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German, Dutch Pages 462 [464] Year 2016
Hadewijch: Lieder
Hadewijch: Lieder Originaltext, Kommentar, Übersetzung und Melodien Herausgegeben, eingeleitet, übersetzt und kommentiert von Veerle Fraeters und Frank Willaert Mit einer Rekonstruktion der Melodien von Louis Peter Grijp† Aus dem Niederländischen übersetzt von Rita Schlusemann
Die Übersetzung des Buches wurde gefördert vom Niederländischen Literaturfonds/Nederlands Letterenfonds (www.letterenfonds.nl) und vom Flämischen Literaturfonds/Vlaams Fonds voor de Letteren (www.flemishliterature.be).
ISBN 978-3-05-005671-5 ISBN (PDF) 978-3-05-009351-2 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2016 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Die niederländische Originalausgabe erschien unter dem Titel Hadewijch Liederen eds. Veerle Fraeters, Frank Willaert & Louis Grijp © 2009 Historische Uitgeverij, Groningen Satz: Veit Friemert, Berlin Druck und Bindung: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen ♾ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com
Inhalt Vorwort
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13 I. Einleitung Hadewijch und ihre Welt 15 Die historische Person 15 Hadewijch als Lehrmeisterin 19 Hadewijch und die Minnemystik 22 Hadewijchs Lieder 27 Überlieferung 27 Die Struktur der Sammlung 29 Formen 31 Motive 39 Leiterin und Reisegefährtin 42 Die Lehre der Minne 43 Zur Rekonstruktion der Melodien (von Louis Peter Grijp) 48 Erläuterungen zur Rekonstruktionsmethode 48 Hinweise für Sänger und Sängerinnen 61 Zu dieser Ausgabe 66 Anmerkungen zur Edition 66 Verbesserungen und Zweifelsfälle 68 Anmerkungen zur deutschen Übersetzung und zum Stellenkommentar Kommentierte Bibliographie 76 Literatur 85 97 II. Lieder 1 Ay, al es nu die winter cout 98 2 Tsaermeer sal in corten tide 108 3 Die tekene doen ons wel in scine 116 4 Nu sal die tijt ende de voghele droeven. 122 5 Al droevet die tijt ende die vogheline 128 6 Alse ons onsteet de merte 132 7 Bi den nuwen jare 140 8 Altoes mach men van minnen singhen 148 9 De voghelen hebben lange geswegen 156 10 Nu es dit nuwe jaer 160 11 Nu es die edele tijt geboren 168 12 Men mach der nuwer tide 174 13 Ten blijtsten tide van den jare 180 14 Al es die tijt blide overal 186 15 Men mach den nuwen tijt 194
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Inhalt
16 Alse hem de tijt vernuwen sal 202 17 Dit nuwe jaer es ons onstaen 210 18 Groeter goede vore den tide 214 19 Dit nuwe jaer es ons begonnen 224 20 Die tijt vernuwet ende tegheet 230 21 Alse ons de bloemen van den somere comen sijn 234 22 Mine noet es groet ende onbekint den lieden 242 23 Die tijt ghevet ons ten goede spoet 248 24 Die vogele singhen clare 258 25 In allen tiden van den jare 264 26 Al es verdroevet dach ende tijt 274 27 Men mach bi den corten daghen 282 28 Die vogle sijn nu blide 290 29 Doer hogher trouwen minne 296 30 Men moet in allen tiden 308 31 Om grote minne in hoghen ghedachte 316 32 Tsjaermeer ontspringhen ons de bloemen 322 33 Die tijt vernuwet met sinen jaren 328 34 In allen tiden, nuwe ende out 334 35 Die tijt es donker ende cout 340 36 Hoe dat jaer hevet sinen tijt 348 37 Het sal de tijt ons naken sciere 360 38 Alse ons de linten wert gheboren 366 39 Almeest sijn alle creaturen 372 40 Alse ons dit nuwe jaer ontsteet 380 41 Al es dit nuwe jaer begonnen 386 42 Comen es de droeve tijt 392 43 Alse ons ontsteet de winter sware, 398 44 Alse ons de vrochte van den jare 406 45 Ay, in welken soe verbaerd de tijt 410 III. Melodien
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416 2 Tsaermeer sal in corten tide 3 Die tekene doen ons wel in scine 417 8 Altoes mach men van minnen singhen 418 9 De voghelen hebben lange geswegen 420 15 Men mach den nuwen tijt 421 17 Dit nuwe jaer es ons onstaen 422 18 Groeter goede vore den tide 423 20 Die tijt vernuwet ende tegheet 424 21 Alse ons de bloemen van den somere comen sijn
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Inhalt
27 Men mach bi den corten daghen 426 31 Om grote minne in hoghen ghedachte 427 32 Tsjaermeer ontspringhen ons de bloemen 428 33 Die tijt vernuwet met sinen jaren 429 34 In allen tiden, nuwe ende out 430 37 Het sal de tijt ons naken sciere 432 39 Almeest sijn alle creaturen 433 40 Alse ons dit nuwe jaer ontsteet 434 43 Alse ons ontsteet de winter sware, 435 45 Ay, in welken soe verbaerd de tijt 436 Kommentar zu Form und Melodie Register
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Vorwort Im zweiten Band seiner beeindruckenden Geschichte der abendländischen Mystik, der sich zum großen Teil mit dem 13. Jahrhundert beschäftigt, widmet der herausragende Germanist und Mediävist Kurt Ruh ganze 70 Seiten Hadewijch und ihren Schriften. Dennoch kann der deutschsprachige Leser das vollständige Werk dieser brabantischen Mystikerin immer noch nicht kennenlernen. In den letzten Jahren sind zwar kommentierte Übersetzungen ihrer 14 Visionen und 31 Briefe erschienen, aber das poetische Werk, das aus 45 Liedern und 16 Reimbriefen besteht, wurde bisher noch nicht ins Deutsche übertragen. Dieses Buch verfolgt das Ziel, einen wichtigen Teil dieser Lücke zu füllen. In der Hadewijch-Forschung sprach man bis vor einigen Jahren nicht von ,Liedern‘, sondern von ‚Strophischen Gedichten‘. Die Frage, ob die Texte wirklich gesungen wurden, stellte man sich in den 150 Jahren der Hadewijch-Forschung regelmäßig, aber man kam nie zu einer überzeugenden Antwort, bis der Utrechter Musikwissenschaftler Louis Peter Grijp 1992 auf nachvollziehbare Weise darlegen konnte, dass fünf der Gedichte Hadewijchs als Kontrafakturen betrachtet werden sollten: Vier konnten zu einer Trouvèremelodie gesungen werden, ein fünftes Gedicht zu einer lateinischen Sequenz. Seitdem werden Hadewijchs ‚Strophische Gedichte‘ immer häufiger‚Lieder‘ genannt, und die vorliegende Ausgabe folgt dieser neuen Namengebung. Bei der Vorbereitung der niederländischen Ausgabe dieses Buches hatte sich Louis Grijp noch einmal auf die Suche nach möglichen Melodien begeben. Das verblüffende Ergebnis war, dass wir damals Melodien für sogar neunzehn Lieder vorschlagen konnten. Auch auf anderen Gebieten bildete die niederländische Ausgabe, die 2009 erschien, einen Neuanfang, und das auch gerade dort, wo sie an ältere Traditionen in der Hadewijch-Forschung anknüpfte. Zum ersten Mal seit der 1875 publizierten diplomatischen Ausgabe von Heremans und Ledeganck wurde der Originaltext in Anlehnung an die älteste Handschrift wiedergegeben: Brüssel, Koninklijke Bibliotheek, 2879-80 (Hs. A). Und zum ersten Mal seit der 1942 herausgegebenen monumentalen Ausgabe des flämischen Jesuiten Jozef van Mierlo wurde jedes der 45 Lieder mit einer inhaltlichen Betrachtung und einer Besprechung der formalen Charakteristika versehen. Lieder und Kommentare sind in der vorliegenden Ausgabe nun auch vollständig in deutscher Übersetzung zugänglich. An diesem Buch haben drei Autoren gearbeitet. Die Textausgabe stammt von Frank Willaert. Die Arbeit an der Einleitung, den Übersetzungen und Kommentaren haben Veerle Fraeters und er sich geteilt. Bei der Arbeit an der niederländischen Ausgabe dieses Buches wurden die Texte in zahlreichen Treffen gründlich besprochen und von ihnen beiden autorisiert. Für diese deutsche Ausgabe wurden sie noch einmal von den Autoren, dieses Mal in Absprache mit der Übersetzerin Rita Schlusemann und dem Lektorat des Verlags gründlich durchgearbeitet und, wenn notwen-
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Vorwort
dig, angepasst. Während der Vorbereitung dieser Ausgabe verstarb unser Co-Autor und Freund Louis Grijp. Wir haben darauf geachtet, dass die Teile, die damals von ihm geschrieben wurden – es betrifft die Rekonstruktion der Melodien und die musikalische Besprechung jedes einzelnen Liedes – so nahe wie möglich, auch hinsichtlich des Stils, ins Deutsche übertragen wurden. Hadewijchs Lieder kann man sich über einen Link der Ruusbroec-Genootschap (www.uantwerpen.be/ruusbroecinstitute-hadewijch) anhören. Agnes de Graaff, Els Janssen und Els van Laethem singen die neunzehn Lieder, für die Melodien gefunden wurden. Veerle Fraeters beriet sie in Bezug auf Aussprache und Interpretation der Texte; Louis Peter Grijp nahm die künstlerische Endverantwortung auf sich. Die mittelniederländischen Texte, für die bisher keine Melodie bekannt ist, wurden von Veerle Fraeters, Ilse Wijnen und Frank Willaert eingesprochen. Eine Unternehmung wie diese kann nicht zustande kommen, wenn man nicht auf das Wissen anderer zurückgreifen kann. Ohne den Einsatz von Patrick Everard der Historischen Uitgeverij wäre dieses Buch nie entstanden. Er ermutigte uns, dachte mit uns mit, bahnte die notwendigen Kontakte, um die Übersetzung zu ermöglichen, und war immer bereit, uns zu beraten. Dass diese Übersetzung nach einem schwierigen Beginn zustande gekommen ist, verdanken wir des unermüdlichen Einsatzes unserer Übersetzerin Rita Schlusemann, die es schaffte, das Projekt, als es festgefahren war, wieder ins Rollen zu bringen. Die Tatsache, dass sie sich als Forscherin selbst auf dem Gebiet der niederländischen Mediävistik und älteren Germanistik bewegt und schon verschiedene Texte aus dem Mittelniederländischen ins Deutsche übersetzt hat, ist für dieses Buch sehr vorteilhaft gewesen. Wir möchten ihr auch danken für die Geduld, mit der sie zahllose Bitten und Vorschläge zur Kenntnis genommen und, wenn möglich, umgesetzt hat. Jacob Klingner vom Verlag de Gruyter sowie Ruth Atkinson als externe Lektorin haben viele Vorschläge formuliert, die der Übersetzung zugutekamen und die uns geholfen haben, bei einigen schwierigen Textpassagen den Knoten platzen zu lassen. Bei der Vorbereitung der niederländischen Version dieses Buches haben Paul Wackers und Marja Quick eine sehr wichtige Rolle gespielt: Ihre zahlreichen Bemerkungen bei der ersten Version des Manuskripts haben wesentlich zur Qualität des definitiven Texts beigetragen. Paul Wackers war auch so nett, die letzte Version der deutschen Übersetzung zu lesen und hat uns vor einigen Irrtümern und Inkonsequenzen bewahrt. Dank möchten wir auch unseren Antwerpener Kollegen Thom Mertens und Guido de Baere zollen, die für die Einleitung, die Übersetzungen und die Kommentare der niederländischen Version geschätzte Hinweise lieferten. Ike de Loos (†) und Anton Vernooij gaben wertvollen Rat zu den gregorianischen Melodien, die Hadewijch verwendet hat. Ulrike Hascher-Bürger hat die Übersetzung einiger musikologischen Textpassagen nachgesehen und gegebenenfalls korrigiert. Frank Willaert wünscht schließlich der immer behilflichen Ann Kelders von der Handschriftenabteilung der Königlichen Bibliothek zu danken, sowie dem Flämischen Interuniversitären Rat, der ihm während des zweiten Semesters des akademischen Jahres 2015–2016 die Wahrneh-
Vorwort
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mung des Rubens Lehrstuhls an der University of California – Berkeley ermöglichte, wo er unter idealen Umständen seinen Anteil zur Überprüfung der Übersetzung beitragen konnte. Veerle Fraeters und Frank Willaert
I. Einleitung
Hadewijch und ihre Welt Die historische Person „Minnelieder einer Nonne“, so nannte der deutsche Philologe Franz Joseph Mone in seiner Übersicht der niederländischen Volks-Literatur älterer Zeit aus dem Jahr 1838 die 45 – er selbst zählte 46 – Lieder, die er in zwei Handschriften der Burgundischen (jetzt Königlichen) Bibliothek in Brüssel entdeckt hatte. Obwohl Mone erkannte, dass alle übrigen Texte in der Handschrift – 31 Prosabriefe, 16 Reimbriefe und 14 Visionen – von der „Liebe Gottes“ handelten und dass die Liebe in den Liedern oft „zur göttlichen vergeistigt“ war, ordnete er Letztere in seiner Übersicht doch unter den „weltlichen Liedern“ ein, direkt hinter den frivolen Minneliedern des Herzogs Jan van Brabant. Zu Unrecht, wie sich schon bald zeigen sollte. Noch in demselben Jahr äußerte der „Vater der flämischen Bewegung“, Jan Frans Willems, dass es sich seiner Ansicht nach um eine Sammlung mystischer Meditationen und Lieder handele, und auch sein Freund Ferdinand Augustijn Snellaert gab zu erkennen, dass er geneigt wäre, diese Lieder, auch wenn sie „ein Ausdruck heftigster Liebesglut seien, (…) als rein mystische Äußerungen zu betrachten“. Als Mone seine Entdeckung veröffentlichte, konnte er keinen Autornamen nennen. In keiner der beiden Brüsseler Handschriften wird nämlich die Verfasserin genannt, außer in einer einzigen schwer lesbaren Notiz am Rande, die aber erst 1895 bemerkt wurde. Beinahe zwanzig Jahre lang blieb die Dichterin anonym, bis der westflämische Jurastudent, A. Angz. Angillis, 1857 in einem Klosterinventar mittelniederländischer Bücher aus dem 14. Jh. die folgende Notiz entdeckte: Item noch drie boeke van Hadewighen die beghinnen aldus: God die de clare minne (Und auch noch drei Bücher von Hadewijch, die so beginnen: Gott, der die reine Minne)
Angillis stellte fest, dass das hier genannte Incipit mit der ersten Zeile der beiden Brüsseler Handschriften übereinstimmte und dass die Werke in diesen Manuskripten demzufolge einer gewissen Hadewijch zugeschrieben werden müssten. Seine Entdeckung wurde bestätigt, als zehn Jahre später, 1867, eine dritte Handschrift auftauchte, die deutlich eine „Hadewijch“ als Autorin bezeichnete. Auf diese Weise hatte man zwar den Namen einer Autorin gefunden, die historische Person, die sich hinter diesem Namen verbarg, blieb jedoch völlig unbekannt. Dass sie eine Nonne gewesen war, wie Mone geschrieben hatte, darüber gab es in den ersten Jahrzehnten der Hadewijch-Forschung nur wenig Zweifel. Die erste Ausgabe des gesamten Œuvre erhielt darum auch unbekümmert den Titel Werken van Zuster Hadewijch („Werke der Schwester Hadewijch“). Die Suche nach einer Hadewijch aus dem 13. Jh., die darüber hinaus Nonne gewesen war, brachte nicht viel mehr als wilde Mutmaßungen hervor.
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Einleitung
1871 wartete Karel Ruelens, Konservator der Königlichen Bibliothek zu Brüssel, mit einer völlig neuen Auffassung auf. Hadewijch sei keine Nonne gewesen, sie sei auch nicht im 13. Jh. anzusiedeln, wie man bis dahin angenommen hatte, sondern sie müsse mit einer Brüsseler Begine namens Helwigis Bloemards identifiziert werden, die ab 1296 wiederholt in Brüsseler Dokumenten genannt worden und 1335 gestorben sei. Diese Helwigis Bloemards war nach Ruelensʼ Ansicht niemand anders als die Bloemaerdinne, die der Regularkanoniker Henricus Pomerius viel später, um 1420, in seiner Lebensbeschreibung des Jan van Ruusbroec (1293–1381) nannte: eine ketzerische Frau, Anführerin einer gefährlichen Sekte, gegen die der Brüsseler Mystiker einen energischen Kampf geführt haben soll. Ausgehend von dieser Hypothese entstand eine Polemik, welche die Hadewijch-Forschung viele Jahrzehnte beherrschte. Erst in den Zwanzigerjahren entwarf der Jesuit Jozef van Mierlo das Hadewijch-Bild, das bis heute die Forschung dominiert. Bei seinem Versuch, den historischen Kontext, in dem Hadewijch anzusiedeln ist, zu rekonstruieren, griff Van Mierlo auf eine seltsame Liste zurück, einen Anhang am Ende von Hadewijchs Visionenbuch. In diesem sogenannten „Verzeichnis der Vollkommenen“ zählt Hadewijch mehr oder weniger chronologisch diejenigen auf, die sie in ihrer dreizehnten Vision als vollkommene Minnende Gottes gesehen hatte. Sie beginnt mit Maria, Johannes dem Täufer, Johannes dem Evangelisten und fährt so fort bis in ihre eigene Zeit und sogar bis zum Ende der Zeiten, von dem sie wie viele ihrer Zeitgenossen annimmt, dass es nicht weit entfernt sei, denn: Von den 107 Vollkommenen mussten ja nur noch fünf geboren werden. Zwei Einträge nahmen in Van Mierlos Argumentation einen entscheidenden Platz ein: Mine, clusenerse, die varre dore Sassen lach, daer ic herren Heynrecke van Breda toe seinde. (176–179)
Die Klausnerin Mina, die in der Ferne in Sachsen lebte, und zu der ich Herrn Heinrich von Breda sandte.
und etwas weiter: Ene beghine die meester Robbeert doedde om hare gherechte minne (193–194)
Eine Begine, die Meister Robert wegen der Wahrhaftigkeit ihrer Minne hinrichten ließ
Nach Van Mierlo konnte sich „herren Heynrecke van Breda“ nur auf Heinrich IV., von 1246 bis zu seinem Tod 1254 Herr von Breda, beziehen. Von den fünf Herren von Breda mit dem Namen Heinrich ist er sicher der nächstliegende Kandidat. Dieser Heinrich kann ein besonderes Leben vorweisen. Als jüngerer Sohn Gottfrieds II. von Breda durchlief er eine beachtliche Laufbahn in der Kirche: Er wurde Propst von Celles in der Grafschaft Namen, Dekan des Utrechter Doms und Propst der St. Lebuinuskirche in Deventer. Er muss bereits 50 Jahre alt gewesen sein, als er eine einschneidende Entscheidung treffen musste. Die Herren von Breda waren kein starkes Geschlecht. Als deutlich wurde, dass nach dem Tod des schwachen Gottfried IV. kein erwachse-
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ner Nachfolger bereitstehen würde, musste Heinrich sich zwischen seiner kirchlichen Laufbahn und der Wahrnehmung der familiären Interessen unter Einbeziehung der Fortsetzung der Dynastie nach Gottfrieds Tod entscheiden. Er wählte das Letztere. Die Vernachlässigung seiner Residenzpflicht brachte Heinrich erst eine Abmahnung und letztendlich 1244 oder 1245 die Exkommunikation und den Verlust seiner kirchlichen Benefizien ein. Hadewijch sagt nicht, warum sie Heinrich zur Klausnerin in Sachsen geschickt hat. Es ist jedoch nicht auszuschließen, dass sich der ehemalige Geistliche in Gewissensnot an sie gewandt hatte. Wenn der Gedankengang Van Mierlos korrekt ist, muss Hadewijch ihr „Verzeichnis der Vollkommenen“ nach dem 25. April 1246 erstellt haben: an diesem Tag starb Gottfried IV. Erst dann kann Hendrik die Nachfolge seines Neffen als Herr von Breda angetreten haben. Dieses Datum passt hervorragend zur zweiten Passage der Liste der Vollkommenen, die wir oben zitiert haben. Denn meester Robbeert („Meister Robert“), der eine anonyme Begine wegen ihrer wahrhaften Minne getötet hatte, konnte von Van Mierlo in überzeugender Weise als der berüchtigte Dominikaner Robert le Petit identifiziert werden – alias Robert ,le Bougre‘ – ein Spitzname, den dieser päpstliche Inquisitor der Tatsache zu verdanken haben soll, dass er in einem vorhergehenden Leben selbst ein Ketzer (eine der möglichen Bedeutungen von bougre) war. In den Jahren 1236 und 1239 hatte dieser Meister Robert im Norden Frankreichs und in den Niederlanden insgesamt etwa 250 Menschen wegen Ketzerei töten lassen. Im Anschluss an Van Mierlo suggerierte der Karmelit Titus Brandsma aus Nijmegen, dass diese vollkommene Begine auf Hadewijchs Liste vermutlich mit einer gewissen Alaydis, die am 17. Februar 1236 in Cambrai auf dem Scheiterhaufen verbrannt worden war, zu identifizieren sei. Diese Exekution hatte großen Aufruhr verursacht, weil das Opfer weit und breit und bis in die höchsten Kreise als eine heilige Frau verehrt worden war. Ob Brandsmas Hypothese richtig ist, scheint nicht mehr nachprüfbar. Für uns ist jedoch vor allem wichtig, dass Hadewijch in ihrer chronologischen Liste die hingerichtete Begine als letzte in einer Reihe verstorbener Zeitgenossen erwähnt und dass sie über Meister Robert schreibt, ohne ihn näher zu erläutern, wie über jemanden, der allgemein bekannt war. Wenn wir diese beiden Details zu denen über Herrn Heinrich von Breda hinzufügen, wird eine Datierung der Liste der Vollkommenen in das Jahr 1246 oder in die Jahre kurz danach noch wahrscheinlicher. Woher kam Hadewijch? Gemäß einer Bemerkung aus dem 17. Jh. auf der Innenseite des vorderen Buchdeckels der Genter Hadewijch-Handschrift soll sie aus Antwerpen stammen: DE B[EATA] HADEWIGE DE ANTVERPIA ELOGIUM („Lobrede auf die selige Hadewijch von Antwerpen“; Hadewijch wurde übrigens nie selig [beata] gesprochen). Eine hinzugefügte lateinische Notiz gibt an, dass die Angabe de Antverpia aus einem Register stammt, das um 1487 im Kloster St. Maartensdal in Leuven angefertigt worden war, jedoch nun verloren gegangen ist. Frühere Hinweise, die Hadewijchs Herkunft aus der Stadt an der Schelde bestätigen könnten, fehlen. Aber warum hätte ein Kopist oder ein Bibliothekar Hadewijch mit Antwerpen in Verbindung bringen sollen, wenn es in der Überlieferung dafür keine Gründe gegeben hätte?
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Einleitung
Diese Lokalisierung bietet auch eine plausible Erklärung dafür, warum Heinrich von Breda ausgerechnet Hadewijch um Hilfe gefragt haben könnte. Zum Besitz der Herren von Breda gehörten nämlich auch Ekeren und die Hälfte von Schoten, und sie haben scheinbar im 13. Jh. vor allem im letztgenannten Dorf, das in der Nähe von Antwerpen liegt, residiert. Hadewijch gibt in ihren Werken sehr wenig über ihre Lebensumstände preis. Aus ihren Texten geht jedoch hervor, dass sie mit der lateinischen mystischen Literatur und der höfischen Minnelyrik vertraut war. Sie muss dementsprechend eine hervorragende Bildung genossen haben, wobei man annehmen kann, dass sie adeliger Abstammung war. Kurt Ruh, der große Schweizer Kenner der mittelalterlichen Mystik, nahm sogar an, dass sie zum Geschlecht derer von Schoten-Breda gehörte. Wie verführerisch diese Hypothese jedoch auch sein mag, sie ist nicht bewiesen. Wir können jedoch ihre Texte noch genauer betrachten. Aus bestimmten Passagen aus Hadewijchs Briefen scheinen wir ableiten zu können, dass sie die Freundinnen, mit denen sie zusammenlebte, selbst ausgewählt hat, dass sie nicht immer an demselben Ort gewohnt hat und dass sie, zumindest für eine gewisse Zeit, ein umherschweifendes Leben geführt hat. Außerdem fällt auf, dass in ihrem Verzeichnis der vollkommenen Zeitgenossen keine kirchlichen Würdenträger vorkommen, sondern vor allem Menschen, die am Rande der institutionellen Kirche standen: Eremiten und Klausnerinnen, Beginen, „ein kleiner unscheinbarer Mann“, „ein verstoßener Priester“, „ein vergessener Meister, einsam in einer kleinen Zelle“. Die meisten dieser vollkommenen, noch lebenden Zeitgenossen scheinen darüber hinaus Frauen zu sein, insgesamt 33 von 57. Daraus hat Van Mierlo zu Recht abgeleitet, dass Hadewijch in der religiösen Frauenbewegung des 13. Jhs. eingeordnet werden muss. Ab dem Ende des 12. Jhs. wählten in ganz Westeuropa, vor allem jedoch in den Brabanter und Lütticher Regionen, immer mehr Frauen aus allen sozialen Schichten ein Leben in Keuschheit und Enthaltsamkeit im Einklang mit dem Evangelium. Obwohl diese Frauen nicht zu einem klösterlichen Orden gehörten, war ihre Lebensweise doch sehr mit dem Leben weiblicher Religiosen verwandt. Man nannte sie darum auch mulieres religiosae, was nicht einfach „fromme Frauen“ bedeutete oder „weibliche Religiose“, sondern „Frauen, die ohne eigentlich Nonnen zu sein, ein verhältnismäßig klösterliches Leben führen“. Diese reguläre Lebensweise ohne Regel, diese via media zwischen dem Laienstand und dem der Geistlichen, weckte Misstrauen bei vielen Zeitgenossen. Waren diese Frauen etwa Betrüger, welche diese oder jene Lebensweise annahmen, je nachdem, wie es ihnen gerade besser passte? Waren sie Scheinheilige, die vorgaben, fromm zu sein, um andere an der Nase herumzuführen? Sie wurden ziemlich schnell „Beginen“ genannt, eine Bezeichnung, die wahrscheinlich vom französischen béguer „stammeln, murmeln“ abgeleitet wurde: „Murmler“, „Flüsterer“. Frauen, die unaufhörlich unverständliche Gebete sagten – aber beteten sie wirklich, oder taten sie nur so? Trotz allen Widerstands und aller Verdächtigungen konnten die mulieres religiosae aus dem brabantisch-lütticher Raum auch auf mächtige Beschützer zählen. Einer
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unter ihnen war Jakob von Vitry (1160/70–1240), auf den als Theologiestudenten in Paris die Berühmtheit der Begine Maria von Oignies (1177/78–1213) einen solch großen Eindruck machte, dass er nach 1210 bei den Regularkanonikern von St.-Nicolas in Oignies-sur-Sambre (in der Nähe von Charleroi) eintrat, um so in ihrer unmittelbaren Nähe sein zu können. Direkt nach ihrem Tod schrieb er ihre Vita („Lebenslauf“) und kurz nach seiner Weihe zum Bischof von Akkon am 31. Juli 1216 gelang es ihm, die Lebensweise der religiösen Frauen von Papst Honorius III. (um 1148–1227) mündlich genehmigen zu lassen. Als erfolgreicher Prediger, als Bischof und später als Kardinal setzte er sich bis zu seinem Tode für die religiöse Frauenbewegung ein. In einer seiner Predigten beschrieb Jakob von Vitry die Lebensweise dieser Frauen wie folgt: „Sie leben in ein- und demselben Haus (…), und unter der Leitung einer von ihnen, die die anderen in Tugend und Weisheit übertrifft, werden sie sowohl durch das gute Beispiel wie durch die Schriften (tam moribus quam litteris) im Wachen und im Gebet, im Fasten und in allerlei asketischen Übungen, in der Demut und der Selbstaufgabe unterrichtet.“ Obwohl es auch sein könnte, dass auch fromme Männer zu den Rezipienten von Hadewijchs Werken gehört haben, scheinen viele ihrer Schriften in erster Linie für einen Kreis weiblicher Geistesverwandter geschrieben worden zu sein.
Hadewijch als Lehrmeisterin Der Beschreibung Jakobs zufolge fungierten die kleinen Gemeinschaften der mulieres religiosae als Lehrschulen der Tugend. Diese Frauen unterrichteten sich gegenseitig tam moribus quam litteris, sowohl durch das gute Beispiel als durch Texte. Die Formel mores et litterae war zur Zeit Jakobs bereits sehr alt. Sie wurde ab der Mitte des 10. Jhs. zur Bezeichnung der pädagogischen Programme in Kathedral- und Kapitelschulen verwendet. Dabei waren „Literatur“ und „Sitten“ so eng miteinander verbunden, dass eine Unterscheidung zwischen beiden kaum möglich war. Die litterae wurden jeweils von einem charismatischen Lehrer unterrichtet, der selbst vortrefflich die mores verkörperte. Beide, die litterae wie die mores, das Studium der Schriften wie auch das Beispiel des Lehrers dienten dazu, die Schüler zur Tugendhaftigkeit (virtus) und zum sittlichen Leben (venustas morum) zu erziehen. Dieses Ideal der Einheit der mores et litterae war im Laufe des 12. Jhs. mit dem Aufkommen der frühen Scholastik in eine Krise geraten, war jedoch in den Werken des Zisterziensers Bernhard von Clairvaux (1090–1153) sowie in der berühmten Schule der Regularkanoniker von St. Viktor in Paris bewahrt geblieben. Zisterzienser und Viktoriner haben auf die Spiritualität der religiösen Frauen des 13. Jhs. einen großen Einfluss ausgeübt, was auch verständlich macht, dass Jakob gerade bei ihnen das alte Ideal der Einheit der mores und litterae verwirklicht sah. War es nicht eine Frau, „die die anderen in Tugend und Weisheit übertraf“, die sie anführte? Waren es nicht sowohl ihre Persönlichkeit als auch die Lektüre, die sie ihren Freundinnen empfahl, die ihnen als Vorbild dienen sollte? Anders als in den Pariser Schulen, in denen die neue, mit dem logischen Verstand
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Einleitung
operierende Theologie unterrichtet wurde, bildeten hier Literatur und Leben, litterae und mores, eine Einheit. Was jedoch meinte Jakob mit dem Wort litterae? Spricht er dabei über die existierende patristische oder monastische Literatur, die von den mulieres religiosae gelesen wurde, oder verweist er auf Texte, die in diesen Kreisen selbst entstanden sind? Vermutlich das Erstere, denn es gibt nur wenige oder keine Anzeichen dafür, dass es vor Hadewijch eine blühende, von diesen frommen Frauen selbst geschriebene, volkssprachige Literatur gegeben hätte. Dass viele unter ihnen lesen konnten, steht fest. Was den Kreis um Hadewijch herum betrifft, erweckt der Schwierigkeitsgrad ihrer Texte den Eindruck, dass die Bildung ihres Publikums ein hohes und möglicherweise selbst außerordentliches Niveau erreicht haben muss: Ein Eindruck, der durch einen Abschnitt in ihrem 24. Brief bestätigt wird: „Und alle Worte, die du von ihm (Gott) in der Schrift hörst, die du selbst liest, die ich dir mitgeteilt habe und die dir jemand anders sagt, in der Volkssprache oder auf Lateinisch, die lasse in dein Herz ein“, schreibt sie einer ihrer Freundinnen. Hiermit werden so gut wie alle Kanäle genannt, über die geistliche Lehren die Freundin erreichen konnten: mündlich wie auch schriftlich, in der Volkssprache und auf Lateinisch. Wenn Hadewijch ihrer Freundin schreibt, dass sie die Worte der Heiligen Schrift oder ihrer selbst oder eines anderen „in ihr Herz einlassen“ soll, dann ist dies prägnanter gemeint, als dass sie sich diese „zu Herzen nehmen“ oder „Ernst nehmen“ sollte oder dergleichen. Das Herz wurde im Mittelalter immerhin als der Sitz der memoria oder der re-cor-datio angesehen (daher im Französischen und Englischen noch immer: „apprendre par cœur“, „to learn by heart“). Memoria war mehr, als wir jetzt unter „Gedächtnis“ verstehen: Es ging der brabantischen Mystikerin darum, dass ihre Schülerin die Worte der Heiligen Schrift und die Worte, die Hadewijch selbst oder ein anderer ihr sagte oder schrieb, in sich aufnahm, sich zu eigen machte, sodass diese ihr ganzes Leben permanent durchdringen und ihm Form geben konnten. Diesen intensiven Umgang mit dem Wort, der aus der Klosterwelt (Benediktiner, Zisterzienser, Kartäuser, Viktoriner) stammte, können wir auch bei den mulieres religiosae wiederfinden. Die Vita der Juliana von Mont-Cornillon (1193–1258) erwähnt, dass diese Lütticher Begine nicht weniger als 20 Predigten Bernhards von Clairvaux über das Hohelied auswendig gelernt hatte. Auch Hadewijch selbst muss auf eine intensive Weise mit ihrer Lektüre umgegangen sein, wenngleich es sehr schwierig ist, ihre Belesenheit zu dokumentieren. Was sie las, hat sie sich so angeeignet, dass Zitate und Entlehnungen durchgehend in ihren Texten eingeflochten sind. Ihre Quellen nennt sie fast nie. Ihre Belesenheit muss jedoch sehr umfassend gewesen sein. Es genügt, wenn man Joris Reynaerts beeindruckende Studie über Hadewijchs Bildsprache durchblättert, um zu sehen, wie sehr ihr Werk von Kirchenvätern wie Augustinus und Papst Gregorius beeinflusst wurde, von der Zisterzienser- und Viktorinerspiritualität und – wie später noch ausführlich behandelt werden wird – von der in der Volkssprache verfassten, höfischen Literatur.
Hadewijch und ihre Welt
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Auf den ersten Blick ist Hadewijchs Œuvre sehr heterogen: Briefe in Prosa und in Versen (die sogenannten Reimbriefe oder Mengeldichten), Visionen und Lieder (auch oft Strofische Gedichten genannt). Diese Werke haben jedoch ein einziges Thema gemein: die Minne, die mystische Liebe zwischen Gott und Mensch. Und sie sind alle für ein Publikum geschrieben, das wie Hadewijch von der Minne ergriffen war. In ihrem siebten Reimbrief (V. 17–26) bezeichnet Hadewijch die Angesprochene, eine noch junge Freundin, als glücklich, weil sie in einer Gesellschaft lebt, die ihr den Weg zur höchsten Tugend weist und sie in den Schriften Gottes unterrichtet: Ghevet in minnen al uwe ghedachte den soeten God die u ghewrachte, die u dies gheholpen hevet dat ghi bi denghenen levet die hoghe minne te Gode draghen ende u in letteren sijns ghewaghen ende u wisen die hoechste doghet die ghi gherne leren moghet, ende blide moecht sijn van den gherede dat ghi ter minnen selt hebben ghelede.
Richte in Minne all deine Gedanken auf den süßen Gott, der dich ins Leben rief und der dir dabei geholfen hat, dass du bei denjenigen lebst, die hohe Minne zu Gott tragen und zu dir in Briefen über ihn sprechen und dich die höchste Tugend lehren, die du gerne lernen möchtest, während du dich auch daran erfreuen kannst, dass du auf dem Weg zur Minne begleitet wirst.
Diese Verse erinnern an den soeben zitierten Abschnitt aus der Predigt Jakobs von Vitry, in der er das Leben der mulieres religiosae beschreibt, mit dem Unterschied, dass die Lehren sich nicht an erster Stelle auf das Wachen, das Gebet, das Fasten usw. beziehen, sondern auf die höchste Tugend: die Minne. Hierdurch wird die kleine Gemeinschaft der Freundinnen zu einer ‚Schule der Minne‘. Hadewijch entlehnte diese Metapher, die sie in den Liedern mehrmals verwendet, von den Zisterziensern. Mit dem Ausdruck schola caritatis bezeichneten die weißen Mönche ihr Kloster, aber Hadewijch benutzte ihn für die kleine, informelle Gruppe von Menschen, die das Minneideal mit ihr teilten und den Meistergrad in der Minne erreichen wollten, wie sie es in Lied 13 formuliert. Selbst war sie in der Tat eine solche magistra; und in vielerlei Hinsicht zeigt die Weise, mit der sie selbst in ihren eigenen Werken erscheint, Übereinstimmung mit der charismatischen Lehrtätigkeit, von denen hier bereits vorher die Rede war. Es besteht ein affektives Band zwischen ihr selbst und ihren Schülerinnen, das – völlig im Einklang mit mittelalterlichen Auffassungen über guten Unterricht – nicht ohne Strenge ist. Hadewijch verzichtet nicht auf die Rute, und die Stellen, an denen sie diejenigen, die in der Minne versagen, streng zurechtweist, sind zahlreich. Auf einen anderen wesentlichen Aspekt der mittelalterlichen Lehre wies der amerikanische Germanist Stephen Jaeger hin, wobei er sich auf eine Aussage des Hugo von St. Viktor (ca. 1096–1141) berufen konnte: Die charismatische Meisterschaft in der Lehre verwandelte den Meister „into an image of God, and the studentʼs goal was to fashion himself in that image“. Wenn diese Aussage irgendeine Gültigkeit besitzt, dann gewiss bei Hadewijch. Was beinhaltete Minne für sie auch anderes als die Wiederherstellung der Ähnlichkeit mit Gott, die mit dem Sündenfall verlorenge-
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gangen war? Und was verlangte sie anderes von ihren Freundinnen, als dass sie diese ursprüngliche Ähnlichkeit wiederfinden sollten, indem sie ihrem Beispiel folgten, um so Gottes vollwertige Braut zu werden? Mit ihren Texten, auch mit ihren Liedern, wollte Hadewijch ihre Freundinnen begleiten, indem sie sie anspornte, zurechtwies und unermüdlich an diesen allergrößten Auftrag erinnerte. Dafür waren sie nach ihrer festen Überzeugung auserkoren.
Hadewijch und die Minnemystik Hadewijch war also eine spirituelle Leiterin des 13. Jhs. aus dem Herzogtum Brabant, welche eine kleine Gruppe Gleichgesinnter zur vollkommenen Minne ausbilden wollte. Aus dieser Mission heraus schrieb sie Briefe, Visionen und Lieder über das eine Thema, das ihrem Leben Form und Inhalt gab: die Minne. Mit ihrer Betonung der Liebe als Begegnungsort des Menschen mit Gott steht Hadewijch in der Tradition der Minne- bzw. Liebesmystik. Diese neue Form der Spiritualität entstand aus einer Revolution im Mönchswesen heraus. Die Gebetsaktivität der Benediktinermönche bestand seit jeher aus der rituellen Teilnahme an den acht kollektiven Gebetszeiten. Im 12. Jh. jedoch verlegten Erneuerer wie Bernhard von Clairvaux den Schwerpunkt auf die individuelle Meditation über Gottes Wort. Diese Meditation wurde sowohl in der Einsamkeit der eigenen Zelle als auch in der inneren Devotion während des kollektiven liturgischen Rituals praktiziert. Das Ziel dieser persönlichen Meditationsübungen war die Kontemplation, bei der man den unsichtbaren Gott „von Angesicht zu Angesicht“ sieht. Einige hofften darüber hinaus auf eine mystische Einheitserfahrung (unio mystica), in der man den unfassbaren Gott in überwältigender Weise fühlt. Die Erkundung einer neuen Erfahrung erfordert eine neue Sprache. Um 1120 begannen Bernhard, Abt des Zisterzienserklosters Clairvaux, und sein guter Freund Wilhelm († 1148), Abt des Benediktinerklosters St. Thierry, während einer Kur – beide waren krank – zusammen das Hohelied zu lesen, ein Buch, das zu der Zeit nicht im Mittelpunkt der Bibellektüre stand. Angeregt durch den Text des griechischen Kirchenvaters Origenes (ca. 185–245) lasen Bernhard und Wilhelm diesen vor Sinnlichkeit überquellenden Liebesdialog wie eine Allegorie des innerlichen Gebets, das der Mensch an Gott richtet, in der Hoffnung ihn sehen und fühlen zu können. Die feurigen einleitenden Worte des Mädchens – „Er küsse mich mit dem Kusse seines Mundes“ (Hohelied 1,1) – drücken in ihrer symbolischen Lesart die Welle des Begehrens aus, mit der der betende Mönch sich an Gott wendet. Aus ihrem Briefwechsel wissen wir, dass Bernhard und Wilhelm während ihrer Zusammenkünfte auch ihre persönlichen mystischen Erfahrungen miteinander in der Bildsprache des Hoheliedes teilten. Dieser Moment, in dem zwei Äbte ihre innerlichen Gebetserfahrungen in der Sprache der Liebe ausdrücken, wird die Geburt der westlichen Liebesmystik genannt.
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Nicht nur in ländlichen Klöstern blühte diese neue Spiritualität. Auch in Paris, wo zu jener Zeit Theologen wie Abelard (1079–1142) Gott mit dem Verstand begreifen wollten, gab es Orte, an denen diese Spiritualität der Liebe Wurzeln trieb. In der Schule von St. Viktor schrieben die Meister Hugo und Richard Traktate über Meditation und Kontemplation für junge Kanoniker, die sie unterrichteten, damit diese sich Schritt für Schritt die neue verinnerlichte Spiritualität aneignen konnten. Der Einsatz und die Pflege von Gefühlen des Verlangens und der Liebe während des individuellen Gebets werden darin beschrieben. Richard von St. Viktor († 1173) schrieb mehrere Werke über die Kontemplation, in denen er die Sprache der Liebe als beherrschende Metapher verwendet. Am prägnantesten ist sein kleines Traktat De quattuor gradibus violentae caritatis „Von den vier Stufen der Liebesgewalt“. Darin beschreibt er einen Weg zur geistlichen Vollendung durch das Erleben der völligen Hingabe in Liebe an den Mitmenschen und an Gott. Die Hoheliedpredigten und -kommentare Bernhards und Wilhelms und die Texte über Kontemplation aus der Schule von St. Viktor verbreiteten sich schnell. Vor allem für die mulieres religiosae des 13. Jhs. stellten sie eine wichtige Quelle der Inspiration dar. Belesene religiöse Frauen, die selbst schrieben, wie Hadewijch und die Begine Mechthild von Magdeburg (ca. 1208–1282/97), ließen sich nachweislich von den Texten der Begründer der Minnemystik inspirieren. Der große Einfluss dieser Texte auf religiöse Frauen ist gewiss auch damit zu erklären, dass es eine Frau ist, die im Mittelpunkt des Modells der kontemplativen Mönche und Kanoniker des 12. Jhs. steht. Sie identifizierten sich selbst, oder lieber, ihre eigene Seele (Latein anima, „Seele“, ist weiblich), mit dem Mädchen aus dem Hohelied, das vor Verlangen brennt, ihren Geliebten zu sehen, und Gott mit dem Jungen, der leidenschaftlich auf sie wartet. Wie ist das zu verstehen: Sich auf ein leidenschaftliches Liebesband mit Gott einlassen? Was verstanden diese mittelalterlichen kontemplativen und religiösen Frauen genau unter „Liebe“? Um das wirklich begreifen zu können, ist es notwendig, einen Umweg zu machen und kurz auf ihr Menschen- und Weltbild einzugehen. Dieses wird in ihren Texten selten explizit zum Ausdruck gebracht, wird aber vorausgesetzt. Nach dem mittelalterlichen Menschenbild, das seine Wurzeln im klassischen Altertum hat, besteht der Mensch, wie alle lebenden Substanzen, aus einem Körper und einer Seele. Von Aristoteles stammte die Auffassung, dass die Seele „der Beweger des Körpers“ ist – ohne Seele ist der Körper ja völlig bewegungslos. Die menschliche Seele setzt sich aus drei Seelenbereichen zusammen: die vegetative Seele, die den menschlichen Körper dazu antreibt, sich genau wie auch Pflanzen zu ernähren und fortzupflanzen; die animalische Seele, die den Körper dazu antreibt, sich aus instinktiven Bedürfnissen wie Hunger oder Angst heraus im Raum fortzubewegen, und die rationale Seele, die den Menschen dazu bewegt, die Abhängigkeit vom Hier und Jetzt durch Aktivitäten wie die Erinnerung, das Vorausdenken und das Argumentieren zu übersteigen. Den Antrieb der anima vegetativa und animalis hat der Mensch mit den niederen Arten gemein. Die anima rationalis ist typisch für den Menschen. Sie ermöglicht
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dem Menschen, über seine Instinkte hinaus zu steigen und sein Handeln rational zu begründen. Nach dieser klassisch-mittelalterlichen Naturphilosophie besitzt der Antrieb der animalischen, der vegetativen wie auch der rationalen Seele eine angeborene Zielrichtung (gr. telos, Ziel): Sie streben auf eine natürliche Art und Weise nach dem, was am meisten mit ihnen verwandt ist und was gut für sie ist (Teleologie). Mit anderen Worten: Sie streben nach ihrem Ursprung. So strebt der Stein, der vor allem aus dem Element Erde besteht, auf eine natürliche Weise nach unten, denn die Erde ist sein Ursprung. Die Flamme strebt auf eine natürliche Weise nach oben, denn dort befindet sich das Element Feuer, das ihr Ursprung ist. Das neugeborene Kind strebt auf natürliche Weise zur Mutterbrust, denn aus der Mutter ist es geboren. Dieses Streben ist immer gegenseitig: Die Erde zieht den Stein wie einen Magneten an sich; die Mutter will nichts lieber als ein Zuhause für das neugeborene Kind sein. Die Wurzel dieses Strebevermögens, dieser natürlichen Anziehung zwischen verwandten Seelen, nennt Aristoteles Liebe. Das Ziel dieser Liebe ist Veredlung: Die Transformation in eine vollendetere Form der eigenen Natur. In dieser naturphilosophischen Sichtweise ist Liebe weniger ein Gefühl, sondern an erster Stelle eine wesentliche, wenngleich unsichtbare Kraft, die die ganze Schöpfung beherrscht und der sich kein Geschöpf entziehen kann. Es ist die magische Anziehung zwischen zwei verwandten Substanzen, wobei die weniger vollkommene dazu getrieben wird, sich in die vollkommenere zu transformieren. Spätklassische neoplatonische Denker haben die aristotelische Seelenlehre erweitert. Sie unterteilen die rationale Seele wiederum in zwei Bereiche. Die anima rationalis besitzt nicht nur die für die menschliche Rasse einzigartige ratio oder Vernunft. Sie hat auch noch eine andere Fähigkeit, den intellectus, den sie mit den nichtkörperlichen, geistigen Wesen wie Gott, den Engeln und den im Himmel aufgenommenen Seelen teilt. Diese höchste Fähigkeit der menschlichen Seele ermöglicht es dem Menschen wie den geistigen Entitäten, die in einer überraumzeitlichen Dimension leben, intuitiv die ewige Wahrheit zu kennen, ohne dass er auch nur im geringsten durch seinen Körper eingeschränkt wäre, der ja durch Zeit und Raum bestimmt und begrenzt ist. Die frühen Kirchenväter, christliche Philosophen, die im Allgemeinen in der neoplatonischen philosophischen Tradition geschult waren, schafften eine Verbindung dieser Seelenlehre mit der biblischen Anthropologie: Der Mensch wurde nach Gottes Ebenbild geschaffen (Genesis 2,10–11). Die menschliche Seele ist also ein imago dei, ein Bild Gottes. In der Theologie spricht man dann von Exemplarismus. Insbesondere der höchste Aspekt der Seele, der intellectus, ist der Träger von Gottes Bild im Menschen. Der Kirchenvater Augustinus (354–430) benutzte für intellectus den Term mens, lateinisch für „Geist“. In dieser christlichen Vision liegt die Bestimmung des Menschen also nicht nur, oder eher: nicht so sehr, in der für den Menschen einzigartigen Fähigkeit zum rationalen Denken, sondern vielmehr in der Verwirklichung seiner ursprünglichen, rein geistigen und göttlichen Natur.
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Die christliche Geschichte vermittelt, dass das Bild Gottes im Menschen durch den Sündenfall getrübt wurde. Die natürliche Verbindung zwischen dem Menschen und Gott wurde gestört. Jedoch ist der Mensch, der das wirklich will, in der Lage, die Ähnlichkeit mit Gott wiederherzustellen. Die angeborene Dynamik des höchsten Seelenvermögens, der mens, strebt nämlich unaufhörlich seinem Ursprung entgegen, nach Gott, der selbst genauso unaufhörlich nach dem mens verlangt. Mystiker wie Bernhard und Hadewijch sind sich der dauernden Anziehungskraft zwischen (dem mens) ihrer Seele und Gott bewusst. Sie entscheiden sich für die ausschließliche Liebesverbindung mit der „hohen Minne“. Um im Dienst dieser hohen Minne leben zu können, müssen sie die Überbleibsel der niederen Seelenkräfte unter das Bestreben der höchsten Seelenkraft stellen. Darum impliziert Mystik ebenfalls stets Askese. Es erfordert jedenfalls auch immer Übung, damit man nicht von den Überlebensmechanismen der vegetativen Seele, den impulsiven Affekten der animalischen Seele, der suchenden mentalen Aktivität der Vernunft aufgesogen wird. Dieses asketische Üben – Hadewijch nennt dies „werken“ – beinhaltet jedoch keine radikale Abweisung der niederen Seelenvermögen. Zisterzienser und Viktoriner entwickelten gerade devotionale und meditative Übungen, die Affekte und die Vernunft bewusst in den Dienst der Kontemplation und der mystischen Einheit stellten. Hadewijch war intensiv mit dieser spirituellen Disziplin, bei der affektiv geladene Visualisationen im Mittelpunkt standen, vertraut. Vor allem aus den Visionen geht hervor, wie sie Gottes Wort, das in der Liturgie vorgetragen wird, voller Hingabe in ihrem Geist aufnimmt und mental immer wieder auskostet; wie sie sich mit hungrigem Begehren nach der Hostie und dem Einswerden mit Christus sehnt; wie sie lang anhaltend das Kreuzbild anstarrt und ihr Herz für den Gekreuzigten entflammen lässt. Der Fluchtpunkt dieser Übungen war Jesus Christus, der herausragende Beweis für Gottes bedingungslose Liebe für den Menschen. Die Tatsache, dass das Verlangen Gottes nach dem Menschen so groß war, dass er beschloss, sich in eine menschliche Gestalt zu begeben, bildet den Kern des christlichen Glaubens. Jesus Christus hat der Menschheit durch sein beispielhaftes Leben einen Weg gezeigt, durch den der intellectus, der nach seinem göttlichen Ursprung strebt, diesen Ursprung auch tatsächlich erreichen kann. Das Ideal der Nachfolge Christi bildete den Nährboden der neuen spirituellen Bewegungen des 12. Jhs. Durch die Ähnlichkeit mit Christus wollte man eins werden mit Gott. Die imitatio Christi wurde wahrscheinlich in ausdrucksvollster Weise durch Hadewijchs Zeitgenossen Franziskus von Assisi (1182–1226) verkörpert, der die Stigmata erhielt. Während des gesamten Mittelalters (und auch in späteren Jahrhunderten) blieb die Nachfolge Christi der Kern der Glaubenserfahrung. Dabei wurde die Betonung vor allem auf das Leiden des Gottmenschen in der Welt und auf den Kreuzestod gelegt, durch den er die Menschheit von der Erbsünde, mit der Adam und Eva sie belastet hatten, erlöste. Diese imitiatio Christi, in der die innige Verbindung mit Gott mit einem Leidend-In-Der-Welt-Stehen zusammenfällt und in der das eigene Leiden die Seelen anderer Menschen erlösen kann, ist auch für Hadewijch
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der Weg, über den sich das Einswerden mit Gott vollzieht. Das geht vor allem aus ihren Briefen und Visionen hervor, jedoch auch in den Liedern, in denen zahlreiche Abschnitte vorkommen, in denen dieses christologische Fundament ihrer Liebesmystik durchschimmert. Wie auch für Jesus Christus das Leben auf der Erde eine vorübergehende Verbannung aus seinem wahren Zuhause, der geistigen Dimension, war, so erfährt der im Dienst des Göttlichen in sich selbst lebende Mensch das Leben auf Erden als ein Exil. Darum ist auch das Wort ellende, das im Mittelniederländischen in erster Linie „Exil“ bedeutet, einer der zentralen Termini in Hadewijchs Schriften. Wie auch Jesus Christus nach seinem Kreuzestod aus dem Tode auferstand und im Himmel aufgenommen wurde, um dort neben seinem Vater zu thronen, so ist das gesamte Streben der Mystikerin darauf ausgerichtet, in Gott aufgenommen zu werden. Wenngleich Momente der mystischen Einheit während des Lebens möglich sind, kann die endgültige Teilnahme an der ewigen Minne erst nach dem Tod stattfinden. Obwohl diese Überzeugung in den Liedern nur selten ausdrücklich in Worte gefasst wird, entfalten diese mystischen Texte ihre gesamte Bedeutung erst, wenn man sie im Licht des oben skizzierten mittelalterlich-christlichen Menschen- und Weltbildes betrachtet.
