter denen wir in einer bestimmten Situation und mit einem bestimmten Ziel auswählen, hält das Schema des Handlungsmusters fest. Diese Auffassung des Dialogs als Handlungsmuster liegt z.B. der Dialogtheorie zugrunde, wie sie von Hundsnurscher (1980) als „Dialoggrammatik" entwickelt wurde (vgl. auch Hundsnurscher 1981; 1986; Franke 1983; 1990; Weigand 1986; 1989). Kommunikationsfähigkeit in diesem Zusammenhang bedeutet dann, daß der Kommunikationsteilnehmer über eine ausreichende Menge konventioneller Handlungsmöglichkeiten verfügt und unter ihnen eine begründete, effektive Wahl treffen kann.

20. Dialoganalyse und Sprachunterricht

419

Kommunikationsfähigkeit ist eine graduelle Fähigkeit, die sich unter dem Gesichtspunkt der Effektivität unseres Kommunikationsverhaltens trainieren und verbessern läßt. Daher können Unterrichtsmodelle, die von dialoggrammatischen Ansätzen ausgehen, nicht nur das Lernziel der Reflexion, sondern in gleicher Weise das Lernziel des Trainings des Kommunikationsverhaltens für sich beanspruchen. Erst Modelle, die unser konventionelles Handlungspotential im Blick haben, sind geeignet, die didaktisch-rhetorische Komponente des Unterrichts in vollem Maß zu verwirklichen. Bereits 1975 haben Fritz/Hundsnurscher am Beispiel der Vorwurf/RechtfertigungsSequenz die einzelnen Aspekte eines dialoganalytischen Ansatzes in differenzierter Form für den Unterricht umgesetzt. Dabei konnten sie z.T. an Überlegungen aus einem Arbeitskreis um Muckenhaupt anknüpfen (vgl. Muckenhaupt 1978). In ihrer Darstellung werden die verschiedenen Möglichkeiten des Eingehens auf einen Vorwurf in einem Schema der kommunikativen Interaktion erfaßt, die verschiedenen Äußerungsmöglichkeiten aufgelistet und die Handlungsbedingungen beschrieben. Die didaktische Umsetzung bleibt jedoch nicht bei der Beschreibung der einzelnen Züge stehen, sondern es werden auch die alternativen Zugmöglichkeiten relativ zum Interaktionsziel in einem bestimmten Situationstyp unter strategischem Gesichtspunkt (gute Züge vs. schlechte Züge) diskutiert. Die kommunikative Kompetenz kann auf diesem Hintergrund mit dem Ziel möglichst effektiver Handlungskompetenz systematisch trainiert werden. Eine zusammenhängende, handlungstheoretisch fundierte didaktische Konzeption für die Behandlung der Kommunikationsformen VORWURF/ RECHTFERTIGUNG und AUFFORDERN/ENTGEGNEN, die die Prinzipien des kommunikativen Sprachunterrichts realisiert (vgl. Heringer 1974, Arbeitsgruppe Kommunikativer Unterricht 1978), findet sich in Muckenhaupt (1978). Diese Konzeption umfaßt die Reflexion der Lernziele, die Beschreibung der Grundstrukturen der behandelten Kommunikationsformen, Unterrichtsmaterialien, methodische Hinweise und Hinweise zu den Möglichkeiten der Überprüfung des Lehr- und Lernerfolgs. Eine kurze Diskussion dieses sprachdidaktischen Entwurfs im Vergleich mit anderen Konzeptionen findet sich in Fritz/Muckenhaupt (1981, Kap. 7). Das Handlungsmuster VORWERFEN/RECHTFERTIGEN ist aufgrund vielfältiger Handlungsmöglichkeiten und rational klar diskutierbarer Handlungsbedingungen für didaktische Zwecke besonders geeignet, zumal es eine Kommunikationsfähigkeit beinhaltet, in deren Anwendung sich Schüler jeder Altersstufe immer wieder bewähren müssen. Daher wird es auch in verschiedenen Unterrichtsvorschlägen immer wieder thematisiert, so im Kern bereits von Cordes (1974). Die Grundgedanken des Programms eines kommunikativen Unterrichts sind in Heringer (1974) entwickelt. Grundlage des kommunikativen Unterrichts muß nach Heringer eine Theorie über das menschliche Handeln sein, die Kommunikationsspiele als heuristisches Mittel der Nachkonstruktion der kommunikativen Kompetenz betrachtet und für komplexere Fälle Kataloge verwendet, die den Zusammenhang verschiedener Handlungsmuster darstellen können. Auch hier wird das Lernziel der Kommunikationsfähigkeit als Training unserer kommunikativen Kompetenz verstanden, deren Handlungsmöglichkeiten in bestimmten Spieltypen rekonstruiert werden.

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Das Handbuch zum kommunikativen Sprachunterricht (1978) der Arbeitsgruppe Kommunikativer Unterricht gibt eine Dokumentation von Lerneinheiten für den Sprachunterricht in Vorschule und Primarstufe, nach Lernzielen geordnet, wobei Lernziele Handlungsspiele sind. Über dialoggrammatische Ansätze im engeren Sinn und Heringers kommunikativen Unterricht hinaus wird das Konzept des Handlungsmusters und der strategischen Auswahl unter verschiedenen dialogischen Handlungsmöglichkeiten auch in anderen Arbeiten und Unterrichtsmaterialien vertreten, die nicht programmatisch festgelegt sind. So tritt Klein (1979) für einen handlungstheoretischen Ansatz ein, der im Sinn der Dialoggrammatik die Handlungszüge in einem Gespräch als Sprachspiel betrachtet, in dem die einzelnen Partner ihre Züge aufgrund strategischer Regeln auswählen. Auch Sprachbücher gehen inzwischen von der Annahme aus, daß unser Sprechen in dialogischen Handlungsmustern erfolgt. So werden z.B. in dem Sprachbuch „Thema: Sprache" dialogische Grundsequenzen wie „Aufforderungen - Sich zu Aufforderungen stellen", „Fragen stellen - Antworten geben", „Etwas wissen - Aussagen prüfen" zum strukturierenden Prinzip für einen Jahrgang genommen. Auch mit Wagners „Sprechplanung" (1978) liegt ein Versuch vor, unser Sprachverhalten dialogisch nach Sprechplänen und möglichen Gegenplänen zu analysieren und hinsichtlich effektiver Pläne zu trainieren.

2.4

Didaktik des Dialogs

Die Relevanz der Dialoganalyse für den Unterricht folgt aus dem Lemziel der Kommunikationsfahigkeit und aus der Erkenntnis, daß Kommunikation ein dialogisches Handlungsspiel ist. Dieses Lernziel der Kommunikationsfähigkeit wird jedoch nicht immer in seiner vollen Bedeutung, im Sinn von Reflexion und Training, verstanden. Vielfach wird die Dialoganalyse nicht um didaktische Fragestellungen erweitert, sondern reduziert auf die Grenzen des Unterrichts. Mit der Methodologie eines Faktorenmodells, in dem im Grunde alles erlaubt ist, oder der vereinfachten Übernahme wissenschaftlicher Ansätze wird Dialoganalyse im Sprachunterricht betrieben, teilweise explizit unter der Zielsetzung der Wissenschaftspropädeutik. Kommunikationsfähigkeit meint hier allein Reflexion kommunikativer Zusammenhänge. Erst die schwierige Verbindung von Dialoganalyse und Didaktik, von Dialoganalyse und Sprachunterricht erlaubt es, das Teilziel des Trainings kommunikativer Fähigkeiten einzubeziehen. Geeignet ist hierfür eine Konzeption des Dialogs als Handlungsmuster. Zur Ebene der Beschreibung kann bei diesem Modell die rhetorische Ebene der Bewertung, der Strategie, hinzukommen, auf der die einzelnen Handlungsmöglichkeiten in einer Situation hinsichtlich ihrer Effektivität für ein Interaktionsziel ausgewählt werden können (zum Strategiebegriff vgl. auch Fritz 1977; 1982; Brinker 1986; König 1989; und Art. 22, Abschn. 5). Unter dem spezifisch didaktischen Gesichtspunkt der Aufbereitung von Unterrichtsmaterialien wäre zu beachten, daß ein umfassendes Training alle wesentlichen Handlungsspiele einschließen müßte, die wir als kompetente Kommunikationsteilneh-

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421

mer in unserer heutigen Gesellschaft beherrschen sollten. Von der Grundschule bis zur Sekundarstufe II können diese Handlungsspiele in den einzelnen Jahrgangsstufen mit fortschreitender Kompliziertheit wiederholt behandelt werden.

3.

Dialoganalyse u n d F r e m d s p r a c h e n u n t e r r i c h t

Während für den muttersprachlichen Unterricht die Aufteilung des Lernziels Kommunikationsfähigkeit in Reflexion und Training unmittelbar einsichtig ist, wird man für den Fremdsprachenunterricht einen Schwerpunkt im Bereich des Trainings von Äußerungsformen annehmen. Zumindest dürfte Reflexion allein kein Lernziel sein. Auch der rhetorische Gesichtspunkt, die Optimierung einer schon vorhandenen kommunikativen Grundkompetenz, kann im Fremdsprachenunterricht nicht die gleiche Bedeutung haben wie im Muttersprachunterricht, da es zunächst darum gehen muß, eine minimale fremdsprachliche Kompetenz aufzubauen. Das erste Ziel des Fremdsprachenunterrichts, den „survival-Stand" zu erreichen, hat keine Entsprechung im Muttersprachunterricht. Man wird im Fremdsprachenunterricht wohl drei Schwierigkeitsstufen unterscheiden müssen: 1. 2. 3.

den Erwerb einiger grundlegender sprachlicher Handlungsmöglichkeiten, um im fremden Land „überleben" zu können; die Erweiterung dieser Handlungsmöglichkeiten, d. h. die Erweiterung der Menge von Äußerungsvarianten für dialogisch orientierte Handlungen; die rhetorische Effektivierung dieser Handlungsmöglichkeiten, d.h. die Bewertung der einzelnen Handlungsmöglichkeiten hinsichtlich situativer Kriterien und hinsichtlich des Ziels des jeweils Handelnden.

Der Akzent im Fremdsprachenunterricht liegt nicht so sehr auf der optimalen Äußerungsform, sondern auf der Bereitstellung einiger Handlungs-/Äußerungsmöglichkeiten, so daß eine gewisse Grundkompetenz gewährleistet ist. Diese Skizze des Fremdsprachenunterrichts und seiner Ziele gibt jedoch nur zum Teil die fachdidaktische Diskussion wieder, die statt dessen durch eine Vielzahl von Einzelansätzen mit unterschiedlicher Zielsetzung gekennzeichnet ist. Das Aufzeigen und Trainieren verschiedener dialogisch orientierter Äußerungsvarianten bildet keineswegs einen allgemein akzeptierten Schwerpunkt. Nach wie vor gibt es den traditionellen fremdsprachlichen Unterricht, der zwar dialogische Texte verwendet, diese aber nicht als Äußerungsformen für Handlungssequenzen, sondern als Anschauungsmaterial für grammatische Übungen benützt. Die Verwendung dialogischer Texte im Fremdsprachenunterricht ist im Grunde so alt wie fremdsprachlicher Unterricht selbst. Ein kurzer geschichtlicher Abriß findet sich bei Roberts (1986). Umgekehrt gibt es auch sog. Konversationsunterricht ohne dialogische Texte. So bereitet z.B. Eppert (1968) den Wortschatz nach Themen auf und will damit den Konversationsunterricht als Diskussion über diese Themen vorbereiten, ohne jedoch darauf näher einzugehen.

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Erst im Zusammenhang mit der kommunikativen Wende Anfang der 70er Jahre beginnt man, sich über die Zielsetzung, unter der dialogische Texte im Unterricht verwendet werden, Gedanken zu machen. Der Unterricht soll nun lebensnah sein, Realitätsbezug haben. An die Stelle fiktiver Texte und simulierter Gespräche treten immer häufiger authentische Texte. Doch diese Hinwendung zu Alltagssituationen allein führt noch nicht dazu, daß aus dem Etikett „kommunikativ" auch wirklich kommunikativer Unterricht würde in dem Sinn, daß die kommunikative Kompetenz als Handlungskompetenz Ziel des Unterrichts wäre.

3.1

Das Problem der Reflexion

Verschiedene fremdsprachendidaktische Untersuchungen der jüngsten Zeit gehen von der Annahme aus, daß es Aufgabe des fremdsprachlichen Unterrichts sei, das bewußt und explizit zu machen, was der muttersprachliche Sprecher unbewußt beherrscht. Selbst Untersuchungen, die sich direkt dem zentralen Problem „Dialoganalyse und Sprechfertigkeit" stellen, formulieren als Leitfrage: „Wie weit müssen wir in der Fremdsprache etwas reflektiert haben, was wir in der Muttersprache intuitiv handhaben?" (Gutzat/Niehaus/Kemme 1983, 5). Dementsprechend steht nicht das Training, sondern die Reflexion über die Sprechfertigkeit im Vordergrund. Der Lerner einer Fremdsprache soll die Konversationsbedingungen erkennen, nach denen er in seiner Muttersprache Dialoge führt (Edmondson 1983, 25). Dialoglernen soll durch Nachdenken über die Dialogpraxis anderer gefördert werden (Switalla 1983, 60). Skepsis gegenüber dem Lernziel der Reflexion im Fremdsprachenunterricht formuliert Westheide (Gutzat/Niehaus/Kemme 1983,19). Er weist auch auf die Problematik authentischen Materials hin, das Lexeme und Satztypen enthalte, die in Wortschatzlisten und Grammatiken für den Fremdsprachenunterricht nicht verzeichnet seien (57). Hier wird ein zentrales Problem angesprochen, das sich durch die unreflektierte Übernahme authentischen Materials stellt. Ausgehend von einer unbefriedigenden Situation im fremdsprachlichen Unterricht, ziehen die Vertreter des Amsterdamer Ansatzes, Gutzat/Grauerholz (1983), die Konsequenz, daß im Fremdsprachenunterricht intensiv über die konversationellen Bedingungen reflektiert werden müsse. Der Lerner werde dadurch hinsichtlich seiner Interpretierfähigkeit in der Fremdsprache gefördert. Gutzat/Grauermann verstehen Gespräche als Prozeß des Aushandelns von Bedeutungen und Situationen, wobei die Situationen offen, nicht vorhersehbar seien. Dennoch wird dann ein allgemeines Modell vorgeschlagen, das sprachliches Handeln mit Hilfe der Kategorien des Themas und der Situation zu beschreiben sucht. Dialogfähigkeit wird dabei als Interpretationsfähigkeit verstanden und als Fähigkeit, die eigenen Beiträge so zu formulieren, daß sie der Gesprächsmaxime „Responsivität" gerecht werden. Die Frage, wie sich ein Modell mit der behaupteten prinzipiellen Offenheit aller Situationsvariablen verträgt, wird nicht gestellt. Den gleichen Ausgang vom Primat der Reflexion über das, was Muttersprachler unbewußt beherrschen, nimmt auch Roberts (1986). Er stellt in Anlehnung an Di

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Pietro (z.B. 1978; 1982) ein didaktisch-rhetorisches Modell vor, das vor allem am Beispiel verbaler Strategien die unbewußten Fähigkeiten der Muttersprachler bewußt macht. Mit diesen verbalen, auf Erfolg gerichteten Strategien werden Aspekte erfaßt, die Einfluß auf die Äußerungsform haben, z.B. Aspekte der Höflichkeit oder Handlungstypen wie Übergehen einer initiativen Sprechhandlung. Verbale Strategien dieser Art machen nach Roberts den Kern unserer Dialogfähigkeit aus. Zwar bleibt die Ebene des Handlungszusammenhangs ausgespart und Dialogfähigkeit insgesamt wird in Form eines Faktorenmodells oder einer Checkliste abgehandelt, aber in einigen Annahmen weist das System von Di Pietro, das dem Modell von Roberts zugrunde liegt, in Richtung einer Dialogauffassung als Handlungsmuster. So geht er davon aus, daß unser Sprachverhalten planbar und zweckorientiert sei, und untersucht die Zuordnung von Strategien und sprachlicher Realisierung, von Funktionen und Äußerungen. Angesichts der Fülle der verschiedenen Gesichtspunkte, die bei Roberts für die Dialoganalyse zusammengetragen werden, stellt sich die prinzipielle Frage nach der fremdsprachendidaktischen Relevanz derart differenzierter Modelle. Kann es wirklich Aufgabe des Fremdsprachenunterrichts sein, Dialogprozesse in all ihrer Komplexität und empirischen Einmaligkeit zum Gegenstand des Fremdsprachenunterrichts zu machen? Zu trennen wäre zwischen allgemeiner und fremdsprachlicher Dialogkompetenz. Grundlegende Prinzipien dialogischer Verständigung sind bereits Gegenstand des Sprachunterrichts in der Muttersprache. Wenn schon Reflexion als Ziel auch für den Fremdsprachenunterricht akzeptiert wird, müßte der Akzent auf dem spezifisch Fremdsprachlichen der dialogischen Äußerungssequenz liegen, und sprachliche und kulturelle Besonderheiten müßten dabei deutlicher differenziert werden.

3.2

Dialogtraining

Von diesen Ansätzen, die die Komplexität dialogischer Prozesse thematisieren und erklären wollen und die Reflexion darüber als Unterrichtsziel für den Fremdsprachenunterricht ansehen, unterscheiden sich gänzlich andere Ansätze, die die Erweiterung der sprachlichen Handlungskompetenz direkt über das Training einfacher und häufiger dialogischer Strukturen zu erreichen suchen. Für dieses Training wird vielfach die sog. Abzweigungsmethode verwendet (Speight 1989, 212), die schon durch diesen Terminus ihre Nähe zu einer dialoggrammatischen Dialogauffassung bekundet. Diese Abzweigungsmethode, die Alternativen im Handlungsablauf aufzeigt und trainiert, ist nicht mit der Methode des „pattern drill" gleichzusetzen, da die Texte nicht nur zum Einschieifen und Auswendiglernen benutzt werden, sondern zugleich die Handlungsbedingungen reflektiert werden. Daneben gibt es eine Vielzahl von Unterrichtsmaterialien und didaktisch-theoretischen Ausführungen, die keine klare methodische Position erkennen lassen (z.B. BeneS 1973; Altemöller 1987; Lohfert 1982; Fischer 1980). Die Redemittel für einzelne dialogisch-orientierte Handlungen werden aufgelistet und in unterschiedlichen Übungstypen trainiert. Unter fremdsprachlicher Perspektive haben Lorenzen/Taborn (1983) der dialog-

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grammatischen Position einen interessanten Akzent verliehen. Die Dialoggrammatik geht davon aus, daß die Rekonstruktion der Dialogstrukturen ihren Ausgang bei einfachen, grundlegenden Strukturen, bei Minimaldialogen, zu nehmen hat und dann zu komplexeren Dialogen fortschreitet. Der Minimaldialog als entscheidender Schritt für die Rekonstruktion und den Aufbau der kommunikativen Kompetenz findet bei Lorenzen/Taborn seine fremdsprachendidaktische Entsprechung im sog. Kurzdialog. Für die aktive Handlungskompetenz in einer Fremdsprache ist es nach Lorenzen/ Taborn unerläßlich, daß der Lerner authentische Texte kennenlernt, allerdings mit einer wesentlichen Einschränkung: Nicht jeder beliebige authentische Text kann Gegenstand des Unterrichts sein, sondern aus einem Corpus sollten Texte selegiert und das sprachliche Material gefiltert werden, so daß kommunikative Redemittel zum Einsatz kommen, „die häufig gebraucht werden und damit einen großen Aktionsradius haben, kurzum, die powerful sind" (21). Entscheidend unter lerntheoretischem Gesichtspunkt ist die Kürze des Dialogs, die Ökonomie der sprachlichen Mittel und der Realitätsbezug der Texte. Der Schwerpunkt liegt nicht auf dem einmaligen authentischen Text, sondern auf dem wiederholbaren, ausbaubaren Muster. In diesem Sinn bildet der Kurzdialog einen entscheidenden Schritt auf dem Weg zur Beherrschung längerer Dialogsequenzen. Ähnlich wie in der Dialoggrammatik wird die funktionale Handlungsstruktur gewissermaßen als Tiefenstruktur des Dialogs herausgearbeitet; allerdings wird nicht über den konventionellen Zusammenhang der Handlungsmöglichkeiten reflektiert. Ausgehend von einem Mindestkanon kommunikativer Redemittel sollen die Kurzdialoge alle wichtigen Situationen im Leben eines Schülers und ausländischen Besuchers abdecken und dabei auf die einzelnen Jahrgänge nach unterschiedlicher Schwierigkeit hinsichtlich Form und Inhalt verteilt werden. Dialogisch geschieht auch die kommunikative einsprachige Einführung des Wortschatzes. Ebenso wie Lorenzen/Taborn legen Sakayan/Tessier (1989) in ihren Übungen zum dialogischen Sprechen für Deutsch als Fremdsprache den Akzent auf den Kurzdialog. Sog. Minidialoge aus zwei, höchstens aus vier Äußerungen sollen für wesentliche Handlungsspiele eine dialogische Grundkompetenz vermitteln, die sowohl das Initiieren von Gesprächen wie das Reagieren umfaßt. Das Verzweigungsmodell für den Ausbau der Dialogkompetenz verwendet auch Sornig (1981), wenngleich bei ihm die Betonung nicht auf dem Modellcharakter des Kurzdialogs liegt. Er tritt für eine pragmatisch-funktionale „Progression der Sprechabsichten" ein, die sich „nach der Rollen-Mächtigkeit und der Motiviertheit der Sprechenden" richtet (507). Möglichkeiten des direkten Einsatzes der Dialoggrammatik im Fremdsprachenunterricht stellt Graffe (1986) dar (vgl. auch Schülting 1991). Ausgehend von einer Kritik an den üblichen Katalogen kommunikativer Fähigkeiten skizziert er das Programm der Dialoggrammatik und zeigt auf, mit welchen Übungstypen der Erwerb der geeigneten sprachlichen Mittel für wesentliche dialogische Handlungsspiele gesteuert werden kann. Wie der dialoggrammatische Ansatz fremdsprachendidaktisch optimal umgesetzt werden kann, skizziert Gewehr (1991), der den Einsatz der interaktiven Video-

20. Dialoganalyse und Sprachunterricht

425

disc-Technik beschreibt, die allerdings aus Kostengründen für den Fremdsprachenunterricht noch eine Weile Zukunftsmusik bleiben wird.

4.

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Münster

21. Dialoganalyse und Psychotherapie

1. 1.1 1.2 1.3 2. 2.1 2.2 3. 3.1 3.2 3.3 3.4 4.

Interdisziplinäre Aspekte der Beschreibung von Therapiegesprächen Linguistische Beschreibung und psychotherapeutische Theorien Therapiegesprächsanalyse als angewandte Linguistik? Therapiegespräche im Kontext linguistischer Fragestellungen Einordnung der Therapiegespräche in eine Dialogtaxonomie Exkurs : Helfende Gespräche in alltäglichen Situationen Therapeutische Beratungsgespräche vs. therapeutische Transformationsgespräche Sprachliche Handlungsmuster in einzelnen Therapieformen Die Deutung als zentrale Intervention in der Psychoanalyse Paraphrase und Reformulierung in der Gesprächspsychotherapie DirektiveSprechakteinder Gestalttherapie Therapeutische Kommunikation in Gruppen Literaturhinweise

1.

Interdisziplinäre Aspekte der Beschreibung von Therapiegesprächen

In einem ersten Schritt soll versucht werden, den Standort einer linguistischen Beschreibung von Therapiegesprächen zu bestimmen. Dabei gilt es insbesondere, das Verhältnis einer linguistischen Dialoganalyse zu Untersuchungen aus den entsprechenden Praxisfeldern (Psychologie, Psychotherapie) zu klären und das spezifische linguistische Erkenntnisinteresse an Therapiegesprächen herauszuarbeiten. Eine grundsätzliche wissenschaftstheoretische Abklärung der Stellung einer interdisziplinär betriebenen Therapiegesprächsforschung steht noch aus. (Überlegungen in dieser Richtung finden sich in Klann 1977; Giesecke 1983; Gutwinski-Jeggle 1987.) Im einzelnen sollen hier folgende Fragen angesprochen werden: -

-

Wie ist das Verhältnis zwischen den theoretischen Termini, die dem Bereich der Psychotherapie entstammen, und der Beschreibungssprache einer linguistischen Dialoganalyse zu bestimmen? Welchen Beitrag können dialoganalytische Untersuchungen zur Lösung konkreter Probleme des Praxisfeldes leisten?

430 -

1.1

G. Hindelang

Welche genuin linguistischen Aufgaben erwachsen aus der Beschäftigung mit Therapiegesprächen? Linguistische Beschreibung und psychotherapeutische Theorien

Das Praxisfeld Psychotherapie hat, insbesondere im Bereich der Psychoanalyse, eine umfangreiche, kaum überschaubare Literatur hervorgebracht. Bei der Beschreibung therapeutischer Interaktion kann in der Psychotherapie auf ein eigenständiges, anspruchsvolles Theoriegebäude zurückgegriffen werden. Die Rolle der dem Praxisbereich entstammenden Theorie ist bei der dialoganalytischen Beschreibung von Therapiegesprächen um so größer, als die Ausbildung der Therapeuten und damit indirekt ihr sprachliches Handeln von den Konzepten dieser Theorie bestimmt ist. Eine Dialoganalyse kommt in diesem Bereich also nicht umhin, ihr Verhältnis zu der spezifisch psychotherapeutischen Begrifflichkeit zu klären. Eine eindeutige Position vertritt in dieser Frage Schröter (1982, 203). Aufgrund der von ihm angewandten Methode der sog. objektiven Hermeneutik wird „bei der Interpretation der Gesprächssequenzen von Vorwissen über Therapiegespräche abgesehen und das Gesprächsprotokoll wie ein beliebiger Text analysiert". Einen ähnlichen Schwerpunkt setzt auch Streek (1989,19), die Therapiegespräche „aus einem ähnlichen Blickwinkel wie [...] jede andere Art von Gesprächen auch" betrachtet. Ihre Perspektive ist die der am Sacks/Schegloff-Paradigma orientierten Gesprächsanalyse. Streeks Arbeit zeigt, daß es durchaus möglich ist, Therapiegespräche wie beliebige andere Gesprächstypen zu analysieren. Die Ergebnisse sind für eine linguistische Therapieforschung jedoch enttäuschend, weil sich so nicht viel über die spezifischen Eigenschaften von Therapiegesprächen in Erfahrung bringen läßt; die Untersuchung bietet die Beschreibung allgemein wirksamer Regeln der Organisation sprachlichen Handelns anhand von Therapiegesprächen. In diesem Zusammenhang ist auf Sandig (1990, 173) hinzuweisen, die in bezug auf Therapiegespräche fordert, „daß nicht beliebige Fragestellungen herangetragen werden, daß Fragestellungen und Hypothesen Zusammenhänge damit aufweisen, als was der Gegenstand aus der Sicht der Beteiligten entstanden war." Für eine von der Theorie des Praxisbereichs unabhängige Beschreibung therapeutischer Interaktion plädiert auch Gieseke (1983,15); jedoch strebt er eine spezifische, auf den Diskurstyp zugeschnittene ,Normalformanalyse' an, die in kommunikationswissenschaftlichen und soziologischen Kategorien den therapeutischen Prozeß rekonstruiert. (Vgl. auch Giesecke 1982; Giesecke/Rappe 1982; Giesecke/Rappe-Giesecke 1983). In einer Reihe von Beiträgen unternehmen es Flader/Grodzicki (1978; 1982; 1987), die spezifischen sprachlichen und interaktioneilen Leistungen des Psychoanalytikers (sein Diskurswissen) als Formen sprachlichen Handelns zu rekonstruieren. Ausgangspunkt ist dabei die Analyse von Gesprächstranskripten. Da zum Diskurswissen des Psychoanalytikers nach Flader/Grodzicki (1982,147) auch „dessen theoretische Annahmen und Interpretationsmuster" gehören, ist eine solche Methode offen für Konzepte des Praxisfelds, sofern diese in den Transkripten als Aktualisierung von Diskurswissen nachgewiesen werden können. (Zum Problem einer möglichen Zirkularität eines solchen Vorgehens

21. Dialoganalyse und Psychotherapie

431

vgl. Flader/Koerfer 1983, 61—68). Als weitere Beispiele von Arbeiten, die sich bei ihren Untersuchungen von begrifflichen Vorgaben des Praxisbereichs leiten lassen, seien hier exemplarisch Lakoff (1980a, b), Wodak (1981), Wahmhoff (1983) und Weingarten (1990) genannt. Weingarten (1990, 228) ist in dieser Reihe besonders zu erwähnen, weil er explizit formuliert, daß es ein Ziel einer linguistischen Analyse sein kann, die Selbstbeschreibung einer Therapiemethode in linguistischen Termini zu rekonstruieren. Für eine linguistische Dialoganalyse, die relevante Aspekte des Therapiegesprächs beschreiben kann, empfiehlt es sich, das Verhältnis zu den Kategorien des Praxisbereichs wie folgt zu bestimmen: -

-

-

1.2

Eine dialoganalytische Beschreibung von Therapiegesprächen sollte im Zusammenhang einer Theorie sprachlichen Handelns konzipiert werden und insofern prinzipiell unabhängig von den theoretischen Termini des Praxisfeldes formulierbar sein. Die Beschreibungsperspektive sollte so gewählt werden, daß das Spezifische des Diskurstyps sichtbar wird und sich Therapiegespräche von anderen Gesprächsformen abgrenzen lassen. Sinnvoll ist dabei die Orientierung an den spezifischen Handlungszielen von Therapiegesprächen. Einzelne sprachliche Handlungs- und Interaktionsmuster können mit Ausdrücken benannt werden, die auch in der Praxisbereichliteratur gebräuchlich sind (z.B. DEUTUNG, PARAPHRASE, KONFRONTATION). Die inhaltliche Bestimmung dieser Handlungsmuster wäre aber nicht aus der Theorieliteratur des Praxisfeldes zu übernehmen, sondern aus der Handlungsorganisation des Dialogtyps abzuleiten. Therapiegesprächsanalyse als angewandte Linguistik?

Eine Standortbestimmung linguistischer Therapiegesprächsforschung ist auch hinsichtlich der Frage notwendig, inwieweit sich die Analyse von Therapiegesprächen als angewandte Linguistik verstehen kann. Von Anwendung linguistischer Forschung spricht Finke (1983, 30), „wenn die Forschungsinteressen den Rahmen potentieller Erklärungen verlassen und in den Bereich der Beeinflussung, Gestaltung und Veränderung vorstoßen". Eine anwendungsorientierte Analyse von Therapiegesprächen kann also dann entstehen, wenn sie in der Lage ist, auf Probleme der therapeutischen Praxis Einfluß zu nehmen. Flader/Wodak-Leodolter (1979, V) hatten zu Beginn der linguistischen Therapiegesprächsforschung Anwendbarkeit u. a. in bezug auf folgende Praxisprobleme postuliert: „die Überprüfung von Qualität und Reichweite des therapeutischen Verfahrens (in Abgrenzung zu alternativen Therapiemethoden), die Validierung diagnostischer Konzepte von seelischen Störungen, die Verbesserung von therapeutischen Trainingsprogrammen usw." Diese Ansprüche dürften sich mittlerweile als überzogen erwiesen haben (vgl. ζ. B. Keseling/Wrobel 1983). Einen unmittelbaren Lösungsbeitrag zu praxisbereichimmanenten Problemen sollte man von einer linguistischen Dialoganalyse nicht erwarten. Eine aus dem Wunsch nach direkter

432

G. Hindelang

Anwendung dialog-analytischer Bemühungen erwachsende Gefahr besteht darin, als Linguist die Rolle des Supervisors des Therapeuten übernehmen zu wollen und Fehler im Verhalten des Therapeuten nachzuweisen. (Vgl. z.B. Dittmar 1988, 81, der in seinen Daten etwa eine „gravierende therapeutische Unterlassung" entdeckt.) Relleke (1990,185), die sich als Therapeutin mit der Rolle einer linguistischen Diskursanalyse auseinandersetzt, weist es zu Recht zurück, „wenn Linguisten präskriptive Aussagen über psychotherapeutische Gespräche machen". Relleke (1990, 187) äußert jedoch noch grundsätzlichere Bedenken an der Anwendbarkeit linguistischer Therapieforschung, wenn sie schreibt: „Daß diskursanalytische Untersuchungen psychotherapeutischer Gespräche für Linguisten von Interesse und von Nutzen sein können, das will ich nicht bezweifeln. Daß linguistische Analysen von Psychotherapie-Gesprächen unter therapeutischer Zielsetzung für die psychotherapeutische Praxis effizient und notwendig sind, das, denke ich, bedarf der Legitimation." Damit ist die linguistische Dialoganalyse zurückverwiesen auf ihre eigenen Erkenntnisinteressen an Therapiegesprächen. Meine Einschätzung der Frage der Anwendbarkeit linguistischer Therapieforschung möchte ich wie folgt zusammenfassen: Für unmittelbare praktische Probleme des therapeutischen Handelns darf man sich von einer linguistischen Analyse keine Lösungen erwarten. Linguisten tun auch gut daran, sich selbst nicht unter einen solchen Anwendungsdruck zu setzen (vgl. etwa Stitz/Speck/Gessinger 1987, 6f.). Anders sieht es jedoch m.E. für theoretische Probleme des Praxisbereichs aus. Für das theoretische Reden über die psychotherapeutische Praxis kann es von Nutzen sein, wenn der Phänomenbereich des Therapiegesprächs unabhängig von den Konzepten des Praxisfelds beschrieben wird. Eine linguistische Dialoganalyse kann Aspekte thematisieren und dafür metasprachliche Benennungen vorschlagen, die in der Praxisbereichtheorie nicht in den Blick genommen werden. Sofern sich psychotherapeutische Forschungen explizit linguistischer Kategorien bedienen, ist es auch wichtig, auf entsprechende Mängel hinzuweisen, wie das etwa Meyer-Hermann (1983) getan hat. 1.3

Therapiegespräche im Kontext linguistischer Fragestellungen

Für eine linguistische Dialoganalyse ist das Therapiegespräch ein Dialogtyp unter vielen anderen. Geht man davon aus, daß ein wichtiges Ziel einer Dialoglinguistik darin besteht, einen Überblick über die verschiedenen Dialogtypen zu geben, die in einer Sprachgemeinschaft gebräuchlich sind, so erfordert die Charakterisierung eines Dialogtyps zunächst seine Einordnung in eine umfassende Taxonomie der Dialogformen. Für die Therapiegespräche stellen sich damit folgende Fragen: -

Zu welcher übergeordneten Klasse von Dialogen gehören die Therapiegespräche? Wie lassen sie sich von verwandten Gesprächstypen (Beratungsgespräch, Trostgespräch) abgrenzen? Welche Untertypen von Therapiegesprächen lassen sich unterscheiden ? Welche Formen sprachlichen Handelns und welche Besonderheiten der Gesprächsorganisation sind für die einzelnen Untertypen charakteristisch?

21. Dialoganalyse und Psychotherapie

433

Die ersten beiden Fragen sollen im Abschnitt 2 behandelt werden ; im Abschnitt 3 geht es um verschiedene Untertypen des therapeutischen Gesprächs und die typischen sprachlichen Handlungsmuster der einzelnen Therapieformen. Die Frage nach der taxonomischen Einordnung der Therapiegespräche und das Problem der Abgrenzung zu anderen Gesprächstypen wurde in der bisherigen Forschung nicht behandelt. Ein Grund dafür dürfte darin zu suchen sein, daß in frühen, einflußreichen Arbeiten (z.B. Flader/Grodzicki 1978; Lakoff 1980a, b) die Dichotomie Therapiegespräch - Alltagsgespräch besonders herausgestellt und untersucht wurde. (Vgl. zu dieser Gegenüberstellung insbesondere Koerfer/Neumann 1982; zusammenfassend auch Kichler/Lalouschek 1987.) Es wurde darauf verzichtet, Therapiegespräche von anderen Formen des professionellen helfenden Gesprächs (psychologische Beratung, Seelsorgegespräch etc.) abzugrenzen und es von seinen Handlungszwecken her zu bestimmen; dadurch wurde der Begriff ,Therapiegespräch' oder psychotherapeutische Kommunikation' häufig zu weit gefaßt. Besonders ungünstig wirkte sich dies aus, wenn z.B. aus der Analyse sozialpädagogisch geführter Beratungsgespräche oder aus der Beschreibung von Gesprächen, die kurzfristig zur Bewältigung akuter Krisen geführt wurden, Rückschlüsse auf Therapiegespräche im allgemeinen gezogen wurden (vgl. z.B. Streek 1989, 52). So moniert etwa Shands (1979, 113) mit einigem Recht, daß das von Labov/Fanshel (1977) so aufwendig untersuchte Material überhaupt kein Therapiegespräch sei, sondern „Social Workese". Der Einwand von Shands (der auch gegen eine Reihe von anderen Arbeiten vorgebracht werden könnte) zeigt, daß eine Standortbestimmung von Therapiegesprächen innerhalb des Bereichs helfender Gespräche eine wichtige Aufgabe einer linguistischen Beschäftigung mit therapeutischen Dialogen darstellt. Ist das Therapiegespräch erst von anderen verwandten Gesprächsformen abgegrenzt, fällt es auch leichter, die Frage nach den Untertypen des Therapiegesprächs zu beantworten. Als Ausgangspunkt für eine solche Untergliederung bietet es sich an, sich an den im Praxisfeld vorgegebenen Therapiemethoden zu orientieren. Wie etwa Speck/Stitz (1987) für den Anfang von Therapiegesprächen nach verschiedenen Methoden (Gesprächstherapie, Verhaltenstherapie, Tiefenpsychologie) dargestellt haben, zeigt das sprachliche Handeln der Therapeuten bei den verschiedenen Methoden charakteristische Unterschiede, die zur Abgrenzung der Methoden auf der Ebene der Handlungsmuster dienen können.

2.

Einordnung der Therapiegespräche in eine Dialogtaxonomie

Die Beantwortung der Frage nach dem Ort der Therapiegespräche in einer allgemeinen Dialogtaxonomie soll in zwei Schritten erfolgen. Zunächst wird eine taxonomische Einordnung von solchen Gesprächen vorgeschlagen, in denen unter alltäglichen, d. h. nicht institutionell geprägten Rahmenbedingungen ähnliche Handlungsziele verfolgt werden, wie sie für Therapiegespräche charakteristisch sind. Auf diesem Hintergrund wird dann eine weitere Unterscheidung der Therapiegespräche erfolgen.

434

G. Hindelang

Ausgangspunkt der folgenden Überlegungen sind die Ansätze zu einer Dialogtaxonomie, die Franke (1986; 1990) vorgelegt hat. Franke geht davon aus, daß man zielorientierte Dialoge grundsätzlich in komplementäre, koordinative und kompetitive Dialogtypen einteilen kann. Für den komplementären Typus ist charakteristisch, daß ein Sprecher Spi ein bestimmtes „Defizit" hat (vgl. Franke 1990,74) und sein Kommunikationspartner Sp2 in einem Gespräch bereit ist, dieses Problem zu beheben. Als Beispiele nennt Franke etwa Auskunfts-, Beratungs- und Trostgespräche. Bei koordinativen Dialogtypen geht es um den Interessenausgleich zwischen den Gesprächspartnern. Beide sind daran interessiert, miteinander zu kooperieren, müssen aber die zu Beginn des Gesprächs divergierenden Positionen aufeinander abstimmen und zu einem Arrangement kommen. Zu diesem Typ gehören Planungsgespräche, Aushandlungsgespräche, Erörterungen, klärende Aussprachen usw. Kompetitive Dialogtypen liegen vor, wenn Spi und Sp2 Handlungsziele anstreben, die sich gegenseitig ausschließen, und wenn weder Spi noch Sp2 gewillt ist, seine Vorstellungen oder Ansprüche zu revidieren. Beispielhaft für diesen Typ wären Durchsetzungsdialoge und verschiedene Formen von Streitgesprächen (Meinungsstreit, Beziehungsstreit, Kompetenzstreitigkeiten). 2.1

Exkurs: Helfende Gespräche in alltäglichen Situationen

Therapiegespräche und deren alltagssprachliche Entsprechungsformen sind, wie leicht zu sehen ist, den komplementären Dialogtypen zuzuordnen. Je nach Art des zugrundeliegenden Problems (Defizit) unterscheidet Franke (1990, 73f.) drei Untertypen des komplementären Gesprächstypus: -

Der Sprecher Spi weiß etwas nicht, er hat ein Informations- oder Wissensdefizit (Auskunftsdialoge, Aufklärungsgespräche). Der Sprecher Spi hat ein praktisches Problem, das er nur lösen kann, indem er etwas tut (Beratungsgespräche). Der Sprecher wird mit einer gefühlsmäßigen Belastung nicht fertig. Das Ziel des Gesprächs besteht darin, Spi zu ermöglichen, wieder einen Zustand emotionaler Stabilität zu erleben (Trostgespräche, anteilnehmende Gespräche).

Die zuletzt genannte Form komplementärer Dialoge soll hier als ,emotiver Dialog' bezeichnet und nun näher charakterisiert werden. Als Ausgangssituation für einen emotiven Dialog kann man folgende Bedingungen nennen: Spi befindet sich in einer krisenhaften Situation Kr, die Spi als negativ bewertet und die in ihm das unangenehme Gefühl G hervorgerufen hat. Das Handlungsziel eines emotiven Dialogs besteht nun darin, daß Spi aufgrund des Gesprächs eine transformierte Gefühlslage G' erlebt, die er im Vergleich mit G als angenehmer empfindet. Eine solche Transformation kann u.a. durch die Strategien (i)—(iii) bewirkt werden: (i) Sp2 zeigt Sp! einen Weg auf, wie Kr zu Kr' verwandelt werden kann, so daß Kr nicht mehr G verursachen kann. (ii) Sp2 kann Spi dabei helfen, Kr neu zu interpretieren, so daß Spt Kr nicht mehr als negativ erlebt und sich die an Kr gekoppelte Gefühlsreaktion G dadurch verändert.

21. Dialoganalyse und

Psychotherapie

435

(iii) Sp2 hilft Spi dabei, sich von dem emotionalen Druck zu entlasten, den G mit sich bringt, indem er ihn dabei unterstützt, den Gefühlen freien Lauf zu lassen bzw. über sie zu sprechen. Die Variante (i) kann hier außer acht gelassen werden. In diesem Fall entsteht ein Beratungsgespräch, bei dem es darum geht, was Spi tun kann, damit die Situation verschwindet, die G in ihm hervorruft. Das emotionale Problem wird damit auf ein praktisches reduziert. Bei (ii) geht es um die Bewertung der problematischen Situation Kr. Sp2 kann ζ. B. auf höhere Wertsysteme verweisen, in deren Kontext Kr für Spi als relativ geringfügig erscheint oder langfristig sogar als positiv angesehen werden kann. Das Handlungsziel, bei Spx eine Neubewertung von Kr zu bewirken, ist charakteristisch für Trostgespräche. Die in (iii) angesprochene Möglichkeit der Gesprächsführung beruht auf der Erfahrung, daß sich ein unangenehmes Gefühl ändern kann, wenn die Möglichkeit besteht, es ungehindert auszudrücken. Diesen Untertyp der emotiven Dialoge könnte man als ,Entlastungsgespräch' bezeichnen. Mit Ausdrücken wie „sich bei jemandem ausheulen", „sein Herz bei jemandem ausschütten", „sich etwas von der Seele reden", „sich bei jemandem aussprechen" usw. referiert man umgangssprachlich auf diese Art von Gesprächen. (Vgl. dazu das in Fiehler 1986, 304f. beschriebene „Anteilnahmemuster". ) Handlungsziel in den oben genannten Dialogformen ist es, einen Beitrag zur Bewältigung einer akuten emotionalen Krise von Sp2 zu leisten, d. h. Sp t soll den emotionalen Zustand wiedererlangen, in dem er sich vor dem Eintreten von Kr befunden hat. In dieser Hinsicht unterscheiden sich diese alltäglichen Gesprächstypen von genuin therapeutischen Dialogen. Ein Therapiegespräch zielt immer auf Veränderungen im psychischen System von Sp2 ab. (Ganz ähnlich grenzt auch Lang 1989, 43 das helfende Alltagsgespräch von professioneller Psychotherapie ab.) Nachzutragen bleibt eine methodische Bemerkung. Sowohl die Untertypen der komplementären Dialoge als auch die Varianten der emotiven Dialoge wurden hier unter systematischen Gesichtspunkten voneinander abgegrenzt (vgl. Franke 1990, 62-84, 108-122). In konkret realisierten helfenden Gesprächen können natürlich verschiedene Dialogtypen bzw. unterschiedliche Formen emotiver Dialoge nacheinander oder ineinander verzahnt vorkommen. Die Realisierungen dieser einzelnen Dialogtypen entsprechen dann einzelnen Abschnitten im Gesprächsverlauf.

2.2 Therapeutische Beratungsgespräche vs. therapeutische Transformationsgespräche Therapiegespräche sind eine Form professioneller Kommunikation. Daraus lassen sich eine Reihe ihrer äußeren Eigenschaften ableiten. Sie sind zeitlich begrenzt, finden in festgesetzten Abständen regelmäßig über längere Zeit hin statt, werden in der Regel in einem eigens dafür bestimmten Raum des Therapeuten durchgeführt; der Therapeut wird vom Klienten für die Gespräche bezahlt, Begegnungen zwischen Therapeut und Klient finden außerhalb der Therapiestunden nicht statt usw. (Zur Redekonstellation des psychoanalytischen Gesprächs vgl. Goeppert/Goeppert 1973, 168-171; 1975, 218-220; zum „setting" Klann 1977.)

436

G. Hindelang

Von den Handlungszielen her lassen sich zwei Grundtypen von Therapiegesprächen unterscheiden. Sie sollen als therapeutisches Beratungsgespräch (TB-Gespräch) und therapeutisches Transformationsgespräch (TT-Gespräch) bezeichnet werden. Charakteristisch fürTB-Gespräche sind die Gespräche, die im institutionellen Rahmen Klienten in Krisen- oder Problemsituationen angeboten werden. So haben etwa Gebel (1987), Stitz (1987), Streek (1989) und andere die Nachbetreuung von Patienten nach einem Suizidversuch beschrieben; Peyrot (1987) analysiert Aufnahmegespräche in einem Zentrum für Drogentherapie; Wowk (1988) untersucht Gespräche, bei denen die emotionalen Belastungen vor einer Krebsoperation aufgearbeitet werden. In all diesen Fällen ist das Problem des Klienten durch die institutionelle Einbindung der Gespräche bereits vorgegeben. Der Handlungszweck solcher TB-Gespräche besteht darin, dazu beizutragen, dieses Problem zu lösen bzw. zu lindern. In anderen Fällen (z.B. Nowak 1987) geht es ausschließlich um die Beseitigung bestimmter, als Symptom beschreibbarer psychischer Zustände. Das TB-Gespräch kann demnach als eine Form von Problemlösungsdialog aufgefaßt werden. Ist die Problemlage komplex, so besteht eine zentrale Aufgabe in diesem Dialogtyp darin, einen Fokus, d.h. einen „Konflikt, der in einer engen Verbindung zu den aktuellen Beschwerden und Problemen des Patienten steht" herauszufinden (Vogt 1975, 9; vgl. auch Streek 1989) oder eine Problemformulierung zu finden, die der Klient akzeptieren kann (Peyrot 1987). Therapeutische Transformationsgespräche finden in langfristig angelegten therapeutischen Beziehungen statt. Das psychoanalytische Gespräch kann als eine charakteristische Variante dieses Typus gelten; aber auch andere therapeutische Methoden wie die Bioenergetische Analyse, die Gestalttherapie, die Gesprächspsychotherapie usw. können dazu verwendet werden, auf eine grundlegende Transformation der Persönlichkeit des Klienten hinzuarbeiten. Daß auf diesem Wege auch eine Reihe von als ,Probleme' beschriebene Aspekte des Erlebens der Klienten bearbeitet werden, ist selbstverständlich. Es besteht aber nicht wie beim TB-Gespräch ein von außen vorgegebenes Problem, das auf Lösung drängt; insofern muß der Therapeut das Material, das vom Klienten präsentiert wird, nicht notwendig auf einen bestimmten Fokus beziehen, sondern kann es nach verschiedenen Richtungen hin ausloten. Beim TTGespräch geht es um eine Reorganisation und Neuorientierung der Persönlichkeit des Klienten durch Offenlegung und Aufarbeitung psychischer Konflikte. Nicht punktuelle Beseitigung von Defiziten ist das Ziel, sondern eine umfassende Rekonstruktion und Erweiterung der psychosozialen Kompetenz. Im Rahmen der Gesprächspsychotherapie nennt Baus in Baus/Sandig (1985, 63) als Ziel, die „rigiden Interaktionsmuster und starren Bedeutungsverleihungen wieder aufzulösen, d.h. dem Klienten eine größere Fülle von Handlungs- und Deutungsmöglichkeiten in seiner Welt wieder verfügbar zu machen". (Vgl. zur Formulierung ähnlicher Therapieziele auch Hindelang 1989,332.) Die Unterscheidung in TB-Gespräch und TT-Gespräch scheint mir für eine linguistische Therapiegesprächsforschung aus einer Reihe von Gründen nützlich zu sein. TBGespräche weisen deutliche Ähnlichkeiten mit emotiven Dialogen und ζ. T. auch mit auf praktische Problemlösung abzielenden Beratungsgesprächen auf. Insbesondere hinsichtlich des Handlungszwecks besteht eine Parallelität: Die Gespräche werden zur

21. Dialoganalyse und Psychotherapie

437

Bewältigung von akuten, bereits vordergründig in Erscheinung tretenden Problemen geführt. Aber auch in bezug auf die verwendeten sprachlichen Handlungsmuster sind TB-Gespräche den emotiven Dialogen und den Beratungsgesprächen näher verwandt als den TT-Gesprächen. So ist z.B. in dem von Peyrot (1987, 252f.) untersuchten Material die Selbstoffenbarung (self-disclosure) des Therapeuten eine typische Form der Intervention. Berichtet ein Klient zunächst noch vage und zurückhaltend von seiner Situation, erzählt der Therapeut, welche ähnlich gelagerten Schwierigkeiten er schon hatte und wie er damit umgegangen ist. Eine solche Reaktion, die in alltagssprachlichen Beratungen z.B. unter Freunden durchaus verbreitet ist, wäre für jede Form des TT-Gesprächs (nicht nur innerhalb der Psychoanalyse) inakzeptabel. In diesem Zusammenhang sei auch nochmals auf Shands (1979, 177) verwiesen, der in dem von Labov und Fanshel (1977) untersuchten Material viele Fälle von „directing, suggesting, or rationalizing" entdeckt, alles Sprechakte, die für alltagssprachliches Beraten, nicht aber für genuin therapeutische Interaktion (TT-Gespräche) charakteristisch sind. Während also das TB-Gespräch als professionelle und institutionelle Variante von emotiven Dialogen und/oder Beratungsgesprächen analysiert werden kann, sind TT-Gespräche als eigenständiger Gesprächstyp anzusehen, der keine Entsprechung in alltäglichen Dialogtypen hat. Die u.a. von Lakoff (1980a, b) und Koerfer/ Neumann (1982) herausgearbeiteten Unterschiede zwischen Therapiegespräch und Alltagsgespräch betreffen das psychoanalytische Gespräch als typische Variante des TT-Gesprächs. Sowohl das TB-Gespräch als auch das TT-Gespräch sollten Gegenstand einer linguistischen Dialoganalyse sein. Es handelt sich jedoch um zwei verschiedene Gesprächstypen, die vom Handlungsziel her deutlich geschieden sind. Rückschlüsse vom TB-Gespräch auf das TT-Gespräch oder auf therapeutische Kommunikation im allgemeinen sind nicht möglich. Die im Kapitel 2 getroffenen Unterscheidungen lassen sich in einem Schaubild darstellen (siehe S. 438). Mi . . . M n stehen für die verschiedenen Untertypen des therapeutischen Beratungsbzw. Transformationsgesprächs. Zur Differenzierung kommen hier die verschiedenen therapeutischen Methoden mit ihren spezifischen Interventions- und Interaktionsmustern in Frage (z.B. Psychoanalyse, Gesprächstherapie, Gestalttherapie usw.). Anzumerken bleibt, daß bestimmte Methoden (insbesondere die im Bereich der Gesprächstherapie übliche Art, auf Äußerungen des Klienten einzugehen) sowohl für TBGespräche als auch für TT-Gespräche angewandt werden können. Für eine taxonomische Einordnung ist der Handlungszweck des Gesprächstyps aber als ein Kriterium einzustufen, das den einzelnen Methoden übergeordnet ist. Im folgenden 3. Kapitel soll es nun um die typischen sprachlichen Handlungsmuster in den einzelnen Therapiemethoden gehen.