Hadewijchs Lieder Überlieferung Hadewijchs Lieder sind in vier Handschriften überliefert. Das älteste Manuskript befindet sich in der Königlichen Bibliothek in Brüssel, Signatur 2879–2880 (Handschrift A). Diese Handschrift datiert aus dem zweiten Viertel des 14. Jhs. und enthält das vollständige Œuvre der brabantischen Mystikerin: Briefe, Visionen, Lieder und Reimbriefe (= Mengeldichten 1–16), in dieser Reihenfolge. In der zweiten Hälfte des 14. Jhs. befand sich die Handschrift im Besitz der Kartäuser in Herne 30 km südwestlich von Brüssel. Wir wissen nicht, ob sie dort auch entstanden ist. Um 1400 herum ist die Handschrift A in den Besitz der Regularkanoniker des Rooklosters gelangt, das südöstlich von Brüssel in der Nähe des Dorfes Oudergem im Zonienwald lag. Die zweite große Hadewijch-Handschrift wird ebenfalls in der Königlichen Bibliothek in Brüssel aufbewahrt, unter der Signatur 2877–2878 (Handschrift B). Die Kartäuser von Herne kopierten diese um 1380 nach Handschrift A. Der Brüsseler Buchhändler Godevaart de Bloc hatte die Kopie bestellt. Als De Bloc 1383 bankrottging, gelangte das Manuskript zusammen mit dessen gesamtem Hab und Gut in den Besitz des Rooklosters. Der Kopist hat die Briefe, Visionen, Lieder und Reimbriefe unmittelbar aus Handschrift A übernommen und später noch das Twee-vormich tractaetken und die Mengeldichten 17–29, die nicht von Hadewijch stammen, hinzugefügt. Beide Kodizes gelangten nach der Auflösung des Rooklosters am 13. April 1784 zunächst in die Nationalbibliothek in Paris und dann 1815 in die Burgundische Biblio thek in Brüssel, wo sie schließlich von Mone entdeckt wurden. Die dritte Handschrift, in der die Lieder überliefert sind, befindet sich in der Universitätsbibliothek Gent, Signatur 941 (Handschrift C). Diese Handschrift enthält die gleichen Texte wie Handschrift B, jedoch in einer anderen Reihenfolge: Visionen, Briefe, Lieder, Twee-vormich tractaetken, Reimbriefe (= Mengeldichten 1–16) und Mengeldichten 17–29. Hier scheinen das Twee-vormich tractaetken und die zweite Serie der Mengeldichten völlig mit Hadewijchs Werk verflochten zu sein. Diese ästhetisch ausgeführte Handschrift datiert aus der zweiten Hälfte (wahrscheinlich Ende) des 14. Jhs. Sie war Teil der Bibliothek der Regularkanoniker des Bethlehemklosters bei Leuven (Löwen). Da dieses Priorat jedoch erst 1407 gegründet wurde, muss sie in einer anderen Umgebung entstanden sein. Man kann hier möglicherweise an eine Gruppe Klausnerinnen denken, die vor der Gründung des Bethlehemklosters an dieser Stelle wohnten. Im 17. Jh. gehörte der Kodex zur Bibliothek der Bollandisten von Antwerpen, einer Gruppe Jesuiten, die sich der Herausgabe verlässlicher Hagiographien widmete. Das Manuskript tauchte 1867 bei einer Versteigerung in Amsterdam auf, wo es der Genter Professor und Bibliophile C. P. Serrure erstand. Nach seinem Tode kaufte die Genter Universitätsbibliothek 1878 den Kodex zusammen mit mehreren anderen Handschriften.
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Die vierte Handschrift mit Liedern Hadewijchs befindet sich im Besitz der Ruusbroecgenootschap Antwerpen, mit der Signatur Neerl. 385 II (Handschrift R). Diese Handschrift ist erst durch eine Schenkung an den Antwerpener Jesuiten Leonce Reypens (vor 1963) aufgetaucht. Sie enthält die Lieder, die Reimbriefe (oder Mengeldichten 1–16), die Mengeldichten 25–29 der Pseudo-Hadewijch sowie die Liste der Vollkommenen. Wenngleich Handschrift R gegenwärtig getrennt aufbewahrt wird, war sie ursprünglich zusammengebunden mit dem Traktat De mystieke mondkus („Der mystische Mundkuss“) von Willem Jordaens, einem Regularkanoniker in Groenen daal und nahen Mitarbeiter Jans van Ruusbroec. Diese Handschrift ist viel jünger als die übrigen Hadewijch-Kodizes: Sie wird auf das erste Viertel des 16. Jhs. datiert, wurde im ostbrabantischen Dialekt geschrieben und muss, wie eine Besitznotiz im Jordaensteil vermuten lässt, einem ansonsten unbekannten adeligen Laien, Ser (= Seigneur, Herr) Johanes Groenins, gehört haben. Die in dieser Handschrift enthaltenen Texte sind eng mit denen in Handschrift C verwandt. Obwohl das Material, auf das wir uns stützen können, natürlich begrenzt ist, lässt die Überlieferung mit einiger Sicherheit annehmen, dass Hadewijchs Schriften in erster Linie nicht in Klöstern, sondern eher ,in der Weltʻ zirkulierten: Handschrift B war für einen Brüsseler Buchhändler bestimmt, Handschrift C war möglicherweise ursprünglich im Besitz einer Gruppe Einsiedlerinnen und Handschrift R gehörte einem Edelmann. Die Herkunft der Handschrift A ist unbekannt. Die Tatsache jedoch, dass sich diese Handschrift im Besitz der Kartäuser befand, unterstützt unseren Eindruck mehr als dass sie ihn widerlegt: Gerade in diesem Kloster zeigte man im 14. Jh. ein ausgesprochen großes Interesse für die volkssprachige Mystik und versuchte, durch die Übersetzung lateinischer geistlicher Literatur und die aktive Suche nach geeigneten Texten den spirituellen Bedürfnissen frommer Laien zu entsprechen. Hadewijchs Leserpublikum scheint sich also auch in späteren Perioden nicht so sehr von dem Milieu unterschieden zu haben, in dem sie selbst zu Hause war – die Welt frommer Laien, engagierter Priester, von Beginen und Einsiedlern. Es ist vor diesem Hintergrund auch nicht verwunderlich, dass ein weltlicher Priester wie Jan van Ruusbroec bereits in seinem allerersten Traktat (Dat rijcke der ghelieven [„Das Reich der Geliebten“], ca. 1335) erkennen lässt, eingehend mit ihrem Werk vertraut zu sein. Wenn Hadewijch ihre Leser vor allem außerhalb der Klostermauern gefunden hat, dann könnte dies erklären, warum zwischen ihrer Schreibtätigkeit und den ältesten erhaltenen Handschriften ein ziemlich – wenn auch nicht übermäßig – langer Zeitraum von etwa 75 Jahren liegt. Handschriften in Privatbibliotheken hatten ja eine viel geringere Chance, die wechselhaften Zeiten zu überstehen, als Manuskripte in Klosterbibliotheken. Daher ist es auch sehr gut möglich, dass ziemlich viele Hade wijch-Handschriften verloren gegangen sind. Umgekehrt ist es sicher kein Zufall, dass mindestens drei der vier Handschriften, in denen Hadewijchs Lieder erhalten sind, letztendlich doch über Klosterbibliotheken auf uns gekommen sind. Die Existenz von Kodizes, die ausschließlich oder hauptsächlich Werke von Hadewijch enthalten, mag für den heutigen Leser selbstverständlich erscheinen, ist
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es jedoch keinesfalls. Manuskripte, in denen das Werk eines einzigen Autors gesammelt wurde (Autorenhandschriften), gibt es in der mittelniederländischen Literatur sehr selten. Der erste Autor nach Hadewijch, dem diese Ehre zuteilwurde, war der Mystiker Jan van Ruusbroec, dessen gesammelte Werke in seinem eigenen Kloster Groenendaal bei Brüssel schon kurz nach seinem Tode in zwei Bänden zusammengefügt wurden. Auch die Arbeiten seines Schülers Jan van Leeuwen († 1378) wurden in Groenendaal in vergleichbaren Autorenhandschriften aufgeschrieben. Es ist auffällig, dass in der mittelniederländischen Literatur hauptsächlich Werke mystischer Autoren in einem Band gesammelt wurden. Das ist auch verständlich, denn die Autorität mystischer Schriften ist von der Heiligkeit ihres Autors abhängig. Und Hadewijch wurde sehr wohl als eine Heilige angesehen. Jan van Leeuwen zum Beispiel macht aus seiner großen Bewunderung für Hadewijch keinen Hehl – er nennt sie overheylech wijf („überheilige Frau“) und een ghewareghe lereesse („eine wahre Lehrerin“), deren Schriften genauso wahr seien wie die des heiligen Paulus selbst, auch wenn nur diejenigen sie verstehen können, die selbst in der weseliker minnen Gods („in der wesentlichen Minne Gottes“) aufgenommen sind. Dits uut Hadewich („Dies ist von Hadewijch“) schrieben manche Kopisten, wenn sie einen Abschnitt aus ihrem Werk übernahmen, denn der Name des Autors galt als Qualitätsmerkmal, als Garantie für die Autorität, die dem Zitat zuerkannt werden musste.
Die Struktur der Sammlung In allen vier Handschriften kommen die Lieder in derselben Reihenfolge vor, mit einer Ausnahme: Die Lieder, die in den Handschriften A und B an Position 8 und 21 stehen, sind in den Handschriften C und R vertauscht. Welche der beiden Reihenfolgen die ursprüngliche ist, scheint schwierig zu bestimmen; bis jetzt konnte keine deutliche Linie oder Entwicklung im Bündel entdeckt werden. Und das ist auch begreiflich. Da es sich um Lieder handelt, ist per definitionem anzunehmen, dass sie anfangs unabhängig voneinander gesungen wurden. Wann die Sammlung zusammengestellt wurde und wer dafür verantwortlich war, ist nicht mit Gewissheit zu bestimmen. Es spricht jedoch vieles dafür, dass Hadewijch selbst die Redakteurin war: Das erste und das letzte Lied erwecken den Anschein, absichtlich geschrieben worden zu sein, um Beginn und Ende der Sammlung zu markieren. Es sind nicht nur die einzigen Lieder, in denen Niederländisch und Latein einander abwechseln, überdies hat der lateinische Refrain im ersten Lied den Charakter eines sich stets wiederholenden Grußes und Heilswunsches: – Ay, vale, vale millies – – si dixero, non satis est –
– Ach, wenn ich euch tausend Mal Heil, Heil – – wünschen würde, dann wäre es noch nicht genug –
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Ein Heilswunsch an alle, die, wie sie selbst, in der Minne das wahre Glück finden wollen (Lied 1, V. 9–12): – Ay, vale, vale millies – ghi alle die nuwen tide – si dixero, non satis est – omme minne wilt wesen blide.
– Ach, vale, vale, millies – euch allen, die in der neuen Jahreszeit – si dixero, non satis est – wegen Minne froh sein wollt.
Ganz am Beginn der Sammlung klingen diese Worte wie ein Willkommensgruß. Gleich in der zweiten Strophe jedoch macht Hadewijch unverkennbar deutlich, dass der, der das Glück in der Minne sucht, auch bereit sein muss, schweren Abenteuern zu trotzen (Lied 1, V. 21–24): – Ay, vale, vale millies – ghi alle die aventure – si dixero, non satis est – wilt doghen om minnen nature.
– Ach, vale, vale, millie – euch allen, die wegen Natur der Minne – si dixero, non satis est – Abenteuer erdulden wollt.
Mit dieser Anrede ist nicht nur das Publikum dieses Liedes, sondern das der ganzen Sammlung deutlich umschrieben. Wie die Briefe und Visionen sind auch die Lieder an Menschen gerichtet, die bereit sind, ein Leben zu führen, das gänzlich im Zeichen der Minne steht. Wenngleich der ausschlaggebende Beweis hiermit nicht geliefert werden kann, ist es doch wahrscheinlich, dass Hadewijch dieses erste Lied eigens geschrieben hat, um es als Prolog für die ganze Sammlung fungieren zu lassen. Die gleiche Annahme kann in Bezug auf das die Sammlung abschließende Lied gemacht werden. Hadewijch hat sich der Form und der lateinischen Verse der Sequenz Mariae praeconio bedient, die ihr die Gelegenheit bot, ihre Sammlung mit einem Gedicht zu vervollständigen, das das Ziel ihres kompromisslosen Strebens vorbildlich zusammenfasst: Ay, wadic gewat, clemmic up grade, bennic in honger ochte in sade, dat ic u, minne, genoech voldade, bene mori.
Ach, ob ich durch das Watt wate oder Höhen erklimme, ob ich hungrig oder gesättigt bin möchte ich dir, Minne, vollkommen genügen und gut sterben.
Es ist wahrscheinlich kein Zufall, dass Hadewijch ausgerechnet für ihr Schlusslied ein Vorbild gewählt hat, dessen letztes Wort mori („sterben“) ist. Für die Minne leben und so einen guten Tod sterben: Hadewijch hat hier zweifellos auch das Beispiel Jesu im Blick, den – wie sie es ausdrückt (Lied 12, V. 61) – die Minne selbst in den Tod brachte“. Die letzte Strophe fasst im Kern die Essenz dessen zusammen, was sie ihren Lesern 45 Lieder lang vorgehalten hat.
Hadewijchs Lieder
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Durch unsere heutige Vertrautheit mit Gedichtsammlungen können wir leicht übersehen, dass Dichter, die ihre eigene Lyrik zusammentrugen oder deren Kompilation überwachten, im 13. Jh. und auch noch lang danach große Ausnahmen waren. Von den volkssprachigen Dichtern aus der Zeit Hadewijchs scheinen nur der französische Minnesänger Thibaut IV., Graf der Champagne (1201–1253), und der deutsche Sangspruchdichter Reinmar von Zweter (dichtete ca. 1225–1250; Sangsprüche sind didaktische oder moralisierende Lieder, die meistens aus einer einzigen Strophe bestehen) selbst für die Kompilation ihrer Lieder gesorgt zu haben. Man kann sich fragen, ob die von Hadewijch gesammelten Lieder noch lange nach ihrer Entstehung gesungen wurden. In den Handschriften gibt es nur wenig, das auf einen gesungenen Vortrag deutet. Das wichtigste Argument ist nicht so sehr, dass die Lieder ohne Musiknotation überliefert wurden, denn das ist auch in vielen anderen mittelalterlichen Liederhandschriften der Fall. Aber es gibt zu denken, dass die Varianten zwischen den verschiedenen Handschriften nicht sehr zahlreich und im Ganzen genommen auch wenig wichtig sind. Das deutet darauf hin, dass die Lieder nicht anhand des Vortrags von Sängern aufgeschrieben wurden, sondern von Kopisten jeweils immer wieder abgeschrieben wurden. Mündliche Überlieferung brachte ja meistens große Unterschiede zwischen den verschiedenen Versionen ein- und desselben Liedes zuwege: Ganze Strophen konnten wegfallen, hinzugefügt oder umgestellt werden, Verse oder Versgruppen verändert werden usw. Nichts davon begegnet uns in den vier Handschriften, die Hadewijchs Lieder für uns überliefern. Ein bedeutungsvolles Signal ist auch, dass die Lieder in der Handschrift C mit dem Term capitulum, somit als Kapitel in einem größeren Ganzen markiert wurden. Daraus kann man schlussfolgern, dass sicher dieser Kopist vor allem, und wahrscheinlich ausschließlich, an Leser und nicht an Sänger dachte. Übrigens dürfen wir nicht übersehen, dass Lieder im Mittelalter nicht nur gesungen, sondern oft auch gelesen und vorgelesen wurden.
Formen Es ist sehr nachvollziehbar, dass Hadewijchs Entdecker, Franz Joseph Mone, meinte, dass ihre Lieder zur weltlichen Minnelyrik gehörten. Sowohl in Bezug auf die Form als in Bezug auf die Thematik wurde Hadewijchs Poesie stark vom höfischen Minnesang beeinflusst. Wir würden ihrer Lyrik jedoch Unrecht tun, wenn wir sie nur als religiösen Ausdruck dieses Genres ansehen würden. Wenn man genauer hinschaut, wird deutlich, dass die Brabanter Mystikerin mit zahlreichen profanen und geistlichen Texten in ungemein kreativer Weise umgegangen ist, und dies nicht nur mit volkssprachlichen, sondern auch mit lateinischen Texten und Gattungen. Die von ihr gewählten Liedformen zum Beispiel haben sehr unterschiedliche Ursprünge.
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Das höfische Chanson Bei weitem die meisten Lieder (31 von 45) weisen in ihrem Strophenbau die charakteristische Dreigliedrigkeit des höfischen Minneliedes auf: Zwei gleich gebaute Stollen (zwei Gruppen von zwei, drei oder vier Versen mit denselben Reimen, derselben Anzahl Hebungen oder betonten Silben, und zweifellos auch derselben, leider nicht überlieferten, Melodie) bilden zusammen den Aufgesang, auf den ein Abgesang folgt, dessen Bau (Reime, Hebungen, Melodie) gänzlich frei ist (die formale Struktur ist also I-I-II). Als Beispiel sei die erste Strophe des 14. Liedes abgedruckt. Die Zahlen benennen die Anzahl der Hebungen, jeder Buchstabe steht für einen Reim. Al es die tijt blide overal 4a ende al es groene berch ende dal, 4a dat wert hem wel cleine in scine, 3b
1. Stollen
AUFGESANG die ter minnen hevet ongheval. 4a Ic en weet wies hi verbliden sal. 4a Hem es alle blijscap pine. 3b
2. Stollen
Dat en es gheen wonder: 2c alse hi es sonder 2c sijns liefs, na sijn begheren, 3d ende hi niet en hevet 2e daerbi hi levet, 2e waerop soude hi dan teren? 3d
ABGESANG
Wenn dieses Lied – wie wir wohl annehmen dürfen – sich auch auf musikalischer Ebene an das höfische Chanson anlehnte, wies die Melodie dasselbe dreiteilige Muster auf: I-I-II. Französische Minnesänger verwendeten oft die Reime des Aufgesangs im Abgesang, jedoch in einer anderen Reihenfolge. Man spricht dann von ,durchgereimtenʻ Strophen. Germanische Sprachen lassen sich jedoch um einiges schwerer reimen als romanische. Daher ist es auch begreiflich, dass die deutschen Minnesänger des 13. Jhs. im Abgesang fast immer neue Reime bevorzugten. Es ist bezeichnend für Hadewijchs Virtuosität und für ihre Vertrautheit mit dem französischen Minnesang, dass sie in dieser Hinsicht mehr als nur einmal ihren romanischen Kollegen folgte, zum Beispiel im zweiten Lied:
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Tsaermeer sal in corten tide 4a tsap van den wortelen opwaert slaen. 4b 1. Stollen AUFGESANG Daerbi sal verre ende wide 4a 2. Stollen beemt ende cruut sijn loef ontfaen. 4b Dies soe hebben wi sekeren waen: 3b die voghele werden blide. 3a Die gheet in minnen te stride, 3a ABGESANG hi sal verwinnen saen, 3b opdat hi niet en mide. 3a
In reimtechnischer Hinsicht ist diese Form schwierig, weil für jede Strophe fünf aund vier b-Reime gefunden werden mussten. Sogar 8 der 31 Lieder mit dreigliedrigen Chansonstrophen wurden auf diese Weise ,durchgereimtʻ. Doch Hadewijch legt die Latte nicht immer so hoch. Zum Beispiel ersetzt sie in den Liedern 24 und 29, in denen sich der Aufgesang aus Stollen von drei Versen zusammensetzt, die a-Reime des ersten Stollens durch c-Reime im zweiten Stollen (aab ccb anstatt aab aab). Dies ist eine Technik, die auch deutsche Minnesänger sehr oft anwenden, von französischen Dichtern in ihren höfischen Chansons jedoch vermieden wird. Einfach sind auch die abcd-Stollen, die Hadewijch in den Liedern 6 und 7 verwendet hat. In der europäischen Minnelyrik ihrer Zeit sind diese sehr ungewohnt. Wir finden das Schema jedoch sehr wohl in einem Lied Heinrichs von Veldeke wieder. Hat Hadewijch das Werk dieses maasländischen Minnesängers möglicherweise gekannt? Nicht alle höfischen Minnelieder bestehen aus dreigliedrigen Strophen. Manche französische Chansons, von denen die meisten aus der ersten Hälfte des 13. Jh. stammen, haben Reihenstrophen. Das sind Strophen, in denen sich zwei Reime abwechseln (ababab). Oft handelt es sich dann um grammatische Reime, also Reimkombinationen, in denen sich verschiedene Formen oder Ableitungen desselben Wortes abwechseln, wie schone/verschoond, fijne/fijn und so weiter. Reihenstrophen werden ebenfalls oft mit einer Art Refrain abgeschlossen. Hadewijch hat diesen Strophentyp in zwei Liedern verwendet. Gänzlich auf einer Linie mit der französischen Tradition endet jede Strophe in Lied 40 mit dem Refrainwort minnen. Lied 43 setzt sich nicht nur aus grammatischen Reimen zusammen, sondern ist am Ende jeder Strophe darüber hinaus mit einem – wie die Troubadoure ihn nannten – rim estramp versehen: Ein Vers, der innerhalb der Strophe keinen Reimpartner hat, sondern sich mit den Versen in den übrigen Strophen, die den gleichen Platz einnehmen, reimt. Auch hier fungiert der letzte Vers also als eine Art Refrain.
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Sequenz und Hymne Oben wurde festgestellt, dass Hadewijch ihr Lied 45 auf der Sequenz Mariae praeconio aufbaut. Dieses Lied, das im 12. Jh. in Frankreich entstanden ist, folgt dem normalen Schema der Sequenz: Eine gerade Anzahl (in diesem Fall zehn) Strophen von vier Versen (sechs oder acht Verse sind ebenfalls möglich), wobei alle zwei Strophen eine neue Melodie eingeführt wird. Hadewijchs Schlusslied ist nicht das einzige, das auf einem lateinischen Vorbild basiert. Sehr wahrscheinlich ist dies auch bei den Liedern 33 und 37 der Fall. Diese Lieder setzen sich aus Quartetten (Strophen von vier Versen) zusammen, in denen alle Verse denselben Reim und dasselbe Metrum haben (4a 4a 4a 4a). Das Schema erinnert stark an die ambrosianische Strophe, benannt nach dem Kirchenvater Ambrosius (ca. 340–397), der sie in seinen Hymnen benutzte. Diese bestanden aus acht Quartetten, die alle zu derselben Melodie gesungen wurden und in denen jeder Vers dasselbe Metrum hatte. Ab dem Ende des 11. Jhs. kam in dieser Hymnenpoesie zunehmend der Endreim auf. Von den mittelalterlichen Hymnen, in denen in jedem Quartett lediglich ein Reim verwendet wird, ist das Lied Jesu dulcis memoria („Süßes Gedenken an Jesus“) das mit Abstand berühmteste. Vermutlich entstand es am Ende des 12. Jhs. in einer englischen Zisterzienserabtei, verbreitete sich über beinahe ganz Westeuropa und wurde im Laufe des 13. Jhs. oft zu Unrecht Bernhard von Clairvaux zugeschrieben. Sehr überraschend ist das nicht, denn die Thematik und der Wortschatz erinnern sehr stark an bekannte Texte des großen Mystikers, vor allem an sein Traktat De diligendo deo („Über die Liebe zu Gott“) und an seine Predigten zum Hohelied. In einer Sprache, die außer durch Bernhard auch durch die Bibel – vor allem durch die Psalmen und das Hohelied – inspiriert ist, besingt die liebende Seele ihr brennendes Verlangen nach Jesus und spornt andere an, sich selbst auch im Liebesfeuer zu entzünden. Man kann sich vorstellen, dass dieses Lied, das in den Handschriften oftmals Jubilus rhythmicus de nomine Jesu („Jubilus in Versform auf den Namen Jesu“) genannt wird, unter den mulieres religiosae sehr beliebt gewesen sein muss. Anzeichen dafür, welchen Eindruck das Lied auf sie gemacht haben muss, treten aus einem Vorfall aus dem Leben der Kölner Begine Christina von Stommeln (1242–1312) zutage, der sich 1268 zugetragen haben muss. Als eine ihrer Gesellinnen „das Lied des heiligen Bernhard, also das Jesu dulcis memoria“ anstimmte, geriet Christina in Ekstase: Sie wurde so steif wie ein Brett und konnte, in Krämpfen liegend, lediglich noch Seufzer hervorbringen. Hadewijch muss dieses Lied ebenfalls gekannt haben, denn sie zitiert in ihrem fünfzehnten Brief daraus. In den Kommentaren zu den Liedern 33 und 37 wird auf einige wörtliche Übereinstimmungen hingewiesen, die die Hypothese einer direkten Beeinflussung durch Jesu dulcis memoria bestätigen.
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Rondellus Sechs Lieder (4, 13, 16, 19, 30 und 44) haben dasselbe Reimschema aaabab, wobei die a- bzw. b-Verse stets gleich viele Hebungen haben. Die ersten beiden Strophen des 30. Liedes lauten zum Beispiel wie folgt: Men moet in allen tiden 3a der minnen wesen blide 3a ende hare volgen in elken side, 3a in allen weghen daer si gheleidt. 4b Men moet hare leven blide, 3a ende den rouwe dan alsoe na ghereit. 4b Die minne moets mi onnen. 3a Ic hebbe minne begonnen. 3a Dies mi die vremde wanconnen, 3a dies mi benemen niet en moghen. 4b Ic hebbe minne begonnen. 3a God gheve dattic hare moete doeghen. 4b
Die kursiv gesetzten Verse wiederholen sich jeweils vollständig oder teilweise und weisen uns unmittelbar auf die Spur des lateinischen Genres, das Hadewijch hier und in den fünf übrigen Liedern als Vorlage gedient haben muss: den rondellus. Dabei handelt es sich um ein einstimmiges Genre, das um 1200 in der berühmten Schule von Notre-Dame in Paris entstanden sein dürfte und das selbst auf den rondet de carole, eine frühe Form des französischen Rondeau, zurückgeht. Oft wird angenommen, dass der rondellus, genau wie sein französisches Pendant, als Tanzlied fungierte, zur Begleitung ritueller Rundtänze, die an wichtigen Festtagen von Klerikern in der Kirche ausgeführt wurden. Man kann davon ausgehen, dass Hadewijch die choreografische Funktion dieses Genres kannte: Ausgerechnet in einem ihrer rondelli werden die Freundinnen dazu aufgerufen, sich nicht auf das balleren (Tanzen) zu beschränken, sondern sich auch der Tugend zu widmen (Lied 13, Strophe 10). Das nächste Neujahrslied vermittelt einen Eindruck, wie ein solcher lateinischer rondellus aussieht (die Zahlen geben die Anzahl der Silben an, die Kursivschreibung den Refrain): Annus renascitur, 6a letemur igitur. 6A Vetus depellitur 6a Adam novo nato. 6b Letemur igitur 6A anno renovato. 6B Baculus colitur, 6a letemur igitur. 6A
Das Jahr wird neu geboren, seien wir darum froh. Der alte Adam wird vertrieben für einen neu Geborenen. Seien wir darum froh wegen des neuen Jahres. Der Stab [des Bischofs] wird verehrt, seien wir darum froh.
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Leta lux agitur 6a Das Freudenlicht erscheint, merore fugato. 6b jetzt, da die Traurigkeit verflog. Letemur igitur 6A Seien wir darum froh anno renovato. 6B wegen des neuen Jahres. Sol novus oritur, 6a Eine neue Sonne geht auf, letemur igitur. 6A lasst uns darum froh sein. Nubes subducitur 6a Die Wolke wird hinweggenommen, hoste relegato. 6b jetzt, da der Teufel weggejagt. Letemur igitur 6A Seien wir darum froh anno renovato. 6B wegen des neuen Jahres.
Zwischen diesem rondellus und dem 30. Lied besteht ein einziger Unterschied. Während Hadewijch in jeder Strophe den Refrain wechselt, bleibt dieser im lateinischen Lied unverändert. Dass Hadewijch hier ihren eigenen Weg gegangen ist, hat einen naheliegenden Grund: Die Verwendung des Refrains in allen Strophen hätte sie gezwungen, ein Lied von insgesamt neunzig Versen mit lediglich zwei Reimen zu dichten, eine Aufgabe, die im leichter zu reimenden Latein einfach umzusetzen, in einer germanischen Sprache jedoch kaum durchführbar ist. Dadurch, dass der Refrain in Hadewijchs Lied von Strophe zu Strophe wechselt, dominiert er ihren Text weniger als im lateinischen Lied. In den übrigen Liedern, die die rondellus-Form haben (4, 13, 16, 19 und 44), kommt nicht einmal ein Refrain vor. Die Abwesenheit des Refrains könnte ein Argument für die Auffassung sein, dass Hadewijchs rondelli doch nicht als Tanzlieder dienten, denn Wiederholungen sind durchweg eine der auffallendsten Charakteristiken der mittelalterlichen Tanzlyrik. Das rondellus-Schema bildet offensichtlich auch die Grundlage für das 5. Lied, das auf den ersten Blick ein ganz anderes Muster aufweist. Das dominante Strophenschema ist dort 4a 4a 4a 3b 2c 2c 3b; in zwei von den sieben Strophen jedoch wurden die c-Reime durch a-Reime ersetzt: 4a 4a 4a 3b 2a 2a 3b. Verbindet man in diesen zwei Strophen die kurzen Verse mit den a-Reimen, ergibt sich erneut das rondellusSchema: 4a 4a 4a 3b 4a 3b. Wahrscheinlich liegt dieses Schema auch allen anderen Strophen zugrunde: In den schwerer zu reimenden germanischen Sprachen wählt ein Dichter des Öfteren statt einer großen Menge an a-Reimen c-Reime. Anders als in dieser Textausgabe, die das Lied in Übereinstimmung mit Handschrift A wiedergibt, könnte man das Lied auch auf die folgende Weise darstellen. Als Beispiel wird hier nur die erste Strophe gegeben: Al droevet die tijt ende die vogheline dan darf niet doen die herte fine, die dore minne wilt doghen pine. Hi sal weten ende kinnen al – suete ende wreet, lief ende leet – wat men ter minnen pleghen sal.
4a 4a 4a 3b 4a/c (= 2a/c + 2 a/c) 3b
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Diese Hypothese, dass dieses Lied auf einem rondellus-Schema und folglich auf einer (leider unbekannten) rondellus-Melodie aufgebaut sein muss, wird erhärtet durch die Art und Weise, in der die erste (und auch die dritte) Strophe dieses Liedes in den Hadewijch-Handschriften C und R eingetragen sind, nämlich mit sechs statt sieben Versen, genau, wie es oben abgedruckt wurde.
Das höfische Minnelied als dominante Form Obwohl der Einfluss der lateinischen Lyrik auf die Form und zuweilen sogar auf den Inhalt von Hadewijchs Liedern nicht unterschätzt werden darf, hat das höfische Minnelied zweifelsfrei die weitaus tiefsten Spuren hinterlassen. Die brabantische Dichterin ließ beinahe all ihre Lieder mit dem, wie Literaturhistoriker ihn nennen, Natureingang beginnen, eine stereotype Naturszene, die am Beginn zahlreicher höfischer Minnelieder wiederzufinden ist, jedoch nirgendwo so oft wie in ihrer Lyrik. Mit dieser vorhersehbaren Eröffnung bettete Hadewijch ihre Lieder resolut in die Tradition des renommiertesten, volkssprachigen lyrischen Genres ihrer Zeit ein – das einzige Genre, das sowohl in ihren Augen als in den Augen ihres Publikums würdig gewesen sein muss, das mystische Minneideal wiederzugeben. Zugleich ging sie sehr kreativ mit den Konventionen dieses Genres um. Die Kombination von Abhängigkeit und Kreativität, das freimütige Spiel mit der Tradition, hat ihre Lyrik zu einem einzigartigen Phänomen in der Geschichte der europäischen Literatur werden lassen. Hadewijchs Natureingänge enthalten die gängigen Motive. Die Ankündigung des (neuen) Jahres oder der (neuen) Jahreszeit bildet den Kern. Dieses Motiv kann mit einer Beschreibung oder Erwähnung der Vegetation, der Vögel, der länger oder kürzer werdenden Tage ergänzt werden. Oft wird angegeben, dass das, was über die Jahreszeit gesagt wird, für jeden gültig ist. Außerdem werden Gefühle der Freude (über den kommenden Sommer) oder des Verdrusses (über den Winter) in die Natur projiziert. Hadewijch schließt danach die eigene Minnethematik an, indem sie verkündet, dass die Jahreszeit entweder mit den Gefühlen übereinstimmt, die bei dem Minnenden vorherrschen, oder damit im Widerspruch steht, oder dass das Leid des Winters nicht mit dem des Minnenden verglichen werden kann. Manchmal gibt es überhaupt keine selbstständige Naturszene, sondern es wird nur dargelegt, dass man über die Minne in allen Jahreszeiten singen muss oder dass die Natur die Gemütsverfassung des Minnenden in keinerlei Weise beeinflusst. Auf den ersten Blick gleicht all dies sehr stark dem, was in der weltlichen Minnelyrik anzutreffen ist, bei genauerer Betrachtung wird jedoch deutlich, dass Hadewijch diesen Klischees oft eine sehr eigene Richtung verleiht. So wird sie nie sagen, dass der Frühling oder der Sommer den Minnenden froh oder betrübt stimmt – eine Mitteilung, die vor allem im französischen Minnesang sehr oft vorkommt. Das ist natürlich ganz und gar auf ihre Minneauffassung zurückzuführen: Wie könnte ein nach Gott verlangender Mensch seine Gemütsverfassung durch etwas Banales wie das Wetter bestimmen lassen?
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Ein weiteres auffallendes Charakteristikum der Natureingänge Hadewijchs besteht darin, dass sie durchweg viel dynamischer als in der höfischen Minnelyrik sind: Statt über eine Jahreszeit schreibt sie über den Übergang zwischen zwei Jahreszeiten, über die Hoffnung auf den Sommer, über die Erwartung, dass Blüten bald Früchte werden, über den Saft, der bald in den Pflanzen aufsteigen wird. Das Futurum herrscht vor, und Wörter, die eine nahe Zukunft ausdrücken, wie schiere („bald“), saen („schnell“), tsaermeer („in Kürze“) kommen sehr oft vor. Hadewijch lässt ihre Naturszenen oft an Neujahr stattfinden, oder auch einmal (in Lied 6) in den zarten Anfängen des Frühlingsmonats März, und nicht in den von Minnesängern bevorzugten Monaten April oder Mai. Die gute Jahreszeit hat noch nicht oder noch nicht ganz angefangen, sie wird jedoch schnell kommen. Die Welt Hadewijchs ist voller Erwartungen. Dass sie ihre Naturszenen auf diese Weise ausarbeitet, hat mit der Dynamik ihrer Minneauffassung zu tun. Die Minne ist für sie kein Besitz, sondern ein Auftrag; keine Sättigung, sondern Hunger; keine Erfüllung, sondern Dienst; kein Genuss, sondern Verlangen. Wenn die Natur zu Beginn des Liedes als Metapher für die Minne herangezogen wird, wie in den Liedern regelmäßig der Fall ist, ist es auch normal, dass Hadewijch die Dynamik ihres ruhelosen Minneverlangens auf die Natur überträgt. Auch der Schluss vieler Lieder zeigt einen unmittelbaren Einfluss des (romanischen) Minneliedes. Die meisten okzitanischen und französischen Minnelieder enden mit einer tornada oder reprise: eine kürzere Strophe, die den Versbau und die Melodie eines Teils (meistens des Abgesangs) der letzten Strophe übernimmt. Die reprise enthält eine Widmung oder envoi oder wiederholt den zentralen Gedanken des Liedes. Widmungen finden sich bei Hadewijch freilich nie; sie verwendet die reprise nur, um einen wichtigen Gedanken nochmals, wie durch eine Fermate, zu betonen. In den Handschriften sind diese kürzeren Endstrophen mit den Abkürzungen X (Handschriften A und B) oder X n (Handschriften C und R) versehen, womit in liturgischen Texten die Response, d. h. die Antwort des Chores oder der Gemeinde auf einen von einem Solisten gesungenen Vers, angedeutet wird. Doch es erscheint wenig wahrscheinlich, dass Hadewijchs Lieder mit einer von ihren Zuhörern gesungenen Antwort beendet wurden. Vielmehr würde die Sängerin selbst die reprise übernommen haben, wie im okzitanischen und französischen Minnelied. Die Tatsache, dass in der reprise regelmäßig dieselbe belehrende Ich-Person zu Wort kommt, wie die, die wir vorher im Lied hören konnten oder dass die Zuhörer darin oft ermahnend in der zweiten Person Plural angesprochen werden, bestätigt allem Anschein nach diese Vermutung. Die romanischen Minnedichter verwandten in ihren Liedern auch die Technik der concatenatio (Verkettung): Sie griffen den Gedanken, auf den eine Strophe hinauslief, am Beginn der nächsten Strophe mittels einer Wortwiederholung oder Synonymie wieder auf. In der höfischen Minnelyrik fungierte dies als mnemotechnisches Mittel: Es bot eine Hilfe, um zu verhindern, dass Strophen vergessen oder in einer abweichenden Reihenfolge gesungen wurden. Hadewijch hat in etwa 30 ihrer
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45 Lieder die concatenatio benutzt. Aber im Gegensatz zu der weltlichen Minnelyrik scheint die Funktion dieser Vorgehensweise nicht an erster Stelle mnemotechnischer Art gewesen zu sein. Wer die Lieder oder die Kommentare zu den Liedern liest, wird merken, dass Hadewijchs Strophen durchweg Teil einer kohärenten Darlegung sind. Das ist bei ihr in viel stärkerem Maße als in der weltlichen Minnelyrik der Fall. Dort sind die Strophen viel unabhängiger voneinander, und sie wurden auch einfacher in einer neuen Reihenfolge gesungen, gehört oder gelesen. Durch die Verwendung der concatenatio betont Hadewijch, dass die Strophen aufeinander aufbauen und einen zentralen Gedankengang ausarbeiten. Das hat zweifellos mit der belehrenden und vor allem anspornenden Funktion, die ihre Lieder in erster Linie haben, zu tun.
Motive Das Chanson der Trouvères (der nordfranzösischen Minnesänger) bildet für Hade wijchs Lieder nicht nur hinsichtlich der Form die Grundlage. Auch inhaltlich schließen sie sich stark an diese lyrische Tradition an. Die mystische Liebe, über die Hadewijch in den Liedern singt, ist genau wie die der höfischen Minnesänger eine finʼamor, eine veredelnde Liebe. Der Minnende stellt sich in den Dienst einer Geliebten, die er hoch über sich selbst erhebt. In der weltlichen Tradition ist das die höfische Dame, bei Hadewijch die „hohe Minne“. Durch die Anstrengungen, die er für sie unternimmt, oder, wie Hadewijch es formuliert, durch seine Arbeit in ihrem Dienst, veredelt der Minnende sich als Mensch und wird ihr Schritt für Schritt würdig. Die erste Begegnung mit der Geliebten bereitet dem Minnenden ein Gefühl der joye, der ausgelassenen Freude. Der Rausch der ersten Verliebtheit treibt ihn dazu, mit voller Hingabe dem Dienst der Minne zu frönen. Von diesem Augenblick an steht er im bant van minne („Band der Minne“). Diese exklusive Verbindung wird in der zweiten Phase des Liebesverhältnisses als eine hachte („Gefangenschaft“; bei den Trouvères prison) erfahren: Man dient der Geliebten in Einsamkeit, ohne eine tröstende Geste von ihr zu erhalten. Aber das schwere Joch des Minnedienstes ist eigentlich süß. Denn, je mehr man wegen der Geliebten leidet, umso größer sind die Verdienste des Minnenden und umso größer ist die orsate („Belohnung“; guerredon), die er erwarten kann: eine neue Begegnung mit der Geliebten. Diese Begegnung wird den Schmerz des Minnedienstes in eine Freude des freien Umgangs miteinander umkehren. Diese Hoffnung auf Erfüllung verleiht dem Minnenden die Kraft, während des Leidens der Geliebten doch treu zu bleiben. Die Minnesänger bringen die Freude und das Leid des Minnedienstes mit Hilfe eines festen Bestandes an Gegensätzen zum Ausdruck. Damit kann jeder Sänger auf eine eigene Art variieren. Der Minnende wird zwischen Hoffnung und Angst, zwischen Gefangenschaft und Freiheit, zwischen Licht und Dunkelheit, zwischen süß und bitter, zwischen Vergnügen und Qual, zwischen Verwundung und Heilung, zwischen Leben und Tod hin- und hergeschleudert. Dieser weltlich-poetische Wortschatz
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von binären Gegensätzen bildet das Basislexikon, auf dem auch Hadewijch ihre Liedtexte aufgebaut hat. Aber sie lässt sich nicht durch die Grenzen dieses Lexikons einschränken. In ihren Liedern klingen auch andere Texttraditionen hindurch, sowohl weltliche als auch religiöse. Hadewijch hat sozusagen aus allen Texten, die sie kannte und verinnerlicht hatte, ein persönliches Register an Motiven zusammengestellt. So ergänzt sie das Motiv des Minnedienstes, das in der höfischen Lyrik im Mittelpunkt steht, mit dem Motiv der Queste, das den Kern des ritterlichen Romans bildet. Der Minnedienst hat in ihren Liedern die Form einer avonture („Abenteuer“) in ein weites fremdes Land, in welchem der Minnende auf der Suche nach der Minne umherirrt. Nach der ersten Berührung voller Freude durch die Minne (gerinen), die den Minnenden dazu brachte, sich ganz der Geliebten hinzugeben, scheint diese plötzlich verschwunden zu sein. Sie zeigt sich nicht mehr. Der Minnende fühlt sich verlassen: Er gab alles für sie auf, und nun findet er sie nicht mehr. Er befindet sich in der Verbannung (ellende), allein, entfremdet, weit weg von seiner Geliebten. Zugleich weiß er, dass diese Verbannung ihm die Möglichkeit bietet, seine Seele zu veredeln. Während er umherirrt, intensiviert der Minnende seinen Stolz (fierheit), das heißt seine Unerschrockenheit, die er braucht, um während seiner Suche nach der Minne alle Ecken ihres Reiches zu erforschen. Wenn er letztendlich die Minne findet, muss er, genau wie die Ritter im Roman, das Duell fier mit ihr aufnehmen. In dem ritterlichen Zweikampf kann der mystische Minnende beweisen, dass er der Minne gewachsen und ihr würdig ist. Die Metapher des Zweikampfes ist in den Liedern oft nachdrücklich und oft überraschend konkret anwesend. Man zieht in den Kampf und man greift mutig an, es wird geschlagen, verwundet und man reißt den anderen vom Pferd. Genau wie die mutigen Ritter in den höfischen Romanen gewinnt der wahre Minnende natürlich den Kampf. Aber die Art und Weise, wie Hadewijch den Sieg formuliert, enthält ein merkwürdiges Paradoxon: der Sieg ist das Besiegtwerden (siehe den Kommentar zu Lied 13). Der Sieg des mystischen Minnenden besteht darin, dass die Minne völlig Besitz von ihm ergreift. Dann werden Minnender und Minne eins. Hadewijch transportiert auf diese Weise ein höfisches Motiv in einen religiös-mystischen Kontext. Sie verwebt das Motiv des weltlichen höfischen Ritterkampfes mit dem des Jakobskampfes (Genesis 32,24–33): Jakob bleibt nach dem Kampf mit Gottes Engel lahm zurück. Dennoch sagt der Engel zu ihm, dass er, Jakob, gewonnen habe: Im Kampf durfte er nämlich dem ungreifbaren Gott begegnen. Hadewijchs Lieder enthalten vielfach implizite Bezüge zu biblischen Figuren wie Jakob, Hiob, der Braut des Hohelieds, der Königin von Saba, Maria und Christus. Wie vage die Anspielungen für einen heutigen Leser, der mit der Bibel und deren mittelalterlichen Interpretationen wenig vertraut ist, auch sein mögen, für Hadewijch und die Mitglieder ihres Kreises, deren Herz und Gedächtnis völlig vom Bibeltext durchdrungen waren, klangen diese Bezüge sicher mit. Wörtliche Zitate aus der Bibel kommen in den Liedern wenig vor. Zwei Zitate fallen auf, weil sie dem Minnenden an mehr als
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einer Stelle in den Mund gelegt werden. Der Minnende, der die Freude der Begegnung mit der Geliebten erfährt, ruft wie die Braut des Hohelieds aus: „Ich bin ganz dir und du ganz mir“ (Hohelied 2,16). Und der Minnende, der unter der niederschmetternden Abwesenheit der Geliebten leidet, seufzt wie Hiob: „Es graut mir, dass ich lebe“ (Hiob 10,1). Die religiösen Elemente in den Liedern fußen nicht nur auf Hadewijchs Bibelkenntnissen, sondern auch auf ihrer Lektüre mystischer Texte des 12. Jhs., in denen höfische und mystische Liebessprache eng miteinander verwoben waren. Ein auffälliges Motiv ist das der Liebeswunde. Das klassische Bild Amors, der die Geliebte verwundet, erhielt bei einigen Kirchenvätern und über diese bei den Kontemplativen des 12. Jhs. eine mystische Bedeutung, aufgrund des Ausrufs der Braut des Hohelieds 2,5, wie es in einer alten lateinischen Bibelübersetzung erklang: „Von der Liebe bin ich verwundet“. Mit diesem Bibelzitat beginnt das Buch De quattuor gradibus violentae caritatis („Von den vier Graden der Liebesgewalt“) des Richard von St. Viktor, dessen Schriften Hadewijch sicher gekannt hat. Wer die 45 Lieder Hadewijchs durchliest, wird merken, dass die Texte mit Hilfe einer begrenzten Zahl an Motiven, Formeln und Schlüsselwörtern aufgebaut sind, die immer wieder auftauchen. Das hat nicht mit einem Armut in Bezug auf den Wortschatz oder Eintönigkeit zu tun, wie frühere Kommentatoren manchmal behauptet haben, sondern mit den poetischen Auffassungen, mit denen die Minnesänger dichteten. Der Dichter, der mit einem begrenzten Fundus an Termini und Motiven die Liebe auf eine immer neue Weise besingen konnte, lieferte eine hervorragende Arbeit ab. Auch Hadewijchs Lieder sind Erzeugnisse dieser registralen Poetik. Aber anders als bei den weltlichen Dichtern ging es ihr nicht um ein raffiniertes Spiel des Dichtens oder um ein Lob, das man bei den Zuhörern erheischen konnte. Sie schrieb aus einer religiösen Mission heraus. Ihre Texte waren als Hilfsmittel für ihre Gefolgsleute bei deren Streben nach spiritueller Vollkommenheit gedacht. Die fortwährende Wiederholung von Schlüsselwörtern wie Minne, Verlangen, Vernunft, Treue, stolz, umherirren, arbeiten, Band und Wunde hatte innerhalb eines solchen mystagogischen (mystisch-pädagogischen) Werkes einen großen meditativen Mehrwert.
Leiterin und Reisegefährtin Der Unterschied in der Funktion zwischen der weltlichen Lyrik einerseits und Hade wijchs mystischen Minneliedern andererseits veranlasste die Mystikerin wie von allein, ihr literarisches Modell in mancher Hinsicht zu ändern. Wir sahen, dass sie den Motivkomplex des höfischen Registers übernahm, um es dann mit einer religiösen Dimension zu bereichern. Auch das Netzwerk an Pronomen ist in ihrer Lyrik anders als im höfischen chanson. Es spiegelt deutlich die mystagogische Kommunikationssituation, in der Hadewijchs Texte ursprünglich funktioniert haben.
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In der weltlichen Lyrik singt eine „Ich-Figur“ ein Lied über seine geliebte Dame (dritte Person), an die sie sich ab und zu in leidenschaftlichen Worten richtet. Die Ich-Figur richtet sich selten an ein Publikum und, wenn das doch vorkommt, sieht sie die Angesprochenen nur als Zuhörer. Didaktische Anregungen fehlen. Hadewijch hingegen lässt schon in der ersten Strophe des ersten Liedes die Ich-Figur ihr Publikum ansprechen als ghi alle die nuwen tide omme minne wilt wesen blide („ihr alle, die in der neuen Jahreszeit wegen Minne froh sein wollt“). Diese ghi werden in den Liedern oftmals von der „Ich-Figur“ belehrt, ermutigt und getadelt, genau, wie Hadewijch das in ihren Briefen macht. Solche Sprachhandlungen kommen im höfischen Lied überhaupt nicht vor. Sie machen nur Sinn in einer Situation, in der das Publikum vom „lyrischen Ich“ etwas lernen kann. Der mystagogische Kontext impliziert, dass das „Ich“ an den Stellen, in denen Lehren angeboten werden, tatsächlich auch für Hadewijch stehen kann, die geistliche Leiterin des Kreises. Auch in diesem Punkt weichen die mystischen Lieder vom weltlichen Vorbild ab. In der höfischen Lyrik verweist das Pronomen „Ich“ nicht wirklich auf den Menschen hinter dem Sänger. Das „Ich“ ist eine Fiktion, eine Maske, die der Sänger während seines Auftritts aufsetzt. Mit seinem kunstvollen chanson über die Liebe erfreut er sein Publikum und bietet den höfischen Zuhörern eine Bestätigung ihres literarischen, ideologischen und affektiven Wertesystems. Im höfischen chanson ist das Lied selbst ein zentrales Motiv. Der Sänger endet mehr als einmal mit einem Lob des eigenen Liedes, weil es das finʼamor auf eine solch raffinierte Weise ausgedrückt hat. Hadewijchs Texte enden nicht mit einem Lob der literarischen Qualität des eigenen Liedes. Sie entwickeln sich meistens zu einem innigen Wunsch oder einer nachdrücklichen Anregung, die das Publikum dazu ermuntern soll, sich wie der wahre Minnende zu verhalten. Dieser exemplarische Minnende wird in vielen Liedern als Figur in der dritten Person Singular (hi, „er“) benannt. Hadewijch stellt ihn als einen noblen Ritter dar, der die Einsicht, das Durchsetzungsvermögen und die Treue besitzt, die den wahren Minnenden kennzeichnen. Das vorbildliche Verhalten dieses exemplarischen Ritter-Minnenden bildet ein Modell, an dem sich die Mitglieder des Kreises spiegeln sollten. Hadewijch betont in ihren Liedern meistens den Gegensatz: Sie zeigt, dass den Mitgliedern des Kreises noch der Mut und die Einsicht fehlen. Es fällt auf, dass sie in solchen Passagen oft das einschließende Pronomen wi („wir“) wählt, gleichfalls ein Pronomen, das in der weltlichen Minnelyrik nicht vorkommt. Die Leiterin scheint, genau wie die angesprochenen Minnenden, mit einem Mangel an Vertrauen und Mut zu kämpfen. Sie profiliert sich also auf zwei Arten den Adressaten gegenüber, für deren Hineinwachsen in eine geistliche Vervollkommnung sie sich verantwortlich fühlt: Einerseits als Leiterin und andererseits als Reisegefährtin. Diese doppelte Profilierung wird die mystagogische Funktion der Lieder noch verstärkt haben. Die geistlichen Kinder können sich gut mit einer Meisterin identifizieren, die, genau wie sie selbst, die wahre Minne immer wie neu suchen muss. Gleichzeitig können sie sich durch die Stimme der magistralen „Ich-Figur“ in der Lehre der vollkommenen Minne unterweisen lassen.
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Die Lehre der Minne Was beinhaltet die Lehre von der vollkommenen Minne? In den Liedern wird diese nicht in der Form einer abstrakten Abhandlung wiedergegeben, sondern auf poetische Weise in einer großen Metapher gefasst, die Metapher der Beziehung zwischen zwei Geliebten. Es geht um die Liebesbeziehung und die letztendliche Vereinigung zwischen dem tiefsten Wesen der menschlichen Seele, der mens „Geist“, und ihrem Ursprung, Gott. Beide besitzen dieselbe „hohe Natur“. Sie sind reiner Geist, und sie suchen sich gegenseitig, aus der unumgänglichen Anziehungskraft heraus, die zwischen zwei Gleichen existiert. Der weniger Vollkommene der beiden strebt danach, sich nach dem Bild des Vollkommenen umzuformen, um so mit ihm eins werden zu können. In der mystischen Geschichte ist der weniger Vollkommene natürlich der Mensch, der außer mens „Geist“ auch Körper ist und in den irdischen Dimensionen von Zeit und Raum lebt. Der vollkommene Geliebte ist Gott, der geistliche Ursprung des Menschen, in den er vollkommen aufgenommen werden möchte. In den Liedern ist die mystische Liebesbeziehung nach dem höfischen Vorbild moduliert: Wie eine Queste, die der noble Ritter-Minnende im Dienst seiner Dame, Minne, unternimmt. Das Ziel der Queste ist es, Minne zu finden, indem man selbst Minne wird. Die Reise ist somit auch ein innerer Transformationsprozess. Hadewijchs Sichtweise in Bezug auf die Struktur des mystischen Prozesses kann man anhand der Handlungen der Personifikationen, die ab und zu in den Liedern auftreten, einfach erkennen. Um innere Angelegenheiten und Prozesse zu thematisieren, greifen mittelalterliche Autoren gern auf das Stilmittel der Personifikation zurück. Abstrakte Konzepte wie „Seele“, Gefühle wie „Freude“ und „Angst“, Tugenden wie „Treue“ und „Standfestigkeit“ werden allegorisch als handelnde Personen dargestellt. Dieses lässt der Autor zu, um die Art, die Wirkungsweise und die Tragweite psychischer Kräfte zu thematisieren. Man nahm an, dass die unsichtbare Dimension des Geistes, der ewig ist, einen größeren Realitätswert und eine stärkere Wirkung als die sichtbare Welt hatte, die „nur“ endlich und vergänglich ist. Die Stilfigur der allegorischen Personifikation, mit der man die unsichtbaren Kräfte thematisieren konnte, war bei mittelalterlichen Autoren sehr beliebt, und das vor allem in Texten mit einer ethischen und religiösen Zielsetzung. Die zentrale, aber zugleich auch die am wenigsten greifbare, allegorische Figur in Hadewijchs Liedern ist selbstverständlich die Minne. Andere allegorische Figuren, die mehr als einmal vorkommen, sind Treue, Vernunft, Vergnügen und Verlangen (siehe vor allem die Lieder 25, 30 und 43). Die letzteren sind statische Charaktere, die eindeutige Handlungen ausführen. Sie drücken Seelenkräfte und Sehnsüchte aus, die während des mystischen Prozesses im Minnenden wirken. Ihre – zuweilen konflikt reiche – Interaktion bildet den dynamischen Motor der Queste nach Minne. Minne dahingegen ist alles andere als eine eindeutige Figur. Zunächst sei gesagt, dass das Wort minne überall präsent ist: In den 45 Liedern kommt es nicht weniger als 987 Mal vor, und das mehr als einmal in der Form eines Polyptoton, einer Stilfigur, bei der das gleiche Wort in verschiedenen Formen und grammatischen Funktionen wieder-
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holt wird (zum Beispiel in Lied 40, Strophe 6). De minne es al („die Minne ist alles“) schreibt Hadewijch in einem ihrer Briefe. Die Minne gehört zur überzeiträumlichen Dimension des Geistes und ist so allesumfassend, dass sie die Grenzen der diskursiven Sprache übersteigt. Man kann auf sie nur mit Hilfe von Paradoxa oder Adjektiven verweisen, die ausdrücken, dass sie nicht greifbar ist. Hadewijch nennt die Minne immer wieder „bodenlos“, „verborgen“, „fremdartig“, „unbegreiflich“. Mit dieser nicht greifbaren Minne geht der mystische Minnende eine Beziehung ein. Diese beginnt, wenn Minne unerwartet das Herz des Minnenden berührt (gerinen). Der Minnende, ganz verliebt, antwortet mit einer völligen Hingabe. Er gibt alle irdischen Vergnügungen auf und entscheidet sich radikal für ein Leben im Dienst der göttlichen Minne. Aber sobald er diesen Schritt gemacht hat, verschwindet die Minne aus seinem Gesichtsfeld. Der Minnende befindet sich plötzlich in einem Land, das er nicht kennt (in ellende, „Verbannung“, „Elend“), und ist dort ganz allein. Die Freude des gnadenreichen Zusammenseins macht Platz für die Angst, in der Ungnade der Minne verschlungen zu werden (Lied 7, V. 66–67). Dieser erste Moment der Queste wird deutlich in Lied 30, Strophe 8, zusammengefasst: Mi maecte rike int ierste de minne. Si dobbeleerde mine sinne ende toende mi alle ghewinne. Twi vlietse nu wech alse een truwant? Si dobbeleerde mine sinne. Nu dolic in der vremder lant.
Mich machte die Minne zuerst reich. Sie verdoppelte meine Kräfte und zeigte mir den ganzen Gewinn. Warum flieht sie nun wie eine Betrügerin? Sie verdoppelte meine Kräfte. Jetzt irre ich im Land der Fremden umher.
Der Schmerz des Liebenden, der sich von der Minne verlassen fühlt, ist unerträglich und stürzt ihn in ein rasendes Verlangen (orewoet) nach seiner Geliebten. Diese orewoet („Sturmwut“) ist existentiell. Die Anwesenheit der Geliebten ist darum eine Angelegenheit auf Leben und Tod, denn alles andere wurde aufgegeben (Lied 7, Strophe 4): Ay, waer is nu nuwe minne met haren nuwen goede? Want mi doet mine ellende te menich nuwe wee. Mi smelten mine sinne in minnen oerewoede.
Ach, wo ist nun neue Minne mit ihrem neuen Gut? Denn mein Elend bringt mir zu viel neuen Schmerz Mir schmelzen meine Sinne in der Sturmwut der Minne.
Dieses existenzielle, rasende Verlangen treibt den verzweifelten Liebenden dazu, sich auf die Suche nach der Minne zu begeben. Er muss das unbekannte Land, in dem er sich wiederfindet, auf eigene Kraft durchkreuzen. Während dieser Queste wird der Liebende mit der für ihn unbegreiflichen Launenhaftigkeit der Minne konfrontiert. Manchmal erscheint sie kurzzeitig, und dann spürt er für einen Augenblick den süßen Trost ihrer Anwesenheit. Dann wieder entschwindet sie, und er irrt lange in Einsamkeit umher. Und das ist auch normal. Letztendlich ist die Minne ewig, während der Minnende sich in der Welt der Zeit befindet, und das schränkt seine Perspektive ein. Er
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kann die unendliche, allgegenwärtige Minne niemals in einem einzigen Blick erfassen. Die orewoet treibt ihn jedoch dazu an, die bodenlose und endlose Minne in dieser Welt weiterzusuchen und sich auf die eine oder andere Art und Weise mit ihr zu verbinden. Um die Queste durchzuhalten, hat der Minnende einen Helfer: Treue. Sie schenkt ihm das Vertrauen, dass er die Minne jemals finden wird. Dieses Vertrauen gibt ihm die Kraft, seiner Geliebten treu zu bleiben und die Queste nach der Minne nicht aufzugeben. Viele von Hadewijchs Liedern sind im Wesentlichen ein Lobpreis auf die Tugend des Vertrauens und auf die enorme Kraft, die davon ausgeht (Lied 35, V. 65–69): Minne hevet mi rechte loos ghedaen. Ane wien sal ic nu sueken raet? Dats ane trouwen, wilt si mi ontfaen, dat si mi omme hare hoghe daet vore minne gheleide
Minne hat mir richtig Böses zugefügt. Bei wem kann ich nun Unterstützung finden? Bei Treue, wenn sie mich empfangen möchte, damit sie mich, mit ihren hohen Taten zur Minne führt
Allerdings kann der Liebende auch in den Bann der nederheit („Feigheit“) geraten, eine Untugend, die der stützenden Kraft des Vertrauens gegenübersteht. Der Mut, den Treue verleiht, steht dem kleinmütigen (nedere) Minnenden nicht zur Verfügung. Er kann nur die Suche nach der Minne aufgeben. Hingabe mündet in Aufgabe. Er zerbricht das Liebesband und sucht anderswo einfacher zu erlangende Vergnügungen (Lied 8, Strophe 2): Die nedere metten armen sinnen, die sijnt die den cost ontsien, dat si hen scuwen van der minnen daer hen al goet af soude ghescien. Ochte si hen van den dienste ontien, nemen dat sire ane winnen. Trouwe salse toenen ende arm doen kinnen vore der minnen rike al bloet.
Die Niederen mit den dürren Gemütern, das sind diejenigen, die den Aufwand fürchten und sich vor der Minne, durch die ihnen all das Gute geschehen würde, scheuen. Wenn sie sich dem Dienst entziehen nehmen sie an, dass sie gewinnen. Treue wird sie demaskieren und das Ärmliche gegenüber dem Reichtum der Minne ganz freilegen.
Außer Treue hat der Liebende in seiner Queste nach der Minne noch andere Bundesgenossen zur Seite. Ein wichtiger Helfer ist Vernunft, Selbstkenntnis. Sie macht dem Liebenden bewusst, dass sein Transformationsprozess zu reiner Minne noch nicht vollendet ist. Sie weiß, dass er der Minne nicht genügt (gebrect). Und solange er ihr nicht gleich ist, kann er ihr nicht in Vollkommenheit begegnen. Dann ist nur eine partielle Begegnung möglich. Der Vernunft wiederum steht eine Kraft gegenüber: Vergnügen. Dieses verlangt danach, zu genießen (gebruken), nach dem sich himmlisch anfühlenden Zusammensein in den Momenten, in denen die Minne anwesend ist und der Schmerz der orewoet einen Moment lang aufhört. Es begnügt sich mit dem Genuss, den das Zusammensein bietet, während die Geliebte noch andere Aspekte besitzt, die es nicht kennt und folglich nicht erfahren kann (Lied 30, Strophe 7):
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Mochte mi minne ghenueghen, ic ghingher mi toe voeghen dat alle mine aderen loeghen. Doe quam de redene ende dede mi sien: ‚Sich waer du di wils voeghen, ende wat di eer noch moet ghescien.‘
Wenn Minne mir Vergügen bereiten könnte, dann würde ich mich darauf verlegen, dass all meine Adern lachen würden. Da kam Vernunft und zeigte mir: „Sieh, wohin du dich begeben willst, und was zuvor noch mit dir geschehen muss.“
Die Vernunft stört das Genießen (gebruken), auf das Vergnügen sich einlassen möchte. Sie möchte, dass der Minnende sein Defizit gegenüber der Minne einsieht, akzeptiert und anpackt. Die treibende Kraft hinter der Vernunft ist Verlangen. Im Gegensatz zu Vergnügen begnügt sich Verlangen nicht damit, Minne nur teilweise zu kennen. Verlangen rast, bis es Minne vollkommen kennt und erfährt. Zusammen mit Vernunft sorgt Verlangen dafür, dass der Minnende sich fortwährend erneuert und in ein immer vollkommeneres Ebenbild der ewigen Minne transformiert. Die Wechselwirkung zwischen diesen drei Kräften, die im Inneren des Minnenden wirksam sind, wird deutlich in der 5. Strophe von Lied 25 (V. 41–48) angesprochen: Ghenuechte loke wel de oghen ende plage gherne dies si hevet, mocht die verwoede begherte ghedoghen die altoos in woede levet. Want si haer alle uren daertoe ghevet te roepene: ‚Ay minne, wes al mine!‘ Oec wecse redene, die haer dat zeghet: ‚Sich hier, dit steet di noch te volsine.‘
Vergnügen schlösse gern die Augen und verweilte gern dort bei dem, was es hat, wenn das rasende Verlangen, das immer in Raserei lebt, es zuließe. Denn es verwendet jede Stunde darauf zu rufen: „Ach Minne, sei ganz mein!“ Auch Vernunft weckt es und sagt ihm: „Sieh her, dies musst du noch werden.“
Vernunft und Verlangen helfen dem Minnenden somit, sein Ziel zu erreichen: Die wahre, vollkommene Minne zu finden und die wahrhafte Einheit (gerecht gebruken; siehe Lied 30, V. 83) mit ihr zu erfahren. Hadewijch betont in ihren Liedern wieder und wieder, dass die wahre Einheit mit Minne nicht in dem seligen Jubilieren liegt, das so viele Frauen in ihrer Zeit mit allerlei Techniken – fasten, tanzen, beten – ausübten. Das süße, momentgebundene gebruken, das Hadewijch in den Liedern ab und zu auf beeindruckende Weise anspricht (z. B. in Lied 40, Strophe 6), ist nicht das wahre gebruken. Gerecht gebruken besteht in der völligen Hingabe an die unergründliche Minne in ihrer unbegreiflichen An- und Abwesenheit. Wahrhaftes EinsSein besteht in der fortwährenden Verbundenheit mit Minne in Freude und in Trauer. Trauer wegen der Abwesenheit der Geliebten bedrückt dann nicht länger. Trauer wird dann zur Freude, da der Minnende sich gerade in der Trauer mit der Minne verbunden fühlt, so, wie er sie in dem Moment erfährt, nämlich als Abwesenheit. Der exemplarische Minnende hört nicht auf, das bant van minne („Band der Minne“), unter welchen Umständen auch immer, zu pflegen (Lied 39, V. 82–85):
Dus blive ic ane der minne side, wat so mi ghesciet daerna: haers hongers rouwe, haerre saedde blide, begherten neen, ghenoechten ja.
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So bleibe ich an der Seite der Minne, was mir danach auch geschehen möge: Trauer aus Hunger nach ihr, Freude wegen ihrer Sättigung, das Nein des Verlangens, das Ja des Vergnügens.
Der Minnende, der diese Haltung erreicht, schafft sein Abenteuer. Er lebt auf der Erde und erfährt den Wechsel von Schmerz und Freude, der zu dem Leben auf der Erde gehört. Zugleich erfährt er ununterbrochen die innere Freude, die die Verbindung mit der ewigen Minne hervorruft. So verwirklicht er die Einheit mit Christus, einen Auftrag, den Hadewijch in ihrem 6. Brief an ihre Freundin folgendermaßen formuliert: „Mit dem Menschsein musst du hier in Mühe und Verlassenheit leben und mit dem mächtigen, ewigen Gott musst du innerlich in süßer Hingabe minnen und jubilieren. Und die Wahrheit dieser beiden ist ein einziges Genießen (gebruken).“ Demjenigen, der dies erreicht, gewährt Minne vollkommene Genugtuung. Er kann, wie die Schlussworte des Liederzyklus es ausdrücken, bene mori, gut sterben (Lied 45, V. 40). Die Seele dieses vollkommenen Minnenden wird dann nach seinem Tod endlich das Antlitz seiner geliebten Minne in all seinen Facetten schauen und wahrlich sehen und erfahren können, wer sie ist (Lied 19, Strophe 10): Alse alle dinghen selen vervaren, soe sal die edele minne waren ende haer claer gheheel openbaren, alse ghi in een nuwe beghin met minnen de minne selt anestaren: ‚Siet, dit eest dat ic ben.‘
Wenn alle Dinge vergangen sein werden, dann wird die Edle Minne währen und ihre Klarheit völlig offenbaren, wenn ihr bei einem neuen Anfang mit Minne die Minne anschauen werdet: „Seht, dies ist, was ich bin.“
Zur Rekonstruktion der Melodien (von Louis Peter Grijp) Erläuterungen zur Rekonstruktionsmethode Hadewijch schrieb ihre Lieder, damit sie gesungen werden sollten. Das klingt logisch. Lieder sind natürlich zum Singen da. In diesem Fall jedoch ist das nicht so selbstverständlich. Es wurde schon viel darüber diskutiert, ob die Liedtexte gesungen werden sollten oder nicht. Diese Diskussion verstummte jedoch 1992, nach der Veröffentlichung meines Artikels mit dem Titel „De zingende Hadewijch“, in dem ich Melodien für sechs ihrer Liedtexte vorstellte. Hadewijchkenner wie Frank Willaert (der mich auf Hadewijchs Lieder aufmerksam gemacht hatte), Veerle Fraeters und Anikó Daróczi haben die Melodien akzeptiert und diese in ihre Untersuchungen einbezogen. Daróczi geht sogar so weit, die von mir verwendete Methode als „sicher“ zu bezeichnen. Die betreffenden sechs Lieder wurden verschiedene Male in Konzerten präsentiert und auf Tonträger aufgenommen. Die Beweisführung ist meiner Meinung nach sowohl kompliziert als auch anfällig. Die Handschriften, in denen Hadewijchs Lieder überliefert sind, enthalten keine musikalischen Spuren und keinen einzigen Hinweis darauf, dass die Lieder gesungen worden wären. Die Texte wurden daher auch lange neutral „Strophische Gedichten“ genannt. Der Kronzeuge in der Beweisführung ist Hadewijchs 45. Lied, für das Van Mierlo 1943 die Entlehnung von Phrasen einer lateinischen Sequenz bekannt machte. Aber auch die Strophenform stimmt überein, und das ist entscheidend, denn dadurch kann Hadewijchs Text zu der Sequenzmelodie gesungen werden. Vor allem aufgrund der Formübereinstimmung mit anderen Texten nehme ich an, dass Hadewijchs Lieder gesungen wurden. Fünf ihrer Lieder passen so genau zu Liedtexten französischer Trouvères derselben Zeit, dass Zufall so gut wie ausgeschlossen werden kann. Dies alles kann nur als Kontrafaktur erklärt werden, d. h. Hadewijch muss ihre Texte zu bestehenden Melodien gedichtet haben. In dieser Ausgabe wurden die sechs bisher bekannten Melodien für die Lieder 3, 8, 27, 34, 40 und 45 aufgenommen. Jedoch nahm ich bereits 1992 an, dass weitere Melodien gefunden werden könnten. Ich beschränkte mich damals auf Melodien, deren Authentizität ohne weiteres akzeptierbar war. Ich wollte nicht das Risiko eingehen, dass eine Diskussion über weitere Melodien der Glaubwürdigkeit meiner allgemeinen These, dass Hadewijch ihre Lieder geschrieben hatte, um sie zu singen, schaden würde. Jetzt, da diese Annahme akzeptiert wird, können weitere Schritte unternommen werden. Ike de Loos und Björn Schmelzer haben Melodien für die Lieder 33 und 15 vorgeschlagen. Ich selbst habe Melodien für die Lieder 2, 9, 17, 21, 31, 32 und 43 gefunden. Einige dieser neuen Melodien können auch für andere Lieder verwendet werden: 2 für 39, 15 für 18, 17 für 20 und 33 für 37. Insgesamt können wir nun 19 der 45
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Lieder singen (2, 3, 8, 9, 15, 17, 18, 20, 21, 27, 31, 32, 33, 34, 37, 39, 40, 43 und 45). Manche der neun neuen Melodien sind weniger „sicher“ als die ersten sechs. Dies wird im Folgenden erläutert. Zuerst fasse ich die Befunde aus dem Jahr 1992 zusammen.
Strophische Heuristik Die wichtigste Methode, die angewendet wurde, um die Melodien wiederzufinden, ist die der strophischen Heuristik. In erster Linie wurde nach Liedern gesucht, die dieselbe Strophenform wie die der Lieder Hadewijchs aufweisen. Die drei wichtigsten Faktoren, die die Strophenform eines Liedes bestimmen, sind das Reimschema, die Anzahl der Betonungen (auch Hebungen genannt) je Verszeile und – bei Hadewijch weniger stabil – das Geschlecht der Reime. Wenn zwei Lieder in diesen drei Aspekten übereinstimmen, kann man sie auf die selbe Melodie singen. Als mittlerweile klassisches Beispiel dient Hadewijchs Lied 40 (1. Strophe): Alse ons dit nuwe jaer ontsteet, soe hoept men dat saen comen sal die tijt daer menech op verveet, die groeyen doet berch ende dal. Doch es die bliscap onghereet. Soe es hem oec die ghevet sijn al op hoger minne scone beheet, eer hi verlinget die verheit der minnen.
Wenn dieses neue Jahr anfängt, hofft man, dass bald die Jahreszeit kommen wird, von der viele eine Erlösung erwarten und die Berg und Tal blühen lässt. Aber die Freude lässt auf sich warten. So ergeht es auch demjenigen, der sich ganz und gar den schönen Verheißungen der hohen Minne hingibt, bevor er den Vorsprung der Minne eingeholt hat.
Das Reimschema dieser Strophe ist abababac. Die a- und b-Reime sind überwiegend männlich; c ist weiblich, was hier mit einem Apostroph gekennzeichnet wird. Buchstaben ohne Apostroph sind männlich. Das Reimschema wird folglich so notiert: abababacʼ. Jeder Vers hat vier Betonungen. Die dritte Verszeile z. B. wird auf folgende Weise skandiert: Die tíjt daer ménech óp vervéét. Betonte und unbetonte Silben wechseln sich ab. Manchmal stehen zwischen zwei betonten Silben nicht eine, sondern zwei unbetonte Silben, z. B. im letzen Vers: eer hí verlínget die vérheit der mínnen. Das gesamte Strophenschema, das für alle Strophen von Lied 40 gilt, lautet: 4a 4b 4a 4b 4a 4b 4a 4c’. Eine solche Strophenform können wir im Répertoire métrique von Mölk und Wolfzettel suchen, in dem die Strophenformen französischer Trouvères nach dem Reimschema geordnet sind. So gibt es ein Lied des nordfranzösischen Trouvère Moniot dʼArras (er dichtete 1213–1239), das perfekt passt: Ne me done pas talent De chanter li mois de mai Mes amours de qui descent Un nouviau confort que j’ai,
Nicht der Monat Mai gibt mir Lust zu singen, sondern Liebe, aus der neuer Mut entsteht, den ich habe,
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Quant cele qui longuement M’a tenu en grant esmai, Reçoit mon servise et prent, Et je plus ne li quier mie.
wenn sie, die mich lange in großer Angst gehalten hat, meinen Dienst annimmt und akzeptiert, und um mehr bitte ich sie nicht.
Dass die Reime übereinstimmen, ist deutlich. Das Geschlecht der Reime stimmt ebenfalls überein, auch wenn man sich bewust wird, dass das letzte Wort der französischen Strophe, mie, sich aus zwei Silben zusammensetzt (mi-e) und der Reim somit weiblich ist. Es fällt schon etwas schwerer zu erkennen, dass die Metren übereinstimmen. In der französischen Verslehre werden keine Betonungen, sondern Silben gezählt. In diesem Fall sind es sieben pro Vers. Auch der letzte Vers hat sieben Silben, denn die letzte, schwache Silbe (das e von mi-e) wird nicht mitgezählt. Die Strophenform des Liedes von Moniot lautet daher: 7a 7b 7a 7b 7a 7b 7a 7c’, wobei die Zahlen jetzt die Zahl der Silben angeben. Im französischen trochäischen Vers wechseln sich lange und kurze Silben ab, und dabei stimmen die langen Silben mit den Betonungen im Niederländischen überein. Eine französische Verszeile von sieben Silben hätte im niederländischen Äquivalent also vier Betonungen. Eine französische Verszeile mit acht Silben hätte im Niederländischen übrigens auch vier Betonungen; dann ist es ein jambischer Vers, der mit einer kurzen Silbe beginnt. Offensichtlich beträgt die Zahl der Betonungen im Niederländischen die Hälfte der Zahl Silben im Französischen, wobei man, wenn notwendig, nach oben abrunden muss (die sogenannte Halbierungsregel). Zur Verdeutlichung sind die Strophenschemata hier untereinander aufgeschrieben: 4a 4b 4a 4b 4a 4b 4a 4c’ Hadewijch 40 7a 7b 7a 7b 7a 7b 7a 7c’ Moniot d’Arras
So kann man leicht nachvollziehen, dass die Schemata der beiden Lieder übereinstimmen, wenn man weiß, dass man die Zahl der Silben im französischen Schema durch zwei teilen und nach oben abrunden muss. Die Übereinstimmung der Strophen ist jedoch noch kein Beweis, dass Hadewijch wirklich die Melodie Moniots verwendet hat. Ein wichtiges Kriterium besteht darin, dass die Strophe charakteristisch sein muss. Das ist hier tatsächlich der Fall. Der eigenständige Reimklang c am Ende ist sehr bemerkenswert. Daher kann man annehmen, dass Hadewijch eine Kontrafaktur auf die Melodie Moniots angefertigt hat. Es sind noch einige französische Lieder zu derselben Melodie bekannt, mit demselben Strophenschema. Auch diese können Kontrafakturen von Moniots Lied sein. Eines davon ist ein Marienlied (Mere au roi omnipotent des Richard de Fournival [1210–1259/60]), und ich nahm 1992 an, dass es unmittelbar die von Hadewijch verwendete Vorlage gewesen sein muss, weil Maria in Hadewijchs Werk eine wichtige Rolle spielt und sie möglicherweise eine Vorliebe für Marienlieder hatte. Unten wird das genauer nuanciert.
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Ein Text – Mehrere Melodien Es kann vorkommen, dass in verschiedenen Quellen eines bestimmten französischen Liedtextes verschiedene Melodien stehen. Offensichtlich hat jemand dann eine neue Melodie für einen Text komponiert oder eine passende Melodie dafür gefunden. Man sieht manchmal auch verschiedene Melodien bei verschiedenen französischen Liedtexten, die dieselbe sehr charakteristische Strophenform aufweisen. Vermutlich kann man dann von einem Kontrafakturkomplex sprechen – d. h. eine Gruppe von Liedern, die Kontrafakturen auf der Grundlage einer einzigen Vorlage sind –, wobei auch neu komponierte Melodien im Spiel sein können. In einer solchen Situation ist es schwierig, die ,authentische Melodieʻ eines Liedes von Hadewijch festzustellen, d. h. die Melodie, die Hadewijch beim Dichten im Kopf gehabt haben müsste. Aus den Quellen geht hervor, dass die Auswechselbarkeit von Melodien im 13. Jh. jedoch akzeptiert war. Die Bedeutung der ,Authentizitätʻ ist somit relativ. Ein Beispiel ist Die tekene doen ons wel in scine (Lied 3). Die Strophenform verrät das beliebte Minnelied Amours nʼest pas, que cʼon die des Moniot dʼArras. Acht Liedtexte, Kontrafakturen, wurden direkt oder indirekt von diesem Minnelied inspiriert, darunter auch einige Marienlieder. In diesem Kontrafakturenkomplex können sechs verschiedene Melodien unterschieden werden. In solchen Fällen wähle ich stets die am häufigsten vorkommende Melodie aus, aus der Überlegung heraus, dass die Wahrscheinlichkeit, dass Hadewijch diese kannte, dann am größten gewesen ist. Bei Amours nʼest pas, que cʼon die kommt eine einzige Melodie – die ursprüngliche von Moniot, wie ich annehme – in mindestens zehn Handschriften vor. Also wurde diese hier auch gewählt. Die meisten anderen Melodien kommen nur in einer einzigen Handschrift vor. Es kann jedoch natürlich auch sein, dass Hadewijch zufällig gerade eine der weniger bekannten Melodien gekannt hat.
Literarische Entlehnung Man erwartet, dass Hadewijch beim Dichten einer Kontrafaktur nicht nur die Strophenform, sondern auch bestimmte Aspekte aus dem Inhalt oder den Formulierungen der Vorlage übernahm, wie an anderen Stellen oft geschieht. Bei ihren Kontrafakturen zu französischen Melodien konnte eine solche literarische Entlehnung bisher jedoch noch nicht festgestellt werden. Bei Kontrafakturen nach lateinischen Vorlagen entlehnte Hadewijch sehr wohl inhaltlich. Das genannte Lied 45 Ay in welken soe verbaerd de tijd geht auf die lateinische Sequenz Mariae praeconio zurück, indem es jeweils die lateinischen Schlussverse zitiert. Auch in Hadewijchs erstem Lied kommen lateinische Entlehnungen vor (Ay vale, vale millies), deren Vorlage jedoch nie identifiziert wurde. Willaert hat für Hadewijchs Lied 6 auf ein Lied Heinrichs von Veldeke hingewiesen, bei dem eine deutliche literarische Entlehnung festgestellt werden kann. Warum dies bei den französischen Liedern bislang noch nicht gelungen ist, ist unerklärlich. Es ist ein
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bedauerlicher Umstand, da literarische Entlehnung die Beweiskraft für eine Vorlage in hohem Maß verstärken würde. Nun ist man bei der Bewertung der französischen Lieder ganz auf das Maß der strophischen Übereinstimmung angewiesen.
Strophische Variation Es ist sehr gut möglich, dass ein Dichter, der ein Lied zu einer existierenden Melodie und mit einem konkreten Vorlagentext vor Augen geschrieben hat, mehr oder weniger bewusst von der ursprünglichen Strophenform abwich. Durch diese strophische Variation wird die Ähnlichkeit bis zu einem gewissen Grade verschleiert und, was schlimmer ist, sie wirkt sich nachteilig auf die Sicherheit aus, mit der eine Melodie identifiziert werden kann. Bei den Melodien, die ich 1992 vorschlug, hatte ich eine lediglich minimale strophische Variation zugelassen. In Bezug auf das Reimgeschlecht blieben kleinere Abweichungen gelegentlich erlaubt (z. B. bei Lied 27), da Hadewijch sich selbst in diesem Punkt oft Freiheiten erlaubte. Ob ein Reimklang männlich oder weiblich ist, war ihr offenbar nicht immer wichtig; sie verwendete den männlichen und weiblichen Reim ziemlich oft ohne klares Muster. In Bezug auf die Zahl der Betonungen ging ich jedoch sehr streng vor und im Hinblick auf die Reimschemata gestattete ich seinerzeit keinerlei Variation – oder besser gesagt, suchte ich nicht nach Reimvarianten. Im Übrigen zeigte sich, dass die französischen Lieder in einem Kontrafakturkomplex manchmal untereinander im Reimschema variierten. Bei diesen beiden Aspekten – Zahl der Betonungen und Reimschema – wird hier ein wenig mehr Flexibilität akzeptiert, wodurch zwar mehr Melodien rekonstruiert werden konnten, die Authentizität der neu gefundenen Melodien jedoch manchmal weniger sicher ist.
Reimvariation Ein Beispiel für Reimvariation findet man bei Lied 21 (Alse ons de bloemen van den somere comen sijn), das ich hier mit einem Lied des Gilbert de Berneville (dichtete 1246–1270) (Amours, pour ce que mes chanz soit jolis) vergleiche: 5a 5b 5a 5b 3c’ 3c’ 3d 3d 3c’ Hadewijch 21 10a 10b 10a 10b 5c’ 5c’ 5b 5b 5c’ Gilbert de Berneville
Der einzige Unterschied im Reim zwischen den Strophenschemata befindet sich im siebten und achten Vers, wo Hadewijch dd und Gilbert bb verwendet hat. Das bedeutet, dass Hadewijch es sich an dieser Stelle etwas einfacher gemacht hat; für den Gesang ist dies jedoch ohne Bedeutung. Alle übrigen Parameter stimmen genau überein. Hadewijchs Betonungen sind stets die Hälfte der Silben Bernevilles, wenn
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notwendig nach oben abgerundet, und auch hinsichtlich des Geschlechtes stimmen die Reime völlig überein. Die geringe Variation im Reim wirkt sich überhaupt nicht auf die Authentizität der Melodie aus. Ein interessantes Detail ist die Tatsache, dass es eine Kontrafaktur des Liedes von Gilbert gibt, ein Marienlied (Com cil qui est de bone amor esprins). 1992 wurde übrigens ebenfalls schon bei Gilbert eine Vorlage für Hadewijchs Lied 27 gefunden. Ein ziemlich ähnlicher Fall liegt bei Lied 9 vor, das trotz eines Reimunterschieds gut zu einem Lied des Thibauts de Champagne (1201–1253) passt: 4a’ 4b 4a’ 4b 4a’ 4a’ 4b 4b 4b Hadewijch 9 7a 7b’ 7a 7b’ 7a 7a 7c 7c 7c Thibaut de Champagne
Das Reimschema unterscheidet sich am Ende der Strophe, wo Hadewijch drei Mal b und Thibaut drei Mal c verwendet hat. Für das Singen ist das unwichtig, denn Hadewijchs Betonungen stimmen genau mit den französischen Silben überein. Das Reimgeschlecht stimmt weniger gut überein. Jedoch ist Hadewijch in dieser Hinsicht bei diesem Lied selbst nicht sehr konsequent. Lediglich in drei der vier Strophen ist die notierte Verteilung von männlichem und weiblichem Reim zu finden. In Bezug auf die Platzierung des Textes zur Melodie stellt dies kein Problem dar. Aber es macht die Beweisführung etwas weniger überzeugend als beim vorherigen Beispiel.
Variationen bei der Zahl der Betonungen Nicht nur der Reim, sondern auch die Zahl der Betonungen kann variieren. Das ist bei der Melodie der Fall, die Björn Schmelzer für das 15. Lied vorgeschlagen hat und die vom Lied Nouvele amour qui si mʼagree des Rogeret de Cambrai (13. Jh.) stammt: 3a 4b 3a 4b 2c 2c 4b 2c 2c 4b Hadewijch 15 8aʼ 8b 8aʼ 8b 4cʼ 4cʼ 8b 4cʼ 4cʼ 8b Rogeret de Cambrai
Die Zahl der Betonungen beläuft sich bei Hadewijch auf die Hälfte der bei Rogeret gefundenen; nur im ersten und dritten Vers findet man bei ihr eine Betonung weniger, drei statt vier. Durch den besonderen Verlauf der Zahl Betonungen bzw. Silben, vor allem in kurzen Versen, ist die Ähnlichkeit hingegen ziemlich überzeugend. Das Reimschema ist dabei identisch, auch wenn das Geschlecht der Reime bei Hade wijch nicht zu dem der Reime bei Rogeret passt. Auch für dieses Lied gilt jedoch, dass Hadewijch sich kaum um das Reimgeschlecht gekümmert und männliche und weibliche Reime unterschiedslos verwendet hat. (Die Notierung ist hier männlich, weil eine kleine Mehrheit männlicher Reime vorliegt.) In der Gesangspraxis löst man die Unterschiede in der Zahl der Betonungen, indem man einige Töne auf eine Silbe singt, also mit einem Melisma. Das geht hier problemlos. Es stellt sich jedoch die Frage, warum Hadewijch sich diese Variation erlaubt hat.
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Vielleicht geschah es in der ersten Strophe mehr oder weniger aus Versehen, dass die a-Verse etwas kürzer ausfielen, und sie hat dies in den folgenden Strophen fortgesetzt. Aber es ist dennoch ziemlich beunruhigend: Wenn man so einfach eine Betonung weglassen kann, steht dadurch nicht das gesamte Bauwerk der strophischen Heuristik auf schwachen Füßen? Die Antwort muss lauten, dass die strophische Heuristik nur funktioniert, wenn Hadewijch ihrer Vorlage formal genau gefolgt ist, also mit wenig oder keiner Variation, und wenn sie dabei stabile Strophen gedichtet hat. Mit Hadewijchs Lied 2 (Tsaermeer sal in corten tide) nähert man sich den Grenzen der strophischen Heuristik: 4a’4b 4a’4b 3/4b 3a’3a’3b 3a’. Die ersten vier Verse sind sicher mit vier Betonungen zu lesen, die letzten vier überwiegend mit drei Betonungen und der mittlere Vers manchmal mit drei, manchmal mit vier Betonungen. Die Zahl der Betonungen ist in dieser Hinsicht ein wenig stabiler Faktor. Übrigens ist Hadewijch in diesem Lied durchaus konsequent in Bezug auf das Reimgeschlecht. Im Répertoire métrique von Mölk und Wolfzettel gibt es eine ganze Reihe französischer Lieder mit einem gleichen Reimschema, aber unterschiedlicher Silbenzahl. Sieben Lieder haben acht Silben in allen Versen, vier Lieder sieben Silben in allen Versen. Die am meisten ähnelnde Strophe ist die eines Liedes von Gace Brulé (ca. 1160–nach 1213), Qui sert de fausse proire: 4a’ 4b 4a’ 4b 3/4b 3a’ 3a’ 3b 3a’ Hadewijch 2 7a’ 7b 7a’ 7b 5b 5a’ 7a’ 5b 7a’ Gace Brulé
Nach der Halbierungsregel passen alle Verse der Strophe Hadewijchs zu denen der Strophe von Gace Brulé, außer der siebten und neunten: Dort würde man bei Hadewijch vier statt drei Betonungen erwarten. Den mittleren Vers interpretiere ich als passend. Eigentlich sind auch diese Abweichungen mit einem einzigen Melisma zu lösen, ein Problem bleibt jedoch: Ist Hadewijchs Strophenform noch ausreichend charakteristisch, um eine Entlehnung bei Gace Brulé zu beweisen? Die schöne Übereinstimmung im Reimgeschlecht spricht zwar dafür, aber durch die unterschiedliche Zahl an Betonungen und den dadurch weniger eindeutigen Charakter der Strophe wird es zur Geschmacksache. Wie sehr darf die Zahl der Betonungen bei Hadewijch dann von der Silbenzahl im Französischen abweichen? Hadewijchs Lied 43 (Alse ons ontsteet de winter sware) besitzt ein sehr charakteristisches Reimschema, das man mit einer kleinen Variation bei dem Lied Pluie ne vens, gelee ne froidure des Gilles de Vieux-Maisons (dichtete um 1200) wiederfindet: 4a’ 4b 4a’ 4b 4a’ 4b 4c’ Hadewijch 43 10a’ 10b 10a’ 10b 4b 6a’ 10b 7c’ Gilles de Vieux-Maisons
Gillesʼ fünfter und sechster Vers werden bei Hadewijch zu einem einzigen Vers vereinigt, ein häufiger Typ der strophischen Variation. Spanke wie auch Mölk und Wolfzettel
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haben die Variation offenbar übersehen: Sie haben die betreffenden Verse in einem Vers von zehn Silben zusammengefasst. Nur dadurch haben wir Pluie ne vens gefunden. Diese kleine Variation im Reimschema ist akzeptabel, aber die Zahl der Betonungen stimmt nach der Halbierungsregel nicht überein, außer im letzten Vers. Man würde bei Hadewijch fünf Hebungen pro Vers erwarten. Dennoch ist die Übereinstimmung mit dem charakteristischen Waisen am Ende der Strophe zu auffällig, als dass es sich um einen Zufall handeln könnte. Eine Erklärung für das abweichende Metrum kann in der modalen Rhythmik gefunden werden, wie z. B. Hans Tischler sie in seiner monumentalen Ausgabe aller Trouvèremelodien konsequent angewandt hat. Die Notation der Melodien wurde in den Handschriften nicht rhythmisch ausgearbeitet, aber aufgrund der Verteilung der Notengruppen über die metrischen Silben konnte Tischler für jede Melodie einen oder mehrere rhythmische Modi feststellen, zu denen diese gesungen werden könnten. Im Fall von Pluie ne vens, gelee ne froidure ergibt dies ein musikalisches Metrum nicht mit fünf, sondern mit vier Betonungen pro Vers. Die Zahl der Silben (zehn) wird bei dieser Herangehensweise also nicht wie bei der Halbierungsregel durch zwei geteilt. Im Niederländischen müssen Text- und Musikbetonungen zusammenfallen. Es trifft sich bei Tischlers Herangehensweise also gut, dass Hadewijch vier Betonungen pro Vers hat. Beim Singen entsteht dadurch sogar ein hervorragendes Ergebnis.
Wenn diese Art der Identifikation der Melodie für Lied 43 korrekt ist, ist die Halbierungsregel offensichtlich nicht die einzige Wahrheit. Dann muss es auch eine Regel geben, die die niederländischen Betonungen im Text in Beziehung zu der Zahl der Betonungen in der Melodie setzt, wenn man diese rhythmisch modal interpretiert. Bei
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deutschen Kontrafakturen französischer Trouvèrelieder trifft dies manchmal auch zu, vor allem wenn sie in einem daktylischen Rhythmus geschrieben wurden. Eine Untersuchung zu den Folgen dieser Überlegungen überlasse ich der nächsten Phase der Hadewijchforschung. Es ist sehr gut möglich, dass sich mehr Melodien finden ließen, wenn nicht ausschließlich die Halbierungsregel zu Grunde gelegt wird. Andererseits könnte dadurch auch weniger Sicherheit in Bezug auf die Authentizität von Melodien die Folge sein, weil dadurch möglicherweise mehr französische Melodien zu einer Strophe von Hadewijch passen, als bisher festgestellt wurde.
Formvariation Strophische Variation kann auch beinhalten, dass die Form der Strophe verändert wird, indem ein Teil der Melodie wiederholt oder eine Wiederholung weggelassen wird. Ein Beispiel dafür bietet Lied 18 (Goeter goede vore den tide) mit einer Strophenform, die Schmelzer als eine Verkürzung der Strophenform von Lied 15 erkannte, oder besser, als eine Verkürzung des Liedes von Rogeret de Cambrai, das als Vorlage diente: 4a’ 4b 4a 4b 2c’ 2c’ 4b Hadewijch 18 3a 4b 3a 4b 2c 2c 4b 2c 2c 4b Hadewijch 15 8a’ 8b 8a’ 8b 4c’ 4c’ 8b 4c’ 4c’ 8b Rogeret de Cambrai
Rogerets Strophe wird in Lied 18 sogar noch genauer übernommen als in Lied 15. In ersterem stimmt nach der Halbierungsregel die Zahl der Betonungen im ersten und dritten Vers überein. Das Reimgeschlecht passt ebenfalls, auch wenn Hadewijch in dieser Hinsicht bei diesem Lied nicht sehr konsequent war. Wer sich die Musik anschaut, wird feststellen, wie die Verkürzung zu erklären ist: Hadewijch hat die musikalische Wiederholung des Abgesangs der Strophe weggelassen.
Weniger charakteristische Strophenformen Eine Methode, weitere Melodien zu Hadewijchs Liedertexten zu finden, kann darin bestehen, dass man neben der Akzeptanz von Variation das Kriterium der charakteristischen Strophenform flexibler handhabt. Es gibt ja keine deutliche Grenze zwischen charakteristischen und nicht-charakteristischen Strophenformen. Einerseits kann man intuitiv vorgehen und auf Grund von Erfahrung entscheiden, ob eine Strophenform charakteristisch ist, z. B. wenn das Reimschema komplex ist und / oder die Verslänge variiert. Faktisch nimmt man dann eine Abwägung der Wahrscheinlichkeit vor, dass sich verschiedene Dichter unabhängig voneinander dieselbe Strophenform ausdenken. Andererseits kann man mithilfe einer Strophenübersicht wie der
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von Mölk und Wolfzettel oder der Nederlandse Liederenbank (www.liederenbank.nl) untersuchen, wie selten eine Strophenform war und auf diese Weise seine Intuition überprüfen. Dann kann sich zeigen, dass ein Strophenschema, von dem man schwören würde, dass es aufgrund seiner Komplexität einzigartig ist, doch von mehreren Dichtern verwendet wurde, sogar unabhängig voneinander. Zur Illustration solcher Überlegungen kann Hadewijchs Lied 17 (Dit nuwe jaer es ons onstaen) dienen. Das Reimschema ababccb scheint alles andere als charakteristisch zu sein. Zusammen mit der zu erwartenden Zahl von sieben oder acht Silben je Vers kommt es jedoch in nur zwei französischen Liedern vor: in dem beliebten Lied En dous tens et en bone eure von Gace Brulé und in einem unbekannten Lied, das nur in einer Quelle notiert ist. Die Wahrscheinlichkeit, dass Hadewijch das Lied von Gace Brûlé gekannt hat, ist am größten und man kann somit dieses Lied mit Hadewijchs Strophe vergleichen: 4a’ 4b 4a’ 4b 4c’ 4c’ 4b Hadewijch 17 7a’ 7b 7a’ 7b 7c’ 7c’ 7b Gace Brulé
Hiermit haben wir eine hervorragend passende Melodie für Hadewijchs Lied. Die Tatsache, dass die Geschlechter der Reime ungefähr übereinstimmen (bei Hadewijchs Lied nicht sehr stabil), ist zwar eine hübsche Zugabe, sollte jedoch nicht zu hoch gewertet werden. Auch wenn die Strophenform nicht sehr charakteristisch ist, so gibt es angesichts der Tatsache, dass es sich um die einzig passende Strophe im französischen Repertoire handelt, die Wahrscheinlichkeit, dass Hadewijch ihr 17. Lied zu dieser Melodie von Gace Brulé gedichtet hat. Aber mehr als eine gute Möglichkeit würde ich es jedoch nicht nennen wollen. Die Melodie kann auch für Lied 20 (Die tijt vernuwet ende tegheet) verwendet werden, das dieselbe Form wie Lied 17 hat. Die Plausabilität kann jedoch noch geringer sein. So besitzt zum Beispiel Hade wijchs Lied 32 (Tsjaermeer ontspringhen ons de bloemen) ein ziemlich banales Reimschema ababbcbc und immer vier Betonungen je Vers. Im französischen Strophenrepertoire kommt dieses Reimschema 23 Mal vor, dabei fünf Mal mit acht Silben und sechs Mal mit sieben Silben. Es gibt somit entsprechend der Halbierungsregel elf Lieder, zu denen Hadewijchs Lied passt. Wenn man sie nach und nach betrachtet, zeigt sich, dass der größte Teil nicht in Frage kommt, weil es sich um Virelais und Balladen vom Ende des 13. Jhs. und vom Anfang des 14. Jhs. handelt. Es bleiben nur einige Lieder übrig, wie das anonyme Joie et soulas me fait chanter. Dieses Minnelied kommt nur in einer Handschrift vor. Auch wenn die Melodie hervorragend zu Hadewijchs Text passt, muss man sich dennoch fragen, ob sie ein solch marginales Lied wirklich kannte. Anders verhält es sich bei Lied 33 (Die tijt vernuwet met sinen jaren) mit dem Schema 4a 4a 4a 4a, bei dem die Reime in gleicher Verteilung weiblich und männlich sind. In dieser Ausgabe wird darauf hingewiesen, dass dieses Lied nicht nur die gleiche Strophenform wie der bekannte Hymnus Jesu dulcis memoria aufweist,
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sondern dass dieser Hymnus in der siebten Strophe auch inhaltlich seine Spuren hinterlassen hat. Wenn wir annehmen, dass Hadewijch für ihr Lied 33 in der Tat vom Jesu dulcis memoria inspiriert wurde, dann bedeutet das noch nicht, dass uns dann auch die Melodie zur Verfügung steht: ,Die eineʻ Melodie des Jesu dulcis memoria gibt es nämlich nicht. Zu diesem Hymne waren zahlreiche Melodien im Umlauf. Die Geschichte dieses Melodienkomplexes ist allerdings noch nicht gründlich untersucht worden, und es ist schwierig, Melodien zu finden, die vor dem 16. Jh. existierten, da der Hymnus erst danach in die Liturgie aufgenommen wurde. Die heute gebräuchliche Melodie des Hymnus stammt nach den Handbüchern aus dem 12. Jh., d. h. aus der Zeit, in der der Text des Hymnus entstand. Es gibt eine Melodie für Jesu dulcis memoria, die zu Zeiten Hadewijchs aufgeschrieben wurde. Diese stammt aus dem schweizerischen Einsiedeln, aber die regionalen Unterschiede waren oft groß. Handschriften aus dem 13. Jh. aus Tongeren und Cambrai enthalten Melodien für Hymnentexte, die mit dem Jesu dulcis memoria verwandt sind. Sie haben dieselbe Strophenform sowie den Auftakt ,Jesuʻ, zum Beispiel Jesu flos matris virginis. Möglicherweise sang Hadewijch Jesu dulcis memoria zu einer dieser Melodien. Es ist auch denkbar, dass sie eine Melodie sang, die in späteren Handschriften überliefert ist. Bei den Liedern 33 und 37 (die zu derselben Melodie passen) habe ich unterschiedliche Möglichkeiten angegeben.
Marienlieder 1992 suggerierte ich, dass Hadewijch eine Vorliebe für Marienlieder als Vorlage für ihre eigenen Lieder hatte. Seitdem wurde diese Hypothese mehrfach unterstützt. Tatsächlich sind uns Marienlieder zu fünf der sechs Melodien, die ich damals vorschlug, bekannt. Bei den neu gefundenen Liedern kommt dieser Zusammenhang weniger oft vor. Nur für die Melodie zu Lied 21 ist ein französisches Marienlied überliefert. Zu der Melodie von Lied 15 ist ebenfalls ein Marienlied bekannt, das jedoch aus Galicien stammt, eine Cantiga de Santa Maria. Sind Marienlieder für Hadewijch wichtig gewesen oder handelt es sich um einen Zufall? Dank der Übersicht des Trouvèrerepertoriums, das Tischler 1997 publizierte, kann man jetzt etwas mehr darüber sagen. Tischler zählte bei den Trouvères 109 Marienlieder. Insgesamt unterschied er in seiner Ausgabe 1362 Lieder und Liedfamilien (d. h. Gruppen von Liedtexten und Melodien, die wegen Kontrafakturbeziehungen zusammengehören). Grob geschätzt ist im Trouvèrerepertorium im durchschnitt ein von 12 Liedern/Liedfamilien ein Marienlied. Wie verhält sich dies bei Hadewijch? Von den 13 französischen Melodien oder Liedgruppen, die ich gefunden habe, enthalten sechs oder mehr Marienlieder. Infolgedessen kann man gewiss von einer positiven Korrelation zwischen Hadewijchs Melodienwahl und Marienliedern sprechen. Wie aber können wir das interpretieren? Hat Hadewijch ihre Lieder also tatsächlich auf der Grundlage französischer Marienlieder gedichtet? Im Nachhinein betrach-
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tet ist dies nicht sehr wahrscheinlich. Die meisten Marienlieder, die als Vorlage in die engere Wahl kommen, sind nämlich sehr selten: Diese Lieder kommen oft nur in einer Quelle vor. Darüber hinaus sind diese Quellen sehr verstreut. Die Wahrscheinlichkeit, dass Hadewijch all diese seltenen, verstreuten Lieder gekannt hat, ist klein. Darüber hinaus hat Hadewijch offenbar keine Kontrafakturen zu den am meisten verbreiteten Marienliedern ihrer Zeit, wie die des Gautier de Coinci, angefertigt. Eine andere Erklärung ist daher wahrscheinlicher: Beliebte Trouvèrelieder, d. h. Lieder, die in vielen Quellen überliefert sind, dienten oft als Vorlage für Kontrafakturen. Dazu gehören viele geistliche Lieder, wie z. B. Marienlieder. Mit anderen Worten: Wenn eine Marienkontrafaktur zu einem Trouvérelied vorkommt, suggeriert das, dass es ein beliebtes Trouvèrelied war. Hadewijch wählte im Allgemeinen verhältnismäßig beliebte Melodien, wodurch man das überdurchschnittliche Vorhandensein von Marienliedern in den betreffenden Kontrafakturkomplexen erklären kann.
Popularität und Wahrscheinlichkeit Aus dem Vorhergehenden kann man schlussfolgern, dass sich die Suche nach Melodien besser nicht auf das Kriterium stützt, ob zu einer bestimmten Melodie ein Marienlied geschrieben wurde, sondern auf die Tatsache, dass auf eine bestimmte Melodie Kontrafakturen, seien sie geistlich oder nicht-geistlich, angefertigt wurden. Zusammen mit dem Auftreten des Textes und / oder der Melodie in einer großen Zahl an Quellen ist dies ein Hinweis darauf, dass die betreffende Melodie weit verbreitet war, und dies wiederum vergrößert die Wahrscheinlichkeit, dass Hadewijch die Melodie kannte und für einen ihrer Liedtexte verwendete. Diese Anpassung des Kriteriums führt übrigens nicht zu tiefgreifenden Verschiebungen in der Melodieauswahl aus dem Jahr 1992. Aufgrund der Quellen für die Melodien, die in den Kommentaren bei den einzelnen Liedern ausgearbeitet wurden, kann eingeschätzt werden, wie wahrscheinlich es ist, dass Hadewijch die vorgeschlagene Melodie wirklich verwendete. Die Einschätzung basiert auf dem Maß, in dem die betreffende Strophe charakteristisch ist, wie selten sie ist (eine nicht so charakteristische Strophe, die nur sehr selten überliefert ist, kann dennoch eine hohe Wahrscheinlichkeit haben), die strophische Ähnlichkeit (je weniger Anpassungen notwendig sind, umso wahrscheinlich ist die Identifikation) und, wie gesagt, auf der Popularität des Modells, die ich aus den Überlieferungsdaten ableiten kann (je populärer, umso wahrscheinlicher ist die Identifikation). Außer bei Lied 45, dessen Melodie ohne Zweifel die der Sequenz Mariae praeconio ist, sind dann die Melodien mit der größten Wahrscheinlichkeit die der Trouvères von Arras, Moniot dʼArras (Lieder 3 und 40) und Gilbert de Berneville (Lieder 21 und 27), die beide mit zwei Melodien vertreten sind. Ebenfalls sehr wahrscheinlich ist, dass Lied 8 auf einen Arraser Kontrafakturkomplex zurückgeht. Nur enthält dieser zwei Melodien, eine von Perrin dʼAngicourt (dichtete 1245–1250) und eine von Jehan
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Érart († 1258/59), die gleichwertige Alternativen sind. Die Authentizität der Melodien von Thibaut de Champagne (Lied 9), Rogeret de Cambrai (Lieder 15 und 18), Blondel de Nesle (Lied 31) und Gilles de Vieux- Maisons (Lied 43) habe ich als ,wahrscheinlichʻ beurteilt. Gace Brulé (Lieder 2, 39, 17 und 20) kommt am häufigsten vor, jedoch immer mit Melodien, die keinen allzu hohen Wahrscheinlichkeitsgrad besitzen.
Perspektive Das Kriterium der Authentizität, d. h. die Gewissheit, dass Hadewijch ihren Text tatsächlich zu einer von mir aufgezeigten Melodie gesungen hat, scheint in der Forschungspraxis langsam in ein Kontinuum von Alternativen und weniger sicheren Möglichkeiten überzugehen. Ich bin diesen Weg nicht bis zu Ende gegangen, habe jedoch sehr wohl in einigen Fällen die ,sichereʻ Grenze eines authentischen Vorschlags überschritten, indem ich Melodien angenommen habe, die nur ,möglicherweiseʻ von Hadewijch verwendet wurden. In den Fällen, in denen eher eindeutige Argumente fehlten, um aus den möglichen Alternativen eine Auswahl zu treffen, habe ich keinen Vorschlag unterbreitet. Wie wichtig ist es eigentlich zu wissen, dass Hadewijch eine bestimmte Melodie für einen bestimmten Text verwendete, während ihre Zeitgenossen die Vorlage auch auf alternative Melodien gesungen haben? Es passt vermutlich besser zu der mittelalterlichen Praxis, einen gegebenen Text zu jeder passenden Melodie zu singen, die zur Verfügung steht. Auch ist ,passendʻ ein relativer Begriff, dank der reichen Variationsmöglichkeiten, denen alle Parameter einer Strophe unterworfen sind. Daraus leitet sich eine Perspektive ab, bei der Musiker und Musikwissenschaftler auf kreative Weise brauchbares Material aus dem Melodienschatz der Trouvères auswählen und dies bearbeiten und anpassen oder selbst neue Melodien zu Hadewijchs Texten komponieren; eine Perspektive, die 2007 von Anikó Daróczi suggeriert wurde. Eine Ausgabe der Texte Hadewijchs ist nicht das geeignete Medium, eine solche Herangehensweise ausführlich auszuarbeiten. An dieser Stelle sollte jedoch ein kleiner Einblick in diese Richtung gegeben werden.
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Hinweise für Sängerinnen und Sänger Die Melodien, die in der vorliegenden Ausgabe präsentiert werden, sind zum großen Teil aus dem Repertoire der Trouvères ausgewählt worden. Daneben gibt es auch einige gregorianische Melodien. Wie die Melodien gefunden wurden und wie wahrscheinlich es ist, dass es sich dabei um die Melodien handelt, zu denen Hadewijch ihre Texte gedichtet hat, wurde zuvor besprochen. Zu jedem Lied findet man in dieser Ausgabe gesonderte Erläuterungen zur Form und (wo vorhanden) zur Melodie. Im Folgenden werden einige Probleme in Bezug auf das Singen der Lieder besprochen.
Der Rhythmus der Melodien In den Quellen, in denen die Melodien gefunden wurden, sind wohl die Tonhöhen angegeben, meistens aber nicht, oder nur unvollständig, die Tonlängen. Manche Musikwissenschaftler geben in ihren Transkriptionen von Trouvèremelodien den Rhythmus nicht an und suggerieren damit eine freie rhythmische Interpretation. Andere wenden die sogenannten rhythmischen Modi an, die aus der Notation der mehrstimmigen Musik des 13. Jahrhunderts bekannt sind. Das bedeutet, dass man dann der Melodie ein festes rhythmisches Muster unterlegt. Ob man solche Modi im Mittelalter für das einstimmige Trouvèrerepertoire verwendete, ist unsicher – vielleicht geschah es manchmal. Wie Hadewijch ihre Lieder rhythmisch gesungen hat, ist möglicherweise noch schwieriger festzustellen als bei den Trouvèreliedern, die sie als Quelle benutzte. Dennoch habe ich mich dafür entschieden, die Melodien rhythmisch zu notieren. Verse mit Hebungen suggerieren ja einen regelmäßigen Abstand zwischen den Hebungen, demnach ein rhythmisches Muster, auch wenn wir nicht wissen, welches. Bei manchen Transkriptionen gehe ich von einem Modus aus, der an einem dreiteiligen Takt zu erkennen ist. In anderen Fällen habe ich einen zweiteiligen Takt gewählt, wenn ich fand, dass Hadewijchs Worte darin besser zum Ausdruck kamen. Es erschien sinnvoller, eine rhythmische, wenn auch subjektive, Interpretation anzubieten, als eine Sängerin oder einen Sänger sich selbst zu überlassen. Es sei jedoch jedem zugestanden, den Takt nach dem eigenen Geschmack zu verändern oder auch ein Lied, das in einem zweiteiligen Takt notiert wurde, mit dreiteiligem Takt zu singen, oder den Rhythmus ganz frei anzupassen.