21. Dialoganalyse und Psychotherapie 3.

439

Sprachliche Handlungsmuster in einzelnen Therapieformen

Auf der Ebene der Sprechhandlungs- und Interaktionsmuster sind für die einzelnen Methoden gesonderte Untersuchungen notwendig. Sprechhandlungen, die in einer Therapiemethode als zentrale Form des therapeutisch-sprachlichen Handelns angesehen werden (ζ. B. die Deutung in der Psychoanalyse), können in einer anderen Therapiemethode als technischer Fehler gelten (ζ. B. die Deutung in der Gesprächstherapie oder Gestalttherapie). Im folgenden sollen charakteristische sprachliche Handlungen in der Psychoanalyse, in der Gesprächspsychotherapie und in der Gestalttherapie skizziert werden.

3.1

Die Deutung als zentrale Intervention in der Psychoanalyse

Besonderes Interesse der linguistischen Beschreibung des psychoanalytischen Gesprächs hat die Deutung als wichtigste Form der therapeutischen Intervention gefunden (Flader/Grodzicki 1982; 1987; Kindt 1984; Schmidt-Knaebel 1988; Ehlich 1990; in der Praxisfeld-Literatur vgl. z.B. Argelander 1981). Weiterhin wurden auch die dialogischen Besonderheiten herausgearbeitet, die sich aus der sog. Grundregel und der Abstinenzregel ergeben (Lakoff 1980a, b; Flader/Grodzicki 1978; Koerfer/Neumann 1982). Im folgenden soll der in der Forschung (z.B. durch Ehlich 1990) wiederholt aufgegriffene Vorschlag von Flader/Grodzicki (1982) zur Beschreibung der Deutung zum Ausgangspunkt der Darstellung gemacht werden. Flader/Grodzicki (1982) verstehen die Deutung als eine komplexe sprachliche Handlung, die Antwort auf eine nichtgestellte Frage des Klienten gibt. Die Frage, die sozusagen in jeder der in einer psychoanalytischen Therapiesituation gemachten Äußerung des Klienten inhärent ist, lautet nach Flader/Grodzicki (1982,170f.): „Was tu und will ich jetzt eigentlich wirklich?" Eine solche Auffassung impliziert, daß beim Klienten die „Kommunikationsleistung, wissen/darstellen zu können, was er aktuell tut bzw. sagt, an einer bestimmten Stelle (also ,lokal') eingeschränkt ist". (Flader/Grodzicki 1982, 179f.; zur Annahme einer partiell verringerten expressiven Kompetenz auf Seiten des Klienten, vgl. auch Löw-Beer 1986.) Auf dem Hintergrund des Ansatzes von Flader/Grodzicki soll das Verhältnis zwischen Klientenäußerung und Therapeutendeutung unter etwas veränderter Perspektive wie folgt beschrieben werden: Innerhalb des Sprachspiels des psychoanalytischen Gesprächs (vgl. Lorenzer 1974) erhält jede Äußerung des Klienten Κ eine neue, sprachspielspezifische Illokution; sie bekommt durch ihren Ort im psychoanalytischen Gespräch die Rolle einer Präsentation eines tieferliegenden verborgenen Konflikts C (C-PRÄS) zugewiesen. Macht Κ eine Äußerung Ä, so geht der Therapeut Τ nicht auf die alltagssprachliche Illokution von Ä (FRAGE, BITTE, VORWURF) ein, sondern immer auf den durch den Kontext des Diskurstyps umgewerteten Illokutionstyp C-PRÄS. Τ reagiert auf jede Äußerung Ä von K, als ob für Ä die für C-PRÄS anzusetzenden Handlungsbedingungen (a)-(f) angenommen werden könnten.

440

G. Hindelang

(a) (b)

Κ glaubt, daß Ä mit einem verborgenen Konflikt C zusammenhängt. Κ glaubt, daß Ä neben der durch die konventionelle Bedeutung BÄ transportierte Mitteilung noch ein weiteres, auf C bezogenes Bedeutungspotential BÄ' besitzt. (c) Κ glaubt, daß BÄ' die eigentliche Mitteilung ist, die er aber, aufgrund des Zusammenhangs mit C, nicht explizit formulieren kann. (d) Κ glaubt, daß Τ BÄ' aufgrund seiner professionellen Kompetenz aus Ä erschließen kann. (e) Κ wünscht BÄ'zu kennen. (f ) Κ beabsichtigt, Τ dazu zu bewegen, ihn BÄ' wissen zu lassen. In der Forschungsliteratur wurde mehrfach beschrieben, daß der Analytiker auf initiale Sprechakte des Klienten wie BITTE, FRAGE, VORWURF, RATFRAGE usw. nicht mit den alltagssprachlichen erwartbaren Reaktionszügen antwortet. Diese Tatsache wurde dann mit dem aus der Praxisfeldtheorie stammenden Begriffe der Abstinenzregel in Zusammenhang gebracht (vgl. Koerfer/Neumann 1982, 115f.). Akzeptiert man die oben formulierte Hypothese der Umwertung aller Illokutionen von Klientenäußerungen zu C-PRÄSENTATIONEN, erscheint z.B. eine DEUTUNG als Reaktion auf eine BITTE als direkt auf den illokutionären Zweck der Klientenäußerung bezogene sprachliche Handlung, ein Akzeptieren oder Ablehnen der BITTE dagegen würde diesen verfehlen. Im folgenden Beispiel aus Goeppert/Goeppert (1973, 203) gibt Τ zwei Deutungen eines Berichts von K. Beispiel 1 (1) K. : ... mich hat nämlich neulich mal einer in der Klinik gefragt, so ach, wir suchen Babysitter und so / da hab ich überhaupt keine Antwort gegeben / die sollen sich einen kaufen wenn se einen brauchen / ich mach das net / wenn die Kinder haben, sollen sie se selber großziehn / das is net mein Brot / (Atmen) / ich will nix damit zu tun haben // (2) T. : vielleicht ist das Problem für Sie / daß Sie nicht ein eigenes Kind haben können / (3) K.: (zart) ja /(dezidiert) ich hab aber überlegt, ich kann nicht/ (4) T. : vielleicht fühlen Sie sich selbst als ein Kind / so wie früher zu Hause / wo Sie ja doch sehr viel babysitten mußten / (5) K.: (haucht) ja//ja ich kann das nicht trennen. Κ präsentiert als Material den Bericht (1). Unterstellt Τ für (1) die Bedingungen (a)—(f), ist (2) ein direktes Eingehen auf den illokutionären Zweck von (1). Tbietet Κ als ,Antwort' auf C-PRÄS an, zu erwägen, ob (6) als BÄ' zu (1) in Frage kommt. (6) Es ist für mich ein Problem, daß ich kein eigenes Kind haben kann. Durch die mit vielleicht eingeleitete Deutungsformulierung betont er den hypothetischen Charakter der Deutung und legt Κ nahe, die Deutung zu bestätigen oder zu verwerfen. Mit (3) akzeptiert Κ (6) als mögliches Bedeutungspotential von (1). In (4) offeriert T, wieder eingeleitet durch vielleicht, eine weiterreichende Deutung, die (1)

21. Dialoganalyse und Psychotherapie

441

mit frühen Erfahrungen von Κ in Beziehung setzt. Der Inhalt, den Τ mit (4) als BÄ' für (1) vorschlägt, läßt sich, noch etwas expliziter formuliert, durch (7) wiedergeben. (7) K.: In der Situation, in der ich gefragt wurde, ob ich Babysitter machen würde, habe ich mich selbst wie ein Kind gefühlt, wie damals, als ich zu Hause immer babysitten mußte. Κ bestätigt auch diese Deutung von (1) und gibt mit dem zweiten Teil von (5) („ja ich kann das nicht trennen") zu erkennen, daß es ihr schwerfällt, die Situationen von damals nicht auf analoge Situationen in der Gegenwart zu übertragen. Der hier zitierte Gesprächsausschnitt enthält zwei verhältnismäßig einfache Deutungen. Für etwas komplizierter angelegte Deutungen und deren Analyse vgl. Flader/ Grodzicki (1982) und Löw-Beer/Thomä (1987). Abschließend sei noch auf die linguistische Literatur zum sog. Erstinterview verwiesen. Das Erstinterview ist ein dem eigentlichen therapeutischen Prozeß vorausgehendes Gespräch, das primär diagnostische Funktionen hat und von dem keine Rückschlüsse auf die Interaktion im eigentlich therapeutischen Gespräch gezogen werden dürfen. Mit dem Erstinterview in der Psychoanalyse (aber auch in anderen therapeutischen Zusammenhängen) beschäftigen sich die folgenden Arbeiten: Flader/Giesecke (1980), Holly (1983), Keseling (1983a, b), Wahmhoff (1983), Wrobel (1983; 1985; 1990), Becker (1984) und Wilke/Jochens (1987).

3.2

Paraphrase und Reformulierung in der Gesprächspsychotherapie

In der Gesprächspsychotherapie (GT) sind „rekonstruierende Paraphrasen das Kernstück des therapeutischen Sprachhandelns" (Wahmhoff 1981,100). Der gesprächstherapeutische Dialog baut sich im wesentlichen aus einer Abfolge von zwei- bzw. dreizügigen Sequenzen auf. (Vgl. Wahmhoff 1981, 102) Im ersten Zug macht Κ eine bestimmte Äußerung Ä. Τ reagiert auf Ä entweder mit einem Rezeptionssignal (hm) oder mit einer Paraphrase Ä' zu Ä. Durch den in der Regel fragenden Intonationsverlauf von Ä' wird Κ dazu eingeladen, Ä ' entweder als zutreffend anzuerkennen oder aber abzulehnen. Charakteristisch für das Verhältnis von Ä und Ä' ist, daß Τ in Ä' bestimmte Aspekte von Ä hervorhebt und akzentuiert. In der Praxisbereichliteratur spricht man davon, daß Τ in Ä' die Verbalisierung emotionaler Erlebnisinhalte zu leisten habe, d.h. Τ wird A so paraphrasieren, daß die in Ä angelegten emotionalen Inhalte deutlicher hervortreten. Dadurch muß sich Κ mit der emotional differenzierteren Darstellung seiner Situation auseinandersetzen, indem er sich diese Beschreibung entweder zu eigen macht, oder sie als nicht zutreffend zurückweist. Typisch für diese Art von Sequenz ist folgender Gesprächsausschnitt aus Schlobinski (1988,45). Beispiel 2 (1) K. : [...] ich bin so richtig begierig auf Anerkennung, [weil, (2) T.: [Hm. (3) K.: ich bekomme Anerkennung, ich bekomme vielleicht genauso viel wie andere und das würde völlig ausreichen, [aber

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(4) T.: [Hm. (5) Κ. : es reicht nicht aus, weil ich sie immer zunichte mache, und deshalb möchte ich wieder neue, und ich kann eigentlich genug Anerkennung kriegen (.) (6) T.: Hm. Daß Sie immer das Gefühl haben, irgendwie bleibt das unvollständig und - es eben noch so (...) in irgendeiner Weise bei der ganzen Sache ein Stachel des Zweifels drin. (7) K.: Ja, und [...] Τ reagiert in (2) und (3) jeweils mit einem simultan zu Κ gesprochenen Rezeptionssignal. (6) enthält neben einem weiteren, nicht gleichzeitig gesprochenen Rezeptionssignal, die den emotionalen Erlebnisinhalt hervorhebende Paraphrase in der Form eines nicht eingebetteten daß-Satzes. Schlobinski (1988) hat gezeigt, daß diese Konstruktion besonders charakteristisch für Paraphrasen in der GT ist. In (7) bestätigt Κ die Richtigkeit der Wiedergabe des emotionalen Gehalts seiner Äußerungen. Einzelne Varianten der Beziehung zwischen Ä und der Paraphrase Ä' haben Wahmhoff (1981) und Weingarten (1990) beschrieben. Wiedemann (1986) hat den Einfluß der paraphrasierenden Reaktionsweise des Therapeuten auf das Erzählverhalten der Klienten untersucht. Baus/Sandig (1985) vergleichen in einer interdisziplinär angelegten Einzelfallstudie das verbale Verhalten einer Klientin zu Beginn und zu Ende einer gesprächspsychotherapeutischen Behandlung. Als weitere linguistische Untersuchungen zur Gesprächstherapie sind noch Wahmhoff/Wenzel (1979), MeyerHermann/Weingarten (1982) und Meyer-Hermann (1983) zu nennen.

3.3

Direktive Sprechakte in der Gestalttherapie

In der Gestalttherapie spielen direktive Sprechakte eine zentrale Rolle. Diese Therapiemethode ist jedoch nicht in dem Sinne direktiv, daß Τ Κ mit Ratschlägen oder Empfehlungen zu beeinflussen sucht. Τ unterstützt vielmehr durch verschiedene Formen von ANLEITUNGEN Κ dabei, sich im Hier und Jetzt der Therapiesituation mit sich selbst auseinanderzusetzen. Dazu ist es besonders wichtig, die Aufmerksamkeit von Κ auf seine aktuelle emotionale Befindlichkeit zu lenken. Eine zentrale therapeutische Intervention der Gestalttherapie besteht darin, daß Τ Κ auffordert, sein Bewußtsein auf das zu lenken, was er im Moment fühlt, tut, erlebt oder was für Körperempfindungen er hat. Dieser Typ direktiver Sprechakte wurde in Hindelang (1989) als FOKUSSIERUNGS-ANLEITUNG (FA) bezeichnet. (Vgl. auch zu den im folgenden behandelten Formen der ANLEITUNG Hindelang, 1989.) Τ kann eine FA machen, indem er: -

Κ direkt auffordert, seine Aufmerksamkeit darauf zu lenken, was er momentan fühlt (wie in (8)). Κ fragt, was er momentan fühlt (wie in (9)). Κ fragt, ob er etwas Bestimmtes wahrnimmt, wasTan ihm beobachtet (wie in (10)). (8)

T. : Ja, machen Sie Ihre Augen zu und spüren Sie Ihren Körper ! (Grinder/Bandler 1984,91)

21. Dialoganalyse und Psychotherapie

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(9) T. : Was fühlst du im Moment? (Büntig 1977,1059) (10) T.: Merken Sie, daß Ihre Augen feucht sind? (Perls 1980,244) Ebenso zentral wie die FA ist in der Gestalttherapie die EXPRESSIONS-ANLEITUNG (EA). Mit einer E A fordert Τ Κ auf, ein bestimmtes Gefühl zum Ausdruck zu bringen bzw. einen bereits eingeleiteten Gefühlsausdruck zu intensivieren oder (z.B. durch Hinzunahme gestischer Ausdrucksmittel) zu vervollständigen. Beispiel 3 (Aus Perls 1976,188f.) (K spricht in einer Gruppensitzung zu ihrem Ehemann) (1) K.: Du solltest zuhören! (2) T.: Lauter. (3) K. : Du solltest zuhören ! ! (4) T. : Bist du dir bewußt, was du mit deinem Gesicht machst? (5) K.: Nein. (6) T. : Ich möchte gern, daß du mit Worten sagst, was ich in deinem Gesicht sehe. Sag ihm, ,ich verachte dich'. (2) und (6) in Beispiel3 sind EXPRESSIONS-ANLEITUNGEN, (4) ist eine FA. (6) dient dazu, einen gestisch vermittelten Ausdruck, der Κ als solcher nicht bewußt ist, in einen verbalen Ausdruck zu übersetzen. Diese Interventionstechnik ist in der Gestalttherapie besonders häufig zu beobachten. Typisch sind auch EXPRESSIONS-ANLEITUNGEN, in denen Τ Κ dazu hinführt, eine nur verbal vermittelte Botschaft auch durch seine Körpersprache auszudrücken. Besonders charakteristisch für die Gestalttherapie sind die ADRESSIERUNGSANLEITUNG (AA) und die IDENTIFIKATIONS-ANLEITUNG (IA). Die A A läßt sich wie folgt beschreiben: Κ hat in einer vorhergehenden Äußerung auf X referiert und von X prädiziert, daß p. Mit einer A A fordert Τ Κ auf, eine Situation zu imaginieren, in der X der Adressat der Äußerung ist, und gegenüber von X zu prädizieren, daß p. Ein typisches Beispiel für eine A A findet sich in folgender Sequenz: Beispiel 4 (Aus Büntig 1977,1063) (1) K.: Ich will unbedingt an einem Traum arbeiten, der immer wiederkommt, er ängstigt und belastet mich, und ich will ihn endlich loswerden. (2) T.: Regine, kannst du das dem Traum selbst sagen? Stell dir vor, dein Traum sitzt hier im Stuhl neben dir, und du sagst ihm, was du mir gerade über ihn erzählt hast. Eine IA kann wie folgt charakterisiert werden: Κ hat in einer vorhergehenden Äußerung auf X referiert. Mit einer IA fordert Τ Κ dazu auf, als X zu sprechen. Κ soll sich also mit einem von ihm zuvor eingeführten Referenzobjekt identifizieren und sozusagen in der Rolle von X sprechen. Als X kommen nicht nur Personen, sondern alle möglichen Entitäten in Frage. Im folgenden Beispiel 5, das aus der gleichen Therapiestunde stammt wie die oben zitierte A A , ist X eine Figur aus einem Traum, den die Klientin (Regine) erzählt.

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G. Hindelang

Beispiel 5 (AusBüntig 1977,1064) (1) Κ.: Ich will nicht weitergehen, ich weiß ganz sicher, daß ich überfallen werde... von Mördern oder so... (2) T.: Ο. Κ. Regine. Kannst du dich jetzt mal auf diesen Stuhl hier neben dir setzen und dir vorstellen, du seist einer dieser Mörder. Laß dir Zeit, und versuche, ein Gefühl dafür zu bekommen. (3) K. : (hat den Stuhl gewechselt [...]) (4) T.: Kannst du Regine sagen, was du mit ihr vorhast? In (4) unterstützt Τ die in (2) formulierte IA, indem er sich selbst an die Klientin wendet, als sei sie einer der Mörder, der zu Regine spricht. Die hier vorgeführten ANLEITUNGS-Typen sind selbstverständlich nur ein kleiner Ausschnitt des Interventionsrepertoires des Therapeuten in der Gestalttherapie, sie sind aber typisch für die Art, in der Τ mit direktiven Sprechakten den Gesprächsverlauf strukturiert und steuert. Die Gesprächsbeiträge des Klienten sind in den meisten Fällen als direkte Reaktionszüge auf die Initiativen des Therapeuten zu beschreiben. 3.4

Therapeutische Kommunikation in Gruppen

Bisher wurde stillschweigend vorausgesetzt, daß therapeutische Kommunikation immer als Einzeltherapie, d.h. als Zwei-Personengespräch zwischen Τ und Κ organisiert ist. Neben dieser Form gibt es aber im Rahmen fast aller therapeutischen Methoden auch Gruppentherapien. In einer gruppentherapeutischen Sitzung sind immer mehrere Klienten anwesend, so daß die Redebeiträge der an der Interaktion teilnehmenden Sprecher folgende Adressierungsrichtungen haben können: Klient K) zu Klient K 2 , Klient zu Therapeut, Klient zur ganzen Gruppe, Therapeut zu Klient, Therapeut zur ganzen Gruppe. Betrachtet man die Forschungsliteratur zur therapeutischen Kommunikation in Gruppen, so scheint es auf den ersten Blick, als sei dieser Gegenstand kein linguistisches Neuland mehr; eine genauere Sichtung der vorgelegten Arbeiten zeigt jedoch, daß noch nicht sehr viel über das sprachliche Handeln und die spezifische Form der Gesprächsorganisation in Therapiegruppen bekannt ist. Turner (1972) und Kichler/Lalouschek (1987) beschäftigen sich mit der Frage, wie man den Anfang der eigentlichen Therapiesitzung innerhalb einer Gruppeninteraktion bestimmen kann. Im Mittelpunkt steht bei Turner (1972) das Versammeln der Gruppe als soziales Phänomen und der Übergang vom pre-therapy talk zum eigentlichen Therapiegespräch. Das therapeutische Gespräch selbst ist nicht Gegenstand seiner Arbeit. Wodak hat sich in einer ganzen Reihe von Arbeiten mit verschiedenen soziolinguistischen Aspekten der therapeutischen Kommunikation in Gruppen beschäftigt (u.a. Wodak-Leodolter 1978; 1979; 1980; Wodak 1981; 1987). So geeignet m.E. das von ihr untersuchte Material für die soziolinguistischen Fragestellungen ist, die Wodak verfolgt (schicht- und geschlechtsspezifische Formen der Problemdarstellung), so wenig scheint es mir brauchbar zu sein, um daraus einen verallgemeinerbaren Eindruck vom interaktionellen Geschehen in therapeutischen Gruppen gewinnen zu können.

21. Dialoganalyse

und

Psychotherapie

445

Die von den Therapeuten praktizierte Methode einer sehr weitgehenden verbalen Zurückhaltung (Wodak 1981,117,223) führt dazu, daß fast nur Klientenäußerungen in den Blick genommen werden. Es handelt sich also um ein Gruppengeschehen, in dem therapeutische Sprechakte und interaktionssteuernde Interventionen des Therapeuten keine zentrale Rolle spielen. Für eine linguistische Analyse, die es unternimmt, die interaktioneilen Besonderheiten therapeutischer Kommunikation herauszuarbeiten, wäre es interessanter, von Material auszugehen, bei dem der Therapeut aktiver in den Gruppenprozeß eingreift. Ein wichtiger Teil der sprachlichen Handlungen des Therapeuten in einer Gruppe besteht darin, auf der Ebene der Redeorganisation steuernd zu wirken und Sprecher- und Adressatenwechsel zu initiieren. Abschließend sei noch auf die umfangreiche linguistische Literatur zu den sog. Balint-Gruppen hingewiesen (u.a. Giesecke/Rappe 1982; Giesecke/Rappe-Giesecke 1983; Gutwinski-Jeggle 1987 und die dort genannte Literatur). Balint-Gruppen sind Supervisionsgruppen für Ärzte, in denen es um emotionale Aspekte der Arzt-PatientBeziehung geht. Als Therapiegruppen oder auch nur als therapieverwandte Selbsterfahrungsgruppen für Ärzte sind Balint-Gruppen jedoch nicht aufzufassen. Es geht in den Gruppen nie um den Arzt selbst oder seinen Anteil an der Arzt-Patient-Beziehung; verhandelt wird immer nur über den Patienten des Arztes. Gutwinski-Jeggle (1987, 58) beschreibt diese Grundannahme der Balint-Gruppenarbeit wie folgt: „alles, was der Arzt sagt bzw. emotional vermittelt, alles was in den Kollegen ausgelöst und in der Gruppe widergespiegelt wird, ist Teil des Problems des Patienten." Eine solche Position ist geradezu konträr zu den Prinzipien therapeutischer Kommunikation, in der jede Äußerung des Klienten als potentieller Hinweis auf ein Problem von Κ aufgegriffen werden kann. Die Arbeiten zu Balint-Gruppen können also nicht direkt als Beitrag zur linguistischen Therapieforschung angesehen werden, sie liefern jedoch eine Reihe von wichtigen methodischen Hinweisen, die für eine künftige linguistische Erforschung von Interaktionsprozessen in Therapiegruppen von Bedeutung sein dürften.

4.

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21. Dialoganalyse und Psychotherapie

449

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Münster

22. Dialoganalyse und Gesprächstraining

1. 2. 3. 4. 5. 5.1 5.1.1 5.1.2 5.1.3 5.1.4 5.1.5 5.2 5.2.1 5.2.2 6. 7.

Einleitung Neue Rhetorik Konversationsmaximen Sprecherziehung Praktische Rhetorik Generelle Programme Der traditionelle Typ Der sachliche Typ Der moralisierende Typ Der Typ „Rezeptesammlung" Der Typ „Jedes Mittel ist recht!" Sektorale Rhetorik Wirtschaft Soziale und psychologische Pädagogik Dialoggrammatik und Rhetorik Literaturhinweise

1.

Einleitung

Unter Gesprächstraining sollen allgemein alle Ansätze verstanden werden, deren Ziel es ist, dem Erwachsenen (nicht dem Schüler, vgl. dazu Artikel 20) eine durchdachte und effektive Gesprächsführung zu vermitteln. Gesprächstraining beruht somit idealiter auf der rhetorischen Ausformung einer Gesprächstheorie. Während die antike Rhetorik sich vorwiegend mit der rhetorischen Ausgestaltung der Rede befaßt hat, tritt in der modernen Rhetorik etwa seit den 50er Jahren neben die Rede das Gespräch als gleichberechtigte, ja primäre kommunikative Einheit. Der Artikel gibt einen Überblick über wesentliche Ansätze einer modernen Gesprächsrhetorik.

452

2.

E. Weigand

Neue Rhetorik

Unter dem Stichwort „Neue Rhetorik" faßt man Ansätze zusammen, die etwa seit den 50er Jahren dieses Jahrhunderts zu einer Wiederbelebung der Rhetorik geführt haben, nachdem sich die klassische Rhetorik seit Ende des 16. Jahrunderts zu einer Rhetorik der Figuren zurückgebildet und an Interesse eingebüßt hatte (vgl. Jens 1977). Diesen Ansätzen ist die Auffassung gemeinsam, daß das Leben des einzelnen in unserer heutigen Gesellschaft wesentlich von seiner Kommunikationsfähigkeit bestimmt wird und im besonderen von seiner Fähigkeit, in der Kommunikation andere zu beeinflussen. Der Beschreibung und dem Training dieser Fähigkeit kommt daher gesteigerte Bedeutung zu. Trotz dieser gemeinsamen Grundauffassung lassen sich verschiedene Strömungen mit durchaus unterschiedlichen Rhetorikkonzeptionen unterscheiden. Vor allem in der amerikanischen Rhetorik (vgl. z.B. Roloff/Miller 1980), neuerdings auch in verschiedenen anderen Veröffentlichungen (z.B. Leith/Myerson 1989), wird ein umfassendes Rhetorikverständnis vertreten, das von der These ausgeht, jede Sprachverwendung sei rhetorisch, eine neutrale Sprache gebe es nicht (vgl. Burke 1950, 172: „And wherever there is .meaning', there is ,persuasion'." oder Leith/ Myerson 1989, XIV: „All utterances can be seen at one level as attempts to persuade.") Die Begründung für ein solches persuasives Sprachverständnis liegt in einem dialogischen Sprachbegriff, wobei das Dialogische allerdings nur als situative oder intentionale Gerichtetheit jeder Äußerung verstanden wird. Persuasion umfaßt in diesem allgemeinen Sinn Überzeugung wie Überredung, appelliert an die Vernunft wie an das Gefühl. Die Nützlichkeit einer solchen Unterscheidung wird bezweifelt, da es, z.B. nach Miller (1980, 15), kaum rein logische oder rein emotionale Persuasion gebe. Miller definiert Persuasion behavioristisch - im Sinn der Forderung der amerikanischen Rhetorik, daß die Ergebnisse experimentell abgesichert sein müßten - als „response shaping", „response reinforcing" und „response changing process", wobei „response" durch „attitude" präzisiert wird. Techniken, mit denen man einen solchen Wechsel in der Einstellung erreichen kann, beschreiben z.B. Burgoon/Bettinghaus (1980) und beziehen sich dabei einerseits auf logisch-rationale (z.B. Evidenz) wie auf affektive Strategien (z. B. Furchtappelle). Im Unterschied zu einem Rhetorikverständnis, bei dem jeder Sprachgebrauch als rhetorisch gilt - also auch die Beschreibung des Sprachgebrauchs - , wird Rhetorik meist eingeschränkt auf eine bestimmte Art und Weise des Sprachgebrauchs, auf den effektiven Sprachgebrauch. Sprachgebrauch ist effektiv, wenn er seinen Zweck optimal erfüllt. Nach einer verbreiteten Auffassung führen zwei Wege zu dieser Zweckerfüllung: der persuasiv-suggestive und der sachlich-rationale. Den persuasiven Weg beschreibt Perelmans neue Rhetorik, die darauf abzielt, „Übereinstimmung eines Publikums mit den Thesen, die man seiner Zustimmung unterbreitet, hervorzurufen oder zu verstärken" (1980,18). Der Diskurs, in dem dies geschieht, ist die Argumentation. Dabei geht auch Perelman von einem dialogischen Sprachbegriff aus, der jede Sprachverwendung als dialogisch versteht. Das generelle Handlungsspiel der Argu-

22. Dialoganalyse und Gesprächstraining

453

mentation wird - durchaus den Annahmen der Dialoggrammatik entsprechend - als ein System „vernünftiger Wahlhandlungen" beschrieben, „die durch Beratungen und Diskussion der unterschiedlichen Lösungen vorbereitet werden" (17). Ähnlich wie die sog. Funktionalstilistik für die verschiedenen Kommunikationsbereiche eigene „Verwendungssysteme der Sprache" annimmt (Riesel/Schendels 1975, 16; bereits Riesel 1959), differenziert auch Perelman bereichsspezifische Argumentationen, so z.B. die forensische, die philosophische und die politische. Die kommunikative Vielfalt der Handlungsspiele, die sich nicht auf ein generelles Muster der Argumentation reduzieren läßt, wird damit jedoch nicht erfaßt. Die Techniken der Rhetorik, die Perelman darlegt, sollen alle dem Zweck dienen, „die den Prämissen eingeräumte Zustimmung auf die Folgerungen zu übertragen" (30). Daraus folgt z.B., daß der Redner nur solche Thesen als Prämissen wählen soll, für die bei der Zuhörerschaft Zustimmung angenommen werden kann. Dabei hängt der Status der in eine Argumentation eingehenden Elemente, selbst die Bestimmung des Gegebenen von der Übereinstimmung des Auditoriums ab (55). Auch die Theorie der persuasiven Kommunikation Perelmans umfaßt durch den Einbezug der modernen Philosophie im Grunde die gesamte Sprachverwendung, der persuasive Diskurs zielt sowohl auf intellektuelle wie emotionale Zustimmung, aber durch die Akzentuierung und Optimierung bestimmter Strategien und Techniken der Persuasion fällt hier die Rhetorik nicht zugleich - wie vielfach in der amerikanischen Neuen Rhetorik - mit der Beschreibung des Sprachgebrauchs zusammen, sondern setzt die Beschreibung voraus und wird wirksam vor allem in der vom Redner zu treffenden Auswahl bestimmter Elemente. Während die Rhetorik von Perelman vor allem unter dem (suggestiven) Ziel der Zustimmung der Zuhörerschaft steht, die sowohl durch Überzeugung wie durch Überredung gewonnen werden kann, dominiert in anderen Rhetorikmodellen das Kriterium der Sachlichkeit und Rationalität. Der effektive Sprachgebrauch ist hier der logisch klare Meinungsaustausch. Es geht Naess (1975) z.B. „nicht darum, den Leser geschickter in seiner Argumentation zu machen, sondern er soll zu einer haltbareren Schlußfolgerung gelangen" (128). Der Ausgang einer Argumentation hängt nach dieser Konzeption von der Zahl der Argumente und von deren Zugkraft ab (148). Demzufolge formuliert Naess Normen für sachliches Diskutieren, die sich insgesamt gegen sog. tendenziöse Beiträge wenden (z.B. „Gegen das Aufbauen von Buhmännern"). Hinter dem Argumentationsmodell von Naess steht letztlich weniger die Rhetorik als die Logik der Argumentation (vgl. Toulmin 1958), wenngleich nach Rescher (1977, xiif.) Rhetorik sowohl Persuasion wie vernünftige Argumentation umfaßt. Vergleichbar mit dem Modell von Naess sind Rhetorikkonzeptionen, die sich - wie Kopperschmidt (1976,18) - auf Rationalität gründen und Persuasion als Überzeugung verstehen (vgl. auch Habermas 1981).

454

3.

E. Weigand

Konversationsmaximen

Die Frage, wann aus einer pragmatischen Beschreibung eine rhetorische Beschreibung wird - eine Anweisung für den guten, geschickten Sprachgebrauch - , stellt sich besonders deutlich bei Theorien des Sprachgebrauchs, die Konversationsmaximen annehmen (vgl. Art. 10, Abschn. 2.6). Zwar versteht Grice (1975) seine Konversationsmaximen als allgemeine Bedingungen jeglicher Konversation, doch steckt bereits im Begriff der Maxime die Anweisung für den Gebrauch. Nicht von ungefähr sind die Griceschen Prinzipien und Maximen imperativisch formuliert und drücken damit die Möglichkeit aus, daß die Kommunikationsteilnehmer sich auch anders verhalten könnten. Konversationsmaximen sind daher im Kern rhetorische Maximen. Auf der Basis eines generellen Kooperativen Prinzips, das einen Gesprächsbeitrag auf die Position in der Sequenz und auf den Zweck bezieht: „Make your conversational contribution such as is required, at the stage at which it occurs, by the accepted purpose or direction of the talk exchange in which you are engaged." unterscheidet Grice die Maximen der Quantität, Qualität, Relation und der Art und Weise: -

„Make your contribution as informative as is required." „Do not say what you believe to be false. " „Be relevant." „Be perspicuous."

Die Kernfrage, die sich hier stellt, zielt auf den Punkt, an dem eine pragmatische Beschreibung zu einer rhetorischen Anweisung, einer „rhetoriké téchne" wird. Was beschreibt eine pragmatische Sprachbeschreibung überhaupt, den richtigen oder den angemessenen Sprachgebrauch? Und was heißt „richtiger" Sprachgebrauch? Ist der angemessene Sprachgebrauch bereits ein rhetorischer? Trotz dieser Fragen wird man festhalten müssen, daß allgemeine Bedingungen des Sprachgebrauchs Bedingungen sind, über die der Sprecher nicht frei verfügen kann, die durch Regeln und Konventionen vorgegeben sind. „Rhetorisch" ist dagegen ein Kriterium, das sich auf die freie Wahl des Sprechers unter verschiedenen ihm vorgegebenen Möglichkeiten bezieht. Zwar ist die Freiheit dieser Wahl nur eine prinzipielle, denn auch sie ist abhängig von der Zielsetzung und von psychischen Faktoren des Handelnden. Aber da Zielsetzungen und Ideologien Konstruktionen des Menschen selbst sind, kann er sich jederzeit auch willkürlich darüber hinwegsetzen (vgl. Weigand 1991). So mag zwar Grice von Erwartungen sprechen, die Kommunikationsteilnehmer hinsichtlich eines vernünftigen Sprachgebrauchs haben, doch muß man unterscheiden zwischen Erwartungen, die sich auf Konventionen und Regeln des Sprachgebrauchs selbst beziehen, über die sich kompetente Kommunikationsteilnehmer nicht hinwegsetzen können, und Erwartungen hinsichtlich der Einhaltung von Normen, die im Sprachgebrauch selbst nicht vorgegeben sind, über die kompetente Kommunikationsteilnehmer daher auch in ihrem Sinn verfügen können. Konventionen des Sprachgebrauchs selbst, wie die

22. Dialoganalyse und Gesprächstraining

455

Interdependenz zwischen dialogisch orientierten Sprechakten eines Minimalpaares, z.B. D I R E K T I V ± ZUSAGEN, sind in der Handlungsstruktur der Sprechakte selbst begründet und vom Sprecher und dessen Ideologie unabhängig. Die Wahl, die der Sprecher dann unter diesen konventionell vorgegebenen Möglichkeiten trifft, ob er einen positiven oder negativen Bescheid gibt bzw. welche Art der Ablehnung er wählt, ist z.T. faktisch und psychologisch bedingt, z.T. aber auch eine rhetorische Wahl, sofern sich der Sprecher an Maßstäben einer vernünftigen oder effektiven Gesprächsführung orientiert. Zwar sind auch diese Maßstäbe erlernt, wie Grice zur Begründung seiner Theorie anführt, doch sind sie nicht im Sprachgebrauch selbst vorgegeben. Indem Grice den Zweck der Konversation in einem maximal effektiven Informationsaustausch oder in der Beeinflussung der anderen sieht, bezieht er sich selbst auf rhetorische Sprachverwendung und nicht auf Sprachverwendung schlechthin. Ähnlich wie Grice entwirft auch Kasher (1976 und 1979) eine Theorie der idealen pragmatischen Kompetenz (1979, 47), die sich durch ihre Unterscheidung von „excellent playing" und „playing by the rules" als rhetorisch ausweist. „Playing by the rules" umfaßt das Handlungsspiel in der Potentialität seiner konventionellen Möglichkeiten. „Excellent playing" kann nur hinsichtlich eines Kriteriums der „exzellenten" Wahl beschrieben werden. Dieses Kriterium ist bei Kasher wie bei Grice der effektive Sprachgebrauch, das rhetorische Kriterium der effektiven Mittel, wobei bei Kasher (1976, 205) effektiv im Sinn der Ökonomie auch das Prinzip des geringsten Kraftaufwands (Zipf 1949) einschließt. Das generelle Kooperative Prinzip von Grice wird bei Kasher durch ein allgemeines Rationalitätsprinzip ersetzt, das dann in Verbindung mit spezifischen Konversationsmaximen steht (1976,209f.). Zu den Maximen, die die Wahl des Sprechers unter vorgegebenen Möglichkeiten bestimmen, gehören auch Maximen der Höflichkeit (vgl. Brown/Levinson 1987), die bereits Grice miteinbezieht, wenngleich er sie einen anderen Typ der Maximen nennt.

4.

Sprecherziehung

Dem Gesprächstraining als Training der mündlichen Kommunikation widmet sich in Deutschland eine eigene Disziplin, die Sprecherziehung. In zahlreichen Veröffentlichungen hat Geißner der Sprecherziehung eine wissenschaftliche und didaktische Grundlage gegeben (vgl. vor allem Geißner 1982 und 1988). Wenn auch in Kursen der Sprecherziehung an den Universitäten vielfach allein die Stimmführung und der Sprechausdruck geübt wird, so bildet dieser Bereich in Geißners Sprechwissenschaft als einer Theorie der mündlichen Kommunikation nur einen Teilbereich mehr am Rande. Mündliche Kommunikation umfaßt bei ihm die Formen der rhetorischen, phatischen, ästhetischen, metakommunikativen und therapeutischen Kommunikation. Zur rhetorischen Kommunikation Geißners gehören im Unterschied zur traditionellen Rhetorik Rede und Gespräch, wobei dem Gespräch der Primat vor der Rede zukommt, die nur einen Sonderfall darstellt. Das Gespräch versteht Geißner (z.B.

456

E. Weigand

1981) nach Aristoteles als Handlung des Miteinander-Sprechens: Einer spricht mit einem anderen über etwas, um sich zu verständigen. Seine Gesprächsrhetorik soll rational aufzeigen, wie die Kommunikationspartner im Gespräch sich bewußt gegenseitig beeinflussen und den anderen zum Handeln veranlassen können. Dazu entwirft er ein Faktorenmodell der mündlichen Kommunikation, das unter „situativen, personalen, sprachlichen, formativen und leibhaften Faktoren" eine Vielzahl verschiedener Ansätze, von Aristoteles über von Humboldt und Bühler bis zur Hermeneutik, einbezieht, wobei der traditionelle Bereich des Sprechausdrucks unter den leibhaften Faktoren abgehandelt wird. Für rhetorische Gespräche wesentlich sind die „Grundtypen" des Klärens und Streitens. „In der Auseinandersetzung um das Strittige bekommt die Argumentation ein immer stärkeres Gewicht" (1988, 161). Rhetorische Kommunikation will „argumentativ Konsens erstreiten" (163). Ihre Grundlagen sind „Sprechdenken und Hörverstehen" (166). Die rhetorische Welt Geißners baut sich auf über Begriffen und begrifflichen Operationen und verkompliziert sich durch Verdopplung und Multiplizierung von Begriffen zum Ausdruck des immer Gleichen. Konkrete Beispiele findet man selten. Sein immer wieder zitierter Fünfsatz (1968) beinhaltet keine Methode des dialogischen Sprachgebrauchs, sondern eine Methode für den prägnanten Aufbau eines (für sich monologischen) Gesprächsbeitrags. Geißners Gesprächsrhetorik wendet sich an alle, die „reden lernen" wollen (1977). Da der Schulunterricht sich dieser Aufgabe bisher nicht ausreichend angenommen habe, sind dies vor allem Erwachsene und hier primär die künftigen Sprecherzieher, die in einer Schule der Zukunft das Fach Sprecherziehung unterrichten sollen, nach dem Modell der amerikanischen Schule und den Prinzipien der amerikanischen „Speech Communication Association". In seinem Buch „Sprecherziehung" (1982) entwirft Geißner auf der Basis seiner „Sprechwissenschaft" eine Didaktik des Gesprächstrainings unter der Fragestellung: Wie wird rhetorischer Sprachgebrauch gelehrt? Emanzipatorisches Handlungswissen und kritische Mündigkeit sind das generelle Ziel dieser Didaktik, das voraussetzt, daß die asymmetrischen Beziehungsverhältnisse der bestehenden verzerrten Kommunikation in symmetrische Kommunikationsbeziehungen überführt werden. Diesen Aspekt einer emanzipatorischen, demokratischen Zielsetzung, die den Gedanken einer manipulativen Sprachverwendung verwirft, übernimmt Lotzmann (1985). In Weiterführung von Geißners Modell plädiert er für die Ausarbeitung einer sektoralen Gesprächsrhetorik. Janning (1979) beschreibt die Methode des „kontrollierten Dialogs", die der Überprüfung des eigenen Sprechdenkens sowie des Hörverstehens im Sinn von Geißner dienen soll. Dabei wird die Partnerrede mehrere Male wiederholt, wobei zwischen vollständiger, möglichst knapper und selektiver Wiederholung variiert wird. Hinzu kommt die Aufgabe, das Ergebnis des sog. kontrollierten Dialogs zusammenzufassen, die der Aufgabe eines Diskussionsleiters entspreche. Bartsch (1985) entwirft ein eigenes Modell der Gesprächsanalyse, das „didaktischmethodischen Gewinn" bringen soll und z. T. auf Geißners Sprechwissenschaft, z. T.

22. Dialoganalyse und Gesprächstraining

457

auf kulturhistorischen Ansätzen von Leont'ev und Wygotsky beruht. Andere Ansätze, wie die der Konversationsanalyse und der Sprechakttheorie, seien für didaktische Zielsetzungen zu differenziert. Seine Analyse stützt sich in der Tat auf wenige Kategorien. Redneroperationen und Rollenvorstellungen des Hörers werden einander zugeordnet und Redneroperationen mit minimalen Handlungskategorien wie Fragen, Antworten, Informieren erfaßt. Bei der Umschreibung der Rollenvorstellungen des Hörers überwiegen emotionale Begriffe wie „Unsicherheit", „Unterlegenheitsgefühl", „Kontaktschwäche". Aus der Auswertung einer Beispielanalyse eines authentischen „small talk-Gesprächs" sollen kommunikationsfördernde Operationen gewonnen werden, wobei vor allem die emotionalen Wirkungen berücksichtigt werden, die bei sequentiellem Gebrauch bestimmter Redneroperationen eintreten können.

5.

Praktische Rhetorik

Unter dem Begriff „Praktische Rhetorik" wird Literatur zusammengefaßt, die für die Praxis geschrieben und meist auch von Praktikern verfaßt ist. Die Ausrichtung unserer modernen Gesellschaft auf Kommunikation in allen Lebensbereichen bedingt ein gesteigertes Interesse an Rhetorikkenntnissen und Anweisungen, die praktisch umsetzbar sind. Die Fähigkeit, sprachlich gezielt und geschickt handeln zu können und im dialogischen Handeln mit anderen zu kooperieren bzw. andere zu beeinflussen, ist Voraussetzung für jeden, der heute in unserer Leistungsgesellschaft vorankommen will. Überblickt man in dieser Situation die rhetorische Literatur, die Hilfestellung für die Praxis geben will, so sieht man sich - neben einigen wenigen Arbeiten von Experten - einer ständig wachsenden Flut von sog. Praxisliteratur gegenüber, in der Praktiker, meist Personalberater, über ihre vielfach subjektiven Erfahrungen berichten. Auch im Bereich des Ausbildungsangebots versuchen die Personalberatungskurse der Wirtschaft, die Defizite schulischer und universitärer Rhetorikausbildung auszugleichen. Zwar unterliegen diese firmenspezifischen Programme einer gewissen Abschirmung gegenüber der Konkurrenz, doch vermitteln wohl auch die veröffentlichten Erfahrungsberichte von Personaltrainern einen annähernd repräsentativen Einblick in die populärwissenschaftliche Praxis. Experten für den Bereich des Gesprächstrainings sucht die Wirtschaft bisher vor allem unter den Psychologen, Soziologen und Pädagogen; dementsprechend dominiert in der Praxisliteratur die psychologische und sozialpädagogische Ausrichtung. Rhetorikkenntnisse sprachlicher Art werden entweder nach alter rhetorischer Tradition oder in Form von Rezepten vermittelt; hinzu kommen Ratschläge zur Persönlichkeitsbildung und allgemeine Benimm-Regeln. Der Gesichtspunkt dialogischer Handlungskompetenz als Kompetenz im sprachlichen Handeln tritt erst in den letzten Jahren stärker hervor, verbunden mit der Einsicht, daß sprachliches Handeln einen genuinen linguistischen Forschungs- und Praxisbereich darstellt. Zum Bereich der praktischen Rhetorik liegen inzwischen Übersichtsartikel aus der Hand von Linguisten vor (z.B.

458

E. Weigand

Kallmeyer 1985 und Hess-Lüttich 1991). Die Fülle der Literatur wird in Auswahlbibliographien erfaßt (Jamison/Dyck 1983 und Blumenthal 1985).

5.1

Generelle Programme

Die Literatur zur praktischen Rhetorik läßt sich in generelle und sektorale Programme einteilen, und innerhalb dieser Einteilung kann man mehr professionelle Formen von halbprofessioneller „Trivialrhetorik" unterscheiden. Generelle Programme zielen auf die allgemeine Gesprächsführung und behandeln verschiedene Gesprächsbereiche nebeneinander. 5.1.1 Der traditionelle Typ Von moderner allgegenwärtiger Persuasion ist in den traditionellen Werken noch wenig zu spüren, wenngleich auch sie aus erlebter Praxis Ratschläge für geschicktes Verhandeln zum eigenen Vorteil zu erteilen wissen, wie z. B. Reiners (1955). Demgegenüber ist die „Gesprächsfibel" von Kelber (1958) beseelt von „Achtung vor dem Menschen" und „Ehrfurcht vor der Wahrheit" im Sinn einer demokratischen Lebensform. In verschiedenen Gesprächsbereichen (z.B. Gruppengespräch, Besprechung) sollen „anerkannte Regeln" der Gesprächsführung aufgezeigt werden. Diese Regeln beziehen sich mehr auf allgemeine organisatorische Prinzipien als auf die sprachliche Form und die dialoganalytische Strukturierung. So werden z.B. für das Lehrgespräch die Ratschläge erteilt, an Bekanntem anzuknüpfen, Fragen an alle zu stellen und eine Zusammenfassung zu geben. Der dialoganalytische Aspekt besteht im wesentlichen darin, daß sowohl „Dozent wie Zuhörer zum Gesprächspartner, zum aktiven Teilnehmer des Gesprächs", werden sollen (9ff.).

5.1.2 Der sachliche Typ Moderne Gesprächsrhetoriken zeichnen sich allgemein dadurch aus, daß der Gesichtspunkt der bewußten Menschenführung und Beeinflussung in den Vordergrund tritt und zum primären Gegenstand des Trainings wird. Trotz dieser generellen Tendenz sind die Arbeiten untereinander sehr unterschiedlich. Ein mehr professioneller Typ der sachlichen Darstellung steht dem trivialrhetorischen Typ der Rezeptesammlung gegenüber. Die sachliche Darstellung impliziert, daß der persuasive Effekt, vor allem in seiner negativen Form, in den Hintergrund tritt. Es geht um klare Gesprächsführung. So ist für Panzenböck (1979) „effizient" eine Eigenschaft glaubhafter, nicht aggressiver, nicht manipulativer Gespräche. Dementsprechend zielen seine Gesprächstechniken darauf, Aggression zu vermeiden und Kritik so anzubringen, daß der andere sich nicht verletzt fühlt. Ähnlich sachlich-neutral bleibt Ammeiburg (1985), wenngleich seine Darlegung im Kapitel „Das Gespräch" sich auf eine Klassifizierung von Gesprächstypen beschränkt.

22. Dialoganalyse und Gesprächstraining

459

Ein Gesprächstraining in programmierter Form bringen Vrolijk/Dijkema/Timmerman (1974). Verschiedene Gesprächstypen werden in Frage-Antwort-Form durchgearbeitet und simulierte Gespräche analysiert und hinsichtlich der Gesprächsmethode beurteilt. Die Gesprächsmethode wird jedoch nicht sprachlich oder dialoganalytisch im engeren Sinn der Gesprächsstruktur gefaßt, sondern meint z.B. die Respektierung der Person des anderen („human relations-Methode"; 285) oder die juristische Klärung eines Problems. Das dialoganalytische Moment im eigentlichen Sinn, die Analyse eines Dialogs als konventionelle Abfolge bestimmter Sprechakte, steht bei Schoenke/Schneider (1981) im Vordergrund. Ihr Arbeitsbuch für Kurse in der Erwachsenenbildung vermittelt in leicht verständlicher, aufgelockerter Form wesentliche Kenntnisse über sprachliches, dialogisches Handeln und geht dabei von einer Grundlage aus, die einer dialoggrammatischen Auffassung nahesteht (s.u. Abschn.6). Komplexe sprachliche Handlungsfelder, die Handlungsmuster der Dialoggrammatik, werden hinsichtlich korrespondierender und alternativer Sprechhandlungen analysiert, d. h. die konventionelle Abfolge von Sprechakten in Sequenzen einerseits und die verschiedenen alternativen Äußerungsmöglichkeiten andererseits werden in vielfältigen Situationen und mit zahlreichen Beispielen behandelt. Dieses Büchlein, das situationsangemessenen Sprachgebrauch trainieren will, macht in der Gegenüberstellung mit anderen Rhetoriken deutlich, wie wenig bis heute das sprachliche Material selbst und die konventionellen Regeln des Sprachgebrauchs in Rhetoriken einbezogen werden und statt dessen im Grunde nur über situative Handlungsbedingungen und begleitende Aspekte, vor allem psychologischer Art (z.B. Holzheu 1984), geredet wird.

5.1.3 Der moralisierende Typ Ein Standardwerk populärwissenschaftlicher Rhetorik, Hartig (1988), beklagt die „Kommunikationslücke" in unserer modernen technischen Gesellschaft und wendet sich „entschieden gegen alle Entartungen und Verwilderungen der Gesprächsführung, wie sie heute einerseits von den modernen Ideologien und andererseits von gewissen Richtungen der modernen Psychologie in unverantwortlicher Weise zur Manipulation der Mitmenschen betrieben werden" (8). Der Kommunikationspartner soll nicht „als Objekt manipuliert", sondern „als Partner geachtet" werden (100). Diese moralisierende Grundhaltung führt zu einer wenig realistischen Darstellung von Dialogtypen (lOlff.) und verweilt z.B. bei der Beschreibung des Verhandlungsgesprächs (llOff.) auf Äußerlichkeiten (Pünktlichkeit) und Aspekten der Stimmung, des Blicks, des Zuhörens, während sprachliche Gesichtspunkte nur gestreift werden. Der Kern dieser Rhetorik offenbart sich in den sog. „Dialogik-Bausteinen" (151ff.), die nichts anderes sind als eine Sammlung von Taktiken der Beeinflussung und Manipulation, wie z.B. die sog. Ja-Taktik, die den Partner durch geschicktes Fragen zum Ja-Sagen bringen will.

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E. Weigand

5.1.4 Der Typ „Rezeptesammlung" Eine Art „Trivialrhetorik" wird in Form von Allgemeinplätzen, verbunden mit Anekdoten, Tricks und Kniffs aus der Praxis verkauft (z.B. Schiff 1972 und Prost 1987). Dabei geht es fast durchwegs nur um begleitende, vor allem psychologische Maßnahmen, nicht um sprachliche, dialoganalytische Merkmale. So werden für die Technik „Richtig fragen" bei Prost (138ff.) die Ratschläge gegeben, daß man die Interessen des Kommunikationspartners und das Gesprächsklima beachten solle, der Kommunikationspartner müsse „gern" antworten, und zunächst sollte man möglichst nur Fragen stellen, die mit „Ja" beantwortet werden können. Verstärkt kommt auch die Kehrseite der Manipulation zur Sprache, die „unfairen" Methoden der Beeinflussung, meist getarnt als Mittel, wie man unfairer Dialogführung begegnen kann. Dabei gehen die „Tricks", die Prost z.B. anbietet, durchaus zur Sache (148): „Provozieren Sie Ihren Gesprächspartner so lange, bis er sich vergißt und Sie leichtes Spiel mit ihm haben." oder „Fallen Sie dem anderen so lange lästig, bis er alles tut, was Sie wollen, bloß um Sie loszuwerden." 5.1.5 Der Typ „Jedes Mittel ist recht!" Einige Trivialrhetoriken bieten in ungeschminkter Form, nicht mehr nur zur Abwehr, ein Training des Sich-Behauptens um jeden Preis, mit jedem Mittel, in einer Welt des Scheins und der Manipulation. Beginnend mit harmlosen psychologischen Techniken des Sich-Einschmeichelns und Sympathisch-Werdens bis zu Taktiken aus der Wildwestszene (z.B. der „Entwaffnungs-Kniff"), werden Anweisungen, „Kniffs", „Tricks", „Touren" zum Lügen, Täuschen und Hintergehen in Fülle geboten (z.B. Raschke 1989). Die intellektuelle Fassungskraft des Publikums, für das diese Tricks gesammelt werden, wird von den Autoren offensichtlich nicht sehr hoch eingeschätzt, wenn sie ihr Training anpreisen als „Übungen mit einem absoluten Minimum an Theorie" (Birkenbihl 1989, 36). Trainiert wird ein „Gesprächspartner", der mit allen Wassern gewaschen ist, der sich in der Kommunikation behauptet, ohne zu kommunizieren. In diesem Sinn werden dialogische Techniken beschrieben, z. B. die Fragetechnik bei Birkenbihl (1990), die nicht sprachliche Kommunikation zum Ziel haben oder Konversationsmaximen folgen, sondern gerade dadurch erfolgreich sein wollen, daß sie sich um diese Maximen nicht kümmern und auf der Ebene der Manipulation eigene Maximen des Täuschens und Hereinlegens beschreiben und trainieren wollen.

5.2

Sektorale Rhetorik

Praktische Rhetorik ist zum großen Teil sektorale Rhetorik für die Kommunikationsbereiche Wirtschaft, Medien, Bildung, Kommunikation vor Gericht, für die „helfenden Berufe" (Therapie, Sozialpädagogik, Medizin), für die Seelsorge und auch für den privaten Bereich. Daneben findet sich ein eigener, nach dem Zweck benannter Sektor „Beratung", der in den verschiedenen erwähnten Praxisbereichen wiederkehrt (zur

22. Dialoganalyse und Gesprächstraining

461

Beratung vgl. z.B. Hackney/Cormier 1982). Über die Fülle der hier angebotenen Literatur kann kein für jeden Bereich repräsentativer Überblick gegeben werden. Exemplarisch soll ein Bereich aus der Wirtschaft, das Management-Training, ausführlicher behandelt werden. 5.2.1 Wirtschaft Die Fülle der z.T. auflagenstark publizierten Literatur zum Management-Training weckt die Erwartung, eine strukturierte Thematik und konkrete, kommunikativ erprobte und auch sprachlich relevante Ratschläge vorzufinden, zumal modernes Management sich kommunikativ vollzieht, gegenüber den Mitarbeitern, den Vorgesetzten und den Konkurrenten. Doch diese Erwartung trifft hinsichtlich sprachlich-dialoganalytischer Ergebnisse nur auf Unkenntnis und Unsicherheit. Dabei scheut sich die Wissenschaft selbst nicht, dies zuzugeben. Mit Klamer/McCloskey/Solow (1988) liegt ein Buch vor, das die Referate einer Tagung zur Rhetorik der Wirtschaft in Amerika enthält, die von Wirtschaftswissenschaftlern, Journalisten, Rhetorikern, Philosophen, Politik- und Literaturwissenschaftlern besucht war. Hier sind Wissenschaftler zusammengekommen, die zwar die Relevanz der Rhetorik für ihr Interesse an der Verbesserung der Kommunikationspraxis gespürt, darüber hinaus aber nur Unsicherheit und Ratlosigkeit empfunden und sich auch nicht gescheut haben, diese Situation in einem Abschlußmanifest festzuhalten, das als Gespräch zweier nichtwissenschaftlicher Helfer formuliert ist (Klamer 1988, 277): „Do you know what they are talking about?" „No, do you?" - „No, but I think that that is what they are talking about." Die Themen der veröffentlichten Beiträge diskutieren das vergebliche Bemühen, zwischen konventioneller Rhetorik, Geschichten erzählen und Metaphern einerseits und Themen und Gesprächsformen der Wirtschaft und argumentativen Techniken einer neuen Rhetorik andererseits zu vermitteln. In den Managementführern jedoch ist - zumindest an der Oberfläche - von dieser Orientierungslosigkeit nichts zu spüren. Entweder sind sie von Psychologen, Juristen oder Topmanagern verfaßt, die den sprachlichen Bereich im engeren Sinn, die Äußerungsformen und die Gesprächsstruktur selbst, fast ganz ausklammern, oder die Probleme einer sprachlichen Analyse werden zugedeckt mit Sprüchen und Taktiken einer Trivialrhetorik. Mit Wolff/Göschel (1987) liegt ein psychologisch orientierter Managementführer zweier Juristen vor, die die Vorbereitung auf ein Gespräch aufteilen nach „Äußerlichkeiten" (Ort, Zeit, Dauer) und nach dem fachlichen Inhalt (228). Kotter (1986) von der Harvard Business School versteht Persuasion als Macht und behandelt dementsprechend Fragen des Machterwerbs und Machtgebrauchs („Macht ist das Ausmaß der Fähigkeit, andere Menschen zu veranlassen, das zu tun, was man will, und gleichzeitig zu vermeiden, von anderen gezwungen zu werden, das zu tun, was sie wollen." Kotter 1986, 7). Tedeschi/Rosenfeld (1980), zwei Sozialpsychologen, bringen für Gesprächstypen des Aushandelns und Verhandeins vor allem psychologische, weniger linguistische Beeinflussungsstrategien. Die Spannweite der eigentlichen Praxisliteratur reicht von durchaus sachlichen Darstellungen, die unfaire Methoden nur in der Abwehr einbeziehen (Möhler 1977),

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E. Weigand

über prätentiöse Literatur, die sich durch Bezug auf Sokrates und Wittgenstein einen wissenschaftlichen Anstrich geben will und unfaire Methoden in Angriff und Abwehr einschließt (Lay 1983), bis hin zu den Management-Techniken von Bierach (1988), die für viel Geld mit Superlearning verkauft werden (vgl. auch das Verhandlungstraining mit Superlearning von Bierach 1987, das in Bierach 1988 mitaufgenommen ist). Vereinzelt finden sich durchaus Ansätze, auch das sprachliche Problem der Formulierung angemessener Äußerungen wie der Strukturierung von Gesprächen anzugehen (so bei Möhler, auch bei Lay), die jedoch nicht auf Erkenntnissen der Linguistik und Dialoganalyse beruhen, sondern traditionelle Rhetorik mit populärlinguistischen Anleihen mischen (vgl. auch Lay 1978,148ff. mit Bezug auf Bühler und Jakobson). Interessant in diesem Zusammenhang sind zwei Stellungnahmen von Praktikern bei Bayer und Siemens, die einerseits die Reduzierung von Rezeptgläubigkeit fordern (Hilbert 1985) und andererseits ihr Theorie-Defizit beklagen und für einen Einbezug der Rhetorik an Schulen und Hochschulen plädieren (Geikowski 1985). Zu den Themen Argumentation, Verhandlung, Konferenz, Mitarbeitertraining und Motivation vergleiche man aus der Praxisliteratur z. B. Altmann (1989), Goossens (1988), Harlander (1982), Maeck (1990), von Normann (1985), Tengelmann (1989). Problemen der Wirtschaftsrhetorik unter fremdsprachlicher Perspektive gilt das Jahrbuch Deutsch als Fremdsprache 1989. Der Einsatz interaktiver Videodisc-Programme wird von Gewehr (1991) als optimale Möglichkeit der Zukunft beschrieben, im Selbstunterricht für den innerbetrieblichen Gebrauch die erforderliche fremdsprachliche Fachkompetenz zu erwerben. Neben dem Bereich des Managements umfaßt der Sektor Wirtschaft noch zwei andere Großbereiche, den Verkauf und die Einstellung/Bewerbung, für die es wiederum zahlreiche, von sachlich bis trivial variierende Trainingsprogramme gibt, zum Verkauf z.B. Döring (1990), Beck (1988), Stangl (1984; 1985), Detroy (1988), zur Einstellung/Bewerbung z.B. Jeserich (1981), Lucas (1986), Klein (1987), Yate (1990), Lehmann (1989), Sperschneider/Tilemann (1988), Siewert (1988), Nimmergut (1981), Ruddies (1988), Wülfrath (1984). Auch hier wird meist nicht sprachlich-dialoganalytisch analysiert, sondern die Methodik orientiert sich an Äußerlichkeiten (Kleidung, Gehen, Stehen, z. B. bei Lucas) und psychologischen Aspekten (Persönlichkeitsprofil, z. B. Yate 1990,79) oder an thematischen Gesichtspunkten; d. h. der Gesprächsbereich wird nach inhaltlich relevanten Aspekten durchleuchtet, z.B. bei einer Bewerbung „Welches sind für Sie die entscheidenden Aspekte Ihrer Arbeit?" (Yate 1990,147), auf die dann die relevanten Antworten gegeben werden (z.B. Lucas 1986, 36ff.: „Das Frage- und Antwortpoker"). Als dialoganalytische Ausführungen im engeren Sinn, wenn auch auf populärwissenschaftlicher Ebene, kann man die Gliederung nach Gesprächsphasen ansehen (z.B. bei Sperschneider/Tilemann Anmeldung, Begrüßung, Gespräch, Abschied) oder die Einblendung simulierter Gesprächspassagen (z.B. Döring 1990,164ff.: „EinigeTechniken der Einwandbehandlung"). Vor allem zum Sektor Verkauf werden teure „Intensivprogramme in Text und Ton" angeboten, die wie Detroy (1988) primär die Psychologie des Verkaufs zum Thema haben (z.B. „Keine Angst vor Neukunden", „Sich täglich neu motivieren", „Preisgespräche psychologisch

22. Dialoganalyse

und

Gesprächstraining

463

besser führen") und dazu auf Tonkassetten „eine muntere Mischung aus DialogMustern, Goldenen Regeln, Merksätzen - aus Wissen und Unterhaltung" bieten (so die „Presseinformation"). 5.2.2 Soziale und psychologische Pädagogik Dem sog. helfenden Gespräch in der Sozialarbeit und Medizin gelten z.B. Bang (1968/ 69) und Dahmer/Dahmer (1982). Auf der methodischen Basis der Einzelfallhilfe gibt das traditionelle zweibändige Werk von Bang Ratschläge zur Gesprächsfiihrung in der sozialpädagogischen Arbeit, die im wesentlichen auf zehn Hinweisen für die gezielte Gesprächsführung beruhen. Diese Hinweise berücksichtigen den sozialpädagogischen Kontext (z.B. „Schlußstrich unter die Vergangenheit") und den psychischen Hintergrund, unterscheiden aber auch verschiedene sprachliche Handlungen (Fragen und Antworten, Ratschläge) und Gesprächstypen (Diskutieren - Argumentieren - Miteinander sprechen). Doch „ist nicht die Sprache an sich (im Sinn von Wortwahl) das Entscheidende. Ausschlaggebend für den Erfolg ist der emotionale und gedankliche Nährboden, dem die Worte entwachsen" (Bang 1969,7). Dem Gesprächsleiter soll „zu einer entsprechenden Einstimmung" verholfen werden, damit ihm „die notwendige Umstimmung seiner Gesprächspartner gelingt". Wesentlich dabei ist „die positive Auswirkung der akzeptierenden Haltung", die in verschiedenen Einzelfallanalysen aufgezeigt wird. Auch bei Dahmer/Dahmer (1982, 144) bildet der „Wechsel vom klientenzentrierten zum beraterzentrierten Gespräch" einen entscheidenden Schritt in der „auxiliaren Gesprächsführung, deren primäres Ziel Selbstfindung und Selbsthilfe sind". Ähnlich wie hier im auxiliaren Gespräch zwar gezielte Gesprächsführung trainiert werden soll, diese sich aber nicht primär an rhetorischen, sondern an psychologischen Kriterien orientiert, geht es auch in den psychologisch-pädagogischen Trainingsprogrammen, die eine Verbesserung der zwischenmenschlichen Kommunikation erreichen wollen, primär um psychologische Kriterien und Prinzipien (z. B. Fittkau/MüllerWolf/Schutz von Thun 1977 a und 1977b). Im Rahmen einer behavioristisch gefärbten Methodik stehen soziales Lernen und Umgang mit Gefühlen im Mittelpunkt (z.B. Schwäbisch/Siems 1974 und Vopel/Kirsten 1974). Aufsätze zu den anderen Praxisbereichen (Rhetorik vor Gericht, in der Seelsorge und im privaten Bereich) enthalten z.B. die Sammelbände von Roloff/Miller (1980) und Bausch/Grosse (1985). Zu den Bereichen des therapeutischen Gesprächs, der Medien und der Bildung vergleiche man die Artikel 21 und 23 in diesem Handbuch sowie die Beiträge in Hundsnurscher/Weigand (1986), Weigand/Hundsnurscher (1989) und Stati/Weigand/Hundsnurscher (1991).

464 6.

E. Weigand

Dialoggrammatik und Rhetorik

Die Rezeptsammlungen der Praxisliteratur und die Orientierungslosigkeit der Wissenschaft machen ein Desiderat deutlich, das in den Aufgabenbereich der Linguistik fällt: Trotz sog. Neuer Rhetorik, trotz Konversationsmaximen fehlt für den Bereich des Gesprächstrainings noch immer eine tragfähige wissenschaftliche Grundlage. Weder dürfen, wie in den Theorien der Konversationsmaximen, rhetorische Anweisungen als allgemeine kommunikative Bedingungen angesehen werden, noch kann Kommunikation schlechthin als rhetorisch betrachtet werden, wie in der amerikanischen neuen Rhetorik. Perelman weist zwar durch seine Orientierung an einer Theorie sprachlichen Handelns den richtigen Weg, doch läßt sich die Vielfalt möglicher Handlungsspiele nicht einheitlich unter dem Oberbegriff der Argumentation zusammenfassen. Ausgehend von den fundamentalen dialogischen Minimalsequenzen sind repräsentative, direktive, explorative und deklarative Handlungsspiele zu unterscheiden, die weiter zu differenzieren wären (vgl. Weigand 1986,1989 a und 1991; zum Problem einer Dialogtaxonomie vgl. Art. 11 in diesem Handbuch). Die sprachlichen Handlungsmöglichkeiten im Rahmen eines einfachen, einphasigen Handlungsspiels entfalten sich, ausgehend von einem zentralen initiativen Sprechakt in konventioneller Folge, wobei bei jedem Sprecherwechsel zwischen verschiedenen konventionellen Möglichkeiten zu wählen ist. Das System aller potentiellen Handlungsmöglichkeiten in den einzelnen Zügen eines Handlungsspiels faßt die Dialoggrammatik im Musterbegriff zusammen, der mit dem Begriff des „Gesprächsbaums" veranschaulicht werden kann (vgl. Hundsnurscher 1980; 1981 u. 1986; Franke 1983 u. 1990). Die Kohärenz aller Handlungsmöglichkeiten in einem einphasigen Handlungsspiel wird letztlich durch den Zweck des zentralen Sprechakts gestiftet. Komplexe Handlungsspiele kombinieren verschiedene einphasige Handlungsspiele zu einem mehrphasigen Muster (vgl. Weigand 1986 u. 1989b). Eine wissenschaftliche Grundlegung einer neuen Rhetorik setzt als Basis eine Beschreibung unseres sprachlichen Handelns voraus, die den Zusammenhang aller potentiellen und konventionellen Handlungen eines Handlungsspiels aufzeigt. Trainierbar im Sinn des Gesprächstrainings sind nur konventionelle Handlungsmöglichkeiten, die aus der Menge aller Handlungsmöglichkeiten durch das Kriterium der Wahl bestimmt werden, und zwar auf der funktionalen Ebene als Wahl bestimmter Handlungsfolgen und auf der einzelsprachlichen Ebene als Wahl bestimmter Äußerungsvarianten. Die Wahl bestimmter Handlungsfolgen setzt eine dialoggrammatische Beschreibung voraus, die Wahl bestimmter Äußerungsvarianten eine einzelsprachliche kommunikative Grammatik (vgl. für das Deutsche Weigand 1989a). Eine Wahl wird erst möglich durch Kriterien der Wahl und d.h. durch eine Bewertung der vorgegebenen Möglichkeiten. Damit stellt sich die entscheidende Frage: Wo endet die Beschreibung, wo beginnt die Rhetorik? Auf der Basis einer linguistischen dialogischen Sprechakttheorie werden einzelne dialogisch orientierte Sprechakte als Menge von Äußerungen beschrieben, die kommunikativ äquivalent sind. Von dieser Menge kann man zur situationsangemessenen

22. Dialoganalyse und Gesprächstraining

465

Einzeläußerung gelangen, indem sowohl der Zweck, die kommunikative Funktion, wie die Mittel - sprachliche, situative und kognitive - differenziert werden (vgl. Weigand 1991). Diese Selektion einer Einzeläußerung nach dem Kriterium der Situationsangemessenheit könnte man bereits als rhetorisch im weiteren Sinn betrachten, wenngleich die Kriterien, die den situativ angemessenen Sprachgebrauch bestimmen, konventionell vorgegeben sind. Rhetorik im engereil Sinn beginnt da, wo eine Auswahl nach Kriterien erfolgt, die nicht mehr der Konventionalität des Sprachgebrauchs selbst unterliegen. Kriterien dieser Art lassen sich als Strategien fassen, die den Bereichen der Erkenntnis, der Psyche des Handelnden und der Achtung vor dem anderen bzw. der Macht zuzuordnen sind. Hierher gehören Strategien der Sachlichkeit und Rationalität, der Sanktionsvermeidung und des Selbstschutzes, der Höflichkeit und der persuasiven Beeinflussung. Wohl kann die perlokutive Wirkung bestimmter Stile empirisch untersucht werden, doch ist die Entscheidung darüber, welcher Sprachgebrauch zu einer bestimmten Zeit als besonders effektiv gilt, ob ein mehr rationaler oder ein mehr persuasiver, keine Frage der Linguistik mehr. Die Linguistik kann rationale und persuasive Techniken beschreiben, aber nicht ihre Gültigkeit als Norm begründen. Analytisch, auf der Ebene der Kompetenz, sind das repräsentative Sprachspiel des ÜBERZEUGENs, das auf AKZEPTIEREN eines Wahrheitsanspruchs zielt, und das direktive des ÜBERREDENs, das den Kommunikationspartner zu einer Handlung bewegen will und auf eine HANDLUNGSZUSAGE zielt, zu unterscheiden. In der Performanz der Praxis aber wird nicht nur sachlich überzeugt, der Mensch als Handelnder ist immer auch emotionalen Einflüssen zugänglich. Persuasion als Streben danach, den anderen zu beeinflussen, ihn für sich zu gewinnen, ist eine Grundeigenschaft des Menschen, von der in der Praxis rhetorischer, auf Wirkung bedachter Kommunikation nicht zu abstrahieren ist. Der allgemeinen Tendenz, nicht mehr strikt zwischen Überzeugen und Überreden unterscheiden zu wollen, ist daher mit Blick auf die Performanz zuzustimmen. Auf der Basis einer dialoggrammatischen Beschreibung sind in der letzten Zeit bereits einige praxisrelevante Handlungsspiele beschrieben und z. T. auch rhetorisch ausgewertet worden: z.B. für den Bereich der Wirtschaft das Verkaufs-/Einkaufsgespräch (Hundsnurscher/Franke 1985; Franke 1985), das Durchsetzungsgespräch (Hindelang 1980; Weigand 1989a, 185ff.), das Vorstellungsgespräch (Kranz 1991), für den Bereich der Bildung das Handlungsmuster des Unterweisens (Hundsnurscher 1989; Weigand 1989b), für die Seelsorge das bekehrende Gespräch (Kohl 1985). Eine Beschreibung des Planungsgesprächs in dialoganalytischer Form gibt Fritz (1982, 224ff.). Zur Therapie vergleiche man den Artikel21 des Handbuchs.

466 7.

E. Weigand

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Münster

23. Dialoganalyse und Medienkommunikation

1. 2. 2.1 2.2 2.3 2.4 3. 3.1 3.2 3.3 4. 4.1 4.2 5.

Einleitung Grundstrukturen der Medienkommunikation Mikrostrukturen und Makrostrukturen Ebenen der Medienkommunikation Medienspezifische Kommunikationszusammenhänge Beschreibungsaspekte und Beitragsstrukturen Dialogische Aspekte der Medienkommunikation Dialogische Beitragssequenzen Medienkritik und journalistische Prinzipien Dialogisch konzipierte Handlungen der Journalisten Dialoge in den Medien Kommunikationsbedingungen von Mediendialogen Strategien und Kommunikationsdynamik Literaturhinweise

1.

Einleitung

Als Gegenstand der Dialoganalyse scheint sich massenmediale Kommunikation zunächst nur eingeschränkt zu eignen, nämlich eingeschränkt auf die Dialoge in den Medien wie z.B. Talkshows, Diskussionsrunden, Interviews oder Gespräche in fiktionalen Beiträgen. Für die monologischen Formen der Kommunikation wie ζ. B. Pressetexte, Nachrichtenbeiträge in Hörfunk und Fernsehen, gesprochene und gedruckte Kommentare, Filmberichte und Hörfunkfeatures haben sich bisher eher die Textlinguistik (Harweg 1968a; Harweg 1968b; Sandig 1972; Lüger 1983; Fluck 1989) und die „Discourse Analysis" (van Dijk 1983; 1985; 1988a; 1988b) zuständig gefühlt. Auch der monologische Kommunikationsbegriff, wie er in der publizistischen und soziologischen Medienforschung dominiert (kritisch dazu: Renckstorf 1989), bedeutet nicht gerade eine Einladung an die Adresse der Dialoganalyse. Es gibt jedoch genügend Gründe, die dafür sprechen, der Medienkommunikation einen angemessenen Platz im Aufgabenfeld dialoganalytischer Forschung einzuräumen:

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Medienkommunikation ist in vielen Fällen dialogische Kommunikation in einem Medium. Obwohl gerade aus diesem Grund die Übertragung dialoganalytischer Beschreibungsverfahren naheliegt, erfordert der medienspezifische Charakter des Gegenstandsbereichs Modifikationen (vgl. Abschnitt 4). Das monologische Bild der Medienkommunikation ist vielfach Ergebnis einer isolierenden Betrachtungsweise einzelner Beiträge und Texte. Zieht man dagegen in Betracht, daß Medienbeiträge Reaktionen auf vorausgegangene Beiträge sein können oder auch deren Fortsetzung, daß sie mit Parallelbeiträgen in anderen Medien konkurrieren oder daß Medienbeiträge in der Regel bereits eine reichhaltige kommunikative Vorgeschichte haben, so ergibt sich ein vielfältiges Geflecht dialogischer Kommunikationszusammenhänge, wie z.B. Kommentar-Gegenkommentar-Sequenzen, Darstellungs-Gegendarstellungs-Sequenzen, Vorwurf-Entgegnungs-Sequenzen oder pressekritische Debatten über mehrere Kommunikationsrunden (vgl. Abschnitt 2.3). In den Leserbriefen, Zuschauer- und Zuhörer-Zuschriften sowie Phone-Ins hat die Medienkommunikation institutionalisierte dialogische Elemente, die den EinwegCharakter aufheben und den Rezipienten die Kommunikations-Teilnahme eröffnen. Entgegnungen von Zuschauern, Zuhörern und Lesern geben Aufschluß darüber, wie sie die Medien nutzen, Medienbeiträge verstehen und beurteilen und welche Formen der Kommunikation sich an Medienbeiträge anschließen können (vgl. Abschnitt 3.1, 3.2). Die dialogischen Entgegnungsmöglichkeiten der Rezipienten haben ihr kommunikatives Gegenstück in den dialogisch konzipierten Handlungen der Journalisten. Mit ihnen werden mqgliche Entgegnungen oder Verstehensprobleme des Publikums vorweggenommen (vgl. Abschnitt3.3). Die Analyse dialogischer Zusammenhänge der Medienkommunikation kann als methodisches Vergleichsobjekt dienen für die Konstruktion eines theoretisch fundierten Instruments der Medienanalyse, des sogenannten dialogischen Verfahrens, dem folgende Idee zugrundeliegt: Die Besonderheiten eines Kommunikationsbeitrags zeigen sich in den Dialogverläufen, die sich an ihn anschließen oder anschließen lassen. Versteht man dialogische Zusammenhänge als Sonderfall von Sequenzzusammenhängen, so läßt sich das dialogische Verfahren auch für die Analyse weiterreichender Zusammenhänge der Medienkommunikation nutzen, wie z.B. Beitragssequenzen, informationspolitische Strategien oder Themenkarrieren. Denn was an einem Beitrag sequentiell relevant ist, was an ihm strategisch ist oder zu welcher Art von Themenentwicklung er beiträgt, zeigt nicht der Beitrag an sich, sondern ergibt sich aus seiner kommunikativen Einbettung, z.B. den Folgebeiträgen. Aufgrund dieser heuristischen Ausweitung des dialogischen Verfahrens kann man in allgemeinerer Weise auch von einem kommunikativen Verfahren bzw. einer kommunikativen oder kommunikationsgeschichtlichen Betrachtungsweise sprechen. In Abschnitt 2 wird das dialogische Verfahren angewendet, um Grundstrukturen der Medienkommunikation zu rekonstruieren. Ein dialogischer Kommunikationsbegriff unterscheidet sich in wesentlichen Punkten von dem in der soziologischen und publizistischen Medienforschung vorherrschen-

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den. Auch wenn mit dem sogenannten Nutzenansatz (Katz 1959; Renckstorf 1989) oder dem „dynamisch-transaktionalen Ansatz" (Früh/Schönbach 1982; Früh 1989) dialogische Komponenten angesprochen sind, bleiben - vor allem in der Empirie monologische, nachrichtentechnische und wirkungsorientierte Kommunikationsmodelle vorherrschend. Medienkommunikation wird vorwiegend als Informationsübertragung vom Sender zum Empfänger oder als Wirkungszusammenhang nach einem angereicherten Stimulus-Response-Modell betrachtet. Eine Medienanalyse auf dialoganalytischen Grundlagen unterscheidet sich von diesen Forschungsrichtungen unter drei Gesichtspunkten: Erstens werden die Beiträge und Texte nicht auf den Status intervenierender Variablen reduziert, von denen dann Medienwirkungen hochgerechnet werden. Vielmehr bilden sie den genuinen Untersuchungsgegenstand. Zweitens geht eine kommunikative Medienanalyse nicht vom passiven Rezipienten aus, sondern integriert Fragen des Verstehens und die Offenheit von Verständnissen systematisch in ihre Verfahrensweisen. Der dritte Unterschied markiert den übergeordneten Gesichtspunkt einer dialoganalytischen Medienanalyse: Ihr Gegenstand sind nicht Signale, Zeichen oder Informationen, sondern kommunikative Handlungen, die im Gebrauch der sprachlichen Ausdrücke, Texte und Bilder ausgeführt werden - „a complex unit of linguistic form, meaning and action that might best be captured under the notion of communicative event or communicative act" (van Dijk 1988b, 8).

2.

Grundstrukturen der Medienkommunikation

2.1

Mikrostrukturen und Makrostrukturen

Aufgrund der gesellschaftlichen Bedeutung und des öffentlichen Charakters der Medien gilt die Analyse von Zusammenhängen zwischen Texten und Kontexten übereinstimmend als eines der wichtigsten Ziele der Medienforschung (vgl. Merten 1983; van Dijk 1988a). Je nachdem, welcher der beiden Pole dabei betont wird, lassen sich, entsprechend der Reichweite der berücksichtigten Kommunikationszusammenhänge, zwei Forschungsrichtungen voneinander unterscheiden: Die text-, beitrags- und ausdrucksorientierte einerseits (Harweg 1968 a; 1968b; Sandig 1972; van Dijk 1985; Fowler/Kress 1979; Good 1985), die auch mikrostrukturell genannt wird, und die makrostrukturelle andererseits, die sich die Rekonstruktion medienabhängiger, gesellschaftlicher Kontexte zum Ziel setzt. Die zuletzt genannte Forschungsrichtung stützt sich bevorzugt auf die Methode der Inhaltsanalyse („content analysis"; vgl. Berelson 1952; Krippendorff 1980), um beispielsweise den Einfluß der Medien auf den Ausgang politischer Wahlen (Noelle-Neumann 1980) oder auf die in einer Gesellschaft herrschende Einstellung zur Atomenergie (van Buiren 1980; Kepplinger 1988) zu erforschen. Vor allem von Seiten mikrostruktureller Forschungsansätze ist gegenüber dieser Form der Medienanalyse der Einwand vorgebracht worden, daß bei dem inferentiellen Ableitungsverfahren vom Medienprodukt auf den entsprechenden gesellschaftlichen Kontext der Text als Basis unzureichend berücksichtigt (Bucher/Fritz 1989), ja sogar

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als Surrogat für direkte Analysen, z.B. von Bevölkerungseinstellungen, mißbraucht wird (Connell/Mills 1985). Die Skepsis der makrostrukturellen Ansätze gegenüber den mikrostrukturellen beruht auf der Annahme, daß Text-, Bild-, Satz- oder Wortanalysen keine „strukturelle Information über Textmengen" und damit keine „statistische Signifikanz" liefern, die der Inhaltsanalytiker für eine Korrelation mit Kontextdaten z.B. Umfrageergebnissen - benötigt (Früh 1982, 112—115; Krippendorff 1980, 25-32). Die gegenseitigen Vorbehalte behinderten die Entwicklung von integrativen Forschungsansätzen, die die Bereiche der Medienproduktion, der Medienprodukte und ihre Folgen in einen theoretischen Zusammenhang bringen, quantitative und qualitative Verfahren kombinieren (Bucher/Schröter 1990) und eine begriffliche Klärung der Text-Kontext-Relation leisten. Eine solche zusammenhängende Betrachtungsweise, die man auch als kommunikationshistorisch oder -dynamisch bezeichnen kann (vgl. Verschueren 1985; 1988b; Fishman 1980; Tuchman 1978), bietet die Möglichkeit, die Dichotomie zwischen Mikro- und Makrostrukturen zu überwinden. Auf dieser Grundlage lassen sich folgende Strukturbereiche der Medienkommunikation unterscheiden: (i) Die Ebenen der Medienkommunikation (vgl. 2.2), (ii) die beitragsübergreifenden Kommunikationszusammenhänge (vgl. 2.3), (iii) die beitragsinternen Kommunikationsstrukturen (vgl. 2.4). Mit einer Grundstrukturenbeschreibung wird auch ein grundlagentheoretischer Beitrag zur Klärung medienanalytischer Basisbegriffe geleistet, wie: ,Funktion', ,Thema', .Inhalt', ,Kommunikationszusammenhang', ,Darstellung', ,Darstellungsform', das ,Dargestellte', journalistisches Prinzip', ,Mehrfachadressierung', .Verstehen', kommunikative Folgen', ,Strategie', ,Informationspolitik', ,Kumulation', Synchronisation'. 2.2

Ebenen der Medienkommunikation

Medienkommunikation ist nicht nur Kommunikation, die unter medienspezifischen Bedingungen im Medium stattfindet, sondern zugleich auch Kommunikation, die einem Publikum im jeweiligen Medium präsentiert wird. Erst dadurch wird sie zur öffentlichen Kommunikation, für die die Präsentation dementsprechend konstitutiv ist. Mit den Präsentationshandlungen wird ein Zusammenhang zwischen dem singulären Kommunikationsereignis und der öffentlichen Kommunikation hergestellt und ζ. T. expliziert. Im Unterschied zu direkten Formen der Kommunikation (face-to-faceKommunikation) lassen sich bei der Analyse von Medienbeiträgen deshalb folgende Kommunikationsebenen unterscheiden : (i) die Ebene der Präsentation von Kommunikationsbeiträgen, (ii) die Ebene der Darstellung, die man mit einem Kommunikationsbeitrag gibt, (iii) die Ebene des in einem Beitrag Dargestellten. Eine Differenzierung dieser drei elementaren Ebenen medialer Kommunikation ist im Hinblick auf folgende Kommunikations- und Analyseprobleme von Bedeutung:

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-

Bestimmte Verstehensprobleme für die Leser, Zuschauer und Zuhörer beruhen auf mangelnder Übersicht über die Zusammenhänge dieser Kommunikationsebenen. - Die Arten von Einwänden, die ein Medienbeitrag den Zuschauern, Zuhörern und Lesern eröffnet, hängen entscheidend davon ab, auf welcher der Kommunikationsebenen die entsprechenden Äußerungen liegen. - Das Geflecht der Kommunikationsebenen eröffnet medienspezifische strategische Nutzungsmöglichkeiten. Unter diesen drei Gesichtspunkten sollen die einzelnen Kommunikationsebenen im folgenden etwas näher ausgeführt werden. Die Ebene der Präsentation von Kommunikationsbeiträgen: Es gibt zwei Gründe dafür, daß der Präsentationsebene bei der Analyse von Mediendialogen besondere Aufmerksamkeit geschenkt wurde. Erstens werden bei Diskussions- oder Gesprächssendungen im Sendungsprolog oder -epilog die Präsentationshandlungen - z.B. das Filmen eines Kameramannes - selbst gezeigt, und es gehört zum Repertoire der Eröffnungshandlungen, das Sendungsarrangement - Ereignisort, Teilnehmerkonstellation, Ablaufplanung, Gesprächsthemen, Gesprächsanlaß usw. - zu erläutern (vgl. Settekorn 1989). Und zweitens können die Teilnehmer solcher Sendungen aufgrund der Präsentation vor einem Publikum kommunikative Ziele verfolgen, die über die Binnenkommunikation der Sendung hinausreichen und die die Zuschauer/Zuhörer als Adressaten haben („overhearing audience", Heritage 1985, 100; vgl. Abschnitt4). Analog zu solchen medialen „Inszenierungen" von Gesprächen (Holly/Kühn/Püschel 1986, 23—34) haben wir es in der Medienberichterstattung nicht nur mit Informationsbeiträgen zu tun, sondern mit Beiträgen, die in Nachrichtensendungen präsentiert und in Printmedien mit druckgraphischen Mitteln .aufgemacht' und ,umbrochen' werden. Das jeweilige Repertoire von Präsentationshandlungen ist spezifisch für die verschiedenen Medien. Ein wesentlicher Unterschied zwischen Hörfunk und Fernsehen besteht beispielsweise darin, daß im Hörfunk die Präsentations-Situation nicht gezeigt, sondern nur beschrieben werden kann. Werden in Hörfunksendungen keine expliziten Angaben gemacht, so kann der Hörer nicht wissen, wer spricht, wer angesprochen ist, ob eine Äußerung ,live' oder aufgezeichnet ist, ob die Gesprächspartner sich im selben Studio befinden oder durch Standleitung verbunden sind. Im Fernsehen entstehen derartige Verstehensprobleme meistens erst gar nicht, weil man mittels Text-BildKombination oder Kombinationen von Bild und Schrift die Darstellungsszene - also ζ. B. den Nachrichtenvortrag oder die Studiodiskussion - mit der Darstellung präsentiert oder mit Schrifteinblendungen die jeweiligen Sprecher identifiziert werden (vgl. Muckenhaupt 1986, Kap. 4.3). Explizit angesprochen wird die Ebene der Präsentation in solchen journalistischen Äußerungen, die das journalistische Handeln selbst zum Gegenstand haben und die man deshalb reflexiv nennt. Beispiele für diesen Typ journalistischer Äußerungen sind die Moderationen in Hörfunk und Fernsehen oder der redaktionelle Vorspann in der Presse (vgl. dazu Abschnitt 3.3).

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Die Darstellung und das Dargestellte: Handelt es sich um Beiträge der Medienberichterstattung, so liegen auf der Kommunikationsebene der Darstellung die informierenden, berichtenden oder kommentierenden Handlungen der Journalisten. Im Falle von Gesprächssendungen gehören zu dieser Ebene diejenigen sprachlichen Handlungen, die das Gespräch zu einem Gespräch bestimmten Typs machen, z.B. zu einer Diskussion, einem Interview oder einem Streitgespräch. Wie relevant eine Unterscheidung zwischen der Ebene der Darstellung („describing act") und der Ebene des Dargestellten („act to be described", Verschueren 1985) ist, zeigt sich besonders deutlich, wenn es um Fragen der journalistischen Verantwortung und der Beitragsqualität geht. So kann ein Berichterstatter nur für das verantwortlich gemacht, kritisiert oder gelobt werden, was er mit und in seiner Darstellung tut, nicht aber für Handlungen, über die er berichtet, die also auf der Ebene des Dargestellten liegen. Dieser an sich selbstverständliche Hinweis ist alles andere als überflüssig, da sowohl in der Kommunikation über Medienbeiträge - beispielsweise in Leserbriefen - als auch in Text- und Kommunikationstheorien die beiden Kommunikationsebenen immer wieder verwechselt werden. Um eine solche Verwechslung von Darstellung und Dargestelltem handelt es sich, wenn von der Zeitung die Richtigstellung einer Äußerung verlangt wird, die Gegenstand der Berichterstattung war. Der analoge Kategorienfehler liegt vor, wenn in Text- und Kommunikationstheorien die Bezeichnungen für Ereignisaspekte wie z.B. „Hauptereignis", „vorausgegangenes Ereignis", „Folgen", „Ursachen" (vgl. van Dijk 1985, 84-88) als Bezeichnungen für Textbausteine der Ereignisdarstellungen („news schemata") übernommen werden. Der unbemerkte Übergang vom Dargestellten zur Darstellung wird begünstigt durch eine textlinguistische Denkfigur, derzufolge „die Struktur des Textes eine Abbildung bestimmter Strukturen der Wirklichkeit (ist), wie etwa der Ablauf von Geschehnissen, Ursache-Folge-Ordnung u.ä." (van Dijk 1980, 152). Der Grund für diese Sonderform eines „naturalistischen Fehlschlusses" ist eine verkürzte Kommunikationstheorie, die die Medienberichterstattung primär unter dem Aspekt der Inhaltsvermittlung und des Informationsaustausches betrachtet (vgl. dazu Abschnitt2.3).

2.3

Medienspezifische Kommunikationszusammenhänge

Der öffentliche Charakter der Medienkommunikation zeigt sich darin, daß Medienbeiträge in weiter gespannte Kommunikationszusammenhänge eingebettet sind als Äußerungen in Alltagsdialogen. Diese Zusammenhänge, die Grundlage sind für jede Art von Informationspolitik oder für Themenkarrieren, lassen sich folgendermaßen systematisieren: Die redaktionellen Kommunikationszusammenhänge: Die Kommunikationsgeschichte von Medienbeiträgen beginnt nicht erst mit ihrer Veröffentlichung und Präsentation, sondern umfaßt auch die journalistische Recherche (Fishman 1980, insb. Kap. 4 und 5), die redaktionellen Kommunikations- und Produktionsbedingungen (Tuchman

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1978), den Umgang mit Agenturmaterialien und die Nachrichtenauswahl (vgl. Gassaway 1984,177-214; Straßner 1982,120-184), die institutionellen Vorbereitungen und Bedingungen von Fernsehdiskussionen (Holly/Kühn/Püschel 1986, Kap. 3). Die periodischen Kommunikationszusanuienhänge: Als eines der „Wesensmerkmale" der Medienkommunikation gilt ihre Periodizität (Groth 1960, 102—121). Je nach Erscheinungsweise und Art des Mediums ist sie allerdings ganz unterschiedlich ausgeprägt und bestimmt die medienspezifische Kommunikationsdynamik. Die Stundenperiodik von Hörfunknachrichten ermöglicht beispielsweise eine viel dichtere Chronik der laufenden Ereignisse als es in Tageszeitungen möglich ist. Dementsprechend unterschiedlich ist die Themenentwicklung in der Berichterstattung der beiden Medien. Für die Hörfunkberichterstattung charakteristisch ist eine hohe Wiederholungsquote (Themenkumulation), da nur so das Informationskonzept einer kontinuierlichen Chronologie, gepaart mit einer Offenheit für neu hinzukommende Hörer, realisierbar ist (Bucher/Schröter 1990). Ein enger Zusammenhang besteht auch zwischen der Periodik eines Mediums und seinen typischen Textsorten, was überraschenderweise für eine Geschichte der Mediensprache bisher kaum beachtet wurde (vgl. Nail 1986). So sind die journalistischen Großformen wie Hintergrundreportagen, Essays, Dossiers, Situationsanalysen bevorzugt in Wochen- und Monatszeitschriften zu finden. Konstellative Kommunikationszusammenhänge: Medienbeiträge können in Konstellationen mit anderen Beiträgen eingebettet sein, sei es im Rahmen einer Zeitungsausgabe, einer Zeitungsseite oder einer Sendung. Für bestimmte Beitragskonstellationen haben sich im Laufe der Mediengeschichte regelhafte Sequenzmuster herausgebildet, wie z.B. Bericht-Kommentar-Sequenzen, die Abfolge von Ankündigungs- oder Aufmachungsmeldung und Vertiefungsbericht (vgl. Bucher 1986), die Abfolge von Befragungs- und Debattenrunden in Fernsehdiskussionen (vgl. Linke 1985) oder das Sequenzmuster MODERIEREN-INFORMIEREN (vgl. Troesser 1986). Dialogische Kommunikationszusammenhänge: Wie bereits in der Einleitung angesprochen, sind unter diesem Gesichtspunkt zwei Typen medialer Kommunikationsverläufe zu unterscheiden: die Dialoge in den Medien und die dialogischen Sequenzen monologischer Beiträge. Solche Sequenzen können Sonderformen sowohl von periodischen (z.B. Gegendarstellungen) als auch von konstellativen Kommunikationszusammenhängen (z.B. Kommentar-Gegenkommentar-Sequenzen) sein. Die Medienspezifik dieser Kommunikationszusammenhänge zeigt sich darin, daß sie, gegenüber Formen der direkten Kommunikation, häufig durch Anknüpfungs- oder Wiederaufnahmeäußerungen expliziert werden. Unter methodischen Gesichtspunkten sind solche Gelenkstellen als Beschreibungen des „Kommunikationsstandes" von besonderem Interesse (vgl. Abschnitt 3.1). Intermediale Kommunikationszusammenhänge: Von der Nutzung anderer Medien als Informationsquellen bis zur medienkritischen Auseinandersetzung zwischen einzelnen Medien ist die öffentliche Kommunikation von einem dichten Geflecht intermedialer Zusammenhänge durchzogen. Sie geraten bevorzugt dann ins Blickfeld, wenn

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die Funktion der Medien für die öffentliche Meinungsbildung beschrieben werden soll. Herman/Chomsky beschreiben diese Art öffentlicher Kommunikationszusammenhänge als „propaganda model", das als ein „Filtersystem" die gesellschaftliche Konformität sichert, indem es Themen bestimmt, die öffentliche Aufmerksamkeit verteilt, Ereignisse einordnet, Debatten begrenzt und Information ausfiltert (Herman/Chomsky 1988). In einer Kommunikationsanalyse von Medienbeiträgen wird dieser übergeordnete Gesichtspunkt dadurch berücksichtigt, daß Parallel-, Kontrast- und Quellenbeiträge in die Analyse einbezogen werden. 2.4

Beschreibungsaspekte und Beitragsstrukturen

Ein dialogisches Kriterium zur Klärung der Frage, was an einem Medienbeitrag untersuchungsrelevant sein kann, liefern die verschiedenen Anschlußkommunikationen, in denen auf solche Beiträge Bezug genommen wird. In solchen, oft medienkritischen Entgegnungen kann es um so vielfältige Aspekte gehen wie: Formulierungen, die beleidigend, unglücklich, unpassend sind, Mutmaßungen über informationspolitische Absichten, Widersprüche, Unverträglichkeiten zwischen verschiedenen Beiträgen einer Zeitung, Themen, die Zuschauer, Leser, Zuhörer gerne behandelt gehabt hätten, die Richtigkeit, Angemessenheit von Ereignisdarstellungen, die Aufmachungsform einer Zeitungsseite, die Einflußnahme von Interessengruppen u.v.m. Durch eine Systematisierung dieser Bezugnahmen lassen sich folgende Aspekte und Strukturebenen von Medienbeiträgen unterscheiden: (a) Lexikalische Strukturen (Wortwahl und Formulierungen) (b) Syntaktische Strukturen (c) Die Aufmachungsform von Medienbeiträgen (d) Die Darstellungsformen oder Textsorten (e) Handlungssequenzen (der Aufbau von Beiträgen) (f) Themen- und Inhaltsstrukturen (g) Text-Bild-Zusammenhänge (h) Festlegungsstrukturen (i) Strategische (informationspolitische) Zusammenhänge (j) die Folgen von Medienbeiträgen Diese Aspekte und Strukturebenen lassen sich auch in den verschiedenen Ansätzen der Medienanalyse finden, wobei allerdings jeweils einzelne davon verabsolutiert werden. Die an Medientexten geübte Sprachkritik stützt sich bevorzugt auf lexikalische Besonderheiten wie z. B. den Fremdwortgebrauch (vgl. Schorer 1643) oder die Verwendung „ideologischer" Kennzeichnungen (Trew 1979; Kress 1983) sowie auf syntaktische Merkmale wie Nominalisierungen, Satzkomplexität, Passivkonstruktionen. Publizistische und soziologische Medientheorien stellen die gesellschaftlichen Folgen und Wirkungen oder die informationspolitischen Tendenzen von Medienbeiträgen in den Vordergrund. Die Discourse Analysis und die Inhaltsanalyse beschränken sich auf Propositions-, Themen- und Inhaltsstrukturen. Texte werden dabei als „komplex

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vernetzte Propositionsmengen" (Früh 1989, 494) aufgefaßt, die in Makro- und Superstrukturen hierarchisch gegliedert sind (vgl. van Dijk 1988a; 1988b). Diese Aspektbegrenzung beruht im Falle der Inhaltsanalyse auf einer zu engen Kommunikations- und Sprachtheorie, derzufolge Inhalte und Themen als Funktionen des Textes aufgefaßt werden, unabhängig von dessen Verständnis oder Deutung (vgl. dazu Bucher/Fritz 1989). Es kennzeichnet eine dialog- oder kommunikationsanalytische Medienforschung, daß sie die ganze Palette der Strukturebenen und der Beschreibungsaspekte in einen theoretischen Zusammenhang bringt und in der Empirie eine integrative Behandlung verschiedener Aspekte leistet. Grundlegend dafür ist der Gedanke einer funktionalen Sprachbetrachtung, die medienspezifische Aufmachungsformen, sprachliche Äußerungsformen und deren Verwendungsweisen in einem Zusammenhang sieht. So läßt sich beispielsweise eine ganze Reihe syntaktischer und lexikalischer Befunde aus der Medienforschung (zur Übersicht vgl. Straßner 1980) auf journalistische Handlungen zurückführen, bei denen spezifische sprachliche Mittel verwendet werden. Modalverben (Honecker soll gesagt haben...) und verwandte semantische Mittel werden z.B. typischerweise verwendet zur Markierung der Quellenperspektive bei distanzierter Weitergabe von Informationen aus zweiter Hand (vgl. Fritz 1991). Die Wahl der sprachlichen Kennzeichnung von Akteuren eines berichteten Geschehens (der Irre von Bagdad, der irakische Diktator, Iraks Staatschef, der irakische Bandit) ist bedingt durch die verfolgte Darstellungsstrategie (vgl. Kress 1983). Die Wortstellung (vgl. Harweg 1968b; Fluck 1989) kann als Mittel zur Sicherung der Textkohärenz oder zur Hervorhebung genutzt werden (Mit einem Aufnahmestopp für Übersiedler rechnet der Präsident des deutschen Städtetages, Herbert Schmalstieg). Tempuswechsel innerhalb einer Sport-Live-Reportage kann zusammenhängen mit einem Funktionswechsel zwischen Live-Schilderung und Hintergrundinformation in weniger spektakulären Ereignisphasen (vgl. Brandt 1983). Unter den begrenzten Platz- und Zeitbedingungen der Medienberichterstattung wird die vielkritisierte Nominalisierung als Mittel der Komprimierung erklärbar. Welche der syntaktischen Möglichkeiten der Redewiedergabe genutzt werden, kann abhängen vom Distanzierungsgrad, den der Berichterstatter gegenüber dem Berichteten einnehmen will (vgl. Muckenhaupt 1987). In Fällen der genannten Art kann eine integrative Betrachtungsweise die Bestandsaufnahmen medienspezifischer Textmerkmale in einen problemorientierten Zusammenhang stellen: Man kann mit ihnen zeigen, in welcher Weise sprachliche Ausdrücke am Aufbau einer Medienrealität mitwirken. Macht man die Verwendung der sprachlichen und bildlichen Mittel zum Ausgangspunkt der Analyse, so gewinnt man auch einen produktiven Textsortenbegriff: die journalistischen Darstellungsformen oder Textsorten wie BERICHT, MELDUNG, REPORTAGE, KOMMENTAR, INTERVIEW, STREITGESPRÄCH werden dementsprechend als Handlungsmuster verstanden, für die die Verwendung bestimmter sprachlicher Mittel zwar typisch sein kann, die aber nicht als Definitionskriterium hypostasiert werden müssen (vgl. Bucher 1986, 26-74). Die bisher unterschiedenen Grundstrukturen von Medienkommunikationen sind nicht nach einem Zwiebelmodell fein säuberlich geschichtet, sondern sind zu verstehen als ein analytischer Vorschlag zur Systematisierung der vielfältigen medienspezifischen

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Kommunikationszusammenhänge. Jede Autonomieannahme für den einen oder den anderen Aspekt löst diese Zusammenhänge und damit die Medienspezifik der entsprechenden Äußerung auf. Was für Medientexte gezeigt wurde, gilt analog für Text-BildKommunikationen (vgl. Muckenhaupt 1980). Auch die Annahme autonomer Bildinhalte, wie sie sich z.B. in der Redeweise von der Text-Bild-Schere manifestiert, ist Resultat einer unzureichenden propositionalen Bildtheorie. Was ein Bild oder ein Film zeigt, ist nicht irgendwie darin enthalten, sondern hängt ab von der Verwendung des Bildes oder des Films im jeweiligen Kommunikationszusammenhang (vgl. Muckenhaupt 1986).

3.