Die Platzierung der Texte Ein nicht zu unterschätzendes Problem ist die Unregelmäßigkeit in Hadewijchs Versen. Manche sind so unregelmäßig, dass Wissenschaftler davon ausgegangen sind, dass die Lieder überhaupt nicht gesungen werden konnten. Die meisten Pro-
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bleme dieser Art sind jedoch einfach zu lösen, wenn man die Wirkungsweise von betonten Versen kennt. Dazu seien einige Beispiele genannt. In dieser Edition wird die Musik, wie gebräuchlich, jeweils zu der ersten Strophe eines Liedes angegeben. Den Text der übrigen Strophen müssen die Sängerinnen und Sänger selbst anordnen. Dabei geht man von den Hebungen aus, das heißt von den Betonungen im Text. Zuerst stellt man die Zahl der Hebungen pro Vers fest (Vgl. die Angaben in den jeweiligen Kommentaren zu den Liedern). Man kann die Zahl der Hebungen auch einfach an der Musik ablesen: Es sind die starken, betonten Takte, zum Beispiel der erste und dritte Schlag eines Viervierteltakts. Als Beispiel können die ersten beiden Verse von Hadewijchs Lied 8 dienen:
An der Musik kann man erkennen, wo die Betonungen angedacht wurden: Altóes mach mén van mínnen sínghen eest hérfst, eest wínter, eest lénten, eest sómer
Jeder Vers hat somit vier Betonungen bzw. vier Hebungen. Im ersten Vers wechseln sich starke und schwache Silben ab, im zweiten Vers befinden sich zwischen zwei starken Silben manchmal nicht eine, sondern zwei Silben. Das ist für Hebungsverse typisch. Man singt die zusätzlichen Silben, indem man zum Beispiel eine Viertelnote in zwei Achtelnoten aufteilt, wie mit dem b (si) auf -ter eest gemacht wurde. Meistens wiederholt man einfach die erste Note, aber manchmal klingt es besser, wenn man die zweite einen Ton höher oder niedriger singt, wie bei ten eest gemacht wurde. Dort wurde eine Viertelnote f (fa) in zwei Achtelnoten aufgeteilt, ein f (fa) und ein g (sol). Solche feinen Abweichungen sind eine Frage des Geschmacks. Die Platzierung der Texte der zweiten und der folgenden Strophen wird den SängerInnen überlassen. Das beginnt mit dem Skandieren der Verse: Man muss ausprobieren, wie man am besten die vier Betonungen über die Zahl der Silben in den Versen verteilen kann. Man versucht, sich bei der Angabe der Hebungen so viel wie möglich an der natürlichen Betonung der Verse zu orientieren, aber es ist auch wichtig, dass man starke und schwache Silben abwechselt. Als Beispiel dient der Beginn der zweiten Strophe:
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Die nédere métten ármen sínnen, díe sijnt díe den cóst ontsíen (Version a)
Im zweiten Vers fällt eine unbetonte Silbe am Anfang weg, aber das ist kein Problem. Man könnte den Vers genauso gut auch mit drei Silben lesen die síjnt die den cóst ontsíen (Version b)
Man muss dann zwei Viertelnoten zu einer halben Note zusammenfügen. Das ist eine Notlösung, die man nur anwendet, wenn in einem Vers eine Hebung zu wenig steht. Die folgende Silbe wird dann einer schweren Taktzeit zugeordnet:
In diesem Fall könnte die Störung des Rhythmus in Version b aufgehoben werden, indem man sijnt mit zwei Silben ausspricht, also als sijn’t in Version c. Im Allgemeinen kann man stumme -e’s einfügen oder weglassen, um einen regelmäßigeren Rhythmus zu erhalten. In der dritten Strophe gibt es eine große Zahl Silben: Die gherne woude doghen tsuete ellende, die weghe ter hogher minnen lant
Wenn man alternierend liest, erhält man fünf statt vier Hebungen: Die ghérne wóude dóghen tsúete ellénde. Es ist aber nur Platz für vier Betonungen. Von den fünf Silben scheint wóu- die am besten geeignete zu sein, nicht betont zu werden. Dann müssen zwei aufeinander folgende Viertelnoten in Achtelnoten aufgeteilt werden:
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In der sechsten Strophe kommt ein unbetontes -e in segghe vor: Ic ségghe van mínnen énde ráde
Die Aufteilung macht in solchen Fällen manchmal einen künstlichen Eindruck, weil das unbetonte -e an einer Stelle erscheint, die man als betont erwarten würde (jedenfalls weniger schwach als van, siehe Beispiel a). Man kann eventuell auch die erste Viertelnote aufteilen (b). Oder man kann das stumme -e in segghe weglassen (c). Das klingt vielleicht doch noch am natürlichsten. Auch in den dreiteiligen Taktarten kann man Noten aufteilen oder zusammenziehen, wenn zu wenig oder zu viele Silben vorhanden sind. In Lied 40 zum Beispiel handelt es sich bei den ersten Versen der ersten Strophe um regelmäßige Jamben:
In der dritten Strophe sind es mehr Silben: Dat óns de mínne soe vérre sí, die óns met réchte soude síjn soe ná
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Die unbetonte Silbe von minne kann man einfach in der zweiten Note des kurzen Melismas g-f (sol-fa) unterbringen, einer Gruppe von zwei gebundenen Noten, bei denen die Bindung nun aufgehoben wird. Im zweiten Vers gibt es zwischen rech- und sijn drei unbetonte Silben. Dann müssen Noten aufgeteilt werden:
Eine andere Lösung besteht darin, die stummen -e’s in rechte und soude nicht auszusprechen. Das sind nur einige Beispiele möglicher Lösungen für Probleme, die Texte passend zu den Noten zu platzieren. Oft gibt es mehr als eine Möglichkeit. Die Anordnung der Texte ist mehr eine Frage der Erfahrung, des Stils und des Geschmacks als ein Gesetz, das sich an strenge Regeln halten muss. Unter der Internetadresse www.uantwerpen.be/ruusbroecinstitute-hadewijch kann man die Lieder dieser Ausgabe nachhören, in einer Aufnahme, die auf Basis der in diesem Kapitel dargelegten Rekonstruktionsmethode entstanden ist.
Zu dieser Ausgabe Anmerkungen zur Edition Die Edition basiert auf Handschrift A (Brüssel, Koninklijke Bibliotheek, 2879–2880), die auf ca. 1325–1350 datiert wird und etwa 50 Jahre älter ist als Handschrift C (Gent, Universiteitsbibliotheek, 941). Als Van Mierlo für seine Standardedition von Hade wijchs Werken zwischen diesen beiden Handschriften wählen musste, entschied er sich bei „etwa gleichen Verdiensten“ für C, weil er davon überzeugt war, dass „C schon so alt, wenn nicht sogar älter war als A“ (Van Mierlo Hg. 1925, 10). Seitdem haben alle Herausgeber und Übersetzer Van Mierlos Text als Ausgangspunkt gewählt. Da jedoch nun feststeht, dass A älter als C ist, haben wir uns dafür entschieden, diese ältere und gleichwertige Handschrift zu edieren. In Handschrift A kommen die Lieder nach den Briefen und Visionen und vor den Reimbriefen. Sie beginnen auf der Rectoseite von Folio 62 oben an der ersten Spalte und enden auf Folio 87r, etwas unter der Hälfte der zweiten Spalte. Der Text wurde in zwei Spalten geschrieben. Bis Folio 71v und von Folio 76r bis 77v weisen die Spalten jeweils 35 Zeilen pro Seite auf; von Folio 72r bis 75v und von Folio 78r bis 87r 28 bis 30 Zeilen pro Seite. Den Unterschied kann man daher erklären, dass die beiden äußeren Blätter der 10. Lage (Folio 70–76 und 71–77) von Schreiber A vorbereitet wurden, der bis dorthin die Handschrift angefertigt hatte, und die beiden inneren von Schreiber E, der auch die folgenden Lagen vorbereitete und beschrieb. Den Wechsel der Schreiber kann man in der siebten Zeile auf Folio 70 verso sehen, das ist V. 2 von Lied 19. Der Text beginnt mit einer drei Zeilen hohen und rubrizierten Initiale A. Wie es in der ersten Hälfte des 14. Jhs. beim Kopieren von Lieder üblich war, wurden die Verse hintereinander geschrieben und mit einem Punkt voneinander getrennt. Ein neuer Vers beginnt meistens mit einem Großbuchstaben, der oft rot markiert wird. Der Anfang einer neuen Strophe wird mit einer rubrizierten Lombarde angegeben, die eine Zeile (Kopist E) oder zwei Zeilen (Kopist A) hoch ist. Die Lieder sind mit römischen Ziffern nummeriert. Bei der Wiedergabe des Textes wurde so häufig wie möglich die Schreibung der Handschrift beibehalten. Nur wo deutliche Verschreibungen festgestellt werden konnten, oder wo der Text der Handschrift unverständlich ist, wurde eingegriffen. Wenn es möglich war, wurde als Grundlage dieser Eingriffe Handschrift C gewählt, in Ausnahmefällen auch auf die eng mit C verwandte Handschrift R. Die beiden Kopisten (vor allem E) haben eine auffällige Neigung, das -n am Ende von Verben (Plural- und Infinitivformen) wegzulassen. Obwohl dieses in brabantischen Texten des 14. Jhs. öfter vorkommt, wurde das wegen des besseren Lesbarkeit emendiert, außer, wenn das Subjekt ein Pronomen im Plural (wi [„wir“], si [„sie“]) ist, das unmittelbar auf das Verb folgt. Beide Schreiber (aber erneut vor allem E) neigen auch dazu, minnen zu schreiben, wenn man die Nominativ- oder Akkusativform minne erwarten würde, und
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minne, wenn die Genitiv- oder Dativform minnen naheliegend wäre. Da die Genitivoder Dativform minne ebenfalls möglich ist (Van Loey 1969, § 17 und 18), wurde im letzten Fall nicht eingegriffen, im ersten Fall dahingegen wohl. Inkonsequenzen im Reim wurden nicht normalisiert, außer wenn die Bedeutung das erforderte. Wenn Verse vergessen wurden, wurden diese nach Handschrift C hinzugefügt. Auch die 10. Strophe des 23. Liedes, die in der Handschrift A ganz fehlt, wurde nach Handschrift C ergänzt. Diese Ergänzungen werden im folgenden Abschnitt, „Textverbesserungen und Zweifelfälle“, besprochen. Darüber hinaus wurden folgende Anpassungen durchgeführt. Jedes Lied beginnt auf einer neuen Seite. Die römische Nummerierung der Lieder in der Handschrift wurden durch arabische Ziffern ersetzt. Die Strophen- und Verszahlen wurden hinzugefügt, auch die Leerzeilen zwischen den Strophen. Die Initiale A und die Lombarden, die den Anfang eines neuen Liedes angeben, wurden durch eine Großschreibung des Anfangsbuchstaben ersetzt. Der erste Vers wird in kleinen Kapitälchen gesetzt. Jeder neue Vers beginnt in einer neuen Zeile. Wörter am Beginn der Verse sind jeweils mit einem Großbuchstaben geschrieben, wenn an der Stelle ein neuer Satz anfängt. Namen von (göttlichen) Personen werden mit Großbuchstaben geschrieben. Alle Abkürzungen wurden stillschweigend aufgelöst. Die Schreibungen von u/v/w und i/j wurden an den heutigen Gebrauch angepasst. Wenn möglich wurde das auch für die Trennung von Wörtern getan. Wenn Enklisen oder Proklisen getrennt vom Hauptwort vorkommen, wurden sie an das Hauptwort angefügt (geve di [=ghevet ghi] wird gevedi). Zwischen den verschiedenen Formen von r und s wurde nicht unterschieden. .i. wurde als een (oder eine deklinierte Form von een) transkribiert, wenn es sich nicht um ein Zahlwort handelt. Die Interpunktion in der Handschrift wurde nicht übernommen, stattdessen wurde eine moderne Interpunktion verwendet. Korrekturen in der Handschrift, Unterstreichungen und Randbemerkungen wurden nicht angegeben: Dafür wird auf den Apparat in der Standardedition der Lieder von Van Mierlo (1942) verwiesen. Die Reihenfolge der Lieder in Handschrift A (und B) weicht von der Reihenfolge in Handschrift C (und R) ab: Lied 8 (Die tijt vernuwet ende tegheet) in diesen beiden letzteren Handschriften steht in A und B hinter Lied 19 (Dit nuwe jaer es ons begonnen). Das bedeutet, dass die Nummerierung der Lieder 8–20 in der vorliegenden Edition jeweils um eine Nummer von der Nummerierung abweicht, die seit Van Mierlos erster Ausgabe der Lieder (1910) gebräuchlich ist. Es wurde bei diesen Liedern jeweils die Nummerierung (vM) von Van Mierlo am Anfang des Kommentars hinzugefügt.
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Textverbesserungen und Zweifelsfälle Die Siglen A, C und R bezeichnen die Handschrift, in der die jeweilige Lesart vorkommt. Vor dem Zeichen < steht die Lesart dieser Edition, eventuell ergänzt durch die Angabe der Quelle (C, ein einziges Mal R), auf welcher die Lesart beruht. Ein Wort in Klammern, gefolgt von einem C, gibt an, dass dieses Wort in dieser Handschrift anders geschrieben wurde als in der vorliegenden Edition, in der die Lesart der Handschrift A so oft wie möglich beibehalten wurde. Nur im Zweifelsfall wurde ein Kommentar hinzugefügt. Der Gebrauch von Großbuchstaben im Apparat orientiert sich an den Handschriften; die Satzzeichen, die in der Edition hinzugefügt wurden, sind hier nicht notiert. Lied 1 2 nachte C < nacht A; 85 sinne C < sinen A Lied 2 37 om ghebruken C < onghebruken A Lied 3 4 te C < de A; 9 nie met mi en C < nie en A; 21 Wat C < Want A Lied 4 42 liefs C < lief A; 49 edelen C < edele A Lied 5 1 ende die vogheline C < ende vogheline A 10 wegen (weghen C) < wege A; 21 onghenoemder C < onghenoeder A; 38 selc C < sel A Lied 6 46 En C < Ende A Lied 7 24 nuwe C < nu A; 48 nuwe C < nu A; 57 alse C < alle A; 60 met nuwen moede in nuwen woede C < met nuwen woede in nuwen moede A Lied 8 4 onsteet C < onstect A; 6 Soude si C < Souden si A; 13 minnen C < minen A; 66 Soude si (Soudsi C) < Souden si A
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Lied 9 5 gheseghen < ghesegghen A: C und R haben hier ghenesen; 7 si hebbenne C < sine hebben A; 9 fehlt in A, hinzugefügt aus C; 22 onsien (ontsien C) < onsiet A; 35 pine en C < pine vore en A; 40 minen C < minnen A Lied 10 6 Beide C < Bide A; 12 minne C < mine A; 64 Opclemmen C < Op clemen A; 81 de nicht emendiert zu die, denn es handelt sich um eine Nebenform des Relativpronomens (siehe Van Loey 1969, § 37) Lied 11 17 vremden C < vren den A; 24 minne de (die C) lieve C < lieve de minne A: es ist wahrscheinlicher, dass Minne den Geliebten berührt und eins mit sich macht als umgekehrt; 32–33 Hoe hi sijn lief met minnen anestaert Dien minne met minnen hevet (heeft C) verladen C < Dien minne met minnen hevet verladen Hoe hi sijn lief met minnen ane staert A; 35 fehlt in A, hinzugefügt aus C Lied 12 12 doene C < tone A; 21 vreemde (vremde C) < vreende A; 50 mij C < mijn A: oder handelt es sich um ein frühes Beispiel einer jüngeren Dativform des Personalpronomens (siehe Van Loey 1969, § 26d)? Lied 13 37 die C < diere A Lied 14 40 went C < weent A Lied 15 7 wreden C < vreemden A; 45 omghinc C < ontghinc A Lied 16 15 de C < te A; 23 verdregen < verdreven AC: die Bedeutung erfordert verdregen, was durch den Reim bestätigt wird; 29 onthopenden C < onthopenen A; 54 wachten C < wachte A; 60 leder < lede AC: die Bedeutung scheint hier eine Komparativform zu erfordern, was durch den Reim bestätigt wird; 78 bettere (bitteren C) < betere A; 82 vremde C < uren de A Lied 18 55 int verwinnen kinnen C < kinnen int verwinnen A; 66 vremde C < uren de A
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Lied 19 38 creaturen (creatueren C) < creature A; 41 nuwe materie bliscap C < nuwe bliscap materie A; 51 werke C < werken A Lied 20 14 minne C < minnen A; 16 minnere (minnare C) < mindere A; 21 sin C < sijn A; 35 verlate C < verlaten A Lied 21 46 gheve der minnen C < gheve minnen der minnen A; 54 meinen (meynen C) < meine A; 82 Die C < Dien A Lied 22 11 doegen (doghen C) < doege A; 26 een C < in A; 29 wostine (wuestine C) < wstinen A; 46 mi en soude C < mi soude A; 50 claghen C < claghe A; 57 dats C < dat A; 66 minne C < minnen A; 72 ende C < et A Lied 23 7 fehlt in A, hinzugefügt aus C; 29 mochte: Apokope des -n (siehe Van Loey 1971, § 105d); 70 ons God beraden C < ons beraden A; 83 minne C < minnen A; versumen C < versinne A: der Kontext erfordert versumen, was durch den Reim bestätigt wird; 85 ware claer C < clare waer A: das chiastische Spiel mit dem Reim erfordert die Reihenfolge in C; 91–100 Strophe 10 fehlt in A und ist hier nach C eingefügt; vielleicht ist sie korrupt, denn im Gegensatz zu dem, was in allen anderen Strophen der Fall ist, haben die ersten beiden Verse keinen chiastischen Reim; 101 alle Handschriften haben g(h)ewerc, aber Van Mierlo (Hg. 1942, Bd. 1, 150) schlägt vor, ghemerc zu lesen, damit das chiastische Reimschema erhalten bleibt; 104 wrachte C < wrachten A; 107 orewoede C < orewoeden A; 113 minne C < minnen A Lied 24 8 laghen C < langhen A; 9 moet C < met A; 21 gheraden C < gheraken A; 37 minne C < minnen A; 45 mijns C < sijns A; 64 ic C < inc A Lied 25 8 cest (ceste C) < cost A; 16 Dan C < Die A; 40 nuwen C < uwen A; 42 si C < hi A; 46 mine C < inne A; 49 ghenuechte C < begherte A: der Kontext erfordert ghenuechte; 68 minne C < minnen A Lied 26 6 ghestade rouwen C < ghestaden rouwe A; 13 mi iet lief C < mi lief A; 28 hadde C < hadden A; 32 gichte (ghichte C) < gichten A; 49 Waer ist Konjunktion: „aber“ (MNW 9; 1540); 59 goet C < groet A; 73 redene C < redenen A; 79 Ende doetse C < Ende de doetse A
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Lied 27 4 hen C < en A; 8 soude sijn gheheert (gheeert C) C < soude gheheert A; 16 minne C < minnen A; 26 minne C < minnen A; 33 Dien C < Die A; 49 coste C < corde A; 66 doreminnen C < dore minne A; 72 mine C < minne A Lied 28 3 So C < Si A; 15 de starcste (die staercste C) < de de starcse A; 18 minne C < minnen A; 21 und 27 hen ist Nebenform von hem (Van Loey 1969, § 28); 46 wide weghe cont C < wide weghe wide comt A; 58 minne C < minnen A; 64 Si C < So A; 73 macht C < cracht A Lied 29 16 volmaket es C < volmaket A; 17 sijn doen es C < sijn es A; 23 Wat C < Want A; 32 hen: h am Anfang hinzugefügt (Van Loey 1971, § 113) 41 vader C < vader vader A; 47 Doe (Doen C) < Die A; 70 Dan mi werde dat god versiet C < Nu werde god dat versiet A; 75 wracte: ct-Schreibung für cht (Van Loey 1971, § 111); 86 Met C < Mer A; 90 Dat C < Daer A; 92 offerden C < offerde A Lied 30 25 minnen C < minne A; 29 ane hem scouwen C < ane scouwen A; 30 Die C < Dies A; 36 roude R < ron A (ran C); 38 Ic C < In A; 39 mine C < minne A; 54 den C < ten A; 84 redene C < redenen A; 85 minnen C < minne A Lied 31 6 gheslachte C < gheslachten A; 21 mane C < nane A: Stock des m vergessen; 23 toen (toene C) < doen A: die Anwesenheit des toen- und sanc-Motivs in den folgenden Strophen macht diese Lesart wahrscheinlicher, und daher auch die folgende Emendation: bleven C < leven A; 48 minne C < minnen A Lied 32 35 Hi C < Hine A; 36 quetste C < quetse A; 38 Want C < Wat A; 41 wille: Apokope des -n (Van Loey 1971, § 105d); 45 diere C < dien A; 64 Eer C < Ende A Lied 33 3 moete: Apokope des -n (Van Loey 1969, § 105d); 22 datti A: über ti steht hi; 29 Dats C < Dat A; menne C < men A: die Bedeutung erfordert eine Verneinung – oder muss man eine versteckte Enklise annehmen (men-en > men)?; 50 minne C < minnen A; 52 nuwen C < uwen A; 56 verslinde (verslende C) < verslinden A Lied 34 20 soutstu C < soutsu A; 22 minne C < minnen A; 27 Minne C < Minnen A; 29 Minne C < Minnen A; 36 minne C < minnen A; 61 minne C < minnen A; 71 minne C < minnen A; 74 Die minne C < Die minnen A
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Lied 35 5 minne C < minnen A; 24 minne C < minnen A; 33 minne C < minnen A; 60 doresnijt C < dore sijnt A; 69 gheleide C < gheleiden A Lied 36 30–31 Wet alle wale Die hevet voldaen C < Die hevet voldaen Wet alle wale A: Reihenfolge nach C wegen des Reimschemas; 48 bekinnen C < ghewinnen A; 62 ghebrukene C < ghebruke A; 72 und 73 hen ist eine Nebenform von hem (Van Loey 1969, § 28); 84 minne onthiet C < minnen onthiet A; 89 minne C < minnen A; 100 minne C < minnen A; 104 si C < hi A; 111 minne C < minnen A; 116 minne C < minnen A; 125 minne C < minnen A; 141 minne C < minnen A; 145 minne C < minnen A Lied 37 21 minne C < minnen A; 22 minne C < minnen A; 30 sterken (stercken C) < streken A; 41 dat minne C < dat minnen A Lied 38 7 minne C < minnen A; 11 ons vele ter C < ons ter A; 23 Wat C < Want A 28 sonder ghetal C < al openbaer A; 33 minne C < minnen A; 50 Dat es C < Dat es dat es A; 55 minne C < minnen A; 56 minne C < minnen A Lied 39 9 minne C < minnen A; 30 heffene: h am Anfang hinzugefügt (Van Loey 1971, § 113); 43 Die minne suetste C < Die minnen suetse A; 46 minne C < minnen A; 55 ic in minnen C < ic minnen A; 86 gheve C < gheven A: aus hi in V. 87 scheint, dass Singular gemeint ist; minne C < minnen A; 91 minne C < minnen A Lied 40 9 Wie C < Die A; 11 minne C < minnen A; 24 hochte: h am Anfang hinzugefügt (Van Loey 1971, § 113); 29 vergelde (verghelde C) < vergelden A; 33 minne C < minnen A; 47 volvoet C < voldoet A; 55 des troens C < die es troens A; 57 des troens C < die es troens A; 59 Machmen iet C < Mach iet A; 63 wisten C < wissten A Lied 41 16 Hi levet wel C < Hi wel A; 23 verdreven C < vergheven A; 26 comt C < cont A Lied 42 9 ontherven: h am Anfang hinzugefügt (Van Loey 1971, § 113); 18 vertrect C < voltrect A; 21 nuwen C < uwen A; 43 voeden C < voede A
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Lied 43 2 swaer C < sware A: grammatischer Reim; 4 baer C < bare A: grammatischer Reim; 5 meneghe vare C < meneghen vaer A: grammatischer Reim; 33 Mi C < Mijn A: oder handelt es sich um eine frühe Form einer jüngeren Dativform des Personalpronomens (siehe Van Loey 1969, § 26d)? 49 Ic woude C < In wondere A; 66 hulpe < hulpen AC; 80 gelovet (ghelovet C) < gelonet A; 81 minne C < minnen A; 84 scachte C < sachte A; 85 herte < herten AC; 90 minne C < minnen A; 93 minne C< minnen A; 99 minne C < minnen A; 104 minne C < minnen A Lied 44 15 de: abweichende Form des Demonstrativpronomens die (Van Loey 1969, § 32b); 49 geweldeche: die merkwürdige Schreibweise wurde dadurch verursacht, dass der Kopist zuerst geweldechede geschrieben hatte und dann de expungiert hat Lied 45 7 der C < den A; 13 minne C < minnen A; ochte (ocht C) < ochte ochte A; 17 minne C < minnen A; 22 mi meest C < ghi meest A.
Anmerkungen zur deutschen Übersetzung und zum Stellenkommentar Die Übersetzung soll ein Hilfsmittel sein, den mittelniederländischen Text zu verstehen. Sie soll es dem Leser ermöglichen, den Zugang zu Hadewijchs Poesie in der ursprünglichen Sprache zu erleichtern. Es wird nicht angestrebt, den Reim, den Rhythmus und die Alliterationen des ursprünglichen Textes in der Übersetzung wiederzugeben. Die Übersetzung soll eine gut lesbare Übertragung in modernem Deutsch bieten und gleichzeitig dem mittelniederländischen Text so nahe wie möglich bleiben. Zwischen diesen beiden Prinzipien muss man manchmal Entscheidungen treffen, die wir im Folgenden erläutern. Die Reihenfolge der Verse in der Übersetzung entspricht weitgehend dem mittelniederländischen Text. Da dieses wegen der Wortstellung im Satz nicht immer möglich ist, folgt die Übersetzung dem Prinzip der Satzentsprechung, d. h. ein deutscher Satz stimmt mit dem mittelniederländischen Satz überein. Wegen des Reims verwendet Hadewijch am Ende eines Verses manchmal Füllwörter, wie zum Beispiel geheel („ganz“) oder oppenbaer („offenbar“), die zuweilen einen vorher ausgedrückten Gedanken verstärken. Solche Wörter werden ins Deutsche übersetzt, es sei denn, der deutsche Satz wird dadurch unverständlich. Darüber hinaus gibt es Wörter, die manchmal als Füllwörter verwendet werden, wie die Wörter nature (oftmals auch der minnen nature) und wesen. Die lateinischen Termini natura und essentia sind philosophische Begriffe mit einer besonderen Bedeutung. Während natura sich auf etwas bezieht, was für den Menschen wahrnehmbar ist, ver-
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weist essentia („Wesen“) auf die Essenz von etwas, unabhängig davon, wie der Mensch es erfährt. Obwohl nature und wesen in Hadewijchs Liedern des Öfteren keine besondere Bedeutung zu haben scheinen, haben wir, wenn möglich, beide Wörter übersetzt. Es wird angestrebt, Schlüsselbegriffe wie minne, begherte, fiere, orewoet oder storme an verschiedenen Stellen und in verschiedenen Liedern jeweils mit denselben deutschen Wörtern zu übersetzen. In manchen Fällen entspricht dem mittelniederländischen Wort jedoch ein großes Spektrum an deutschen Wörtern. So kann das niederländische Wort storme „Sturm“ bedeuten, aber auch „Angriff“. Und das sehr häufig vorkommende Adjektiv hoghe (z. B. in hoghe minne) besitzt nicht nur eine räumliche, sondern auch eine soziale und moralische Komponente. Statt durchgängig eine konsequente Übersetzung zu wählen, wird in den meisten dieser Fälle die Übersetzung an den jeweiligen Kontext, in dem das Wort verwendet wird, angepasst. Die in den Liedern vorkommenden Personifikationen wie minne, begherte oder ghenuechte sind im Mittelniederländischen feminin. In der deutschen Übersetzung werden zwar, wenn möglich, feminine Entsprechungen gewählt, aber an manchen Stellen ließen sich maskuline oder neutrale Wörter nicht vermeiden. Das Wort lief ist im Mittelniederländischen genderneutral und wird mit „Liebster/Geliebter“ bzw. „Liebste/ Geliebte“ übersetzt. Das führt an vielen Stellen, auch bei dem Gebrauch von Pronomen, zu Vereindeutigungen, während im mittelniederländischen Text beide Geschlechter und im engeren Sinn „Gott“ und/oder die „Minne“ und/oder der/die „Minnende“ gemeint sein können. Hierzu ist es hilfreich, jeweils auch immer den mittelniederländischen Text zu betrachten. Für bestimmte Kernwörter haben wir feste Ausdrücke im Deutschen gewählt: ghenuechte als „Vergnügen“, gebruken als „Genießen“, redene als „Vernunft“, begherte als „Verlangen“. Eine besondere Schwierigkeit ergab sich bei der Übersetzung des Verbs minnen. Statt die gängigere Übersetzung „lieben“ zu bevorzugen, haben wir uns dafür entschieden, nicht nur das Substantiv minne als „Minne“, sondern auch das Verb minnen mit dem – ungewöhnlicheren – deutschen Verb „minnen“ zu übersetzen, damit das häufig verwendete Stilmittel des Polyptotons erhalten bleibt. Die deutsche Übersetzung von Textabschnitten aus Hadewijchs Briefen und Visionen, die in der Einführung und in den Kommentaren genannt werden, basieren auf den Editionen und Übersetzungen Hofmanns, manchmal mit leichten Änderungen. Lateinische Wörter im mittelniederländischen Text werden ins Deutsche übersetzt, außer im ersten Lied, in dem sich der lateinische Refrain nicht immer leicht mit dem volkssprachigen Text verbinden lässt. Über die Edition in der linken Spalte wird der zweisprachige Charakter dieser Lieder ersichtlich. Die Übersetzung der Bibelzitate folgt so nahe wie möglich dem Latein der Vulgata, die im 13. Jh. als Standardübersetzung galt und mit der Hadewijch aller Wahrscheinlichkeit vertraut war. Um die Lieder so zu verstehen, wie sie ursprünglich gemeint waren, reicht eine Übersetzung ins moderne Deutsch nicht aus. Wir haben daher zu jedem Lied einen durchlaufenden Kommentar geschrieben, der dem heutigen Leser helfen kann, die ursprüngliche Bedeutung des Textes zu verstehen. Der Kommentar beginnt jeweils mit einer kurzen Wiedergabe des Inhalts und der Struktur des Liedes. Dann folgt
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eine Besprechung, bei der in sinnvollen Einheiten eine oder mehrere Strophen, die Entwicklung des Themas, die Motive und die intertextuellen Referenzen besprochen werden. Auch syntaktische Doppeldeutigkeiten und sich möglicherweise daraus ergebende Übersetzungsprobleme werden im Kommentar angesprochen. Der Kommentar wurde so formuliert, dass der Leser die Lieder in frei wählbarer Reihenfolge lesen kann. Sich daraus ergebende Wiederholungen haben wir in Kauf genommen. Eine Besprechung der Form und – wo vorhanden – Melodie des Liedes folgt in einem separaten Kommentar im Anschluss an die Notenbeispiele (III).
Kommentierte Bibliographie Hadewijch und ihre Welt Die historische Figur Die Hadewijch-Forschung beginnt mit Publikationen von Mone (1838, 195–197 und 217–218), Willems und Snellaert im Jahr 1838. Zur Hadewijch-Rezeption im 19. Jh. siehe vor allem Reynaert 1988. Auf die Randnotiz Hadew[ijch] i[n]cepit in der Handschrift Brüssel, Koninklijke Bibliotheek 2879–2880, folio 47 recto (bei Brief 11) machte zuerst Vercoullie (1895, 34) in seiner diplomatischen Edition von Hadewijchs Prosa aufmerksam. Über den Beitrag von Angillis zur frühen Hadewijchforschung siehe Reynaert 1988, 162–167. Das Zitat aus der Bücherliste stammt von Stallaert 1857, 191. Dieses wichtige Inventar ist in der Literaturgeschichte als ‚die Bücherliste aus Rooklosterʻ bekannt, aber Kwakkel 2002, 11–45 und 188–189, hat gezeigt, dass diese Lokalisierung nicht über jeden Zweifel erhaben ist und dass die Liste auch aus dem Kartäuserkloster in Herne (südwestlich von Brüssel) stammen kann. Angillis machte seine Entdeckung 1858 bekannt. Die erste, diplomatische Ausgabe mit dem Titel Werken van Zuster Hade wijch publizierten Heremans & Ledeganck (1875) und Vercoullie (1895; 1905). Ruelens’ Hypothese zur Identität Hadewijchs kommt zuerst in einer Rezension von Heremans (1875) vor. Der Aufsatz, den er 1888 über seine Hypothese schrieb, erschien erst 1905 bei Vercoullie, xxi–xcvi. Pomerius’ Text über die Entstehung Groenendaals mit Lebensbeschreibungen Jans van Ruusbroec und dessen Schüler Jans van Leeuwen wurde 1885 anonym von dem Bollandisten J. B. de Leu herausgegeben. Eine mittelniederländische Version wurde von Verdeyen (1981) veröffentlicht. Hinsichtlich der literarhistorischen Situierung Hadewijchs hat vor allem Van Mierlo (1921 und 1924) für einen Durchbruch gesorgt. Seine eigenen und ziemlich spekulativen Versuche, das Bild Hadewijch zu präzisieren, indem er sie als Führerin der Beginen in Nijvel lokalisierte (siehe vor allem Van Mierlo 1921–1922), hat der Antwerpener Jesuit nach und nach (und zu Recht) preisgegeben. Neuere alternative (und sich gegenseitig widersprechende) Hypothesen wie die von Hendrix (1978), Scheepsma (2000), Faesen (2003, 14–23 und 2004), Wilbrink (2006, 270–289), Devreese (2010) und Malfliet (2013) überzeugen ebensowenig: Zu Hendrix siehe Reynaert 1980, 280–284; zu Scheepsma, Faesen, Wilbrink und Devreese: Willaert 2013; zu Malfliet: Willaert 2014. Zu der Liste der Vollkommenen siehe Dros & Willaert Hg. 1996, 150–163 (Text) und 207–213 (Kommentar). Über die Herren von Breda siehe Boeren 1962, 1964 und 1965. Die hier vorliegende Darstellung weicht stark von Boerens Hypothesen ab und kombiniert die Interpretationen in ONB 2000 (freundlich bestätigt von Frau Geertrui van Synghel in einer Mail vom 13. Januar 2005) mit der zu beherzigenden Sichtweise Van Oostroms (2002). Dass mittelalterliche Klausnerinnen Menschen, die vor ihren
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Fenstern niederknieten, Gottes Gnade zu Teil werden lassen konnten, wird in Mulder-Bakker 2005 betont (siehe vor allem S. 197). Zu Robert le Bougre siehe: Haskins 1929, 193–244, und Despy 1980; zur Identifikation der von Robert le Bougre getöteten Begine mit Alaydis aus Kamerijk siehe Brandsma 1925–1926. Zur Notiz auf der Innenseite des vorderen Einbandes der Genter HadewijchHandschrift siehe Van Mierlo Hg. 1925, 37–38 und 127–136, sowie Van Mierlo 1927. Über das Register von Sint-Maartensdal siehe Obbema 1996, 103–120. Reynaert (1982) ging auf Hadewijchs hohe Abstammung ein. Er wies zu Recht darauf hin, dass einige Abschnitte, in denen Hadewijch höfische Metaphorik benutzt, aus der mystischen Tradition heraus erklärt werden sollten und sicher nicht autobiographisch interpretiert werden dürfen. In Bezug auf die Hypothese, dass Hadewijch zum Geschlecht Schoten-Breda gehört haben soll, siehe Ruh 1993, 163 und 165–166. Davor schon hatte Van Mierlo (1921, Bd. 1, 456–460) angenommen, dass Hadewijch mit diesem Geschlecht verwandt gewesen wäre. Siehe zu dieser Frage auch Boeren 1962, 28–32 und 1965, 219–224. Die neueste größere Übersicht über die Beginenbewegung in den niederen Landen bietet Simons 2001; ältere Arbeiten sind Mens 1947 und McDonnell 1954; grundlegend ist Grundmann 1935, im Besonderen 170–354. Zur Herkunft der religiösen Frauen siehe Grundmann 1935, 188–198, und Mens 1963, 380–401, die der Meinung sind, dass die Rekrutierung ursprünglich nahezu ausschließlich in höheren gesellschaftlichen Milieus erfolgte (Adel, städtisches Patriziat); eine nuanciertere Sichtweise findet man in Simons 2001, 91–104, der jedoch ebenso behauptet, dass die Rekrutierung aus den niedrigeren sozialen Schichten vor allem um und nach der Mitte des 13. Jhs. stark zugenommen zu haben scheint. Zu dem Terminus mulieres religiosae siehe Mens 1947, 44, Anm. 18 und 315–319, und Simons 2001, 47. Den Ausdruck ,regular leben ohne Regel‘ verdanken wir dem ausführlich dokumentierten mise-au-point über semireligiöse Lebensformen bei Elm (1998). In Bezug auf die ursprünglich negativ konnotierte Bedeutung des Wortes ,Begineʻ siehe Gysseling 1985, Simons 2001, 121–123 und Simons 2014. Bezüglich des Lebens und Werkes Jakobs von Vitry siehe Longère 1997; zu Maria von Oignies siehe Geyer 1993, Ruh 1993, 85–90 und Mulder-Bakker Hg. 2006; über die Beziehung zwischen Jakob von Vitry und Maria von Oignies siehe McGinn 1998, 33–41. Die Vita Marias von Oignies steht nur in der alten Ausgabe von Papebrochius (1707) zur Verfügung, eine moderne Übersetzung bieten King und Feiss 2003. Die Nachricht von der Erlaubnis der Lebensweise der mulieres religiosae teilte Jakob von Vitry im Oktober 1216 in einem Brief an das Zisterzienserinnenkloster von Aywières mit (Huygens Hg. 1960, 38). Jakobs Predigt, aus der über die Lebensweise frommer Frauen zitiert wurde, gab Greven 1914, 43–49, heraus.
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Hadewijch als Meisterin Über die Einheit von mores und litterae im mittelalterlichen Unterricht im Allgemeinen siehe Jaeger 1987 und 1994, und im Besonderen im Kontext des Wissenstransfers von und an Frauen Mulder-Bakker 2004. Über die literarische Kultur der frühen mulieres religiosae siehe Goossens 1994–1995 und Simons 1999. Über die Bedeutung des Gedächtnisses für Hadewijch und ihre Freundinnen: Willaert 2004 und 2009. Hadewijchs Wissen über die Bibel wird von Reynaert 1987 besprochen. Die Quellen, von denen feststeht, dass Hadewijch sie in ihren Texten verarbeitet hat, werden aufgezählt bei Willaert 1987, 57–59. Reynaert 1981a bietet ein beeindruckendes Bild von den Traditionen der Bibel, der Patristik, der mystischen und höfischen Literatur im 12. Jh., welche die Basis für Hadewijchs Œuvre bilden. Zu dem Begriff schola caritatis siehe den Kommentar zu Lied 13. Das Zitat von Jaeger findet man in Jaeger 1987, 605, die Passage aus Hugo von Sankt Viktor, auf die dieser zurückgreift, steht in De institutione novitiorum VI (Patrologia latina 176, 932D). Übersetzt lautet diese: „In guten Menschen kommt ja in irgendeiner Weise die Form von Gottes Gleichnis zum Ausdruck, und darum wird uns, wenn wir ihnen folgen, ein Stempel aufgedrückt, sodass auch wir nach Gottes Ebenbild geformt werden“.
Hadewijch und die Minnemystik Ein wichtiges Standardwerk über die religiöse Geschichte im Mittelalter, mit ausführlicher Berücksichtigung der Entwicklungen im Mönchwesen, ist Southern 1970. Bahnbrechende Studien über die monastischen Erneuerungen im 12. Jh. sind die psycho-historischen Analysen von Jean Leclercq aus den Jahren 1957 und 1983. Eine englischsprachige Übersicht der Verbreitung neuer religiöser Lebensweisen und der Entwicklung neuer, verinnerlichter Spiritualität in der Zeit bietet McGinn 1985, 194– 230. Eine gute Übersicht auf Deutsch findet man bei Ruh 1990, 208–406 und StörmerCaysa 1998. Eine gute Einführung in die Renaissance des 12. Jhs. bieten Benson, Constable & Lanham Hgg. 1982. Duby 1992 grenzt die eigene Art des Zisterzienserordens deutlich von der benediktinischen Tradition ab und wählt dabei als Ausgangspunkt die gegensätzlichen Kunstauffassungen in beiden Milieus. Die spirituellen Besonderheiten dieses Ordens bespricht Eberl 2002. Verdeyen 2001 beschreibt, wie in den Gesprächen zwischen Bernhard von Clairvaux (1090–1153) und Wilhelm von St. Thierry (1075/80–1148) im Krankenzimmer im Kloster von Clairvaux die westliche Liebesmystik entsteht. Zu Bernhard von Clairvaux als Begründer der westlichen Mystik siehe auch McGinn 1994, 158–224 und Dinzelbacher 1998. Für eine deutsche Übersetzung des Hohelieds von Wilhelm von St. Thierry, siehe Winkler 1994, für eine englische Übersetzung siehe Hart 1970. Bernhards Sermones super Canticum („Predigten über das Hohelied“) wurden von Leclercq u. a. 1957–1958 herausgegeben.
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Über die gleichzeitige Entwicklung der Mystik und der Scholastik im 12. Jh. siehe Bauer 2002, mit einer besonderen Aufmerksamkeit für die Beziehung zwischen den zentralen Akteuren, die diesen beiden Strömungen Form gegeben haben, nämlich Bernhard und Abelard. Verdeyen 2001, 39–47, befasst sich mit dem Streit zwischen Wilhelm von St. Thierry und Abelard, der ersterem zufolge, den Glauben mit einem blanken Schwert zerstörteʻ. Über den besonderen Anteil der Schule von Sankt Viktor in der neuen monastischen Spiritualität siehe Chase 2003. De quattuor gradibus violentae caritatis des Richard von St. Viktor wurde von Dumeige 1955 herausgegeben. Das Werk wurde 1969 von Margot Schmidt ins Deutsche übersetzt. Bynum 1982, 135 weist darauf hin, dass die neue affektive Spiritualität, die die Sprache des Hoheliedes verwendet, eine ,Feminisierung der religiösen Spracheʻ nach sich zieht. Eine schöne, auf Niederländisch erschienene Studie über die Braut aus dem Hohelied als religiöses Vorbild in der Monastik des 12. Jhs. bietet Kingma 1993. Bynum 1987 bespricht die Aneignung dieser neuen Spiritualität durch die mulieres religiosae. Für eine gute Darstellung von Hadewijchs Spiritualität vor dem Hintergrund der monastischen Tradition im 12. Jh. siehe Mommaers 2004, 58–84, der nacheinander den Einfluss Bernhards von Clairvaux, Wilhelms von St. Thierry und Richards von St. Viktor bespricht. Auch McGinn 1998 behandelt die Spiritualität der mulieres religiosae (S. 152–198) und geht tiefer auf die Mystik von drei Beginenautorinnen ein, Hadewijch, Mechthild von Magdeburg und Marguerite Porete (S. 199–265). Zu diesem letzten Thema auf Deutsch siehe Ruh 1977. Eine eingängige Zusammenfassung des mittelalterlichen Mensch- und Weltbildes ist der Klassiker von Lewis 1971. Eine tiefergehende Darstellung der mittelalterlichen Seelenlehre, die auch die Diversität in philosophischen Auffassungen berücksichtigt, bietet Decorte 1994. Zur Auffassung der menschlichen Seele als Bild Gottes aus der Perspektive der Geschichte der Spiritualiät siehe McGinn 1985, 312–329. Cousins 1987 stellt die Bedeutung der imitatio Christi in der mittelalterlichen Devotion dar.
Hadewijchs Lieder Überlieferung Die neueste Übersicht der Handschriften A, B und C bietet Kwakkel 1999; für Handschrift R siehe Hendrickx (Hg.) 1994, 65–69. Über die wichtige Rolle der Kartäuser in Herne für die Verbreitung der geistlichen Literatur im 14. Jh. siehe Kwakkel 2002. Zu dem Einfluss Hadewijchs auf Ruusbroec siehe Reynaert 1981b. Die Auffassung, dass zwischen dem Leben Hadewijchs und der Veröffentlichung ihrer Werke viel Zeit gelegen hat, stammt von Ruh (1993, 161) und ist einer der Argumente Scheepsmas, Hadewijch an den Anfang des 14. Jhs. zu datieren (Scheepsma 2000, 669–671). Zu den Überlieferungschancen mittelniederländischer Kodizes siehe Obbema 1996, 80–82 und 91–102; siehe zu den Beginen auch Simons 1999, 167–174, der behauptet, dass ihre
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Handschriften viel weniger Chancen hatten, erhalten zu bleiben als andere. Zu Autorenhandschriften mit dem Werk Jans van Ruusbroec siehe Warnar 2007, 301–313; mit Werken Jans van Leeuwen siehe Geirnaert & Reynaert 1993, 191–193. Zum Lob des Jan van Leeuwen über Hadewijch siehe Axters Hg. 1943, 41–42. Willaert 2008 behandelt die Überlieferung und die Zusammenstellung der großen Hadewijch-Handschriften im Mittelalter.
Struktur der Sammlung Die Hypothese von Bosch 1974, nach der Hadewijch ihre Sammlung nach einer Zahlensymbolik zusammengestellt haben soll, wurde von Reynaert 1980, 285–287 überzeugend widerlegt. Die genaue Bedeutung des lateinischen Wunsches zur Heilung im ersten Lied behandelt Claes 1976. Zu der Sequenz Mariae praeconio als Quelle und Vorbild für Hadewijchs 45. Lied siehe Van Mierlo 1943, Truijen 1946, Grijp 1992 und Daróczi 2007, 183–190. Eine Interpretation der letzten Strophe im 45. Lied bieten Faesen 2000, 58–60, Faesen 2003, 83 und Willaert 2010. Dass Thibaut de Champagne und Reinmar von Zweter selbst eine Sammlung ihrer Lieder zusammengestellt haben, kann man bei Huot 1987, 64–66, und Wachinger 1991, 17, lesen. Zu der Möglichkeit, dass die Lieder nicht nur gesungen, sondern auch gelesen wurden, siehe Green 1994, 166–168.
Formen Zu der dreiteiligen Strophe des höfischen Minneliedes siehe De Paepe 1972, 45–46. Zu den Übereinstimmungen zwischen der Lyrik Veldekes und der Hadewijchs siehe vor allem Frings & Schieb 1945–1946. Die Übereinstimmungen zwischen Hadewijchs Liedern 6 und 7 und Lied 14 des Heinrich von Veldeke wurden zuerst von Willaert 1995, 75–76, behandelt. Zu ,Reihenstrophenʻ in der romanischen Lyrik siehe Ranawake 1976, 105–120. Zu der Sequenz Mariae praeconio als Vorbild für Hadewijchs 45. Lied siehe die Literatur, die wir oben unter der Überschrift „Struktur der Sammlung“ genannt haben. Auf den Zusammenhang zwischen den Liedern 33 und 37 und der lateinischen Hymne wies Willaert 1984, 246, zuerst hin. Den Verweis auf Jesu dulcis memoria verdanken wir der Musikwissenschafterlin Ike de Loos (Utrecht). Siehe zu dem lateinischen Lied Gilson 1932, 39–57, Wilmart 1944 (wir zitieren das Lied nach der Edition auf S. 146–155) und Lausberg 1967. Die Anekdote über Christina van Stommeln findet man in Wilmart 1944, 96–97. Man hat angenommen, dass Hadewijch das Lied auch in Z. 111–112 des 15. Briefes zitiert. Ihre Aussage Daer af sprect Sente bernaert: Jhesus es honech inden mont wäre durch den Vers Jesus … in ore mel mirificum in der 18. Strophe des lateinischen Liedes inspiriert worden (siehe Lievens 1994, 235–236). Es erscheint
Kommentierte Bibliographie
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jedoch wahrscheinlicher, dass sie dieses Zitat direkt der 15. Predigt auf das Hohelied des Bernardus entlehnte (siehe Willaert 1987, 59). Zu dem Genre des rondellus siehe Spanke 1930a und Stevens 1986, 187–196. Das Musikleben in Notre-Dame in Paris bespricht Wright 1989. Der klassische Artikel über mittelalterliche Kirchentänze ist Gougaud 1914. Siehe auch Spanke 1930b, Sahlin 1940, 142–153, Backman 1952, 50–131 und 154–161, sowie Horowitz 1989. Der rondellus Annus renascitur wurde von Anderson o. J. (M 34) ediert. Schmelzer (2008, 61–63) spricht sich sehr nachdrücklich für die Möglichkeit aus, dass manche der Lieder Hadewijchs auch als Tanzlied funktioniert haben. Hadewijchs Natureingänge kommen ausführlich bei Schottmann 1971, Reynaert 1981a, 259–272, und Willaert 1984, 88–135, zur Sprache. Über die tornada oder reprise bei Hadewijch siehe De Paepe 1972, 41, und Willaert 1984, 224–239. Der erstgenannte Autor behandelt auch die concatenatio (De Paepe 1972, 42).
Motive Dieses Kapitel greift auf die Ergebnisse Willaerts zurück (1984, 135–224). Willaert bespricht zahlreiche Motive, die in den Liedern vorkommen und vergleicht diese ausführlich mit dem grand chant courtois. Eine Analyse der Bildfelder in Hadewijchs Texten und deren Wurzeln in der weltlichen sowie in der religiösen Tradition bietet Reynaert 1981a. Reynaert 1987 bespricht, wie die Bibel in Hadewijchs Texten verarbeitet wurde. Zu der Art und Weise, mit der Hadewijch, und auch die beiden anderen Beginenautorinnen, Mechthild von Magdeburg und Marguerite Porete, die weltliche und die religiöse Texttradition in einer höfischen Minnemystik zusammenfließen ließen, siehe Newman 1995. Der Begriff ,Registralitätʻ wurde in de Hadewijchforschung von Willaert (1984) eingeführt. Für eine Erläuterung des Begriffs ,Mystagogieʻ in der Spiritualitätsforschung siehe Waaijman 2001, 858–861. Fraeters 1999 bespricht den Wert dieses Konzepts für ein gutes Verständnis der Kommunikationssituation in Hadewijchs Werk. Eine Besprechung der verschiedenen rhetorischen Mittel, die Hadewijch in ihren Liedern als mystagogisches Mittel einsetzt, bietet Fraeters 2014.
Führerin und Reisegefährtin Für dieses Kapitel bildet Willaert 1984, 298–359, die Grundlage. Er bespricht die Funktion von Hadewijchs Liedern aus zwei Perspektiven: Untersuchung der Präsentation des Subjekts und der Angesprochenen sowie der Sprachhandlungen der Ich-Figur. Fraeters 2013 illustriert die Dynamik zwischen ,magistralem Ich‘ und ,exemplarischem Ich‘ anhand einer Besprechung von Lied 7.
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Einleitung
Die Lehre der Minne Gute Einführungen zu der mystischen Lehre Hadewijchs bieten Heszler 1994; McGinn 1996, S. 199–265; Mommaers 2004. Über die Bedeutung des alles umfassenden Begriffs ,Minne‘ bei Hadewijch – der Satz De minne es al („Die Minne ist alles“) erscheint am Ende des 25. Briefes (Van Mierlo Hg. 1947, 216) – wurde im Laufe von 170 Jahren Forschung zu Hadewijch viel geschrieben. Te Winkel 1922, 439–440, betrachtet die allgegenwärtige Anwesenheit des einen Wortes minne in Hadewijchs Dichtung als ein Zeichen der Armut in Bezug auf den Wortschatz und außerdem als Zeichen der Hysterie. Für Van Mierlo Hg. 1942, II, 115, ist Minne ohne weiteres mit Gott gleichzusetzen. Van der Zeyde 1934 sieht Minne als eine amorphe Entität, das ,große Verlangen‘. Nach De Paepe 1967, 179–181 und 258–262, muss die Minne in erster Linie als eine psychische Erscheinung verstanden werden. Er umschreibt sie als „das dynamische Liebeserleben der menschlichen Seele mit Gott“. Mommaers 1973, 479, findet, dass De Paepes Definition zu wenig Raum für den transzendenten Aspekt der Minne bietet. In ähnlicher Auffassung betrachtet auch Guest 1975, 5–15, die Minne als einen komplexen Begriff, der sowohl Gott als die Liebe des Menschen zu Gott in sich trägt. In den 1980er Jahren wird die Suche nach einer eindeutigen Definition der Minne aufgegeben. Reynaert 1981a, 333–362 nähert sich der Minne mit Hilfe der Stilfigur, in der sie in Hadewijchs Texten erscheint, der Personifikation. Er beschreibt die Handlungen der Minne, indem er die verschiedenen Formen der Personifikation analysiert (Anrede, Zuerkennung menschlicher Eigenschaften). Willaert 1984, 351–357, behandelt die Frage „was ist Minne“ ausgehend von der bescheideneren Frage „wie funktioniert Minne in den Strofische gedichten“? Zu der Bedeutung der Allegorie im Mittelalter siehe die klassische Studie von Lewis 1936. Newman 2003 macht in einer gründlichen Studie auf die wichtige Rolle der – vor allem weiblichen – Personifikationen in mittelalterlichen literarischen, philosophischen und religiösen Texten aufmerksam. Kapitel 4 in ihrem Buch beschäftigt sich mit „Love Divine, All Loves Excelling“. Fraeters 2015 zeigt anhand einer Textanalyse von Lied 25, wie Hadewijch Allegorie und Personifikation als mystagogisches Mittel einsetzt. Über das Verlangen im Werk Hadewijchs siehe Faesen 2000. In seiner Forschung zu dem Einfluss des Wilhelm von St. Thierry auf Hadewijch bespricht Verdeyen 1977 ausführlich die Rolle der Vernunft im Werk der beiden. Jahae 2000 (165–178) widmet sich im Rahmen seines Buches über den Terminus ghenoech doen bei Hadewijch auch dem Substantiv ghenoechte/gheneuchte. Über gebruken (genießendes Einssein) bei Hadewijch und dessen doppelter Bedeutung – einerseits als jubilatio und andererseits als Willenseinheit, wobei gebreken und gebruken zusammenfallen – siehe Mommaers 2004, Kapitel VIII, 96–144. Über jubilus, siehe vor allem Daróczi 2007, 261–263 und 335–411. Über die Extase als charakteristisches Element im Leben der mulieres religiosae siehe zum Beispiel Simons 1994 und McGinn 1996, 153–198.
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Zur Rekonstruktion der Melodien Die Diskussion über die Möglichkeit, Hadewijchs Lieder zu singen, wurde in Willaert 1984, 283–296, zusammengefasst. Dieser konnte keine schlüssige Hypothese entwerfen und bat die Musikwissenschaft um Hilfe. Louis Grijp verhalf der Lösung des Pro blems zum Durchbruch. Er wendete die strophische Heuristik an, die er 1991 in seiner Dissertation entwickelt hatte und die für die niederländische Liederbank (www.liederenbank.nl) die Basis bildet. Bei der Anwendung dieser Methode auf Hadewijchs Lieder ist die Liste der Trouvèrestrophen von Mölk und Wolfzettel 1972 unentbehrlich. Ein vergleichbares Repertorium für die Troubadoure (Frank 1966) liefert weniger Brauchbares. Über Spanke 1955 erhält man die Melodien, sei es als Faksimile oder als Fotos der Originalhandschriften, sei es als Ausgaben. Das ganze Trouvèrerepertoire, mit allen Varianten der Melodien, wurde 1997 von Tischler herausgegeben. Gedanken über die modale Interpretation von Trouvèremelodien und die Kontrafaktur von u. a. deutschen Minnesängern werden in Tischler 2001 formuliert. Dr. Ike de Loos und Prof. Dr. Anton Vernooij berieten über mögliche Melodien für das Jesu dulcis memoria. Daróczi 2007, Daróczi 2008 und Schmelzer 2008 reagierten auf Grijp 1992 oder bauten auf seinen Ergebnissen auf.