Dialogische Aspekte der Medienkommunikation

3.1

Dialogische Beitragssequenzen

Durch eine am Einzelbeitrag orientierte Betrachtungsweise gerät leicht aus dem Blick, daß Medienkommunikationen Fortsetzungscharakter haben können und somit monologische Medienbeiträge nach dialogischen Mustern sequentiell zusammenhängen können. Beispiele hierfür sind Leserbriefe, die sich an Beiträge der Presseberichterstattung anschließen, Phone-Ins im Hörfunk, Kommentar-Gegenkommentar-Sequenzen in einer Zeitung, alle Arten publizierter Medienkritik, aber auch die nicht veröffentlichten Hörer- und Zuschauerzuschriften (vgl. Huth/Krzeminski 1981, 294f.). Mit dem Gegendarstellungsrecht ist für die Medienkommunikation ein dialogisches Prinzip sogar gesetzlich verankert. Anders als in direkten Dialogen kann in der Medienkommunikation allerdings nicht vorausgesetzt werden, daß allen Adressaten des Beitrags der relevante Kommunikationszusammenhang präsent ist. Vielmehr muß von einer medienspezifischen Wissenskonstellation ausgegangen werden, derzufolge die Adressaten den Bezugsbeitrag, den Bezugsaspekt und die Art des Sequenzmusters nicht kennen. Dementsprechend haben sich Verfahren eines medienspezifischen Kohärenzmanagements herausgebildet, mit denen die entsprechenden Zusammenhänge zu vorausgegangenen Beiträgen geklärt werden. Konstitutiv dafür sind - entsprechend den genannten Wissensvoraussetzungen: die Identifikation der Bezugsbeiträge, die Angabe der Bezugsaspekte und die Klärung der Art des Zusammenhangs. Kohärenzklärungen dieser Art sind typische Eröffnungshandlungen von Leserbriefen, die als eine Art Prototyp für dialogische Beiträge in Medienkommunikationen gelten können (Bucher 1989). An ihnen läßt sich exemplarisch zeigen, daß Textstrukturen von Medienbeiträgen nicht autonom sind, sondern vom sequentiellen Kontext abhängen, in den sie eingebettet sind. Textstrukturen von Leserbriefen stehen nämlich in regelhaften Zusammenhängen mit der Stellung eines Beitrags im Kommunikationsverlauf, der Kommunikationsform und den Bezugsaspekten des vorausgegangenen Beitrags sowie mit dem Sequenzmuster, nach dem der Text mit seinem Vorgänger verbunden ist. Jeder dieser Gesichtspunkte läßt sich für eine Typologie der Leserbriefe nutzen (Bucher 1986, 142—171). So kann man beispielsweise anhand des Bezugs-

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aspekts zwei Grundtypen von Leserbriefen unterscheiden: die pressekritischen Leserbriefe und diejenigen, mit denen Themen und Inhalte der Berichterstattung diskutiert werden. Während es im Falle der Pressekritik die illokutionären Aspekte sind, also die Darstellungshandlungen der Journalisten, gegenüber denen Einwände vorgebracht werden, sind es im Falle von Diskussionsleserbriefen die propositionalen Gesichtspunkte, also die dargestellten Sachverhalte, die weiterdiskutiert werden. Bei Diskussionsleserbriefen wird die Angemessenheit der Darstellung demzufolge vorausgesetzt, während die pressekritischen Einwände diese gerade in Zweifel ziehen. Auch wenn Leserbriefe und andere explizit dialogisch konzipierte Beiträge besonders prägnante Beispiele für regelhafte Zusammenhänge zwischen der Textverwendung und den Textstrukturen darstellen, ist das Verfahren einer Integration von Sequenz- und Beitragsanalyse auch auf andere Bereiche der Medienkommunikation übertragbar. Zum Beispiel: -

-

3.2

auf die Analyse von Beitragssequenzen, die man als implizit-dialogisch bezeichnen kann, wie z.B. Bericht-Reportage-Sequenzen, Bericht-Dokumentations-Sequenzen oder Bericht-Kommentar-Sequenzen, bei denen jeweils der zweite Beitrag als Beantwortung einer durch den ersten aufgeworfenen Frage gedeutet werden kann (vgl. Bucher 1986; Burger 1990); auf die Rekonstruktion der Informationspolitik einer Zeitung, bei der die Darstellungsverfahren eines Einzelbeitrags in einen strategischen Zusammenhang mit Folge- und Vorausbeiträgen gebracht werden müssen (vgl. Bucher 1990; Verschueren 1985). Medienkritik und journalistische Prinzipien

Wie jede Form der Kritik ist Medienkritik immer eine Entgegnung auf vorausgegangene Kommunikationsbeiträge und insofern von Grund auf dialogisch. Diese spezifische Form einer Anschlußkommunikation kann auf sehr unterschiedliche Weise realisiert sein: in Leserbriefen, journalistischen Texten auf den Funk- und Fernsehseiten der Tageszeitungen, in Pressekommentaren oder auch in Form ganzer Fernsehsendungen. Die Medienkritik ist ein natürlicher Kommunikationszusammenhang, in dem journalistische Prinzipien diskutiert werden. Unter theoretisch-methodischen Gesichtspunkten lassen sich diese Kommunikationen deshalb zur Klärung von Grundfragen einer journalistischen Ethik nutzen. Wie an den medienkritischen Einwänden deutlich wird, sind journalistische Prinzipien Beurteilungsmaßstäbe für die Qualität journalistischer Beiträge. Der Status dieser Prinzipien besteht darin, daß jeder, der in einem öffentlichen Medium handelt, auf deren Einhaltung festgelegt werden kann. Die Anwendung der Prinzipien ist jedoch mit verschiedenen Schwierigkeiten behaftet, die leicht Kommunikationskonflikte heraufbeschwören oder bestehende verunklaren (vgl. Boventer 1988; Wunden 1989). Prinzipien können in Widerspruch zu einander geraten, wodurch für den Handelnden möglicherweise ein ethisches Dilemma entsteht. Soll z.B. der Name eines Angeklagten in einer Gerichtsreportage aus Gründen der Informativität genannt werden, oder soll dies zum Schutz seiner Privat- und Intimsphäre unterblei-

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ben? Die Dynamik solcher Konflikte ist, wie das Beispiel zeigt, dadurch bestimmt, daß unterschiedliche Arten von Prinzipien aufeinandertreffen: journalistische Prinzipien im engeren Sinne, wie z.B. das Wahrheits-, das Informativitäts-, das Relevanz-, das Verständlichkeits- oder das Aktualitätsprinzip und weiterreichende soziale Prinzipien. Für medienkritische Debatten sind solche ethischen Dilemmata deshalb typisch, weil Medienbeiträge eben kein Selbstzweck sind, sondern in andere gesellschaftliche Bereiche hineinwirken. Journalistische Prinzipien sind auch veränderbar, wie die Mediengeschichte zeigt, und sie sind spezifizierbar für die verschiedenen journalistischen Darstellungsformen (Muckenhaupt 1986, 314-371) bzw. Textsorten (Bucher 1986, 133—141). Verschiedene Vorschläge zur Systematisierung journalistischer Prinzipien (Muckenhaupt 1981; Straßner 1982) gehen zurück auf die Idee von H.P. Grice, die Möglichkeit der kommunikativen Verständigung für den „maximal effektiven Informationsaustausch" (Grice 1979, 50) auf vier Maximen und einem Kooperationsprinzip aufzubauen (vgl. dazu Art. 10, Abschn. 2.6). Strukturell betrachtet, ist die Medienkritik eine komplexe Kommunikationsform, bei der sich zwei Handlungsmuster unterscheiden lassen: ein evaluatives, zu dem die Bewertung und ihre Absicherung über die Bewertungsprinzipien gehören, und ein deskriptives, mit dem die Grundlage der Kritik eingeführt und abgesichert wird. Je nach dem, wie diese komplexe Kommunikationsform realisiert wird und was die Beurteilungsaspekte sind, lassen sich folgende Formen der Medienkritik unterscheiden (zur Übersicht vgl. Lemert 1989; Bucher 1990): Die Ausdrucks- und Stilkritik (z.B. Karl Kraus), inhaltsorientierte Medienkritik, die Textkritik oder „critical linguistics" (Fowler/Kress 1979; Good 1985) und die Kritik journalistischer Darstellungsformen (Schudson 1982; Bennett/Edelman 1985).

3.3

Dialogisch konzipierte Handlungen der Journalisten

Als Gegenstück zu den bisher behandelten Anschlußkommunikationen finden sich in den verschiedenen Medien journalistische Handlungen, die solche Entgegnungen antizipierend vorwegnehmen, manchmal auch auf sie reagieren. Es handelt sich dabei um eine bestimmte Art verständnisfördernder Transparenzmaßnahmen. Im Unterschied zu denjenigen Formen der Verständnisförderung, die der Erläuterung des Dargestellten dienen, wie z. B. Hintergrundbeiträge, kann man sie als reflexiv bezeichnen, da sie die Medienkommunikation selbst zum Gegenstand haben und der Erweiterung des medienspezifischen Wissens dienen. In Hörfunk und Fernsehen gehören diese reflexiven journalistischen Handlungen zum Repertoire der Moderationshandlungen, in den Printmedien, wo sie eher Ausnahmeerscheinungen darstellen, findet man sie als Querverweise, Textsortenkennzeichnungen, thematische Angaben, Inhaltsübersichten, redaktionelle Vorbemerkungen zu Einzelbeiträgen und in Ausnahmefällen auch als periodische Rubriken, in denen über redaktionsinterne Vorgänge informiert wird. Man kann die reflexiven Maßnahmen nach den verschiedenen Aspekten der Kommunikationsgeschichte systematisieren, auf die sie Bezug nehmen: Angaben zur Informationsbeschaffung und zur Nachrichtenlage; Maßnahmen, mit denen die journalistische

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Medienkommunikation

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Konzeption und die Machart der Berichterstattung erläutert werden, wie z.B. die Einführung einer Beitragsserie als Hintergrundberichterstattung zu einem aktuellen Thema; Erläuterungen öffentlicher Kommunikationszusammenhänge, die für das Verständnis einer aktuellen Berichterstattung relevant sein können, ζ. B. der Stand der vorausgegangenen Berichterstattung (vgl. Bucher 1986, 119-139; Muckenhaupt 1986, 314—331). Reflexive Maßnahmen stehen dementsprechend in einem inneren Zusammenhang mit strukturellen Aspekten der Medienkommunikation sowie strukturbedingten Verstehensproblemen. Sie liefern dadurch wichtige Problemorientierungen für eine dialoganalytische Medienforschung.

4.

Dialoge in den Medien

Die Untersuchung von Dialogen in den Medien kann als ein eigenständiger linguistischer Beitrag zur Medienforschung gewertet werden. Wie für die Dialoganalyse im Allgemeinen, so existiert auch für die Analyse von Mediendialogen keine einheitliche Theorie des kommunikativen Handelns. Auch wenn die ethnomethodologische Konversationsanalyse für eine Reihe von Studien den gemeinsamen Bezugspunkt bildet (z.B. Holly/Kühn/Püschel 1986; Linke 1985; Leitner 1983; Blum-Kulka 1983), so werden theoretische und methodische Anleihen bei nahezu allen Spielarten der Dialoganalyse gemacht, die im ersten Teil dieses Handbuches vorgestellt werden. Dialogische Kommunikationsformen finden sich in allen Medien. Da Presseinterviews aber in der Regel überarbeitete Texte darstellen, beschränkt sich die folgende Darstellung auf Dialoge in Hörfunk und Fernsehen. Auch wenn eine Typologie der Mediendialoge bisher noch aussteht, so hat sich eine Einteilung in verschiedene Grundformen etabliert, die hauptsächlich von zwei Kriterien ausgeht: von der Konstellation der Gesprächspartner und von der Regelung der Gesprächsorganisation. Dementsprechend lassen sich folgende Grundformen unterscheiden: (i) unmoderierte Gespräche, wie das Streitgespräch, (ii) moderierte Gespräche mit komplementären Dialogrollen, wie Interviews oder Befragungen (Blum-Kulka 1983; Jucker 1986), (iii) moderierte Gespräche mit gleichen Dialogrollen, wie die verschiedenen Fernsehdiskussionen (Holly/Kühn/Püschel 1986). Diese Grundformen können je nach Sendungstyp in verschiedenen Kombinationen auftreten. So sind ζ. Β. die Wahlhearings des ZDF eine Kombination aus Interview und Diskussion, während in der RTI^Sendung „Der heiße Stuhl" Streitgespräch, Interview und Diskussion kombiniert sind. Auch die Talkshow kann als Kombination aus verschiedenen Dialogformen beschrieben werden (Mühlen 1985), wobei allerdings Themenwahl und Verlauf stärker durch das Unterhaltungsprinzip bestimmt sind (Bayer 1975, 164; Brinker 1988; 31; Burger 1991, 168-209). Die folgenden Ausführungen beschränken sich auf zwei Aspekte, an denen die Medienspezifik der Dialoge besonders deutlich hervortritt: erstens die Auswirkungen der medienspezifischen Kommuni-

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kationsbedingungen auf die Dialogverläufe und die Gestaltung der Dialogbeiträge und zweitens die Kommunikationsstrategien in den verschiedenen Dialogformen. 4.1

Kommunikationsbedingungen von Mediendialogen

Wie alle institutionalisierten Interaktionen bieten Mediendialoge aufgrund ihres hohen Organisationsgrades quasi Laborbedingungen für die Analyse von Zusammenhängen zwischen Kommunikationsverläufen und Kommunikationsbedingungen (vgl. Heritage/Greatbatch 1991). Eine integrative Betrachtungsweise sprachlicher Äußerungen erweist sich hier als besonders fruchtbar, da diese Zusammenhänge auf allen Beschreibungsebenen erkennbar sind: in der sprachlichen Form der Dialogbeiträge, in den Dialogformen und Sequenzmustern, in der Dialogdynamik sowie in den geltenden Kommunikationsprinzipien. Die Rekonstruktion der Medienspezifik ist geleitet von der Annahme, daß „in institutionellen und medienbedingten Arrangements strukturelle Verschiebungen begründet sind" (Holly/Kühn/Püschel 1986,46), die den Mediendialogen trotz Verwandtschaftsbeziehungen zu anderen Gesprächen sozusagen eine „eigene Wirklichkeit" verleihen (Burger 1991, 410-422; Hoffmann 1985). Neben der Begrenzung der Zeit, der Teilnehmer und thematischen Einschränkungen lassen sich diese Unterschiede vor allem auf die folgenden medienspezifischen Kommunikationsbedingungen zurückführen. Mediendialoge sind öffentliche Dialoge, die vor und für ein Zuhörer-/Zuschauerpublikum geführt werden, zu dem, bei entsprechendem Sendungsarrangement, wie in Talkshows üblich, noch ein Studiopublikum hinzutritt. Für die Gesprächsteilnehmer ergibt sich dadurch die Notwendigkeit, in ihren Beiträgen mehrere Adressaten zu berücksichtigen. Linke spricht deshalb von einer „doppelten Kommunikationskonstellation", bei der ein „äußerer Kommunikationskreis" (die Fernsehzuschauer) den „inneren Kommunikationskreis" (die Studiorunde) überlagert; Dieckmann (1985) unterscheidet zwischen „angesprochenen" und „gemeinten" Adressaten (Dieckmann 1985, 54f.). Illokutionäre Indizien für die Wirksamkeit der Öffentlichkeitsbedingung sind diejenigen Handlungen in Mediendialogen, die explizit an das Medienpublikum gerichtet sind, wie z.B. dessen Begrüßung, Verständnissicherungen und Bitten um Erläuterungen in dessen Namen (Erklären Sie das bitte unseren Zuschauern...), Anredehandlungen oder reflexive Kommentierungen eines übertragenen Gesprächs (Wenn Sie so wollen, ein Dokument der Zeitgeschichte...). Im Falle von politischen Fernsehdiskussionen zeigt sich die Mehrfachadressierung darin, daß die Politiker verschiedene - teilweise konfligierende kommunikative Absichten gleichzeitig verfolgen, wie z.B. politisch für die eigene Partei zu werben und - innerhalb der Binnenkommunikation - mit den Gesprächspartnern zu diskutieren (vgl. Dieckmann 1985; Holly/ Kühn/Püschel 1986). Neben den sprachlichen Möglichkeiten sind im Fernsehen nonverbale Kontaktierungen-Blickkontakte, Kopfzuwendungen, Körperdrehung - wichtige Mittel zur Lösung der komplexen Adressierungsaufgaben (Petter-Zimmer 1990, 75—128). Wer mit einer Äußerung gemeint ist, läßt sich in manchen Fällen „impliziter Adressierung" (Petter-Zimmer 1990, 195—279) nur unter ganz spezifischen Wissens-

23. Dialoganalyse und Medienkommunikation

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Voraussetzungen verstehen, was Dieckmann am Beispiel der berühmten Brandt-Äußerungen in einer Bonner Runde von der „Mehrheit diesseits der Union" exemplarisch gezeigt hat (Dieckmann 1985). Als Konsequenz aus der medienspezifischen Kommunikationskonstellation folgt, daß Mediendialoge unter ganz unterschiedlichen, gleichzeitig gegebenen Wissenskonsteliationen geführt werden können. Wie bestimmte Dialogbeiträge zu verstehen sind und welche kommunikativen Absichten mit ihnen verfolgt werden können, hängt in systematischer Weise mit den entsprechenden Wissenskonstellationen zusammen, die zwischen den Dialogpartnern und dem Publikum bestehen. Wenn beispielsweise die Sachverhalte, auf die Bezug genommen wird, dem Frager und dem Befragten bekannt sind, kann die Frage als Bestätigungsfrage gemeint sein. Das Publikum wird die Frage genau dann in diesem Sinne verstehen, wenn es diese Wissenskonstellation kennt. Im Hinblick auf die medienspezifische Kommunikationskonstellation lassen sich folgende Typen von Wissenskonstellationen zwischen den Beteiligten - Fragesteller, Antwortgeber, Studiopublikum, Zuhörer/Zuschauer-unterscheiden: (i) Das Erfragte ist nur dem Befragten bekannt. Unter dieser Wissensvoraussetzung ist die Frage eines Interviewers als Informationsfrage zu verstehen, was beispielsweise für Experteninterviews charakteristisch ist. (ii) Das Erfragte ist dem Interviewer und dem Interviewten bekannt, nicht aber dem Publikum. Unter dieser Voraussetzung kann eine Frage als Bestätigungsfrage oder als Veröffentlichung einer Antwort für das Publikum verstanden werden. (iii) Das Erfragte ist allen Beteiligten bekannt. Da eine Frage unter dieser Voraussetzung normalerweise keinen Sinn macht, muß eine weiterführende kommunikative Absicht des Fragestellers vorliegen, für die die Frage nur parasitär genutzt wird: z.B. einen Politiker zu einer öffentlichen Stellungnahme zu bewegen oder den Befragten zu provozieren. Die nächste Wissenskonstellation ist ein Sonderfall von (iii). (iv) Das Erfragte bzw. der Gesprächsgegenstand ist allen Beteiligten als problematisch und umstritten bekannt. Unter dieser Voraussetzung kann eine Frage als Aufforderung zur Begründung und Verdeutlichung der umstrittenen Meinung gemeint sein. Fragevorbereitungen durch den Interviewer dienen oft dem Aufbau einer bestimmten Wissenskonstellation, die dann den Hintergrund bilden kann für das entsprechende Verständnis der Frage, und zwar für Publikum, Zuschauer/Zuhörer und den Befragten. Mediendialoge sind - mit Ausnahme von Streitgesprächen - moderierte Dialoge. Es ist deshalb der Moderator, der die Dialogdynamik in allen Belangen bestimmen kann bis hin zum Abbruch der Sendung. Geht man von der „doppelten Kommunikationskonstellation" aus, so lassen sich seine Aufgaben in zwei Gruppen einteilen: die Gesprächsleitung und die Überbrückung der beiden Kommunikationskreise durch Verständnissicherung für und durch Kommunikation mit dem Publikum - beispielsweise im Falle von Telefonanrufen. Für politische Fernsehdiskussionen haben Holly/ Kühn/Püschel die „gesprächsorganisatorischen Aufgaben" des Moderators ausführlich beschrieben und systematisiert: die Eröffnung und Beendigung des Gesprächs, die thematische Steuerung und die Verteilung des Rederechts (vgl. auch Brinker 1988;

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Burger 1991, 276—306, für britische Fernsehinterviews vgl. Greatbatch 1988). Die Dialogdynamik von Medieninterviews wird entscheidend mitbestimmt durch ein spezifisches Sequenzmuster, das durch die Neutralitätsverpflichtung des Moderators motiviert ist: Als dritte Züge finden sich in Interviews keine Antwortbewertungen oder andere Formen von „Empfangsbestätigungen" („third-turn receipt objects", Heritage 1985), wie es beispielsweise für Frage-Antwort-Dialoge in Lehr-Lern-Kommunikationen typisch ist, sondern Anschluß- und Fortsetzungsfragen, mit denen entweder nachgefragt wird, das Thema um neue Aspekte erweitert oder gewechselt wird (Heritage 1985; Jucker 1986, 126—133). Am Beispiel verschiedener Dialogverknüpfungsmittel wie anaphorische Pro-Formen und Konjunktionen (Linke 1985, 158—179) oder Dialogpartikeln wie „well", „but", „and", „so" (Jucker 1986,117—125) ist gezeigt worden, wie sich die Organisations- und Kohärenzaufgaben des Moderators bzw. des Journalisten in der Form der dafür verwendeten Ausdrücke niederschlagen.

4.2

Strategien und Kommunikationsdynamik

Mediendialoge werden von den Teilnehmern - vor allem wenn es um politische Themen geht - in auffallender Weise unter strategischen Gesichtspunkten geführt. Einzelne strategische Muster lassen sich sowohl im Hinblick auf Gesprächsrollen als auch im Hinblick auf Gesprächsformen differenzieren. So werden für die Journalisten und Moderatoren Fragestrategien (vgl. Blum-Kulka 1983; Rehbock 1985; Jucker 1986) und Dialogsteuerungsstrategien (vgl. Schwitalla 1979) und für die Kommunikationspartner (Politiker) Beantwortungs-, Entgegnungs- und Diskussionsstrategien beschrieben (vgl. Holly/Kühn/Püschel 1986; Köpf 1989). Ein wesentlicher Grund für den strategischen Charakter von Mediendialogen ist, daß die Erreichung kommunikativer Absichten durch verschiedene Dialogdilemmata erschwert sein kann: das Festlegungsdilemma (a.), das Konkurrenz-Kooperations-Dilemma (b.) und das Prinzipiendilemma (c.). a. Aufgrund ihrer Öffentlichkeit kann der einzelne Dialog im Medium das Glied einer Kette vorausgegangener und nachfolgender Kommunikationsereignisse sein. Wie im Falle einzelner Spiele im Rahmen eines Turniers, so werden nach einem Medienauftritt Ergebnis, rote und gelbe Karten für kommunikative Fouls oder Pluspunkte für Fairplay sowie eingegangene kommunikative Festlegungen auf einem Image- oder Festlegungskonto verbucht und können später von dort aufgerufen werden. Während es das Ziel der Journalisten oder des Dialogkontrahenten sein kann, den Befragten zu Äußerungen mit weitreichenden Festlegungen zu bewegen - beispielsweise bezüglich anstehender politischer Entscheidungen - , muß dieser seine Äußerungen auf längerfristige Konsequenzen abstimmen, um nicht später mit unerwarteten Festlegungen konfrontiert zu werden. Vor allem die Eröffnungsfragen sind bevorzugte kommunikative Mittel, Festlegungen für den zukünftigen Dialogverlauf zu etablieren (vgl. Blum-Kulka 1983,136). Wie das folgende Beispiel zeigt, laufen sie deshalb immer auch Gefahr, den Dialog zu blockieren oder ihn von vornherein aufzuladen:

23. Dialoganalyse und

Medienkommunikation

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Schröder: Ich hab eine ganz einfache Frage: Macht es ihnen eigentlich Spaß, für einen Kanzler zu arbeiten, den Sie im Grunde nicht wollen und vor allen Dingen auch, der Sie nicht will? Geißler : Also in der Frage sind zwei falsche Unterstellungen, deswegen kann man also auf eine doppelt falsche Frage ja eigentlich gar keine sinnvolle Antwort geben. (ZDF: Was nun, Herr Geißler?, 23.6.1988) Für den fragenden Journalisten sind solche geladenen Fragen, wie man sie nennen könnte (vgl. Bucher 1993 und Art. 12), wichtige Mittel zur Dialogsteuerung: Sie zwingen den Interviewten auf Voraussetzungen einzugehen und schränken dadurch seinen Entgegnungsspielraum ein. Neben solchen offensiven Strategien gibt es eine ganze Reihe von Verfahren, mit denen Journalisten die Imagebedrohung von Interviewfragen reduzieren und selbst eine eher neutrale Position beibehalten können. Dazu gehören: das Zitieren von Kritik (anstelle des Kritisierens), die Absicherung einer Fragestellung durch entsprechende Einbettung, die Abschwächung von Meinungsaussagen durch Ankündigung einer Provokation oder die Verwendung eingeleiteter Frageformen, die höflicher wirken und Wahrheitsverpflichtung relativieren (Darf ich Sie fragen, wer...; Was glauben Sie, wer... ; vgl. Jucker 1986, 99—139; Claymann 1986). b. Mediendialoge sind vielfach kompetitive Kommunikationen, in denen die Beteiligten konfligierende Interessen verfolgen. So kann es die Absicht des moderierenden Journalisten sein, den Politiker zu einer Stellungnahme zu bewegen, während dieser seine Äußerung zur parteipolitischen Selbstdarstellung nutzen möchte. Angesichts solcher Zielkonflikte besteht eine strategische Aufgabe darin, Eskalationen unter Kontrolle zu halten, indem eigene Kommunikationsziele mit denen der Partner im notwendigen Ausmaß abgestimmt werden (vgl. Schegloff 1988). Beantwortet ein Interviewpartner die gestellten Fragen nicht zufriedenstellend, so kann der Journalist beispielsweise eine Strategie des höflichen Insistierens wählen, die darin besteht, Zweifel gegenüber den erhaltenen Antworten in Form von Nachfragen auszudrücken. Der kommunikative Zweck dieser als „Checking question" beschriebenen Art der Nachfrage besteht darin, den Absicherungsgrad der vertretenen Auffassung auszutesten (vgl. Schwitalla 1986) oder, wie Carlson es nennt, „checking A's answer against a higher index of caution" (Carlson 1983, 123). Offensichtlich wird der kompetitive Charakter in Mediendialogen, wenn Zweifel, Einwände und Kritik gegenüber Partneräußerungen artikuliert werden (vgl. Schegloff 1988), oder in Vorwurf-EntgegnungsKommunikationen - die häufig Vorwurf-Gegenvorwurf-Kommunikationen sind (Köpf 1989) - , aber auch im Falle von Argumentationsmustern, die auf Imageschädigung des Kontrahenten abzielen (Holly/Kühn/Püschel 1986,105-120,154-170.). Auf der Ebene der Gesprächsorganisation manifestiert sich der Konfliktcharakter von Dialogen häufig im eigenmächtigen Ergreifen des Rederechts, in Unterbrechungen und Einwürfen. c. Durch den Programmauftrag von Fernsehen und Hörfunk, die Zwecksetzungen einer Sendung, die Kommunikationsziele der Beteiligten und die Erwartungen des

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Publikums können bei der kritischen Beurteilung von Mediendialogen ganz unterschiedliche normative Vorgaben und kommunikationsethische Prinzipien ins Spiel gebracht werden, denen die Beteiligten kaum gleichzeitig gerecht werden können. Das Dilemma konfligierender Kommunikationsprinzipien verschärft sich noch dadurch, daß die Einlösungskriterien der Prinzipien, ζ. B. der Informativität oder der Verständlichkeit, aus der Perspektive des Zuschauers ganz anderer Art sein können als aus der Perspektive der aktiven Dialogteilnehmer. Aufgrund dieser normativen Komplexität sind Mediendialoge gute Beispiele dafür, daß kommunikationsethisches Handeln nicht als Abarbeitung einer verbindlichen Kasuistik aufzufassen ist, sondern als dynamischer Prozeß des Aushandelns und Austarierens vielfältiger und teilweise widersprüchlicher Prinzipien. Darüber geben diejenigen Dialogsequenzen Aufschluß, in denen kommunikative Prinzipien eingeklagt oder durchzusetzen versucht werden. Unterbrechungen, Einwände und Nachfragen der Journalisten in Interviews können beispielsweise in prototypischer Weise Aufschluß geben über die Relevanzkriterien, nach denen Interviewantworten beurteilt werden können (vgl. Blum-Kulka 1983,141-145).

5.

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Bucher,

Tübingen

24. Dialoganalyse und Verständlichkeit

1. 2. 3. 3.1 3.2 3.3 3.4 3.5 3.6 4. 5. 5.1 5.2 5.3 5.4 6. 7.

Verständlichkeit als Thema der Dialoganalyse Das Prinzip der Verständlichkeit Aspekte des Verstehens und Typen von Verstehensproblemen Die innere Struktur von Handlungen Die Form der Äußerung Lokale Sequenzierung Globale Sequenzierung und Sequenzierungsstrategien Wissenskonstellationen und Wissensaufbau Themen und thematische Zusammenhänge Kriterien des Verstehens Dialoganalytische Verständlichkeitsuntersuchungen Grundlegende Forderungen für dialoganalytische Verständlichkeitsuntersuchungen Die Wahl eines exemplarischen Untersuchungsgegenstands Untersuchungsdesign : Methoden und Komponenten Verstehensprobleme, ihre Indikatoren und Ursachen Ergebnisse und Ausblick Literaturhinweise

1.

Verständlichkeit als Thema der Dialoganalyse

Verständlichkeit ist ein dialoganalytisches Thema par excellence. Verständlich ist nicht eine Äußerung oder ein Text an sich, verständlich ist eine Äußerung oder ein Text für einen bestimmten Adressaten und in einem bestimmten Zusammenhang. Verständlichkeit ist also zu einem beträchtlichen Teil eine Frage der wechselseitigen Abstimmung von Kommunikationspartnern. Ein reflektierter Sprecher/Schreiber wird die Art und Weise, wie er sagt, was er sagen möchte, gezielt darauf abstimmen, welche Annahmen er macht über Fähigkeiten, Wissen und Annahmen seines Gegenübers. Umgekehrt muß sich der Hörer/Leser beim Verstehen und Interpretieren der Äußerungen seines Gegenübers auf seine eigenen Annahmen über Fähigkeiten, Wissen und Annahmen des Sprechers/Schreibers stützen. Allein schon deshalb, weil diese Verschränkung von Wissensbeständen, das sog. gemeinsame Wissen, eine grundlegende

494

R.

Schäflein-Armbruster

Rolle beim Kommunizieren spielt, kann eine adäquate Theorie der Verständlichkeit nur auf dialogtheoretischer Grundlage entwickelt werden. Die Partnerabstimmung ist schon für die einfachsten alltäglichen Gespräche grundlegend, wie Untersuchungen der Konversationsanalytiker zum „recipient design" gezeigt haben (vgl. Sacks/Schegloff/Jefferson 1974). Mit Hervorhebungen, Vorbereitungs- und Klärungssequenzen, Korrekturen und Spezifizierungen mitten im Satz oder als Nachtrag und ähnlichen Mitteln können die Dialogpartner eine Feinabstimmung ihrer Verständigung erreichen (vgl. Fritz 1982, 152ff.; Gülich/Kotschi 1987; Selting 1987b; Hoffmann 1991). Besonders brisant wird die Partnerabstimmung aber dort, wo das Repertoire der Abstimmungs- und Klärungsmöglichkeiten im Vergleich zum typischen Alltagsgespräch eingeschränkt oder anderweitig verändert ist, z.B. bei Verhandlungen vor Gericht, bei Vorlesungen, bei Fernsehnachrichten und bei der Nutzung von schriftlichen Gebrauchsanleitungen. (Zusätzlich spielt hier auch noch das Problem der Mehrfachadressierung - ζ. Β. an Fachleute und Laien - herein. Vgl. Hoffmann 1984.) Gerade für diese scheinbar nicht-dialogischen oder eingeschränkt-dialogischen Kommunikationsformen bildet der dialogische Prototyp von Kommunikation ein grundlegendes Vergleichsobjekt. Das wird etwa deutlich in jenen Fällen, in denen ein Redner oder ein Buchautor Fragen und Einwände seines Publikums antizipiert und die entsprechenden Antworten und Klärungen in seinen Text aufnimmt, oder auch in Fällen, in denen explizit dialogische Verfahren in Kommunikationen ohne face-to-face-Kontakt eingebaut werden, wie z.B. bei bestimmten Sendungskonzepten im Fernsehen (vgl. Mukkenhaupt 1986, 327f.) oder bei simuliertem Dialog in Anleitungstexten oder OnlineHilfstexten (vgl. Krenn 1989; Suchman 1987; Horton 1990). Diese zunächst selbstverständlich anmutenden Überlegungen zum dialogischen Hintergrund von Verständlichkeitsfragen sind insofern nicht trivial, als in manchen theoretischen Konzeptionen der Text weitgehend von seinen kommunikativen Zusammenhängen abgelöst erscheint, z.B. in der Lesbarkeitsforschung (vgl. Flesch 1948; Klare 1984; kritisch dazu: Heringer 1979, 262; Davison/Green 1988; Ballstaedt/Mandl 1988) oder auch in der sog. Hamburger Konzeption (vgl. Langer/Schulz von Thun/ Tausch 1981; kritisch dazu: Ballstaedt/Mandl 1988). Dies hat weitreichende Konsequenzen für die Grundkategorien derartiger Auffassungen ebenso wie für ihre empirischen Untersuchungsmethoden. So bleibt zumeist unberücksichtigt, daß unterschiedliche Hörer/Leser einen Text auf unterschiedliche Art verstehen können, daß sie ein Verständnis unterschiedlicher Reichweite gewinnen können, und daß sie möglicherweise auch unterschiedliche Ansprüche an ihr Verständnis des Textes stellen, lauter Faktoren, die für das verständliche Reden und für die Beurteilung der Verständlichkeit eines Textes relevant sind. Die oben angestellten Überlegungen erweisen derartige Theorien als unzulänglich und zeigen, daß die dialogische Orientierung ein Qualitätskriterium für Verständlichkeitstheorien ist. Damit ist noch nicht entschieden, welche sonstigen Grundannahmen eine adäquate Verständlichkeitstheorie machen sollte. Derzeit favorisieren Psychologen und Psycholinguisten kognitionstheoretische Auffassungen (vgl. Kintsch/Vipond 1979; Ballstaedt/ Mandl 1988; Groeben/Christmann 1989), während manche Linguisten eine handlungs-

24. Dialoganalyse und Verständlichkeit

495

theoretische Konzeption verfolgen (Heringer 1979; Muckenhaupt 1981; Biere 1989; Fritz 1991). Ansätze zur Verbindung dieser unterschiedlichen Auffassungen finden sich z.B. bei van Dijk/Kintsch (1983) oder Hoffmann (1989). Obwohl ein Arbeitsfeld wie die Verständlichkeitsforschung besonders geeignet für interdisziplinäre Forschung erscheint, darf man nicht übersehen, daß für viele Grundbegriffe der konkurrierenden Theorien noch völlig ungeklärt ist, wie sie miteinander in Einklang gebracht werden können. Diese begriffliche Divergenz betrifft in erster Linie den Verstehensbegriff selbst (Verstehen als Prozeß, als konstruktive Aktivität, als Zustand; vgl. Biere 1989, 15ff.; s. auch Art. 9). Daneben betrifft es aber auch Begriffe wie den der Strategie man denke an die sog. Verstehensstrategien bei van Dijk/Kintsch (1983) im Vergleich zu den Handlungsstrategien der Spieltheorie (vgl. Luce/Raiffa 1957) - , den Begriff des Plans (vgl. Fritz, im Druck) oder den Begriff der Proposition bei Kintsch, im Vergleich zum klassischen sprachanalytischen Propositionsbegriff (vgl. Heringer 1990, 50f.). In der vorliegenden Darstellung ist eine handlungstheoretische Perspektive gewählt. Es werden aber an geeigneten Stellen auch Hinweise auf kognitionswissenschaftliche Auffassungen gegeben (vgl. Bower/Cirilo 1985). Eine bibliographische Übersicht zur Verständlichkeitsforschung bietet Biere (1991). Beim gegenwärtigen Stand lassen sich u. a. folgende Aufgaben einer dialoganalytischen Verständlichkeitsforschung formulieren : 1. 2. 3. 4. 5.

6.

2.

Klärung der Grundbegriffe einer Theorie der Verständlichkeit. Entwicklung einer theoretisch fundierten Typologie von verständlichkeitsrelevanten Faktoren in der Kommunikation. Entwicklung von Hypothesen über die Wirkungsweise und das Zusammenwirken dieser Faktoren. Entwicklung von empirischen Untersuchungsmethoden und empirische Untersuchung der in 3. genannten Hypothesen. Beschreibung der in unterschiedlichen Kommunikationsformen gängigen kommunikativen Verfahren der Verständnissicherung und der dabei verwendeten sprachlichen und sonstigen Mittel. Entwicklung einer theoretisch und empirisch begründeten Prinzipienlehre für verständliches Reden und Schreiben sowie für das erfolgreiche Lesen/Hören und Deuten von schwierigen Äußerungen.

D a s Prinzip d e r Verständlichkeit

Um die Rolle des Prinzips der Verständlichkeit angemessen bestimmen zu können, muß man folgende Gesichtspunkte berücksichtigen: (i) seinen handlungstheoretischen Status, (ii) seine Geltungsbereiche, (iii) seine Konkretisierung in Unterprinzipien, (iv) seine Ausdifferenzierung auf unterschiedliche Aspekte des Verstehens. Gesichtspunkt (iv) wird im Abschnitt 3 dargestellt, auf die ersten drei Gesichtspunkte soll hier kurz eingegangen werden (vgl. auch Art. 10, Abschn. 2.6).

496

R.

Schäflein-Armbruster

(i) Der handlungstheoretische Status des Prinzips: In der Handlungstheorie werden Prinzipien eingeführt, um zu erfassen, wie Handlungsalternativen bewertet werden können. Ein Prinzip wie das der Informativität oder das der Relevanz liefert Qualitätskriterien für Kommunikationsbeiträge. Man orientiert sich an diesen Prinzipien, wenn man seine eigenen Kommunikationsbeiträge wählt oder die Beiträge anderer kritisiert, indem man diese als nicht ausreichend informativ oder als irrelevant bewertet. Analog ist auch die Funktion des Prinzips der Verständlichkeit. Diese Bewertung ist graduierbar: Eine Äußerung kann in einem bestimmten Zusammenhang verständlicher sein als eine andere, die man an dieser Stelle auch hätte machen können. (ii) Die Geltungsbereiche des Prinzips: Prinzipien gelten normalerweise nicht absolut, sondern sie stehen in Konkurrenz mit anderen Prinzipien. Daraus können sich Anwendungskonflikte ergeben. So kann das Prinzip der Verständlichkeit in einer bestimmten Kommunikation konkurrieren mit den Prinzipien der Genauigkeit, der Vollständigkeit oder der Kürze. Im Konfliktfall kann man etwa gezwungen sein, zugunsten der Kürze auf einen höheren Grad von Explizitheit der Darstellung und damit auf größere Verständlichkeit zu verzichten. Prinzipien gelten nicht für alle Kommunikationsformen in derselben Weise. Während das Prinzip der Verständlichkeit in Lehr- und Lern-Dialogen normalerweise als hochrangig gilt, kann es in religiösen Ritualen oder beim Verfassen von Gedichten anderen Prinzipien untergeordnet sein, z.B. dem Prinzip der Traditionstreue oder bestimmten ästhetischen Prinzipien. Innerhalb einer Kommunikation kann der Grad der Befolgung eines Prinzips wechseln. Es ist z.B. möglich, daß in einer Diskussion mit Spezialisten und Laien die Spezialisten beim Erreichen eines bestimmten Dialogstands eine zeitlang den Anspruch an Verständlichkeit für Laien senken, um für sich die Klärung eines bestimmten Punktes zu beschleunigen. Diese Veränderung in der Anwendung eines Prinzips ist ein Aspekt der Dialogdynamik (vgl. Lewis 1979; Fritz 1989). (iii) Die Konkretisierung des Prinzips in Unterprinzipien: Das Prinzip der Verständlichkeit läßt sich in Unterprinzipien konkretisieren. So kann man z. B. das Prinzip der Verständlichkeit befolgen, indem man Prinzipien wie Einfachheit, Einheitlichkeit in der Terminologie und im Textaufbau, Übersichtlichkeit, Anschaulichkeit, Explizitheit u.a. befolgt. Diese Unterprinzipien und ihre Anwendungsmöglichkeiten sind bisher noch nicht gut erforscht. Hier liegt eines der vielen Desiderate der Verständlichkeitsforschung. Im Hamburger Verständlichkeitskonzept spielen zwar Kategorien wie Einfachheit, Ordnung und Anschaulichkeit eine wichtige Rolle, sie werden aber nicht genauer analysiert. Einige Überlegungen zum Prinzip der Explizitheit finden sich in Fritz (1991, 15f.), Anschaulichkeit ist u.a. im Zusammenhang mit den Möglichkeiten der Bildverwendung diskutiert worden.

24. Dialoganalyse und Verständlichkeit

3.

497

Aspekte des Verstehens und Typen von Verstehensproblemen

Gegenstand des Verstehens sind, nach Auffassung einer handlungstheoretischen Dialogtheorie, die sprachlichen Handlungen der Sprecher/Schreiber in ihren Zusammenhängen. Man könnte dafür den Slogan formulieren: Verstehen heißt, die Zusammenhänge sehen. Um diesem Slogan theoretische Substanz zu verleihen, muß man die innere Struktur sprachlicher Handlungen und die verschiedenen Arten von Zusammenhängen sprachlicher Handlungen explizieren. Man erhält auf diese Art und Weise ein System von Aspekten sprachlicher Handlungszusammenhänge, und diese Aspekte sind gleichzeitig Aspekte des Verstehens. Geht man nun einen Schritt weiter und macht die Annahme, daß prinzipiell in allen Aspekten des Verstehens Verständnisschwierigkeiten auftreten können, so dient die Aspekttypologie gleichzeitig als Grundlage für eine theoretisch fundierte Typologie von Verstehensproblemen, die für empirische Untersuchungen genutzt werden kann. Es ist eine Hauptaufgabe der Verständlichkeitsforschung, empirisch zu bestimmen, welche Typen von Verstehensproblemen mit den jeweiligen Aspekten des Verstehens verbunden sein können und in welcher Weise die verschiedenen Aspekte zusammenwirken, um Verstehensprobleme zu verursachen bzw. diese zu vermindern. Bevor wir nun eine Gruppe von grundlegenden Aspekten des Verstehens vorstellen, wollen wir die eben skizzierte Auffassung nochmals kurz an einem Beispiel erläutern. Nehmen wir an, A und Β sitzen vor einem PC, und A äußert gegenüber Β : (1) Jetzt gehst du mit dem Zeiger auf die Schablonenleiste. Β versteht, daß diese Äußerung als Aufforderung gemeint ist (illokutionärer Aspekt), was nicht trivial ist, da man mit der Form der Äußerung (1) auch andere sprachliche Handlungen als Aufforderungen machen kann, z.B. die Beschreibung einer Handlung, die der Gesprächspartner normalerweise an dieser Stelle machen sollte. Β versteht aber nicht genau, was der Inhalt der Aufforderung ist (propositionaler Aspekt), weil er nicht weiß, aufweichen Bereich des Bildschirms sich der Ausdruck Schablonenleiste bezieht. D. h. die Äußerung ist für Β unverständlich im Hinblick auf die Referenz dieses Ausdrucks und damit im Hinblick auf die ausgedrückte Proposition, während sie in anderer Hinsicht durchaus verständlich ist. - Die folgende Darstellung von Aspekten des Verstehens und Typen von Verstehensproblemen orientiert sich in wesentlichen Punkten an Fritz 1991 (vgl. auch Art. 10, Abschn. 2).

3.1

Die innere Struktur von Handlungen

Zur inneren Struktur von Handlungen gehören zunächst einmal die aus der Sprechakttheorie bekannten Aspekte Mokution, Proposition, Referenz, Prädikation (vgl. Searle 1969, Kap. 2). Ein besonders häufiger Typ von Verstehensproblemen sind Probleme der Referenz. In vielen Fällen hängt die Schwierigkeit damit zusammen, daß beim Referieren weitreichende Annahmen über das Wissen des Dialogpartners ge-

498

R. Schäflein-Armbruster

macht werden müssen (vgl. Strawson 1964). Einen Sonderfall stellen die Probleme beim Querverweis mit anaphorischen Pronomina dar, deren Bezug u. U. rekonstruiert werden muß (vgl. Pause 1984). Zum propositionalen Aspekt: Die Propositionen, die mit den Sätzen einer Satzfolge ausgedrückt werden, stehen zueinander in vielfältigen Beziehungen (Folgerung, Unverträglichkeit, Spezifizierung). Diese Beziehungen zu erkennen, ist ein wichtiger Teil des Verstehens. Außerdem bestimmt die Abfolge der Propositionen zu einem beträchtlichen Teil den thematischen Verlauf einer Kommunikation. Unter dem Gesichtspunkt der Verständlichkeit ist zu fragen: Welche Faktoren begünstigen/behindern das Erkennen der propositionalen Beziehungen? In vielen Untersuchungen, z.B. von Kintsch und seinen Mitarbeitern, konzentrieren sich die Autoren auf den propositionalen Aspekt und vernachlässigen den illokutionären Aspekt. Diese Einschränkung bringt erhebliche Nachteile, u.a. bei der Behandlung der Kohärenz von Äußerungen, die ja z.T. auf der illokutionären Sequenzierung beruht (vgl. 3.3). Ein weiterer Aspekt, der für Fragen der Verständlichkeit eine wichtige Rolle spielt, ist der sog. indem-Zusammenhang. Dieser Zusammenhang soll an einem Beispiel verdeutlicht werden: (2)

A fordert Β auf, den Schalter X zu betätigen, indem A feststellt, daß der Schalter X jetzt betriebsbereit ist.

Versteht Β die Äußerung als bloße Feststellung, so hat er zwar etwas Richtiges verstanden, aber sein Verständnis reicht nicht weit genug. Unterstellt Β dem A nun an dieser Stelle im Dialog die Annahme, daß der Schalter, wenn er betriebsbereit ist, auch betätigt werden soll, dann kommt er zu dem weiterreichenden Verständnis der Äußerung als Aufforderung. In der Beschreibung als indem-Zusammenhang wird das weiterreichende Verständnis immer weiter links in der indem-Kette angegeben. Unter dem Gesichtspunkt der Verständlichkeit ergibt sich die Frage, wie deutlich bei einem bestimmten Stand der Kommunikation die Hinweise auf weitergehende Verständnisse sein müssen und in welcher Form diese Hinweise gegeben werden können. Dieser Aspekt der inneren Struktur von Handlungen ist bisher in der Verständlichkeitsforschung unterrepräsentiert.

3.2

Die Form der Äußerung

Die Äußerungsform einer sprachlichen Handlung umfaßt u. a. die Sprechgeschwindigkeit, die Intonation, die Lautform, die syntaktische Form der Äußerung, die verwendeten lexikalischen Formen. Neben den im folgenden näher betrachteten sprachlichen Mitteln spielen für die Verständlichkeit besonders Mittel der Fokussierung (z.B. Intonation und Herausstellungsstrukturen) sowie Mittel der Verknüpfung (sog. Kohäsionsmittel; vgl. Halliday/Hasan 1976; Blakemore 1987, Kap. 4) eine wichtige Rolle (vgl. auch Abschnitt 3.3). In der Verständlichkeitsforschung standen bisher zwei Aspekte der Äußerungsform im Vordergrund, die Syntax und der Wortschatz. Lange und/oder strukturell komplexe

24. Dialoganalyse und Verständlichkeit

499

Sätze gelten gemeinhin ebenso als potentielle Verstehenshemmnisse wie „schwere Wörter" (Fachwörter, Fremdwörter oder komplizierte Nominalkomposita). Auch hier sind noch viele Fragen ungelöst, u.a. welche Arten von syntaktischen Strukturen in welchen Sprachen Verständnisschwierigkeiten bereiten können, unter welchen Bedingungen und warum. Eine für die Dialoganalyse besonders interessante Einsicht beginnt sich erst seit kurzer Zeit durchzusetzen, daß man nämlich einen Faktor wie syntaktische Komplexität nicht unabhängig von anderen Faktoren als Ursache von Verstehensproblemen behandeln kann (z.B. Wissensstand des Hörers/Lesers oder Erfahrung mit bestimmten Textsorten). Ein Beispiel für diese Betrachtungsweise ist die Untersuchung von Crain/Steedman (1985) zur Rolle des Kontexts bei der Auflösung der scheinbaren Mehrdeutigkeit von sog. garden-path-sentences (The horse raced past the barn fell). Beobachtungen zur Syntax unter dem Gesichtspunkt des Verstehens bzw. der Verständlichkeit finden sich u.a. in Heringer (1979); (1988); Frazier (1985); Bach/ Brown/Marslen-Wilson (1987); Davison/Green (1988). Das Problem der sog. schweren Wörter behandeln Strauß/Zifonun (1985).

3.3

Lokale Sequenzierung

Abfolgen von Äußerungen sind nach unterschiedlichen Verfahren verknüpft. Viele Verknüpfungen lassen sich als konventionelle Sequenzmuster beschreiben, z.B. Behaupten-und-dann-Begründen, Vorschlagen-und-dann-den-Vorschlag-Bewerten etc. (vgl. Fritz 1982, 32-55; Art. 10, Abschn. 2.1). Das Verstehen solcher Verknüpfungen stützt sich im wesentlichen auf vier Faktoren: (i) die Fähigkeit, Sequenzmuster zu erkennen, (ii) die Kenntnis des Gebrauchs von sprachlichen Ausdrücken, die der Verknüpfung dienen, (iii) das Wissen über die behandelten Gegenstände und den bisherigen Dialogverlauf bzw. Textaufbau, (iv) die Fähigkeit, aufgrund von (i) bis (iii) sich Deutungen der jeweiligen Zusammenhänge zu suchen (Fähigkeit zu Inferenzen, vgl. Clark 1977; Crothers 1978; Graesser/ Bower 1990). Unter dem Gesichtspunkt der Verständlichkeit scheinen zwischen diesen Faktoren gewisse Zusammenhänge zu bestehen. Ein geringer Grad von Explizitheit in der Kennzeichnung der Sequenzmuster (etwa durch Adverbien oder Konjunktionen) und/ oder ein geringer Bestand an relevantem Wissen beim Hörer/Leser kann durch einen größeren Deutungsaufwand wettgemacht werden. Für viele Kognitionspsychologen ist daher die angenommene Menge von notwendigen Inferenzen ein Maßstab für Schwerverständlichkeit. Generell scheinen allerdings Kognitionspsychologen ebenso wie Textlinguisten (etwa Halliday/Hasan 1976) die Rolle der expliziten sprachlichen Kennzeichnung beim Erkennen von Mustern zu überschätzen. Auch hier fehlt es jedoch noch an geeigneten empirischen Untersuchungen zur Entscheidung divergierender Auffassungen.

500 3.4

R.

Schäflein-Arnihnisk-r

Globale Sequenzierung und Sequenzierungsstrategien

Es ist seit langem bekannt, daß es neben den lokalen Sequenzmustern (Elementarsequenzen) globale Sequenzmuster gibt, ζ. B. in Erzählungen die Abfolge von einführenden Beschreibungsteilen, anschließender Ereignisdarstellung und abschließendem Bewertungsteil. In dieser einfachen Form haben Erzähltheoretiker wie LabovAValetzky (1967) oder Vertreter der sog. story grammars (ζ. Β. Rumelhart 1975) die Verhältnisse beschrieben. Bei genauer Analyse von alltäglichen Erzählungen stellt sich allerdings heraus, daß man oft nicht alle wichtigen Informationen in einem großen beschreibenden Block am Anfang liefert, sondern die Strategie verfolgt, die notwendige deskriptive Information in kleinen Blöcken jeweils dort zu liefern, wo sie benötigt wird. Diese Strategie hängt zumindest teilweise mit Fragen der Verständlichkeit zusammen. Dadurch, daß die deskriptive Information an der Stelle verfügbar gemacht wird, an der sie benötigt wird, ist gesichert, daß sie dort tatsächlich als Voraussetzung für das intendierte Verständnis dienen kann. Außerdem ist der Status der informierenden Äußerungen selbst leichter erkennbar: Sie werden als subsidiäre Handlungen zu einer Ereignisdarstellung oder dergl. verstanden. Ähnliche Strukturen findet man in Bedienungshandbüchern für Geräte (z.B. Videorekorder, Softwareprogramme für PCs). Es gibt dort einerseits Abschnitte, in denen Teile des Geräts oder Funktionen des Geräts beschrieben werden, und andrerseits gibt es anleitende Teile, mit deren Hilfe Funktionen eingeübt werden sollen. Auch hier kann man die Textbausteine nach unterschiedlichen Strategien anordnen, die für die Verständlichkeit relevant sein können (vgl. Abschn. 5). In diesem Bereich spielen die Erwartungen der Hörer/Leser eine besondere Rolle. Ein Unterprinzip, das für die globale Sequenzierung besonders wichtig ist, ist das Prinzip der Übersichtlichkeit. Die empirische Untersuchung der Auswirkungen von unterschiedlichen Strategien globaler Sequenzierung steht noch in ihren Anfängen. Aus psychologischer Sicht finden sich Ansätze dazu z.B. in folgenden Arbeiten: Kintsch/Yarbrough (1982), Van Dijk/Kintsch (1983), Schnotz (1984), Perrig/Kintsch (1985). Aus linguistischer Sicht wird dieses Problem behandelt in Schäflein-Armbruster (in Vorb.). 3.5

Wissenskonstellationen und Wissensaufbau

Die fundamentale Bedeutung des Wissens für Verstehen und Verständlichkeit wird von den verschiedenen Richtungen der Verständlichkeitsforschung einmütig anerkannt. (Eine knappe Einführung in die Aspekte des Wissens, die in der Dialoganalyse eine Rolle spielen, gibt Art. 10, Abschn. 2.4.) Grundlegend für die Verständigung ist die Wissensverteilung zwischen den Kommunikationspartnern. Dabei verdient das schon erwähnte gemeinsame Wissen besondere Beachtung. In vielen alltäglichen Kommunikationen entsteht gemeinsames Wissen quasi-naturwüchsig, ob die Teilnehmer besonders darauf achten oder nicht. Hier genügen die vielfältigen ad-hoc-Techniken, mit denen man Wissen bereitstellt, sichert und notfalls klärend nachträgt. Dabei stützt man sich besonders auf dasjenige Wissen, das man unbefragt als allgemein verfügbar betrachtet. Dagegen werden z.B. bei Lehr-und-Lern-Kommunikationen oft

24. Dialoganalyse und Verständlichkeit

501

besondere Anstrengungen unternommen, Wissen systematisch aufzubauen, um ein adäquates Verständnis der entscheidenden sprachlichen Handlungen zu sichern. Dabei stellen sich u.a. folgende Fragen: Welches ist das relevante Wissen, das für das Verständnis einer bestimmten Erklärung oder Anleitung vorausgesetzt wird? Wie kann man dieses Wissen dem Hörer/Leser vermitteln? Wie findet man heraus, welches Wissen der Hörer/Leser schon verfügbar hat - vor der Kommunikation bzw. bei einem bestimmten Stand der Kommunikation? Wie entscheidet man - vor allem am Anfang eines Dialogs/Texts - was eingeführt werden muß und was vorausgesetzt werden kann? Wie kann man das jeweils nötige Wissen an der betreffenden Stelle in der Kommunikation sichern oder aktivieren? In welchem Maß kann sich der Sprecher/Schreiber darauf verlassen, daß der Hörer/Leser notwendige Schlüsse selbst zieht? Wie man an diesen Frageformulierungen sieht, hängt das Problem des Wissensmanagements eng zusammen mit der im letzten Abschnitt behandelten Frage der Strategien für globale Sequenzierung. Obwohl es umfangreiche Forschungen zur Lern- und Wissenspsychologie gibt (vgl. z.B. Mandl/Spada 1988), ist die systematische Untersuchung von unterschiedlichen kommunikativen Verfahren des Wissensaufbaus weiterhin ein Desiderat der Verständlichkeitsforschung.

3.6

Themen und thematische Zusammenhänge

Als Organisationsprinzip für Dialoge und Texte ist die thematische Sequenzierung komplementär zu den (lokalen und globalen) Sequenzmustern, die in 3.3 und 3.4 behandelt wurden. Ein wichtiger Aspekt des Verstehens besteht darin, daß man die Entwicklung der thematischen Zusammenhänge sieht (vgl. Fritz 1982, 205—223). Dementsprechend stellen sich Verstehensprobleme leicht an jenen Stellen in der Kommunikation ein, an denen die thematischen Zusammenhänge für einen Hörer/ Leser unübersichtlich sind, sei es, weil ihm notwendiges thematisches Wissen fehlt, sei es, weil er die Zuordnung zu einem übergeordneten Thema nicht sieht, sei es, weil er thematische Übergänge oder Themenwechsel nicht wahrgenommen hat. Aus der Perspektive des Sprechers/Schreibers, der verständlich reden/schreiben will, bedeutet das, daß er seines Partners Sichtweise thematischer Zusammenhänge und dessen thematisches Wissen in Rechnung stellen und ggf. thematische Übergänge ausreichend deutlich kennzeichnen muß. Diese Überlegungen werden kaum kontrovers sein, aber in der herrschenden Verständlichkeitsforschung sind differenzierte Untersuchungen zum Themenverstehen noch Mangelware. Es gibt zwar inzwischen eine ganze Reihe von verstehenspsychologischen Arbeiten zur Themenstruktur, zur Themenkontinuität und zum Themenwechsel (z.B. Fletcher 1984; Garrod/Sanford 1983; Lorch et al. 1985), aber das reiche Wissen über Themeneinführung, Themen Wechsel, Themenübergänge („topic shading"), das vor allem in konversationsanalytischen Arbeiten verfügbar ist (z. B. Schegloff/Sacks 1973; Bublitz 1988), muß für die Verständlichkeitsforschung erst noch fruchtbar gemacht werden.

502

4.

R.

Schäflein-Armbruster

Kriterien des Verstehens

Eine wichtige Aufgabe für empirische Verständlichkeitsuntersuchungen, aber auch für unsere alltägliche Praxis, ist es, zu erkennen, nach welchen Kriterien man entscheiden kann, ob jemand eine mündliche Äußerung oder einen Text verstanden hat bzw. wie weit sein Verständnis reicht. Das allgemeinste Kriterium, dessen wir uns im Alltag dauernd bedienen, besteht darin, daß wir die (sprachlichen) Handlungen unserer Kommunikationspartner, die sie im Anschluß an unsere sprachlichen Handlungen machen, nach ihrer Kohärenz beurteilen. Erscheint die Reaktion des Kommunikationspartners passend, unterstellen wir normalerweise Verstehen. Der Prototyp dieses Handlungskriteriums ist die Befolgung einer Aufforderung. Nach diesem Kriterium entscheiden wir ζ. B. manchmal die schwierige Frage, ob ein Kleinkind uns verstanden hat oder nicht. Wenn das Kind der Aufforderung folgt, nehmen wir im allgemeinen an, daß es die Äußerung verstanden hat. Aber unfehlbar ist dieses Kriterium nicht. Möglicherweise handelt das Kind aus eigenem Impuls und nicht, weil es unsere Aufforderung verstanden hat. Diese prinzipielle Offenheit ist eine Eigenart aller Kriterien für Verstehen. Das Lieblingskriterium vieler Verstehenspsychologen ist die Behaltensleistung. Diese kann man relativ problemlos erheben, nachdem jemand einen Text gelesen hat. Und je mehr er/sie behalten hat und wiedergeben kann, desto besser hat er/sie den Text verstanden. Leider ist jedoch das Behaltenskriterium einerseits zu stark und andrerseits zu schwach. Es ist zu stark, weil man sehr wohl einen Text verstanden haben kann, auch wenn man Schwierigkeiten hat, ihn wiederzugeben. Und es ist zu schwach, weil man ganze Textteile papageienhaft wiedergeben kann, ohne sie adäquat verstanden zu haben. Man sieht, daß vor allem die Frage der Tiefe oder Reichweite des Verständnisses durch Behaltenstests nicht zu entscheiden ist. Da kein Kriterium narrensicher ist, wird man also versuchen, verschiedene, und zwar jeweils die aussichtsreichsten Kriterien anzuwenden, ζ. Β. : (i) (ii) (iii) (iv) (v) (vi)

die Fähigkeit, eine Anweisung auszuführen, die Fähigkeit, einen Text sinnvoll fortzusetzen, die Fähigkeit, Widersprüche aufzuzeigen, die Fähigkeit, eine fehlerhafte Anweisung zu korrigieren, die Fähigkeit, eine Zusammenfassung zu geben, die Fähigkeit, eine gegebene Zusammenfassung als richtig oder falsch zu erkennen, (vii) die Fähigkeit, das Thema der Äußerung/des Texts anzugeben, (viii) die Fähigkeit, eine Paraphrase in eigenen Worten zu geben. Jedes dieser Kriterien bezieht sich auf bestimmte Aspekte des Verstehens, und in bezug auf diese Aspekte kann es ein gutes Werkzeug der Beurteilung des Verstehens sein (vgl. auch Heringer 1983). Hier ist es notwendig, ein Know-how zu entwickeln, welche Kriterien in welchen Zusammenhängen besonders zuverlässig sind.

24. Dialoganalyse und Verständlichkeit 5.

503

Dialoganalytische Verständlichkeitsuntersuchungen

In den vergangenen Jahren wurde von linguistischer Seite vor allem an einem tragfähigen begrifflichen und analytischen Instrumentarium für Verständlichkeitsfragen gearbeitet. Die Erprobung dieses Instrumentariums durch praktische Anwendung auf ausgewählte Dialogformen und Textsorten steht noch in den Anfängen. Empirische Untersuchungen dienen als Korrektiv theoretischer Analysen und führen zur Erweiterung der Theoriebausteine; sie sind ein wesentlicher Schritt auf dem Weg zu einer allgemeinen Theorie der Verständlichkeit. Erwünschte Nebeneffekte sind Hinweise zur Verbesserung einzelner Texte oder Textsorten für bestimmte Adressaten und Einsichten für eine dialoganalytisch fundierte Schreiblehre. Die Aufgaben der dialoganalytischen Verständlichkeitsforschung wurden in Abschnitt 1 genannt. Für empirische Verständlichkeitsuntersuchungen lassen sich zusammenfassend folgende Ziele formulieren: 1. Erprobung einer Typologie von Problemen/Problemursachen in bezug auf bestimmte Kommunikationsformen bzw. Textsorten. 2. Erprobung und Erweiterung des Arsenals von Kriterien der Verständlichkeit bzw. von Indikatoren für Verstehensprobleme. 3. Klärung des Zusammenhangs zwischen Verstehensproblemen, ihren Indikatoren und ihren Ursachen. 4. Überprüfung analytisch gewonnener Hypothesen und empirische Untersuchung der Wirkung einzelner Faktoren als Problemursachen und des Zusammenwirkens dieser Faktoren. Die Forderung, den Zustand weitgehender Empirielosigkeit in der linguistischen Verständlichkeitsforschung zu beenden und durch Untersuchungen „in der rauhen Luft des Feldes" zu ergänzen, ist nicht neu (vgl. Heringer 1979, 275) und kaum umstritten (vgl. Krings 1992,50). Empirische Verfahren können jedoch nur dann überzeugen und mit den analytischen Ergebnissen verknüpft werden, wenn die Qualitätsmerkmale dieser Untersuchungen auf der Basis dialoganalytischer Theorie und Methodik entwikkelt wurden.

5.1

Grundlegende Forderungen für dialoganalytische Verständlichkeitsuntersuchungen

In vier Punkten werden die in Abschnitt 1 bis 4 erörterten Bausteine dialoganalytischer Theorie wieder aufgenommen, die Konsequenzen für das dialoganalytische Untersuchungsdesign genannt und partiell von traditionellen (zumeist psychologischen) Verfahren abgegrenzt: (i) Berücksichtigung der Wissens- und Könnensvoraussetzungen und ökologische Validität, (ii) differenzierte Sicht des Prinzips der Verständlichkeit, (iii) Berücksichtigung der Vielfalt der Problemursachen, (iv) Nutzung der Kriterien· und Indikatorenvielfalt.

504

R.

Schäflein-Armbruster

(i) Berücksichtigung von Wissens- und Könnensvoraussetzungen und ökologische Validität: Erster und zentraler Schritt jeder Analyse und Untersuchung der Verständlichkeit muß die Beschreibung des Wissens, der Fähigkeiten, der Annahmen und Ziele der Adressaten sein. Kein Aspekt der Verständlichkeit kann unabhängig von diesen omnipräsenten Faktoren behandelt werden, welche die Zielgruppe(n) definieren und intern nochmals gliedern. Nur Datenerhebungen, die mit typischen Hörern/Lesern aus der Zielgruppe arbeiten, lassen gültige Ergebnisse erwarten. Die Verfahren zur Unterscheidung und Auswahl der Testpersonen sind entscheidend. Gängige Verfahren zur Zielgruppenanalyse lassen sich mit dialoganalytischen Beschreibungsverfahren präzisieren und konkretisieren, u.a. durch die Ermittlung, welche sprachlichen und bildlichen Mittel bestimmte Adressatengruppen benötigen, um auf Gegenstände bezugnehmen zu können. Auf dem Hintergrund referenztheoretischer Einsichten lassen sich hier differenzierte Vorgehensweisen entwickeln. Ein anderes Verfahren, Zielgruppen abzugrenzen, wurde an Gebrauchsanleitungen und Software-Handbüchern an der Universität Tübingen erprobt. Hierbei wurden Zerlegungsgrade für Beschreibungen von komplexen Handlungen unterschieden und die gradspezifische Komprimierungsmöglichkeit den Adressatengruppen als Unterscheidungsmerkmal zugewiesen (vgl. Schäflein-Armbruster, in Vorb.). Ein Beispiel macht diese Zerlegungstechnik deutlich. PC-Anwender, die mit graphischen Benutzeroberflächen vertraut sind, werden in der Regel keine Probleme haben, der Aufforderung (1) zu folgen: (1) Verschieben sie das gerade geöffnete Fenster. Für PC-Einsteiger oder für Anwender, die graphische Oberflächen und die Handhabung der Maus nicht kennen, muß die komplexe Handlung des ,Fenster-Verschiebens' in kleinere, ausführbare Teilschritte zerlegt werden. Schematisch zerlegt könnte die Aufforderung lauten: (2) Verschieben sie das gerade geöffnete Fenster, indem sie: (a) Die Maus so bewegen, daß der aktive Punkt des Cursors in der Titelleiste liegt und dann (b) die Taste der Maus drücken und gedrückt halten und dann (c) die Maus so bewegen, daß der Cursor an die gewünschte Stelle kommt und dann (d) die Taste der Maus wieder loslassen. Die in (2) angegebene Zerlegung erreicht noch nicht die Ebene der sog. Basishandlungen (vgl. Heringer 1974). Zwischen der nicht zerlegten komplexen Handlung (1) und der mit (2) angegebenen Zerlegung sind mehrere Abstufungen möglich. Man kann Zielgruppen nach spezifischen Wissens- und Könnensvoraussetzungen unterscheiden, indem man sie bestimmten Zerlegungsstufen zuordnet. Entsprechend kann man für den Verlauf einer Kommunikation oder für die Arbeit mit einem Text bestimmen, wo der Grad an Explizitheit - angepaßt an die wachsende Kompetenz - reduziert werden kann. Während diese Verfahren dialoganalytische Spezifika sind, treffen sich Dialoganalyse und neuere Ansätze aus dem Bereich der psychologischen Testtheorie in ihrer Forderung nach ökologischer Validität. Das Untersuchungsdesign darf die natürlichen Zugmöglichkeiten nicht einschränken und die Untersuchung muß die natürlichen

24. Dialoganalyse

und

Verständlichkeit

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Bedingungen so weit wie möglich abbilden. Seit etwa zehn Jahren ist ökologische Validität zunehmend in die Reihe der klassischen Test-Gütekriterien aufgerückt (vgl. Grubitzsch/Rexelius 1983; zu den traditionellen Gütekriterien vgl. Lienert 1969). (ii) Differenzierte Sicht des Prinzips der Verständlichkeit: Das kommunikative Prinzip der Verständlichkeit kann nicht unabhängig von Dialogform oder Textsorte betrachtet werden, und es steht in Wechselwirkung und Konkurrenz mit anderen Prinzipien. Um die Bausteine dialoganalytischer Verständlichkeitsforschung zu erproben und weiter zu entwickeln, bieten sich Untersuchungen mit Textsorten oder Dialogformen an, bei denen die Verständlichkeitsmaxime als Leitmaxime gelten kann. Dabei darf die Konzentration auf Fragen der Verständlichkeit nicht zur Ausgrenzung weiterer kommunikativer Prinzipien führen. Für Gebrauchstexte beispielsweise ist Verständlichkeit ein sehr hochrangiges Prinzip, das aber im weiteren Rahmen der Brauchbarkeit behandelt werden muß. Zur Brauchbarkeit zählen u.a. sachliche Richtigkeit, Vollständigkeit, Handhabbarkeit, Fragen der Akzeptanz und Motivation. (iii) Berücksichtigung der Vielfalt der Problemursachen: Ein Kernpunkt dialoganalytischer Verständlichkeitstheorie ist die These, daß prinzipiell alle Aspekte kommunikativer Handlungen Ausgangspunkte von Verstehensproblemen sein können. In den Abschnitten3.1 bis 3.6 wurden aspektgeleitet die wichtigsten Typen von Verstehensproblemen entwickelt. Die Einsicht in Vielfalt und enge Verzahnung der Ursachen von Verstehensproblemen läßt prinzipiell zwei Reaktionen zu: eine weitgehende Reduktion aus forschungsstrategischen Gründen oder die Suche nach Verfahren, mit dem natürlichen Spektrum umzugehen. Um bessere Vergleichbarkeit zu gewährleisten, greifen psychologische Untersuchungen häufig eine oder wenige Problemursachen heraus (exemplarisch am Beispiel von Instruktionstexten: Charney/Reder/Wells 1988). Diese Reduktion erlaubt saubere statistische Resultate. Statistisch tadellose Rechenoperationen allein sind jedoch noch nicht befriedigend, wenn Vergleichbarkeit und Quantifizierbarkeit durch die Reduktion auf nur einen oder wenige verstehensrelevante Faktoren ermöglicht wird. Sobald man konkrete Kommunikationen oder Texte untersucht und sich um die differenzierte Beschreibung einzelner Problemstellen bemüht, macht man die bemerkenswerte Erfahrung, daß die Vielfalt der Verstehensprobleme weit stärker zu wuchern scheint, als es die überschaubare Typologie erwarten ließ. Die theoriegeleitete Zuordnung einzelner Problemstellen zu den Aspekten des Verstehens und die Analyse der Zusammenhänge zwischen einzelnen Verstehensaspekten dient in dieser Lage der Systematisierung und Überschaubarkeit. Ein wichtiger Schritt in einer dialoganalytischen Verständlichkeitsuntersuchung ist das aspektgeleitete Erstellen einer Liste der potentiellen Problemursachen. Diese Liste umfaßt alle Aspekte kommunikativer Handlungen (vgl. Abschn.3); angepaßt an die Textsorte oder Kommunikationsform muß sie in bestimmten Problembereichen besonders differenziert ausgearbeitet werden. (iv) Nutzung der Kriterien- und Indikatorenvielfalt: Um sicherer entscheiden zu können, ob jemand verstanden hat, und um zwischen verschiedenen Graden des Verstehens differenzieren zu können, wurde in Abschnitt 4 eine erweiterte Liste von

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Schäflein-Armbruster

Kriterien des Verstehens vorgestellt. Obwohl diese Kriterienliste nicht den Anspruch auf Vollständigkeit erhebt, ist sie weit größer als das Repertoire, das in den meisten Verständlichkeitsuntersuchungen eingesetzt wird. Mit der Zahl der Kriterien wachsen auch Zahl und Anforderungen an die Indikatoren, anhand derer entschieden wird, ob bestimmte Kriterien erfüllt sind. Wie gut sich einzelne Dialogformen oder Textsorten durch empirische Untersuchungen erschließen lassen, hängt wesentlich davon ab, welche Indikatorentypen (vgl. Abschnitt 5.4) innerhalb eines ökologisch validen Untersuchungsdesigns zugänglich gemacht werden können. Für die Wahl und Kombination der Methoden dialoganalytischer Verständlichkeitsuntersuchungen sind Indikatorenvielfalt und -Spezifik wesentliche Qualitätskriterien. Die größere Vielfalt von Kriterien bzw. von Indikatoren ist zweifellos ein methodisches Problem, aber sie eröffnet die Chance, Problemstellen präziser zu lokalisieren und differenzierter den Problemtypen zuzuordnen. Das Setting der Untersuchungen muß so eingerichtet sein, daß die Indikatoren möglichst vollständig registriert und für die Auswertung dokumentiert werden können.

5.2

Die Wahl eines exemplarischen Untersuchungsgegenstands

Jede empirische Untersuchung, auch wenn sie sich als Beitrag zu einer allgemeinen Theorie des Verstehens und der Verständlichkeit begreift, stimmt das Untersuchungsdesign auf den Gegenstand und die spezifischen Ziele ab. Universalverfahren gibt es nicht. Bereits die Vorauswahl der Bausteine für ein kombiniertes Untersuchungsdesign ist bis zu einem gewissen Grad geprägt von der Ausrichtung auf eine spezifische Textsorte oder Dialogform. So bilden Gebrauchsanleitungen seit Jahren ein paradigmatisches Untersuchungsgebiet der Verständlichkeitsforschung, weil hier dem Verständlichkeitsforscher mit dem Handlungskriterium gut beobachtbare und harte Indikatoren für Verstehensprobleme zur Verfügung stehen (vgl. Heringer 1979, 265f.; Grosse/Mentrup 1982; Hoffmann 1983 und 1984). Eine Arbeitsgruppe an der Universität Tübingen entwickelt und erprobt seit einigen Jahren dialoganalytische Untersuchungsdesigns für sog. technische Dokumentationen. Ähnliche Untersuchungen werden an der Universität Hildesheim durchgeführt (Krings 1991). Das Spektrum dieser Textsorte reicht von der Zusammenbau-Anleitung für Kleingeräte bis zur vielbändigen Handbuch-Familie für komplexe (Software-)Systeme oder Anlagen. Einführende Literatur zur technischen Dokumentation: Price (1984); Rupietta (1987); Hoffmann/ Schlummer (1990); Bock (1990); Kösler (1990); Weiss (1991). Leitend für die Wahl dieses Untersuchungsgegenstands waren unter anderem folgende Faktoren: die Kompetenzvoraussetzungen der Adressaten lassen sich analytisch und mit Hilfe von Voruntersuchungen klar bestimmen, und die Ziele der Leser und die Verwendungssituationen sind vergleichsweise homogen. Für technische Dokumentationen ist es angemessen, Verständlichkeit als leitendes Prinzip zu bestimmen, die Befolgung dieses Prinzips wird von den Adressaten der Texte besonders häufig eingeklagt. Die Autoren technischer Dokumentationen, sog. Technische Redakteure, bilden einen eigenen Berufsstand mit wachsender Bedeutung; sie erwarten fundiertere Grundlagen und eine

24. Dialoganalyse und Verständlichkeit

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Erweiterung ihres Know-hows aus den Wissenschaften. Bei umfangreicheren technischen Dokumentationen bietet sich dem Verständlichkeitsforscher die ganze Vielfalt und Verzahnung der Problemursachen. Handlungs- und Sequenzmuster variieren und die Nutzungssituationen verändern sich, so daß der Einfluß verständlichkeitsrelevanter Faktoren in funktional unterschiedlichen Teilen und in Wechselwirkung mit der wachsenden Kompetenz der Leser beobachtet werden kann. Die vorliegende Darstellung konzentriert sich auf die spezifischen Textsorten und Nutzungsbedingungen im Bereich der technischen Dokumentation. Es steht jedoch außer Zweifel, daß sich viele der hier behandelten Fragen zur Untersuchungsmethode bei anderen Textsorten und Kommunikationsformen in ähnlicher Weise stellen.

5.3

Untersuchungsdesign: Methoden und Komponenten

In Abschnitt 5.1 wurden die grundlegenden Forderungen für ein dialoganalytisches Untersuchungsdesign aus den Theoriebausteinen abgeleitet. Daraus resultiert ein Forderungskatalog, der nicht immer problemlos, schnell und in Übereinstimmung mit allen traditionellen Gütekriterien psychologischer und sozialwissenschaftlicher Forschung berücksichtigt werden kann. Dialoganalytische Verständlichkeitsforschung ist qualitative Problemursachen-Forschung, und das Ziel, verfeinerte Beschreibungs- und Diagnoseverfahren bereitzustellen, kann nur erreicht werden, wenn sich die Untersuchungsverfahren nicht von vornherein an leichter Durchführbarkeit, Wiederholbarkeit und Generalisierbarkeit orientieren. Weder die begriffliche Arbeit noch die empirischen Verfahren haben in irgendeiner Disziplin den Stand erreicht, daß es „vor allem" um „einen optimalen Weg zwischen Präzision und Ökonomie" gehen könnte (Groeben 1982,7). Alle Versuche, radikal zu vereinfachen und operationalisierbare Faktoren zu isolieren, haben sich bisher als wenig tragfähig erwiesen. Besonders deutlich wird dies am Beispiel der Verständlichkeitsformeln, jedoch sind unter diagnostischem Aspekt auch jene Verfahren unergiebig, die ausschließlich die Lese- und Bearbeitungsdauer, die Anzahl wiedergegebener Propositionen u. ä. als Verständlichkeitsindikatoren verwenden. Ökonomieüberlegungen sollten sich nicht ausschließlich am Aufwand der einzelnen Untersuchung orientieren, sondern den Differenzierungsgrad und die Übertragbarkeit der Ergebnisse auf Textsorten oder Dialogformen vergleichbaren Typs berücksichtigen. Die Diskussion und Erprobung, welche Verfahren mit Gewinn kombiniert werden können, steht erst am Anfang. Hier wäre eine konstruktive Zusammenarbeit u. a. von Psychologie, Psycholinguistik und Sprachwissenschaft besonders wünschenswert. Eine auf den ersten Blick verwirrende Menge häufig konkurrierender Untersuchungsverfahren wurden in den Sozialwissenschaften und in der Psychologie entwickelt. Übersicht über die wichtigsten Verfahren bieten für die Sozialwissenschaften: Friedrichs (1990), Zimmermann (1972); aus psychologischer Perspektive: Groeben (1982, 57-89), Rickheit/Strohner 1985, Ballstaedt/Mandl 1982 und 1988; aus sprachwissenschaftlicher Sicht: Heringer (1979,264ff.), Schumacher/Waller (1985). Um die Verfahren, die in Verständlichkeitsuntersuchungen eingesetzt werden können, grob zu unter-

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Schäflein-Armbruster

teilen, wurden mehrere Systematiken vorgeschlagen. Schumacher/Waller (1985) grenzen „outcome measures" von „process measures" ab, ganz ähnlich klassifizieren Ballstaedt/Mandl (1988), die „post comprehension" und „on-line comprehension" unterscheiden. Zu den in Verständlichkeitsuntersuchungen häufig eingesetzten Methoden zählen die Messung der Lese- und Bearbeitungsdauer, Einsetz- und Ergänzungsverfahren (cloze procedure) und Verfahren, die Behaltensleistung und Wiedererkennen prüfen. Diese „recognition" und „recall procedures" werden von Propositionstheoretikern favorisiert. Rating-Verfahren, das sind Methoden, um die Einschätzung durch Experten und/oder Sprachteilhaber zu skalieren, sind Bestandteil vieler psychologischer Untersuchungen. Populär wurden diese Verfahren durch das Hamburger Modell (Langer/Schulz von Thun/Tausch 1981). Die Registrierung von Augenbewegungen ist durch verbesserte technische Möglichkeiten in den letzten Jahren attraktiver geworden. Für einige Fragen, u.a. um zu prüfen, ob und wie intensiv bestimmte Textteile oder Bilder genutzt werden, bietet diese Möglichkeit aufschlußreiche Zusatzinformationen (Winterhoff 1980; Schumacher/Waller 1985, 389-395). Bei der Untersuchung von Software-Handbüchern sind unterstützende Verfahren zur Datensammlung wünschenswert, um die Tastatureingaben in Protokolldateien zu speichern. Bock (1990, 152) bedauert das Fehlen dieses sog. „keyboard logging", Klings (1991, 44) berichtet von der Erprobung eines solchen Systems. Verfahren, die sich zur experimentellen Prüfung von Bedienungsanleitungen eignen und die streng an den traditionellen Testgütekriterien psychologischer Forschung orientiert sind, beschreibt Brendl (1992). Diese Verfahren arbeiten mit Experimentalund Kontrollgruppen unter situativ gleichen Bedingungen, fordern die Kontrolle von Störfaktoren, statistische Signifikanz etc. Dies sind gesicherte Qualitätskriterien experimenteller Methoden, die für bestimmte Zwecke ohne Einschränkung gültig sind. Wenn es jedoch darum geht, Problemstellen punktgenau zu lokalisieren und die leserund textseitige Vielfalt der Problemursachen in deren komplexen Zusammenhängen zu erfassen, so kann dieses Ziel nur durch Kombination und Abstimmung von Komponenten aus unterschiedlichen Untersuchungsverfahren erreicht werden. Diese Einschätzung teilen Verständlichkeitsforscher vieler Richtungen (vgl. Ballstaedt/Mandl 1988, 1049), und einige sehen klar, daß der verschärfte Problemzugriff und die geforderten heuristischen Methoden in Teilbereichen Abstriche an den klassischen Qualitätsprinzipien psychologischer Forschung erforderlich machen (vgl. Fritz 1991,18). Aus dialoganalytischer Sicht besonders erfolgversprechend - und in der aktuellen Diskussion vieldiskutiert - sind kommunikative Methoden. Hierunter fallen Fragetechniken und Intensivgespräche (Graesser/Robertson/Clark 1983; Muckenhaupt 1986, 280) sowie verschiedene Interviewtechniken (Erbslöh 1972). Weitere kommunikative Online-Verfahren, die besonders reichhaltige Indikatoren liefern, sind das ,laute Lesen' und Protokolle ,lauten Denkens' (thinking aloud protocols). Besonders das sog. ,laute Denken' ist kontrovers diskutiert worden (Nisbett/Wilson 1977; Anderson/Reder 1979; Ericsson/Simon 1980; Waern 1980; Ballstaedt/Mandl 1988, 1044f. fassen die Diskussionen zusammen). 'Bei dieser Methode äußern die Probanden frei, was ihnen beim Lesen oder Bearbeiten eines Textes in den Sinn kommt. Ein zentraler

24. Dialoganalyse

und

Verständlichkeit

509

Einwand gegen diese Methode aus psychologischer Sicht ist, daß nur die „Spitze eines Eisberges" sichtbar wird und die eigentlichen Denkprozesse nur mangelhaft abgebildet werden. Auch wenn dies unter kognitionswissenschaftlicher Zielsetzung als besonders kritischer Punkt erscheint, bleibt das Verfahren für die dialoganalytische Verständlichkeitsforschung wertvoll. Die begleitenden Kommentare der Probanden liefern reichhaltige und vor allem sehr spezifische Indikatoren für erfolgreiches Verstehen und Verstehensprobleme, und sie geben Hinweise auf die Problemlösestrategien der Leser. Die Suche nach einem Untersuchungsdesign, das erprobte Verfahren und weiterentwickelte Methoden kombiniert, erweist sich als notwendig aufgrund von zwei Grundgedanken. Erstens sollte das Phänomen .Verständlichkeit' mit Blick auf das Zusammenspiel möglichst vieler verstehensrelevanter Faktoren untersucht werden, und zweitens kann die Wirkung einzelner und das Zusammenspiel aller Faktoren am besten unter natürlichen Kommunikations- bzw. Nutzungsbedingungen untersucht werden. Das Ziel der Überlegungen zur Untersuchungsmethode ist nicht primär ein schematisiertes und hochgradig standardisierbares Verfahren. Vielmehr geht es zunächst darum, Kriterien bereitzustellen, anhand derer die Leistungsfähigkeit und Kompatibilität der möglichen Bausteine für Untersuchungen (z.B. Textanalyse, Adressatenanalyse, Auswertung begleitender Kommentare etc.) in unterschiedlichen Konstellationen und mit unterschiedlichen Zielsetzungen beurteilt werden können. Kommunikative Methoden bilden die zentralen Bausteine in den Untersuchungen der erwähnten Tübinger Arbeitsgruppe. Mehrere Varianten des lauten Lesens und des begleitenden Kommentars wurden in einer Reihe von Untersuchungen von SoftwareHandbüchern sowie von Montage- und Bedienungsanleitungen erprobt und weiterentwickelt. Dabei erwiesen sich zwei Varianten als besonders aufschlußreich. Variante 1 arbeitet mit einem Untersuchungsleiter, der als zurückhaltender Dialogpartner und freundlicher Helfer' bei der Benutzung der Anleitungen oder Handbücher agiert. Er kann an entscheidenden Stellen kontrollierte Fragen stellen oder Kurzdialoge führen. Variante 2 ist nicht für alle Untersuchungsaufgaben brauchbar, sichert jedoch einen hohen Grad ökologischer Validität bei hoher Informationsdichte. Zwei Versuchspersonen arbeiten gemeinsam mit Handbuch und Gerät, bei Verstehensproblemen deuten sie die problematische Stelle und tragen zur Lösung des Problems bei. Die natürliche dialogische Situation macht Eingriffe des Versuchsleiters über weite Strecken überflüssig. Damit sind wesentliche Forderungen dialoganalytischer Verständlichkeitsforschung erfüllt, es stellt sich aber verschärft die Frage, wie die Vielfalt der Untersuchungsdaten dokumentiert, strukturiert und ausgewertet werden kann. In den bisher durchgeführten Tübinger Untersuchungen hat sich die Unterscheidung von 3 Untersuchungsabschnitten bewährt (vgl. Schäflein-Armbruster (in Vorb.)): 1. Eine vorbereitende Makro- und Mikroanalyse der Texte oder Kommunikationen mit Hilfe der erwähnten textsortenspezifischen Problemtypologie. Die Analyseergebnisse werden im sog. Problem-Leitfaden dokumentiert, in dem die potentiellen Problemstellen markiert, typologisch zugeordnet und kurz beschrieben werden. 2. Eine Untersuchung mit Versuchspersonen aus der Zielgruppe, bei der die Elemente des Untersuchungsdesigns den Zielen dialoganalytischer Verständlichkeitsfor-

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R. Schäflein-Armbruster

schung angepaßt sind. Dazu zählen u.a. halbstandardisierte Interviews vor und nach der Beobachtung sowie die erwähnten offenen dialogischen Elemente. Bei mehr als fünf Versuchspersonen können statistische Begleiterhebungen die spätere Auswertung unterstützen. Die statistischen Daten können bei umfangreichen Aufzeichnungen den Blick auf zentrale Problemstellen lenken. Videoaufzeichnungen, meist mit zwei Kameras, sind in jedem Fall notwendig. 3. Eine Auswertung der Untersuchung, bei der die Ergebnisse der Voranalyse mit den empirisch gewonnenen Einsichten in Beziehung gesetzt werden. Abhängig von den Zielen kann sich die Auswertung auf einzelne Problemtypen konzentrieren, die Lupe auf besonders interessante Problemstellen richten oder prüfen, wie sich unterschiedliche Wissens- und Könnensvoraussetzungen auf die Reichweite des Verständnisses auswirken. Wie schon erwähnt, ist es ein grundlegendes Problem derartiger Untersuchungen, wie die Vielfalt der Untersuchungsdaten kontrolliert werden kann. Wichtige Maßnahmen, um dieses Ziel zu erreichen, sind : (i) die Konzentration auf eine Dialogform oder einen Texttyp, (ii) Makro- und Mikroanalyse zur Vorbereitung der Untersuchung mit den Versuchspersonen, (iii) gezielte Auswahl einer überschaubaren Anzahl von Versuchspersonen (vgl. Brendl 1992, 5/253), (iv) gezielte und wieder zugängliche Datendokumentation (vgl. Krings 1992, 61—64). Das zentrale Instrument jedoch, um die zunächst verwirrende Fülle von Untersuchungsdaten überschaubar zu machen und den Blick auf die relevantesten Problemstellen und Problemursachen zu lenken, ist die aspektgeleitete Problemtypologie, deren Grundzüge in den Abschnitten 3.1 bis 3.6 vorgestellt wurden. Die hier entfaltete aspektorientierte Betrachtung kategorisiert potentielle Problemursachen. Die textsortenspezifische Ausarbeitung der Problemtypologie verknüpft die Verstehensprobleme mit den sprachlichen und bildlichen Mitteln, die in dieser Textsorte besonders häufige oder besonders relevante Problemursachen sein können. Indem die Typologie die Probleme und Problemursachen analytisch trennt, die in natürlichen Kommunikationssituationen eng verflochten sind, bildet sie den roten Faden der Untersuchung, schärft das Auge des Beobachters und strukturiert die Auswertung. Damit ist deutlich, daß in der hier dargestellten Konzeption der Stellenwert von Text- und Kommunikationsanalyse wesentlich höher anzusetzen ist als in sonstigen empirischen Untersuchungen. Trotz dieses theoretischen Netzes, mit dessen Hilfe Problemschwerpunkte sehr schnell sichtbar werden und die Übersicht über Zusammenhänge zwischen Problemtypen gefördert wird, ist die genaue Deutung der Untersuchungsdaten zeitintensiv, und sie erfordert geschulte Auswerter. Abschließend noch einige Hinweise auf neuere Literatur zu verwandten methodischen Fragen: Sullivan/Chapanis (1983) und Bock (1990, 141-194) bieten Orientierung, wie komplexe Untersuchungen der Verständlichkeit und Brauchbarkeit von Handbüchern abschnittsweise organisiert und ausgewertet werden können. Diese Untersuchungen stützen sich jedoch nicht auf eine ausgewiesene Typologie von Verstehensproblemen. Für eine in Krings (1991, 44) angekündigte „Typologie von Verständnisproblemen und ihrer Ursachen" liegt noch kein abschließender Bericht vor.

24. Dialoganalyse und Verständlichkeit

5.4

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Verstehensprobleme, ihre Indikatoren und Ursachen

Bei der Auswertung des Datenmaterials, das in den erwähnten dialogischen Untersuchungsverfahren entsteht, stellt sich eine grundlegende methodische Aufgabe, nämlich die kontrollierte Rekonstruktion der Zusammenhänge zwischen bestimmten Indikatoren für Verstehensprobleme, den von diesen Indikatoren angezeigten Problemen selbst und den Ursachen für diese Probleme. Diese methodische Aufgabe ist umso schwieriger, je größer das Spektrum von Indikatoren, Problemen und Ursachen ist, die man berücksichtigen will. D . h . die programmatische Forderung nach Vielfalt der Problemtypen, Indikatoren und Ursachen bringt es zwangsläufig mit sich, daß diesen Zusammenhängen besondere Aufmerksamkeit gewidmet werden muß. Um diese methodische Problemlage zu verdeutlichen, sollen einige Beispiele angeführt werden. Typische Verstehensprobleme können in folgender Weise formuliert werden. Nachdem der Sprecher/Autor A eine Folge von Äußerungen gemacht hat, kann für den Hörer/Leser Β folgendes gelten: (i) (ii) (iii) (iv) (ν)

Β versteht Β versteht Β versteht Β versteht Β versteht

nicht, wie Satz 1 mit Satz 2 zusammenhängt. nicht, was mit diesem Textstück an dieser Stelle gemeint ist. nicht, was er jetzt machen soll. nicht, wo ein bestimmtes Bedienungselement ist. nicht, welches Bedienungselement er benutzen soll.

Typische Indikatoren für derartige Probleme sind: (i) (ii) (iii)

Β benutzt ein falsches Bedienungselement. Β fragt, was er jetzt machen soll. Β beklagt sich, daß er nicht weiß, was mit diesem Textstück an dieser Stelle gemeint ist. (iv) Β äußert eine Deutung, wie Satz 1 mit Satz 2 zusammenhängen könnte. (ν) Β wiederholt den gerade gelesenen Satz und verwendet dabei steigende Intonation. (vi) Β sucht das betreffende Bedienungselement. (vii) Β blättert im Handbuch zurück. (viii) Β blickt (mehrfach) vom Handbuch zum Bildschirm und zurück. (ix) Β zögert beim Lesen und/oder wiederholt eine gelesene Stelle. (χ)

Β schüttelt den Kopf und/oder runzelt die Stirn.

Man könnte diese Indikatoren versuchsweise in vier Gruppen einteilen: (a) Handlungsindikatoren (z.B. unterschiedliche Arten von falschen Handlungen), (b) kommunikative Indikatoren (z.B. Informations- oder Ratfragen, Deutungen), (c) Problemlöseindikatoren (Blättern, Suchen von Gegenständen), (d) Verhaltensindikatoren (Stirnrunzeln, Zögern). Was die Zuordnung zu bestimmten Problemtypen angeht, unterscheiden sich diese Indikatoren in der Explizitheit und der Spezifik: Die Frage um Rat, was Β jetzt tun soll oder die Äußerung einer Deutung für eine unklare Stelle sind als intentionale Problemäußerungen explizitere Problemindikatoren als das Blättern oder Wiederholen, das Zögern oder Stirnrunzeln. Desgleichen sind sie spezifischer, weil der Bezug zu der Problemstelle unmittelbar ausgedrückt ist. Die expliziten und spezifischen Indikatoren sind besonders wertvoll und zuverlässig, obwohl es vorkom-

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R.

Schäflein-Armbruster

men kann, daß ein Benutzer das eigentliche Problem selbst nicht sieht. Trotzdem sind die weniger expliziten und weniger spezifischen Indikatoren häufig hilfreich als erster Hinweis auf eine Problemzone. So kann z.B. das Zurückblättern ein sehr nützlicher Indikator sein, weil es häufig darauf hinweist, daß der Benutzer eines Textes an der betreffenden Stelle eine Information vermißt, die er zum Verständnis dieser Stelle benötigt, und von der er weiß oder annimmt, daß sie an einer früheren Stelle im Text gegeben wurde. Insgesamt dienen die Indikatoren einerseits zur Entdeckung von Problemstellen und andrerseits als Ausgangspunkt für die Feststellung der problematischen Faktoren bzw. Faktorenkonstellationen. Problemursachen sind Bedingungen, unter denen Verstehen nicht oder nur mit besonderer Bemühung oder Hilfe eintritt. Sie liegen, abhängig vom Ausgangswissen und -können des Probanden, in der Form der Äußerung, in der Wahl bestimmter Arten von Ausdrücken, im Textaufbau bzw. Dialogverlauf und, was damit zusammenhängt, im jeweils aufgebauten Wissen. Eine Ursache dafür, daß Β nicht weiß, was er jetzt machen soll, mag darin liegen, daß ein zentraler Terminus an entfernter oder versteckter Stelle eingeführt wurde oder auch darin, daß nicht explizit gemacht wurde, daß an der betreffenden Stelle eine Beschreibung und nicht eine Handlungsanweisung gegeben werden soll. Oder es wird an der kritischen Stelle eine Passivkonstruktion verwendet, mit der nicht explizit gemacht wird, ob der Benutzer jetzt etwas machen soll oder ob das Gerät jetzt etwas macht. Bei der Auswertung der Untersuchungen hat sich gezeigt, daß es in vielen Fällen gelingt, eine bestimmte Äußerung oder Handlung als Indikator für Probleme zu registrieren. Es ist jedoch weit schwieriger, das Problem mit ausreichender Sicherheit einem einzelnen Faktor oder einer Gruppe von Faktoren zuzuschreiben. Das hat vor allem zwei Gründe : Zunächst sind in vielen Fällen verschiedene potentielle Faktoren gleichzeitig präsent, z.B. eine unbekannte metaphorische Verwendung eines Ausdrucks und fehlendes relevantes Wissen, was uns vor die analytische Aufgabe stellt, herauszufiltern, welcher Faktor oder welches Zusammenspiel von Faktoren das gerade aktuelle Problem verursacht hat. Im Idealfall müßte man Eigenschaften des Textes und die Wissenskonstellationen in einer Weise variieren, die es uns erlauben würde, die einzelnen Faktoren oder das relevante Bündel von Faktoren zu isolieren. Zweitens können bestimmte Indikatoren, wie Zögern, Nochmallesen etc. auf unterschiedliche Faktoren hinweisen, z.B. auf eine komplexe syntaktische Konstruktion oder einen unklaren Zusammenhang zwischen Text und Graphik. Nach unserer Auffassung gibt es keinen mechanisch aufdeckbaren Zusammenhang zwischen Problemursachen und Indikatoren. Ein Indikator ist Indikator immer nur in einem spezifischen Kontext und bedarf der Interpretation. Weitere detaillierte Auswertungen von Untersuchungen anhand eines größeren Korpus würden mit großer Sicherheit Fortschritte auf diesem Gebiet erwarten lassen. Erfolgversprechende Ansätze bieten auch die Arbeiten von Selting (1987a und 1987b). Beim gegenwärtigen Stand der Forschung sind in diesem Bereich der Untersuchungsmethodologie folgende Desiderate vordringlich: die Ausarbeitung und Erpro-

24. Dialoganalyse und Verständlichkeit

513

bung einer Typologie von Indikatoren, die Entwicklung einer Indikatorenhermeneutik und die Systematisierung und Kritik der Zuordnungsmöglichkeiten von Problemen, Problemindikatoren und Problemursachen.

6.

Ergebnisse und Ausblick

Der hier dargestellte dialoganalytische Ansatz hat Aspekte stärker herausgearbeitet, die in der Verständlichkeitsforschung bislang unterschätzt wurden. Dies sind u.a. die Adressatenorientierung von Äußerungen (recipient design of utterances), funktionale Sequenzmuster und strategische Sequenzierungsalternativen. Im illokutionären Bereich, der von Propositionstheoretikern völlig ausgeklammert wird, liegen besonders häufig die Ursachen von Verstehensproblemen. In den bisherigen Untersuchungen hat sich gezeigt, daß den Adressaten ein zureichendes Verständnis der Funktionen von Textteilen oder Bildern oft nicht möglich ist. Selbst die elementare Unterscheidung von handlungsanleitenden und beschreibenden Teilen ist in vielen Texten so unzureichend gesichert, daß die Reaktionen der Versuchspersonen von der lokal begrenzten Unsicherheit bis zur völligen Verwirrung reichen. Einen weiteren Problem-Schwerpunkt bildet der Bereich der Referenz, was teilweise in der Wahl der Untersuchungsgegenstände begründet ist (vgl. Abschn. 5.2). Referentielle Probleme können nur dann exakt lokalisiert und behandelt werden, wenn beispielsweise die Verwendung lokal und temporaldeiktischer Ausdrücke oder die Verwendung graphischer Zeigemittel differenziert beschrieben werden. Zweifellos muß sich der Blick des Analysierenden zunächst auf die typischen Einzelfaktoren für Verstehensprobleme richten. Solche Faktoren sind u.a.: fachsprachliche Termini, fachsprachlich verwendete Metaphern, Komposita oder bestimmte syntaktische Konstruktionen, die in der traditionellen Verständlichkeitsforschung und in der Ratgeberliteratur zumeist unabhängig von anderen Aspekten (wie ζ. B. Sequenzierung) behandelt werden. Diese Analyseperspektive muß aber verbunden sein mit einer Einsicht, die für den Verstehenstheoretiker ebenso wichtig ist wie für den Praktiker: Es sind nicht so sehr die einzelnen Faktoren, die Probleme verursachen, entscheidend ist das Auftreten der Faktoren in bestimmten Kombinationen, an bestimmten kritischen Stellen und unter bestimmten Wissensbedingungen. Heikle Stellen für die erwähnten sprachlichen Handlungen (z.B. Referenz) bzw. für die Verwendung der genannten sprachlichen Mittel sind z.B. einführende Textteile und thematische Übergänge. Für viele Typen von Verstehensproblemen gilt, daß sie nur in ihrer oftmals engen Verflechtung zureichend erfaßt werden können. So können auch lokale und globale Verstehensprobleme oft nicht unabhängig voneinander behandelt werden. (Zur Unterscheidung von „lokal" und „global" vgl. ζ. B. van Dijk/Kintsch 1983, Kap. 5 - 7 ; Selting 1987, 69f. und 169ff.) Entsprechend können lokale und globale verständnissichernde Maßnahmen häufig nur im Zusammenspiel wirksam werden. Verständlichkeitsuntersuchungen unter ökologisch validen Bedingungen eröffnen auch den Zugang zu einem Bereich, der bisher unzureichend systematisch erfaßt ist, nämlich zum Verhalten, zu den Einschätzungen und den Problemlösestrategien der

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R.

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Leser. In den Tübinger Untersuchungen waren wir überrascht von den vielfältigen und teilweise subtilen Deutungszügen der Versuchspersonen. Auf der andren Seite hat sich gezeigt, daß viele Orientierungs- und Verstehenshilfen nicht genutzt werden konnten, wenn die Textsorte den Lesern nur wenig vertraut war. Insgesamt war es bemerkenswert, wie geduldig die Versuchspersonen mit teilweise sehr unzureichenden Texten umgingen. In vielen Fällen schrieben sie ihr mangelhaftes Verständnis fehlender Konzentration oder gar fehlender (technischer) Intelligenz zu; sie verlegten sich auf abwartende Strategien und auf das Prinzip der Nachsicht. In Ergänzung zu den im Laufe des Artikels genannten Desideraten sei abschließend noch ein Forschungsbereich erwähnt, der besonders nützliche Ergebnisse verspricht, nämlich dialoganalytisch fundierte empirische Arbeiten zur Verwendung von Bild und Graphik in ausgewählten Textsorten (Muckenhaupt 1981 und 1986; Bieger/Glock 1984/85 und 1985/86).

7.

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24. Dialoganalyse und

Verständlichkeit

515

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24. Dialoganalyse und

Verständlichkeit

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Tübingen

25. Analyse literarischer Dialoge

1. 2. 2.1 2.2

3. 4.

Abgrenzung des Untersuchungsgegenstandes Verschiedene Methoden und Interessen bei der Analyse literarischer Dialoge Literaturwissenschaftliche Ansätze ohne Einfluß der neueren Dialoglinguistik Dialoganalysen unter dem Einfluß der Sprechhandlungstheorie und anderer pragmalinguistischer Ansätze Analysen des sprachlichen Codes Besonderheiten von Dialogen im epischen Kontext (mit einem Anhang über ältere Sprachstufen) Überlegungen für eine ,ideale' Analyse Literaturhinweise

1.

Abgrenzung des Untersuchungsgegenstandes

2.3 2.4

Die unterschiedliche Verwendung der Termini ,Dialoganalyse' (teils synonym mit, teils abweichend von Gesprächs- oder Konversationsanalyse) und ,Diskursanalyse' (bei deutschsprachigen Literaturwissenschaftlern nicht mit dem alltagssprachlichen Gebrauch von engl, discourse oder frz. discours gleichzusetzen und erst recht kein Äquivalent zur linguistischen »discourse analysis') hat ihre Parallelen in dem ebenfalls facettenreichen Gebrauch des Begriffs literarischer Dialog'. Daher gilt es sowohl im Deutschen wie auch bei fremdsprachlichen Entsprechungen zunächst zu prüfen, was gemeint ist. Literaturwissenschaftliche Dialogbegriffe - etwa für das hermeneutische Textverständnis (vgl. Turk 1975), für die Betonung des dialogischen Charakters jeder Art verbaler Kommunikation (s. Kristeva 1972 zu Bachtin und den russischen Formalisten; zur Vielzahl der literaturwissenschaftlichen Diskurstheorien s. Fohrmann/Müller 1988) - sind abzuheben von einem engeren Verständnis des literarischen Dialogs als Wiedergabe direkter Rede in Werken der dramatischen oder epischen Literatur, wie es diesem Artikel zugrunde liegt. Die Einflüsse des literaturwissenschaftlichen, hermeneutischen und diskursanalytischen Dialog- bzw. Diskursbegriffs sind auch bei neueren literaturwissenschaftlichen Analysen literarischer Dialoge, die mit der linguistischen Dialoganalyse einige Grundannahmen der Sprechakt- und Konversationsanalyse tei-

520

Α. Betten

len, nicht zu unterschätzen. Zu berücksichtigen ist ferner die stark semiotische Ausrichtung von Linguistik und Literaturwissenschaft vor allem in Italien und Frankreich. Falls die vornehmlich an der anglo-amerikanischen Forschung orientierte deutsche Dialoglinguistik sich in Zukunft stärker mit den in der Romania gepflegten Richtungen auseinandersetzen sollte (man vgl. den hohen Anteil derartiger literarischer Dialoganalysen in Stati/Weigand/Hundsnurscher 1991), wären neue interdisziplinäre Impulse denkbar. Im Augenblick jedoch gehen, trotz der mehr oder weniger gründlichen Rezeption der Sprechakttheorie Austins und Searles und der Griceschen Konversationsmaximen in allen Disziplinen, Arbeiten mit ähnlich klingenden Titeln oft völlig getrennte Wege: man vgl. etwa die unter ,Literary discourse' vereinten Beiträge aus kognitiver und sozialpsychologischer Sicht in Halász (1987) mit der Arbeit von Pratt (1977), die denselben Terminus im Titel verwendet und die den Verstoß gegen die Griceschen Maximen zum Grundprinzip der Literatur ( = literary discourse) erhebt, oder die semiotische Verwendung von .discours théâtral' in Reboul/Moeschler (1985), wo die verbalen Dialogbeiträge nur als Teil eines komplexen Zeichensystems gesehen werden, was besonders für den dramatischen Dialog gilt (vgl. Eschbach 1979; BassnettMcGuire 1980). Die Liste ganz unterschiedlicher Ansätze wäre noch lang. Allen gemeinsam ist jedoch die Erkenntnis, daß es sich beim literarischen Dialog im engeren Sinne, also der Figurenrede, um eine sekundäre bzw. zweite Ebene handelt, hinter der als eigentliche Kommunikationsebene die von Autor und Publikum anzusetzen ist. Aufgrund dessen betrachten die einen jede Art von literarischer Kommunikation, unabhängig von Gattung und Form, als grundsätzlich dialogisch, während die anderen das fundamental Monologische auch einer dialogischen Form hervorheben (so Reboul/ Moeschier 1985). Innerhalb der Dialogformen wiederum ist der Status des Monologs umstritten: auf der Ebene der Figurenrede läßt sich fragen, ob Dialog für jede Form der direkten Rede gewählt werden kann, oder im Gegensatz zum Monolog und zum Mehrpersonengespräch, auch Polylog genannt, im wesentlichen als Gesprächswechsel zweier Personen betrachtet wird. Da das griechische Wort jedoch nicht vom Zahlwort ,zwei', sondern von der Präposition dia ,durch' abzuleiten ist, nennen manche, z.B. Kennedy (1983), die Zweierkonstellation des Dialogs ,Duolog', wodurch der Terminus Dialog als Überbegriff eindeutig wäre. Um auch den Monolog unter die Formen des literarischen Dialogs zu subsumieren, werden entweder Argumente auf der Ebene der Figurenrede angeführt (man spricht zu einem imaginären Du) oder aber ein Überspringen der Trennung zwischen den zwei Kommunikationsebenen angenommen, indem die literarische Figur dem eigentlichen Rezipienten direkte Information liefert, die ihm sonst vorenthalten bliebe (besonders im Drama, wo verbale Situationsinformation nur als Figurenrede stattfinden kann: vgl. Zimmer 1982, 23ff.; W.G.Müller 1982). Für die Einbettung von Reden in einen erzählenden Kontext sind ferner in der Geschichte der epischen Gattungen viele Zwischenformen entwickelt worden, deren Abgrenzung sowohl zum rein narrativen Text wie auch zur direkten Rede manchmal schwierig ist (s. Abschn. 2.4). Wenn es auf den ersten Blick so aussieht, als sei daher der dramatische Dialog der am ehesten mit natürlichen' Gesprächen vergleichbare Typus, weil er wie

25. Analyse literarischer Dialoge

521

diese nur aus direkter Rede besteht (so Noguchi 1978, 57), so wird dabei nicht berücksichtigt, daß durch die höchst artifiziellen Rahmenbedingungen des Mediums Theater Zwänge zur Kondensierung, Intensivierung und Verdeutlichung entstehen (vgl. Zimmer 1982, 11-13; Betten 1985a, 45f.), die im epischen Kontext durch die Möglichkeit genauer Situationsbeschreibung entfallen. Dadurch aber ist die Wahrscheinlichkeit, gerade in der Figurenrede epischer Werke ein Höchstmaß an Vergleichbarkeit mit Alltagsdialogen vorzufinden, wesentlich größer als beim dramatischen Dialog (s. Abschn.2.4). Die hinter diesen Überlegungen stehende Prämisse, den vollkommensten' literarischen Dialog stelle deijenige dar, der dem spontanen, natürlichen am nächsten komme, ist aus literarischer Perspektive allerdings unhaltbar. ,Wirklichkeitstreue' gilt in der Literaturgeschichte nur wenigen, allerdings immer wiederkehrenden Strömungen als Darstellungsprinzip, und auch das mit großen Einschränkungen. Daneben finden sich stets andere, rhetorische, poetische, experimentelle, verfremdende Stile, auch im Dialog. Ferner sind historische Veränderungen der epischen und dialogischen Stile mit einzubeziehen, wobei sich das Verhältnis von Natürlichkeit und Stilisierung der jeweiligen Textpartien verschieben kann (s. Abschn. 2.4). Und schließlich bleibt zu klären, was den Stil eines Dialogs eigentlich ausmacht: Seine sprachliche Gestaltung, auch Code genannt, oder/und seine Struktur in Hinblick auf gesprächsstrategische, interaktionelle Muster. Ich plädiere nachdrücklich dafür, in der Dialoganalyse beide, die sog. (sprachliche) Mikroebene und die (gesprächsstrukturelle) Makroebene zu berücksichtigen (s. Abschn. 3). Dabei kann sich allerdings zeigen, daß im simulierten' literarischen Dialog auf den beiden Ebenen unterschiedliche Annäherungen an die ,Wirklichkeit' vorgenommen sind. Im Vergleich zur Alltagskommunikation werden die Sprecherstrategien und Gesprächszüge auf der Makroebene gewöhnlich für ,echter', wenngleich markanter und gezielter gehalten als die sprachliche Dialoggestaltung mit ihrer Vielfalt von Stilisierangsmöglichkeiten. In den folgenden Abschnitten soll die Behandlung dieser und weiterer Gesichtspunkte in den verschiedenen Forschungsrichtungen vorgestellt werden. Da mir als ideale Analysemethode für literarische Dialoge nicht nur eine Kombination mikround makrostruktureller Gesprächsmerkmale, sondern auch eine Zusammenführung linguistischer und literaturwissenschaftlicher Ansätze erstrebenswert erscheint (s. Abschn. 3), beginne ich mit einem Überblick über literaturwissenschaftliche Dialogforschungen im engeren, auf die Figurenrede konzentrierten Sinne.