Forschung zu den einzelnen Liedern Hier folgt eine Auflistung der Forschungsbeiträge, die im Laufe der Zeit über die einzelnen Lieder Hadewijchs erschienen sind. Lied 1
Willaert 1993; Faesen 2000, 46–54
6
Willaert 1984, 361–377; Faesen 2000, 292–294; Vekeman 2005, Bd. 2, 336–350
7
Breuer 1987; Ruh 1993, 163–182; Fraeters 2013
8 (vM-9)
Van Cranenburgh 1961
9 (vM-10)
Vekeman 1995, Bd. 2, 905–913; Vekeman 2005, Bd. 2, 59–67
11 (vM-12)
Faesen 2004b, 337–341
13 (vM-14)
Guest 1975, 253–265
14 (vM-15)
Faesen 2000, 297–300
15 (vM-16)
De Paepe 1972, 46–69
16 (vM-17)
Van der Zeyde 1934, 200–205; De Paepe 1970
17 (vM-18)
Willaert 1984, 378–387; Vekeman 2005, Bd. 2, 172–179
24 25
Faesen 2000, 300–301 Fraeters 1995; Faesen 2000, 301–305
26 Faesen 2000, 305–307 28 Faesen 2000, 307–310
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Einleitung
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Truijen 1946; Van Cranenburgh 1959, 393–405; Bosch 1974 und 1975; Breuer 1974;
Vekeman 1996 und Hg. 2005, Bd. 2, 439–450; Daróczi 2007, 282–289
31 Reynaert 1991 33 Faesen 2000, 310–311 37 Breuer 1984 40 Faesen 2003, 76–79 42 Guest 1975, 265–276 45
Van Mierlo 1943, Grijp 1992, 73–75, Beutin 1993, Faesen 2000, 55–62; Faesen 2003, 80–83.
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II. Lieder
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Ay, al es nu die winter cout, cort de daghe ende de nachte langhe, ons naket saen een somer stout, die ons ute dien bedwanghe sciere sal bringhen. Dat es in scine bi desen nuwen jare: die hasel bringhet ons bloemen fine. Dat es een teken openbare. – Ay, vale, vale millies – ghi alle die nuwen tide – si dixero, non satis est – omme minne wilt wesen blide. Ende die van fieren moede sijn, wat storme hen dore de minne ontmoet, ontfaense alsoe fijn, alse: ‘Dit es daer ic al ane winne ende winnen sal. God gheve mi al dat ter minnen best become. Na haerre ghenoechten weghe, mesval si mi die meeste vrome.’ – Ay, vale, vale millies – ghi alle die aventure – si dixero, non satis est – wilt doghen om minnen nature.
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Vale, vale millies – si dixero, non satis est („Ach, wenn ich euch tausend Mal Heil, Heil wünschen würde, dann wäre es noch nicht genug“). Dieses erste Lied enthält in seinem lateinischen Refrain einen Heilswunsch, der sich an alle richtet, die minnen möchten oder sollten. Damit erhält das erste Lied den Charakter einer Begrüßung der Leser oder Hörer, die schon in der ersten Strophe als Minnende angesprochen werden. Aber das Lied ist mehr als ein Gruß: Schon in den ersten beiden Strophen wird den Minnenden gesagt, dass Minne nicht nur Freude, sondern auch Leid verursacht, was die Ich-Figur in der dritten Strophe an ihrem eigenen Beispiel deutlich macht. In den folgenden Strophen (4–6) richtet sich die Ich-Figur an diejenigen, die meinen, sie wegen ihrer kompromisslosen Hingabe tadeln zu müssen. Mit ihrem Urteil stellen sie sich an die Stelle Gottes, dessen Entscheidungen den menschlichen Verstand übersteigen (Strophe 7–8). In der letzten Strophe (9) äußert die Ich-Figur den Wunsch, dass Gott aus ihr und den Freundinnen ihres Kreises ‚neue‘ Menschen mache, die in völliger Hingabe an die Minne leben wollen. 1–2 Der Natureingang drückt mitten im Winter Hoffnung auf den Sommer aus. Die sich nähernde Ankunft des Sommers stimmt mit dem Verlangen der Rezipienten überein, in der Minne Freude zu finden. Das erste Signal, dass der Sommer auch wirklich kommt, ist der Haselbusch, der mitten im Winter blüht. Es ist auffällig, dass die Zuhörer (oder Leser) sofort in der ersten Strophe angesprochen werden, was in der weltlichen Minnelyrik äußerst selten der Fall ist. Diese Lyrik möchte beim
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Ach, auch wenn der Winter jetzt kalt ist, die Tage kurz und die Nächte lang, naht uns bald ein mutiger Sommer, der uns schnell aus dieser Tyrannei führen wird. Das wird sich in diesem neuen Jahr zeigen: Der Haselbusch bringt uns feine Blüten. Das ist ein deutliches Zeichen. – Ach, vale, vale, millies – euch allen, die ihr in der neuen Jahreszeit – si dixero, non satis est – wegen Minne froh sein wollt.
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Und diejenigen, die mutig sind, welcher Angriff ihnen auch durch die Minne widerfährt, parieren sie genauso vorbildlich, mit: „Hiermit gewinne ich alles und werde alles gewinnen. Gott gebe mir alles, das für die Minne am dienlichsten sei. Wenn es ihr gefällt, bringe eine Niederlage mir den meisten Nutzen.“ – Ach, vale, vale, millies – euch allen, die ihr wegen der Natur der Minne – si dixero, non satis est – Abenteuer erdulden wollt.
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Publikum erreichen, dass es sich die Botschaft zu Herzen nehmen und sein Leben an ihr ausrichten soll. Entsprechend der Anreden in den ersten beiden Strophen müssen die Angesprochenen zwei Eigenschaften besitzen: Sie müssen wegen der Minne erfreut sein wollen (V. 9–12) – und das ist an sich schon sehr reizvoll –, aber sie müssen auch bereit sein, für die Minne schwere Abenteuer zu durchstehen (V. 22–24). Die Parallele in den letzten Versen der beiden Strophen (ghi alle die … wilt …; „euch allen, die ihr … wollt“) betont die Unausweichlichkeit dieses Zusammenhangs: Freude in der Minne ist ohne Leid und Prüfungen nicht möglich. Dieser Ton wird in allen Liedern variiert. Schon in diesen ersten beiden Strophen sticht Hadewijchs Vorliebe für Metaphern aus der Welt der Ritterromane hervor. Im Natureingang werden Winter und Sommer als Feinde dargestellt: der Winter als Tyrann, der Sommer als Befreier. Die für uns unerwartete Verwendung des unbestimmten Artikels een („ein“) bei „Sommer“ (V. 3) ist eine typische Ausdrucksweise in der Heldenepik, wodurch der Sommer noch stärker als Kämpfer und der Wechsel der Jahreszeiten noch mehr als ein ritterlicher Zweikampf hervorgehoben wird. In der zweiten Strophe evoziert das Wort aventure („Abenteuer“, V. 22) die Welt des Ritterromans, und auch das passt zu der kämpferischen Metaphorik, mit der in dieser Strophe die wahrhaftigen Minnenden charakterisiert werden: fier („mutig“, V. 13); storm („Angriff“, V. 14); ontmoeten („jemandem mit feindlichen Absichten begegnen, angreifen“); ontfaen („Angriffe oder Schläge parieren“, V. 15); mesval („Niederlage, in einem Kampf“, V. 19).
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Ay, wat sal ic doen, ellendech wijf? Met rechte maghic wel tghelucke haten. Mi rouwet wel sere mijn lijf: ic en mach minnen noch laten. Te rechte mi es beide fel: gheluc ende avonture. Ic dole, mijns en es niement el. Dat scijnt jeghen nature. – Ay, vale, vale millies – u allen laet dies ontfarmen – si dixero, non satis est – dat minne mi dus laet carmen. Ay, ic was ie op die minne stout, sint icse eerst hoerde noemen, ende verliet mi op hare vrie ghewout. Dies willen mi alle doemen, vriende ende vreemde, jonc ende out, dien ic in allen sinnen diende ie ende was van herten hout, ende onste hen allen der minnen. – Ay, vale, vale millies – ic rade hen dat si niet en sparen – si dixero, non satis est – hoe ic hebbe ghevaren.
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3 In dieser Strophe illustriert Hadewijch, was ein Minneabenteuer konkret bedeutet. Die Ich-Figur bezeichnet sich als ein ellendech wijf, eine erbärmliche Frau, aber die ursprüngliche Bedeutung von ellendech („verbannt“) spielt sicher auch eine Rolle: Sie ist eine Frau, die weit davon entfernt ist, was für sie das Zuhause wäre, nämlich vom Eins-Sein mit Gott. Verbannung bedeutet auch, dass man seinem Schicksal ausgeliefert ist und nicht mit der Unterstützung von Freunden oder Verwandten rechnen kann (vgl. V. 31: Sie irrt allein umher). Dieser letzte Aspekt wird zum zentralen Thema der folgenden Strophen und wird in den Versen 34 und 36 angekündigt, in welchen sie die Angesprochenen um Mitleid anfleht. Die Erfahrung des Lebens als Verbannung, bei welchem eine dauerhafte Vereinigung mit Gott noch nicht möglich ist, hat Mystiker oft formulieren lassen, dass das irdische Leben unerträglich sei, wie Wilhelm von St. Thierry, ein Autor, den Hadewijch sicher gelesen hat, in seinem Hoheliedkommentar (entstanden 1137–1139): „Und der Mensch, wenn er dann sagen hört: ‚Kein Mensch kann mich sehen und weiter leben‘ (Exodus 33,20), beginnt sein Leben, wie auch immer es ist, heftig zu hassen, weil es ihn zurückhält und ihn von einem Leben abhält, in dem man Gott schauen kann. Er möchte gern sterben, aber das wird ihm nicht erlaubt.“ Für die Darstellung dieser Situation hat Hadewijch sich vom
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Ach, was soll ich machen, ich armselige Frau? Zu Recht darf ich wohl das Glück hassen. Mein Leben schmerzt mich wohl sehr: Ich kann weder minnen noch es sein lassen. Wahrlich, beides ist mir schlecht gesonnen: Glück und Abenteuer. Ich irre umher, mit mir ist sonst niemand. Das scheint gegen die Natur zu sein. – Ach, vale, vale, millies – ihr alle, erbarmt euch, – si dixero, non satis est –, dass Minne mich so klagen lässt.
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Ach, in der Minne war ich immer voller Vertrauen, seitdem ich das erste Mal über sie gehört hatte, und ich verließ mich auf ihre souveräne Macht. Darum wollen mich alle verdammen, Freunde und Fremde, Junge und Alte, denen ich immer mit allem diente, und ich im Herzen verbunden war und denen ich allen die Minne gönnte. – Ach, vale, vale, millies – ich rate ihnen, dass sie nicht zögern, – si dixero, non satis est – wie es mir auch ergangen sein mag.
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Buch Hiob inspirieren lassen. Vgl. Mi rouwet wel sere mijn lijf („Mein Leben schmerzt mich wohl sehr“, V. 27) mit Hiob 10,1 „Meine Seele ekelt sich vor meinem Leben“; mijns en es niement el („mit mir ist sonst niemand“, V. 31) mit Hiob 6,13 „Dort ist keine Hilfe für mich in mir, und auch meine Freunde sind von mir gewichen“ sowie den Aufruf an die Rezipienten u allen laet dies ontfarmen („ihr alle, erbarmt euch dessen“, V. 34) mit Hiob 19,21 „Erbarmt euch meiner, wenigstens ihr, meine Freunde“. Hadewijch präsentiert die Ich-Figur auf diese Weise als einen neuen Hiob. Und da Hiob im Mittelalter als eine alttestamentliche Präfiguration des leidenden Christus betrachtet wurde, wird sie damit zu jemandem, der wie Christus lebt. Auch er wurde von allen im Stich gelassen, als sein Leiden begann. 4–6 In diesen Strophen arbeitet Hadewijch die Thematik des Unverständnisses der Umgebung für die Hingabe an die Minne weiter heraus. Auch hier gibt es verschiedene Verse, die von dem Buch Hiob inspiriert wurden. Vgl. Dies willen mi alle doemen, vriende ende vreemde („darum wollen mich alle verdammen, Freunde und Fremde“, V. 40–41) mit Hiob 19,19 „Meine früheren Ratgeber haben mich verurteilt (doemen [„verdammt“]) und diejenigen, die ich am meisten minnte (vriende [„Freunde“]), haben sich von mir abgewandt“; Ay, soete God, wat es mi ghesciet, dat mi de liede bederven? Lieten si mi allene doch slaen („Ach, süßer Gott, was ist mir geschehen, dass die Menschen mich zugrunde
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Ay arme, ic en mach mi selven niet doen leven noch sterven. Ay, soete God, wat es mi ghesciet, dat mi de liede bederven? Lieten si u mi allene doch slaen: ghi soudet best gheraden, na recht, al dat ic hebbe misdaen ende bleven buten scaden. – Ay, vale, vale millies – die Gode niet ghewerden en laten – si dixero, non satis est – ende niet en minnen, ende haten. Die wile dat si sijn over mi, wie sal hare lief dan minnen? Si ghinghen bat hare weghe vri, daer si u leerden kinnen. Si willen u te hulpe staen met mi, dies cleine behoeven. Ghi cont na recht soenen ende slaen ende met claerre waerheit proeven. – Ay, vale, vale millies – alle die met Gode plechten – si dixero, non satis est – in soenen noch in rechten.
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richten? Ließen sie doch nur dich allein mich schlagen.“, V. 51–53) mit Hiob 19,22 „Warum verfolgt ihr mich wie Gott?“; Si willen u (gemeint ist Gott) te hulpe staen met mi („sie möchten dir wegen mir helfen“, V. 65–66) mit Hiob 26,2 „Wer kommt dir zu Hilfe? Doch nicht der, der den Atem schuf?“ Das Kernthema dieser Strophen besteht darin, dass diese Menschen mit ihrem Urteil über die Ich-Figur an die Stelle Gottes treten. So schaden sie sich selbst (V. 56), denn auch sie sind dazu aufgefordert, Gott zu minnen, und das machen sie nur, wenn sie sich von all ihren menschlichen Sorgen befreien (vgl. Si ghinghen bat hare weghe vri [„sie gingen besser ihrer freien Wege“], V. 63) und wenn sie ihren Willen mit dem Willen Gottes in Übereinstimmung bringen. In der sechsten Strophe ist die juristische Terminologie auffällig (soenen ende slaen [„sühnen und schlagen“]; met claerre waerheit proeven [„mit klarer Wahrheit beweisen], plechten met [„in einer Rechtsangelegenheit die Seite wählen von“], in soenen noch in rechten [„weder in der Sühne noch im Recht“]), wodurch Gott in dem Text als Richter
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Ach Arme, ich kann mich selbst weder leben noch sterben lassen. Ach, süßer Gott, was ist mit mir geschehen, dass die Menschen mich zugrunde richten? Ließen sie doch nur dich allein mich schlagen: Du würdest nach dem Recht am besten bestimmen, was ich alles falsch gemacht habe, und sie blieben ohne Schaden. – Ach, vale, vale, millies – denen, die Gott nicht gewähren lassen – si dixero, non satis est – und nicht minnen, sondern hassen.
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Während sie sich mit mir beschäftigen, wer kann dann ihren Liebsten minnen? Sie gingen besser ihrer freien Wege, auf denen sie dich kennenlernen würden. Sie möchten dir wegen mir helfen, was sie nicht zu tun brauchen. Du kannst dem Recht entsprechend sühnen und schlagen und mit klarer Wahrheit beweisen. – Ach, vale, vale, millies – allen, die Gottes Seite wählen – si dixero, non satis est – in der Sühne oder im Recht.
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erscheint. Die Sühne war ein juristisches Verfahren, ein Vergleich, bei dem der Täter vor Gericht bei dem Opfer oder dessen Verwandten seine Schuld beglich (zum Beispiel durch das Zahlen einer bestimmten Geldsumme), wonach zwischen den Parteien die Übereinkunft unter Eid bestätigt wurde. Auf diese Weise konnte eine Fehde vermieden oder beendet werden. Das Wort rechten dagegen impliziert ein Urteil und, möglicherweise, eine Strafe.
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Ay, Salomon ontradet dat werc dat wi niet ne ondersueken die dinghen die ons sijn te sterc noch dat wi niet en roeken hoghere dinghen dan wi sijn, dat wi die ondervenden, ende laten ons die minne fijn vri maken ende benden. – Ay, vale, vale millies – die der hogher minnen rade – si dixero, non satis est – volclemt van grade te grade. Der menschen sinne sijn soe clene, daer mach wel vele God boven. God es van allen wijs allene. Dies sal men alles hem loven ende laten hem sijn ambacht doen in wreken ende in ghedoghen. Hem en es gheen werc soe verre ontfloen, en comt hem al vore die ogen. – Ay, vale, vale millies – die hen der minnen volgheven – si dixero, non satis est – ende haren ogen ghenoech volleven.
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7–8 Diese Strophen betonen die Unergründlichkeit der göttlichen Weisheit für den Menschen. In der siebten Strophe greift Hadewijch ausdrücklich auf ein Autoritätsargument aus der Bibel zurück, vor allem auf einen Vers aus dem Buch Ekklesiastikus (Jesus Sirach), das im Mittelalter Salomo zugeschrieben wurde: „Untersuche und erforsche nicht die Dinge, die dir zu schwer sind“ (Ekklesiastikus
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Ach, Salomo rät uns davon ab, die Dinge zu untersuchen, die zu schwierig für uns sind, und uns auch nicht auf höhere Dinge, als wir sind, einzulassen, um diese zu ergründen, sondern uns von der feinen Minne befreien und fesseln lassen. – Ach, vale, vale, millies – dem, wer nach dem Rat der hohen Minne – si dixero, non satis est – von Stufe zu Stufe nach oben klettert.
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Der Verstand des Menschen ist so klein, Gott kann so viel mehr. Nur Gott ist in allem so klug. Dafür soll man ihn um alles preisen und ihn sein Amt ausführen lassen, in der Rache oder im Erdulden. Keine Tat ist so weit von ihm entfernt, es kommt ihm alles zu Augen. – Ach, vale, vale, millies – denen, die sich völlig der Minne hingeben – si dixero, non satis est – und ihr in ihren Augen genügend gerecht werden.
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3,22). Dieses Thema führt in der folgenden Strophe zu einem Lobgesang auf die göttliche Weisheit, in der erneut Sätze aus dem Buch Hiob durchschimmern: vgl. God es van allen wijs allene („Nur Gott ist in allem so klug“, V. 87) mit Hiob 12,13 „Sein ist Rat und Einsicht“; und Hem en es gheen werc soe verre ontfloen, en comt hem al vore die ogen („Keine Tat ist so weit von ihm entfernt, es kommt ihm alles zu Augen“, V. 91–92) mit Hiob 28,24 „Denn er betrachtet das Ende der Erde, und alles, was unter dem Himmel ist, sieht er.“
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God moete ons gheven nuwen sin ter edelre minnen ende vrie, dat wi soe nuwe leven daerin, dat ons die minne ghebenedie ende nuwe make met nuwen smake, dien si can nuwe volgheven. Die minne es nuwe gheweldege orsate dien die der minnen al nuwe volleven. – Ay, vale, vale millies – dat nuwe der nuwer minnen, – si dixero, non satis est – dat nuwe wilt nuwe bekinnen.
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9 Das Lied endet mit dem Wunsch, dass Gott die Ich-Figur und die Angesprochenen zu neuen Menschen machen möge (vgl. Epheser 4,24: „Bekleide dich mit dem neuen Menschen“). Dieser Wunsch endet in den letzten Versen mit einem Aufruf: Erst wenn die Rezipienten den „alten Menschen“ ablegen, wird sich die Minne für sie öffnen.
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Gott möge uns neue Glut zur edlen und freien Minne geben, damit wir so neu darin leben, dass uns die Minne segne und uns mit neuem Geschmack, den sie immer neu schenken kann, erneuere. Die Minne ist eine neue, überwältigende Belohnung, für diejenigen, die in der Minne neu vollkommen leben. – Ach, vale, vale, millies – das Neue der neuen Minne, – si dixero, non satis est – dieses Neue, erkennt es neu.
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Tsaermeer sal in corten tide tsap van den wortelen opwaert slaen. Daerbi sal verre ende wide beemt ende cruut sijn loef ontfaen. Dies soe hebben wi sekeren waen: die voghele werden blide. Die gheet in minnen te stride, hi sal verwinnen saen, opdat hi niet en mide. Die niet en spaert vore hoge minne, hi es ane alle sine werke vroet. Die minne es joncfrouwe ende conincginne, die meneghen maect hoghen moet, soedat hi boven al hare goet set toe cracht ende sinne, daer minne dat werc ane kinne. Hoe welt si hare tiersten doet, hi es die minne verwinne.
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Dieses Lied handelt von dem Schmerz, den der Minnende erfährt, wenn die Minne nach dem ersten Kontakt voller Freude plötzlich fernbleibt, und von der Treue, die der Minnende dann aufbringen muss. Der vorbildliche Minnende lebt auch im Zustand des Verlassenseins in der völligen Hingabe für seine Geliebte weiter (Strophen 1–5). Die Ich-Figur hingegen wird von dem Schmerz niedergedrückt und hat ihre ganze Begeisterung verloren. Dennoch bleibt sie treu und vertraut darauf, dass sie der Minne einst wieder begegnen wird (Strophen 6–9). In den letzten beiden Strophen erweitert Hade wijch das Thema, indem sie nun alle Freunde der Minne anspricht. Im Gegensatz zu falschen Minnenden trauen sie sich, neben der Freude auch den Schmerz in der Minne zu erleben. Sie geben sich nicht der Illusion hin, dass die Minne nur aus Süße besteht, und verfügen über die Kraft, auch das zur Minne gehörende Leid zu umarmen. 1–3 Der Frühling ist nahe: Bald wird alles grün und die Vögel werden fröhlich sein. Auch für den Minnenden, der sich in den Kampf mit der Minne traut, ist der Sieg nahe (Strophe 1). Der Mut, sich völlig
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In Kürze wird der Saft der Wurzeln schnell nach oben steigen. Dadurch werden weit und fern Wiesen und Kräuter ihr Grün entfalten. Das wissen wir mit Sicherheit: Die Vögel freuen sich. Wer sich zu Minne in den Kampf begibt, wird bald gewinnen, wenn er nichts scheut.
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Wer um hoher Minne willen nichts zurückhält, handelt in allen seinen Taten klug. Die Minne ist Jungfrau und Königin, die manchen in Hochstimmung versetzt, sodass er zu ihrem ganzen Guten Kraft und Hingabe hinzufügt, an denen Minne dieses Werk erkennen kann. Wie unzähmbar sie sich auch zuerst präsentiert, er ist derjenige, der die Minne besiegt.
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einzusetzen, bildet das Thema der zweiten Strophe, die mit der ersten über eine inhaltliche concatenatio verbunden ist: niet en mide („nichts scheut“, V. 9) – niet en spaert („nichts zurückhält“, V. 10): Die Minne gibt sich nur demjenigen hin, der sich ihr völlig hingibt. Die Minne bekommt zwei Namen, die im höfischen Diskurs der Dame und im religiösen Diskurs Maria vorbehalten sind: Sie ist Jungfrau (V. 12, 22) und Königin (V. 12). Genau wie die Dame den Ritter zu großen Taten anspornt, inspiriert die Minne den mystischen Minnenden zu der Begeisterung, die notwendig ist, um sie für sich zu gewinnen. Die Bemerkung, dass die Minne am Anfang wild ist, aber sich von einem treuen Minnenden erobern lässt (V. 17–18), spielt auf die Legende des Einhorns an. In mittelalterlichen Bestiarien wird über das Einhorn gesagt, dass es sich um ein wildes Tier handelt, das nur von einer Jungfrau gefangen werden kann. Diese Legende wurde im Mittelalter als eine Metapher für die Inkarnation gesehen: Nur über den Schoß der Jungfrau Maria konnte sich der „wilde“ strafende Gott des Alten Testaments in den sanftmütigen Vater wandeln, der seinen Sohn der Menschheit schenkte. Die marianische Interpretation der Legende vom Einhorn verwendet Hadewijch in Lied 29. Im zweiten Lied benutzt sie das Bild in mystischer Bedeutung: Nur die jungfräuliche Seele des treuen Minnenden kann die ungreifbare Minne dazu bewegen, sich dem Minnenden hinzugeben. In der dritten Strophe erhält die Minne
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Maer daeromme es si minne ende vrouwe, dat si es moeder van alre doecht. Si es drachtech ende draghet allene die trouwe, daer ghi alle die mint u bi vermoghet. Si hevet ons allene verhoghet ende ghebetert allen rouwe. Ic bidde hare datse ons bescouwe ende groyen doe die joghet, datse ons al minne voltrouwe. Hoe suete es minne in hare nature, dat si alle andere cracht verwint! Die mint, hi doghet sware avonture. Eer hi hem ane minne sede bekint dat hi van hare al si ghemint, soe smaket hi bettere ende suere. Hi ne mach ghedueren ene ure, eerne minne al in minne bint ende in ghebruken vuure. Die om ghebruken in minne haket, hi sal verwinnen al sinen noet. Hi ne mach niet sterven dien minne gheraket – hare name amor es, van der doet – die dade dat die minne gheboet ende daerinne niet en ghebrake. Si es welde van alre sake. Minne es dat levende broet ende boven alle ghenuechte in smake.
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noch mehr marianische Bezeichnungen: Sie ist „Dame“ und „Mutter aller Tugenden“ (V. 20). Genau wie Maria ist sie „schwanger“ (V. 21) und „betrachte[t uns]“ (V. 25). Die dritte Strophe schließt mit einer Bitte an die Minnedame ab: Dass sie als Beschützerin die Ich-Figur und die anderen Rezipienten, möglicherweise Mitglieder des Kreises um Hadewijch (ons [„uns“], V. 24) beim Erwachsenwerden in der Minne begleiten möge, damit sie die vollkommene Minne kennenlernen und besitzen können. 4–5 Das Erwachsenwerden impliziert ein Abenteuer, bei dem der Minnende nach der jugendlichen Freude auch die Verlassenheit in der Minne kennenlernt. Solange dem Minnenden nicht bewusst ist, dass er immer, auch in der Einsamkeit, von Minne geminnt wird, erleidet er Schmerzen, die er nicht aushalten kann, bis zu dem Moment, in dem Minne ihn „bindet“ (V. 35). Das Wort „binden“ bezieht sich auf zwei Wortfelder: in erster Linie „gefangen nehmen, festbinden“. Der Zweikampf, der in der zweiten und dritten Strophe evoziert wurde (V. 7–8; V. 17–18), ist beendet: Die Minne gewinnt und führt den besiegten Minnenden in Ketten in die Einheitserfahrung. „Binden“ bedeutet auch „durch ein Heiratsversprechen verbinden“. Das Bild des Verlangens, das die Dame beim Ritter in der zweiten
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Und deswegen ist sie Minne und Dame, weil sie Mutter aller Tugenden ist. Sie ist schwanger und trägt allein die Treue, wodurch ihr alle, die ihr minnt, kräftig werdet. Sie allein hat uns erfreut und alles Leid geheilt. Ich bitte sie, dass sie uns betrachte und unsere Jugend wachsen lasse, damit sie uns vollkommene Minne zutraue.
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Wie süß ist Minne in ihrer Natur, dass sie alle andere Kraft besiegt! Wer minnt, der durchsteht schwere Abenteuer. Bis er die Art der Minne kennt, sodass er von ihr völlig geminnt werden kann, schmeckt er Bitteres und Saures. Er kann es nicht eine Stunde aushalten, bis Minne ihn ganz in Minne bindet und ins Genießen führt.
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Wer sich nach dem Genießen in der Minne sehnt, wird seine ganze Not besiegen. Wen Minne trifft, der kann nicht sterben – ihr Name ist ‚Amor‘, vom Tod weg –, wenn er alles, was Minne befiehlt, täte und darin nicht versagte. Sie ist die Glückseligkeit in jeder Hinsicht. Minne ist das lebendige Brot und ihr Geschmack übertrifft jedes Vergnügen.
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Strophe hervorrief (V. 12–16), wird auf diese Weise fortgeführt: Das Liebesband ist nun eine Tatsache und wird in der mystischen Einheitserfahrung verwirklicht (ghebruken [„Genießen“], V. 36–37). In der fünften Strophe wird mit einer typisch mittelalterlichen etymologischen Erklärung verdeutlicht, dass derjenige, der die vollkommene Minne besitzt, unsterblich ist: amor / minne ist identisch zu a-mors (lat. a morte), was „vom Tod weg“ bedeutet. Wer die vollkommene Minne besitzt, steht über dem zyklischen Ablauf von Freude und Schmerz, der allen irdischen Erfahrungen eigen ist, und nimmt an der ewigen Freude teil, die die himmlische Seligkeit kennzeichnet (welde [„Glückseligkeit“], V. 43). Die Minne wird „lebendiges Brot“ (V. 44) genannt und auf diese Weise mit Christus gleichgestellt, der im Johannesevangelium (6,48–51) sagt: „Ich bin das Brot des Lebens. (…) Wenn jemand von diesem Brot isst, der wird leben in Ewigkeit.“ Die Minne ist dann auch vergleichbar mit der Hostie, dem corpus Christi, die während der Eucharistiefeier den Gläubigen angeboten wird. In anderen Texten Hade wijchs, vor allem in ihren Visionen, wird deutlich, dass sie, wie viele religiöse Frauen ihrer Zeit, eine intensive eucharistische Frömmigkeit auslebte. Diese Frauen setzten die eucharistische Frömmigkeit bewusst als Mittel für spirituelles Wachstum und mystische Einheitserfahrungen ein.
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Mi sijn mine nuwe sange itoe in groten wene bracht, die ic hebbe ghesongen lange ende van minnen scoene hertracht. Al hebic te cleine ghewracht, mi doet wel wee ende ange dat ic niet ne ommevanghe die onverwonnene cracht in ghebrukene van minne bedwanghe. Ic mach wel van der minnen fine voert swighen mine daghe meer, daer ic bi blide plach te sine in singhene, in sprekene wilen eer, doe mi hare rike gheleer dede blijsscap in scine, daer ic nu doghe pine ende van herten seer. Dies oudic ende dwine. Dus hevet mi der minnen pine verquolen dat ic itoe niet meer en doech, – die mi eerst leide te haerre scolen, daer ic hare wise wondere soech, ende si mi sider die ontoech ende mi vele hevet verholen. Doch willic gherne al dolen, want minne niet en loech dat si mi hevet bevolen.
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Mir sind meine neuen Lieder, die ich lange gesungen und in denen ich schön über Minne gedichtet habe, nun zu großen Klagen geworden. Auch wenn ich zu wenig gemacht habe, mich peinigt und mir flößt Angst ein, dass ich die unüberwindliche Kraft im Genießen der Überwältigung durch die Minne nicht umfassen kann.
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Ich kann wohl fortan für den Rest meiner Tage über die edle Minne schweigen, obwohl ich vorher beim Singen und Sprechen froh war, als mir ihr reicher Unterricht deutlich Freude brachte, während ich nun Leid und Schmerz im Herzen erfahre. Darum werde ich alt und sieche dahin.
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Der Schmerz der Minne hat mich so leiden lassen, dass ich jetzt kraftlos bin, – sie, die mich zuerst in ihre Schule führte, wo ich ihre weisen Wunder aufsaugte, die sie mir danach wieder entzog und mir viel verhehlte. Dennoch möchte ich gern durch alles irren, denn Minne leugnete nie, was sie mir anvertraute.
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6–9 In diesen vier Strophen klagt die Ich-Figur über den Schmerz, den sie in der Minne erfährt. Die Minne ist zu groß für sie und bleibt aus diesem Grund außerhalb ihrer Reichweite. Der Unterschied zu früher, als sie sich der Minne nahe fühlte, ist immens. Damals sang sie mit Freude und Hingabe, nun kann sie nur weinen und schweigen (Strophe 6–7). Einst betrat sie die Schule der Minne zum ersten Mal und verstand die geheime Lehre der Minne sofort. Jetzt ist sie alt, und die Minne ist für sie unergründlich (Strophe 8). Obwohl sie keine Leidenschaft mehr fühlt, gibt sie sich weiter der Minne hin (V. 70–72; auch V. 80–81). Sie hofft, dass Minne ihr „neue Tage“ (V. 73) schenken wird. Dann kann sie mit frischem Mut und frei von Trauer im Dienst der Minne leben (Strophe 9).
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Woude mi minne nuwe daghe gheven, die mi sijn soe out, soe soudic swighen miere clagen, die nu es soe menechfout, ende vri hare leven stout, daert mi nu es al waghe. Hoe gherne ic dat saghe, de minne doe hare vrie ghewout ane mi, alst hare behage. Al doet mi soe oversere dat ic mi minnen ellendech weet, die minne doet al haren vrienden ere, die hare met trouwen sijn gereet, soedat si in lief, in leet verstaen hare rike ghelere. Die dat werken sonder kere ende die minne al in minne beveet, si bliven in hare rike gehere. Ghelijc dat ons die scone rose metten dauwe comt ute den doerne ghegaen, soe sal die mint dore alle bose met toeverlate hare storme ghestaen. Hi sal vri, al sonder waen dorewassen alle nose. Dies hevet die hertelose sijn deel wel saen gedaen, daer vri sijn die amorose. Die de minne wilt omvaen, hi moet scuwen al de lose. Al es nu suete hare cose, men sal bekinnen saen dat valsch es haere ghelose.
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10–11 und Reprise In den letzten Strophen erweitert Hadewijch das Thema auf die „Freunde der Minne“ (V. 84), die der Minne treu bleiben und ihre Lehre nicht nur in guten Zeiten, sondern auch im Leid verstehen (Strophe 10). In der elften Strophe wird mit Hilfe des klassischen Gleichnisses zwischen der Liebe und der Rose (V. 91–92) die wesentliche Botschaft dieses Liedes wiederholt. Treue in der Minne ist wie der Tau – wieder ein Motiv, das im Mittelalter oft mit Maria verbunden wurde –, der die Rose aus den Dornen heraussprießen lässt. Wer sich traut, auch Schmerz in der Minne durchzustehen, ist von der Illusion befreit (V. 95 und V. 99), dass Minne nur aus Süße besteht, und besitzt die
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Wenn Minne mir neue Tage schenken würde, die mir jetzt so alt vorkommen, würde ich mein Wehklagen, das sich jetzt so oft einstellt, verstummen lassen und mutig frei für sie leben, während jetzt alles eine Last für mich ist. Wie gern ich dies auch sähe, die Minne soll in ihrer freien Macht über mich entscheiden, nach Belieben.
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Auch wenn es mich übermäßig schmerzt, dass ich mich weit entfernt von der Minne weiß, die Minne erweist all ihren Freunden Ehre, die mit Treue für sie bereit stehen, damit sie in Liebe und im Leid ihre reiche Lehre verstehen. Diejenigen, die das beharrlich erbringen und die Minne ganz in Minne umarmt, bleiben im ihrem herrlichen Reich.
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Wie wir die schöne Rose durch den Tau aus dem Dorn emporsteigen sehen, so wird derjenige, der minnt, durch alle Schmerzen hindurch mit Vertrauen ihren Angriffen widerstehen. Er wird frei, ganz ohne Zweifel, über alle Nöte hinauswachsen. Darum hat der Feigling seinen Teil schnell erledigt, während die Verliebten frei sind.
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Wer die Minne umfangen möchte, muss sich von all den Treulosen fernhalten. Auch wenn ihre Worte nun süß sind, wird man schnell erkennen, dass ihr Gerede verlogen ist.
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Kraft, das Leid, das der Minne inhärent ist, zu umarmen. Den falschen Minnenden fehlt dazu der Mut, und aus diesem Grund dauert ihr Minnedienst nur kurz (V. 97–98). Das Lied endet mit der Warnung, dass der wahre Minnende diese betrügerischen Schönredner meiden sollte.
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Die tekene doen ons wel in scine – voghele, bloemen, lant, die dach – dat si verwinnen selen hare pine, die te winter sere wach. Want hen de somer troesten mach, soe steet hen blide saen te sine, daer ic moet dogen swaren slach. Ic ware oec blide, gave mi dat minne: ghelucke, dat nie met mi en plach. Ay, wat dedic den ghelucke dattet mi ye was soe onhout? Dattet mine nature soe sere verdrucket boven alle menschen menichfout? Dattet mi trouwe niet en vergout, en ware somwile bi enen tucke? Nu, mach lichte het was mijn scout. Dies willic dolen ute minen stucke: die minne doe met mi hare vrie ghewout. Mochtic mi op die minne betrouwen, het mochte mi noch in staden staen. Wat si mi dogen dade in trouwen, dat ic dies ware in goeden waen dat minne in trouwen hadde ghedaen ende si minen noet dan woude bescouwen. Mocht sijn, dat en ware mi niet te saen. Want mi es die scilt soe sere doerhouwen, hi en can itoe niet meer slaghe ontfaen.
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Dieses Lied beschreibt ausführlich das Leid, das die Ich-Figur als Spielball der unbegreiflichen Minne erleidet (Strophen 1–3). Wegen dieses Handelns der Minne gibt es für den Minnenden nur eine angemessene Handlungsweise: Er muss alles in Treue ertragen, sich tapfer der Macht der Minne hingeben und auch das Leid, das sie ihm zufügt, mit Freude akzeptieren (Strophen 4–7). Aber die Ich-Figur selbst ist noch nicht so weit: Sie hofft weiter, dass das Leid abnehmen wird (Strophe 8). Bei ihr und auch bei den anderen Minnenden, für die das Lied bestimmt ist, reicht ihre Hingabe in der Minne noch nicht aus (Reprise). 1–4 Der Natur, die in dem Natureingang hoffnungsvoll dem Sommer entgegen sehen darf, wird die minnende Ich-Figur gegenübergestellt, die wegen der Minne nur Feindschaft erfährt. Durch die Personifikation von ghelucke („Glück“, V.10) als Handlanger der Minne, der die Ich-Figur aus ihrer Sicht
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Die Zeichen zeigen uns deutlich an – Vögel, Blumen, Land, der Tag –, dass sie ihr Leid, das sie im Winter niederdrückte, besiegen werden. Da der Sommer sie trösten kann, können sie sich bald freuen, während ich schwere Schläge erdulden muss. Ich wäre auch froh, gäbe mir Minne dies: Glück, das mir nie gewogen war.
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Ach, was habe ich dem Glück angetan, dass es mir immer so feindlich gesinnt war? Dass es mich so sehr, viel mehr als alle anderen Menschen, niederdrückt? Dass es meine Treue nicht belohnt, es sei denn zuweilen mit einer Tücke? Nun, es kann leicht sein, dass es meine Schuld war. Darum will ich meinen Platz verlassen und umherirren: Die Minne übe ihre freie Macht über mich aus.
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Könnte ich mich auf die Minne verlassen, dann wäre das für mich eine große Hilfe. Was sie mich in Treue erleiden ließ, könnte ich doch nur sicher sein, dass Minne es in Treue getan hätte und sie dann meiner Not Beachtung schenken möchte. Wenn das so wäre, dann käme es für mich nicht zu früh. Denn mein Schild ist so in Stücke geschlagen, dass es keine Schläge mehr abwehren kann.
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auf eine unbegreifliche und ungerechte Art und Weise behandelt, wird eine Assoziation mit der Göttin Fortuna hervorgerufen. Diese wurde im Mittelalter als eine für den Menschen undurchschaubare Vollstreckerin von Gottes Willen auf Erden aufgefasst. Da die Ich-Figur mit dieser unbegreiflichen Handlungsweise der Minne konfrontiert wird, schwankt sie zwischen der völligen Hingabe (V. 16–18) und dem Unvermögen, das böse Spiel der Minne als Zeichen der Treue zu akzeptieren (Strophe 3), hin und her. Ein Kluger kann das wohl, aber sie ist noch nicht dazu in der Lage (Strophe 4).
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Die dit al mochte verstaen in goede, hi hadde dat mi es onghereet: in scaden, in scanden, in wedermoede omme minne al doghen sonder wreet, ende om alle cost alsoe ghemeet alse: ‚Dit sijn mine beste spoede‘, alse een die niet bat en weet. Die dus dade, hi hete die vroede. Ic en bens niet, dats mi leet. Alse nu den troest, alse nu de wonde ghevet de minne, die vele des can. Na grote slage ghevet si ghesonde: hoe soude hem ghehoeden dies yeman? Die toeset al dat hi ye ghewan, nochtan heelt si hem hare conde. Den enen ghevet si, dien sijs an, die suete cussene van haren monde, den anderen sleetse in den ban. Ay deus, wie sal denghenen absolveren dien de minne te banne doet? Si selve. Wilt hi jegen hare pleideren, dat hi hare doe soe stout ghemoet dat hijt al houde vore groten spoet – pine ende joye in een hanteren – ende hijt al effene neme vore goet. Soe leertene minne jubileren ende maectene al haers wonders vroet.
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5–7 In diesen objektiven, in der dritten Person Singular formulierten Strophen beschreibt Hadewijch erneut die Willkür, mit der die Minne die Minnenden behandelt (Strophe 5), aber sie lehrt diese Minnenden auch, dass sie erst Einsicht in die unvorhersehbare Handlungsweise der Minne erhalten, wenn sie in der Lage sind, alles, die Freude und den Schmerz, erfreut zu akzeptieren (Strophe 6) und sich ihr treu und standfest hinzugeben (Strophe 7). Na grote slage gevet si ghesonde („Nach schweren Schlägen heilt sie“, V. 39) wurde möglicherweise von Hiob 5,18 inspiriert: „Denn er verwundet und heilt; er schlägt, und er macht gesund“, während die
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Wer dies alles im Guten verstehen möchte, der hätte, was mir fehlt: Im Schaden, in der Schande, im Unglück alles wegen Minne ohne Bitterkeit zu ertragen und trotz aller Mühe so fröhlich zu sein, dass er etwas sagt wie: „Das sind meine größten Erfolge“, wie jemand, der es nicht besser weiß. Wer so handelte, würde der Klügste genannt. Ich bin es nicht, was mich schmerzt.
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Dann wieder tröstet, dann wieder verwundet die Minne, was sie gut kann. Nach schweren Schlägen heilt sie: Wie könnte sich jemand davor schützen? Auch vor demjenigen, der alles einsetzt, was er jemals verdiente, verbirgt sie ihr Wissen. Demjenigen, dem sie es gönnt, schenkt sie süße Küsse von ihrem Mund, den anderen schickt sie in die Verbannung.
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Ach deus, wer wird demjenigen die Absolution erteilen, den die Minne in die Verbannung schickt? Sie selbst. Wenn einer etwas gegen sie vorbringen will, dann greife er sie so mutig an, dass er alles als einen großen Gewinn verbucht – Schmerz und Freude zugleich – und alles gleichermaßen als gut annimmt. So lehrt Minne ihn jubilieren und zeigt ihm all ihre Wunder.
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suete cussene van haren monde („die süßen Küsse von ihrem Mund“, V. 44) den ersten Vers des von Hadewijch so geliebten Hoheliedes aufrufen: „Dass er mich küsse mit dem Kuss seines Mundes“. Die Nennung der (kirchlichen?) Verbannung (V. 45) – eine Strafe, durch die der Verbannte außerhalb der Gemeinschaft gestellt, rechtlos und als vogelfrei erklärt wurde – wird in der juristischen Terminologie der folgenden Strophe weitergeführt: absolveren („Absolution erteilen“, V. 46), pleideren („vorbringen“, V. 48). Dieses letzte Wort kann vielleicht auch als ein Kampfbegriff aufgefasst werden („angreifen“) und so den Übergang zu der Kampfmetaphorik im anschließenden Vers herstellen (dat hi hare doe soe stout ghemoet, „dann greife er sie so mutig an“), während es auch das Schild in Erinnerung ruft (V. 26): Der altfranzösische Ausdruck jostes de plaideïces verweist auf ritterliche Zweikämpfe für junge, unerfahrene Ritter, bei denen die Regeln, anders als bei den eigentlichen Turnieren, im Vorhinein festgelegt wurden. Der Ausdruck jubileren („jubilieren“, V. 53) verweist auf das wortlose Singen, mit dem vor allem in religiösen Frauengemeinschaften des 13. Jahrhunderts der unbändi-
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Na groten storme werdet dat weder scone, dat wert ons dicke wel in scijn. Bi wilen belghen ende daerna soene doet de minne ghestade sijn. Die minne met allen proevet soe fijn, hi wert bi minnen pine soe coene, dat hi swert: ‚Minne, ic ben al dijn. Ic en hebbe niet el dan di te verdoene. Ay, edele minne, sidi al mijn.‘ Liete mi tghelucke in minnen ghenesen, dat mi ye hevet soe ghehaedt, ic soude noch der minnen al minne wesen, opdat mijn wee yet hadde bat. Soe woudic in hare diepe gewat al mine vonnessen verlesen ende minnen in minne gheven stat. Ware mine nature soe hoghe gheresen, soe soude mijn hongher wesen sat. Wi sijn in der minnen cost te lat, dies sijn wi hare te vreemde in desen. Dus bliven wi arm. Wet alle dat: die der minnen ware na hare ghetesen, si gave hem hare rike ende haren scat.
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gen Freude, die die innere Erfahrung von Gottes Anwesenheit mit sich brachte, Ausdruck verliehen wurde. Es fällt auf, dass Hadewijch das Wort „korrigiert“: Jubileren entsteht nicht aus der ekstatischen Freude, sondern aus der kompromisslosen Bereitschaft, wegen der Minne sowohl Freude als auch Leid zu akzeptieren. Die Worte, mit denen der Minnende am Ende der siebten Strophe diese Hingabe an die Minne unter Eid bestätigt, wurde unter anderem vom Hohelied 6,2 inspiriert: „Ich meinem Geliebten und mein Geliebter mir.“ 8 und Reprise In der letzten Strophe kommt die Ich-Figur erneut zu Wort. Ihre Bemerkung, dass das Glück sie immer gehasst habe (V. 64–65), schließt nahtlos an die Bemerkungen über die feindliche Haltung des Glücks in der zweiten Strophe an. Der Kreis ist geschlossen: Die Ich-Figur hofft, dass
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Nach einem großen Sturm wird das Wetter schön, das sehen wir sehr oft. Zuweilen wütend werden und sich danach versöhnen, lässt die Minne standhaft werden. Wer in allem die Minne als so fein erfährt, wird durch Minneschmerz so tapfer, dass er schwört: „Minne, ich bin ganz dein. Ich habe außer dir nichts zu verzehren. Ach, edle Minne, sei ganz mein.“
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Ließe mich das Glück, das mich immer so gehasst hat, in Minne genesen, wäre ich noch der Minne ganz Minne, damit mein Leid ein wenig gelindert würde. Dann würde ich in ihrem tiefsten Watt alle meine Urteile lesen und Minne in Minne ihren Platz geben. Wäre meine Natur so hoch emporgestiegen, dann wäre mein Hunger gestillt.
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Wir sind zu bequem, um für die Ausgaben für die Minne aufzukommen darum sind wir ihr in dieser Hinsicht zu fremd. Daher bleiben wir arm. Wisset das alle: Demjenigen, der dem Willen der Minne entspräche, dem gäbe sie ihr Reich und ihren Schatz.
das Glück, also die Minne, sie heilen, den Schmerz verringern und sie so in die Lage versetzen wird, Minne den Stellenwert zuzubilligen, der ihr zusteht. Damit gibt die Ich-Figur jedoch auch zu, dass sie selbst noch nicht in der Lage ist, nach der Lehre, die sie in den vorherigen Strophen erläutert hat, zu leben. Nach diesen klugen Lehren klingt ihre Mitteilung, dass sie wohl in der Lage wäre, für die Minne ganz und gar Minne zu sein (V. 66), wenn das Glück etwas nachgiebiger wäre, ziemlich ironisch. In der Reprise korrigiert sie sich kurz und ausdrucksstark selbst: Wir alle, die Ich-Figur und die Rezipienten, weisen in der Minne noch Mängel auf.
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Nu sal die tijt ende de voghele droeven. Dies en sal hi niet behoeven die hem met waerheyden wilt voegen te werkene in hogher trouwen raet. Hi sal sinen lieve met trouwen ghenoeghen. Dats dat alrerijcste toeverlaet. Hoe dat el metten tide steet, die metten werken in waerheit geet, hem es alle uren wel gereet bloyen, blijscap, somer ende dach. Hi es altoes nuwe ende van niede heet. Hem en doet meer winter wederslach. Die hem met trouwen in waerheit gheeft ende met waerheiden dan trouwen levet, dat verhoelne woert wert hem gheseghet dat nieman vreemders en mach verstaen, dan diet van smake ghevoelt al hevet ende in hoech gheruchte silentie ontfaen. Na neder stille hoech gheruchte, volcomene troest ende anxteleke sochte. Ondanc hebbe hem daerjegen duchte, sint dat al hevet dus groet ghewin. Die edele bloemen metter vrochte verstant ende merc, vri edel sin.
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Dieses Lied singt das Lob der personifizierten Hohen Treue. Treue inspiriert den Minnenden zum größtmöglichen Einsatz und zum Mut in schwierigen Zeiten, damit er, auch wenn er die Minne weit weg wähnt, weiterhin in ihrem Dienst lebt (Strophen 1–2). Wer auf eine wahrhaftige Weise der Minne treu bleibt, wird mit ihr eins werden (Strophen 3–4). Die Ich-Figur spornt die Rezipienten an, trotz allem der Minne treu zu bleiben, denn sonst werden sie wohl gerufen, aber nie auserwählt werden (Strophen 5–8). Das Lied endet mit dem Wunsch, dass Gott den edlen Minnenden, die sich in dem Moment noch verloren fühlen, die Einsicht geben möge, dass nur Treue zur Einheit mit der Geliebten führt (Strophe 9). 1–2 Der Natureingang erstreckt sich in diesem Lied auf zwei Strophen. Es wird Winter und die Natur trauert. Natur und Vögel können nichts anderes tun, als den Verlauf der Jahreszeiten zu erdulden. Der mystische Minnende hingegen kann sich über den Verlauf der Natur hinwegsetzen. Indem er mit Treue, in Wahrheit und mit immer neuem Eifer im Dienst der Minne arbeitet, sichert er sich einen bleibenden Sommer.
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Jetzt werden die Jahreszeit und die Vögel trauern. Das braucht derjenige nicht zu tun, der sich mit Wahrheit auf die Werke nach dem Rat hoher Treue ausrichten möchte. Er wird mit Treue seiner Liebsten genügen. Das ist die allergrößte Zuflucht.
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Wie es auch sonst um die Jahreszeit bestellt ist, wer mit seinen Werken in Wahrheit handelt, dem stehen immerzu Blüte, Freude, Sommer und Tag bereit. Derjenige ist immer frisch und heiß auf den Kampf. Kein Winter schlägt ihn mehr nieder.
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Wer sich mit Treue in Wahrheit hingibt und mit Wahrheit dann für die Treue lebt, dem wird das verborgene Wort gesagt, das kein Fremder verstehen kann, außer demjenigen, der bereits dessen Geschmack gefühlt und in einem großen Lärm Stille empfangen hat.
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Nach tiefer Stille großer Lärm, nach vollkommenem Trost ängstliches Seufzen. Derjenige, der das fürchtet, sei getadelt, da das alles einen solch großen Gewinn mit sich bringt. Verstehe und betrachte, freie edle Seele, die edlen Blüten mit der Frucht.
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3–4 Wahrhaftige Treue, die zugleich auch Treue in Bezug auf die Wahrheit bedeutet (V. 13–14), führt zur Einheit mit der Geliebten. Die Einheitserfahrung wird durch eine auditive Metapher hervorgerufen, die häufiger in Hadewijchs Texten vorkommt: Dem treuen Minnenden wird das verbum absconditum, das verborgene Wort (Hiob 4,12), zugeflüstert werden (V. 15). Das Wort ist nur für denjenigen hörbar, der bereits die Einheitserfahrung schmeckte und der mitten im Tumult der schmerzhaften Minneangriffe und des eigenen rasenden Verlangens Gottes tiefe Stille empfangen durfte (V. 16–18). In der vierten Strophe betont die Ich-Figur, dass beide Pole – Stille und Tumult, der Trost der genießenden Einheitserfahrung und der Schmerz der Verlassenheit – einen integralen Teil der Minne bilden (V. 19–22). Nur derjenige, der sich traut, nicht nur die Freude, sondern auch das Leiden in der Minne zu erleben, erwirbt die vollkommene Minne – genau wie die Blüten am Baum sterben, um den Baum Früchte tragen zu lassen (V. 23–24).
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Ay edele sinne, waer sidi henen? Hoe moghedi u dus neder ghelenen, die langhe ghetoent hebt ende ghescenen ochte ghi op trouwe altoes moest teren? Ochte ghi van trouwen ye wort gherenen, hoe moghedi u met men generen? Vele essere gheroepen ende scone ghetoent, ende lettel vercoren – wat hulpt verscoent? Die lose sijn selve doch meest gehoent, alse trouwe na werke sal ghelden al ende si hare vriende alle croent met dat si es ende wesen sal. Mer vri edele sinne ende welgheboren, beide gheroepen ende vercoren, en spaert cost noch pine daervoren te levene in hogher trouwen vlijt. Uwe leven si al heilich toren, tote gi uwes liefs gheweldech sijt. Ay herten, en laet u niet vernoyen uwe meneghe smerten: u sal saen bloyen. Ghi selt alle storme doreroyen, totedat ghi comt in dat weldeghe lant, daer lief in lief sal al dorevloyen. Dies si hier edele trouwe u pant.
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5–8 Am Ende der vorherigen Strophe sprach die Ich-Figur die Rezipienten direkt an (vri edel sin [„freie edle Seele“], V. 24). Der didaktische Ton der ersten vier Strophen erhält hiermit einen stark ermutigenden Charakter. Die Ich-Figur fragt die edlen Seelen zuerst vorwurfsvoll, wie es doch möglich sei, dass sie der Treue haben abschwören können (Strophe 5). Mit einem Vers aus dem Evangelium (V. 31–32 und V. 38: „Viele werden gerufen, aber nur wenige sind auserkoren“, Matthäus 20,16 und
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Ach edle Seelen, wo seid ihr hin? Wie könnt ihr euch so erniedrigen, ihr, die ihr lange gezeigt und den Anschein erweckt habt, dass ihr immer von Treue zehren würdet. Wenn ihr jemals von Treue berührt wurdet, wie könnt ihr euch mit weniger zufrieden geben?
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Viele werden mit schönen Versprechungen gerufen, aber nur wenige werden auserwählt – was hilft es, das zu beschönigen? Die Treulosen werden selbst am meisten betrogen, wenn Treue den Werken entsprechend bezahlen wird und sie all ihre Freunde mit dem, was sie ist und werden wird, krönt.