522

Α.

Betten

2.

Verschiedene Methoden und Interessen bei der Analyse literarischer Dialoge

2.1

Literaturwissenschaftliche Ansätze ohne Einfluß der neueren Dialoglinguistik

In den Literaturwissenschaften gibt es naturgemäß eine lange Tradition von Dialoguntersuchungen. Szondi (1956, 14f.) sieht die wachsende Bedeutung des Dialogs im Drama seit der Renaissance dadurch begründet, daß der Dialog das „sprachliche Medium" der „zwischenmenschlichen Welt" ist; dementsprechend konzentrierte sich das analytische Interesse speziell am dramatischen Dialog vor allem auf die psychologischen und weltanschaulichen Erkenntnisse, die durch ihn vermittelt werden. Erst seit den 60er Jahren rückten die Dialogführung selbst und die sprachliche Gestaltung zunehmend in den Blickpunkt. Ausnahmen wie Soltau (1933) bestätigen die Regel. Für die deutschsprachige Forschung markiert Krapps (1958) Untersuchung zum .Dialog bei Georg Büchner' den Ausgangspunkt des neuen Interesses. Kuhn (1981, 11) stellt die Entwicklung folgendermaßen dar: Zum ersten Mal wurde hier der Versuch gemacht, Büchner nicht vom Weltanschaulichen, sondern vom Sprachlich-Dialogischen her zu verstehen. Von Büchners ästhetischer Konzeption ausgehend, prüft Krapp nach, wie der [...] realistische Stilwille des Dichters sich im Werk sprachlich manifestiert. Es folgten Studien zur Dialogtechnik und Sprache von Racine (Coenen 1961), Nestroy (Brill 1967; Hillach 1967), Lessing (Droese 1968; Schröder 1972), Brecht (Pohl 1969), Schiller (Berghahn 1970), Horváth (Boelke 1970) sowie übergreifender zum expressionistischen Drama (Sokel 1968), zum Drama des 20. Jahrhunderts (Lucas 1969) und zu Stücken der 50er und 60er Jahre (Hübler 1973). Im wesentlichen werden hier Dialogtypologien erarbeitet, die der Entwicklung der Dialogformen bis in die Moderne gerecht zu werden versuchen, vor allem aufgrund sprachlicher und z.T., wie bei Lucas und Hübler, auch außersprachlicher Mittel. Beobachtungen zur Dialogverknüpfung, zu Rede und Gegenrede, wie bei Coenen und Sokel, knüpfen an die klassische Disputierkunst sowie scholastische Regeln an, unterscheiden z.B. nach Inhalts- und Zeichenbezug (Coenen) und erklären die Dialogführung zum eigentlich Dialogischen, dem sich die sprachliche Form unterordnet bzw. anpaßt (Sokel). Der einflußreichste Versuch dieser Jahre, eine „Phänomenologie des dichterischen Gesprächs" vorzulegen, dürfte Bauers (1969) Ausarbeitung von vier Dialogtypen analog zu Klotz' (1960) Unterscheidung der charakteristischen Formen des geschlossenen und des offenen Dramas sein. Das Einteilungskriterium ist für Bauer (1969, 10) „nicht der Stil der Einzelrede, sondern der Stil des Umgangs miteinander im Reden", um „die Zweiseitigkeit des Vorgangs" zu erfassen. Das geschlossene Drama kennzeichnet die .gebundene' Gesprächsform: ein reflektierter, disziplinierter Austausch zwischen prinzipiell gleichberechtigten Partnern, der sein Muster in der antiken Tragödie habe, bis Schiller als .normale' Dialogform gelte und auch in der Moderne noch als weitestverbreitete, jedoch anachronistische Form, von der man sich bewußt absetzt, betrachtet werde.

25. Analyse literarischer Dialoge

523

Dem offenen Drama entspricht hingegen die offene, impulsive ,konventionssprengende' Gesprächsform seit dem Sturm und Drang, mit Vorformen im ,niedrigen' Stil der antiken Komödie und des mittelalterlichen Schwanke, angenähert an die .natürliche' Rede, meist von naturalistischen oder Realistischen' Stilrichtungen gepflegt, eher elementar, wenig eloquent, „um das fundamentale Sein der Gesprächspartner" (Bauer 1969,15) kreisend. Bauer sieht diese beiden Ausdrucksformen geprägt vom Vertrauen bzw. Mißtrauen gegenüber der Sprache. Die zwei weiteren Typen, das dialektische Gespräch und die reine Konversation, sind gegenüber den beiden ersten, die er auch kompositioneil und sprachlich genauer beschreibt, weniger differenziert ausgearbeitet. Wiederum einen Schritt weiter in der Forschungsdiskussion führen die Arbeiten von Kennedy (1975; 1983); sie informieren zudem grundlegend über englischsprachige Publikationen von Literaturwissenschaftlern, die der Dialogsprache besondere Aufmerksamkeit gewidmet haben. Mit Szondi (1956, 14f.) geht Kennedy davon aus, daß der Dialog das „sprachliche Medium" der „zwischenmenschlichen Welt" sei. Zur „verbal interaction - both existential and stylistic" hinzuzutreten habe das Studium der „non-verbal elements of drama which illuminates the total sign system of the theatre" (1983,5). Kennedy nähert sich dem Dialog „on a linguistically informed but ultimately evaluative basis" (1975, XI). Er diskutiert sowohl Grice wie auch moderne Forschungen zur gesprochenen Sprache. Am dramatischen Dialog interessiert ihn besonders das ,Mimesis-Problem', die lange Debatte „on the role of naturalistic speech in post-Ibsen drama" (1983 , 8). Das moderne Theater ist für ihn ein „theatre of language", jeder kritische moderne Dramatiker habe das Bewußtsein „of a whole .imaginary museum' of possible languages, usually conjoined with a self-imposed and restless search for a ,new' language, worked out in and for his own drama" (1975, 1; genauer vgl. Abschn. 2.3). Kennedy (1981, 226f.) unterscheidet zwischen „language in the theatre (words) and language of the theatre (image)", will dem Wort aber eine Sonderrolle gegenüber allen anderen Zeichen eingeräumt wissen. Sein Hauptinteresse bleibt deswegen „verbal interaction in dialogue", seine Leitfragen, schon bei der Untersuchung (1975) zu Shaw, Eliot, Beckett, Pinter, Osborne und Bond, sind stets, wieviele Sprachvarietäten (z.B. des zeitgenössischen Englisch) der Autor benützt und wie er die Spannung zwischen Spontaneität und Stilisierung löst. Seine linguistischen Beobachtungen gehen wesentlich weiter als die von Evans (1977), der z.T. dieselben Autoren behandelt. Kennedy verpflichtet ist die Untersuchung von Weikert (1982) zur Sprache von Stoppards Dialogen. Über Krapps, Berghahns und Bauers Analysen von „Leistung und Formen der Gesprächsführung" (= Untertitel Bauer 1969) hinaus und in der Interessenzentrierung zunächst scheinbar gegenläufig zu Kennedy will Zimmer (1982,12f.) sich gerade nicht nur dem „Gelingen oder Scheitern der dargestellten Gespräche" und „stilistischen Besonderheiten" widmen, sondern den Dialog als „äußere dramatische Form" ernstnehmen, allerdings, ähnlich Kennedy, auch auf der Folie des alltäglichen, natürlichen Gesprächs als Voraussetzung für die literarischen Formen. Dabei sieht er den Hauptunterschied im „Verhältnis von Sprache und äußerer Sprechsituation", da diese im Drama entweder in den Text hineinverlegt oder in Form von Regieanweisungen

524

Α. Betten

vermittelt werden muß. So untersucht er mithilfe von Ansätzen der linguistischen Pragmatik die Verflechtung von Sprache und außersprachlichem Kontext in der Entwicklung vom 17. bis 20. Jahrhundert. Eine vielseitige Rezeption code- und dialoglinguistischer Ansätze zur Dramenanalyse findet sich auch bei Pfister (1977), speziell im 4. Kap. .Sprachliche Kommunikation'. Während er vor allem syntaktische, semantische und pragmatische Besonderheiten behandelt, wenden die Teilnehmer der Bochumer Diskussion ,Dramentheorie - Handlungstheorie' (1976) (Sprach-)Handlungskonzepte von Aristoteles bis Searle auf Dramenbeispiele von der Antike bis zur Gegenwart an (s. genauer Abschn. 2.2). Fast jede der seit den 70er Jahren entstandenen primär literaturwissenschaftlichen Arbeiten nimmt auf andere linguistische und/oder sprachphilosophische Konzepte Bezug, so etwa Roumois-Hasler (1982, s. auch Abschn. 2.3) in ihrer Dialoguntersuchung von Fleißer und Lasker-Schiiler auf das Freiburger Projekt,Dialogstrukturen', hingegen Steinmann (1985) über Bernhard, Strauß, Kirchhoff, Handke auf eine Mischung aus Whorf (Gefangensein in vorgegebenen Denk- und Sprachstrukturen), Adorno (Jargon der Eigentlichkeit), Lacan (Sprache als Grundlage für jede psychoanalytische Erkenntnis) und Foucault (Sprache als Mittel, sich selbst zu behaupten, neben dem Vorstoß an die Grenzen des Unsagbaren). Größeren Einfluß haben auch die kommunikationstheoretischen Annahmen der Psychologen Watzlawick/Beavin/ Jackson (1969), die ihre Haupttheoreme über Störungen auf der Inhalts- oder Beziehungsebene, asymmetrische Interaktion und die Unmöglichkeit, nicht zu kommunizieren, an einer exzellenten Analyse von Albees ,Wer hat Angst vor Virginia Woolf?' exemplifiziert hatten. Ihr Konzept bleibt bis in die Gegenwart (vgl. Müller 1991 zu Bond) anziehend, ebenso wie Grices Kooperationsprinzip bzw. die Verletzung der Konversationsmaximen speziell in der modernen Literatur (s. Abschn. 2.2). Einen charakteristischen Einblick in literaturwissenschaftliche Überlegungen, mit welcher neueren linguistischen und/oder semiotischen Methode man bei einer Dialoginterpretation am weitesten bzw. tiefsten vordringe, gibt die Einleitung von Herwigs (1986, 9ff.) Dialoguntersuchungen zu Botho Strauß: Mein anfängliches Vorhaben, Strauß-Dramen linguistisch-konversationsanalytisch zu untersuchen und die Ergebnisse psycho- und soziohistorisch zu interpretieren, scheiterte bald am Komplexitätsgrad der Texte. Der dramatische Dialog von Botho Strauß ist nämlich nie nur stilisierte und kondensierte Wiedergabe von Alltagskommunikation, sondern zugleich auch Zitat und Verfremdung literarischer Form- und Ausdruckstraditionen. [...] Erst die Erweiterung des Dialogbegriffs um den Aspekt des Dialogs von Texten mit Texten führte aus der Sackgasse wieder heraus. So wurde es möglich, die dargestellten Interaktionsprozesse einmal als moderne Verhaltensmodelle, zum anderen als Formen produktiver Aneignung kultur- und geistesgeschichtlicher Traditionen zu verstehen [...] Im einzelnen unterscheidet die Arbeit also zwischen der Ebene der Figurenkommunikation, der Ebene der Text-Leser-Kommunikation und der Ebene der „Intertextualität" [Es folgen Literaturverweise auf J. Kristeva, M. M. Bachtin, U. Eco] [...] Die vielschichtigen Zeichenebenen der Texte werden im Verlauf der Analyse immer wieder neu vernetzt und liefern so die Daten für die Interpretation. (10-12).

25. Analyse literarischer Dialoge

2.2

525

Dialoganalysen unter dem Einfluß der Sprechhandlungstheorie und anderer pragmalinguistischer Ansätze

Es wurde schon deutlich, daß seit den 70er Jahren eine klare Abgrenzung von literaturwissenschaftlichen und linguistischen Dialoganalysen nicht mehr möglich ist, da sich hier ein großes interdisziplinäres Arbeitsfeld gebildet hat, in das zusätzlich noch semiotische, philosophische, psychologische und soziokulturelle Ideen eingedrungen sind. Allerdings nehmen viel weniger Linguisten als Literaturwissenschaftler an diesem interdisziplinären Austausch teil (s. Abschn. 3). Linguistisches Interesse am literarischen Dialog war von den Anfängen bis heute weitgehend dadurch gekennzeichnet, daß Dramen als Corpus für bestimmte dialoglinguistische Phänomene herangezogen wurden, die sich in Alltagsgesprächen nur schwerlich oder nicht in solcher Konzentration und Präzision finden (man vgl. den Forschungsbericht in Betten 1985a, 51ff.). In ähnlicher Weise argumentieren jedenfalls die folgenden Autoren: Ungeheuer (1977) demonstriert an Büchners ,Dantons Tod' die von Sprecher und Hörer geleistete Verständigungsarbeit, indem er ,Gesprächsphasen' durch jeweils neue ,Themeninitiierungen' voneinander abgrenzt. Diese Methode setzt er (1980) an Lessings ,Der Freigeist' fort, davon ausgehend, daß „Autoren als Dialogkonstrukteure" anerkannte „Könner" hinsichtlich der Systematisierung von Kommunikationserfahrungen seien. Auch Harras (1978) wählt Dramentexte von Brecht, Molière und Lessing „als beispiele für mögliche vorkommen strukturierbarer handlungsabfolgen", um zu erklären, warum „wir einzelne geschehnisse oder handlungen beobachtend immer als Zusammenhang begreifen" (Harras 1978, 2 und Vorbemerkung): Dramentexte seien, im Gegensatz zur stets ausschnitthaften Alltagskommunikation, in sich abgeschlossene sinnvolle Handlungseinheiten, so daß sich kategoriale Aspekte einer Handlung wie Ziel, Norm, Mittel, Zustandsbewertung und -einschätzung gut herausarbeiten lassen. Sie geht davon aus, daß Personen in einer fiktiven Welt nicht entscheidend anders handeln, allenfalls „andere arten von handlungen ausführen" (84). Der Analyse der Theaterstücke selbst könne eine Untersuchung wie die ihre zugute kommen, indem man sie z.B. danach bestimme, ob in ihnen „Präferenzen und mögliche handlungsziele zwar thematisiert, aber keine entsprechenden handlungen ausgeführt werden (Gorki, Horváth)", oder ob „handlungen vorgeführt werden, ohne daß sie einem erkennbaren ziel dienen (Ibsen)", oder „sowohl erkennbare ziele wie auch die entsprechenden handlungsausführungen festgestellt werden können, letztere aber mit völlig untauglichen mittein (Feydeau, Labiche)" (156). Wie Harras halten auch de Beaugrande/Dressler (1981,196) die Strategien in Dramendialogen für vergleichbar mit denen in spontanen Gesprächen, so daß sie an ihnen Faktoren der Organisation von Konversation' erläutern, wenngleich „die Textorganisation bei spontanen Gesprächen wesentlich lockerer" sei. Schütze (1980, 72f.) benützt literarische Dialoge als „Quasitranskripte", da es hier zur „Explikation der Voraussetzungen, welche die Interaktionspartner in die Interaktionsszene hineinlegen", kommt. Konkret erläutert er Interaktionspostulate an „Interaktionsszenen, in denen der Verständigungsprozeß gestört ist": die Literatur biete gerade solche zwischenmenschlichen Krisensituationen „mit Mitteln der Kunst in

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Α. Betten

zeitlich und sachlich geraffter Form". Auch Hannappel/Melenk (1979, 30, 50) halten Dramentexte zur Verdeutlichung des Ge- oder Mißlingens von Kommunikation vielfach für geeigneter als Tonbandprotokolle, da durch die Berechenbarkeit der konstruierten Situationen und überscharfe Kontraste die Einzelfaktoren des pragmatischen Kommunikationsmodells - Intentionen, Motivationen, Situationen, Partnerhypothesen, Strategien, Rollenbewußtsein - klar hervortreten. Ähnlich erläutert Nöth (1979), wie anhand von „Dialoganomalie und Nonsense in Alices Wunderland" nahezu alle dialogisch relevanten Faktoren sichtbar gemacht werden können. Schlieben-Lange (1980, 239) nützt ebenfalls den Vorteil, daß literarische Dialoge „analytisch reiner", nämlich bereits auf einen bestimmten Kommunikationskonflikt angelegt seien, um am Beispiel der (auch sonst bevorzugt interpretierten) ,Kahlen Sängerin' von Ionesco Verletzungen bestimmter universeller Techniken der Gesprächsführung aufzuzeigen, zumal diese im Alltag nur sehr zufällig einmal aufgenommen werden könnten. Alle diese Arbeiten stammen aus der Zeit der ersten Konfrontation der linguistischen Pragmatik mit Texten (und nicht vom Forscher selbst konstruierten Beispielen). Sie betrachten literarische Dialoge „als Quelle für die Generierung detaillierter theoretischer Hypothesen" (Schütze 1980, 73) beim Aufbau der Dialoglinguistik, die an transkribierten Texten natürlicher Kommunikation zu überprüfen sind bzw. zu jenen „in einem Verhältnis der wechselseitigen Ergänzung" (Kallmeyer 1979, 66) stehen. Doch wurden auch Zweifel (Labov/Fanshel 1977,350) und Ablehnung (Holly 1979,97) gegenüber dieser Art der Datengewinnung geäußert, weil die Daten ähnliche Deformierungen und Stilisierungen enthalten wie die selbstkonstruierten Beispiele. Im Gegensatz zu diesen Einwänden glaubt ζ. B. Henne (1984, 4f.), daß literarische Dialoge „gerade wegen ihres Kunstcharakters eine Herausforderung für die linguistische Gesprächsanalyse" darstellen: Fiktionale Gespräche seien „künstlerische Entwürfe des Möglichen auf der Grundlage des Wirklichen", „Produkte gezielter Einbildungskraft. Insofern sind sie einerseits an der Wirklichkeit entlang geschrieben und überragen sie andererseits doch in je spezifischer Weise, entfalten somit innovative Kraft." Ähnlich Beiersdorf/Schöttker (1978, 518) oder Betten (1977; 1980; 1985a) hat Henne mehr den Gewinn für die literarische Interpretation im Auge, wenn er darauf hinweist, wie bei einer Gegenüberstellung mit Alltagskommunikation „Stilisierungsgrade" herausgearbeitet werden können, die „Einsichten gewähren, die philologischer Textinterpretation nicht zugänglich sind." Der Text schaffe „eine ,zweite Wirklichkeit', die [...] eine wirklichere Wirklichkeit' darstellt" (Henne 1984,18). Henne exemplifiziert dies an Sprechanlagen-Dialogen als „Ausdruck der Gesprächskrise" aus Botho Strauß' ,Groß und klein'. In der amerikanischen Forschung ist die Diskussion über den Nutzen der neuen linguistischen und sprachphilosophischen Ideen schon früher, aber im Rahmen der dort dominierenden Fragestellungen mit anderen Akzenten geführt worden. So wird sie u.a. korrektiv gegen strukturalistische Auffassungen über das Verhältnis von ,literary' und ,ordinary language' eingesetzt. In einer Kontroverse zwischen Ohmann (1973), Searle (1976) und Fish (1976) geht es darum, ob in fiktiven Texten überhaupt richtige Sprechakte ausgeführt werden, oder ob in ihnen die Gelingensbedingungen

25. Analyse literarischer Dialoge

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und andere Regeln außer Kraft gesetzt seien. Nach Pratt (1977), die das von Grice postulierte Kooperationsprinzip und seine Konversationsmaximen an einem narrativen Text untersucht, sind dabei die beiden Kommunikationsebenen zwischen Autor und Leser sowie zwischen den fiktiven Sprechern zu trennen: In sum, the literary speech situation is such that at the level of author/reader interaction, all Grice's types of nonfulfillment except flouting either cannot arise or tend to be eliminated in the process of a text's becoming a work of literature. [...] Within the fictional speaker's utterance, however, all kinds of nonfulfillment are possible. (173f.) Die deutsche Dialogforschung, in der die Überprüfung der Griceschen Maximen ebenfalls eine große Rolle spielt, hat diesen für die Amerikaner zentralen Bezug zur literarischen Kommunikationssituation selbst bisher aus der Debatte über die Anwendung der Regeln weitgehend ausgeklammert, indem sie sich auf den Vergleich mit dem Dialog in der Alltagssprache konzentrierte. Pratt weitet ihr Konzept des Regelverstoßes („flouting of a maxim") von Seiten des Autors sogar auf allgemeine Gattungsregeln („generic rules") und -erwartungen aus und erklärt die daraus resultierende „generic deviance" zum Hauptcharakterzug des nouveau roman (204ff.). Ähnliches gilt auch für viele moderne Dramen. Unter der großen Zahl englischsprachiger Dramenanalysen auf sprechakt- und konversationsanalytischem Hintergrund war Burton (1980) besonders erfolgreich. Ähnlich Schlieben-Lange analysiert sie Ionescos ,Kahle Sängerin' mithilfe der Konversationspostulate von Grice sowie zwei Stücke von Pinter mit verschiedenen sozio- und psycholinguistischen Methoden. Auch sie will anhand der von den Dramatikern vorgeführten Dialoganomalien vor allem kommunikative Grundregeln und -formen deutlich machen. Etwas andere Schwerpunkte setzen Noguchi (1978) und Hoffmeister (1983); sie stützen sich methodisch auf die Dissertation von Klammer 1971 (auszugsweise publiziert in Klammer 1973), der (von Pike beeinflußt) eine Systematik zur Klassifikation des Sprecherwechsels in Dialogen entwickelt hat. „Conversational style" manifestiert sich demnach für Noguchi nicht nur in „sentence style", sondern ganz wesentlich in der Art und Weise, wie „speech gets structured in exchanges" (Noguchi 1978, 19). Diesem Gesichtspunkt widmet er im Vergleich des mittelalterlichen Dramas .Abraham and Isaac' mit Becketts ,Endgame' seine Hauptaufmerksamkeit. Er analysiert jeden Sprecherbeitrag daraufhin, ob er eine echte (d.h. formal und strukturell angemessene) Antwort oder eine Gegenrede darstellt (z.B. Ignorieren einer Frage, Widerspruch statt Reaktion, Eigeninitiative). Eine solche Analyse enthülle einige der „characteristic choices" der Dialogkonstruktionsmethode des Autors; diese setzt er gleich mit ,Dialogstil' und dramatischem Stil überhaupt. Dialogstil wird somit definiert „as a recurrent or characteristic selection of expressive resources in verbal interaction" (27). Noguchis Methode gibt zweifellos nicht nur Aufschluß über abstruse, anomale Dialogabläufe (obgleich Beckett in diesen Bereich gehört), sondern über jede Art von Dialogkomposition. So weist er beispielsweise nach, wie stark Dramendialoge in der Komplexität ihrer Strukturierung wie auch im Tempo differieren; derartige Ergebnisse könne man dann wiederum in Relation zum Inhalt der Stücke oder zu Epochenstilen bringen.

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Α.

Betten

Viele Parallelen zu Noguchi und Burton finden sich in Hoffmeisters (1983) Untersuchungen über den dramatischen Dialog von Fleißer und Kroetz. Auch sie sieht in der Analyse verbaler Strategien einen neuen Zugang zum Drama, den die Interpretation von Handlung, Figuren und Thematik allein nicht erlaube. Ausgehend von der grundlegenden Interaktionseinheit Äußerung - Antwort/Gegenrede („exchange") arbeitet sie Grundzüge der Dialogführung (Intentionen und Strategien) heraus, die für das jeweilige Stück kennzeichnend sind. In gewissem Sinne ist diese Methode vergleichbar mit Martens' (1974) Grundmustern familiärer Interaktion aufgrund wiederkehrender Sequenzen von Sprechhandlungen. Hoffmeister hat ein ähnliches Ziel, sucht dieses aber unter dem Einfluß neuerer Literatur zur Konversationsanalyse durch den Nachweis von Sprecherstrategien und repetitiven sprachlichen Mustern (wie Zögern, Wiederholungen, Klischees etc.) zu erreichen. Sie entwirft dazu ein mehrstufiges Interpretationsschema, in das die Definition von Gesprächszügen und -reaktionen von Klammer und die „cohesive devices" von Halliday/Hasan (1976) eingehen. Aus einer Summe von Analysen einzelner Szenendialoge ergeben sich Zusammenfassungen wie „decision-making-dialogue" für Kroetz' .Wildwechsel', „dialogue of retaliation" für .Heimarbeit', „reassurance displays" für ,Oberösterreich'. Ihr Resümee: „the structural approach to dialogue can come to terms with the thematic ramifications of these plays in ways that other approaches cannot" (Hoffmeister 1983,149). Wenngleich zuzustimmen ist, daß durch die Beachtung wiederkehrender Muster intuitive Eindrücke vom Kommunikationsverhalten der Figuren transparent und beschreibbar werden, so dürfte doch für eine gründliche Studie von Dialogstrukturen auch die Inhaltsseite dieser Strategien, nämlich die Sprechhandlungen, die mit ihnen ausgeführt werden, unverzichtbar sein. Erst durch die Einbeziehung des Illokutionspotentials einer Äußerung wird deutlich, welche Reaktionsmöglichkeiten sich als voll- oder teilresponsive Züge daraus ergeben oder ob der Partner mit einer unerwarteten Gegeninitiative „kontert". Und erst Art, Zahl und Sequenz der Sprechhandlungen geben gründlicher Aufschluß über Intentionen, Handlungskonzepte und Persönlichkeit der Sprecher (vgl. Betten 1985a, 283ff.). Die Zahl dramatischer Sprechhandlungsanalysen seit Beginn der Rezeption der Sprechakttheorie ist fast nicht mehr zu überblicken. Daher kann nur auf einige verwiesen werden. Früh schon gab es eine brillante Attacke von Fish (1976) gegen Ohmann; dieser hatte in mehreren Aufsätzen seit 1971 propagiert, die Sprechakttheorie an die Stelle der bisherigen stilistischen Untersuchungen treten zu lassen, und dies an Dramen von Shaw und Beckett erprobt (Ohmann 1973). Ohmann nennt Illokutionen „vehicle of the play's action" und folgert: „illocutions gradually define the mode of reality that governs the whole work" (89, 91). Dagegen Fish: Eine Sprechaktanalyse sei zwar bei jedem Drama möglich, aber nur bei solchen Stücken nicht trivial, die Sprechaktregeln und -bedingungen zum Thema haben (wie bei seiner Analyse von Shakespeares ,Coriolanus'). Auf Fish und Pratt (s.o.) nehmen zahlreiche weitere Dialoganalysen Bezug, z.B. Cooper (1981), Prince (1984) etc. Ziemlich am Anfang der deutschen Sprechhandlungsdebatte wurden auf der schon erwähnten (s. Abschn. 2.1) Bochumer Tagung ,Dramentheorie - Handlungstheorie' (1976) einige Grundfragen angesprochen, die die

25. Analyse literarischer Dialoge

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Forschung bis heute beschäftigen. Nach Stierle (1976, 324) kann das Drama die Funktion übernehmen, Konzepte von Sprachhandlungen und Sprachhandlungen in eine ideale Korrelation zu bringen. So stellt die Geschichte der Tragödie ein Repertoire idealer Modelle von Sprachhandlungen bereit. Was fragen heißt, was enthüllen des Verborgenen, was befehlen und verwünschen, was bitten, fordern, verhöhnen, wird in der Tragödie und allgemeiner im Drama zu exemplarischer Anschaulichkeit verdichtet. In Racines ,Phèdre' erweise sich „die Sprachhandlung des Liebesgeständnisses" als „eine der Wiederholungsstrukturen, die den Charakter dieses Dramas obsessionshaft bestimmen" (Stierle 1976, 359); ähnlich schaffe in Sophokles' ,König Ödipus' die „Multiplikation des Schemas der Frage" die „dominante Struktur des Dramas" (432). Kesting (1976, 397f., 421) verfolgt den Wandel der Rolle der Sprachhandlung in der Geschichte des abendländischen Dramas: Im griechischen Drama, erwachsen „aus Rede und Gegenrede", sei Rede entweder Reaktion auf (oft unsichtbares) Handeln oder wesentlicher Teil des repräsentativen Handelns eines Monarchen; „fundamental verschieden" davon entspringe das monologisierende „Reden der Handlungslosen im modernen Drama" „einer Handlungsohnmacht", „Sprechen, Reflexion und eine denkerische Geste" werden zur „Handlung" des Dramas, das moderne Drama habe „letztlich das Handeln in die ästhetische Produktion selbst zurückgenommen". (Sie exemplifiziert dies an Beckett.) - Gumbrecht (1976,346) versucht, den Prozeß über die Sprachhandlungen der Protagonisten (,plot') zu den Handlungsschritten des Autors, die den Text als Handlung hervorbringen, zu verdeutlichen: Der Zuschauer sei beim Verstehen der Sprachhandlungen der dramatischen Personen „nicht allein auf jene linguistisch faßbaren Indikatoren angewiesen, die J o h n R . Searle ,illocutionary force' genannt hat", sondern erhalte aus den „im Verstehen vorgängiger Sprachhandlungen der Protagonisten gewonnenen Erfahrungen" einen „Sinnhorizont", „der Voraussetzung des Verstehens der sich jeweils gerade auf der Bühne vollziehenden Sprachhandlungen ist und darüber hinaus zur Grundlage der dem Publikum möglichen Prognose über folgende Sprachhandlungen wird". Anregungen von dieser Bochumer Diskussion wie auch von Searle, Fish, Pfister u. a. ist Schmachtenbergs (1982) Dissertation zur „Relevanz einer Sprechaktklassifikation für die Dramenanalyse" (70) anhand von vier englischen Restaurationskomödien verpflichtet. Er konzentriert sich auf Probleme der Identifizierung indirekter Sprechakte, die Bedeutung von Täuschungshandlungen (die in diesen Dramen eine besondere Rolle spielen) und Hierarchisierungs- und Sequenzierungsfragen. „Die Erfassung rekurrent verwendeter und als dominant markierbarer Ulokutionstypen" liefert ihm den „Interpretationsansatz" für „die Charakterisierung von Figurenkonstellationen" und die „Beschreibung von Eigenschaftsparadigmen einzelner Figuren" (71f.). Am Ende stellt er einen langen Katalog „der wichtigsten Analyseaspekte" zur „Erprobung sprechakttheoretischer Analysekriterien an dramatischen Texten" auf (177), von denen er einige vorgeführt hat, während andere erst Desiderata für künftige Forschungen darstellen. Die Frage, ob Sprechakte mehrere, hierarchisch gestaffelte Illokutionen haben können, ist schon für die Interpretation auf der Ebene der Figurenrede von

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Α.

Betten

Bedeutung, erst recht aber für die Entschlüsselung des Illokutionspotentials, das auf übergeordneter Ebene der Autor (via Figurenrede) an den Rezipienten übermittelt. Vorschläge für ein dazu nötiges mehrstufiges Interpretationsmodell finden sich sowohl bei Schmachtenberg als auch schon bei Apeltauer (1978), der Streitgespräche u.a. anhand moderner Theatertexte nach Sprechhandlungen analysiert, oder bei Klann (1979), die Bergmans ,Szenen einer Ehe' einem therapeutischen Gespräch gegenüberstellt, um zu erforschen, „wie die Struktur, der Verlauf und die Bedingungen von Dialogen im Alltag das psychische Wissen bzw. Unwissen des Sprechers" reflektieren (128f.). Wie bei vielen Dialoganalytikern dient bei den letztgenannten die Rekonstruktion der Illokutionen von Sprechhandlungen vor allem zur Ermittlung von Beziehungsaspekten zwischen den Gesprächspartnern (genauere Literaturangaben bei Betten 1985 a, 284f.). Auch in den „rein" linguistischen Untersuchungen sind dazu stets unterschiedliche Analysekategorien vorgeschlagen worden, ζ. B. mehrere Illokutionsund Perlokutionsstufen, unter Abgrenzung gesonderter Kategorien für Thema, Strategien und Taktiken, gelegentlich auch für kommunikative Funktion und/oder eigentliches Handlungsziel. Diese interpretativen Kategorien sind weitgehend beliebig angesetzt. Geht man allerdings von konkreten Äußerungen aus und betrachtet das Zusammenspiel sprachlicher und kontextueller Bedeutung, so zeigt sich stets, „wie sehr die Sprechakt-, Konversations- und Interaktionsbedingungen verflochten sind" (Franck 1980, 115). Es ist daher verständlich, daß sich die Analytiker immer wieder auf einige, vom Charakter des untersuchten Dialogs her erwartbare Fragen und Auffälligkeiten konzentrieren; doch wäre es wünschenswert, wenn in einer idealen Analyse mehrere der schon erfolgreich erprobten Ansätze zusammengeführt würden (vgl. Absch. 3). Auch in den neueren Arbeiten geht es ζ. T. nur um ganz spezifische Gesichtspunkte des Dialogischen, wie etwa die gravierenden Unterschiede im Vollzug des Sprecherwechsels in spontanen und literarischen Dialogen, zuletzt bei Herman (1991) oder Hafez (1991): Normalerweise werden Überlappungen und Gleichzeitigreden vermieden, was mit der angestrebten Verstehbarkeit auf der zweiten Kommunikationsebene, beim Zuschauer, zusammenhängt; Pausen sind hingegen speziell im modernen Drama meist wesentlich bedeutungsträchtiger als im Alltagsdialog (man vgl. Betten 1985 a, 209 zu Horváth, 234 zu Kroetz). In einem Projekt von Henne (s. dazu Henne 1980) sind Dialoge des Sturm und Drang u.a. auf Gesprächsschritte (.turns') hin analysiert worden; dabei zeigten sich die größten Unterschiede zu heutigen transkribierten Alltagsgesprächen im Fehlen des sog. ,back-channel-behavior' - was nicht an der Epoche, sondern an der Spezifik literarischer Kommunikation liegt, in der es auf der Figurenebene eben nicht wirklich der Verständnissicherung bedarf. Die größeren Untersuchungen jedoch präsentieren, trotz späterer Eingrenzung auf spezielle Fragen, meist einen breiteren Überblick über das bislang Erreichte: So versteht Cornelissen (1985, 9) seine Molière-Untersuchung als interdisziplinären Beitrag zu Linguistik und Literaturwissenschaft und will die Nutzbarmachung der Sprechakttheorie für die Dramenanalyse, in Absetzung etwa von Schmachtenberg (1982), auf „Typen der ,Angemessenheit' bzw. ,Unangemessenheit' sprachlichen Handelns" konzentrieren. Er geht vom Begriff der , Aufforderungsintensität' aus, die schon bei Searle

25. Analyse literarischer Dialoge

531

neben der Ziel- und der Bezugsebene eines Sprechaktes als weiteres Einteilungskriterium genannt ist („Differences in the force or strength with which the illocutionary point is presented", Cornelisson 1985, 64). Dabei gibt er zunächst eine zusammenfassende Darstellung des Verhältnisses der beiden Kommunikationsebenen im Drama ähnlich Reboul/Moeschler (1985), die ihre Beispiele ebenfalls aus Molière und der .Cantatrice chauve' Ionescos nehmen. - Die Anwendung möglichst vieler konversationsanalytischer Techniken auf acht hebräische Stücke von Hanoch Levin setzt sich Du-nour (1987) zum Ziel. Sie diskutiert u. a. die Einheiten der Dialogorganisation, wie sie die Birmingham-Gruppe vorschlägt (zitiert mit Halliday/Hasan 1976; Burton 1980; zu ergänzen um Coulthard 1977, der eine kurze Musteranalyse von ,Othello' vorführt), schließt sich aber enger an die Methode der Genfer Schule von Roulet et al. an (der Reboul/Moeschler zugehören): This method sees conversation as hierarchically organized. An exchange is composed of two or three interventions; an intervention may be composed of one or more moves, and can be expanded over more than one turn. In each exchange there is one main (directory) intervention, that directs the exchange and gives it its illocutionary character. Every intervention is composed of one directory act, giving it its illocutional force ; the other acts are subordinate and serve the purpose of interactive completitude. The hierarchy does not function only according to rank, as suggested by the Birmingham group. It can also function according to interactive and interactional completitude constraints: an intervention may be subordinate to an act, an exchange can be subordinate to an intervention, etc. [...] The analysis of a whole scene demonstrates that the identification of both the directory units and the subordinate interaction may help us to get a better insight into the significance of the interaction, and the dialogue, and the author's intentions. (Du-nour 1987, XII)

2.3

Analysen des sprachlichen Codes

Im Vergleich zur Zahl der sprechakttheoretischen und konversationsanalytischen Dramenanalysen haben sich der sprachstilistischen Untersuchung literarischer Dialoge im gleichen Zeitraum wesentlich weniger Forscher zugewandt, vor allem kaum Linguisten. Die Mehrheit teilte wohl die Meinung von Burton (1980,8), es sei „fairly obvious that if we want to consider play-talk and its degree of similarity to real-talk, then discussing sentences, phrases, alliteration, polysyllabic words and so on, is not going to tell us a great deal". Mag man auch gelegentlich den Eindruck gewinnen, sprachstilistische Untersuchungen arbeiteten hauptsächlich in der angeführten Weise, so geht diese Beschreibung doch völlig an den Möglichkeiten vorbei, die sich besonders durch die linguistischen Forschungen zur gesprochenen Sprache seit Ende der 60er Jahre eröffnet haben. Die für die Literatur so wichtige ,Mimesis'-Diskussion (s. Abschn. 2.1) wird durch diese Einsichten auf ein glaubwürdiges und durch viel mehr Details gestütztes Niveau gehoben. Ein Beispiel sind die in Abschn. 2.1 schon erwähnten Arbeiten von Kennedy (1975; 1983), der diese Vergleichsmöglichkeiten heranzieht, um bei Autoren, deren Sprache für wirklichkeitsgetreu gehalten wird (z.B. Pinter), Grade und Arten der Stilisierung (.patterning', .shaping') aufzuzeigen:

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Α. Betten

In genuine drama the language is created at some point on the line at which a tension between ,imitation' and .patterning' takes place. In our culture in general, and in postnaturalist drama in particular, this tension tends to be worked out at a highly conscious level. (1975,15) Dies war auch schon der Ausgangspunkt der materialreichen Abhandlung von Larthomas (1972), der eine allgemeingültige Definition der Dramensprache anstrebt: Zwar habe der dramatische Autor die Absicht, seine Figuren reden zu lassen „comme si c'était vrai", aber das Geschriebene gehe dem Gesprochenen stets voran, und die Komposition der aus der gesprochenen Sprache ausgewählten Mittel mache den Stil des Autors aus. Wie diese Kombination auch ausfalle: die Dramensprache sei immer „un compromis entre deux .langages', l'écrit et le dit" (21ff.). Wenn Larthomas die typischen Phänomene gesprochener Sprache allerdings unter „accidents et déformations du langage" (215ff.) auflistet, zeigt er sich mit dieser Bewertung noch im Banne der älteren Sprachwissenschaft. Diese sah in den Abweichungen der gesprochenen Sprache von den im Schriftlichen gültigen Regeln Fehler oder bestenfalls Nachlässigkeiten, die mit den psycho-physischen Bedingungen (= Ablenkungen) der Sprechsituation erklärt bzw. entschuldigt wurden. Nachzutragen ist, daß der ersten linguistischen Beschreibung der Umgangssprache des Deutschen von Wunderlich (1894), die methodisch lange Zeit als wegweisend galt, mangels Zugangs zu authentischen Daten, aber auch in der Überzeugung, in bestimmten Dramentypen von Sturm und Drang, Realismus und Naturalismus werde vollkommen wirklichkeitsgetreu gesprochen, Dramendialoge als Corpus zugrunde lagen. Diese Praxis hat sich z.B. in Dialektgrammatiken und vor allem in Stilistiken fast bis in unsere Tage fortgesetzt. So wurde die stets nur selektive Wahrnehmung des mündlichen Sprachgebrauchs von Seiten der Dichter durch die Wissenschaftler in einer Art circulus vitiosus bestätigt und festigte in den Rezipienten der literarischen Dialoge wie auch der grammatisch-stilistischen Darstellungen ihre Vorstellung von den charakteristischen Merkmalen des Mündlichen. Erst seit den 60er Jahren wurde durch die Verwendung transkribierter Tonbandaufnahmen endlich der Weg frei für eine umfassende Beschreibung und neue Bewertungen (vgl. Betten 1977f. ; 1976; 1985 a, 46f., 78). Obgleich in Abschn. 2.4 umfassender behandelt, müssen bereits hier die Codeanalysen zur Figurenrede in epischen Werken mit einbezogen werden, da sie methodisch zunächst viel weniger Unterschiede zum dramatischen Dialog aufweisen als die Untersuchung der Sprechakte. Widmer (1966), später selbst als Dramatiker hervortretend, war einer der ersten, der in seiner Dissertation „1945 oder ,die neue Sprache'" die gerade beginnenden Forschungen zum gesprochenen Deutsch berücksichtigte. Nach seinem Eindruck finden sich vor allem bei Schriftstellern, die Problemen der Sprache nicht gleichgültig gegenüberstehen, umgangssprachliche Eigenheiten, meist in der Gestaltung direkter Rede, doch auch in erzählenden Passagen. Besondere Aufmerksamkeit schenkt er der sukzessiven Präzisierung, verblosen Sätzen, Anakoluthen und umgangssprachlicher Parataxe. Sein Resümee: Es komme zwar zu einer Vermischung von „Schreib- und Sprechsprache", aber „sie eins werden zu lassen kann nie die Absicht eines Dichters sein" (150). Zeitlich weiter zurück reicht Pages (1973) Untersu-

25. Analyse literarischer Dialoge

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chung der Dialogsprache im englischen Roman. Noch nachdrücklicher als Larthomas und Kennedy geht es ihm darum zu zeigen, daß der Eindruck wirklichkeitsgetreuer Sprechsprache („illusion of listening'", „impression of realism", „persuasive effect of colloquialism") „may be revealed, on analysis, to depend upon only a very limited and selective observance of the features of actual speech" (3ff.). Durch diese selektive, zweckgebundene Auswahl entstehe eine Art „conventionalized literary dialect" (52), der eine eigene Tradition schaffen und sich von seinem ursprünglichen Vorbild in der Alltagssprache wegentwickeln könne ; dennoch erkenne ihn der Leser oft besser (oder zumindest leichter) als eine der Wirklichkeit näher kommende Wiedergabe. Der realistische Eindruck werde im übrigen hauptsächlich durch die Verwendung von Dialekt- oder Slang-Vokabular erzielt. (Es bleibt noch festzuhalten, daß „realistic speech" für Page nur eine von sechs Gestaltungsmöglichkeiten der Dialogsprache ist, die literarisch keinesfalls höher zu bewerten sei als die anderen.) In seiner Studie zur Dialogsprache des neueren deutschen Romans zeigt Grosse (1972) als Linguist noch konkreter als Kennedy und Page, wie durch die Forschungen zur gesprochenen Sprache wesentlich mehr Klarheit in die ,Realismus'-Diskussion gebracht werden kann. Er arbeitet zwar nur mit literarischen Stichproben, doch sind sie repräsentativ genug, um verschiedenartige Verwendungen dieser Mittel zu zeigen: Sie seien stets so arrangiert, daß sie ein „Gesprächskolorit von überregionaler Verständlichkeit ausstrahlen". Letztlich würden immer nur „requisitenartige Versatzstücke" verwendet, die signalisieren sollen: „Hier wird gesprochen" (657, 666f.). Grosse unterscheidet zwischen Versatzstücken, durch die eine mundartliche, Umgangs- oder fachsprachliche Einfärbung zu erreichen gesucht wird (was er, wie Page, vor allem auf Lautung, Vokabular und Wortstellung beschränkt sieht), und den (wichtigeren) syntaktischen Kennzeichen der gesprochenen, unter Umständen ganz dialektfreien Sprache, wie anaphorischer Satzbeginn, Unvollständigkeit von Sätzen etc. - Eigenarten, auf die sich auch Larthomas konzentriert. Grosse kann konkret das Fehlen charakteristischer Merkmale gesprochener Sprache wie Redundanzen, Korrekturen, stereotype Wiederholungen, Neueinsätze nachweisen, während Larthomas nur eklektisch Belege anführt, ohne eine klare Trennung von natürlich und simuliert zu erreichen. Ähnlich Grosse stellen Leech/Short (1981, 161) in ihrem Kapitel ,Real speech and fictional speech' als Hauptunterschiede jene hin, „which interfere with and interrupt the fluency of speech"; sie umfassen „hesitation pauses" (filled or unfilled), „false starts" (repetition or reformulation), „syntactic anomalies" (ungrammatical or awkward). Ein erstes präzises Beispiel für eine sprachwissenschaftlich fundierte Analyse eines deutschen dramatischen Dialogs und zugleich für interdisziplinäre Zusammenarbeit haben der Linguist Burger und der Literaturwissenschaftler v. Matt mit Kroetz',Oberösterreich' gegeben (1974). Auch sie gehen von der „frage nach dem ,realismus' des stückes" aus und betonen, daß „ein tragfähiger vergleich mit Sprachwirklichkeit" nur dort möglich ist, „wo sich Untersuchungsergebnisse zur textsorte ,spontanes gespräch' beiziehen lassen" (271). Der detaillierte Nachweis mundartlicher, sprechsprachlicher und für den sogenannten Restringierten' Code typischer Kennzeichen in der Sprache von Kroetz' dramatischen Figuren kann überzeugend klarstellen, daß es letztlich nur

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Α. Betten

um „ein kleines, wenig differenziertes repertoire von dementen" geht, die „mit hoher frequenz" auftreten und „den dialogen zunächst einen grundton von authentizität" verleihen, während in Wirklichkeit ein neuer, fiktiver, höchst artifizieller Code entsteht (279—289). Dieses Ergebnis wird durch eine Reihe weiterer linguistischer Fallstudien bestätigt und differenziert: Betten (1980) zeigt quer durch das dramatische Werk von Dürrenmatt, mit wie wenigen, immer gleichen Mitteln die für seine Dialoge typische „verknappte Syntax" erreicht wird. An Gegenüberstellungen von Dialogen aus Holz' und Schlafs ,Familie Selicke' und Hauptmanns ,Friedensfest' mit Texten sprachgestörter Patienten weist Hess-Lüttich (1980) nach, daß die von Literaturwissenschaftlern oft als „ungrammatisch", „Gestammel", „Sprachzerfall" etc. beschriebene Sprache naturalistischer Dramen sich nicht „jenseits aller Syntax, Logik und Grammatik" befinde, wie von Kritikern behauptet wurde, sondern „trotz zahlreicher Devianzen von einer normativen Grammatik-Konzeption" im wesentlichen nur durch eine begrenzte Auswahl des Autors aus Merkmalen der gesprochenen Sprache, kombiniert mit bestimmten dialektalen und soziolektalen Eigenheiten, diesen Eindruck erweckt (159ff.). In Hess-Lüttich (1985, zurückgehend auf seine Diss. 1979, erste Teilpublikation 1977) wird diese Konzeption anhand eingehender Analysen der Sprachschichten in Hauptmanns ,Ratten' auf allen linguistischen Ebenen vertieft sowie zu einer „Textsemiotik" des naturalistischen Dramas erweitert (vgl. Abschn. 3). Verschiedene Behandlungen literarischer Dialoge in HessLüttich (1984) enthalten Beobachtungen zum sprachlichen Code, vor allem das Kapitel über Kroetz und Sperr (137—182). Weitestgehend auf Codeanalysen konzentrieren sich auch die Studien von Betten (1985 a), deren Ziel es ist, an der Geschichte des Realistischen' Sprechens im deutschen Drama seit Lessing die Genese dieser Richtung des literarischen Dialogs und seine verschiedenen Ausprägungen und ,Macharten' bis zur Gegenwart zu verfolgen. Den Schwerpunkt bildet das sog. neorealistische Drama von Kroetz, Sperr und vielen weiteren sozialkritischen Volksstückautoren; daneben stehen jedoch auch eingehende Untersuchungen zur .Lockerheit' der sehr ,echt' klingenden Dialoge aus Wolfgang Bauers frühen Stücken sowie zur scheinbar perfekten Imitation von Alltagsjargons bei Botho Strauß (als einem literarischen Konzept neben anderen) und zu den weiträumig angelegten, spiralförmigen Denk- und Satzstrukturen von Thomas Bernhard, die ungeachtet der vom Autor selbst geltend gemachten mathematischen und musikalischen Bauprinzipien gewisse strukturelle Ähnlichkeiten mit spontanem Sprechen aufweisen. Es ergibt sich, daß die neueste ,Realismuswelle' sich zwar einer Reihe bislang noch nicht oder nur wenig benutzter syntaktischer und lexikalischer Mittel bedient (z.B. Häufung von Gliederungssignalen bei Bauer), sich jedoch wie alle anderen Realismusrichtungen zuvor mit einem beschränkten und, im Gegensatz zum oft schwer klassifizierbaren syntaktischen ,Wildwuchs' im spontanen Gespräch, formal klar identifizierbaren Repertoire begnügt. Bei den wirklichen ,Dialogkönnern' ist die spezifische Auswahl der Anleihen an die ,Wirklichkeit' jedoch nicht beliebig: Sie machen vielmehr die eigentliche Thematik der Stücke transparent, die, zumal im modernen Theater, ja zumeist Kommunikationsprobleme vorführen. So erweist sich auch eine

25. Analyse literarischer Dialoge

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scheinbar völlig kunstlose Sprache, wie etwa die der Kroetzschen Dialoge, als höchst kunstvoll stilisiert und wird somit zum Kunstwerk. Sprachrealismus und Stilisierung stellen keinen einfachen Gegensatz dar, sondern sind graduell abgestuft und bei jedem Autor sowohl auf allen Ebenen des sprachlichen Codes wie auch in der Verbindung von Äußerungs-, Sprechhandlungs- und szenischer (bzw. Akt-)Ebene jeweils anders komponiert bzw. .gemischt'. Die Dissertation von Pamer (1983) zum dramatischen Dialog von sechs DDRAutoren (Braun, Hacks, Kerndl, Strahl, Strittmatter, Heiner Müller) geht von einem funktionalstilistischen Ansatz aus. Die nach Aussage Pamers in der DDR-Dramatik aus ideologischen Gründen bewußt gewählte „gemeinsprachliche Variante" der Umgangssprache wird entsprechend nach den phonetischen, lexikalischen und grammatischen Mitteln beurteilt, die als charakteristisch für den Funktionalstil der ,Alltagsrede' gelten. Da grundsätzlich davon ausgegangen wird, daß die sozialistische Dramatik zuerst ästhetischen Gesetzmäßigkeiten zu folgen habe und erst in zweiter Linie der äußeren Wahrscheinlichkeit, weshalb „Verfahren der Alltagsrede" nur gezielt und verdichtet vorkommen, wird hier eine literarische Richtung beschrieben, die von den zur gleichen Zeit im Westen erprobten modernen Dialogsprachen durch ihre überwiegend standardsprachliche Ausrichtung stark abweicht. Wo aber vergleichbare Techniken der Spracharmut oder -rohheit doch verwendet sind, werden sie durch die (ab-) wertende und didaktisierende Betrachtungsweise sehr verengt gesehen. Auch in literaturwissenschaftlichen Arbeiten finden sich seit den 70er Jahren von der Linguistik angeregte genauere Sprachbeschreibungen (vgl. Abschn. 2.1). So widmet sich z.B. Roumois-Hasler (1982) nicht nur den Dialogstrukturen bei Fleißer und Lasker-Schüler und damit verbundenen Phänomenen wie den oft behandelten Gliederungs- und Verständnissicherungssignalen, sondern nimmt auch detaillierte Beschreibungen des Codes von der lexikalischen bis zur syntaktischen Ebene vor, die sie in die Gesamtinterpretation mit einbezieht. Auch in der Arbeit von Lutz (1979) über Fleißer und andere bayerische Literaten des 20. Jahrhunderts nimmt die Sprache eine zentrale Rolle für die Werkinterpretation ein, desgleichen in v. Dachs (1978) Dissertation über das moderne Volksstück. Andererseits gibt es linguistische Arbeiten, die sich nur mit einem einzelnen Phänomen der Sprache literarischer Dialoge beschäftigen, z.B. Lügers (1989) Beitrag zu den .Funktionen satzwertiger Phraseologismen'.

2.4

Besonderheiten von Dialogen im epischen Kontext (mit einem Anhang über ältere Sprachstufen)

Mit den Arbeiten von Page und Grosse sind in Abschn. 2.3 bereits wichtige Untersuchungen zur Figurenrede angeführt. Wie erwähnt, zieht es Grosse vor, direkte Rede in der Epik zu untersuchen: Der verbale epische Kontext kann hier jene Situationseinbettung und -verschränkung leisten, die speziell für die syntaktische Gestaltung spontaner Gespräche, die manchmal als „situationsentlastet" bezeichnet werden, so wichtig ist; aber auch auf semantischer Ebene reduziert sich dadurch die im dramatischen Dialog notwendig hohe Informationsdichte. Dennoch zeigt sich, daß selbst bei den Dialogty-

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pen, die der spontanen Sprechsprache am nächsten kommen, einige ihrer charakteristischsten Merkmale wie Redundanz und Rekurrenz sowie Korrekturen, Neueinsätze oder Assertationsmorpheme kaum übernommen werden. Insgesamt unterscheidet Grosse (1972, 667f.) beim deutschen Nachkriegsroman vier Dialogtypen: 1. Zwischen Erzählpartien und Dialog besteht kein sprachlicher Unterschied. 2. „Lautstand, Vokabular und Wortstellung werden mundartlich oder Umgangs- und fachsprachlich eingefärbt", doch nicht konsequent, es handelt sich um Versatzstücke. 3. „Bestimmte Kennzeichen der gesprochenen dialektfreien Sprache" (wie anaphorischer Satzbeginn, Unvollständigkeit von Sätzen, Wechsel der Stilebene etc.) sind behutsam eingebaut (so etwa bei Frisch, über dessen Sprache „in der Spannung zwischen Mundart und Schriftsprache" Schenker 1969 eine aufschlußreiche Untersuchung vorgelegt hat). 4. „Die wörtliche Rede wird kunstvoll stilisiert und bewußt als rhetorischer, figurenreicher Extrakt von der gesprochenen Sprache abgehoben, um Personen und Situation in dieser gewollten Distanzierung zu charakterisieren." - Page (1973, Kap. 4) stellt insgesamt sechs Typen auf, wobei er Sprache und Funktion der Figur im Roman zu korrelieren sucht ^realistisches' Sprechen, Sprache als Identifikation oder als Parodie, neutrale oder konventionelle Sprache, „token-speech"). - A. Müllers (1981) Dissertation zur Figurenrede im neueren deutschen Roman (und in Übersetzungen) baut wesentlich auf Grosse und Page auf und versucht ein Beschreibungsmodell zu entwikkeln. Die Unterschiede zwischen Figuren- und Erzählrede weist er in 12 sprachlichen Kategorien aus den Bereichen Graphie, Syntax/Morphologie und Lexik nach. Im Gegensatz zu Grosse schließt er einen Romantypus, in dem beide nicht unterscheidbar sind, aus. Es geht ihm besonders um die Betonung der Fiktivität der Figurenrede, die als Bestandteil der fiktiven Kommunikation zwischen Erzähler und Leser zu verstehen sei. Wenngleich sich synchron stets verschiedene Stiltypen der Figurenrede ermitteln lassen, gibt es doch in der historischen Entwicklung des Verhältnisses von epischem Bericht und direkter Rede einige grundlegende Veränderungen, auf die Betten (1985b) mit Beobachtungen aus Romanen vom 15. Jahrhundert bis zur Gegenwart eingeht: In den frühen Romanen, etwa bis zu Jörg Wickram, ist nämlich die Satzkomplexität der Figurenrede durchschnittlich höher als im epischen Teil. Dies ist eventuell über die mittelalterliche Versepik bis in die früheste germanische Dichtung zurückzuführen, in der die direkte Rede als Mittel wirkungsvoller Deklamation für den Rhapsoden mit allen Kunstgriffen der Rhetorik ausgestaltet wurde; die Erzählsätze waren hingegen einfacher gebaut, da in dieser Periode überwiegender Hörrezeption die meiste Prosa wenigstens teilweise den Strukturierungsprinzipien des Mündlichen folgte. Daraus ergibt sich zunächst ein umgekehrtes Verhältnis wie in der Moderne, das sich jedoch seit dem 16. Jahrhundert, wahrscheinlich unter dem Einfluß des Übergangs zur Leserezeption, langsam wandelt. Nun gelten für die Figurenrede mehr und mehr Stilideale der .Natürlichkeit' und Sprechnähe, während der Erzählstil immer komplexer und kunstvoller wird. Erst im 20. Jahrhundert beginnt sich dies durch bewußte Anlehnungen auch des epischen Stils an die Sprechsprache wieder zu ändern (vgl. Rosenthal 1981; Eggers 1976, 185ff.). - Aus ganz anderer, nämlich semiotischer Sicht geht Gtowmski (1974) derartige Fragen an. Er betrachtet die „Opposition zwischen

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Dialog und Narration", die auch zu Sprachdifferenzierungen innerhalb des Dialogbereichs (also zu Idiolekten der Figuren) führte, nicht als „immanentes Kennzeichen der Gattung", sondern als „das direkte Resultat einer spezifischen Romankultur, wie sie sich im 19. Jahrhundert herausgebildet hat" (3). Der Dialog des realistischen Romans habe die Vorstellung in die Praxis umgesetzt, daß die Rede „den Situationen und Verhältnissen, in denen sie zustande kommt, zu entsprechen" habe. Er nennt dies „formalen Mimetismus", „eine literarische Konvention", die in der russischen Literatur etwa durch den ,skaz' repräsentiert wird (6). Erst in der Prosa des 20. Jahrhunderts werde „das genannte Prinzip in gewissem Umfang in Frage gestellt" (4). Gtowinski (1974, 2) weist ferner darauf hin, daß selbst „in der einfachsten Erzählung" der „Dialog nicht die einzige Form der zitierten Rede zu sein" pflege: „Er tritt neben der indirekten Rede, der erlebten Rede und dem inneren Monolog auf. Er geht mit ihnen mannigfache Verbindungen ein." Diese in der Literaturwissenschaft viel behandelten Rede- bzw. Textformen können hier nicht weiterverfolgt werden, doch gibt es auch immer wieder linguistische Annäherungen an die dabei auftretenden Formen (und Sprachoppositionen). Es seien hier nur Brinkmann (1969) zur Einbettung von Figurensprache in Autorensprache' und Gülich (1990) über .Erzählte Gespräche in Marcel Prousts Un amour de Swann' als Beispiele angeführt. Gülich berührt mit ihrer textlinguistisch-pragmatischen Analyse von ,,narrative[r] Darstellung sprachlicher Kommunikation" (89) sowohl Bereiche der Erzählforschung wie der linguistischen Gesprächsanalyse. Es wird deutlich, daß für die „Fülle von Vorkommen von Redewiedergabe in den verschiedensten Formen [...] die übliche Einteilung in direkte, indirekte und erlebte Rede nicht ausreicht" (91), und daß selbst „bei einer differenzierteren Typologie als der üblichen Dreiteilung mit Mischformen zu rechnen ist" (95). Fast alle semiotischen bzw. semiologischen Arbeiten zu diesem Thema zitieren als Ausgangspunkt die Arbeit von Bachtin, ,Slovo ν romane' (,Das Wort im Roman') (1965), so Glowmski (1974,1), Kristeva (1972) gar in ihrem Aufsatztitel,Bachtin, das Wort, der Dialog und der Roman'. In Abschn. 2.1 wurde schon darauf hingewiesen, daß Kristeva (mit Bachtin) hier im allgemeinen von dem viel weiteren semiologischen Dialogbegriff ausgeht, dem „Dialog verschiedener Schreibweisen: der des Schriftstellers, der des Adressaten (oder auch der Person), der des gegenwärtigen oder vorangegangenen Kontextes" (346), dem „Dialogismus", der „der Sprache (langage) selbst inhärent ist" (350). Doch ist in diesen weiten Kontext natürlich auch die Figurenrede einbezogen: das objekthafte Wort (mot objectai) ist die direkte Rede der „Personen". Es erhält eine objektive, unmittelbare Bedeutung, befindet sich jedoch nicht auf derselben Ebene wie der Diskurs des Autors, der von ihm Abstand nimmt. Es orientiert sich zugleich an seinem Objekt und ist selbst Objekt der Orientierung des Autors. Es ist ein fremdes Wort, das sich dem Wort der Erzählung als einem Gegenstand des Verständnisses des Autors unterwirft. Die Ausrichtung des Autors an dem objekthaften Wort dringt aber in dasselbe nicht ein; sie nimmt es als Ganzes, verändert weder seinen Sinn noch seine Tonalität; sie ordnet es ihren eigenen Aufgaben unter, ohne daß sie demselben eine andere Bedeutung verleiht. Auf diese Weise ist das (objekthafte) Wort, das zum Objekt eines anderen (denotativen) Wortes geworden ist, sich dessen nicht „bewußt". (356)

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Daß die linguistischen und semiotischen Probleme des Dialogs im Roman immer wieder neu aufgerollt werden können (wenn auch manchmal vor allem aus Unkenntnis der einschlägigen Literatur), dokumentiert das Plädoyer von Lane-Mercier (1990, 43) ,Pour une analyse du dialogue romanesque': à l'heure actuelle, il n'existe aucune théorie systématisée apte à décrire les activités proprement dialogales des personnages en tant que complexe sémiotique doté de traits pertinents minimaux et intégré à la logique narrative globale. Es ist anzunehmen, daß vor allem die Erfindungsgabe der Autoren den wissenschaftlichen Dialog zum literarischen Dialog nie abreißen lassen wird. Quasi als Anhang sei eine besondere linguistische Perspektive der Nutzbarmachung literarischer Gespräche erwähnt, bei der Dialoge früherer Sprachstufen auf verschiedenen Ebenen analysiert werden, um Erkenntnisse über die sonst nicht überlieferte Sprechsprache bzw. Gesprächstechniken und Sprachhandlungsmuster „in früheren, sprachkulturell andersartigen epochen" (v. Polenz 1981,250) zu gewinnen. SchliebenLanges (1979) Studien zu mittelalterlichen Texten, ζ. B. dem Flamenca-Roman, gelten hier als wegweisend. V. Polenz übernimmt ihre Begründung, daß Gespräche in literarischen Texten zwar „meist stilisiert und pointiert, also gerade gefiltert durch die Intention des Autors, nicht einfach Mitschriften des zu seiner Zeit Üblichen" seien, sich aber, wenn man dies berücksichtige, durchaus als Quellen eignen (Schlieben-Lange 1979, 2). Während Schlieben-Lange „das Regelwerk, das Sprechen und Verstehen leitet" (6), untersuchen will und dabei unterscheidet nach Ebenen der Reziprozitätsherstellung, der formalen Gesprächsorganisation, der Sprechakte, der Handlungsmuster und der Normen (9), konzentriert sich v. Polenz beim Hildebrandslied und beim Nibelungenlied darauf, „ob und in welcher weise Sprachhandlungen" und Sprechereinstellungen „sprachlich bezeichnet worden sind" und wie „die hierarchischen Verknüpfungen von handlungen" ausgedrückt sind (250f.). Auf v. Polenz' Pilotstudie wiederum beziehen sich heute viele Mediävisten bei der Analyse mittelalterlicher Dialoge (vgl. Hufeland 1990). - Nicht auf die Interaktion, sondern auf den Code und seine ,Sprechsprachlichkeit' bezogen sind hingegen die Versuche von Sonderegger (z.B. 1981; 1990), besonders in lebhaften Kurzdialogen Reflexe mittelalterlicher Sprechsprache (etwa Begrüßungsformeln, syntaktische Kurzformen u.ä.) zu sehen (vgl. auch Wiehl 1990, 95f.). - Überschriften wie gesprochenes Italienisch in der Sprachgeschichte' für sieben Beiträge in Holtus/Radtke (1985, 330ff.) bezeugen, wieviel Resonanz diese immerhin doch mit Vorsicht zu praktizierenden Ansätze in Linguistik und Literaturwissenschaft derzeit finden. Die seit den 80er Jahren intensivierten Forschungen zu Mündlichkeit' und ,Schriftlichkeit' haben erwiesen, daß deren ,Reflexe' in der Literatur in keiner Epoche einfach mit dialogischen versus narrativen Texten gleichgesetzt werden können. Mehrere Projekte des 1985 begründeten Sonderforschungsbereichs an der Universität Freiburg (Übergänge und Spannungsfelder zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit) widmen sich Fragen des fingierten mündlichen Erzählens verschiedener Literaturen und Epochen (s. Goetsch 1985; Erzgräber/Goetsch 1987).

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Überlegungen für eine .ideale' Analyse

Der vorangehende Bericht hat gezeigt, daß es viele verschiedene Methoden und Interessen gibt, sich dem literarischen Dialog zu nähern, daß die meisten Analytiker jedoch, auch wenn sie sich zum Methodenpluralismus bekennen, nur bestimmte Phänomene mit den dafür geeignetsten Beschreibungsverfahren behandeln. Idealiter stehen die ausgewählten sprachlichen und dialogischen Phänomene in engem Bezug zur Thematik des dichterischen Werkes, sind symptomatisch für die Kommunikation, die der Autor via Figurenrede mit dem Leser/Zuschauer führt, und nicht Fingerübungen, bei denen die Anwendbarkeit einer Methode anhand eines brauchbaren Textes vorexerziert wird (vgl. Abschn. 2.2 zu Fish). So ist grundsätzlich Resümees wie dem von Roumois-Hasler (1982, 210) zuzustimmen, daß nicht jedes Beschreibungsmodell (in ihrem Falle das von Alltagsdialogstrukturen) „für jedes Drama gleich angewendet werden kann". Ein ,ideales' Modell, bei dem alle für die Interpretation eines Werkes notwendigen Faktoren zusammengeführt würden, wird aber bislang fast nur im Schlußteil einzelner Untersuchungen postuliert. Schon Burger/v. Matt (1972, vgl. Abschn. 2.3), denen eine der leider ganz selten gebliebenen Überleitungen der linguistischen Ergebnisse in die literaturwissenschaftliche Interpretation gelungen ist, bedauern, sich linguistisch auf eine Codeanalyse beschränkt zu haben, an die sich noch eine Dialogstrukturanalyse anschließen müßte. Auch in meiner Arbeit zum Drama der 70er Jahre (Betten 1985a) habe ich mich hauptsächlich, als Gegengewicht zu den vorherrschenden konversationsanalytischen Arbeiten, auf die Möglichkeiten einer detaillierten Codeanalyse konzentriert und nur passim und einmal exemplarisch eine Verbindung beider Ansätze versucht (anhand eines kurzen Kroetz-Dialogs S. 281—290 sowie indirekter S. 229—243). Geht man diesen idealen Weg, so ist das ob der Fülle der zu berücksichtigenden Gesichtspunkte meistens nur an kurzen Textausschnitten möglich. Ein ,ganzheitliches', integratives Konzept hat Hess-Lüttich in all seinen Arbeiten (s. zusammenfassend 1981; 1984; 1985) propagiert und teilweise praktiziert. Seine von linguistischen, semiotischen und literarischen Methodenkenntnissen gleichermaßen inspirierten Analysen stellen in dieser Hinsicht vielleicht die aspektreichsten Annäherungsversuche an eine .ideale' Analyse dar, fordern aber wegen der häufig daraus resultierenden terminologischen und inhaltlichen Überfrachtung auch dem wissenschaftlichen Leser ein Höchstmaß an Konzentration ab oder schlagen, gerade wegen der Vielzahl von Gesichtspunkten, wieder ins Aphoristische um. So wird sich die Mehrheit der Analysen wohl weiterhin selektiver Methoden bedienen, von denen der derzeitige Forschungsstand eine ausreichende Vielfalt anbietet, um das ganze Spektrum des so facettenreichen, autoren- und medienspezifischen Phänomens .literarischer Dialog' zu erfassen.

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Eichstätt

26. Geschichte von Dialogformen

1. 2. 3. 3.1 3.2 3.3 3.4 3.5 4.

Fragestellungen und Forschungslage Zur Frage der Quellen Aspekte von Dialogformen und ihre Geschichte Sprachliche Handlungsmuster, Sequenzmuster und Strategien Institutionen und Sprecherkonstellationen Äußerungsformen Themen und thematische Zusammenhänge Kommunikationsprinzipien Literaturhinweise

1.

Fragestellungen und Forschungslage

Um einen ersten Eindruck von den Aspekten einer historischen Betrachtung von Dialogformen zu geben, sollen hier einige Fragen formuliert werden, deren Beantwortung zu den Aufgaben einer Geschichte von Dialogformen gehört: (i)

(ii)

(iii)

(iv)

Welche Dialogformen lassen sich in bestimmten Gruppen, Gesellschaften oder Kulturen zu bestimmten Zeiten beobachten? Man könnte hier vom „kommunikativen Haushalt" einer Gesellschaft sprechen (vgl. Luckmann 1986,206). Inwiefern werden diese Dialogformen von den Sprechern als solche wahrgenommen („members' categories" im Gegensatz zu Artefakten der wissenschaftlichen Beschreibung)? Lassen sich Schwankungen im Anteil dialogischer und monologischer Umgangsformen in bestimmten Praxisbereichen beobachten? (Zum Bereich der Logik/ Dialektik vgl. Ong 1958; Hamblin 1970; ein weiteres Beispiel: traditionelle Verkaufsgespräche vs. nicht- oder reduziert-dialogische Organisation des Kaufens im Supermarkt.) Wie kann man eine uns nicht unmittelbar vertraute Dialogform besser verstehen? In diesem hermeneutischen Aspekt besteht ein enger Zusammenhang mit Fragestellungen der Ethnographie (vgl. etwa Geertz 1983), insbesondere der Ethnographie der Kommunikation (vgl. Beiträge in Gumperz/Hymes 1972 oder Bauman/ Sherzer 1974). Wie lassen sich befremdliche Aspekte unserer eigenen Dialogformen erklären?

546

(v) (vi)

(vii)

(viii) (ix)

(x)

(xi)

(xii)

(xiii)

(xiv)

G. Fritz

(Ζ. Β. durch den Blick auf ältere historische Traditionen, die zu uns heranreichen. Beispiel: Höflichkeitsrituale.) Wie entstehen neue Varianten von Dialogformen? (Z.B. durch Bevorzugung bestimmter Verlaufstypen einer etablierten Dialogform.) Wie spielen sich neue Varianten einer Dialogform in einer bestimmten Gruppe ein (Wiederholung eines Präzedenzverlaufs, Standardisierung, Konventionalisierung)? (Das Sich-Einspielen von Sonderformen von Dialogverläufen kann man bisweilen in Kleingruppen wie Familien oder Freundeskreisen unmittelbar beobachten.) Wie und warum verbreiten sich Neuerungen im Bereich der Dialogformen (spontane Nachahmung, Lehren und Lernen, Missionierung; funktionale Vorteile einer Neuerung, Prestige der „Erfinder" der Neuerung; die Rolle von sozialen „networks")? Wie entwickeln sich Dialogformen unter spezifischen institutionellen und medialen Bedingungen (die Huldigung, das Interview)? Gibt es Aspekte von Dialogformen, die leicht Veränderungen unterliegen bzw. solche, die eher veränderungsresistent sind? (Elementare illokutionäre Sequenzmuster wie Frage/Antwort, Behaupten/Bestreiten, Grundmuster von Aufforderung/Weigerung - im Gegensatz etwa zu den spezifisch höflichen Varianten scheinen relativ konstant zu bleiben. Dagegen unterliegen Äußerungsformen, Themen und Kommunikationsprinzipien stärker Veränderungen, desgleichen institutionelle Sonderformen von Dialogen.) Gibt es Dialoguniversalien (die Befolgung von Rationalitätsprinzipien, Höflichkeitsprinzipien; das Vorhandensein von elementaren Mustern für sprachliche Handlungen wie das Behaupten oder Teilhandlungen wie das Referieren)? Lassen sich in einzelnen Gruppen oder Gesellschaften in bestimmten Zeiträumen größere Tendenzen in der Entwicklung von Dialogformen erkennen, und wie kann man diese beschreiben (Standardisierung, Ritualisierung, Spezialisierung, Ausdifferenzierung, Säkularisierung, Zivilisierung)? Lassen sich für bestimmte Bereiche des dialogischen Redens epochenartige Abschnitte beschreiben, die durch spezifische gesellschaftliche Bedingungen gekennzeichnet sind? Aus welchen Bausteinen bestehen Erklärungen der Kontinuität und der Veränderung von Dialogformen? (Z.B. Hinweise auf: Ziele und Interessen einzelner Sprecher; die Bedingungen, unter denen diese handeln; die Prinzipien, denen sie folgen ; das schon vorhandene Repertoire an Dialogformen ; die Zwecke, denen die alten und neuen Dialogformen dienen; die kollektiven Konsequenzen individueller Handlungen.) In welcher Weise lassen sich historische Untersuchungen als Prüfsteine für Dialogtheorien nutzen? (Z.B. in bezug auf den Status des Regelbegriffs, die Beschreibung von Graden der Konventionalisierung oder die Frage der Universalität von Kommunikationsprinzipien; vgl. Art. 10.)

Die Forschungslage zur Geschichte von Dialogformen muß differenziert beurteilt werden. Einerseits gibt es vielfältig verstreute Arbeiten zu einzelnen historischen Dialogen und Dialogformen, vor allem aus den Bereichen der Literaturgeschichte, der Rhetorikgeschichte und der Philosophiegeschichte. Diese sind aber kaum systematisch erfaßt, so daß es schwierig ist, einen allgemeinen Überblick über den Stand der Forschung in diesem Sektor zu gewinnen. In Arbeiten dieser Art stehen im allgemei-

26. Geschichte von

Dialogformen

547

nen folgende Forschungsinteressen im Vordergrund: hermeneutische Fragen, Fragen der literarischen bzw. rhetorischen Technik der Dialogdarstellung, Fragen der Struktur einzelner literarischer Werke bzw. der Besonderheiten einzelner Autoren. Entwicklungsgeschichtliche Untersuchungen im eigentlichen Sinne sind eher selten. Brauchbare Ansätze finden sich, um nur einige Beispiele zu nennen, in Hirzel (1895) oder in neueren Arbeiten wie der kurzen Einleitungsskizze in Schmölders (1986) und den der Rhetorik verpflichteten Darstellungen in Göttert (1988) und Beetz (1990). Ein besonderes Desideratum sind Arbeiten, die eine explizite dialogtheoretische Fundierung mit einer entwicklungsgeschichtlichen Perspektive verbinden und eine Übersicht über die historische Entwicklung grundlegender Dialogformen geben. Seit einigen Jahren zeigt sich zwar verstärkt ein historisches Interesse in der Dialogforschung (vgl. ζ. B. Henne 1980; v. Polenz 1981; Schlieben-Lange 1979; 1983; Weigand 1988), aber in diesen Arbeiten, die sich an neueren Entwicklungen im Bereich der Sprechakttheorie und Gesprächsanalyse orientieren, steht noch die Analyse von einzelnen sprachlichen Handlungen oder Dialogen in Texten älterer Sprachstufen im Vordergrund. Die Perspektive dieser Arbeiten ist zumeist kontrastiv, zumindest implizit, d. h. es werden die in bestimmten historischen Dialogdarstellungen erkennbaren Dialogmuster verglichen mit der heutigen Dialogpraxis. Die eigentliche Entwicklung der Dialogformen sowie deren Zusammenhänge und Bedingungen werden (noch) nicht behandelt. Was eine Geschichte von Dialogformen mit einer genuin evolutionären Perspektive und systematischen Fragestellungen angeht, so befinden wir uns noch ganz am Anfang der Forschung. Dementsprechend dokumentiert der vorliegende Artikel einerseits vorhandene Ansätze, andererseits bietet er in vielen Punkten erst noch einzulösende Programmatik und die Formulierung von Desideraten. An dieser Stelle sollen einige Grundannahmen einer Theorie der Entwicklung von Dialogformen dargestellt werden. Eine derartige Theorie soll systematische Fragestellungen der zu Beginn dieses Abschnitts erwähnten Art eröffnen, wie wir sie auch aus anderen sprachhistorischen Arbeitsfeldern kennen. Diese Annahmen betreffen zum einen die Dialogtheorie, zum andern die entwicklungsgeschichtliche Perspektive. Die wesentlichen dialogtheoretischen Annahmen lassen sich folgendermaßen zusammenfassen: Historische Dialogformen sind charakterisiert durch bestimmte Ausprägungen ihrer grundlegenden Organisationsprinzipien (vgl. Art. 10), z.B. der in entsprechenden Dialogen realisierten Sequenzmuster, der charakteristischen Äußerungsformen, der thematischen Zusammenhänge und der in den betreffenden Dialogen angewendeten Kommunikationsprinzipien. In jedem der Aspekte der Grundstruktur einer Dialogform können unter geeigneten Bedingungen Veränderungen eintreten. Veränderungen in einem Aspekt sind häufig mit Veränderungen in anderen Aspekten verknüpft oder bringen solche hervor. So hängen Veränderungen im Wortschatz häufig mit Veränderungen im thematischen Bereich zusammen, oder Veränderungen in der Gültigkeit von Kommunikationsprinzipien führen zu einer neuen Bewertung von bestimmten Dialogstrategien. Die entwicklungsgeschichtliche Perspektive läßt sich folgendermaßen darlegen: Eine über eine gewisse Zeit hin stabile Dialogform kann man, in Anlehnung an die

548

G. Fritz

Analyse des Konventionsbegriffs in Lewis (1969), als die Lösung einer rekurrenten kommunikativen Aufgabe deuten. So könnte man z.B. das Feilschen um den Preis einer Ware als eine mögliche Lösung des Problems auffassen, eine Einigung über einen zunächst nicht klar fixierten Preis zu erzielen, oder die uns vertraute alltägliche Form von Frage/Antwort-Dialogen könnte man verstehen als eine klassische Lösung des Problems der Gewinnung gemeinsamen Wissens. Wenn nun eine neue Problemsituation eintritt, ergibt sich für die Mitglieder einer Gesellschaft oder einer sozialen Gruppe die Aufgabe, adäquate Lösungen zu finden. Am Beispiel der Gewinnung (zumindest partiell) gemeinsamen Wissens könnte man zeigen, wie für spezielle Problemsituationen Speziallösungen entdeckt, aufgenommen und verbreitet wurden, ζ. B. die Dialogformen des Verhörs, der Beichte oder des Interviews. Es entstehen in diesen Fällen institutionsspezifische Sonderformen des ursprünglichen Frage/Antwort-Musters, die bestimmte Zwecke in diesen Institutionen erfüllen (vgl. Art. 12). Weitere Beispiele für diese Betrachtungsweise sind: In welcher Weise haben Sprecher gelernt, Schwierigkeiten wie Mißbehagen und Mißtrauen bei der Begegnung mit Fremden zu überwinden (z.B. durch höfliche Rituale wie Grüße und Komplimente; vgl. Beetz 1990, 168ff.) oder Konflikte zu entschärfen, die durch eine Verfehlung eines der Dialogpartner entstanden sind? (Etwa durch Wiedergutmachungshandlungen wie Entschuldigungen, deren Funktion in „remedial interchanges" Goffman 1971, 124ff. beschrieben hat.) Eine Aufgabe einer theoretisch fundierten Geschichte von Dialogformen könnte es nun sein zu zeigen, wie die betreffenden kommunikativen Verfahrensweisen, samt Äußerungsformen, Strategien und Dialogprinzipien, in Anpassung an die ökologischen Forderungen wechselnder Problemsituationen entstehen und schrittweise verändert werden (vgl. Toulmin 1972, 352). Die hier skizzierte Problemlöseauffassung der Genese, Veränderung und Kontinuität von Dialogformen ist ein nützlicher Analyserahmen, der dazu beiträgt, die Geschichte der Dialogformen im Zusammenhang zu sehen mit den kommunikativen Zwecken, die Dialogformen in einem bestimmten Umfeld erfüllen. Nun ist aber die eben gegebene Beschreibung dieser Auffassung zumindest in zweierlei Hinsicht einschränkungsbedürftig. Erstens darf die Idee des Problemlösens nicht zu aktivistisch verstanden werden. Veränderungen in Dialogformen werden zumeist nicht von einzelnen Individuen oder Gruppen intentional oder gar reflektiert eingeführt. Vielmehr scheint es so zu sein, daß sich bei den tastenden Versuchen der Dialogteilnehmer, mit lokalen praktischen Problemen fertig zu werden, neue kommunikative Varianten ergeben, von denen manche nach bestimmten Bewertungsprinzipien besonders attraktiv sind und deshalb wieder aufgenommen werden, sich einspielen und verbreiten, ohne daß die ursprünglichen „Entdecker" die Intention gehabt hätten, eine neue Dialogform zu etablieren (vgl. Ullman-Margalit 1978; Keller 1990). Zweitens darf man nicht erwarten, daß für alle Dialogformen einer hochentwikkelten kommunikativen Praxis eine direkte funktionale Erklärung des erwähnten Typs möglich ist. Das könnte z.B. gelten für die Entdeckung spielerischer Varianten etablierter Dialogformen oder für überkommene „leere Rituale". Bei spielerischen Formen wie der parodistischen Dialognachahmung, dem Rätsellösedialog oder dem Erfinden von Geschichten könnte man sich eine Genese denken, die nicht aus der kommuni-

26. Geschichte von Dialogformen

549

kativen Not, sondern aus der Freude am kommunikativen Luxus zu erklären ist. Hier könnte es schwer werden, vorgegebene Probleme anzugeben, zu deren Lösung diese Dialogformen hätten beitragen sollen, was aber nicht bedeutet, daß diese Formen nach ihrer Entdeckung nicht charakteristische kommunikative Zwecke erfüllen. Etwas anders gelagert ist der Fall, in dem eine ursprünglich problemlösende Dialogform als „leeres Ritual" weitertradiert wird. In diesem Fall bewirkt ein besonders konservativer Selektionsprozeß die Ablösung der Form von ihrem primären Praxiszusammenhang. Auch hier ist eine direkte funktionale Erklärung nicht möglich (vgl. Toulmin 1972, 350f.). Ob die für eine evolutionäre Betrachtung notwendigen Fakten jeweils zugänglich sind, ist natürlich eine Frage der Quellenlage. Für die elementaren Dialogformen, deren Entstehung vor die Zeit verfügbarer Quellen fällt, kann es hilfreich sein, in Form einer Konjekturalgeschichte die Struktur der Zusammenhänge zu rekonstruieren, in denen diese Dialogformen entstanden sein könnten. Schöne Beispiele für die Form einer derartigen Konjekturalgeschichte finden wir in Strecker (1987).

2.

Zur Frage der Quellen

Die ideale Quellenlage für die Beschreibung einer Dialogform könnte man folgendermaßen charakterisieren: Man besitzt zahlreiche Videobänder (samt Transkriptionen) von entsprechenden Dialogen, deren Aufnahme man teilnehmend beobachtet hat, und man ist durch eigene Praxis mit der betreffenden Dialogform vertraut. Gemessen an diesen Idealbedingungen muß man bei der Beschreibung von historischen Dialogformen zumeist weitgehende Abstriche machen, die für die Vertrauenswürdigkeit der Beschreibungen natürlich Konsequenzen haben. Dem genannten Ideal käme man etwa dann noch relativ nahe, wenn man als Zeitgenosse die Geschichte von Dialogformen in den Medien auf der Grundlage von authentischem Bandmaterial schreiben wollte. Eine ungewöhnliche Variante dieses Quellentyps sind Beethovens Konversationshefte, in die die Besucher des schwerhörigen Komponisten ihre Gesprächsbeiträge eintrugen. Einen Schritt weiter entfernt vom authentischen Material sind Quellen wie Protokolle, z.B. von Parlamentssitzungen (vgl. Grünert 1974; Holly 1982), Reichstagen, Gerichtsverfahren (fürs Mittelalter z.B. sog. Urgichtenbücher, d.h. Geständnisbücher), Dialogen mit Kindern (wie sie in der frühen Kindersprachforschung vorliegen, z.B. Katz/Katz 1928) etc. Es folgen als Quellen die Beschreibungen von Dialogverläufen, die wir in Briefen, Tagebüchern etc. finden. Weiterhin Darstellungen von exemplarischen Dialogverläufen in historischen, philosophischen, literarischen, pädagogischen und dialogkritischen Werken. Einige klassische Beispiele für diesen Quellentyp: die Beratungen der Griechen im „Peloponnesischen Krieg" des Thukydides, der „conseil des barons" im altfranzösischen „Rolandslied" (vgl. Köhler 1968), die Beratungsgespräche im Thronrat in Opitzens „Argenis"-Übersetzung; Lehrgespräche (zwischen Trevrizent und Parzival) bei Wolfram von Eschenbach (vgl. Kästner 1978),

550

G. Fritz

in den „Colloquia familiaria" des Erasmus und anderen sog. Schülergesprächen (vgl. Börner 1897/1899), (zwischen Mentor und Telemach) in Fénelons „Télémaque" oder in Campes „Robinson der Jüngere" (vgl. Naumann 1991); Vorwurfssequenzen im Ehebüchlein des Albrecht von Eyb; Streitszenen in Fastnachtsspielen, Streit- und Gerichtsdialoge im „Nibelungenlied" oder im „Ackermann von Böhmen". Weiterhin gibt es Darstellungen von Dialogverlaufstypen in Lehrbüchern (z.B. in sog. Gesprächsbüchern und anderen Fremdsprachenlehrbüchern), Kodifizierungen von hervorgehobenen Verlaufstypen in Rechts- und Verwaltungstexten, Normierungshinweise für Dialogverläufe in Verhaltenslehren (z.B. Knigge 1790), Komplimentierbüchern, Konversationslehren (z.B. Hunold 1716), mittelalterlichen Tischzuchten etc. (zu sprachreflexiven Quellen vgl. Gloning 1993). Die meisten dieser Quellen sind zwei bis drei Stufen von authentischen Dialogen entfernt, so daß wir bei der Einschätzung der Quelle Gesichtspunkte wie das Wissen und die Darstellungsintentionen des Autors, die Überlieferungslage der betreffenden Quelle und viele andere, vor allem hermeneutische Fragen berücksichtigen müssen. Wie diese Beispiele für Quellentypen zeigen, besteht ein enger Zusammenhang zwischen der Geschichte der Dialogdarstellungen bzw. Dialogtyp-Darstellungen und der Geschichte von Dialogformen (vgl. Schlieben-Lange 1979; Betten 1985; s. auch Art. 25).

3.

Aspekte von Dialogformen und ihre Geschichte

3.1

Handlungsmuster, Sequenzmuster und Strategien

Im vorliegenden Abschnitt 3 soll der für eine Geschichte von Dialogformen leitende dialogtheoretische Gedanke näher ausgeführt werden, daß sich Dialogformen in allen Aspekten ihrer Grundstruktur verändern können und daß Veränderungen in unterschiedlichen Aspekten miteinander verknüpft sein können. Grundlegende Fakten in der Geschichte von Dialogformen sind die Einführung und die Veränderung, aber auch die Konservierung von einzelnen Handlungsmustern, ganzen Sequenzmustem und besonderen Strategien innerhalb der Sequenzmuster. Streng genommen bedeutet jede Einführung eines neuen Handlungsmusters bzw. die Veränderung eines solchen die Veränderung des ganzen Sequenzmusters und damit der Dialogform. In spieltheoretischer Redeweise könnte man sagen, daß sich das ganze Spiel verändert, wenn eine neue Zugmöglichkeit eingeführt wird (vgl. Art. 8). Wenn man die Betrachtung einzelner prominenter Handlungsmuster zum Ausgangspunkt nimmt, was durchaus sinnvoll sein kann, so muß man darauf achten, daß man die Zusammenhänge dieser Handlungsmuster adäquat erfaßt. Als Beispiel könnte man die Veränderungen des Musters BEWEISEN im Laufe der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Prozeßpraxis untersuchen (vgl. Heringer 1977, Kap. 4; Fritz/Muckenhaupt 1984, Kap. 26). BEWEISEN kann man auffassen als einen Reaktionszug im Vorwurfsoder Anklagespiel, der durch besondere Ausführungsmöglichkeiten und -beschränkungen definiert ist. So kann man z. B. nach den Rechtsvorschriften des Sachsenspie-

26. Geschichte von Dialogformen

551

gels beim Vorwurf des Raubs seine Unschuld dartun, indem man einen Reinigungseid schwört. Dies ist aber nur zulässig, wenn man nicht des wiederholten Raubs angeklagt wird. Sollte letzteres der Fall sein, kann man seine Unschuld dartun, indem man „das glühende Eisen trägt", „in einen wallenden Kessel greift" oder sich dem Zweikampf stellt. Entscheidend ist nun, daß der Historiker die verschiedenen Beweisformen, darunter auch die sog. Gottesurteile, die ja wesentlich nichtsprachliche Handlungen sind, im Zusammenhang ihres Handlungsumfeldes (Bedingungen, Alternativen, Konsequenzen) beschreibt. Aufgabe der entwicklungsgeschichtlichen Betrachtung ist es, Veränderungen in den Beweismitteln (z.B. die Abschaffung der Unschuldseide und die Aufwertung des Geständnisses im Strafprozeß der Neuzeit) und in den Zusammenhängen des Beweises zu rekonstruieren (z.B. die Verteilung der Beweislast oder die Rolle der Folter; vgl. Kornblum 1971). Wenn man in diesem Beispiel von der Geschichte des Beweisens spricht, so muß man allerdings beachten, daß handlungskennzeichnende Ausdrücke wie mhd. bewisen einem Bedeutungswandel unterliegen können, so daß man sich nicht darauf verlassen kann - wie oben zunächst naiv getan - , daß ein Sprecher des Mhd. sich mit der Verwendung von bewisen oder bewisunge auf ein Muster BEWEISEN im modernen Sinne bezieht. Die sprechaktkennzeichnenden Ausdrücke sind hier nur ein erster Hinweis für eine historische Fragestellung. (Zu sprechaktkennzeichnenden Ausdrücken in mhd. literarischen Texten vgl. v. Polenz 1981; zum Problem des Verstehens fremder Lebensformen vgl. Winch 1972; vgl. auch Art. 9.) Am Beispiel der Formen der LIEBESERKLÄRUNG, für die Schwarz (1984) den Versuch einer „Sprechaktgeschichte" vorgelegt hat, läßt sich nochmals verdeutlichen, daß es nicht primär das isolierte Sprechaktmuster ist, für das aufschlußreiche historische Einsichten zu erwarten sind, sondern die weiteren Sequenzzusammenhänge. Führt man sich vor Augen, in welchen Aspekten Veränderungen der Praxis von Liebeserklärungen zu erwarten sind, dann kommt man u. a. zu folgenden Fragestellungen: Wer darf das Spiel der Liebeserklärung eröffnen und mit welchen Mitteln? Welche Teilschritte gibt es für eine Liebeserklärung? Welche Reaktionsmöglichkeiten gibt es auf die einzelnen Teilzüge einer Liebeserklärung? Wie kann man eine abschlägige Reaktion angemessen gestalten? Welche strategischen Probleme und Alternativen gibt es für die beiden Beteiligten (Probleme der Offenlegung der Gefühle und der Festlegung auf bestimmte Handlungskonsequenzen)? Welche Folgen haben die betreffenden Handlungen jeweils? In diesen Aspekten wird man fundamentale Unterschiede zwischen einer Liebeserklärung bei mittelalterlichen Adligen, viktorianischen Bürgern und heutigen Studenten/Studentinnen erwarten, Unterschiede, die viel über die jeweilige Lebensform erkennen lassen. Diese Aspekte erfaßt man nicht, wenn man einzelne Sprechaktmuster isoliert betrachtet. Als Beispiele für Sequenzmuster, deren Form und Status historische Veränderungen erfahren haben, seien nur zwei genannt, Streitdialoge und Komplimentierdialoge. Es gibt z.B. einen Typ von Herausforderungsdialog, den man in ähnlicher Form sowohl bei den Homerischen Helden als auch bei den germanischen Kriegern findet. Als Vorbereitung zum Kampf loben sich die Kämpfer selbst und beschimpfen sich

552

G. Fritz

wechselseitig (vgl. Bebermeyer 1984; Bax 1991). Für diese Art der Reizrede bzw. für den aus solchen Reizreden bestehenden Dialog gibt es in den germanischen Dialekten sogar besondere redekennzeichnende Ausdrücke: im Altnordischen hvöt („Aufreizung") und senna („Wortstreit") im Altenglischen gylpcwide oder gylpspraec („Prahlrede") (Beowulf 981), im Mittelhochdeutschen das mit gylp verwandte gelpf (Nibelungenlied 430,1)· Dieses Muster in seiner ritualisierten Form hat m. W. in den heutigen mitteleuropäischen Kulturen nicht den Status, den es in Kulturen hatte, in denen der Einzelkampf eine wichtige Rolle als Entscheidungsverfahren spielen konnte. Es finden sich jedoch entfernt verwandte Muster im Streit unter Kindern oder auch in Wahlkampfdiskussionen von Politikern. Diese Dialogformen gehören in den größeren Rahmen der Streitkommunikationen, für deren Geschichte wir zwar vielfältige Einzelbeobachtungen besitzen, aber keine Übersichtsdarstellung. Hier müßten typische, zeitspezifische Streitgegenstände beschrieben werden (vom Besitzstreit der germanischen Gesetze über Rangstreitigkeiten bei den Reichstagen der frühen Neuzeit bis hin zu modernen Beziehungskonflikten), weiterhin die unterschiedlichen Realisierungen von Mustern wie Vorwerfen, Beschimpfen, Verspotten, Hänseln, „Raillerie" (vgl. Hunold 1716, Kap. VI; s. a. Berger 1978, 226f.), Beleidigen, Polemisieren (vgl. Schwitalla 1986), die typischen Reaktionsmuster (z.B. Beleidigung/Gegenbeleidigung, bes. in Formen ritueller Beleidigung; vgl. Labov 1972), ebenso Strategien der Aufschaukelung und Abwiegelung und schließlich die bei der Gestaltung und der Vermeidung von Streit wirksamen Kommunikationsprinzipien. Für die stärker argumentativ orientierten Streitformen wären Beobachtungen zur Eristik heranzuziehen (ζ. B. Schopenhauers „Eristische Dialektik"). Besser ist die Forschungslage in bezug auf die Geschichte von Komplimentsequenzen. In Arbeiten wie Braungart (1988), Beetz (1990) und Fauser (1991) sind wichtige Grundmuster des Komplimentierens und deren Funktion im Überblick beschrieben. Es werden Entwicklungstendenzen vom 16. —18. Jahrhundert erkennbar gemacht und mit Veränderungen der Lebensform in Zusammenhang gebracht. Was aus dialoganalytischer Sicht bisher noch unterrepräsentiert ist, ist die Rekonstruktion von Typen von Dialogverläufen, alternativen Strategien und charakteristischen Äußerungsformen. Hier gibt es für die gegenwärtige Praxis des Komplimentemachens, vor allem in angelsächsischen Ländern, methodisch lehrreiche Beschreibungen (vgl. z.B. Herbert 1989). Eine der möglichen Veränderungen von Dialogformen besteht darin, daß bestimmte Strategien besonders hervorgehoben werden, sei es daß sie besonders positiv bewertet, besonders kritisch betrachtet oder zu einem eigenen Spiel ausgebildet werden (vgl. Carlson 1983, 56f.). Was die Bewertung von einzelnen Handlungen und Strategien angeht, so werden einige Hinweise im Abschnitt über Kommunikationsprinzipien (3.5) gegeben. Hier soll kurz ein Beispiel dafür angeführt werden, wie sich eine bestimmte Strategie zu einem Spiel sui generis entwickeln kann. In alltäglichen Planungskommunikationen besteht eine gebräuchliche Strategie darin, Vorschläge zu machen und diese dann gleich zu diskutieren, um dann zu anderen, möglicherweise modifizierten Vorschlägen überzugehen und diese auf dieselbe Art und Weise zu behandeln. Diese

26. Geschichte von Dialogformen

553

Strategie hat den Vorteil, daß man sich frühzeitig über die Qualität der gemachten Vorschläge Rechenschaft ablegt, sie hat aber den Nachteil, daß erst nach längerem Dialogverlauf eine größere Zahl von Vorschlägen auf den Tisch kommt. Möchte man in der explorativen Phase einer Problemlösekommunikation eine möglichst hohe Zahl unterschiedlicher Vorschläge und sonstiger relevanter Hinweise erzielen, so kann man die Strategie favorisieren oder gar vorschreiben, daß Vorschläge und sonstige Hinweise zunächst undiskutiert aufgehäuft werden. Diese Strategie wurde in den 30er Jahren in den USA entwickelt und als brainstorming bezeichnet. Brainstorming ist also eine Einzelstrategie von Planungs- bzw. Problemlösedialogen, die zu einer eigenen Dialogform weiterentwickelt wurde. (Zu Sequenzen und Strategien in Planungsdialogen vgl. Fritz 1982, Kap. 8.)

3.2

Institutionen und Sprecherkonstellationen

Eine Institution kann man definieren als eine Struktur von Handlungsmustern, nach denen bestimmte Typen von Personen handeln und über die gemeinsames Wissen besteht (vgl. Berger/Luckmann 1976,72ff. ; vgl. auch Art. 16). In diesem Sinne verstanden, sind Dialogformen selbst institutionsartige Strukturen, allerdings mit der Einschränkung, daß hier nicht notwendigerweise eine Spezialisierung bestimmter Dialogteilnehmer auf bestimmte sprachliche Handlungsmuster vorausgesetzt ist. Institutionen in einem engeren Sinne sind Organisationsformen wie Familie, Arbeitsplatz, Wochenmarkt, vor allem aber, auf der Makroebene der Beschreibung einer Gesellschaft, Formen wie Verwaltungseinrichtungen, Religionsgemeinschaften, Wissenschaftseinrichtungen und Medien. In Institutionen dieser Art entwickeln sich häufig standardisierte Sonderformen der alltäglichen Dialogformen, man denke z.B. an Formen von Lehr- und Lernkommunikationen in Schulen und an Universitäten (z.B. Vorlesung, Disputation, Seminar; vgl. Paulsen 1919), an Sonderformen von Bittgesprächen in der Audienz bei Hofe (sog. Intercessionen), an Frage/Antwort-Kommunikationen bei der Visite in der Klinik (vgl. Bliesener 1982) oder an Sonderformen des Trostgesprächs im seelsorgerlichen Gespräch usw. Wie die obige Definition von Institution schon nahelegt, bilden sich in Institutionen standardisierte Sprecherkonstellationen heraus, die durch Kompetenz- und Wissensverteilung und durch Handlungsspezialisierungen für einzelne Sprechertypen gekennzeichnet sind. Eine Möglichkeit, derartige Konstellationen zu beschreiben, ist die Annahme von institutionsspezifischen Rollen. Eine Rolle in einer Dialogform kann man definieren als die geordnete Menge der Muster, nach der ein bestimmter Dialogteilnehmer in Dialogen bestimmter Art handeln kann (vgl. Heringer 1974, 69). Inhaber/innen einer speziellen Rolle innerhalb einer Institution sind also für bestimmte (sprachliche) Handlungen zuständig. In vielen Fällen geht diese Zuständigkeit mit bestimmten Privilegien einher, u.a. beim turn-taking. Beispiele für solche Rollen sind Priester, Schamanen, Lehrer, Anwälte, professionelle Berater, Psychoanalytiker, Moderatoren, Hofnarren usw. (Zur Rolle der Schamanen vgl. Eliade 1968; zur Geschichte der Hofnarren vgl. Lever 1983.) Die Geschichte der jeweiligen Rolle ist aufs engste verknüpft mit der Geschichte der

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Institution, so daß sich wesentliche Aspekte der Institutionsgeschichte in der Geschichte der Rolle zeigen. Probleme, die einzelne Rollenträger mit der Gestaltung der Rolle haben, können Indikatoren sein für historische Veränderungen der Rolle und ihres institutionellen Zusammenhangs. 3.3

Äußerungsformen

Zur Geschichte der Äußerungsformen unter dialoganalytischem Aspekt gehören große Teile der historischen Grammatik und Semantik (bzw. der Geschichte des Wortschatzes). Einen besonderen Schwerpunkt bildet die Geschichte der gesprochenen Sprache (zur heutigen gesprochenen Sprache vgl. Art. 2). Dabei gibt es natürlich Gegenstandsbereiche, die aufgrund der Quellenlage vor allem für die neueste Zeit aussichtsreich zu bearbeiten sind, z.B. Entwicklungen der phonetischen Realisierung (vgl. aber Weithase 1961 zur Sprecherziehung im 19. Jahrhundert, Bellmann 1990 zu Bemühungen um „schriftgemäße Aussprache" seit dem 16. Jahrhundert), insbesondere Entwicklungen der Intonationspraxis. Besser sieht es für eine über weitere Zeiträume ausgreifende Forschung im Bereich der Syntax aus (vgl. z.B. Sandig 1973; Grosse 1985; Betten 1990; Sonderegger 1980; 1981; 1990). Syntaktische Kurzformen, Satzarten, Wortstellungsvarianten, der Gebrauch von Anakoluthen, der Gebrauch von Modalpartikeln, Mittel der Redewiedergabe (z.B. Konjunktivgebrauch) - um nur einige Beispiele zu nennen - sind historisch nicht invariant. Für die Möglichkeiten der Ellipse zeigt das der Vergleich der folgenden mhd. Sequenz (Nibelungenlied 872f.) mit ihrem nhd. Gegenstück: (1) A: obersininnenwurde,sotorsteinniemenbestan. B: Nein er. (2) A: Wenn er es merkt, kann sich keiner an ihn heranwagen. Β : Das wird er nicht. Für viele sprachliche Handlungen gibt es syntaktisch und lexikalisch standardisierte Äußerungsformen. Dies gilt zunächst einmal für routinisierte Sprechhandlungsmuster wie Anrede-, Gruß-, Fluch-, Gratulations- und Wunschhandlungen. (Zu Routineformeln in der Kommunikation vgl. Coulmas 1981. Zur Geschichte der Anredeformen im Dt. vgl. Metcalf 1938; Fritz/Muckenhaupt 1984; 189ff.; zu Grußformeln im Afrz. vgl. Lebsanft 1988; 1989; zur Geschichte des Fluchens im Engl. vgl. Hughes 1991, im Schweizerdeutschen vgl. Lötscher 1981.) In diesen Bereich der verbalen Stereotype gehören auch idiomatische Wendungen, Gemeinplätze oder Sprichwörter, die für spezifische sprachliche Handlungen geeignet sind, z.B. für resümierende Abschlußhandlungen beim Erzählen („Wer zuletzt lacht, lacht am besten"). (Zur Geschichte der Sprichwörter im Dt. vgl. das Material in Wander 1867—1880.) Aber auch für weniger stereotype Handlungsmuster wie Aufforderungen, Bitten, Vorschläge etc. gibt es standardisierte Äußerungsformen. Gerade das Repertoire der Äußerungsformen für direktive Sprechakte ist in verschiedenen Sprachen und auf verschiedenen Sprachstufen funktional sehr fein ausdifferenziert

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555

(zur deutschen Gegenwartssprache vgl. Hindelang 1978). Hier wäre ein fruchtbares Feld für entwicklungsgeschichtliche Untersuchungen. So gibt es im Deutschen sog. modalisierte Sprechakte schon seit dem Mhd. („ih wil iu daz raten", ,Das möchte ich euch raten'), jedoch ändert sich der Formenbestand im Laufe der Zeit. Die Form „Darf ich Sie b i t t e n , . . . ?" scheint sich im Deutschen erst gegen Ende des 17. Jahrhunderts zu finden, die Form „Ich darf Sie b i t t e n , . . . " erst in neuerer Zeit. In bezug auf den lexikalischen Bestand gälte es einerseits, den Teil des Wortschatzes zu untersuchen, der für den illokutionären Aspekt sprachlicher Handlungen eine wichtige Rolle spielt, von den handlungskennzeichnenden Ausdrücken in performativen Formeln (Ich verspreche dir...) über handlungsspezifische Ausdrücke wie etwa Schimpfwörter (vgl. z.B. Lepp 1908; Maas 1952; Bering 1978; Hughes 1991) und bewertende Ausdrücke (z.B. klug, weise etc.; vgl. Trier 1931) bis hin zu sog. Modalwörtern (leider, vermutlich', vgl. Schildt 1990), Modalpartikeln, epistemischen Verwendungen von Modalverben (vgl. Fritz 1991) und Interjektionen (vgl. Burger 1980). Andererseits wäre der thematische Wortschatz, der im ganzen schon besser erforscht ist (fürs Dt. vgl. etwa Maurer/Rupp 1974), unter dem Gesichtspunkt der Geschichte von Dialogthemen und deren Formulierung bzw. Realisierung aufzuarbeiten (vgl. Abschn. 3.4). Zu berücksichtigen sind auch Schichten des Wortschatzes, wie fremdsprachlicher, fachsprachlicher, regionaler, archaischer und innovativer Wortschatz, die in sich wandelnder Form für Fachgespräche, Insider-Gespräche, Lehr- und Lernkommunikationen, Dialoge mit Code-switching etc. verwendet werden können. (Zur historischen Semantik aus kommunikationsanalytischer Sicht vgl. Fritz 1988.) 3.4

Themengeschichte

Da Themen und thematische Zusammenhänge zu den grundlegenden Organisationsprinzipien von Dialogen gehören, ist die Themengeschichte ein integraler Bestandteil einer Geschichte von Dialogformen. Relevante Aspekte sind hier: (i) die Distribution thematischen Wissens auf bestimmte Gruppen, (ii) die Entdeckung, Einführung und Verbreitung von neuen Themen (z.B. Verbreitung aus dem wissenschaftlichen Diskurs in den Alltagsdiskurs; vgl. z.B. Pörksen 1986; Kalverkämper 1989), (iii) „Themenkarrieren" (vgl. medienwissenschaftliche Untersuchungen wie Schönbach 1982; Ehlers 1983), (iv) die Kontinuität von Themen in bestimmten Gesellschaften bzw. Gruppen (z.B. die Tradition von religiösen Themen), (v) Veränderungen in der Einschätzung von Themen (Themen gelten als wichtig oder unwichtig, sind „in" oder „out"), (vi) Veränderungen in den Nonnen für den Umgang mit Themen (ζ. B. bei Themen wie Sexualität oder Tod). Zwei Beispiele sollen die themenhistorische Betrachtungsweise verdeutlichen. Im Frankreich des 15. Jahrhunderts tauchen mit dem neuen Interesse für die Belange des Kindes neue Themen auf, z.B. das sexuelle Verhalten des Kindes (vgl. Ariès 1978, 182). Nun kann man erwarten, daß ein derartiges neues Thema auch neue Dialogver-

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läufe eröffnet, z.B. Argumentationen über die Frage der kindlichen Unschuld oder Erziehungsgespräche (z.B. Vorwurfsdialoge), in denen sexuelle Normen eine Rolle spielen. Ein zweites Beispiel zeigt den Zusammenhang zwischen Themengeschichte und historischer Semantik. In ihrer begriffsgeschichtlichen Untersuchung zu Emanzipation sprechen Grass/Koselleck (1975, 169) vom geschichtsphilosophischen Stellenwert dieses Ausdrucks „im Argumentationshaushalt der den Ausdruck verwendenden Schichten" und geben als Beleg für die kommunikative Brisanz des Themas Emanzipation zu Beginn des 19. Jahrhunderts folgendes Zitat: „Die Emancipation der Juden ist eine so lebhafte Tagesfrage, daß man sie kaum erwähnen kann, ohne zugleich mitten in Polemik versetzt zu sein" (Gutzkow). Bemerkenswert ist hier die Feststellung eines engen Zusammenhangs zwischen Thema (Emanzipation) und Dialogform (Polemik). Es ist offensichtlich, daß Themen nicht isoliert existieren, sondern in thematischen Zusammenhängen stehen (vgl. Fritz 1982,215ff.). Thematische Zusammenhänge kann man rekonstruieren, indem man die thematischen Übergänge und Verknüpfungen in Gesprächen bestimmter Individuen oder Gruppen untersucht. Für die historische Entwicklung von Themen gilt nun dasselbe wie für die Entwicklung von illokutionären Sequenzmustern: Die Veränderung eines Themas ist - wie die Veränderung eines illokutionären Musters - eingebettet in größere Zusammenhänge, so daß eine adäquate Analyse der betreffenden Veränderung gerade darin bestehen kann, daß man die Veränderungen in den thematischen Zusammenhängen untersucht. Ein einfaches Beispiel soll das verdeutlichen. Man könnte zeigen, daß in Mitteleuropa das Thema Benzinsparen für viele Leute seit den 80er Jahren in thematischen Zusammenhängen steht, mit denen es im Jahre 1973, d. h. zum Zeitpunkt der ersten Ölkrise, nicht so eng verknüpft war. Schlagwortartig gesprochen, hat sich das Thema vom Zusammenhang der Energiekrise auf den Zusammenhang der Umweltzerstörung ausgedehnt, was man an charakteristischen Dialogverläufen erkennen kann. Ähnliches könnte man für viele Themen in wissenschaftlichen Gesprächen, in religösen Gesprächen usw. zeigen.