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Aber freie, edle und wohlgeborene Seelen, sowohl gerufen als auch auserkoren, spart weder Kosten noch Mühe, um in der Kampfeslust der hohen Treue zu leben. Euer Leben sei ganz eine heilige Leidenschaft, bis ihr eure Liebste besitzt.
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Ach Herzen, lasst euch nicht durch so manche Schmerzen entmutigen: Ihr werdet bald blühen. Ihr werdet durch alle Stürme hindurch rudern, bis ihr in das fruchtbare Land kommt, wo Liebster und Liebste ineinanderfließen. Dafür sei hier edle Treue euer Pfand.
Matthäus 22,14) erinnert sie sie daran, dass die Bequemen bestraft werden, während derjenige, der standhaft ist, durch Treue belohnt wird (Strophe 6). Danach ermahnt sie die edlen Seelen, alles Leid treu zu ertragen, denn die Leidenschaft, der bleibende Einsatz und die Hingabe im Minnedienst sind der einzige Weg, der zur Geliebten führt. Sie rät ihnen, sich nicht entmutigen zu lassen, denn der treue Minnende wird letztendlich in einer Einheit mit seiner Geliebten zusammenfließen (Strophe 8).
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God moete den edelen redene gheven, die hen verlichte dellendeghe leven, die nu ghequetset sijn ende sere verdreven onder der wreder vreemdere slach. Alse lief in lief sal werden verheven, hoe wel het hem dan liken mach!
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9 Das Lied endet mit dem Wunsch, dass Gott die edlen Minnenden lehren möge, dass auch das Leiden mit zur Minne gehört. Das Leiden wird hier im Besonderen als der Schmerz dargestellt, den die noblen Minnenden bei den grausamen Angriffen der „Fremden“ empfinden. Für Letztere ist das Leben im Dienst der Minne unbekannt. Leiden unter den Fremden, die auch Mitmenschen sind, hat eine christliche Konnotation: Christus wurde wegen seines treuen Dienstes für seinen Vater von seinem eigenen
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Gott möge den Edlen Einsicht gewähren, wodurch das jämmerliche Leben erleichtert wird, für diejenigen, die jetzt durch die Schlägen der bösen Fremden verletzt und weit fortgetrieben sind. Wenn Liebste in den Liebsten emporgehoben wird, wie gut wird es ihnen dann behagen!
Volk gekreuzigt. Aber genau dadurch konnte er auferstehen und zu seinem Vater heimkehren. So wird auch Treue die edlen Minnenden zu einer wahren Einheit mit ihren Geliebten führen, und in dem Moment wird ihnen bewusst, wie fruchtbar ihr Leiden gewesen ist.
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Lied 5
Al droevet die tijt ende die vogheline, dan darf niet doen die herte fine, die dore minne wilt doghen pine. Hi sal weten ende kinnen al – suete ende wreet, lief ende leet – wat men ter minnen pleghen sal. Die fiere, die daertoe sijn ghedeghen datse onghecuster minnen pleghen, si selen in allen wegen daerjeghen stout sijn ende coene, ende al ghereet ontfaen si troest, si slaen van minnen doene. Der minnen plegen es onghehoert, alse hi wel kint dies hevet becoert, want si in midden den troest testoert. Hi ne can ghedueren, dien minne gheraect. Hi ghesmaect vele onghenoemder uren.
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Das Lied behandelt in einer Reihe von Antithesen die Launen der Minne, die den Minnenden auf eine unvorhersehbare Weise zwischen Freude und Leid hin und her driften lässt. In den ersten drei Strophen wird betont, dass der Minnende im Dienst der unersättlichen Minne Mut braucht. Die Minne spornt ihn fortwährend an, seine Schuld abzutragen (Strophe 4). Wem das gelingt, der schmeckt das Wesen der Minne (Strophe 5). Die letzte Strophe fasst das Paradox des Minnelebens noch einmal zusammen.
Lied 5
1
Auch wenn die Jahreszeit und die Vögel trauern, das darf das edle Herz, das um der Minne willen Leid ertragen möchte, nicht tun. Es muss alles kennenlernen und erfahren – das Süße und das Böse, Liebe und Leid –, was man um der Minne willen tun muss.
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Die Mutigen, die so weit gediehen sind, dass sie sich der unersättlichen Minne hingeben, müssen ihr gegenüber in jeder Hinsicht mutig und tapfer sowie immer ganz bereit sein, sei es Trost, seien es Schläge von der Minne zu empfangen.
3
Das Handeln der Minne ist schrecklich wie derjenige gut weiß, der es erfahren hat, denn mitten im Trost zerstört sie. Der, den Minne trifft, kann es nicht ertragen. Er schmeckt viele unaussprechliche Stunden.
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1–3 Die ersten drei Strophen werden durch die Wiederholung von minne pleghen miteinander verbunden (V. 7, 9, 15), eine Verbindung, die dreimal unterschiedlich übersetzt werden muss: ter minnen plegen („um der Minne willen tun“); minnen (Objekt im Genitiv) pleghen („sich der Minne hingeben“); der minnen (Subjekt im Genitiv) plegen („das Handeln der Minne“) (vgl. ihre launische Art des Handelns in den Versen 13–14 und 17). Der Natureingang steht im Kontrast zu dem, was von dem mutigen Herzen erwartet wird. Im Gegensatz zu den Vögeln darf der Minnende nie trauern. Die unersättliche Minne lässt den Minnenden Liebe und Leid erfahren, aber er darf sich hierdurch nicht entmutigen lassen: Er muss in der Minne durchhalten.
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Bi wilen heet, bi wilen cout, bi wilen blode, bi wilen bout: hare onghedueren es menechfout. Die minne al maent die grote scout haerre riker ghewout, daer si ons toe spaent. Bi wilen lief, bi wilen leet, bi wilen verre, bi wilen ghereet: die dit met trouwen van minnen versteet, dat es jubileren: hoe minne versleet ende ommeveet in een hanteren. Bi wilen ghenedert, bi wilen ghehoghet, bi wilen verborghen, bi wilen getoget: eer selc van minnen wert ghesoeghet, doghet hi grote avonture, eer hi gheraect daer hi ghesmaect der minnen nature. Bi wilen licht, bi wilen swaer, bi wilen donker, bi wilen claer: in vrien troest, in bedwongenen vaer, in nemen ende in gheven moeten die sinne die dolen in minne altoes hier leven.
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4–7 Eine Aufzählung von Antithesen illustriert die Launenhaftigkeit der Minne. Es ist der Auftrag des Minnenden, diesen unbegreiflichen und unbeschreiblichen Wechsel von Trost und Schmerz durchzustehen.
Lied 5
4
Manchmal heiß, manchmal kalt, manchmal ängstlich, manchmal mutig, ihre Launenhaftigkeit ist vielfältig. Die Minne fordert vollständig die große Schuld ein für ihre mächtige Herrschaft, zu der sie uns einlädt.
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Manchmal lieb, manchmal schmerzhaft, manchmal weit, manchmal nah: Wer dieses mit Treue von der Minne begreift, der weiß, was jubilieren ist: Wie Minne in einer Bewegung niederschlägt und umarmt.
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Manchmal erniedrigt, manchmal erhöht. manchmal verborgen, manchmal sichtbar: Bevor jemand von Minne gesäugt wird, durchsteht er schwere Abenteuer, bis er dorthin kommt, wo er die Natur der Minne schmeckt.
7
Manchmal leicht, manchmal schwer, manchmal dunkel, manchmal hell: In freiem Trost, in beklemmender Angst, im Nehmen und im Geben müssen die Sinne, die in der Minne umherirren, immer hier leben.
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In V. 32 bietet die Autorin eine unerwartete Interpretation des Terminus jubileren, der den wortlosen Gesang in der Verzückung bezeichnet, der vor allem unter den mulieres religiosae weit verbreitet war. Wie an anderen Stellen in ihrem Werk (z. B. in Lied 3, Strophe 6) ‚korrigiert‘ Hadewijch diesen Terminus: Das echte jubileren ist ihrer Auffassung nach kein ekstatisches Phänomen, das die Mystikerin überwältigt, wenn sie Gottes Anwesenheit spürt, sondern äußert sich in der Gleichzeitigkeit von Freude und Trauer, welche die Minneerfahrung auf Erden notwendigerweise kennzeichnet.
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Lied 6
Alse ons onsteet de merte, verquicken alle dinghe ende alle crude ontspringen ende werden sciere groene. Alsoe doet de begherte, ende die minne sonderlinghe, want si wilt al verdingen ende werden in minne soe coene, dat si hare al in minnen gheve ende minne met minnen leve. Dat hare dies iet ontbleve, dies hadsi grote smerte. Die op beghint te gane, sie dat hi niet en verliest den erenst van goeden werken, ende diene dore die ere van minnen ende leve in hoghen wane van dat sijn herte kiest. Minne salne wel ghesterken. Hi sal sijn lief ghewinnen. Want minne niet en can hare selven ontsegghen ieman, si ne gheve hem dat si hem an, ende meer dan daer sine selve toe spane.
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Das Lied richtet sich ausdrücklich an die beginnenden Minnenden, die den Mut zu verlieren drohen. Wir können drei Teile unterscheiden. Die ersten vier Strophen lehren, dass der Minnende von der Minne belohnt werden wird, wenn er nicht aufgibt. In der fünften und sechsten Strophe zeigt Hade wijch anhand einer exemplarischen Ich-Figur, dass die Hingabe an die Minne grenzenlos sein muss: Das Verlangen des Menschen, wie groß es auch sei, ist immer zu klein für das, was Minne geben kann. In der letzten Strophe (7) macht sie sich selbst zur Wortführerin der Rezipienten im Hinblick auf die Minne: Die Süße der völligen Minne bleibt allzu lange aus. 1 Nicht zufällig wählt Hadewijch in ihrem Natureingang einen sehr frühen Monat des Frühlings, der in der europäischen Minnelyrik nur sehr selten vorkommt. Die Wahl passt zu ihrer Vorliebe, Natur bilder im Übergang vom Winter zum Frühling zu verwenden: Damit spiegelt die Metapher der wieder erwachenden Natur ihre Dynamik des Verlangens des Minnenden, der sich nur mit der völligen Minne zufriedengibt. Das Leben in Einheit mit der Minne, das in V. 10 mit dem Polyptoton ende minne met minnen leve („und Minne mit Minne lebe“) wiedergegeben wird, ist ein Leben, bei dem „alles bekom men wollen“ (V. 7) und sich völlig in Minne „hingeben“ (V. 9) auf eine harmonische Weise zusam menfallen. Das eine kann nicht ohne das andere. Die Dynamik des sich völligen Hingebens an die Minne kommt nie zur Ruhe. Es fällt auf, dass Hadewijch das Wort merte („März“) im ersten Vers in einer Reimposition verwendet. Das ist genau die Stelle, an der Veldeke in dem Lied, das Hadewijch
Lied 6
1
Wenn der März kommt, leben alle Dinge neu auf und alle Pflanzen keimen und werden schnell grün. Genauso verhält sich das Verlangen und im Besonderen die Minne, denn sie möchte alles bekommen und in Minne so mutig werden, dass sie sich ganz in Minne hingebe und Minne mit Minne lebe. Wenn ihr davon etwas fehlen würde, hätte sie große Schmerzen dadurch.
2
Wer zu wachsen anfängt, sehe zu, dass er den Eifer zu guten Werken nicht verliert und dass er diene wegen der Ehre der Minne und lebe in hoher Erwartung dessen, was sein Herz auserwählt. Minne wird ihn wohl stärken. Er wird seine Liebste erobern. Denn Minne kann sich selbst niemandem versagen, sondern gibt ihm, was sie ihm gönnt, und mehr als das, wozu sie ihn lockt.
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möglicherweise als Quelle diente (siehe S. 442 das Wort aberellen („April“) verwendet. Der Beginn von Hadewijchs Lied erinnert im Übrigen noch in anderer Hinsicht an die Anfangsverse des maaslän dischen Minnesängers: In dem aberellen / sô die bluomen springen, / sô loubent die linden / und gruonent die buochen („Im April, wenn die Blüten aufgehen, dann wachsen die Blätter der Linden und die Buchen werden grün“). Genau wie bei Hadewijch erscheint (ont)springhen auch bei Veldeke in einer Reimposition, während eine Verbform mit groene bei Hadewijch nur in diesem Lied vorkommt. Diese Übereinstimmungen verstärken den Eindruck, dass die brabantische Mystikerin dieses Lied des maasländischen Dichters kannte. 2–4 In diesen Strophen wird die Gegenseitigkeit der Minnebeziehung thematisiert. Das Thema ist nicht mehr das Verlangen oder Minne wie in der ersten Strophe, sondern der junge Minnende selbst, der Ratschläge erhält. Die drei Strophen sind immer nach demselben Schema aufgebaut. Der Min nende, der sich der Minne hingibt, ihr dient und die guten Werke nicht vergisst, wird von Minne die Kraft erhalten, den göttlichen Geliebten zu erobern und über die Minne zu herrschen. „Sich völlig hin geben“ und „etwas erhalten“ passen somit harmonisch zusammen. In der ersten Hälfte der zweiten und vierten Strophe (V. 13–18 bzw. 37–42) werden die Verpflichtungen des Minnenden aufgezählt, in der zweiten Hälfte (V. 19–24 und 43–48), was die Minne ihm gibt.
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Lied 6
Die minne met wane draghet, dien hevet noch rijm bedwonghen, dat hi niet en can ghegroyen alset ghenoecht der minnen. Soe gevoelt hi der edelre minnen waghe. Daer en wert gheen loef ontspronghen. Hi en mach oec niet wel bloyen, daer en si die sonne bi, dat es: gherechte minne, die bloyen doet de sinne. Verliest hi ochte winne, dats hem altoes behaghe. Die metter jongher joecht ane minne doet beghin, ende hare al es onderdaen, ende ghevet al sine cracht, ende dat oercondet metter doecht, ende daertoe doet al den sin, hi sal al vri ontfaen die onghehoerde macht. Dat sal hi wel volbringhen, en sal hem niet ontlinghen. Hi sal noch de minne dwinghen ende wesen al hare voeghet.
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In der dritten Strophe wird andererseits beschrieben, was der Minnende erfährt, der sich nicht völlig von der Minne führen lässt. Wer nicht in hoghen wane („in hoher Erwartung“, V. 17) lebt, sondern met wane („mit Zweifel“, V. 25) minnt, wird in der Minne nicht wachsen können (V. 27) und erfährt sie als eine schwere Last (V. 29–30). In jeder dieser Strophen gibt es auch ein Echo des Natureingangs aus der ersten Strophe: Das geschieht am Anfang der zweiten und vierten Strophe mit der Thematik des
Lied 6
3
Wer mit Zweifel minnt, den hat der Reif noch bezwungen, sodass er nicht so hoch wachsen kann, wie es der Minne behagt. Dann fühlt er die Bürde der edlen Minne. Dort keimt kein Blatt. Er kann auch nicht gut blühen, es sei denn, es ist Sonne dabei, das ist: wahre Minne, die die Sinne blühen lässt. Ob er verliert oder gewinnt, es gefällt ihm immer.
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Wer mit jugendlichem Übermut mit Minne beginnt und ihr ganz untergeben ist und seine ganze Kraft gibt und das mit Tugend beweist und sich dem ganz widmet, der wird in voller Freiheit die außergewöhnliche Macht empfangen. Das wird er vollbringen und es wird ihm nicht entwischen. Er wird die Minne noch besiegen und ganz ihr Vogt sein.
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„Anfangs“ (in V. 13 erinnert auch das Verb opgaen „wachsen“ an das Keimen der Pflanzen in V. 3), aber vor allem in der dritten Strophe: Der Dynamik des frühlingshaften Erfreuens (V. 2), dem ontspringen („keimen“, V. 3) und dem groene worden („grün werden“, V. 4) aus dem Natureingang, stehen das bedwonghen („bezwungen“) werden durch den winterlichen Raureif (V. 26), das nicht groyen („nicht wachsen“, V. 27), nicht ontspringhen („nicht keimen“, V. 30) oder nicht bloyen („nicht blühen“, V. 31) des Zweifelnden gegenüber. Die wahre Minne wird dann wiederum mit der Sonne verglichen, die die Kräfte des Minnenden erblühen lässt, sodass dieser Behagen darin empfindet, was die unbegreifli che Minne für ihn bereit hält, Sieg und Niederlage.
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Lied 6
Waer vinde ic der minnen iet – die mi ute mi doet dolen – na miere herten ghenoeghen, dat iet suete mine pine? Al volch ic hare, si vliet. Al dole ic in hare scolen, si en wille mi in al voeghen. Het wert mi saen in scine. Ay, ic spreke van hertennoet. Mijn wederstoet die es te groet ende mi es derven der minne ene doet, want ic en macher ghebruken niet. Sint ic al minnen soude, wan gave si mi al minne? Doch na mijn cleine begheren, dat ware mi ghenoechte clene. Doch hebbic omme minnen houde verteert al mine sinne. Ic en weet wies mi gheneren. Si weet wel wat ic mene. Want ic hebbe soe dat mine verlevet, ic en hebbe el niet, si en ghevet, ende al gave si iet, hongher blevet, want ict gheheel al woude.
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5–6 Im Gegensatz zu der Klarheit der Lehre in den vorherigen Strophen beschreibt Hadewijch hier die schmerzhaften Erfahrungen der Ich-Figur als Minnende. Die Minne erscheint unerreichbar (Strophe 5), aber in der folgenden Strophe wird deutlich, dass dies so ist, weil das Maß dessen, was die Ich-
Lied 6
5
Wo finde ich etwas von der Minne – die mich aus mir heraus irren lässt –, das meinem Herzen genügt, sodass mein Schmerz etwas gelindert wird? Auch wenn ich ihr folge, flieht sie. Auch wenn ich in ihrer Schule umherirre, kann sie mir überhaupt nicht behagen. Das wird mir schnell deutlich. Ach, ich spreche aus Herzensnot. Mein Unglück, das ist zu groß, und das Entbehren der Minne ist für mich wie der Tod, denn ich kann sie nicht genießen.
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Da ich ganz minnen sollte, warum gäbe sie mir dann nicht die ganze Minne? Aber im Vergleich zu meinem geringen Verlangen würde mir das wenig Vergnügen bereiten. Doch habe ich wegen der Huld der Minne all meine Sinne verzehrt. Ich weiß nicht, wovon ich noch leben kann. Sie weiß wohl, was ich meine. Denn ich habe das, was ich besaß, so sehr verbraucht, dass ich nichts anderes habe als das, was sie gibt, und gäbe sie etwas, Hunger bliebe, denn ich möchte es alles ganz.
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Figur verlangen kann, so groß es auch sei, zu klein bleibt. Was sie bekommt und begreifen kann, ist immer weniger als die ganze Minne. Der Hunger des wahren Minnenden, der Ich-Figur, wird nie gestillt. Aber gerade dieser Hunger ermöglicht es dem Minnenden, in der Minne zu wachsen.
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Lied 6
Ay, hoe maghic dan ghedueren, ende si die dit meer leven, dat ons de minne geet vore ende haer selven aldus onthout? Ay, suetste alre creaturen, dat ghi mi u niet en wilt volgheven soe vele alse mi uwes behore, dat en maket mi niet soe stout. Maer ic claghe van uwen vrienden, die u ie met trouwen dienden ende ye gherne hare wesen ontsienden omme suetheit uwer naturen. Nu sijn si in swaren banden ende vremde in haers selfs lande. Daer dolen si in de hande der vreemder avonturen.
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7 und Reprise In der letzten Strophe und in der Reprise spricht die Ich-Figur auch im Namen der anderen wahren Freunde der Minne: Genau wie die Ich-Figur selbst erfahren sie die Minne als ein schmerzliches und unfassbares Abenteuer. Dieses Leben in endlosem, unerträglichem Verlangen ist der Zustand des wahrhaftig Minnenden hier auf der Erde.
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7
Ach, wie kann ich es dann ertragen und wie diejenigen, die es auch erleben, dass die Minne vor uns her läuft und sich auf diese Weise uns vorenthält. Ach, süßeste aller Kreaturen, dass du dich mir nicht ganz hingeben willst, in einem solchen Maße, wie es mir zusteht, das ist es nicht, was mich so traurig macht. Aber ich klage im Namen deiner Freunde, die dir immer treu gedient haben und sich selbst wegen der Süße deines Wesens immer gern zurücknahmen.
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Jetzt sind sie in schweren Ketten und Fremde in ihrem eigenen Land. Dort irren sie, in die Hände des fremden Abenteuers.
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Lied 7
Bi den nuwen jare hoept men der nuwer tide, die nuwe bloemen sal bringhen ende nuwe blijscap menechfout. Die doghet omme minne vare, hi mach wel leven blide: si ne sal hem niet ontlingen. Want minnen rike ghewout es nuwe ende wel ghemate ende suete in den ghelate, ende suetet met orsate alle nuwe sware. Ay, hoe nuwe ware nu deghene die nuwer minnen diende met nuwer rechter trouwen, alsoe nuwe te rechte al soude. Tierst dat hem minne verscene, soe hadde hi lettel vriende. Dat dorste hem lettel rouwen, hadde hi der minnen houde. Want si ghevet dat nuwe goet, dat maket den nuwen moet, die in al nuwen doet daer minne nuwe in gherene.
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Dieses Lied besingt auf nahezu mantrische Art und Weise die erneuernde Kraft der Minne. Hade wijch verwendet dafür die Stilfigur der Wiederholung: In 88 Versen kommt der Wortstamm nuwe nicht weniger als 56 Mal vor! Am Beginn des neuen Jahres kann der Minnende, der wegen Minne leidet, eine neue Berührung durch die Minne erwarten (Strophe 1). Ein „neuer Minnender“ minnt voller Lei denschaft und gibt sich der Minne völlig hin (Strophe 2). Im Gegensatz dazu ist ein „alter Minnender“ einsam und verbittert, weil er sich nicht von der Minne geminnt fühlt (Strophe 3). Die Ich-Figur pro filiert sich als eine alte Minnende, die sich gerade durch den Schmerz in der Minne erneuern lässt (Strophe 4). In der Tat halten „neue, alte Minnende“ die Leidenschaft nach der Minne lebendig, auch wenn sie sich verlassen fühlen (Strophen 5–6). Der Schmerz der Verlassenheit trennt den Minnenden nicht von der Minne, sondern ermöglicht erst eine vollkommene Erneuerung, die in der Erfahrung mündet, völlig eins mit der Minne zu sein (Strophe 7). 1 Am Anfang des neuen Jahres hofft man, dass der Winter in eine Jahreszeit voller Blumen und Glück übergeht. Genauso hofft der Minnende, der wegen Minne leidet, dass seine Geliebte ihm eine neue Berührung schenkt, aus der er neue Kraft schöpfen kann. Der Natureingang (V. 1–3) erinnert an die Sequenz Mundi renovatio nova parit gaudia („Die Erneuerung der Welt lässt Freude entspringen“)
Lied 7
1
Zum neuen Jahr hofft man auf eine neue Jahreszeit, die neue Blumen und neue Freude bringen wird. Wer wegen Minne Angst erleidet, kann nun erfreut sein: Sie wird ihm nicht entgehen. Denn die gewaltige Macht der Minne ist neu und sehr freundlich, süß in ihrem Handeln und versüßt mit Belohnungen jedes neue Leid.
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Ach, wie neu wäre nun derjenige, der neuer Minne mit neuer aufrichtiger Treue diente, wie es ein Neuer zu Recht tun sollte. Von dem Moment ab, an dem Minne ihm zuerst erschien, hatte er nur wenig Freunde. Darüber bräuchte er wenig zu trauern, wenn er nur die Zuneigung der Minne hätte. Denn sie gibt das neue Gut, das neuen Mut wachsen lässt, der alles erneuert, was Minne neu berührt.
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des Adam von Sankt Viktor († 1146), die während der Osterliturgie gesungen wurde und in der, wie in vielen Osterhymnen, die Freude zum Ausdruck kommt, dass Christus den Menschen renovatio („Erneuerung“) schenkte: Sein Tod und seine Auferstehung erlösten die Menschen von der Gebun denheit an das Irdische und dem damit einhergehenden Leiden, und eröffneten für ihn die Möglich keit, ein „neuer Mensch“ zu werden und die Freude der ewigen Glückseligkeit zu erfahren. Es ist für Hadewijch typisch, dass die Erneuerung, die in der Ostersequenz bejubelt wird, in ihrem Lied noch in der Zukunft liegt. Die Fastenzeit ist noch nicht vorbei. Jedoch kann der Minnende, der in dem Moment im Dienst der Minne leidet, mit Sicherheit erwarten, dass ihm eine erneute und eine erneuernde Berührung durch die Minne vergönnt sein wird. 2–3 In der zweiten und dritten Strophe kontrastiert Hadewijch das Profil eines „neuen Minnenden“ (Strophe 2) mit dem eines „alten Minnenden“ (Strophe 3). Ein neuer Minnender minnt mit völliger Hingabe und völligem Vertrauen (V. 13–16). Es interessiert ihn nicht, dass Freunde in der Welt aus bleiben (V. 17–20). Er lebt ja im Dienst der Minne und weiß, dass er nur in ihr, und das immer wieder aufs Neue, neuen Mut und neue Freude finden wird (V. 21–24). „Alt“ wird ein Minnender, wenn er im
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Lied 7
Ay, de minne es nuwe alle uren ende si vernuwet alle daghe. Si maect de nuwe nieboren altoes in nuwen goede. O wi! Hoe mach die oude ghedueren die hem vore minne versaghe! Hi levet wel out in toren, altoes te cleinen spoede. Want hi es van den nuwen ontweghet ende hem es dat nuwe ontseghet, dat in de nuwe minne gheleghet, in nuwer minnen nature. Ay, waer es nu nuwe minne met haren nuwen goede? Want mi doet mine ellende te menich nuwe wee. Mi smelten mine sinne in minnen oerewoede. Die afgront daer si mi in sende die es dieper dan die zee, want hare nuwe diepe afgronde, die vernuwet mi de wonde. Ic en sueke meer ghesonde eer icse mi nuwe al kinne.
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Minnedienst verbittert. Er verliert seine Leidenschaft und verschließt sich, einerseits vor den Minnen den, die sich wohl erneuern (V. 33), andererseits vor der endlosen Dynamik der Erneuerung, welche die Minne bietet (V. 34–36). 4 Die Ich-Figur, die in der vierten Strophe auftritt, präsentiert sich zuerst als alte Minnende, die sich von der Minne verlassen fühlt. Genau wie die Minnende im Hohelied 5,6 fühlt die alte Minnende, dass ihre Seele wegen orewoet („Sturmwut“) nach der Minne (V. 41–42) wegschmilzt. Mit einem Verweis auf Psalm 42 (41),8 („Abgrund ruft Abgrund hervor“) vergleicht Hadewijch den Schmerz des ratlosen Suchens nach der Geliebten mit der Erkenntnis eines unendlichen tiefen Abgrunds (V. 43–46). Das Bild ist traditionell: Auch Augustinus, Bernhard von Clairvaux und Richard von St. Viktor lasen diesen
Lied 7
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Ach, die Minne ist allzeit neu und erneuert sich jeden Tag. Sie lässt die Neuen immer in neuem Wohlergehen neu geboren werden. O weh! Wie kann der Alte, der sich vor Minne fürchtet, das ertragen? Er lebt, sehr alt, in Bitterkeit, immer mit nur kleinem Erfolg. Denn er ist von den Neuen entfernt, und ihm wird das Neue vorenthalten, das in der neuen Minne liegt, in der Natur der neuen Minne.
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Ach, wo ist nun neue Minne mit ihrem neuen Gut? Denn mein Elend bringt mir zu viel neuen Schmerz. Mir schmelzen meine Sinne in der Sturmwut der Minne. Der Abgrund, in den sie mich schickt, ist tiefer als das Meer, weil ihr neuer tiefer Abgrund meine Wunde erneuert. Ich suche nicht mehr nach Heilung, bis ich sie für mich ganz als Neues kennenlerne.
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Psalm als eine Metapher für das endlose Verlangen des irdischen Menschen nach dem ewigen Gott. Hadewijch kombiniert dieses Bild des unendlichen Abgrunds mit dem Bild der Liebeswunde, die nie heilt, bis zu dem Moment, in dem man die alles übertreffende Minne ganz besitzt. In den letzten Versen der vierten Strophe profiliert sich die Ich-Figur nicht länger als eine verbitterte, klagende „alte“ Minnende, sondern als jemand, der mit der Hingabe, die eine „neue“ Minnende charakteri siert, den Schmerz des Verlangens nach ihrem Geliebten erlebt und keine Erleuchtung verlangt, bis zu dem Moment, in dem sie der Minne vollkommen würdig ist (V. 47–48).
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Lied 7
Maer die nuwe oude vroede, die nuwe hen minnen gheven ende nuwe hen dan niet en sparen, die hetic nuwe ende out. Si leven in hoghen moede, want si hem ane minne cleven ende met niede altoes anestaren. Dies wast in minnen hare ghewout. Want si moeten alse nuwe hen wenen ende alse oude op minne lenen, daerse lief wilt leiden henen met nuwen moede in nuwen woede. Die nuwer minnen scolen met nuwer minnen volghen na nuwer minnen rade in nuwer trouwen ere, si scinen dicke in dolen. Nochtan sijn si diepst verswolgen in minnen ongenade, daer si na swelten sere. Ende soe comt dat nuwe clare met allen nuwen ware ende bringhet nuwe openbare dat mi hadde stille bevolen.
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5–6 In der fünften und sechsten Strophe beschreibt Hadewijch die Minnenden, die zugleich „alt“ und „neu“ sind. Solche erfahrenen Minnenden sind in der Lage, die Leidenschaft in der Minne immer lebendig zu halten, auch wenn sie sich verlassen fühlen. Indem sie sich immer wieder neu mit der ewig neuen und immer erneuernden Minne verbinden, finden sie immer wieder aufs Neue den Mut, der notwendig ist, der Minne treu zu bleiben (V. 49–56). In der Leidenschaft, mit der sie nach der Minne jagen, ähneln sie jungen feurigen Minnenden (V. 57). Gleichzeitig zwingen sie die Verletzun gen, die sie dabei erleiden, als alte Minnende mit einem Entgegenkommen der Minne zu rechnen (V. 58). In der vollkommenen Verlassenheit geben sie sich, verletzt, weiter der Minne hin und lassen
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Aber die neuen alten Klugen, die sich erneut Minne hingeben und sich dann als Neue nicht schonen, die nenne ich neu und alt. Sie leben in Hochstimmung, denn sie binden sich an die Minne und schauen sie immer mit Leidenschaft an. Dadurch wächst ihre Macht in der Minne. Denn sie müssen sich wie Neue hingeben und sich wie Alte auf die Minne stützen, dorthin, wohin die Liebste sie führen möchte, mit neuem Mut in neuer Wut.
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Diejenigen, die die Schule der neuen Minne mit neuer Minne besuchen, entsprechend dem Rat neuer Minne, neuer Treue zu Ehren, scheinen oft umherzuirren. Dennoch sind sie am tiefsten in die Ungnade der Minne, nach der sie sehr lechzen, verschlungen. Und dann kommt die neue Klarheit mit ganz neuer Wahrheit und offenbart neu, was mir heimlich versprochen wurde.
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sich ausschließlich von ihr führen, ohne in den Vergnügungen, die außerhalb der Minne liegen, Erleichterung zu suchen (V. 58–60). In den Augen der Außenwelt scheinen sich solche „neuen, alten Minnenden“ verirrt zu haben (V. 65). Aber eigentlich sind sie gerade eins mit der Minne. Sie sind in der Lage, sich völlig der Ungnade der Minne hinzugeben. Sie akzeptieren, dass Minne ihnen ihre gnadenreichen Berührungen vorenthält. Und so erfahren sie genau in dem Leiden die Einheit, die Minne ihnen bei der ersten Berührung voller Freude versprochen hatte.
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Lied 7
Ay, hoe suete es nuwe melden! Al ghevet nuwe kere ende menech nuwe doghen, het es nuwe toeverlaet. Want minne saelt ons wel ghelden met groter nuwer ere. Die minne salre ons met doen hoghen in minnen hoechste raet, daer dat nuwe gheheel sal sijn in nuwen ghebrukene fijn, alse: ‚Nuwe minne es al mijn.‘ Ay, dit nuwe ghesciet te selden. Alle die dit nuwe scuwen ende hem met vremden nuwen vernuwen, hen selen de nuwe mestruwen ende met allen nuwen scelden.
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7 und Reprise In der letzten Strophe fasst Hadewijch das Thema für die Mitglieder des Kreises (ons; „uns“, V. 77) auf didaktische Weise zusammen. Verlassenheit vergrößert nicht den Abstand des Min nenden zu der Minne, sondern gibt ihm gerade die Möglichkeit, der Minne in dem zu begegnen, was sie dem Minnenden in dem Moment bietet (Strophe 7). Wer dieses kann, kennt Minne vollkommen
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Ach, wie süß ist es, Neues bekanntzumachen! Auch wenn dies neue Rückschläge und manches neue Erdulden nach sich zieht, ist es ist eine neue Hoffnung. Denn Minne wird es uns sicher mit großer neuer Ehre vergüten. Die Minne wird uns darum in den höchsten Rat der Minne erheben, dorthin, wo das Neue vollkommen sein wird, in einem neuen herrlichen Genießen, als: „Neue Minne ist ganz mir.“ Ach, dieses Neue geschieht zu selten.
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Alle, die sich vor diesem Neuen scheuen und sich mit fremdem Neuem erneuern, denen sollen die Neuen misstrauen und sie mit allen Neuen tadeln.
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und kann sie vollkommen genießen (ghebruken, V. 82). In der Reprise wird am Ende das Motiv des Fremden eingeführt. Die wahren Minnenden müssen diejenigen ermahnen, die in Dingen, die der Minne fremd sind, Erneuerung suchen.
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Altoes mach men van minnen singhen, eest herfst, eest winter, eest lenten, eest somer, ende jegen hare ghewout verdinghen, want en onsteet hare nieman vromer. Mer wi, traghe, segghen dicke in comer: ‚Soude si mi alsoe na bedwinghen? Ic mach mi metten genen minghen die rasten hebben gheploen, ende bliven thuus; waer mochtic gaen om mijn verdoen?‘ Die nedere metten armen sinnen, die sijnt die den cost ontsien, dat si hen scuwen van der minnen, daer hen al goet af soude ghescien. Ochte si hen van den dienste ontien, nemen dat sire ane winnen. Trouwe salse toenen ende arm doen kinnen vore der minnen rike al bloet. Dese sijnt die dat hare verdaden sonder der minnen noet.
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Dieses Lied (vM-9) stellt die tapferen Minnenden den feigen gegenüber, denen der Mut fehlt, die Entbehrungen durchzuhalten, die zum Minnedienst gehören. Die Feigen müssten sich an die personifizierte Tugend Treue wenden, denn sie befähigt den Minnenden durchzuhalten (Strophen 1–2). Der Gegensatz zwischen dem treuen und dem faulen Minnenden wird in der dritten bis fünften Strophe mit einem Vergleich deutlich: Wie man einen edlen Mann am äußeren Erscheinungsbild, an seiner Noblesse und seinem Luxus, erkennt, die er wegen seiner großen Ausgaben zur Schau stellen kann, erkennt die Minne die Ihren an der inneren Schönheit, die diese wegen ihrer fortwährenden Anstrengungen erwerben. Die Ich-Figur nimmt in diesem Lied verschiedene Rollen ein. In der ersten und elften Strophe zählt sie sich durch den einschließenden Plural „wir“ zu den Leichtsinnigen, denen der Mut in der Minne fehlt. In der sechsten, achten und neunten Strophe sowie in der Reprise distanziert sie sich gerade von diesen. Sie profiliert sich dort als Meisterin, die schon weiter fortgeschritten ist als die Anderen und bietet ihnen ihre Lehre an. Ihr Ratschlag ist Treue, auch in einem Zustand des Unglücks und der Ungnade. Denn Minne erlernt man nicht in der genießenden Einheitserfahrung, sondern, im Gegenteil, dadurch, dass man Werke für sie verrichtet und ihr dennoch nicht genügt (Strophe 9). 1 Der Natureingang beschränkt sich auf eine Aufzählung der Jahreszeiten in Vers 2. Für den Minnenden hat der natürliche Verlauf der Jahreszeiten keine Bedeutung. In welcher Jahreszeit er sich auch befindet, er muss immerzu bereit sein, im Dienst der Minne zu stehen und ihre Herausforderungen mutig anzunehmen. In der zweiten Hälfte der Strophe kontrastiert die Autorin diese ideale Einstellung mit der schlechten Einstellung der trägen Minnenden, die sie mit dem einschließenden wi andeu-
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Immer kann man von Minne singen, sei es Herbst, sei es Winter, sei es Frühling, sei es Sommer, und gegen ihre Macht vor Gericht antreten, denn der Tapfere weicht ihr nicht aus. Aber wir Trägen sagen oft im Kummer: „Muss sie mich so bezwingen? Ich möchte mich lieber unter diejenigen mischen, die die Ruhe gewählt haben, und zu Hause bleiben; warum sollte ich fortgehen, um verzehrt zu werden?“
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Die Niederen mit den schwachen Gemütern, das sind diejenigen, die den Aufwand fürchten und sich vor der Minne, durch die ihnen all das Gute geschehen würde, scheuen. Wenn sie sich dem Dienst entziehen, nehmen sie an, dass sie gewinnen. Treue wird sie demaskieren und das Ärmliche gegenüber dem Reichtum der Minne ganz freilegen. Das sind diejenigen, die das Ihre ohne Zwang der Minne verspielt haben.
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tet. Letztere fragen sich aus Bequemlichkeit, ob sie wirklich von der Minne gerufen wurden (V. 6). Statt den Handschuh zu nehmen, den Minne ihnen zuwirft, bleiben sie zu Hause (V. 7–10). Das Verb verdoen („verzehren, alles ausgeben“), mit dem die Strophe abschließt, kommt an verschiedenen Stellen im Lied vor (V. 19, 53). Der Unterschied zwischen den bequemen und den mutigen Minnenden liegt darin, dass beide Gruppen die ihnen zur Verfügung stehenden Mittel unterschiedlich einbringen. 2–3 In der zweiten und dritten Strophe verdeutlicht die Autorin, dass die Bequemen, die die Minnequeste aufgeben und ein schnelles Vergnügen wählen, eine falsche Wahl treffen (V. 17, 19). Durch ihren Mangel an Einsatz und Treue können sie am Ende der Reise von der Minne nicht erkannt und somit auch nicht in sie aufgenommen werden. Statt ein Brautkleid zu erhalten, mit dem die Seele die Einheit mit der Minne feiern kann (Matthäus 22,11–13), enden diese Betrüger in den zerlumpten Kleidern eines Bettlers (V. 27–30). Die personifizierte Tugend Treue wird sie in dem Moment demaskieren (V. 17–18). Umgekehrt gilt, dass derjenige, der sich an die Tugend der Treue hält, Minne sicher finden wird. Der Ausdruck Des ghevet die trouwe segel en pant („Dafür gibt Treue Siegel und Pfand“) wurde vielleicht von Epheser 1,13–14, beeinflusst („In ihm bist auch du zum Glauben gekommen, versiegelt
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Die gherne woude doghen tsuete ellende, die weghe ter hogher minnen lant, hi vonde sijn lief, sijn rike ten inde. Des ghevet die trouwe segel ende pant. Nu es menech dorpere soe truwant, hi nemt dat hem es naest ghehende ende blivet vore minne die ombekinde metter truantien cleet. Soe en hevet hi vorme noch ere, daer minne dat haer bi versteet. Scone ghelaet ende scone cleder ende scone redene cieren den man. Al dogen om minne ende niet te wreder, dat es scone ghelaet die dat wel can. Die werke sijn de cleder dan, met nuwen niede ende niet te ghemeder, ende den vreemden te alre noet ghereder dan ane sijns selfs bekinnen. Dat es varuwe! Die tekene cieren alremeest vore hogher minnen. Vorwerdeghe woert ende grote ghichten buten huus ende sconen cost daerbinnen eren den man meest ende verlichten. Hierbi mach menne best bekinnen. Alsoe eest oec met hem die minnen, eest dat si in der waerheit stichten ende met scoenre cost daerbinnen dichten, alsoet minnen best betame, ende gheven al minne om minne: die ghichte es minnen best bequame.
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mit dem heiligen Geist der Verheißung, der das Pfand unseres Erbes ist“). Er hat auch einen juristischen Beiklang, und das gilt auch für andere Wörter in den ersten Strophen: verdinghen ([„vor Gericht antreten“], V. 3); comer (auch: „Zinslast, Schuld“, V. 5). Der Minnende ist ein Schuldner, der von der Minne vor Gericht geladen wird und nur mit Treue seine Schuld begleichen kann. 4–5 Die Kleidermetaphorik, die am Ende der dritten Strophe eingeführt wurde (metter truantien cleet [„Bettlerkleid“], V. 28), bildet den Anknüpfungspunkt für einen breit angelegten Vergleich zwischen der äußeren nobilitas des Edelmanns und der inneren Schönheit der gottsuchenden Seele, die der
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Wer gerne das süße Elend und die Wege zum hohen Land der Minne ertragen würde, fände am Ende seine Liebste, sein Reich. Dafür gibt Treue Siegel und Pfand. Jetzt ist mancher Bauer ein solcher Vagabund, dass er das nimmt, was ihm am nächsten ist und für die Minne ein Unbekannter in einem Bettlerkleid bleibt. So hat er weder das Aussehen noch das Ansehen, woran Minne die Ihrigen erkennt.
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Schönes Aussehen, schöne Kleider und schöne Worte zieren den Mann. Alles um der Minne willen und ohne Bitterkeit zu ertragen, wer das gut kann, der sieht schön aus. Die Kleider sind dann die Werke, ausgeführt mit neuem Eifer und ohne Selbstgefälligkeit, und mit denen man den Fremden mehr als den eigenen Bekannten in jeder Not bereit steht. Das ist Farbe! Diese Zeichen zieren vor der hohen Minne am allermeisten.
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Verlässliche Worte, große Geschenke außer Haus und schöner Aufwand im Innern ehren den Mann am meisten und stellen ihn in ein gutes Licht. Daran kann man ihn am besten erkennen. So verhält es sich auch mit denen, die minnen, wenn sie in der Wahrheit stehen und sich dort mit großem Aufwand überlegen, wie es Minne am besten zieme und ganze Minne um der Minne willen geben: Dieses Geschenk gefällt Minne am besten.
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noblen Minne (hogher minnen [„hohe Minne“], V. 40) würdig sein will. Der Minnende muss schwere Anstrengungen auf sich nehmen, genau wie der Edelmann, der die gewünschte elegante Lebensform erst erreicht, wenn er bereit ist, große Ausgaben zu tätigen (cost [„Ausgaben, Aufwand“], V. 42, 47; siehe auch V. 12 und V. 52).
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Ic segghe van minnen ende rade ghecierden cost ende heersche daet. Dat trouwe soude ghelden dat minne verdade, dats meneghen cleine toeverlaet die in den bande van minnen staet, in onghebrukene ende in onghenade. ‚Die minne loent altoes, al comt si spade,‘ dats daertoe mine sage. Die hare volgen, si liden meneghen nacht bi dage. Wie soude van minnen altoes gheprisen, die ghevet bi daghe soe meneghen nacht? Dien si soude cleden, eren ende spisen, dien doet si al ute siere macht. Die gherne goude der minnen pacht, soude si in allen rechte wisen ende met trouwen zeghele soe hoghe doen risen daer lief mochte lief hantieren, ende in allen ghebrukene van minnen eren ende cieren. Dat scoenste hanteren dat minnen dochte, dat waer lief met lief soe doremint, dat lief met minnen soe lief doresochte, dat hem el niet en ware bekint dan: ‚Ic ben die minne met minnen verwint.‘ Mer hi waer meer verwonnen die minne vervochte ende dan in minnen te nieute werden mochte. Die cracht ghinghe als te voren. Die hoghe materie, daeraf wart minne van iersten geboren.
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6–8 In der sechsten Strophe tritt Hadewijch ausdrücklich als Meisterin in den Vordergrund. In der Ich-Person erteilt sie Ratschläge: Völliger Einsatz (V. 51–52) in vollem Vertrauen, dass Minne den Einsatz früher oder später belohnt (V. 57), ist der einzige Halt für den Minnenden, der sich in einem Zustand der Ungnade befindet. Mit einem Zitat aus Hiob (si liden meneghen nacht bi dage [„tagsüber erleiden sie manche Nacht“], V. 59–60; siehe Hiob 5,14) beschreibt sie in der siebten Strophe, wie diejenigen, die die mystische Nacht erfahren, sich fühlen: Nachdem sie sich an die Minne gebunden haben (in den bande van minnen [„im Band der Minne“], V. 55), finden sie die Minne nicht mehr und befinden sich in einem Vakuum. Hadewijch formuliert ihre Verwunderung in Form einer Klage, wobei sie die Kleidermetaphorik und den juristisch-feudalen Wortschatz der vorherigen Strophen erneut aufgreift: Diejenigen, die treu alle Pacht bezahlen, die sie der Minne schuldig sind, müssten von ihr doch eigentlich Kleidung, Nahrung und Ehre erwarten, müssten sie doch genießen können!
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Ich spreche von Minne und rate zu prächtigem Aufwand und herrlichen Taten. Dass Treue dafür zahlen soll, was Minne verbrauchte, das ist für manchen, der im Band der Minne ohne Genießen und in Ungnade steht, nur ein kleiner Trost. „Die Minne lohnt immer, auch wenn sie spät kommt,“ das ist, was ich dazu sage. Wer ihr folgt, erleidet tagsüber so manche Nacht.
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Wer würde die Minne, die tagsüber so manche Nacht bringt, immer preisen? Demjenigen, den sie kleiden, ehren und speisen müsste, dem nimmt sie seine ganze Macht. Wer gern die Pacht der Minne bezahlte, dem müsste sie Recht gewähren und ihn mit treuem Siegel so in die Höhe steigen lassen, dorthin, wo Liebster mit Liebster umgehen kann und wo sie in einem völligen Minnegenießen sich gegenseitig ehren und zieren.
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Der schönste Umgang, den Minne sich vorstellen kann, besteht darin, dass Liebster seine Liebste so durch und durch minnt, dass Liebster so Liebste mit Minnen durchgründet, dass er nichts anderes mehr weiß als: „Ich bin derjenige, der Minne mit Minne besiegt.“ Wer aber Minne besiegte und dann in Minne vernichtet würde, der hätte einen größeren Sieg errungen. Diese Kraft würde alles übertreffen. Aus dieser hohen Materie wurde Minne zuerst geboren.
Dieser letzte Gedanke führt zu einer ausführlichen Beschreibung der mystischen Einheit in der achten Strophe. Der Minne begegnet man am tiefsten, wenn man sie erobert (V. 75; vgl. Genesis 32,22–32; Philipper 2,7), um sich danach von ihr erobern zu lassen (V. 76–78). Erst wenn der Minnende sich selbst so dem anderen hingibt, dass er sich völlig vernichtet (te nieute werden, V. 77), findet er die Minne. Die Demut der völligen Hingabe ist dann die hohe Materie (hoghe materie, V. 79), aus der die Minne geboren wird. Dieser letzte Vers der achten Strophe ist eine Anspielung auf die biblische Lehre der kenosis: Gott erniedrigte sich zur niedrigen Welt der Körperlichen, um die hohe Minne – Christus – in dieser Dimension zum Leben zu erwecken, zu gebären (vgl. Johannes 1). Dieses Bild evozierte zugleich auch die Inkarnation, bei der die hohe Minne (Christus) im niedrigen Schoß der Magd empfangen wurde: ein Thema, das in Lied 29 weiter ausgearbeitet wird.
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Maer wi, lichtecope metten lichten sinne, ons dunken minnen vare swaer. Wi sijn nieloep met cleinen ghewinne: dies darve wi minnen clare waer. Ic weet – al ne wetict niet aldaer, daer mens ghebruket in weelde van minnen, maer verlichte redene doet al bekinnen – hoe men minnen ghenoech volsteet. Daer nes redene te waer noch werc te swaer ende al nuwe ghereet. Die vroech hare claer hebben openbaer ende saen hare blijscap kinnen, ende glorieren daerbinnen, eest dat hen wel vergeet, soe hebbense, godweet, vele beteren coep der minnen dan icker noch weet.
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9 und Reprise In der letzten Strophe identifiziert sich die Ich-Figur über das Personalpronomen wi („wir“) wieder mit den Bequemen, die Angst haben, alles für die Minne einzusetzen und sich ihr völlig hinzugeben (V. 81–84). Aber danach greift sie ihre Rolle als Meisterin wieder auf. Die Essenz des Lebens im Dienst der Minne besteht im Misserfolg ihr gegenüber. Diese Wahrheit über die Minne hat sie nicht in der genießenden Einheitserfahrung, sondern durch verlichte redene („erleuchtete Vernunft“) gelernt. Dieser personifizierte Teil der menschlichen Seele tritt auch an anderen Stellen in Hadewijchs Texten auf (Lied 25, Vision 9). Erleuchtete Vernunft steht für das Bewusstsein, dass man im Vergleich zu der Vollkommenheit der Minne immer unzulänglich ist und dass man sich daher
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Aber uns Leichtsinnigen und Bequemen dünkt Minneangst schwer. Wir laufen schnell mit einem kleinen Gewinn weg: Daher entbehren wir der klaren Wahrheit der Minne. Ich weiß – auch wenn ich es nicht aus der Erfahrung weiß, in der man den Reichtum der Minne genießt, aber erleuchtete Vernunft macht alles deutlich – wie man Minne genügt. Es gibt keine so wahre Erkenntnis und keine so schwere Arbeit, dass nicht schon eine neue bereit steht.
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Wenn es denjenigen, die früh ihre Klarheit besitzen und schnell ihre Freude erfahren und auch darin frohlocken, gut geht, dann haben sie, weiß Gott, einen viel besseren Kauf der Minne getätigt, als den, den ich bisher kenne.
immer wieder neu an die Arbeit begeben muss, um der Minne würdig zu sein. Nur auf diese Weise genügt man der Minne (ghenoech volsteet, V. 88). In der Reprise wiederholt die Ich-Figur diese Botschaft, aber jetzt auf eine ironische Art und Weise: Diejenigen, die der Minne früh begegneten und sie nach der ersten Begegnung ohne viel Anstrengung genießen konnten, haben mit der Minne einen besseren Handel abgeschlossen als sie selbst.
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De voghelen hebben lange geswegen, die blide waren hier te voren: hare blijscap es gheleghen, dies si den somer hebben verloren. Si souden herde saen gheseghen, hadden sine wederghecregen, want si hebbenne vore al vercoren ende daertoe werden si gheboren. Dat mach men dan an hen wel horen. Ic swighe van der voghele claghe – hare vroude, hare pine es saen tegaen – ende claghe dat mi meer meshaghe: die minne, daer wi na souden staen, dat ons verweghet hare edele waghe, ende nemen vreemde naghelaghe. So ne mach ons minne niet omvaen. Ay, wat ons nederheit hevet ghedaen! Wie sal ons die ontrouwe verslaen? Die moghende metter sterker hant, op hen verlatic mi noch sere, die altoes werken in minnen bant ende en onsien pine noch leet noch kere, si ne willen dorevaren al dat lant dat minne met minnen in minne ye vant. Hare fine herte es soe ghehere. Die weten wat minne met minnen lere ende hoe minne de minne met minnen ere.
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Dieses Lied (vM-10) stellt die untreuen Minnenden (Strophen 1–2) dem vorbildlichen Minnenden gegenüber, der den Mut und das Vertrauen aufbringt, im Glück und im Unglück durch das Gebiet der Minne zu reisen (Strophen 3–4). Die Ich-Figur identifiziert sich an verschiedenen Stellen mit den treulosen Minnenden. Sie beendet die fünfte Strophe mit einer Klage, die den Sinn des Klagens anzweifelt: Was hilft es, wenn ich von meinem Elend erzähle? 1–2 Der Natureingang beschreibt die Situation der Vögel im Winter: Sie singen nicht mehr, weil mit dem Sommer auch ihre Freude vergangen ist. Aber der Sommer kommt immer zurück, um die Vögel macht sich die Ich-Figur wenig Sorgen. Umso mehr sorgt sie sich in der zweiten Strophe über die treulosen Minnenden, zu denen sie sich selbst zählt, wie der Gebrauch der ersten Person Plural (wi
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Die Vögel, die vorher fröhlich waren, haben lange geschwiegen: Ihre Freude ist vergangen, da sie den Sommer verloren haben. Sie würden sehr schnell triumphieren, wenn sie ihn wiederbekämen, denn sie haben ihn vor allem anderen erkoren, dafür werden sie geboren. Das kann man dann gut an ihnen hören.
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Ich schweige über die Klage der Vögel, – ihre Freude, ihr Schmerz geht schnell vorüber – und klage darüber, was mir mehr missfällt: Dass uns die edle Last der Minne, die uns am Herzen liegen sollte, niederdrückt und dass wir fremdartige Kost wählen. So kann Minne uns nicht umarmen. Ach, was hat Niedertracht uns zugefügt! Wer wird die Untreue für uns besiegen?
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Auf die Kräftigen mit der starken Hand verlasse ich mich noch sehr, die immer vereint im Band der Minne arbeiten und weder Schmerz noch Leid oder Rückschläge fürchten, sondern durch das ganze Land reisen möchten, das Minne einst mit Minne in Minne fand. Ihr feines Herz ist so prächtig. Sie wissen, was Minne mit Minne lehrt und wie Minne die Minne mit Minne ehrt.
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[„wir“], V. 13) zeigt. Sie können die Anstrengungen, die die Minne von ihnen einfordert, nicht leisten und suchen ihre Zuflucht in Vergnügungen, die der Minne fremd sind (vreemde naghelaghe [„fremdartige Kost“], V. 15). Wegen ihrer Niedertracht (V. 17) verpassen sie sogar das höchste Genießen, die Minne selbst (V. 16). 3–4 Die zweite Strophe endete in einer Frage: Wer wird die Untreue besiegen? Die dritte Strophe bietet die Antwort: die mutigen Minnenden, die der hohen Minne treu bleiben und alle Bereiche der Minnequeste, nämlich Freude und Schmerz, kennenlernen wollen. Durch die Verwendung des Polyptotons in den Versen 24 und 26–27 macht Hadewijch deutlich, dass nur die völlige Hingabe an die Minne dem Minnenden ermöglicht, die Minne zu erkennen und zu erleben. Aber wenn das so ist, worauf wartet man dann, um kampflustig (met niede in storme, V. 30) und voller Vertrauen (V. 31) den Minnedienst auszuüben (Strophe 4)? Auf diese Art und Weise ändert sich Nie-
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Waeromme soude dan ieman sparen, ochte men minne met minnen verwinnen mach, hi ne soude met niede in storme dorevaren op toeverlaet van minnen sach, ende minnen ambacht achterwaren? Soe soude hem de edelheit openbaren. Ay, daer verclaert der minnen dach, daer men vore minne nye pine en ontsach, noch van minnen nye pine en verwach. Dicke roepic hulpe alse die onverloeste: lief, wanneer ghi comen selt, soe noepti mi met nuwen troeste. Soe ridic minen hoghen telt ende pleghe mijns liefs alse alrevroeste, ochte die van noerden, van suden, van oeste, van west al waren in miere ghewelt. Soe werdic saen te voete ghevelt. Ay, wat holpe mine ellende vertelt.
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dertracht (nederheit, V. 17) in Edles (edelheit, V. 33) und kann man Freude in der Minne finden. Der Beginn des Tages der Minne (der minnen dach verclaert, V. 34), mit dem Hadewijch die Freude in der Minne umschreibt, schlägt eine Brücke zur mystischen Nacht, die auch in anderen Liedern vorkommt, u. a. im achten Lied (V. 60–62). 5 In der letzten Strophe präsentiert sich die Ich-Figur als eine Frau, die wie eine Gebärende um Hilfe ruft (V. 37). Dieses rief bei Hadewijch und ihrem Publikum ziemlich sicher das Bild der mulier amicta sole („Frau mit der Sonne umkleidet“, Offenbarung 12,1) hervor, von der in der Offenbarung 12,2 gesagt wird, dass sie clamat parturiens („in den Geburtswehen schreiend sei“). Mittelalterliche Exegeten betrachteten diese Frau als Maria, der Bibelabschnitt war Teil der Liturgie bei Marienfesten, deren Texte den Beginen geläufig waren. Nicht nur Hadewijch, auch andere religiöse Frauen ihrer Zeit identifizierten sich in ihrem rasenden Verlangen nach Christus mit der Frau in Geburtsnot aus der Offenbarung. In Hadewijchs Lijst der volmaakten („Liste der Vollkommenen“, Hofmann 1998, 173)
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Warum sollte dann jemand zögern, wenn man Minne mit Minne besiegen kann? Warum sollte er nicht mit Leidenschaft stürmend weiter laufen, im Vertrauen auf die Macht der Minne, und sich das Werk der Minne zu Herzen nehmen? Dann würde sich ihm ihre Vortrefflichkeit offenbaren. Ach, dann bricht der Tag der Minne an, wegen dem man um der Minne willen nie Schmerz fürchtete und auch Minneschmerz nie schwer fiel.
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Oftmals rufe ich um Hilfe wie die Gebärende: Liebster, wenn du kommen wirst, dann spornst du mich mit neuem Trost an. Dann reite ich meinen hohen Tölt und gehe, als Allerfroheste, mit meinem Liebsten um, so als ob diejenigen von Norden, von Süden, von Osten und vom Westen ganz in meiner Macht wären. Dann werde ich plötzlich abgeworfen. Ach, was hilft es, von meinem Elend zu erzählen?
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kommt eine gewisse Geremina vor, die so sehr unter ihrem Liebeskummer litt, „dass es schien, als ob sie Schmerzen wie bei einer Geburt spürte und als ob ihr ganzer Körper aufplatzen würde“. In ihrem Leiden denkt die Ich-Figur an die Zukunft, an die Freude, die die Geliebte ihr dann wieder schenken wird (V. 38–43). Dann fühlt sie sich wie ein Ritter oder eine Jungfrau, die mit einem tapferen Ritt alle Gebiete der Minne erkundet. Der Terminus telt („Tölt“, V. 40) bezieht sich auf eine natürliche, laterale Pferdegangart, die sehr sanft und bequem ist. Darum galten Pferde, die über diesen Gang verfügten (tölters [„Zelter“]), im Mittelalter als die begehrtesten und auch teuersten Reitpferde. Aber die Ich-Figur weiß, dass auf die Freude unvermeidlich wieder Schmerz folgt: Früher oder später wirft die Minne die tapferen Minnenden von ihrem Pferd (V. 44). Eine Reprise fehlt, aber die Klage, die oftmals darin formuliert wird, fehlt nicht. Der letzte Vers der letzten Strophe ist eine Klage, welche den Sinn des Klagens bezweifelt: Was hilft es, dass ich von meinem Elend erzähle?
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Nu es dit nuwe jaer onstaen, dat es openbaer, met sconen nuwen tide. Ons naket openbaer groet vaer. Ons baert een vaer soe swaer, beide verre ende wide, ende ic singe met nuwen rouwe: daer wilen wrachte edele trouwe, dat ic daer nu loesheit scouwe. Dies es mijn herte omblide. Wat wondere eest dat ic douwe ende rouwe om minne bouwe? Die minne es alles vrouwe ende wi dolen bi hare side! Hier ende overal sie ic ongeval toter hoechster minnen, alsoe ic nu clagen sal. Soe wert de berch wel dal, na mijn versinnen. Want al hevet mi scade verjaghet ende ic ben die node claghet ende diet lichte allene verdraghet, dats mi behoert in binnen. Maer wie dat hem versaghet ende der minnen pine meshaghet ende om vreemde troeste vraghet, hi sal wel spade verwinnen.
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In diesem Lied (vM-11) beklagt Hadewijch die Bequemlichkeit im Minnedienst (Strophen 1–2). Das Unvermögen, das Verlassensein in der Minne zu ertragen, lässt manche, und vor allem diejenigen, die begnadet und bereits in einem fortgeschrittenen Stadium auf dem mystischen Weg sind, nach Erfüllung außerhalb der Minne suchen (Strophen 3–5). Der Preis für diese Treulosigkeit ist groß: Man versperrt sich selbst auf diese Art und Weise den Weg zum Reichtum der höchsten Minneerfahrung. Aber dennoch ist es gerade das, zu dem der Minnende berufen ist (Strophe 6). Das Lied endet mit einer scharfen Anklage (Strophe 7 und Reprise): Wenn wir uns selbst dafür entscheiden, arm zu sein, warum sollte ich dann wollen, dass die Minne uns berührt?
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Jetzt hat das neue Jahr, das ist offensichtlich, mit einer schönen neuen Jahreszeit angefangen. Uns nähert sich offenbar große Gefahr. Uns zeigt sich eine Gefahr, die solchermaßen schwer ist, gleichermaßen fern und weit, dass ich mit neuer Trauer singe: Wo früher edle Treue tätig war, da erblicke ich nun Boshaftigkeit. Darum ist mein Herz traurig. Ist es ein Wunder, dass ich dahinsieche und der Minne wegen traurig bin? Die Minne ist Meisterin über alles, und wir irren an ihrer Seite umher!
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Hier und überall sehe ich Vergehen in Bezug auf die höchste Minne, worüber ich nun klagen werde. Meiner Meinung nach wird der Berg auf diese Weise wirklich ein Tal. Denn auch wenn Schaden mich ermüdet hat und ich diejenige bin, die über Not klagt und nur das Leichte verträgt, gehört das im Inneren zu mir. Wer aber den Mut verliert und wem der Minneschmerz missfällt und wer um fremden Trost bittet, der wird erst sehr spät gewinnen.
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1–2 Früher Frühling bringt normalerweise Freude, aber die Ich-Figur sieht nur Unheil: Überall herrscht Bequemlichkeit in der Minneausübung (V. 8–14; V. 15–19). Man macht aus dem Berg ein Tal (V. 19). Der Berg ist ein biblisches Bild für die Wohnstätte Gottes (Exodus 19,12; Sacharja 8,2; Jesaja 2,2) und ist dementsprechend ein Symbol für Epiphanie: Auf der Spitze des Berges kann man Gott sehen (siehe V. 63–65). Die Ich-Figur stellt in ihrer Verzweiflung fest, dass die Bequemen wegen des Mangels an Treue (V. 8–9) die einsame Gipfelbesteigung zur höchsten Minne (V. 17) in ein einfach zu durchquerendes Tal umwandeln. Auch die Ich-Figur selbst klagt über den Schmerz im Minnedienst (V. 21–24). Aber aufzugeben und Erfüllung außerhalb der Minne zu suchen, das ist erst richtig schlimm, weil man mit dieser Einstellung die Minne nie wird erobern können (V. 25–28).
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Al claghe ic in nuwen tide dat ic ben omblide – hets langhe int linghen, men siet in elke side die scape lopen wide – maer dat es ghehinghen. Ende die sinne dien minne verscene met dat si willen ghemene ende dan vore plumen draghen stene, dat doetse sere verghinghen. Hielden si hem allene ende vri ter minnen lene ende ane andere troeste enghene, de minne soude hem minne wel bringhen. Ic en bent niet allene, noch oec de liede ghemene, die dus sere dolen. Maer die van den riken lene, si sijnt die ic mene, die de minne te haerre scolen gheleit hevet meneghen dach, ende gheleert den wisen slach ende te doelne op minnen sach ende pine die si hen hevet bevolen. Ende si soeken hare ghelach ende nemen vreemt bejach. Ende dat hen scaden mach, dier sueter minnen verstolen.
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3–5 Die Naturbeschreibung der ersten Strophe wird in der dritten Strophe wieder aufgenommen, um den Gedanken, der in den letzten Versen der zweiten Strophe ausgedrückt wurde, erneut zu formulieren. Die Ich-Figur gibt zu, dass sie klagt, obwohl es mitten im Frühling ist (V. 29–33), aber klagen an sich kann nicht schaden (V. 34). Diejenigen jedoch, die zuerst von der Minne berührt wurden
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Auch wenn ich in der neuen Jahreszeit klage, dass ich traurig bin – die Tage werden schon lange länger, man sieht überall die Schafe herumlaufen –, ist diese Klage erlaubt. Und diejenigen, denen die Minne mit dem, was sie sich erhoffen, erschien und welche dann Steine statt Federn tragen, gehen ganz zugrunde. Hielten sie sich doch nur ausschließlich und frei an den Lehensdienst für die Minne und ohne anderen Trost, würde die Minne ihnen wohl Minne bringen.
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Ich bin es nicht allein, und auch die einfachen Menschen nicht, die so sehr umherirren. Sondern diejenigen mit einem großen Lehen, das sind diejenigen, die ich meine, welche die Minne viele Tage zu ihrer Schule geführt und sie mit klugen Schlägen gelehrt hat, auf Geheiß der Minne umherzuirren und Arbeit zu verrichten, die sie ihnen befohlen hat. Denn sie suchen ihre Bequemlichkeit und wählen fremde Kost. Und das kann ihnen schaden, da sie für die süße Minne verborgen bleiben.
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(V. 35–36) und danach die leichten Bürden, welche die Minne ihnen auferlegt, als schwer erfahren (V. 37–38), und außerhalb der Minne Trost suchen, begehen einen schweren Fehler. Denn wenn sie sich ausschließlich der Minne widmen würden, könnten sie die Minne wirklich erfahren. In der vierten Strophe spezifiziert Hadewijch die Gruppe der Minnenden, die sie anklagt: Diese haben vom Lehnsherrn ein großes Lehen erhalten. Sie wurden von Gott begnadigt und erhielten gründlichen Unterricht
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Dus nemen wi vreemde saken om dat naerre smaken. Dat es ons grote scade. Ons vernoyt dat haken ende dat langhe ellendeghe waken omme minnen sade. Maer mochten wi die hoechste stagen opclemmen ten iersten daghen, ende wi dat wi minden saghen, soe ware wijs sciere in rade. Maer omdat ons om minnen behaghen vernoyt die bordene draghen, soe nemen wi die naeste ghelaghen ende scuwen der minnen dade. Dat ware een alte neder sin, die om cranc naghewin hem soe verdeilde dat hi ne wiste meer noch min wat hoghe minne hevet in. Mer diere in verseilde, hi woende op haren diepsten gronde ende si toende hem al hare conde, soedat si hem in corter stonde der begherten wonde al heilde. Ende de minnen te rechte stonde ende minne met minnen bonde, ic segghe hem dat hire vonde gherechte minne die hem veilde.
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in der Minne (V. 46–52). Aber ausgerechnet diese kapitulieren und wählen Vergnügungen, die nicht zur Minne gehören (V. 53–56). Die Geschmacksmetapher, mit der die vierte Strophe abschließt – wer im irdischen Vergnügen Erfüllung sucht, kann die Süße der Minne nicht mehr schmecken (V. 56) – wird in der fünften Strophe weiter ausgearbeitet, aber jetzt in der Wir-Form (V. 57–59). In dieser Strophe werden die Metaphern des Erklimmens eines Berges (V. 63–64; vgl. V. 19) und des Tragens schwerer Lasten (V. 68; vgl. V. 37) erneut gewählt.
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So greifen wir nach fremden Dingen, wegen des leichter erreichbaren Geschmacks. Das zieht für uns einen großen Schaden nach sich. Es ermüdet uns das Verlangen und das lange elende Wachen, um in der Minne Erfüllung zu finden. Wenn wir aber die höchsten Stufen schon in den ersten Tagen erklimmen dürften und wir dann das, was wir minnten, sähen, wüssten wir schnell einen Rat. Aber weil es uns ermüdet, die Lasten zu tragen, um der Minne zu behagen, wählen wir die nächstbesten Bequemlichkeiten und scheuen uns vor den Taten für die Minne.
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Das wäre ein sehr schlechter Charakter, der sich für einen mageren schnellen Gewinn so ins Elend stürzen würde, dass er nicht mehr wüsste, was hohe Minne beinhaltet. Wer aber in ihr umherirrt, der würde auf ihrem tiefsten Grund wohnen und sie würde sich ihm ganz zeigen, sodass sie ihn in kurzer Zeit von den Wunden des Verlangens ganz heilen würde. Und wer sich mit Minne messen und Minne mit Minne binden würde, dem sage ich, dass er darin wahre Minne fände, die ihm fehlte.
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6–7 und Reprise In den letzten beiden Strophen wird das Hauptthema des Liedes noch einmal in Worte gefasst, zuerst in der dritten Person Singular (Strophe 6) und dann in der ersten Person Plural (Strophe 7). Nur demjenigen, der sich der Minne bis zum Stadium des Selbstverlustes hingibt (V. 76–77), kann und will sich die Minne zeigen (V. 78), und in diesem Augenblick hört der Schmerz des Verlangens für einen Moment auf (V. 79–80). Während die Epiphanie, das Erscheinen Gottes, in der zweiten Strophe auf der Spitze des Berges situiert wurde, findet sie jetzt in der tiefsten Tiefe statt (op haren diepsten gronde, „auf ihrem tiefsten Grund“, V. 79): In der überraumzeitlichen Wohnstätte
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Ochte wi ons minne ontbliven laten ende wi ons selven soe verhaten ende ons minnen dunket pine, die minne saelt ons wel orsaten ende doen ons dolen in vreemden straten, dat ons doch wel scine dat wi bi onsen scoude verliesen die edele houde, die ons minne gheven soude, daer si met sadet hare fine, ende wi raste sueken te houde. Nu ic te sceldene boude, ic wane ic cume woude dat ons minne meer gherine. Want onse seden oude tonen ons vore minne soe coude. Wat holpt dan dat ict woude, sint dat ons arm staet te sine!
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Gottes fallen Höhe und Tiefe zusammen. Der niederträchtige Minnende hingegen, der im Gefühl der Verlassenheit untergeht und schnellen Vergnügungen nachgeht, benachteiligt sich selbst. Indem er auf fremden Straßen umherirrt, weit von der Minne entfernt, verspielt er ihre Zuneigung (V. 90–95). Am Ende sagt die Ich-Figur, dass sie durch die Bequemlichkeit, die sie um sich herum sieht, so verstört ist, dass sie eigentlich nicht mehr möchte, dass „Minne uns noch berührt“ (V. 98). Diese bittere
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Wenn wir uns selbst von der Minne fernhalten und uns selbst so hassen und uns Minne wie eine Last erscheint, wird die Minne es uns zurückzahlen und uns in fremden Straßen umherirren lassen, wodurch uns deutlich würde, dass wir durch unsere eigene Schuld das edle Wohlwollen verlieren würden, welches uns Minne gäbe und mit dem sie ihre Edelsten nährt, während wir Ruhe als Zeichen des Wohlwollens suchen. Jetzt, da ich mich mit Schimpfen beschäftige, denke ich, dass ich es kaum möchte, dass Minne uns noch berührte.
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Denn unsere alten Gewohnheiten lassen uns der Minne als kalt erscheinen. Was würde es dann helfen, dass ich es wollte, wenn es zu uns passt, arm zu sein?
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Schlussfolgerung führt in der Reprise zur Problematisierung ihres eigenen Sprechens: Wenn die Gruppe sich dafür entscheidet, sich aus Bequemlichkeit der Minneerfüllung zu entziehen, dann hat der Wunsch, den die Ich-Figur vor Augen hat (V. 101 mit einem Verweis auf V. 98), keinen Sinn.
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Nu es die edele tijt geboren, die ons bloemen sal bringhen int lant. Soe sijn die edele, die sijn vercoren te draghene dat joc, der minnen bant. Hem bloyet altoes de trouwe in hant, ende edele bloemen met diere vrocht. Daer wert met trouwen twoert doersocht. Daer blivet de minne ghestade, met eenre vrientscap al doreknocht int hoechste van minnen rade. ‚Mijn joc es soete, mine bordene es licht‘, seghet selve die minnare es der minnen. Dit woert hadde hi in minnen ghedicht, daerbuten en mach ment niet waer kinnen, alsoe ic mi can versinnen. Soe es hen lichte bordene swaer ende si doghen meneghen vremden vaer, die buten minnen wonen. Want der knechten wet es vaer, mer minne es wet der sonen.
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Dieses Lied (vM-12), das ganz in der 3. Person geschrieben wurde, kann als ein Kommentar zum Bibelzitat „Mein Joch ist süß und meine Last ist leicht“ betrachtet werden (Matthäus 11,30). Dieser Vers wird hier auf den Minnedienst angewandt, bei welchem das Verlangen immer tiefer in die Minne hineinführt (Strophen 1–3). Das Antlitz der Minne sehend, vernimmt der Minnende, dass seine Hingabe nie aufhören darf, dass sein unaufhörliches Verlangen gerade die Einheit mit der Minne ermöglicht (Strophen 4–6). Das Lied endet mit dem Wunsch, dass Gott allen Minnenden diese Einheitserfahrung in der Minne schenken möge (Strophe 7). 1 Die Sicherheit, dass der Frühling Blumen bringen wird, stimmt mit der Sicherheit überein, dass die Treue der wahren Minnenden Früchte tragen wird. Möglicherweise ist die Formulierung von V. 2 durch das Hohelied 2,12 inspiriert: „Blumen sind hervorgekommen im Lande“, und die von V. 6 durch das Hohelied 7,12 „dass wir sehen, dass die Blüten Früchte hervorbringen.“ Das Wort, das erkundet wird (V. 7) weist auf das Bibelzitat in V. 11 voraus. 2–3 Das Wort Jesu „Mein Joch ist süß und meine Last ist leicht“ (Matthäus 11,30), auf das bereits in V. 4 angespielt wurde, steht im Mittelpunkt dieser beiden Strophen. Sie scheinen stark vom Brief des Bernhard von Clairvaux an die Karthäuser inspiriert zu sein, der zu seinem Traktat De diligendo
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Jetzt ist die edle Zeit geboren, die uns Blumen ins Land bringen wird. So sind auch die Edlen, die auserkoren wurden, das Joch des Bandes der Minne zu tragen. Bei ihnen blüht Treue von selbst, wie edle Blumen mit herrlichen Früchten. Da wird mit Treue das Wort abgewogen. Da bleibt die Minne standfest, in einer Freundschaft ganz verknüpft, im höchsten Rat der Minne.
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„Mein Joch ist süß, meine Last ist leicht“, sagt derjenige, der Minnender der Minne ist. Dieses Wort hatte er in Minne gedichtet, außerhalb kann man es nicht als wahr erkennen, insoweit ich das erkennen kann. Darum fällt denjenigen, die außerhalb der Minne wohnen, eine leichte Last schwer, und sie erleiden viele fremde Ängste. Denn das Gesetz der Knechte ist Angst, aber Minne das der Söhne.
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Deo hinzugefügt wurde. Darin verwendet Bernhard Matthäus 11,30, um die leichte Last der Liebe der schweren Last gegenüberzustellen, die derjenige tragen muss, der sich nicht aus eigenem Willen lösen kann (vgl. die Betonung der Einheit des Willens in V. 25, hier übersetzt als „einmütig“). In demselben Abschnitt unterscheidet Bernhard auch den Sklaven, der einzig und allein Gott preist, aber nicht liebt, und den Sohn, der nur das Gesetz der Liebe kennt, die Gott ist (vgl. V. 19–20). Es scheint nicht unmöglich zu sein, dass das Motiv des Trinkens (V. 27–28) auch von Bernhards De diligendo Deo inspiriert wurde, denn in Kapitel XI beschreibt Bernhard, wie die Auferstandenen, die Gott die Liebsten (carissimi, vgl. „die Liebsten“ in V. 24) nennt, von ihm ermutigt werden, bis zur Sättigung zu trinken. Es ist typisch für Hadewijchs Minneauffassung, dass die Minne bei ihr nie eine Sättigung erreicht, und dass dieses Motiv, das Bernhard nach der Auferstehung einordnet, bei ihr als ein Teil des Minnelebens hier auf der Erde beschrieben wird. Dass der Durst bei Hadewijch nicht gelöscht werden kann, stimmt mit dem Traktat De quattuor gradibus violentae caritatis des Richard von St. Viktor überein, in dem der nicht löschbare Durst als die höchste Stufe der Minne auftritt. Die leichte Last und das süße Joch werden dat edele draghen van binnen („das edle innere Tragen“, V. 23) genannt, was möglicherweise als eine Anspielung auf die mystische Schwangerschaft verstan-
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Welc es de bordene licht in minnen ende dat joc dat soe suete smaket? Dat es dat edele draghen van binnen, daer minne de lieve met gheraect ende met enen wille soe enech maect, met enen wesene, sonder keer. Begherten diepheit scept emmermeer, ende dat sceppen drinket al de minne. Die scout, die minne maent ter minnen, gheet boven menschen sinnen. Het en mochte nie herte noch sin gheraden, hoe hi sijn lief met minnen anestaert, dien minne met minnen hevet verladen. Want hi ene ure niet en spaert, eer hi met minnen al dorevaert, hi ne stare met trouwen in minnen fijn. Want sine vonnessen moeten al sijn ghelesen in minnen anscine, ende daer siet hi, claer waer, sonder scijn, in meneghe suete pine. Hi siet in claerheiden dat die mint, met volre waerheit pleghen moet. Alse hi met waerheiden dan bekint dat hi der minnen te lettel doet, verstoermt met pinen sijn hoghen moet. Want in minnen anscine neemt hi al, hoe minne der minnen pleghen sal, ende dat vonnesse suet de pine, ende doet hem gheven al om al omme der minnen ghenoech te sine.
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den werden kann. Dieses Motiv kommt auch an anderen Stellen in Hadewijchs Werk vor, am ausführlichsten im gereimten Brief 14. Wer Minne trägt, vereinigt sich mit ihrem Willen, und wird selbst ganz und gar Minne. Aber die Einheit kennt keinen Endpunkt: Das Verlangen nach Einheit treibt den Minnenden immer tiefer in die Minne, während die Minne immer mehr von ihm einfordert. 4–6 Wer auf diese Weise von der Minne beladen oder geschwängert wurde (verladen, V. 33, kann auch Letzteres bedeuten), hat nur noch Aufmerksamkeit für die Minne: Er „starrt“ in die Minne (V. 32 und 36). Aus ihrem Anblick liest er die Urteile, die sie über ihn fällt. Das Thema, das man sich selbst in Gottes Antlitz sehen und daraus den Grad des mystischen Erwachsenseins ablesen kann, kommt mehrmals in den Visionen vor, am deutlichsten in der 14. Vision. In der Einheit lernt der Minnende,
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Welche leichte Last gibt es in der Minne und welches Joch schmeckt so süß? Das ist das edle innere Tragen, mit welchem Minne die Liebsten berührt und einmütig mit sich vereint, zu einem Wesen, für immer. Die Tiefe des Verlangens erschafft immer weiter, und die Minne trinkt das Erschaffene ganz aus. Die Schuld, die Minne von der Minne einfordert, übersteigt den menschlichen Verstand.
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Weder Herz noch Vernunft könnten sich vorstellen, wie derjenige, den Minne mit Minne beladen hat, seine Liebste mit Minne anstarrt. Denn er zögert keinen Augenblick, mit Minne durch alles vorzustoßen, bis er mit Treue in die edle Minne starrt. Denn die Urteile über ihn müssen ganz im Antlitz der Minne gelesen werden, und dort sieht er, klar und wahr, ohne Verblendung, in großes süßes Leid.
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Er sieht dann in aller Klarheit, dass derjenige, der minnt, in voller Wahrheit handeln muss. Wenn er dann in Wahrheit merkt, dass er für die Minne zu wenig macht, gerät sein Hochgefühl durch Schmerz in Unruhe. Denn im Antlitz der Minne vernimmt er ganz, wie Minne mit Minne umgehen soll, und das Urteil versüßt den Schmerz und lässt ihn alles daran setzen, der Minne zu genügen.
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dass diese nicht vollzogen wurde (V. 40). Das Bewusstsein, dass sein Dienst der Minne nicht genügt, macht den Minnenden rasend (V. 44–45). Aber der Schmerz des rasenden Verlangens ist zugleich süß (V. 40 und 48), weil er versteht, dass er nur über diesen Weg die Minne befriedigen kann. In dieser Hingabe, in dem nicht nachlassenden Verlangen sind die Minnenden mit der Minne eins (V. 53). Die Gnade, die ihnen von der Minne geschenkt wird, ist jedoch größer als das, was sie aufnehmen können: Sie trinken sich trunken, während sie sich über ihren grenzenlosen Überfluss wundern. Das conduut („Kanal“, V. 56), in dem Minne ihre Minne schenkt, ist ein Marienbild: Immer wieder wird Maria in der mittelalterlichen religiösen Literatur als ‚Kanal‘ bezeichnet, durch welchen Gottes
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Die hen in minnen ghenoech dus gheven, wat groter wondere sal hen ghescien! Si selen met minnen ane minne een cleven, ende selen met minnen al minne doresien, ende met haren verhoelnen aderen al tien int conduut, daer minne hare minne al scinket ende met minnen hare vriende al dronken drinket, in wondere vore hare woeden. Dit blivet den vreemden al ontwinket, ende openbaer den vroeden. God gheve hen allen die minne begheren, dat si der minnen alsoe ghereden dat si al op hare rike teren, datse minne in hare minne moghe gheleden. Soe en mach hen bi den vreemden wreden nemmer mescien, si ne leven soe vri alse: ‚Ic al minnen ende minne al mi‘. Wat mach hen dan meer werren? Want in haerre ghenaden staen si: die sonne, die mane, die sterren.
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Gnade zu den Menschen floss. Das Motiv der mystischen Trunkenheit, das bei Hadewijch nicht so oft vorkommt, wurde ihr möglicherweise über den bereits vorher genannten Abschnitt in Bernhards De diligendo Deo (XI, 32–33) vermittelt. Wie bereits oben angegeben wurde, spricht Bernhard allerdings über die Auferstandenen im Jenseits: Nur sie – so schreibt er – „dürfen von dem Becher der Weisheit trinken, über die wir lesen: ,Wie prächtig ist mein Becher, der mich trunken macht‘ (Psalm 23 (22),5)“.
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Welche großen Wunder werden denjenigen geschehen, die sich in Minne genügend hingeben! Sie werden sich mit Minne an Minne binden und Minne mit Minne völlig durchschauen und mit ihren verborgenen Adern alles aus dem Kanal trinken, in dem Minne ihre Minne vollkommen ausschenkt und ihre Freunde mit Minne ganz trunken macht, die sich über ihre Wut wundern. Dies bleibt den Fremden ganz verborgen, während es den Klugen wohlbekannt ist.
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Gott gebe ihnen allen, die sich nach Minne sehnen, dass sie sich so für die Minne vorbereiten, dass sie vollkommen von ihrem Reichtum zehren, so dass Minne sie in ihre Minne führen möge. Dann kann ihnen von den bösen Fremden nichts Schlimmes zugefügt werden, sie aber leben so frei, als ob sie sagen: „Ich ganz der Minne und Minne ganz mir.“ Was kann ihnen dann noch schaden? Denn sie, die Sonne, der Mond, die Sterne, sind ihrer Gnade ausgeliefert.
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7 Das Lied endet mit dem Wunsch, dass diejenigen, die die Minne begehren, sich ihr so hingeben sollten, dass sie nur von ihrem Reichtum leben. Dann sind sie ganz eins mit der Minne. Der letzte Vers erinnert an den Vers, mit dem Dante später seine Divina Commedia beendet hat: „Die Liebe, welche die Antriebskraft der Sonne und anderer Sterne ist“. Nach der mittelalterlichen Kosmologie ist es in der Tat die Minne, die das ganze Universum bewegt. Es ist jedoch charakteristisch für Hadewijch, dass bei ihr nicht nur die Minne oder Gott über das All herrschen, sondern dass die mystisch Minnenden, die mit der Minne eins sind, auch an dieser Herrschaft teilhaben.
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Men mach der nuwer tide op den nuwen dach wel hopen in elke side, altoes, alst nu wel mach. Die minne bekint den menegen slach dien ic dore hare lide. Soe leve ic voert op minnen sach met droever herten blide. Al haddic nuwe jare ende nuwen tijt ende groene, nochtan leefdic met vare in al minen doene met vollen nuwen ongheroene, het en si dat minne mi hare openbare ende hare selven gheheel gheve in verdoene in allen nuwen clare. Het ware hem nu wel ongherede die nu woude pleghen trouwe: hem soude ghescien wel lede. Met meneghen nuwen rouwen soudene de vreemde wrede blouwen in meneghe nuwe veede, eer hi dat lantscap mochte scouwen daer minne haren vrient doet ghelede.
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Das Lied (vM-13) setzt am Neujahrstag ein, in der Mitte des Winters. Der Minnende kann in dieser rauen Zeit viel Leid erwarten (Strophen 1–3). Die Ich-Figur warnt diejenigen, die sich durch die Minne erneuern lassen möchten, davor, sich nicht auf verfrühte und vergängliche Vergnügungen der Minne zu fixieren (Strophen 4–7). Der weise Minnende konzentriert sich auf das Erreichen der vollkommenen Einheitserfahrung, in welcher man sich in der Freude wie im Leid mit der Minne verbunden weiß. Dieses wird nirgendwo besser als durch den Kreuzestod Christi illustriert: Es war ja die Liebe Gottes, die der Grund für den Tod Christi war (Strophen 8 und 9). 1–3 Der Natureingang bezieht sich auf den nuwen dach, ein Ausdruck, mit dem im Mittelniederländischen der „Neujahrstag“ angedeutet wird. An diesem Tag ist der Frühling noch nicht da, aber sein Kommen ist sicher; Hoffnung ist somit gerechtfertigt. Die Ich-Figur befindet sich in einer vergleichbaren Situation. Sie leidet und erlebt vorläufig noch keine Freude (met droever herten, „mit traurigem
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Man kann am Neujahrstag immer und überall auf eine neue Zeit hoffen, was man jetzt auch darf. Die Minne kennt die vielen Schläge, die ich ihretwegen erleide. So lebe ich weiter unter der Macht der Minne, mit traurigem und frohem Herzen zugleich.
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Auch wenn ich neue Jahre und eine neue grüne Jahreszeit hätte, lebte ich in meinem ganzen Handeln dennoch mit Angst, mit großer neuer Unruhe, es sei denn, dass die Minne sich mir offenbarte und sich selbst in einer ganz neuen Klarheit zur freien Verfügung stellte.
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Es wäre für denjenigen nun nicht einfach, der jetzt treu sein wollte: Demjenigen geschähe viel Leid. Mit vielen neuen Schmerzen würden die bösen Fremden ihn in vielen neuen Streitereien prügeln, bevor er die Landschaft erblicken könnte, in welche Minne ihre Freunde führt.
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Herzen“, V. 8); aber sie weiß, dass die Minne darüber Bescheid weiß (V. 5–6) und darum kann sie froh (blide, V. 8) und voller Vertrauen auf eine neue Berührung durch die Minne hoffen. Das Bild der neuen Jahreszeit funktioniert auch in der zweiten Strophe, jetzt aber als Gegensatz: Ein neuer Frühling hat keinen Wert für die Ich-Figur, wenn sie die Minne nicht in einer neuen Klarheit besitzen kann. Mit dem Term clare (V. 16) deutet Hadewijch öfter den Begegnungsraum an, in welchem die Einheitserfahrungen zwischen dem Minnenden und der Minne stattfinden. In der dritten Strophe verschwindet die Ich-Figur hinter dem exemplarischen Minnenden in der dritten Person. Der Minnende, der in der Winterzeit seinen Minnedienst treu ausüben möchte, wird viel Schmerz erfahren, bevor die Minne zulässt, dass er das Land der Einheitserfahrung betritt. Dieser Schmerz wird durch die „Fremden“ verursacht, Personen, die das religiöse Leben nur äußerlich erleben und die sich nicht, wie Hadewijch und ihr Kreis, innerlich mit der Minne verbinden. Die Minne bleibt ihnen fremd. Aus ihrer Unwissenheit heraus möchten sie auf aggressive Weise (V. 21–22) die wahren Minnenden von der Minne abhalten.
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Ay, hoert, ghi nuwe liede, die nu minnen wilt pleghen, ende merket wat ic u diede, ende wacht u wel daerjeghen; diere es vele die scinen ochte si negen daer men hen minne riede ende dolen uter trouwen in vreemden weghen. Dit saghic dat ghesciede. Selke wanen in minne hebben groet gheval. Hen scijnt in allen sinne ghebloyt berch ende dal. Maer als men ter waerheit gripen sal, soe esser lettel inne. Ane werken van trouwen proeft men al ochte men ane minne iet winne. Het es te ellendech leven hier sonder lief dus lanc. Dat doet ons dicwile sneven ende bringhet ons in meneghen wanc. Waert tijt, ic wists der trouwen danc, woude si ons dat wesen gheven dat ons gheleide in minnen bedwanc, ane hare nature een cleven.
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4–5 In der vierten und fünften Strophe richtet die Ich-Figur sich warnend an die nuwe liede, an diejenigen, die bereit sind, sich durch die Minne erneuern zu lassen. Sie hat oft gesehen, dass derjenige, der frohen Mutes beginnt, hinterher die notwendige Treue nicht aufbringen kann (Strophe 4). Sie warnt sie auch davor, sich an scheinbar freudvollen Erfahrungen festzuklammern, die nicht zur Minne gehören. Gewinn im Minnedienst misst man nicht an der Freude, sondern am Treubleiben in Zeiten der Einsamkeit (Strophe 5). 6–7 In der sechsten und siebten Strophe bezieht Hadewijch durch das einschließende „uns“ die Rezipienten direkt in das Thema ein. Die lange Abwesenheit der Geliebten ist schwer und lässt sie
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Ach, hört, ihr neuen Menschen, die jetzt Minne nachgehen möchten, und merkt, was ich euch sage, und hütet euch gut davor; es gibt viele, die dorthin zu neigen scheinen, wo man ihnen zur Minne rät, und die, von der Treue weg, auf fremden Wegen irren. Ich habe gesehen, dass dieses geschah.
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Manche denken, in der Minne großes Glück zu haben. In ihren Vorstellungen blühen überall Berg und Tal. Wenn man aber nach der Wahrheit greift, steckt wenig dahinter. An den Werken der Treue merkt man, ob man durch die Minne gewinnen kann.
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Es ist ein jämmerliches Leben, hier so lange ohne Liebste zu sein. Das lässt uns oft straucheln und bringt uns ins Wanken. Wenn es Zeit wäre, wäre ich der Treue dankbar, wenn sie uns das Wesen gäbe, der uns in die Macht der Minne hineinführte, ganz an sie geklammert.
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zögern (V. 41–44). Nur mit Treue kann der umherirrende Minnende sich ausschließlich auf die Minne richten. Wenn der Moment der Begegnung dann schließlich kommt, muss man dafür der personifizierten Treue danken: Sie ist ja diejenige, die dafür gesorgt hat, dass man in der Verbindung mit der Minne standhaft geblieben ist (V. 45–48). Die Termini behaghen („Selbstgefälligkeit“, V. 51) und ghenoechte („Vergnügen“, V. 52) haben bei Hadewijch im Allgemeinen eine negative Konnotation.
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Wi connen ons wel vermeten: ‚Du mij, lief, ende ic di‘. Behaghen hevet ons beseten, ghenoechte maect ons vri, ende wi moghen ghedueren, ay mi! Dade ons minne eens weten dat edele wesen dat si si, wi ne mochtens ure vergheten. Nu merket, ghi alle vroede, hoe der minnen cracht es groet: si hevet die gheweldeghe roede over al dat God gheboed. Si brachte hem selven toter doet! Vore minne en es ghene hoede. Werket in minnen trouwe ende wert hare genoet ende doresmaket hare edele goede. Wien minne ye van binnen scoet, hi es van soe fieren moede, wat hi ghedoghet in wederstoet, hets hem ten besten spoede.
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Es geht um kurzzeitig genussvolle Gefühle. Am Anfang der siebten Strophe wird somit näher auf die verfrühten Gefühle der Freude eingegangen, vor denen in der fünften Strophe gewarnt wurde. Der Angesprochene möchte gern glauben, dass es sich hierbei um Zeichen der Einheitserfahrung handelt (V. 49–51; mit einem Zitat aus dem Hohelied 2,16). Die vorübergehende Art dieser Gefühle steht im Gegensatz zu dem, was man durch eine echte Begegnung mit der Minne erlebt: Diese wirkt nämlich so tief ein, dass man sie nie mehr vergisst (V. 54–56).
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Wir können uns wohl anmaßen: „Du bist von mir, Liebste, und ich von dir“. Selbstgefälligkeit hat Besitz von uns ergriffen, Vergnügen macht uns frei, und wir können es aushalten, ja, ja! Würde Minne uns irgendwann zu erkennen geben, welch edles Wesen sie ist, könnten wir das keinen Moment lang vergessen.
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Jetzt merkt euch alle, ihr Klugen, wie groß die Kraft der Minne ist: Sie besitzt das mächtige Zepter über alles, was Gott erschuf. Ihn selbst brachte sie in den Tod! Vor Minne gibt es keinen Schutz. Arbeitet treu in der Minne und werdet ihr gleicher und schmeckt vollkommen ihre edle Güte.
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Wen Minne jemals von innen traf, der ist von solch tapferer Gesinnung, dass er das, was er im Unglück erleidet, als das größte Glück betrachtet.
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8 und Reprise In der achten Strophe spricht die Ich-Figur die klugen Minnenden an. Der kluge Minnende weiß, dass die Macht der Minne alles übertrifft: Sogar der Kreuzestod Christi ist aus der Liebe Gottes entstanden (V. 61). Der Minnende erhält den Rat, sich treu der Minne hinzugeben. Wer wirklich im Inneren von der Minne berührt wird, übersteht alles und begreift, dass gerade das irdische Unglück Gewinn in der Minne bedeutet.
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Ten blijtsten tide van den jare, dat alle voghelen singhen clare ende die nachtegale openbare ons maket hare blijscap cont, soe hevet de herte meest sware die edele minne hevet ghewont. Hoe mach die edele sin gheduren, – ja, edelst alre creaturen – diet hoechste moet minnen bi naturen, ende dan sijn lief niet en hevet. Alsene der minnen strale rueren, soe gruwelt hem dat hi levet. In allen tide alse ruert die strale, meeret hi die wonde ende bringhet quale. Alle die minnen, kinnent wale dat emmer deen moet sijn: suetecheit ochte smerte ochte beide te male, in dreft vore minnen aenscijn. Hoe mach hen gruwelen dan die minnen ende hen dus in minne verloren kinnen. Si sijn verwonnen dat si verwinnen dat onverwonne groet, dat hen alle uren doet beghinnen dat leven in nuwer doet.
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Dieses Lied (vM-14) beschäftigt sich mit den Wunden, die die Minne den Minnenden zufügt. Der Schmerz wird durch ihren Reichtum und ihre Macht verursacht, die den Minnenden immer wieder überfordern: Je weiter er in die Minne vordringt, desto deutlicher wird ihm, was er noch tun muss. Das ist die harte Lektion, die der Minnende in der Schule der Minne lernt. Wer meint, dass Genießen ein Gradmesser für die Minne ist, hat ihre Lehre nicht verstanden. Der wahre Minnende weiß, dass die Wunden des Verlangens unzertrennlich mit der Minne verbunden sind. 1–3 In der ersten Strophe wird die Freude in der Natur dem Leid des Minnenden gegenübergestellt. Sein Leid, das durch die Abwesenheit der Geliebten verursacht wird, wird als eine Minnewunde dargestellt, die ihm durch die mit Pfeilen schießende Minne zugefügt wurde (V. 6 und 11). Hadewijchs Verwendung dieses Motivs, das nicht nur in der weltlichen, sondern auch in der geistlichen Literatur des Mittelalters vorkommt, zeigt große Übereinstimmung mit einem Abschnitt in Richards von St. Viktor De quattuor gradibus violentae caritatis, 6 („Von den vier Stufen der Liebesgewalt“): „Erscheint es dir nicht so, dass das Herz durchbohrt wird, wenn der glühende Liebespfeil das Mark der menschlichen Seele durchbohrt, und das Gemüt so sehr durchsticht, dass es sein sehnsüchtiges Verlangen nicht
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In der fröhlichsten Jahreszeit, wenn alle Vögel hell singen und die Nachtigall uns ihre Freude laut verkündet, dann trauert am meisten das Herz, das edle Minne verwundet hat.
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Wie kann die edle Seele es aushalten – ja, edelste aller Kreaturen –, die von Natur aus das Höchste minnen muss und dann ihren Liebsten nicht besitzt. Wenn die Pfeile der Minne sie berühren, dann graut es sie, dass sie lebt.
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Immer wenn der Pfeil trifft, vergrößert er die Wunde und bringt Leid. Alle, die minnen, wissen gut, dass es immer nur eins sein kann: Süße oder Schmerz oder beides gleichzeitig im Eifer nach dem Antlitz der Minne.
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Wie muss es diejenigen grauen, die minnen und sich so in der Minne verloren wissen. Sie werden besiegt, indem sie das unüberwindlich Große besiegen, das sie in jedem Augenblick das Leben mit einem neuen Tod beginnen lässt.
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mehr beherrschen und als Ganzes nicht mehr verbergen kann?“ Das Fehlen des göttlichen Geliebten macht das Leben für den Minnenden unerträglich. Genau wie Hadewijch in der dritten Strophe stellt auch Richard von St. Viktor in dem soeben zitierten Abschnitt fest, dass der Zustand des verwundeten Minnenden sich zwischen Schmerz und Linderung und allen Graden dazwischen hin und her bewegt, aber auch, dass das brennende Verlangen immer größer wird. Aber anders als Richard stellt Hadewijch die Wunde der Minne nicht auf eine ‚niedrigere‘ Stufe der Minne, bei der man sich ab und zu außerhalb der Minne aufhalten kann. Diese Art von Abstufungen nimmt sie nicht vor. Hadewijchs Minnender findet per definitionem keine Ruhe in Aktivitäten, die sich außerhalb der Minne befinden, ‚Süße‘ kann ihm nur von der Minne selbst geschenkt werden. 4–7 Die einzige Art und Weise, die unüberwindbare Minne für sich zu gewinnen, besteht darin, dass man sich völlig von ihr besiegen lässt (Strophe 4). Dieses Motiv illustriert Hadewijch auch in Brief 12, 177–196 (Hg. Van Mierlo, 129), anhand von Jakobs Kampf mit dem Engel (Genesis 32, 24–31): Genau
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Hier ne mach hare minne dan niet gheweren. Men moet hare rike, hare cracht verteren, hoese oec te nieute in minnen vervaren. Dats den vremden oncont. Soe si de zale hogher begaren, soe diepere wielt de gront. In recht van minnen es opghedreghen: die den slach sleet, wert selve ghesleghen; dat lichte wert even sware gheweghen; de cracht wert eerst verwonnen. Dat rike comt ons hier selve jeghen, vore alle die minnen connen. Maer diere es lettel die om al minne al minnen, ende noch men die minne met minnen versinnen. Dies selense alte spade ghewinnen dat rike ende dien hoghen raet ende dat kinnesse, dat minne doet kinnen dien die hare ter scolen gaet. Hets jammer groet dat wi dus dolen ende ons die hoghe wise blivet verholen, die minne den meesteren hevet bevolen, die lesen in minnen fijn. Die hoechste lesse in der minnen scolen, dats hoe men minne ghenoech mach sijn.
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wie Jakob muss der Minnende lahm geschlagen werden, wenn er Gottes Segen empfangen möchte. Das bedeutet, dass er allem entsagen muss, was Gott nicht ist, und sich völlig und ausschließlich von der Minne beherrschen lassen muss: Nur auf diese Weise kann er sie erobern. In den beiden folgenden Strophen wird dieses letzte Motiv ausgearbeitet. Minne kann demjenigen, der sich ihr völlig hingibt, keinen Widerstand leisten: Sie muss erlauben, dass ihr Reichtum und ihre Macht von ihm aufgenommen werden (V. 25–26). Aber gleichzeitig ist sie so groß, dass der Minnende weiß, dass er ihr nicht gewachsen ist: Er geht in der Minne unter (V. 27), während zugleich das Verlangen immer stärker wird (V. 29–30). Das ist nun einmal das harte Gesetz der Minne: Je kräftiger man schlägt, umso schwerer sind die Schläge, die man zurück bekommt (V. 32). Gerade zu diesen Minnenden – „uns“, sagt die Ich-Figur ermutigend mit einer Anspielung auf die Mitglieder des Kreises (V. 35) – kommt das Reich der Minne (V. 35, möglicherweise mit einer Anspielung auf „dein Reich komme“ des Vaterunsers). Leider gibt es nur wenige, die auf diese Weise minnen und so am Reich und an dem geheimen Wissen teilhaben können, das Minne in ihrer Schule lehrt (Strophe 7). 8–11 Diese Strophen kommen auf „die Schule der Minne“, die am Ende der siebten Strophe bereits genannt wurde, zurück. Der Terminus stammt aus der Zisterziensermystik des 12. Jahrhunderts, die
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Dagegen kann Minne sich nicht wehren. Man muss ihr Reich, ihre Kraft verzehren, wie sehr man auch erneut in Minne zu Grunde geht. Das ist den Fremden unbekannt. Je höher der Saal ist, den man begehrt, desto tiefer wirbelt der Abgrund hinunter.
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Im Minnerecht steht im Vordergrund: Wer schlägt, wird selbst geschlagen; das Leichte wiegt ebenso schwer wie das Schwere; die Kraft wird zuerst besiegt. Das Reich der Minne kommt aus sich selbst auf uns zu, für alle, die minnen können.
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Aber es gibt nur wenige, die wegen der vollkommenen Minne völlig minnen, und noch weniger, die Minne mit Minne verstehen. Darum werden sie sehr spät das Reich, das hohe Geheimnis und das Wissen erlangen, das Minne demjenigen vermittelt, der bei ihr zur Schule geht.
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Es ist sehr traurig, dass wir so umherirren und uns die hohe Weisheit verborgen bleibt, die Minne den Meistern anvertraut hat, die über die edle Minne lehren. Die höchste Lektion in der Schule der Minne besteht darin, wie man der Minne genügen kann.
das Kloster als eine schola caritatis präsentierte, in der Mönche – als ob sie Schüler wären – Gott „erlernen“ mussten. Hadewijch hat das klösterliche Ideal der Zisterzienser ihrer eigenen Gruppe vermittelt. Der Gebrauch des Wortes termineren („Schlüsse ziehen“, V. 49) basiert möglicherweise auf einem bekannten polemischen Zitat aus dem Werk De natura et dignitate amoris 26 („Über die Natur und die Würde der Liebe“) des Wilhelm von St. Thierry: „Das ist die besondere Schule der Liebe. Hier werden ihre Studien gepflegt, nicht so sehr durch Schlussfolgern (terminantur) als durch Einsicht (ratione) und im Erfahren der Wahrheit (veritate) der Dinge selbst“ (Von Balthasar 1981, 160). Mit pseudo-gelehrten lateinischen Wörtern (termineren, concorderen) und einer Terminologie mit Lehnwörtern aus dem Französischen (salueren, juweren, balleren, basieren) wendet sich Hadewijch ironisch gegen diejenigen innerhalb des Rezipientenkreises, die die Minne lediglich auf den Genuss zurückführen und sich vor dem Leid, das das maßlose Verlangen mit sich bringt, verschließen wollen. Im Hinblick auf Hadewijchs kritische Haltung zu jubileren, dem ekstatischen wortlosen Jubel, der in der Umgebung der Autorin oft vorgekommen sein muss, verweisen wir auf den Kommentar zur fünften Strophe im fünften Lied.
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Maer die wel tevoren termineren, al eest dat si dan jubileren ende met feesteerne salueren hare lief in corter stont, opdat si met doghene concorderen, hen wert de scole wel cont. Maer die hier met lieve willen juweren ende met ghevoelne dan balleren ende met ghenoechten daerin basieren, ic segghen wel tevoren: si moeten hen wel met doechden cieren, ochte daer es de scole verloren. Maer die met waerheiden in minnen dichten ende met claerre redenen dan verlichten, daer sal de minne hare scole in stichten. Die selen meestere wesen ende ontfaen der minnen hoechste ghichten, die wonden sonder ghenesen. Die minne dus ghicht met haren wonden ende toent die wijtheit hare conden, die niet houtse open ende onghebonden, daerse minne met storme doresiet. Al gruwelt hen dan den onghesonden, dat en darf ons wonderen niet. Die minne met allen dus hevet dorewaden, met diepen hongere, met vollen saden, hen en mach dorren noch bloyen scaden noch hulpen tijt engeen. Int diepste ghewat, ten hoechsten graden blivet hare wesen in een.
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Mit balleren („tanzen“, V. 56) bezieht sich die Autorin vielleicht auf ekstatische Tänze, wie sie auch der Begine Elisabeth von Spalbeek (1247/1250–1316) zugeschrieben wurden. Mit basieren („küssen“) spielt sie vermutlich auf den Kuss an, über den im ersten Vers des Hohelieds gesprochen wird („dass er mich mit dem Kuss seines Mundes küsse“) und der in der Mystik als ein Bild für die mystische Einheit zwischen Gott und dem Menschen aufgefasst wird. Denjenigen, die sich lieber von einem Leben in Ekstase betäuben lassen, stellt sie in der elften Strophe die wahren Minnenden gegenüber, die sich von Wahrheit und claerre redenen („klare Ver-
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Aber diejenigen, die voreilig Schlüsse ziehen, auch wenn sie darüber jubilieren und nach kurzer Zeit ihre Liebste festlich begrüßen, werden die Lehre erst begreifen, wenn sie mit dem Leiden in Einklang sind.
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Wer aber hier mit seiner Liebsten spielen und dann mit Gefühl tanzen und mit Vergnügen küssen möchte, dem sage ich gleich: Der muss sich mit Tugenden schmücken, sonst ist die Lehre vergeblich.
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Wer aber mit Wahrheit über Minne dichtet und dann mit klarer Vernunft erleuchtet wird, in diesem wird die Minne ihre Schule gründen. Derjenige wird Meister sein und die höchsten Gaben der Minne erhalten, die unheilbare Wunden zufügen.
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Bei denjenigen, denen Minne auf diese Weise ihre Wunden zufügt und die große Weite ihrer Kenntnisse zeigt, hält die Leidenschaft die Wunden offen und unversorgt, während Minne sie mit Angriffen versengt. Auch wenn es die Verwundeten dann graut, darf uns das nicht verwundern.
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Wer sich so einen Weg durch Minne gebahnt hat, mit großem Hunger, mit völliger Sättigung, dem kann weder Dürre noch Blüte schaden noch irgendeine Jahreszeit nützen. In der tiefsten Tiefe, auf den höchsten Stufen bleibt ihr Wesen dasselbe.
nunft“, V. 61–62) leiten lassen, vermutlich nicht zufällig zwei Termini, die ebenfalls in dem hier oben angegebenen Zitat des Wilhelm von St. Thierry mit der specialis caritatis schola verbunden werden (rerum veritate beziehungsweise ratione). 12–13 Bei aufrechten Minnenden kommt das Verlangen nie zu einem Stillstand. Mit den Motiven der Minnewunden (V. 67–69) und des taedium vitae (gruwelt [„graut“], V. 71) schließt sie den Kreis zu den Anfangsstrophen des Liedes. Was auch immer Minnende erfahren, sei es Freude oder Trauer, die Minne bleibt immer die Minne.
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Al es die tijt blide overal ende al es groene berch ende dal, dat wert hem wel cleine in scine, die ter minnen hevet ongheval. Ic en weet wies hi verbliden sal. Hem es alle blijscap pine. Dat en es gheen wonder: alse hi es sonder sijns liefs, na sijn begheren, ende hi niet en hevet daerbi hi levet, waerop soude hi dan teren? Die op minne teret al sonder spoet, wat hi ghedoghet in orewoet, dat mach allene bekinnen, die hem ter minnen verlaet al goet, ende dan van hare blivet onghevoedt. Hem es wel wee ter minnen, want hi berret sware in hope ende in vare, altoes met nuwen uren. Want al sijn begheren es voeden ende teren ende ghebruken minnen naturen.
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Der Schmerz ist heftig für den Minnenden, der sich der Minne hingab und sie dann doch nicht besitzen kann (Strophen 1–3). Die Autorin schildert in diesem Lied (vM-15) mittels Personifikationen den inneren Zweikampf, der die Minnedynamik antreibt. Vergnügen möchte sofort und unaufhörlich den Genuss der Minne fühlen. Vernunft möchte, dass die Seele sich geduldig veredelt, sodass man die völlige Minne, die außer Genuss auch Schmerz beinhaltet, erfahren kann. Freiheit strebt nach einer Loslösung von allem, was nicht Minne ist, sodass man die Minne und nichts als die Minne findet (Strophen 4–5). In den letzten Strophen stellt Hadewijch die jungen Minnenden dar: Nach einer ersten Berührung der Minne wähnen sie sich im Himmel, aber sobald ihnen deutlich wird, dass sie noch viel Arbeit verrichten müssen, verlieren sie den Mut. Sie müssen jedoch voll Vertrauen weiter arbeiten (Strophen 6–7). Die Minne belohnt die treuen Minnenden ja immer, indem sie sich ihnen früher oder später hingibt (Reprise).
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Auch wenn die Zeit überall fröhlich ist und Berg und Tal überall grün sind, bedeutet das für denjenigen, der in der Minne Unglück erfährt, wenig. Ich weiß nicht, worüber er sich erfreuen soll. Für ihn ist alle Freude Schmerz. Das ist kein Wunder: Wenn er ohne seine Liebste ist, nach der er verlangt, und wenn er nichts hat, wovon er lebt, wovon sollte er dann zehren?