3.5

Kommunikationsprinzipien

In manchen philosophischen Schriften finden wir ein Bild vom Status der Kommunikationsprinzipien gezeichnet, das - aus durchaus einsichtigen theoretischen Gründen stark vereinfacht erscheint, z.B. in Grice (1975), Kasher (1976) und Hintikka (1986). Die betreffenden Autoren nehmen an, daß es einen relativ kleinen Kanon von grundlegenden Gesprächsprinzipien gibt, die von allgemeinen Rationalitätsprinzipien abgeleitet sind und universelle Gültigkeit haben. Diese Annahme erscheint unproblematisch, wenn man dabei an bestimmte Deutungen des Kooperations- oder Relevanzprinzips denkt. So könnte man die Auffassung vertreten, daß es geradezu zum Begriff des Dialogs gehört, daß die Teilnehmer ihre Beiträge wechselseitig aufeinander beziehen. In diesem Sinne sind Kooperations- und Relevanzprinzip, zumindest in der historischen Zeit, die wir überblicken, zweifellos universell gültig. Für viele andere Prinzipien ist jedoch schon aus grundsätzlichen Erwägungen heraus zu erwarten, daß sie in historisch variablen Ausprägungen und mit unterschiedlichen „Ausführungsbestim-

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mungen" angewendet werden. Da sich Rationalität in der Anwendung geeigneter Mittel für spezifische Zwecke zeigt, und da sich die in der Kommunikation verfolgten Zwecke historisch verändern und dementsprechend die Dialogteilnehmer auch wechselnde kollektive Erfahrungen mit bestimmten Kommunikationssituationen machen, ist damit zu rechnen, daß auch die relevanten Prinzipien der Veränderung unterliegen bzw. zu verschiedenen Zeiten unterschiedliches Gewicht haben. Diese Überlegungen haben ein direktes Gegenstück in ethnographischen Reflexionen zur Universalität von Rationalitäts- und Kommunikationsprinzipien (vgl. Winch 1972, 34f.; Keenan 1976). Genau wie dort wird man in der Geschichte von Dialogformen die Universalität der Geltung von Prinzipien nicht ungeprüft voraussetzen, sondern man wird durch historische Analysen zu zeigen versuchen, in welchem Maß die Prinzipien historische Kontinuität oder Veränderung, Einheitlichkeit oder Vielfalt der Ausprägungen erkennen lassen. Beispiele für ζ. T. konkurrierende Kommunikationsprinzipien (bzw. deren Anwendungen), die einer genetischen Erklärung bedürfen, finden sich in großer Zahl. Es sollen hier nur einige Beispiele angeführt werden: (i)

(ii) (iii)

(iv)

(v)

Das Prinzip der Schweigsamkeit in mönchischen Traditionen (ζ. B. Benediktinerregel 7, 56ff.; vgl. Hahn 1991; Luhmann/Fuchs 1989, 21ff.) und das Prinzip der Gesprächigkeit („Konversabilität") in höfischen Konversationslehren (vgl. Strosetzki 1978,55); das Gricesche Prinzip der Informativität und das auf Madagaskar beobachtete Prinzip der Informationszurückhaltung (Keenan 1976); das Prinzip der Höflichkeit in seinen wechselnden Ausprägungen und Ausdrucksformen (vgl. Brown/Levinson 1987; Beetz 1990), auch in den ironischen Formulierungen grobianischer Texte; das Prinzip der Kürze in der höfischen Rede und seine unterschiedliche Begründung für Fürsten und Diener (Kürze als Majestätsbeweis vs. Kürze als Ehrfurchtsbeweis; vgl. Braungart 1988,18). das perspicuitas-Ρήηζνρ der klassischen Rhetorik - eine traditionelle Version des Verständlichkeitsprinzips - und die „Stilistik des Verschleierns und Enträtseins" in der höfischen Konversationskunst des 17. Jahrhunderts (vgl. Schmölders 1986,29; zur Geschichte des Verständlichkeitsprinzips vgl. auch Göttert 1991).

Zeugnisse für spezifischere Prinzipien, ihre Konkurrenten und Anwendungen sind: (vi)

Das Frageverbot („ir ensuit niht vil gevragen", „Gurnemanz' Rat"; Parzival 171, 17) und sein zeitgenössisches Gegenprinzip („Frage und wisiu lere, die bringent michel ere"; Freidank 78,23f.); (vii) das seit der Antike immer wieder ausgesprochene Selbstlobverbot und die akzeptierte Praxis des Selbstlobs bei den Trobriandern (vgl. Malinowski 1923) und den germanischen Kriegern; (viii) die Ächtung der Schmeichelei in Theophrasts „Charakteres" (und der umfangreichen Theophrast-Rezeption) und die Hochschätzung maßvollen Lobs bei manchen Autoren (z. B. Hunold 1716,82f.) (ix) die Hochachtung des Kompliments im höfischen Diskurs des 17. Jahrhunderts und die z.T. schon zeitgenössische, aber im 18.Jahrhundert verstärkte Kritik am Komplimentierwesen (vgl. Beetz 1990; Fauser 1991, 241ff.).

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Dies ist nur eine kleine Auswahl von Prinzipien, die deutlich macht, in welchem Maß die Gültigkeit und Relevanz bestimmter Prinzipien von historischen Besonderheiten der Lebensform, des Menschenbildes und der Institutionen abhängt. Die Thematisierung von Kommunikationsprinzipien kann ein Indikator für kommunikative Probleme sein, die in einer bestimmten Zeit aktuell sind, bzw. dafür, daß es eine Praxis gibt, diese Prinzipien gerade nicht zu befolgen. Allerdings muß man immer damit rechnen, daß in bestimmten Traditionen Kommunikationsprinzipien weitergereicht werden, ohne daß damit ein direkter Bezug zu aktuellen Problemen verbunden sein muß. Dies gilt z.B. ebenso für die Übernahme antiker Prinzipien in Schriften der Humanisten (z.B. das Schmeicheleiverbot) wie für die Tradition der Kritik an sophistischen Winkelzügen beim Argumentieren bis ins 19. Jahrhundert (vgl. Hamblin 1970). Um sich ein Bild von dem Aspektreichtum historischer Kommunikationsprinzipien zu verschaffen, kann man zunächst einmal die Anwendungsbereiche der Prinzipien unterscheiden. Prinzipien beziehen sich auf einzelne Handlungsmuster (ζ. B. das Fragen, das Fluchen, das Lügen, das Widersprechen), auf den Sprecherwechsel (ζ. B. das Gebot, den Sprecher ausreden zu lassen), auf ganze Dialogformen (ζ. B. das Argumentieren, das Komplimentieren, den Klatsch), auf Themen, die in bestimmten Kontexten als geeignet oder anrüchig gelten (das Wetter, bestimmte Körperfunktionen), und auf Äußerungsformen, die in bestimmten Kontexten angeraten oder verpönt sind (Höflichkeitsformen, Vulgarismen, Regionalismen, komplexe syntaktische Muster). Prinzipien sind bisweilen spezifiziert für bestimmte Personengruppen (Kinder, Frauen, Geistliche) oder Praxiszusammenhänge (z.B. das Essen, bei dem man nach Auskunft mittelalterlicher Tischzuchten nicht reden soll oder wenigstens nichts Schlechtes über die Speisen oder den Gastgeber sagen soll; vgl. Elias 1978). Und sie können spezifiziert sein nach bestimmten Wertbereichen. Neben kommunikationsmoralischen Prinzipien („Du sollst nicht lügen") und ästhetischen Prinzipien („Man soll lautreines Deutsch sprechen") finden wir strategische Prinzipien, in denen sich Erfolgs- und Mißerfolgserfahrungen kristallisieren („Bei Verhandlungen sollte man möglichst wenig Information herausrücken"; vgl. Francis Bacons Essay „Of negotiating" von 1597). Schließlich finden wir, als Inkarnation bestimmter Typen von Prinzipienverletzung, in der Literatur ebenso wie im alltäglichen Gespräch, die Beschreibung von kommunikativen Charakteren, wie den Schwätzer, den Schmeichler, den Heuchler oder das Klatschmaul (zum Klatsch vgl. Bergmann 1987). Als Quellen für die Geschichte von Kommunikationsprinzipien bieten sich zunächst einmal Texte an, in denen derartige Prinzipien thematisiert werden, d.h. vor allem dialogkritische und dialogpädagogische Schriften bzw. entsprechende Passagen aus Texten unterschiedlicher Art, sei es literarischer, religiöser, (auto)biographischer oder pädagogischer Natur. Bei der Analyse dieser Quellen ist es von besonderem Interesse herauszufinden, wer die Prinzipien für wen formuliert, wie die Prinzipien legitimiert werden, ob konkurrierende Prinzipien erwähnt werden, ob es Systeme von Prinzipien (ein Kommunikationsideal, eine Kommunikationsmoral) oder Hierarchien von Prinzipien gibt, welche Indizien es für Verletzungen der betreffenden Prinzipien gibt, für welche Dialogformen oder Situationen die Prinzipien spezifiziert werden und in wel-

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Dialogformen

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eher Weise die Form der Anwendung von Prinzipien konkretisiert wird. Neben den erwähnten Quellenarten kommen natürlich alle möglichen Dialogdokumente, authentische und fiktionale, als Quellen infrage, wobei es allerdings oft schwierig ist, aus einem vorliegenden Dialogdokument darauf zu schließen, welche Prinzipien hier implizit im Spiel sind bzw., bei fiktionalen Darstellungen, welche Befolgungen und Nichtbefolgungen ein Autor darstellen will und warum. Hier liegen besonders heikle hermeneutische Probleme, die u.a. in der Gefahr bestehen, daß man ungeprüft die Gültigkeit von uns vertrauten Prinzipien unterstellt.

4.

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G. Fritz

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Gießen

Verzeichnis der Autorinnen und Autoren

Dr. Kirsten Adamzik, Département de langue et littérature allemandes, Université de Genève, CH-1212 Genève 4 Prof. Dr. Jörg R. Bergmann, Institut für Soziologie, Fachbereich Gesellschaftswissenschaften der Justus-Liebig-Universität, Karl-Glöckner-Str. 21,35394 Gießen Prof. Dr. Anne Betten, Sprach- und Literaturwissenschaftliche Fakultät, Katholische Universität Eichstätt, Ostenstr. 26-28,85072 Eichstätt PD Dr. Bernd Ulrich Biere, Institut für deutsche Sprache, Postfach 101621, 68016 Mannheim Dr. Hans-Jürgen Bucher, Wolfsbaumweg 15, 72074 Tübingen Prof. Dr. Gerd Fritz, Fachbereich Germanistik der Justus-Liebig-Universität, OttoBehaghel-Str. 10, 35394 Gießen Thomas Gloning, Fachbereich Germanistik der Justus-Liebig-Universität, Otto-Behaghel-Str. 10, 35394 Gießen Dr. Götz Hindelang, Germanistisches Institut, Johannisstr. 1-4,48143 Münster Prof. Dr. Franz Hundsnurscher, Germanistisches Institut, Johannisstr. 1 - 4 , 48143 Münster Prof. Dr. Heinrich Löffler, Deutsches Seminar, Universität Basel, Engelhof, Nadelberg 4, CH-4051 Basel Prof. Dr. Wolfgang Lörscher, Bereich Anglistik und Amerikanistik, Sektion theoretische und angewandte Sprachwiss., Universität Leipzig, Universitätshochhaus, Augustusplatz 9,04109 Leipzig Dr. Katharina Meng, Institut für deutsche Sprache, Postfach 101621,68016 Mannheim Prof. Dr. Jacques Moeschier, Université de Genève, Faculté des Lettres, CH-1211 Genève 4 Dr. Friedemann Pulvermüller, Department of Linguistics, 405 Hilgard Avenue, U S A Los Angeles, California 90024-1542 HDoz. Dr. Eckard Rolf, Germanistisches Institut, Johannisstr. 1-4,48143 Münster

564

Verzeichnis der Autorinnen und Autoren

Prof. Dr. Christian Sappok, Seminar für Slavistik, Postfach 102148,44721 Bochum Robert Schäflein-Armbruster, Zwehrenbühlstr. 62, 72070 Tübingen Prof. Dr. Rainer Schulze, Seminar für englische Sprache und Kultur, Universität Hamburg, Von-Melle-Park 6,20146 Hamburg Prof. Dr. Johannes Schwitalla, Institut für deutsche Sprache, Postfach 101621, 68016 Mannheim Prof. Dr. Bruno Strecker, Institut für deutsche Sprache, Postfach 101621, 68016 Mannheim Prof. Dr. Edda Weigand, Zentrum für Sprachforschung und Sprachlehre, Bispinghof 3 A, 48143 Münster

Sachregister

Abbrüche in gesprochenen Äußerungen 24 Abduktion 164 Ablaufmusterhypothese 212 Abschwächung 371 Absichtserklärung 340 Abstinenzregel 440 Abtönungen 295 accountable 6 accounts 10 Acts, Akte 54 adjacency pairs 65,81,182,249,383 Aktivitätstypen 13 Akzente 29 Alliteration 26 Alltagsgespräch,-kommunikation 41,349, 437 Alltagsmethoden 12 Alzheimersche Krankheit 394,399,404 Anakoluth24,185,187,287 Analyseverfahren - , qualitative 173,380,474 - , quantitative 173,380,474 anaphorischer Gebrauch von Pronomina 143,383,498 Ankündigungen 339,383 Anleitung 184,222,506 Anosodiaphorie 398 Anosognosie 398 Anredeformen 367,554 Anschaulichkeit 197,497 Anschlußzüge 120 - , Unverträglichkeit von A.n 121 Anspruchsstreit 222 Anthropologie - , kognitive 4 - , vergleichende 44 Antworten 339,383 s. a. Frage/Antwort Anzweifeln 332

Apalliker400 Aphasie 125,394,395,399 Argumentieren 121,132,138,145,224,228, 452f.,462,552 Artikulation 21 Artikulationsstörung 394 Assonanz 26 Auffordern 122,338,383 Aufklärungsgespräche 350 Aufzeichnungen 9 - , audiovisuelle (Video u.a.) 10,11 Augenbewegungen 508 Aushandeln 122,222,333 Auskunftsdialoge 222 Auslegen 158,159,160 Äußerungsfähigkeit 397, s.a. Dialogfähigkeit Äußerungsform XI, 123,146,184,195,245, 264,498,512,554, s.a. Satz - , standardisierte 554 Aussprache 205 Ausweichen 331 authentische Gespräche 110,224 f., 417, 422,424 baby-talk 385 Balint-Gruppen 445 Barrieren - , kommunikative 43 - , soziale 42 Basishandlungen 504 Basisproposition 292 Beantwortungserwartungen 251 Bedeutung 114,115,269, s. a. Semantik Bedeutungsbeitrag 269 Bedeutungsbeschreibung 120,274 - , einheitliche 121,270 - , für historische Wortbedeutungen 122

Sachregister

566 Bedeutungsbeziehungen 272 Bedeutungsmaximalismus 265 Bedeutungsminimalismus 265 Bedeutungstheorie 266, s.a. Semantik Bedingung - , des propositionalen Gehalts (condition de contenu propositionel) 82 - , illokutionäre (condition illocutoire) 82 - , thematische (condition thématique) 82 - , der argumentativen Orientierung (condition d'orientation argumentative) 82 - , des gegenseitigen Einverständnisses (contrainte du double accord) 73 Befehl 329 Begründung 331 Behauptung 339 Bekehrungsgespräche 222,224,227,228 Bekräftigung 339 Belehrung 222,331 Beleidigen 552 Beobachterparadox 45 Beobachterverstehen 162 Beobachtungsprotokoll 167 Beraten 222,224,227,228,549 Berichten 208,214,343 Bescheid - , definitiver 218 - , negativer 107 - , nicht-definitiver 218 - , nicht-spezifischer reaktiver 107 - , positiver 107,218 Beschreiben 342,420,453,464 Beschreibungssprache 102 f. Besprechung 205,225 Bestätigung 329 Bestätigungsfrage 330,485 Bestreiten 340 Beweisen 122,149 Bewerten, Bewertung 121,184,270,340 - , rhetorische 420 Beziehung^«. 17,359,414 Beziehungsaspekt 357,414 Beziehungsebene 40,414 Beziehungskompetenz 361 Beziehungskonflikte 362,370 Beziehungspflege 41 Beziehungsstreit 222 Bezugnehmen 121, s. a. Referenz Bild und Bildverwendung 124,275,514 Bitten 383

brainstorming 549 Brauchbarkeit von Texten 505 Broca-Areal 395 Code 40f., 531 Codeanalyse 532,534,539 code-switching 43 Cross-cultural-communication 42,44 Darstellung/Dargestelltes 476 Daten 9,10,156,173,386,549 authentische Sprachdaten 39,169,417 Datenaufbereitung 166 Datenerhebung 166 Dateninterpretation 166 Datenkonstitution 166 Datenkorpus 12 deiktisch, Deixis7,31,382 Deutung 166 f., 336,439,440,514 Dialektforschung, empirische 39 Dialektik, formale 145,267 Dialog-Typologie, analytische 215 Dialoganalyse XIV, 110,261 Dialogängste 110 Dialoganomalien 527 Dialogbestandteile, hierarchische Strukturen von 59,183 Dialogbuchführung 147 Dialogdynamik 148,150,181,191, s. a. Kommunikationsdynamik Dialoge s.a. Gespräch - , dyadische215,216 - , erotische 208 - , früherer Sprachstufen 538 - , im epischen Kontext 535 - , intransigente 222 - , interessenbasierte 223 - , kontributive 222 - , moderierte 485 - , platonische 207 - , suppletive 222 - , transigente 222 - , zweckorientierte 223 Dialogfähigkeit 97,177,259,377,378,415, s. a. Äußerungsfähigkeit, Fähigkeiten von Sprechern, Kommunikationsfähigkeit, Kompetenz, Sprachfähigkeit Dialogformen 182, s. a. Dialogtypen, Kommunikationsformen, Kommunikationstypen - , Geschichte von Art. 26

Sachregister Dialogführung 208 Dialoggeschichte 147,187,247,476 Dialoggrammatik 418,424,459,464f. dialogischer Sprachbegriff 452 dialogisches Verfahren 472 Dialogizität 328 Dialoglogik 134 Dialogmuster 106,109f., 208 Dialogorganisation Art. 10,239,261 Dialogprinzipien 135, s. a. Kommunikationsprinzipien Dialogregularitäten X, 178 Dialogsemantik 241,267,275 Dialogsequenzen 326, s. a. Sequenzen, Sequenzmuster - , einzelsprachliche 224 - , funktionale 227 Dialogspiele, logische 145 Dialogtableaux 133,135,140 Gewinnregeln 148 Gewinnstrategie 136 Spielbaum 133,136,150,182 Spielstand 140 Verifikationsspiele 139 Dialogspieltheorien Art. 8, X, 133 ff., 179, 249,316 Dialogstand 139,150,187,197,250 Dialogsteuerung 249,486 Dialogstil 527 Dialogtaxonomie 433,464, s.a. Dialogtypen Dialogthema 143, s. a. Thema Dialogtheorie XI, 138,149,177 ff. - , modularer Aufbau 143 Dialogtraining 423 Dialogtypen Art. 11,384,432,438,522, s. a. Dialogformen, Gattungen, Gespräch, Gesprächstypen, Kommunikationsformen, Kommunikationstypen - , komplementäre 434 - , komplexe 109,110 Dialogverlauf, -Verläufe 134,147,182ff., 212,263 Dialogwissen 188, s.a. Wissen Dialogzweck 205 Didaktik 420 - , Sprachdidaktik 123, s. a. Sprachunterricht Diktum 288,295 Diskurs 51

567 - , wissenschaftlicher 206 - , philosophischer 206 Diskursanalyse 51,52,70,471,478 - , britische Ari. 4,52 - , funktionale 53,61 Diskurstypen 214 Diskussion 205,209,211,212,340 Distanzkommunikation 18 Disziplinierungsdialoge 222,226 Drama - , geschlossenes 522 - , offenes 523 Dramensprache 535 Dramentheorien 207 Durchsetzungsgespräche 226 egozentrische vs. partnergerichtete Äußerungen 379 Eingriff (im Gespräch mit Patienten) 347 Einkaufs-/Verkaufsgespräche 228 Einstellung/Bewerbung 462 Einstellungen 31,365 Einwand 182,198 Einwurf (im Gespräch mit Patienten) 347 Elementarsequenzen 182,546, s. a. Minimaldialoge - , Kombinatorik von 184,227 Ellipse 22,185,187 emotionale Begriffe 457 emotiver Dialog 434 Emphase 310,317 empirische Sozialforschung 157 Entlastungsgespräch 435 Entschuldigung 367 Erfüllungswissen 293,295 Erkenntnisinteresse - , praktisches 156 - , technisches 156 Erklärung 546 - , kausale 156, s. a. Gesetz Erklärungssituation 379 Erlanger Schule 133,267 Erläuterung 343 Erörterungsdialog 208 Erstinterview 441 Erwartbarkeit 180 Erzählen 13,33 f., 47,122,211,383,387 ff., 406,500 - und Zuhören 387 Erzählsituation 379

568 Ethno-Methoden 3 Ethnographie des Sprechens 4,14 EthnomethodologieArt. 7,4,5,6,9,114 Exchange 54,218 Exemplifizierung 340 Expertendiskussion 41 Explizitheit 132,197,496,504 Explorationsgespräche 39 Fähigkeiten von Sprechern 259, s. a. Dialogfähigkeit, Kompetenz Fernsehdiskussion 483 Festlegung 182,187,243,273,486 - , Festlegungskonto 486 - , Festlegungsregel 146 - , Festlegungsspeicher 188 - , Festlegungssystem 187 Feststellen 330 Figurenrede 520,536 - , in epischen Werken 532 Fluchen 554 Fokus-Hintergrund-Gliederung 187 Folgerungsbeziehung 273 formale Prinzipien 3,8,11 formale Theorien 118,131 f., 266 formale Dialektik 145 ff. ,187,267 formale Pragmatik 133 Formulierungsverfahren 26,33 Forschungslogik 157,163 Frage/Antwort Art. 12,122,132,139,143, 149,182,241,243,251,253,269,330, 338,548 Fragearten 243 Bestätigungsfrage 330,485 checking question, Checking-Frage 247,487 Echofrage 247 Entscheidungsfrage 244,254 Ergänzungsfrage 254 Fokus-Frage 254 geladene Frage 487 Informationsfrage 189,243 f., 330,485 kategoriale Fragen 246 Konditionalfragen 248 Legitimationsfrage 331 Lehrerfrage 342 mäeutische Frage (Unterrichtsfrage) 243 offene Fragen 247 Präzisierungsfrage 344 propositionale Frage 246

Sachregister Prüfungsfrage 243,342 rhetorische Frage 244,247,252 Rückversicherungsfrage 344 Stichwortfragen 339 Tendenzfragen 248, s. a. geladene Frage Unterrichtsfrage 243 Verständnisfrage 343 W-Fragen 244 Zwischenfrage 344 Fragehandlungen als Aufforderungshandlungen 242 Fragen 243,359,383, s. a. Frage/Antwort Fragestrategien 486 Frageverbot 557 Fragevoraussetzungen 242,248 ff. Fragevorbereitung 255 Sequenzstellung von Fragen 248 Wissen des Fragenden 253 Fregeprinzip 269 Fremdsprachenunterricht 363,421 fremdsprachliche Perspektive 462 funktionale Sprachbetrachtung 479 Funktionalstil 453,535 Gastarbeiterproblematik 43 Gattungen, kommunikative 13, s. a. Dialogtypen Gebrauchstheorie der Bedeutung 122,267 Gebrauchsweisen sprachlicher Ausdrücke 269 Gefühle ausdrücken 31 Gehorsam 329 Genauigkeit 197 generative Strukturen und Prinzipien 7,11 Geplauder 206 Gericht 463 Geschichte der gesprochenen Sprache 554 Geschichte von Dialogformen A rt. 26,538, 545 Geschichten in Gesprächen 47 Geschlechtszugehörigkeit 44 geschriebene Sprache vs. gesprochene Sprache 18 f. Gesetz 164 Gespräch 204,213,225,326,451 - , helfendes 434,463 - , faktisches 213 - , familiäres 212 - , gerichtetes 209 - , impulsives 207

Sachregister -, -, -, -, -,

Makro-, Meso-, Mikrobereich40 pluralistisches 209 psychoanalytisches 437 natürliches 45 praktisch dominiertes und nicht praktisch dominiertes 385 - , wahrnehmungsgebundenes und wahrnehmungsentbundenes 384 Gesprächsakt, -zug 74,79 Gesprächsanalyse XIV, 52,70 - , soziolinguistische 38 Gesprächsaustausch (échange) 72 Gesprächsbeitrag, selbständiger 284 Gesprächsbereiche 213 Gesprächsbezeichnungen 231, s. a. sprechhandlungsbezeichnende Ausdrücke Gesprächskonstitution 40 Gesprächsorganisation Art. 10,14,225 Gesprächsphasen 109,227 f., 337 f., 331, 333,525 Abschlußphase 388 Beendigung 13 Durchführungsphase 388 Einleitungsphase 387 Eröffnung 13,72 Schlußaustausch 72 Gesprächspsychotherapie A rt. 21,441 Gesprächsrhetorik 451 - , sektorale 456 Gesprächsstoff 210, s. a. Thema Gesprächstraining Ari. 22,451 Gesprächs typen /l ri. 11,210,213,225, s. a. Dialogtypen Gesprächsverhalten, kultur- und landesspezifisches 40 Gesprächswörter 263 gesprochene Sprache Art. 2,533,534 - vs. geschriebene Sprache 18f. Gestalttherapie 442 Gestehen 331 f. Gliederungssignale 21,31 Grammatik Art. 14,123, s. a. Äußerungsform, Satz Grundstrukturen von Kommunikationsformen 104,119,474 Gruppentherapie 444 Gruppenzugehörigkeit 41 Grüßen 367,554 Gültigkeit von Analysen 12

569 Handlung, kommunikative 473 Handlung, sprachliche 116,382,400 Aspekte sprachlicher Handlungen 118, 497 innere Struktur sprachlicher Handlungen 497 - , initiierende 383 - , komplexe 117 - , reinitiierende 383 - , respondierende 383 Handlung, nicht-sprachliche 167 Handlungsbedingungen 98, s. a. Bedingung, Festlegung, Voraussetzung Handlungsbeschreibung 115 Handlungsmuster 9 f., 121,265,326,418, 439,550 handlungsorganisierende Bemerkungen 295 f. Handlungspläne 182 handlungstheoretische Semantik 268, s. a. Bedeutungstheorie, Dialogsemantik, Semantik Handlungstheorie 114,275 Handlungsversuche von Sprachgestörten 394,400f. hints 401 Hinweise 401 f. Handlungsziel 98,106 - , globales 109 - , intendiertes 218 - , kommunikatives 217 Handlungszusammenhänge 262,497 ¡ndem-Zusammenhang 117,183,193, 498 «nd-da/irt-Zusammenhang 117 Handlungszweck216,224 Hauptkonstituente (constituant principal/ directeur) 76 Herausstellungen 26,187,195 Hermeneutik, hermeneutische Reflexion 12,159,161,163 Heuristik 157,172,174 heuristisches Verfahren 163 Hilfeersuchen 383 Hilfegewähren 383 Hinweise 345 Höflichkeit 197,256,262,358,367,371, 384,455,548,557 Hörersignale 13 Hofnarren 553

Sachregister

570 Honorativa368 Hughlings-Jackson-Phänomen 399 Identität des Verstehens 158,160 Illokution, illokutionäre Aspekte 75,99, 241,497 Ulokutionsindikator 262 Illokutionspotential 288,293 Image, -arbeit 31,219,358,362,367 Implizitheit 31 indexikal 7,8,11 Indikatoren für Verstehensprobleme 506, 509,511 Inferenzen 499 Information 142 Informationsfrage 189,243 f., 330,485 Informativität 197,253,557 Informieren, Informationsaustausch 122, 138f.,148,222,330 Inhaltsanalyse 124,473,478 Inhaltsaspekt 357 Initialsprechakt 221 Initiative 346 Inkursion71 Insistieren 183,218 f. Institutionen Art. 16,3,8,14,321,385,553 - , Sprachgebundenheit 325 f. Instruieren 383 Intelligenztests, sprachliche 47 Intention 361,416 Interaktion, natürliche 10 interaktioneile Vollständigkeit (complétude interactionelle) 73 interaktive Funktion 75 Interessen 215,221 f. Interjektionen 13,31,555 interkulturelle Kommunikation 363 f. Interpretation 5,7,11,156, s. a. Verstehen, Deutung Interpretativität 171 Interview 209ff., 215,483 - , gezieltes 39 - , Interview-Techniken 46 Intonation Art. 15,13,143,245 intonational focusing 317 Intonationsmuster 29,299 Tonhöhenlage (key) 62 Tonhöhenveränderung (tone) 62 Tonhöhenverläufe 29 Intuition 10,12

journalistische Ethik 481 Kampfgespräch 210 Kategorisierung 14 Kaufgespräch 227 Kennzeichnung, sprachliche, in der Berichterstattung 479 Kindersprache Art. 18,124, s. a. baby-talk, motherese, Spracherwerb Kind-Erwachsenen-Gespräche 385 Kind-Kind-Gespräche 385 Kindergarten 385 Kinesik 63 Klärungssequenz 183 Klatsch 225,558 Klient 328 Kognitionspsychologie 396,494 Kognitionswissenschaft 181,188,191,275 Kohärenz 122,142,149,262,502 Kohärenzbegriff 144 Kohärenzbeziehungen 383 Kohärenzmanagement 480 Kohärenzphänomene 178,181 kollektives Sprechen 28 Kommentar 343 Kommentierung von Dikta 295 f. Kommunikation, Einheiten der sprachlichen 215,382 Kommunikationsanalyse XIV, 38,113 f. Kommunikationsbereiche 32 Kommunikationsdynamik 486, s.a. Dialogdynamik Kommunikationsfähigkeit 420, s. a. Dialogfähigkeit Kommunikationsformen 215,265, s. a. Dialogformen, Dialogtypen, Kommunikationstypen - , Grundstrukturen v. 104,119,474,547 - , historische Art. 26,122 - , komplexe 224 Kommunikationsforschung 4 kommunikationsgeschichtliche Betrachtungsweise 472,476, s.a. Dialoggeschichte Kommunikationshaltung 206 Kommunikationsprinzipien 146,195,198, 215,224,253,264,454,488,556, s. a. Anschaulichkeit, Explizitheit, Genauigkeit, Höflichkeit, Informativität, Kooperationsprinzip, Kürze, Ökonomie-

571

Sachregister prinzip, Rationalität(sprinzip), Relevanz(prinzip), Schweigsamkeit, Selbstlobverbot, strategische Prinzipien, Übersichtlichkeit, Verständlichkeitsprinzip, Vollständigkeit Kommunikationsstörung (Aphasie) 399 Kommunikationstypen 32,216,223 ff., s. a. Dialogformen, Dialogtypen, Kommunikationsformen Kommunikationsunterschiede, subkulturelle 45 Kommunikationsversuch 400ff. kommunikative Aufgabe 186 kommunikative Grammatik Λ«. 14,464 kommunikative Prinzipien s. Kommunikationsprinzipien kommunikativer Haushalt 545 kommunikativer Sprachunterricht 123 f., 419 Kompetenz 7,11 f., 97,123,415, s. a. Dialogfähigkeit - , sprachliche 380 kompetitive Kommunikationen 487 Komplimente 367,551 f. Kompositionalität 121,269 Konditionale 195 Konferenz 462 Konflikte 334 Konjekturalgeschichte 549 Konkurrenz 12 Kontaktgespräche 209 Kontext, Kontextualisierung7f., 11,14, 30,47 Kontextveränderungstheorien 187 kontrollierter Dialog 456 Konvention, Konventionalisierung 115, 181,378,548 Konversation 205,207,225 Konversationsanalyse 3,52,70,191 f., 249 Konversationsmaximen, -prinzipien s. Kommunikationsprinzipien Kooperation 43,331 Kooperationsprinzip 195,454,527 korrekt gebildete Sequenz (séquence bien formée) 80 korrektiver Austausch 72 Korrektur 25,28,330 Kritische Theorie 155 Kritischer Rationalismus 155 Kürze als Kommunikationsprinzip 557

Kurzdialog 424 Kurzformen 185 Lautvariation 21 Lehren und Lernen 121,184,210,341,494, 553, s. a. Unterrichtsdiskurs Lesbarkeitsforschung 494 Leserbriefe 480f. Lesson 54,56 Leugnen 331 Liebeserklärung 551 Linguistik, angewandte 431 Linguistische Kommunikationsanalyse Art.7,113 f. Linksversetzung 25 Litanei 215 literarischer Dialog Art. 25,519 Literaturwissenschaften 522 Logik von Frage und Antwort 132 Logik, formale 132 lokal 6f., 9 lokale Partikularisierung 8 lokale Sequenzierung 183,499 Lügen 122 Management, -training 461 f. Manipulation 460 Maximen 195,454,482, s. a. Kommunikationsprinzipien Mechanismen, formale 3,8,11 Medienanalyse 42 - , integrative Forschungsansätze 474 - , makrostrukturelle 473 Medienkommunikation Art. 23,124,471, 483 - , dialogische Elemente 472,477,480,483 - , dialogischer Kommunikationsbegriff 472 - , Ebenen und Strukturbereiche 474,478, 484 - , Grundstrukturen 473 Kommunikationsbedingungen von Mediendialogen 484 Kommunikationszusammenhänge 472, 476f. Leserbriefe 480 f. Studiogespräche 45 Talkshow 483 Medienkritik 481 f. Medienrealität 479 Medizin 463

572 Mehrfachadressierung 339,494 Mehrfachzüge 183 Mehrpersonengespräche 215 Mehrsprachigkeit, institutionalisierte 44 Meinen 115 Meinungsaustausch, -streit 209,222,225 Melden, Meldung 208,329 Member 64 Meta-Institution 323 Metakommunikation 359 metalexikographische Diskussion 268 metaphorisch verwendete Ausdrücke 122 Methodik, Methodisierung9,12,155, s. a. Formale Theorien, Reflexivität Mikrosoziologie 5 Mikrostrukturen 473 Mimesis 523,531 mimisch-gestische Verhaltensweisen 13 Minimaldialoge 217ff., s. a. Elementarsequenzen Mitarbeitertraining 462 modalisieren 31 modalisierte Sprechakte 555 Modalpartikeln 31,122,186,555 Modalverben 122,195,479,555 modus dicendi 289 Monolog 328,520 moralisierende Praxisliteratur 459 motherese 385 Motivation 462 Move 54 Muttersprachunterricht 412 Nachfolgeäußerung 12 Nähekommunikation 18 Natürlichkeit 45,166 Nebenkonstituente (constituant subordonné) 76 neurobiologische Modelle der Sprachverarbeitung 397 Neurolinguistik 395,397 Nichtverstehen 331 Notationsverfahren 170,301, s.a. Transkription Partiturnotation 172 ökologische Validität 504,509 Ökonomieprinzip 254 ontogenetische Dialogforschung 385 Ordnung, soziale 3,5,9f.

Sachregister Organisation von Dialogen s. Dialogorganisation Orientierung, -smuster 8,11 f. ostensive Erklärungen 274 PACE-Therapie 405 Pädagogik 463 PAKT-Therapie 405 paralinguistische Vorgänge 13 Parallelismen, syntaktische 26 Paraphrase, paraphrasieren 27,274,441 Parenthese 185,187 Partikel 13,195,252 Partikularisierungsprinzip 14 Partnerverstehen 162, s. a. Deutung, Verstehen Patient 345 Pausengespräche 326 perlokutionärer Effekt 218 Persuasion, persuasiv 452f., 458,465 petitio principii 146 phänomenologische Klärung 5 phatische Funktion, phatische Kommunikation 358,369 Phraseologismen 32,535, s. a. Äußerungsform (standardisierte), Redewendung, Routine Plan, Begriff des Plans 495 Planungsdialog 104,121 f., 178,221 f., 227, 351,552 f. Plauderei 225 Positivismus 155 Prädikation 497 Präferenz 180 Pragmatik, pragmatisch 245,271 - , formale 133 Praktik, deskriptive 13 Praktische Semantik Art. 7,113 f. Präsentationshandlung 475 Präsupposition 250, s.a. Festlegung Praxisliteratur 457 Präzedenzen 117,180,546 Predigt 214 Presseberichterstattung 121,124, s. a. Medienkommunikation Prestige 47 Prinzipien s. Kommunikationsprinzipien Problematisierung 348 Problemdefinition und Problemlösung 337 proclaiming tone 62

Sachregister Programmierung 81 Proposition 289,497,507 f. propositionale vs. illokutionäre Aspekte 513 propositionaler Gehalt 246 Propositionsmodifikation 291 Propositionsrestriktionen 292 Prosodie Art. 15,299,319 Prozeduren 382 Prüfung, Prüfungsgespräch 205,209 f., 215, 334 Psychoanalyse 439 Psychologie 4,507 psychologisch-pädagogische Trainingsprogramme 463 quantitative Auswertung großer Korpora 380 Quellen für die Geschichte von Kommunikationsformen 549,558 rank shift (Rangverschiebung) 54 Rationalität 142,255,453 Rationalitätsbegriff 133 Rationalitätsprinzip 196,455,556 Reaktionsmöglichkeiten 182 f., 331 Realismus 533 Rechtfertigungsversuch 331 recipient design 14,494,513 Redearten (monologische) 210 Redekonstellationstypologie 211 Rederecht 215,249, s.a. turn-taking, Sprecherwechsel Redewechsel (in der brit. Diskursanalyse) 55 Redewendung, idiomatische 13,261 Redewiedergabe 479 Reduktion 171 Referenz 14,121,189,497,513, s. a. Bezugnehmen referring tone 62 Reflexion 422 Reflexivität 266 reflexive journalistische Handlungen 482 sprachreflexive Verwendung von Ausdrücken 264 Reformulierung 441 Regeln XI,5,97,264,322f. - , für Fragehandlungen 243 Regelbegriff 116,138,179 f., 546

573 Regelhaftigkeit von Dialogen 224 Regelveränderungen 138,145 regionale Unterschiede im Gesprächsverhalten 44 reinitiativer Sprechakt 107 Rekonstruktion 9,386 Rekursivität 74 Relativierung 343 Relevanz, -prinzip 141f., 144,149,196f., 253,254,556 Reparatur 14,383 f. Replik 311,314 retraktiver Sprechakt 107 retrospektive Beobachtung 168 revidierender Sprechakt 107 Rezeptionssignal 441 Rezeptsammlung 460 Rhetorik 4,451 ff., 464f. - , amerikanische 452 - , antike 451 - , moderne 451 - , neue 452 - , praktische 457 - , sektorale 460 rhetorische Anweisung 454 rhetorische Frage 244,247,252 Rhythmus 30 Rituale 225,367 Rolle 37,41,364,412,553 Rollenverhalten 40 Rollenvorstellungen 457 Routine, -formein 180,261,554 Rück-Interpretation 85 Rückversicherungsfrage 344 Satz 178, s.a. Äußerungsform, Grammatik Satzarten 186 Satzbegriff 123,185,284 Satzkomplexität 536 Satzmodus 186 f., 287 selbständige Verb-Letzt-Formen 187 sequenzgebundene Kurzformen 185 Satzadverbiale 195 Satzsemantik 241 Schimpfwörter 555 Schlichtungsgespräche 335 Schlußfolgerung 340 Schlußverfahren 164 Schmeichelei 557 Schülergespräche 550

574 Schweigsamkeit 557 Seelsorge 463 Selbstbezüglichkeit 322 Selbstgespräch 214 Selbstkorrektur 330 Selbstlobverbot 557 Semantik Ari. 13,14,139,143,261,271 Dialogsemantik 241,267,275 Gebrauchstheorie 122,267 Satzsemantik 241 - , spieltheoretische 139,267 - , von Frage und Antwort 132 - , wahrheitsfunktionale 271 semantische Beschreibung 264 semantische Kompetenz 260 semantische Merkmale 273 Sender-Empfänger-Konstellation 217 Sequenzen, sequentielle Organisation 13, 59,64,80,182 f. ,219 f., 317,382f.,499f„ 513,550f., s. a. Dialogsequenzen, Sprechaktsequenzen Sequenzierung 183 f., 513 - , globale 184,500 - , lokale 183,499 Sequenzmuster 103,109,117,180,182,184, 499f.,513,550 Sequenzregeln 146,179 signalisieren 251,331 Sinn, -konstitution5f. situationsangemessene Äußerung 464 Situierung 5,11 slot 51 small talk 369 soziale Rolle s. Rolle soziale Symbolisierung 43 Sozio-Dialektologie 41 Sozio-Kommunikationsanalyse 41 soziolektale Narrativistik 47 Soziolinguistik 3,37f. - , angewandte 41 Soziologie 4f. Spezifizierung 117 Spielbaum 133,136,150,182 Spielgespräche 213 spieltheoretische Semantik 267 Spieltheorie, mathematische 132 sprachanalytische Philosophie 114,267 Sprachbarrieren 42 Sprachdidaktik Ari. 20,123, s. a. Sprachunterricht, Lehren und Lernen

Sachregister Spracheinstellungen 47 Sprachentwicklungsstörung 398 Spracherwerb Art. 18, 378, s. a. Kindersprache Input-Forschung 381 Spracherwerbs-Hilfesystem 382 Sprachfähigkeit 378, s. a. Dialogfähigkeit, Kompetenz Sprachkonstruktionsfähigkeit 382 Sprachkritik 124,478, s.a. Medienkritik Sprachspiel 144,179 Sprachspielkonzeption 132,267 Sprachstörungen Art. 19,125,393f. Sprachtests 403 Sprachtheorie 275 Sprachtherapie 404 kommunikative Methoden der S. 405 Sprachtherapiestudien 404 Sprachübungsspiele in der S. 406 Sprachunterricht Art. 20,119,123, s. a. Fremdsprachenunterricht, Muttersprachunterricht - , kommunikativer 123,419 Sprachzentrum 395 Sprechakt40,98,178 - , als Kommunikationseinheit 215 - , direktiver442,554 - , gegeninitiativer 106 - , initialer 106,218 - , modalisierter555 - , nicht-spezifischer reaktiver 107 - , reinitiativer 107 - , retraktiver 107 - , revidierender 107 Sprechaktsequenzen, -folgen 106,110,144, 217, 330, s.a. Sequenzen, Sequenzmuster Sprechakttheorie Art. 6,95,110,144,150, 178,216 f., 267,372,528 Sprechdrama 207 Sprechen als Handeln 96,217 Sprecher-Hörer-Modell 4,217 Sprecherkonstellationen 553 Sprecherwechsel 184,343,378,384,530, s. a. Rederecht, turn-taking Sprecherziehung 455 sprechhandlungsbezeichnende Ausdrücke 117 Sprechhandlungsmuster97, s. a. Handlung (sprachliche)

Sachregister Sprechstunde 209 Sprechtempo 30 Sprichwörter 554 Standardisierung 180,546 Status 37,41 Stichwortfragen 339 Stigma 47 Stil 371 Störungen der Aufmerksamkeit 399 story grammars 182 Strategie, -begriff 132,138,142,146,190, 383,420,486,495,500,514,528,550, 552 strategische Prinzipien 148,197 Streit, -dialoge 208,220,334,383,483,550, 551 Studio-Gespräche 45 Subjunktion 135 subkulturelle Kommunikationsunterschiede 45 Subsumption 156 synonyme Ausdrücke 274 Tableau-Darstellung von Dialogverläufen 133,135,140 Tagmem, Tagmemik 51 Talkshow 483 Taxonomie s. Typologie teilnehmende Beobachtung 46,167 Teilziele von Dialogen 109 Telefonberatung, -gespräch 212,231 Tendenzfrage 248 Text-Bild-Kommunikation 480, s.a. Bild und Bildverwendung Textanalyse 52 Textgrammatik 178 Textlinguistik 471,499 Textsorten 32,479 Textverarbeitung 161 Thema 13,40,143,191 ff., 264,501,555 Begriff des Themas 192 Themaformulierung 192,194 thematische Kompetenz 415 thematische Wortschätze 264 thematischer Zusammenhang 145,191, 194 f., 264,501,556 thematisches Netz 194 Themenentwicklung und Themensteuerung 122,194,295 f., 371,383,477,513 Themengeschichte 555

575 Thema/Rhema 143,145,240, s. a. FokusHintergrund-Gliederung Theorie des sprachlichen Handelns 113 ff., s. a. Handlung, sprachliche; Sprechakttheorie Therapie von Sprachstörungen Art. 19,394, 404f. Therapiegespräche 429,435 - , interdisziplinäre Aspekte der Beschreibung 429 Tiefeninterviews 46 Tischzuchten 558 Tonhöhenlage (key) 62 Tonhöhenveränderung (tone) 62 Topikalisierung 25 Toulmin-Schema 228 transaction, Transaktion 54,56,64,71 f. Transkription 10f., 159,163,166,169f., 549, s. a. Notationsverfahren Trivialrhetorik 458 Tröstungsdialoge 222,435 Trugschlüsse 133,146,149 turn-taking 13,224,371,399, s. a. Rederecht, Sprecherwechsel Typologie Differenzierungsgrad 233 typologierelevante Aspekte 232 - , von Fragen 243 - , von Gesprächen Art. 22,40 - , von kindlichen Gesprächen 379,384 Überredung 208,452,465 Übersetzung, code-switching als 43 Übersichtlichkeit - , als kommunikatives Prinzip 197 - , einer Theorie 132 Überzeugungen 452,465 Uminterpretationen 336 Umschrift, literarische 170 Unterhaltungen 3,7,210 ff., 225 Unterredung 225 Unterrichtsdiskurs 53,109,341ff., s. a. Lehren und Lernen Unterrichtsfrage 243 Unterweisungsgespräch 227 Unverträglichkeit 120,125,179,263 Validität 47 Vergleichsobjekte 104,132,145,150,179, 182,266,386,494

576 Verhalten vs. Handeln 400f. Verhandlung 205,209,222,224,462 Verhöhnung 214 Verhör205,208,215 Verifikationsspiele 139 Verkaufsgespräch 462 Verkettungsobligationen (contraintes séquentielles/d'enchaînement) 82 Verlaufsanalyse 100 f., 103,105 Verlaufsvarianten 212 Vernehmung 332 f. Verständigungsprobleme 14,348,402,525, s. a. Verständlichkeit Verständlichkeit Art. 24,196,493 Verständlichkeitsforschung Art. 24,125, 495,510,513 dialoganalytische Untersuchungsdesigns 506 lautes Denken und lautes Lesen 508 Lesbarkeitsforschung 494 Problemtypologie 510 Problemursachen 512 Rolle der Text- und Kommunikationsanalyse 510 Verständlichkeitsformeln 507 Verständlichkeitsuntersuchungen 507 Verständlichkeitsprinzip 196 f., 495 f., 505, 557 Verständnisförderung 482 Verständnissicherung 115,398,402,513 Verstehend«. 9,6,115,150,156,159,160, 497 ff. - , unmittelbares 159 Kriterien des Verstehens 502,506 Verstehensbegriff 495 Verstehensalternativen 169 Verstehenshypothesen 160,164 Verstehensprobleme 483,509 ff. Verträglichkeits-Urteile 120, s. a. Unverträglichkeit Verwendungsweise 273 Verzögerung 348 Visite 345

Sachregister Volkscharakter (und Kommunikationsverhalten) 44 Vollständigkeit 197,505 Vollzugswirklichkeit 6 Vorschlagen 102,178,183,227,552f. Vortrag 211 Vorwerfen 122,182f., 340 Vorwurf/Rechtfertigungsinteraktionen 226,419 Waffenstillstandsverhandlungen 228 Wahrheitsbedingung, -wert 240,271 Wegauskunft 224 Werbegespräch 231 Wernicke-Areal 395 Widersprechen 335 Wiedergutmachungshandlungen 548 Wirklichkeit, gesellschaftliche 5 f. Wissen 139,158,160 f., 341 - , gemeinsames 190,500 - , des Fragenden 253 - , Arten des W. s 188 - , repräsentatives 293 f. - , stereotypes 191 Wissens- und Könnensvoraussetzungen 504 Wissensaufbau 188,500 - , Strategien des W. s 190 Wissenskonstellation 149,188,251,485, 500,512 Wissensmanagement 501 Wohlgeformtheit von Dialogen 218,224f. Wortbedeutung 122,269 Wortschatz 31 f., 272 f., 498 f., 555 Wortstellung 25 f., 144,186,479 Ziele 109, s. a. Handlungsziel, Zweck Züge 55,104,107 f., 120,140 f., 148,179, 183,347 Zurückweisen 331 Zusammenhänge sprachlicher Handlungen s. Handlungszusammenhänge Zwecke 105,209,216,224,253,324 zyklische Verlaufsstruktur 183