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Was derjenige, der ohne Glück von der Minne zehrt, in Sturmwut erträgt, das kann nur derjenige begreifen, der sich völlig auf die Minne verlässt und dann nicht durch sie genährt wird. Er erfährt viel Leid in der Minne, weil er immer wieder aufs Neue heftig in Hoffnung und in Angst brennt, denn sein ganzes Verlangen läuft darauf hinaus, ernährt zu werden und zu zehren und die Natur der Minne zu genießen.
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1–3 Für denjenigen, der sich völlig der Minne hingibt und sie danach nicht mehr findet, hat alle Frühlingsfreude keine Bedeutung: Er hat ja nichts, wovon er leben kann (Strophe 1). Das Verb teren („zehren von“, „sich völlig verlassen auf“, „leben von“) im letzten Vers der ersten und im ersten Vers der zweiten Strophe führt das Motiv des Minnehungers ein, das in der zweiten und dritten Strophe weiter ausgearbeitet wird. Wer von der Minne lebt und dann nicht durch sie ernährt wird, wird unvermeidlich von rasendem Verlangen gequält (orewoet [„Sturmwut“], V. 14). Der Schmerz und die Angst, die dieser Minnehunger mit sich bringt, sind unerträglich (V. 25–26). Die Ich-Figur bekennt, dass sie, statt diesen Schmerz erfahren zu müssen, lieber bei einer früheren Einheitserfahrung gestorben wäre (V. 32–36). Hadewijch beutet in diesen ersten drei Strophen die
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Die dus in hongher van minnen leven ende noch ghebruken es ontbleven, ay, wie mach hen gheloven? Want si hem een ane minne al cleven. Alse hen dan minne hare soude al gheven, soe werdet een beroven ende soe roertse een vaer. Ay, amabar! Waer sal ic, arme, henen? Eert mi dus quam, – ay, utinam – hadde si mi doch doet gherenen! Dit es een wee wel ombekint. Het en wert van vreemden nie wel ghemint. Ghenoechten eest te sware, want si hare alle uren daertoe went, dat si hare ane ghebruken bindet, in vriheiden sonder vare. Maer redene claer hevet ommaer. Het dunket hare een keren, eer si opclemt daer si volvent hare lief ter hoechster eren.
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poetischen Möglichkeiten des holprigen Rhythmus der sechs kurzen Schlussverse auf meisterhafte Art und Weise aus, indem sie sie zu leidenschaftlichen Minneklagen verdichtet. In der dritten Strophe geschieht dies durch die lateinischen Ausrufe amabar („ich wurde geliebt“, V. 32) und utinam („wäre es so“, V. 35).
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Diejenigen, die in solchem Hunger nach der Minne leben und noch das Genießen der Minne entbehren, ach, wer kann sie genügend loben? Denn sie binden sich ganz und gar an die Minne. Während Minne sich ihnen ganz hingeben sollte, wird es dann geradezu ein Raubzug, und Angst überwältigt sie. Ach, amabar! Wo soll ich, Arme, hin? Bevor mir dies geschah, – ach, utinam – hätte sie mich doch tödlich berührt!
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Dies ist ein nie gekanntes Leid. Von Fremden wurde nie richtig geminnt. Vergnügen ist es zu schwer, denn sie verwendet alle Zeit darauf, sich an das Genießen zu binden, in Freiheit ohne Angst. Aber klare Vernunft verachtet das. Es erscheint ihr wie ein Rückfall, solange sie nicht bis dorthin emporsteigt, wo sie ihren Liebsten in höchster Ehre vollständig findet.
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4–5 In diesen Strophen thematisiert Hadewijch die verschiedenen Kräfte, die im Streben nach der Einheit mit der Geliebten wirken. Vergnügen (V. 39) basiert auf dem Verlangen, sofort und unaufhörlich den Genuss in der Minne erfahren zu können: Sie klammert sich an das ghebruken („Genießen“, V. 40–41). Vernunft dahingegen strebt nicht nach der genussvollsten Minneerfahrung, sondern nach der höchsten (V. 43–48; V. 52). Er möchte, dass der Minnende sich selbst geduldig vervollkommnet, damit er die völlige Minne erleben kann. Minne beinhaltet beide Richtungen: Sie ist ungeduldig
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Minne wilt al minne. Si ne wilt niet beiden. Si wilt alle uren in suetheit weiden, in weelden na hare begherten. Redene heetse merren na ghereiden, ende vriheit wiltse te hant gheleiden daerse met lieve een werde. Dusghedane storme maken eyse in vorme. Dats ombekint den vremden, die alre doet vore minnen noet te smakene nien gheteemden. Daer minne de jonghe met nuwen troest, soe wanen si dan al sijn verloest, Soe sijn si alse te hove, ende leven henselven alrevroest ende wanen hebben voldaen de joest in allen vollen love. Alse hen dan hare redene wect, ende si hem dat werc ontect dat si hebben te doene met nuwen moede, werden si bloede, die teersten waren coene.
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und Genuss suchend wie das Vergnügen, aber sie möchte, wie die Vernunft, die vollkommene Minne erfahren (V. 49–51). Freiheit führt den Minnenden schnell und geradewegs zur Geliebten: Sie macht den Minnenden somit von allem frei, was nicht Minne ist (V. 53–54). Vernunft und Freiheit treiben den Minnenden zu Minnestürmen, in denen er den Tod spürt und an sich selbst stirbt, sodass er die Geliebte in aller Ruhe treffen kann (V. 55–60).
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Minne möchte völlige Minne. Sie möchte nicht warten. Sie möchte jede Stunde in Süße und im Überfluss entsprechend ihrem Verlangen weiden. Vernunft gebietet ihr zu warten, bis sie bereit ist, und Freiheit möchte sie sofort dorthin führen, wo sie mit dem Liebsten eins wird. Solche Stürme stellen ein ruhiges Gleichgewicht her. Das ist den Fremden unbekannt, für die es sich nie ziemte, durch die Minne genötigt, den Tod in seiner Gänze zu schmecken.
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Da Minne die jungen Leute mit Neuem tröstet, denken sie dann bereits, erlöst zu sein. So verhalten sie sich wie am Hof, leben äußerst selbstzufrieden und denken, den Zweikampf mit der allergrößten Ehre gekämpft zu haben. Wenn ihre Vernunft sie dann weckt und ihnen die Arbeit zeigt, die sie mit neuem Mut machen müssen, werden diejenigen, die zuerst mutig waren, von Angst erfüllt.
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6–7 und Reprise In der sechsten Strophe ordnet die Autorin diese Beschreibung der Minnedynamik in die Chronologie des Minneprozesses ein: Junge Minnende, die eine genussreiche Berührung der Minne empfangen, fühlen sich wie bejubelte Ritter, die am Hof einkehren (V. 61–66). Wenn der Verstand ihnen dann aufzeigt, dass es noch viel zu tun gibt, verlieren sie den Mut (V. 67–72). Die siebte
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Ay minne, die fine doghet, die alles es voghet ende alle dinc mach dwinghen, si moete hare melden ende si sal ons ghelden. Si ne sal ons niet ontdringhen. Die alle rouwen ghesmaken met trouwen, si moghen wel blide singhen. Dats iement twifelt, dats grote scade. Minne loent altoes, al comt si spade. Die hen te hare verlaten ende volgen haren hoechsten rade ende bliven in den niet ghestade, si saelt met minnen oersaten.
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Strophe beginnt mit dem Wunsch, dass Minne sich öffentlich zeigt (V. 73–77), wobei sich die Perspektive von den anonymen jungen Minnenden zu dem eigenen Kreis verschiebt (ons, V.77). Danach bestätigt die Ich-Figur ihr Vertrauen in die Minne: Die Minne wird ihre Anstrengungen sicherlich belohnen. Die Reprise bestätigt, dass Treue in der Minne sich immer lohnt. Daran zu zweifeln, ist schädlich. Früher oder später gibt sich die Minne ja dem treuen Minnenden hin.
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Ach Minne, die feine Tugend, die über allem herrscht und alle Dinge bezwingen kann, möge sich zeigen, und sie wird uns alles vergelten. Sie wird uns nichts wegnehmen. Wer alle Trauer mit Treue schmeckt, kann sicher froh singen.
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Dass jemand hieran zweifelt, ist sehr schade. Minne belohnt immer, auch wenn sie spät kommt. Diejenigen, die sich auf sie verlassen und ihrem höchsten Rat folgen und in ihrem Eifer standfest bleiben, denen wird sie es mit Minne zurückzahlen.
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Men mach den nuwen tijt wel bekinnen overal. Die voghele hebben delijt, die bloemen ontspringen in berch, in dal. Waer soe si staen, si sijn ontgaen den wreden wintere, diese qual. Ic ben ontdaen, mi en troeste saen de minne jeghen mijn ongheval. Nu hevet mijn ongheval sine heervaert ghesticht op mi. Het gadert overal. Mine hoghe weghe, die waren vri, sijn sere beleget. Mi es vrede ontseget. Merct ochte mi rouwe iet condech si! Wordic gheweghet daer minne gheseghet, ay edele minne, dies danc ic di. Die minne, die al verwint, hulpe mi dat ic moete verwinnen, ende si, die alle noet bekint, onne mi dat ic moete bekinnen hoe swaer dat mi staet – hadde ics raet – te ontbeidene dies ghebrukes van minnen. Die wrede raet, die daerjeghen gaet, bedroeft de cracht van minen sinnen.
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In diesem Lied (vM-16), das bis auf Strophe 10 vollständig in der Ich-Form geschrieben ist, beschreibt die Ich-Figur das Unglück (ongheval), die Verlassenheit und die Erschütterung, in welcher sie sich als mystische Minnende befindet. Dennoch lebt bei ihr die Vorstellung, dass gerade diese Erfahrung zu der vollkommenen Minne dazu gehört (Strophen 1–4). Dieses Unglück im Jetzt stellt sie der Freude gegenüber, die sie als beginnende Minnende in der Minne erfuhr (Strophen 5–6). Aber der Wunsch, sich ganz der Minne hinzugeben, führt dazu, dass sie dieses Unglück akzeptiert (Strophen 6–8). In der letzten Strophe lädt sie die anderen ein, sich ganz der Minne hinzugeben (Strophe 10). Selbst lebt sie ja auch so (Reprise).
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Man kann die neue Jahreszeit wohl überall erkennen. Die Vögel freuen sich, die Blumen sprießen in Berg und Tal. Wo immer sie sich auch befinden, sie sind dem schrecklichen Winter, der sie quälte, entkommen. Ich bin verloren, wenn mich die Minne nicht über mein Unglück hinweg tröstet.
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Jetzt hat mein Unglück gegen mich einen Feldzug unternommen. Überall kommen Truppen zusammen. Meine hohen Wege, die frei waren, sind ganz besetzt. Mir ist der Frieden aufgekündigt worden. Begreift, dass ich etwas Schmerz kenne! Werde ich dorthin gebracht, wo Minne siegt, ach edle Minne, dafür danke ich dir.
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Die Minne, die alles besiegt, helfe mir, dass ich siegen möge, und sie, die alle Not kennt, gönne mir, dass ich erkennen möge, wie schwer es mir fällt – wüsste ich mir nur einen Rat –, darauf zu warten, die Minne zu genießen. Der grausame Rat, der dagegen angeht, untergräbt die Kraft meiner Sinne.
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1–4 Das Gerüst der ersten Strophe bildet der Gegensatz zwischen der Natur, die dem schrecklichen Winter entkommen ist, und dem Unglück (ongheval), in dem die Ich-Figur sich befindet und aus dem nur die Minne sie befreien kann. Dies ist zugleich das Hauptthema des ganzen Liedes. Das Unglück wird in der zweiten Strophe als eine handelnde Person vorgestellt, die gegen das „Ich“ einen Feldzug organisiert. Der ausgearbeitete Vergleich mit einer Kriegssituation, in der die Ich-Figur umzingelt wird und deren Wege durch eine feindliche Kriegsmacht abgeschnitten werden, wurde vielleicht von Hiob 19,8 und 12 inspiriert („Meinen Pfad hat er versperrt; ich kann nicht weiter. (…) Vereint rückten seine Scharen an, bahnten gegen mich einen Weg, lagerten rings um mein Zelt“). Hadewijch hat sich für ihre Lieder öfter vom Buch Hiob inspirieren lassen und sich als ein zweiter Hiob präsentiert.
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Bi minnen mach ic al verwinnen minen ellendeghen noet. Ic weet wel dat ic sal. Doch hebbic meneghen wederstoet, die mi doet sterven menechwerven, sint minne mi eerst van binnen scoet. Ic wille alles derven, totedat mi wilt erven de minne int rike dat si mi boet. In minen jonghen daghen, doe mi de minne eerst jegenvacht, tonese mi grote gelaghen: hare wise, hare rike, hare goede, hare macht. Doe ic met hare omghinc ende ic ontfinc al te gheldene der minnen pacht, gherne boven alle dinc si mi een ane hare hinc. Nu scijnt de storm wel sere ghesacht. Dus hevet mi minne verraden met vele dat si mi hevet ghetoghet, met menegher soeter saden, daer nuwe joghet bi wert ghesoghet. Verweende ombite met nuwen delite, daer ic al gherne bi hebbe ghedoghet, – ic claghe ende verwite met nuwen vlite – houtse op, die mi hadde verhoghet.
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Mit der ironischen Bemerkung in V. 17 macht die Ich-Figur das Publikum auf ihr Leid aufmerksam. Aber wenn dieses der Weg ist, über den Minne sie zum Sieg über die Minne – der Einheit mit Minne – führt, kann sie der Minne nur dankbar sein (V. 18–20). In der dritten Strophe bittet sie Minne nicht nur, sie zum Sieg zu führen, sondern auch, ihr bei der Akzeptanz der Beschwerlichkeit dieses Auftrags zu helfen. Nur indem sie diesen Auftrag als einen integralen Teil des Minneerlebens erkennt, kann sie die vollkommene Minne erreichen. Jeder Ratschlag, der dem widerspricht, ist grausam, weil er die Kraft untergräbt, mit der sie sich der Minne unterwirft. In der vierten Strophe kommen die Motive der vorherigen Strophen nochmals zur Sprache: die Überzeugung, dass sie mit Minne ihr Unglück bezwingen kann (V. 31–33), die Beschreibung dieses
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Durch Minne kann ich meine elende Not völlig bezwingen. Ich weiß wohl, dass ich es schaffe. Doch habe ich manchen Widerstand, der mich oft sterben lässt, seitdem Minne mich zuerst im Inneren traf. Ich möchte alles entbehren, bis mir die Minne das Reich, das sie mir anbot, vererben wird.
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In meinen jungen Tagen, als mich die Minne zuerst angriff, zeigte sie mir große Herrlichkeiten, ihre Weisheit, ihren Reichtum, ihre Güte, ihre Macht. Als ich mit ihr umging und ich mich bereit erklärte, die Pacht der Minne zu begleichen, war es ihr, mehr als alles andere, angenehm, dass sie mich an sich band. Jetzt scheint sich der Sturm wohl stark abgeschwächt zu haben.
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So hat Minne mich mit vielem, was sie mir gezeigt hat, verraten, mit vielem süßen Überfluss, mit dem neue Jugend verköstigt wird. Herrliche Leckerbissen mit neuer Freude, wofür ich alles gerne erlitten habe, – mit neuem Eifer beklage und beschwere ich mich – enthält sie mir vor, die, die mich froh gemacht hatte.
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Unglücks (V. 34–37) und ihre völlige Hingabe in Bezug auf die Minne (V. 38–40). Der Verweis auf den Anfang (V. 37) und die frühen Versprechungen (V. 40) der Minne sorgen für einen Übergang zu den Strophen 5 und 6, in denen die Ich-Figur auf ihr Minneleben zurückblickt. 5–6 In diesen Strophen stellt die Ich-Figur den Anfang ihres Lebens in der Minne der Situation, in der sie sich nun befindet, gegenüber: der Lohn für den Minnedienst, von dem sie damals annahm, dass er sich in greifbarer Nähe befinden würde, der Rausch der Einheitserfahrungen, die sie damals als unerfahrene Minnende schmeckte, das alles scheint ihr nun versagt zu sein.
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Ic weet wel dat de minne levet, al stervic aldus vele. Want icse levende kinne, verdraghic wel al gherne in spele. Mesval ende oetmoet, si arch, si goet, ic ben diet gherne den vreemden hele. Mijn hoghe moet es dies wel vroet dat minne met minne oersaten sele. Ic hebbe der hogher minnen al opghegheven dat ic ben. Verliese ic ochte winne, si al hare scout no meer no min. Wat es mi ghesciet? In ben mine niet, si hevet verswolgen al minen sin. Hare wesen fijn doet seker sijn dat pine van minnen es al ghewin. Ic bekins de minne wel wert. Verliesic, winnic, dies al een. Dat hebbic ie meest begeert, sint minne mijn herte eerst ghereen: te sine hare ghenoech na hare ghevoech, alse ye wel sceen. Want ic verdroech wat si mi sloech. Dore hare waest mi dat rijcste leen.
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7–9 Mit Hilfe ihres eigenen Vorbilds zeigt die Ich-Figur, wie das Leben des Minnenden sein sollte. Strophe 7 beginnt mit einem Zitat aus demselben Kapitel des Buches Hiob wie in Strophe 2: „Aber ich weiß, dass mein Erlöser lebt; und als der letzte werde ich mich über dem Staube erheben“ (Hiob 19,25). Die vielen Tode, die sie stirbt (V. 62), bringen sie zum wahren Leben in der Minne. Für die „Fremden“, diejenigen, für welche die Minne etwas Fremdes bleibt, ist so etwas unbegreiflich. Daher sagt die Ich-Figur ihnen nichts über die Schmerzen und die Freude, die sie in der Minne erlebt (V. 67). Diese sind für sie ja unwichtig. Es geht darum, sich völlig der Minne hinzugeben, sich völlig von der
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Ich weiß wohl, dass die Minne lebt, auch wenn ich so oft sterbe. Weil ich weiß, dass sie lebt, ertrage ich wohl gerne alles mit Freude. Schmach und Gewogenheit, sei es Böses, sei es Gutes, ich halte das gerne vor den Fremden verborgen. Mein Hochgefühl weiß dies sehr genau, dass Minne es mit Minne vergüten wird.
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Ich habe für die hohe Minne alles, was ich bin, aufgegeben. Ob ich verliere oder gewinne, alles sei ihr geschuldet, nicht mehr und nicht weniger. Was ist mir geschehen? Ich bin nicht mehr ich selbst, sie hat mich ganz und gar verschlungen. Ihr feines Wesen verleiht die Gewissheit, dass Minneschmerz reiner Gewinn ist.
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Ich erkenne, dass die Minne es wohl wert ist. Ob ich gewinne oder verliere, das ist einerlei. Danach habe ich immer am meisten verlangt, seit Minne mein Herz zuerst berührte: ihr, ihrem Wunsch entsprechend, zu genügen, wie es sich immer schon zeigte. Denn ich ertrug, was sie mir an Schlägen zufügte. Durch sie war es das reichste Lehen für mich.
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Minne verschlingen zu lassen, indem man alle eigenen Auffassungen über Freude und Trauer aufgibt (Strophe 8). Sobald der Minnende seinen eigenen Willen dem Willen der Minne unterwirft und nur der Minne genügen möchte, ist der Schmerz, den er zu ertragen hat, nur noch reiner Gewinn (Strophen 8 und 9).
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Die minnen ghenoech wilt leven, hi ne spare hem niet, dat es mijn raet. Hi sal met al hem gheven int werc te levene der hoechster daet. Den minnenden verholen, den vreemden verstolen, diet wesen van minnen niet en verstaet. Dat soete dolen in der minnen scolen en weet hi niet, diere niet en gaet.
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Hoe ic werde verquolen, dat minne mi hevet bevolen, dat blivet sonder verlaet.
10 und Reprise Das großartige Leben in der Minne ist verborgen (V. 95), geheimnisvoll, weil das Kennenlernen der Minne nie endet. Für die Fremden ist es unauffindbar (verstolen, V. 96), unerreichbar, weil sie von der Minne nichts verstehen. In der Reprise betont die Ich-Figur, dass auch sie nie um die Forderungen der Minne umhinkönnen wird.
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Wer so leben möchte, dass es der Minne genügt, darf sich nicht schonen, das ist mein Rat. Er muss sich ganz der Arbeit hingeben, um für die größte Tat zu leben. Den Minnenden verborgen, für die Fremden unauffindbar, die das Wesen der Minne nicht verstehen. Das süße Umherirren in der Schule der Minne kennt derjenige nicht, der dort nicht hineingeht.
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Wie sehr ich auch gequält werde, was Minne mir befohlen hat, gilt ohne Aufschub.
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Alse hem de tijt vernuwen sal, nochtan es berch ende dal wel donker ende ontsiene overal. Doch geet de hasel bloyen. Al hevet de minnare ongheval, hi sal in allen groyen. Wat hulpet hem blijscap ochte tijt, die gherne in minnen name delijt ende niet en vindet in die werelt wijt daer hi met trouwen op mach rusten ende vri toe segghen: ‚Lief, ghi sijt die minen gront mach custen.‘ Wat mach hem blijscap ommevaen, die minne in hachten hevet inghe ghedaen ende die de wide van minne woude ommegaen ende vri gebruken in trouwen? Meer dan sterren ane den hemel staen, hevet de minne dan rouwen. Dat ghetal diere rouwen moet sijn gheswegen. Die grote, sware waghen bliven onghewegen. Daer en geet geen gheliken jeghen. Soe eest best dat mens begheve. Al is mijn deel cleyne, ic hebber verdregen. Mi gruwelt dat ic leve.
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Jozef van Mierlo nannte dieses Lied (vM-17) „einen der mächtigsten Schmerzensschreie, den das Verlangen nach der Liebe jemals einem menschlichen Herzen entrissen hat“. Dennoch ist es wie viele der anderen Lieder didaktisch ausgerichtet. Das Lied beginnt mit einer Beschreibung des Übergangs vom Winter zum Frühling: Es ist noch kalt und dunkel, aber der Haselbusch blüht schon. Genauso ist die Situation des Minnenden: Er erfährt Unglück, aber dennoch wird er wachsen. Der erste Teil des Liedes (Strophe 2 – Anfang Strophe 8) besingt die Verzweiflung und das Leiden wegen der Abwesenheit des Geliebten. Im zweiten Teil (Ende Strophe 8 – Strophe 12) wird dasselbe Leiden aus der Perspektive von Hoffnung und Begegnung betrachtet. In der letzten Strophe (13) wird das Thema noch einmal geballt zu einer mystischen Lektion zusammengefasst: Bevor man die mystische Einheit erreichen kann, muss man den Schmerz der Minne schmecken. Die Reprise betont, dass die „Fremden“ dieses Liebesabenteuer nicht begreifen können. 1–3 Der Natureingang situiert das Lied in den Übergang vom Winter zum Frühling: Es ist kalt, aber der Haselbusch blüht bereits. Genauso ist die Situation des Minnenden: Er erfährt Unglück, aber gerade dadurch wird er wachsen. Das Wort tijt wird als „Zeit“ übersetzt, kann aber auch in der Bedeutung
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Wenn sich die Jahreszeit erneuert, sind Berg und Tal noch überall sehr dunkel und grau. Doch der Haselbusch fängt an zu blühen. Auch wenn der Minnende Unglück hat, wird er an allem wachsen.
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Was hilft demjenigen Freude oder Jahreszeit, der gerne in der Minne Beglückung erführe und in der ganzen weiten Welt nichts findet, worauf er sich vertrauensvoll stützen und frei heraus sagen kann: „Liebste, du bist diejenige, die mein Inneres befriedigen kann.“
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Wie kann Freude denjenigen umfangen, den Minne in Fesseln gelegt hat und der durch die Weite der Minne reisen und sie im Vertrauen frei genießen wollte? Größer als die Zahl der Sterne am Himmel ist der Schmerz, den die Minne dann erleidet.
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Die Zahl dieser Schmerzen muss ungenannt bleiben. Die großen, schweren Lasten können nicht gewogen werden. Damit ist nichts zu vergleichen. Darum ist es am besten, dies nicht länger zu versuchen. Auch wenn mein Anteil klein ist, ich habe sie ertragen. Es graut mich, dass ich lebe.
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„Jahreszeit“ (und „Frühling“) gelesen werden. Die Strophen 2 und 3 sind wie ein Diptychon aufgebaut. Sie spiegeln sich syntaktisch (rhetorische Frage, gleicher Satzbau) und lexikalisch (blijscap, minne, wijt / wide, in trouwen, vri [„Freude“, „Minne“, „Weite“, „im Vertrauen“, „frei“]; auch die BeinaheSynonyme custen – gebruken [„befriedigen – genießen“]). Sie formulieren das gleiche Thema: Durch die Abwesenheit der Geliebten erfährt der Minnende Leid. Am Ende der dritten Strophe wird die Unermesslichkeit des Leidens, das die Minne in sich trägt, durch einen Vers, der an Genesis 22,17 erinnert, hervorgerufen: „werde ich … deine Nachkommen zahlreich machen wie die Sterne am Himmel“ (siehe auch Genesis 15,5). Dieses Motiv wird in der folgenden Strophe ausgearbeitet. 4–6 Diese Strophen verweisen implizit auf das zehnte Kapitel des Buches Hiob; vgl. V. 24 mit Hiob 10,1: „Zum Ekel ist mein Leben mir geworden“; V. 27 mit Hiob 10,21: „Bevor ich fortgehe ohne Wiederkehr ins Land des Dunkels“; V. 29 mit Hiob 10,9: „Zum Staub willst du mich zurückkehren lassen (in pulverem)“. Onthopen („verzweifeln“, V. 29) ist ein zentraler Begriff in Hadewijchs Mystik. In den
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Hoe mach hem gruwelen ende rouwen tleven, die sijn al hevet op al gegheven ende in donkeren dole wert verre verdreven, daer hi meer ne waent doen kere, ende in onthopenden storme al wert tewreven? Wat rouwen gheliket dien sere? Ay, ghi fiere, die als met minnen ghestaet ende vri levet in hare toeverlaet, ontfermt der verdeylder, die minne verslaet ende met onthopenden ellende geet nopen. Ay, die raeds mach plegen, leve vri in raet. Mijn herte levet in onthopen. Want ic sach ene lichte wolke opgaen over alle swerke, soe scone ghedaen. Ic waende met volre weelden saen vri spelen in de zonne. Doe wart mijn hoge maer een waen. Al storve ic, wie es dies mi wanconne? Doe sweec mi nacht over den dach. Dat ic ye was gheboren, o wach! Mer die sijn al ghevet op minnen sach, met minnen saelt wel orsaten noch minne. Al ben ic weder onder den slach, God troest alle edele sinne.
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Liedern kommt er jedoch nur an dieser Stelle vor. Es geht um ein weit fortgeschrittenes Stadium in der Minne, in welchem der Minnende glaubt, dass alles, was er kann, im Vergleich zu dem, was Gott von ihm erwartet, nicht genügt. Strophe 6 beginnt mit der Anrede an die fiere, die tapferen Minnenden, die im Gegensatz zum verzweifelten Minnenden, wohl frei und voller Vertrauen mit der Minne umgehen können. Dass diese Kühnen um Mitleid gebeten werden, könnte auch ironisch gemeint sein. Vielleicht haben sie die Prüfung der Verzweiflung noch nicht überstanden und können darum „frei“ leben. 7–11 In diesen Strophen berichtet die Ich-Figur von ihrem eigenen Minneschicksal, immer noch im Dialog mit dem Buch Hiob; vgl. V. 33 mit Hiob 10,2: „Verurteile mich nicht“; V. 43 mit Hiob 3,4 „Der Tag der Finsternis“. Das Bild der erleuchtenden Wolke (V. 37) geht vermutlich zurück auf Offenbarung
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Wie kann das Leben denjenigen anekeln und traurig machen, der sich ganz und gar hingegeben hat und weit auf dunkle Irrwege getrieben wird, von denen er annimmt, dass er niemals davon zurückkehrt, und der in einem Sturm der Verzweiflung zerrieben wird. Welcher Schmerz gleicht diesem Leid?
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Ach, ihr Tapferen, die ihr allem mit Minne standhaltet und im Vertrauen auf sie frei lebt, habt Mitleid mit der Verdammten, die Minne niederschlägt und mit Verzweiflung und Elend quält. Ach, wer sich dazu beraten lassen kann, der lebe mit diesem Rat in Freiheit. Mein Herz lebt in Verzweiflung.
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Denn ich sah eine helle Wolke aufsteigen über die ganze Wolkendecke, so schön. Ich dachte schon, ich würde bald in üppiger Wonne frei in der Sonne spielen. Da war mein Hochgefühl nur ein Wahn. Wenn ich sterben würde, wer würde es mir verübeln?
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Da sank mir die Nacht über den Tag nieder, Dass ich jemals geboren wurde, oh weh! Aber wer sich auf Geheiß der Minne ganz hingibt, den wird Minne noch mit Minne belohnen. Auch wenn ich wieder Schläge ertrage, Gott tröstet alle edlen Sinne.
14,14: „Und sehe, ich sah eine helle Wolke.“ In der Offenbarung sitzt Christus, der in dem Lied vermutlich durch die Sonne symbolisiert wird, auf dieser Wolke (V. 40). Mit diesen Bildern wird der freudenreiche Anfang des mystischen Weges evoziert, in dem der Geliebte sichtbar und fühlbar ist und die Einheitserfahrung nahe scheint (V. 37–40). Diese erste Phase des Kontakts ist durch Erfüllung und Freude gekennzeichnet. Aber dann folgt die Ernüchterung: Auf den Tag folgt die Nacht (V. 43–44), auf die Hoffnung voller Freude folgt die Verzweiflung. Kurzum: Der Minnende ist wie der Haselbusch, der früh blüht (der erste Kontakt voller Freude), woraufhin man aber endlos warten muss, bis er Früchte
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Die minne es in allen beginne ghenoech. Doe mi minne eerst minne gewoech, ay, hoe ic met al hare al beloech! Doe dede si mi hazelen slachten, die in deemsteren tide bloyen vroech ende men langhe hare vrochte moet wachten. Die beiden mach, hem es wel ghesciet, totedat minne sijn al met al versiet. Ay God, dies en achte ic niet, maer ic bens meer dan te ghemeder. Der minnen ic doch mi selven al liet! Mer mi dede dat wee al leder. Dat es den minnare al te swaer: na minne te doelne ende hi ne weet waer, het si in demsterheit ochte in claer, in abolghe ochte in minne. Gave minne hare ghewarege troeste openbaer, dat cust de ellendege sinne. Al liete mi mijn lief lieve van minnen ontfaen, daeromme en werde minne niet al verdaen, ende soe ware geen hoge maer in waen. Dat ware groet jammer dattet gesciede. Ay, den edelen fieren doe God verstaen wat selke scade bediede.
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trägt (V. 52–54). Dieses Warten, wie schrecklich es auch sein mag (V. 60–64), hat einen Sinn, weil nur über diesen Weg irgendwann die wahre Erfüllung kommt (V. 55–56 und 64–66). 12–13 und Reprise Wer in der Minne nur die Freude kennt und nicht das Leid, kennt die Minne nicht ganz und erlebt dementsprechend nur eine Art Scheinfreude (Strophe 12). Das echte gebruken (Genießen) des Wesens der Minne ist nur möglich, wenn man auch den Schmerz der Abwesenheit erfährt (Strophe 13). Für die Fremden ist diese Erkenntnis nichts wert (Reprise).
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In jedem Anfang genügt die Minne. Als Minne mir zuerst Minne verkündete, ach, wie ich allem, was sie ist, mit allem, was ich bin, zulachte. Da ließ sie mich einem Haselbusch ähneln, der in dunkler Zeit früh blüht und bei dem man lange auf seine Früchte warten muss.
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Wer warten kann, dem geht es gut, bis Minne ihn ganz mit Allem befriedigt. Ach Gott, davor habe ich keine Angst, sondern ich bin deswegen umso froher. Der Minne habe ich mich doch selbst ganz überlassen! Aber der Schmerz fügte mir immer mehr Leid zu.
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Das fällt dem Minnenden allzu schwer: Der Minne hinterher zu irren, und er weiß nicht, wohin, sei es in der Dunkelheit oder im Hellen, in Empörung oder in Minne. Gäbe Minne ihren aufrechten Trost unverhohlen, das würde die jämmerlichen Sinne befriedigen.
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Auch wenn mich mein Liebster Liebes von der Minne empfangen ließe, deshalb wäre Minne nicht ganz verbraucht, und das Hochgefühl wäre eine Wahnvorstellung. Es wäre sehr schade, wenn das passieren würde. Ach, lasse Gott die kühnen Edlen verstehen, was solch ein Schaden bedeuten würde.
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Ay, wat ic meine ende hebbe ghemeent, hevet God den edelen wel versceent, dien hi quale van minnen hevet verleent om ghebruken van minnen nature. Eer al met al wert vereent, smaket men bettere suere. Der minnen comen troest, hare ophouden versleet. Dat swert de avonture. Ay, hoe men al met al beveet, dat en weten ghene vremde ghebure.
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Ach, was ich meine und gemeint habe, hat Gott den Edlen wohl deutlich gemacht, denen er den Minneschmerz geschenkt hat, um die Natur der Minne zu genießen. Bevor Alles mit Allem vereinigt wird, schmeckt man bitteres Leid.
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Das Kommen der Minne tröstet, ihr Wegbleiben bedrückt. Das bekräftigt das Abenteuer. Ach, wie man Alles mit Allem umfasst, das wissen fremde Nachbarn nicht.
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Dit nuwe jaer es ons onstaen, dies si God ghebenedijt. Hi mach gherne den tijt ontfaen, die van minnen hevet delijt ende die dan kint in sinen sinne dat hi pine omme hoghe minne gherne wilt doghen in allen tijt. In allen tiden moet men doghen, die hogher minnen dienen sal, ende sinen dienst in minnen hoghen, sal hi van hare hebben gheval ende sal hi die nature bekinnen daer de minne in mint met minnen, die hem sen ende herte stal. Nuwe tijt ende nuwe minne, dat wondet beide in enen gront. Dat ict over nuwe bekinne, dat hevet mijn herte nu ghewont: dat die edele figure verborghen in hare subtile nature vore ons es soe langhe stont.
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In diesem Lied (vM-18), dem kürzesten der ganzen Sammlung, wird mit den Worten tijt, nuwe und minne ein subtiles Spiel gespielt. Dabei geht die Bedeutung von tijt, dem Frühling, auf den sich jeder freut (Strophen 1–2), allmählich über in die von minne (Strophe 3), der Jahreszeit der einzigen wahren Freude, nach welcher der Minnende sich sehnt (Strophe 4). 1–2 Der Beginn des neuen Jahres (V. 1) kündigt – wie öfter bei Hadewijch – auch die tijt, die Zeit des herannahenden Frühlings, an (V. 3). Aber mit der gleichen Begeisterung (gherne), mit welcher der Minnende den Frühling begrüßt (V. 3), ist er immer bereit, die Freude (delijt, V. 4), welche die Minne ihm schenkt, aufzugeben, um für die hohe Minne pine („Schmerzen“) zu erleiden (V. 6–7). Nicht indem man sich an delijt, die von der Minne kommt, festklammert, sondern indem man der Minne dient und diesen Dienst in allen tiden („zu allen Zeiten“) leistet, kann man die Gunst der Minne erlangen und sie in vollem Umfang kennenlernen (Strophe 2). Die Erfahrung der Einheit in der Minne übersteigt menschliches Vermögen: sen ende herte („Verstand und Herz“) wurden dem Minnenden gestohlen (V. 14). Der Minnende ist dann selbst Minne geworden. Sein Leben in der Minne, das mit Worten nicht zu fassen ist, wird durch ein Polyptoton mit minne beschrieben (V. 13). Die Lautwie-
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Das neue Jahr hat angefangen, dafür sei Gott gepriesen. Den Frühling darf derjenige gern begrüßen, der durch Minne Freude hat und der dann in seinem Inneren erkennt, dass er für die hohe Minne gern zu jeder Zeit Schmerzen erleiden will.
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Zu allen Zeiten muss derjenige leiden, der hoher Minne dienen möchte, und seinen Minnedienst verstärken, wenn er von ihr Glück erlangen und das Wesen erkennen möchte, in dem die Minne mit Minne minnt, die ihm seinen Verstand und sein Herz gestohlen hat.
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Neue Zeit und neue Minne, beide verwunden in tiefster Seele. Dass ich es aufs Neue kennenlerne, das hat nun mein Herz verwundet: dass diese edle Gestalt in ihrem feinen Wesen für uns so lange verborgen bleibt.
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derholung in hoghe – doghe (V. 6–7) wird mit der Concatenatio in Strophe 2 fortgeführt: doghen – hogher – hoghen (V. 8–10). 3 Anders als tijt, der Frühling, der – oberflächlich – delijt schenkt, weckt nuwe tijt („neue Zeit“) wie die nuwe minne („neue Minne“) bei dem Minnenden das Verlangen, die Minne vollständig kennenzulernen. Daher können nuwe tijt und nuwe minne hier beinahe als Synonyme betrachtet werden. Beide verwunden den Minnenden im gront, im Tiefsten seiner Seele. Der Minnende erfährt nun nämlich die Ewigkeitsdimension der Minne, die seine menschliche Beschränkung bloßlegt und ihn dann auch verwundet. Ihm wird bewusst, dass die ewige Minne unerschöpflich ist: Immer wieder erweist es sich, dass er sie nicht vollständig kennt. Sie bleibt für ihn verborgen (V. 19–21) und wird von ihm daher immer wieder neu erfahren. Das ist die Situation, in der auch die Ich-Figur lebte (V. 17) und in der auch das Publikum sich wiedererkannt haben dürfte (V. 21).
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Die nuwen tiden in minnen diende, dat scene nu herde nuwe sake. Want men vindet nu lettel liede die staen na rechter minnen smake. Want den wreden vreemden blivet verholen hoe mi mijn herte hevet verstolen die tijt, daer ic altoes na hake.
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4 Der Dienst des Minnenden spielt sich ab in Jahreszeiten, die sich immer erneuern, eine Metapher für die Minne, die nie zum Stillstand kommt (V. 22). Ein solcher Dienst ist für die Menschen unbegreiflich, die nicht danach streben, den wahren Geschmack der Minne kennenzulernen (V. 24–25). Die „hartherzigen Fremden“ begreifen nicht, wie die Ich-Figur ihr Herz, sich selbst, in der Minne verloren hat, wie sie fortwährend (altoes), ohne Unterbrechung, nach der tijt streben muss, die hier vollständig zu einem Synonym für minne geworden ist.
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Dass jemand in neuen Zeiten in Minne diente, würde jetzt als eine ganz neue Sache erscheinen. Denn heute findet man wenige Menschen, die nach dem Schmecken der wahren Minne streben. Denn den hartherzigen Fremden bleibt es verhohlen, wie mir die Zeit, nach der ich mich immer sehne, mein Herz gestohlen hat.
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Groeter goede vore den tide ende groet gheloven vore dat gheven, dies en darf nieman sijn te blide. Ons es van beiden vele ontbleven. Die vroeghe blike vore der minnen rike hebben mi verre ute mi verdreven. Bi sconen dagheraden hoept men der lichter claerre daghe. Der minnen tonen hevet mi verladen ende meneghen dies ic niet en ghewaghe, mer hi weet van hem selven diet si. Ic weet van mi alse die mi altoes van minnen beclaghe. Dat seghet de dorpere: ‚Jeghen avont sal men loven den sconen dach.‘ Dat ic soe spade dat verstont, doet mi nu roepen: ‚Arme, owach! Waer es nu dat solaes ende der minnen paes, daer si mi eerst scone met versach?‘
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Die Süße der ersten freudvollen Begegnung mit der Minne steht in diesem Lied (vM-19) der Trostlosigkeit gegenüber, die man erlebt, wenn die folgende Begegnung lange auf sich warten lässt (Strophen 1–3). Aber gerade die Verlassenheit gibt der personifizierten Vernunft die Gelegenheit, der Seele des Minnenden zu raten, sich in Treue zu erproben (Strophen 4–5). Durch ihren Aufruf zu einem aktiven Einsatz und tugendhaften Handeln im Dienst der Minne, holt Vernunft den Minnenden aus der naiven Begeisterung, die die erste Phase des Minneprozesses kennzeichnet (Strophen 6–12). Dieser Art von Minnendem steht die Ich-Figur gegenüber, die nicht durch Wut (woet), sondern Sturmwut (orewoet) gequält wird. Für das intensive Verlangen bietet sogar das Singen keine Linderung (Strophe 13). Dieses ausdrucksstarke Lied endet mit einer leidenschaftlichen Klage: „Die Minne hat die Tage und ich die Nächte und die Sturmwut“ (Reprise). 1–3 In diesem Lied fehlt, wie in den Liedern 21 und 29, der Natureingang. Die ersten drei Strophen beginnen jeweils mit einer Redewendung (V. 1–3; 8–9; 15–16). In diesen wird jedes Mal eine Zeitangabe verwendet (tide [„Zeit“], V. 1; dagheraden [„Tagesanbruch“], V. 8; avont [„Abend“], V. 15), so dass die Redewendungen in gewisser Weise die Funktion eines Natureingangs übernehmen. In der Tat wird die allgemeine Erkenntnis jedes Mal mit der Situation der minnenden Ich-Figur verglichen, genau, wie
Lied 18
1
Über eine große Gunst, vorzeitig empfangen, und ein großes Versprechen, bevor es erfüllt wird, darf man nicht allzu erfreut sein. Von beidem ist uns viel vorenthalten geblieben. Die frühen Zeichen vor dem Reichtum der Minne haben mich weit von mir weggetrieben.
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Bei schönen Tagesanbrüchen hofft man auf helle, klare Tage. Das Erscheinen der Minne hat mich überladen und auch viele andere, die ich nicht nenne, aber derjenige, den es betrifft, weiß es selbst. Ich weiß von mir, dass ich immer über die Minne klagen muss.
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Das sagt der Bauer: „Am Abend soll man den schönen Tag loben.“ Dass ich das so spät verstand, lässt mich nun ausrufen: „Arme, oh weh! Wo sind nun die Freude und der Frieden der Minne, mit denen sie mich zuerst schön versah?“
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dieses in den anderen Liedern mit Natureingang geschieht. „Sei nie zu froh wegen eines noch unerfüllten Versprechens.“ (V. 1–3) stimmt mit der eigenen Erfahrung der Ich-Figur überein, dass das erste Versprechen der Minne nicht eingelöst wurde und dass die blind machende schöne erste Begegnung mit der Minne den Minnenden außer sich geraten lässt (V. 4–8). Die Redewendung, die Strophe 2 einleitet – bei schönen Tagesanbrüchen hofft man auf schöne Tage – bildet implizit einen Kontrast zu der Situation der Ich-Figur und anderen Minnenden. Sie scheinen, trotz der ersten verheißungsvollen Begegnung, die Minne nicht finden zu können und können deswegen nichts anderes tun als über ihre Unbeständigkeit zu klagen (V. 9–12). Die Ich-Figur behauptet, dass sie die Weisheit der dritten Strophe, nämlich, dass man erst bei der Abenddämmerung den Tag loben darf, zu spät verstanden hat. Sie hat von der frühen Freude in der Minne zu viel erwartet und leidet jetzt unter ihrer Abwesenheit.
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Lied 18
Hoe scone dat sijt mi eerst toende ende sint wart wreet, es mi nu cont. Dat si mi niet en bedroech noch en hoende met wat wee – soe ict verstont! Maer si woude mi verclaren ende openbaren dat redene dorelicht al der minnen gront. Verlichte redene ghevet orlof ende metter hoechster minnen raet met hare te doresiene al der minnen hof, ochte daer van allen ghenoech in staet. Ghebrect daer iet, dat ment versiet dat trouwe voldoe met hogher daet. Mochtic mi soe in trouwen houden dat minne niet en hadde te segghene te mi ende soe al dat mine met al vergouden – ja, als ic mach ghelden selc mensche ic si. Tierst waest een tanen, dan soudic manen die minne in allen ghebrukene vri.
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4–6 Die ersten drei Strophen waren durch einen parallelen Aufbau miteinander verbunden (Redewendung und Anwendung). In den folgenden Strophen wird dieses Prinzip aufgegeben und durch eine Concatenatio ersetzt (scone [„schön“], V. 21 und 22; dorelicht und redene [„erleuchtet“ und „Vernunft“], V. 28 und 29; trouwe [„Treue“], V. 35 und 36). Strophe 4 beleuchtet noch einmal den Gegensatz zwischen der herrlichen ersten Begegnung mit der Minne und ihrer darauf folgenden schmerzhaften Abwesenheit (V. 21–25). Die Ich-Figur weiß jetzt, dass es nicht um Willkür oder Untreue geht, wie sie zuerst dachte. Durch ihre Abwesenheit gibt die Minne dem Minnenden gerade die Gelegenheit, mit dem Licht der Vernunft mehr Einsicht in den tiefsten Kern der Minne zu erreichen. Strophe 5 erklärt die Rolle der erleuchteten Vernunft genauer (auch in den Liedern 14, 15 und 25). Sie schiebt das Genießen der Minne auf, damit der Minnende sich auf das Abarbeiten seiner Defizite konzentrieren kann. Hadewijch drückt diesen Gedanken mit dem Mittel des traditionellen Bildes
Lied 18
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Wie schön das war, was sie mir zuerst zeigte, und wie es dann grausam wurde, weiß ich jetzt. Dass sie mich mit diesem Schmerz weder betrog noch verhöhnte – könnte ich das nur verstehen! Aber sie wollte mir erklären und offenbaren, dass die Vernunft die Tiefe der Minne ganz erleuchtet.
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Erleuchtete Vernunft gibt die Erlaubnis und rät mit der höchsten Minne dazu, mit ihr den ganzen Garten der Minne danach durchzusehen, ob von allem genug darin steht. Fehlt es dort an etwas, achte man darauf, dass Treue es mit edlen Taten auffüllt.
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Könnte ich mich doch so in Treue halten, dass Minne nichts gegen mich einzuwenden hätte und ich so meine Schuld ganz begleichen könnte – ja, wenn ich es als Mensch, der ich bin, begleichen kann! Ging es zuerst um Verführung, dann würde ich nun einfordern, dass ich die Minne völlig frei genießen kann.
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des allegorischen Minnegartens aus (der minnen hof, V. 31). Die personifizierten Vernunft und Treue sind dann die Gärtner; Vernunft schaut, welche Tugenden noch fehlen, und Treue zieht los, um sie zu erlangen. In Strophe 6 drückt die Ich-Figur den Wunsch aus, dass sie den Auftrag, den die Vernunft dem Minnenden auferlegt, ausführen könne (V. 36–38). Um der ewigen Minne wert zu sein, muss sie wohl die Einschränkungen, die dem Menschsein inhärent sind, übersteigen (V. 39). Sie formuliert den Auftrag nun in kaufmännischen Termini: Sie hofft, dass sie die Schuld, die sie bei der Minne hat, begleichen kann (vergouden [„begleichen“], V. 38; ghelden [„begleichen“], V. 39; manen [„einfordern“], V. 41). Sobald ihre Schuld bezahlt ist, kann sie wie eine Ebenbürtige das Genießen in der Einheit mit der Minne einfordern.
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Lied 18
Ay, edele minne, welctijt, wanneer seldi mi gheven lichte daghe, dat miere deemsterheit worde een keer? Hoe gherne ic de sonne saghe! Ghi wet allene hoe ic dit mene: ochte ic iet wille dan uwe behaghe. Ay, du gheweldeghe, wondere minne, die al met wondere verwinnen mach, verwinne mi, dat ic di verwinne in dine onverwonnene cracht. Ic plach te kinnene dat verwinnen: daer es int verwinnen kinnen, dat mi ye alreseerst verwach. Noch sidi, minne, dat ghi ye waert. Dat weten die met u sijn in al. Ic sals gheloven: en dochte ghespaert. Mi hevet ghelettet een ongheval, dat ic noch niet en kinde dat werc noch en minde, daer mi trouwe met volhelpen sal.
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7–10 In Strophe 7 verändert sich der Ton. Die Ich-Figur richtet sich mit einer verzweifelten Frage an die Minne: Wann endlich bricht der klare Tag an (V. 44, vgl. V. 9–10)? Durch die Wiederholung (welc tijt [„zu welcher Zeit“], wanneer [„wann“], V. 43) und durch eine künstliche Verwendung des Enjambement (V. 43–44) wird das wanneer nachdrücklich betont und wird dieses Fragewort sozusagen zu einer existentiellen Klage verselbstständigt. Die Ich-Figur kann nicht warten, bis sie jetzt endlich die „Sonne“ sehen kann (V. 46; vgl. Lied 16, V. 40). Am Ende der Strophe mildert sie ihre Klage ab: Sie möchte nur das, was die Minne möchte (V. 47–49), und akzeptiert somit implizit auch die mystische Nacht, in die sie durch die Minne gestoßen wird. Auch die achte Strophe beginnt mit einem Ausruf, mit dem die Minne angesprochen wird. Dieses Mal fasst die Ich-Figur ihre Sehnsucht nach Einheit mit Minne durch Kriegsmetaphorik in Worte, vor allem durch eine polyptotische und paradoxale Verwendung des Wortes verwinnen („bezwingen“): In der
Lied 18
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Ach, edle Minne, zu welcher Zeit, wann wirst du mir helle Tage geben, damit meine Dunkelheit sich verkehrt? Wie gern sähe ich die Sonne! Du allein weißt, wie ich dies meine: dass ich nichts außer dem, was dir gefällt, will.
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Ach, du gewaltige, wunderbare Minne, die alles mit Wundern zu bezwingen vermag, bezwinge mich, damit ich dich in deiner unbezwingbaren Kraft bezwingen kann. Das Bezwingen kannte ich, in diesem Bezwingen liegt eine Erkenntnis, die mich immer am schlimmsten bedrückt hat.
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Dennoch bleibst du, Minne, wer du immer warst. Das wissen diejenigen, die in allem mit dir sind. Ich muss es glauben: Hinauszögern hilft nicht. Mich hat ein Unglück behindert, und zwar, dass ich die Arbeit weder kannte noch minnte, bei deren Vollendung Treue mir helfen wird.
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wunderbaren mystischen Einheitserfahrung fällt „bezwingen“ mit „bezwungen werden“ zusammen (V. 50–53, siehe Lied 13, V. 21–22; Lied 27, V. 26; Lied 40, V. 33). Für die Ich-Figur ist die Erfahrung in diesem Augenblick nur eine Erinnerung, und sie erinnert sich vor allem an die Einsicht, die die Einheitserfahrung bietet (V. 54–55). Es wird nicht ausgesprochen, um welche Einsicht es sich handelt. In dem Kontext von Hadewijchs Mystik kann man das Implizite jedoch deutlich verstehen: Die Einsicht bezieht sich auf das Bewusstsein der menschlichen Defizite und der Verlassenheit, die auf die Einheitserfahrung folgen.
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Sint ic ghevolghede in hogher trouwen dat mi minne soude in staden staen, begave ic alle vremde rouwen ende ben in toeverlaet ghestaen, daer ic in kinne dat mi noch minne met hare al een sal omvaen. Dat es der gheweldegher minnen sede: dien si al saket te haerre hant, al doetse hem cracht ende gheweldechede, si doet hem ghenoech ende suet den bant. Dies geet van hare hoge mare ende groet prijs over alle lant. Dien minne eerst veet, dien luuctse de oghen met ghenoechten: soe dunct hem tsine al best. Soe en waent hi niet dan joye doghen. Dus trect sijt al met haerre lest. Dan comt redene, de starke, met nuwen werke der scout. Soe wert de woet ghecest.
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Wie in den beiden vorherigen Strophen beginnt die neunte Strophe, indem die Minne direkt angesprochen wird: Du, Minne, bleibst, wie du bist, ob der Minnende nun Freude oder Verlassenheit erfährt. Der Ich-Figur wird bewusst, dass ihr Leid nicht nur aus der Minne selbst erwächst, sondern aus ihren eigenen Defiziten. Sie wusste nicht, dass das treue Weiterarbeiten im Dienst der Minne, auch wenn diese sich nicht anwesend zeigt, einen wichtigen Teil des Minneerlebens ausmacht. Seit sie diese Einsicht besitzt, weiß sie, dass sie im Vertrauen auf eine folgende Umarmung der Minne hoffen darf (Strophe 10). 11–12 Auf die ausdrucksstarken und persönlichen Strophen 7–10 folgen nun zwei didaktische Strophen, in denen die Handlungsweise der Minne zusammengefasst wird. Wer eine Verbindung mit der Minne eingeht, muss dann manchmal wegen ihr leiden, aber letztendlich bietet die Minne dem Min-
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Seit ich in hoher Treue davon ausging, dass Minne mir beistehen würde, habe ich alle fremden Leiden aufgegeben, und bin voller Zuversicht, die mir zu erkennen gibt, dass Minne mich einst in einer völligen Einheit mit ihr umarmen wird.
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Das ist die Art der gewaltigen Minne: Demjenigen, den sie ganz an sich bindet, auch wenn sie ihm Gewalt und Zwang zufügt, bereitet sie Vergnügen und versüßt das Band. Darum erfährt sie ein hohes Maß an Ruhm und großes Lob in allen Ländern.
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Demjenigen, den Minne zum ersten Mal fängt, schließt sie die Augen mit Vergnügen: So denkt er, dass es ihm sehr gut geht. So meint er dann nichts als Freude zu ertragen. Auf diese Weise verführt sie jeden mit ihrer List. Dann kommt die strenge Vernunft mit neuen Aufgaben, um die Schuld zu begleichen. So wird die Leidenschaft gelöscht.
nenden immer Befriedigung (Strophe 11). Zuerst lockt die Minne einen neuen Minnenden durch eine überwältigende Erfahrung. Dadurch meint der junge Minnende, dass er danach in der Minne nichts als Freude erträgt (joye doghen [„ertragen“], V. 80). Durch das Verb doghen, dass im Allgemeinen mit „leiden“ assoziiert wird, mit dem Wort joye zu verknüpfen, ironisiert Hadewijch die Naivität dieser jungen Minnenden, die sich nicht bewusst werden, dass Verlassenheit ebenfalls zu der Minne gehört. Wenn die Vernunft unerwartet die Arbeit hervorhebt, die man der Minne schuldig ist, kühlt sich die naive Begeisterung (woet [„Leidenschaft“],V. 84) der jungen Minnenden schnell ab.
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Lied 18
Dat ic van minnen vele songe, dan holpe mi niet vele, maer lettel goet. Maer dien ouden ende dien jonghen coelt sanc van minnen haren moet. Maer van minnen mijn heel hevet soe cleine deel: mijn sanc, mijn wenen scijnt sonder spoet. Ic roepe, ic claghe: de minne hevet de daghe ende ic de nachte ende orewoet.
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13 und Reprise Gegenüber den jungen Minnenden steht die Ich-Figur, die nicht von Leidenschaft (woet, V. 84), sondern von Sturmwut (orewoet, V. 94) gequält wird. Für die rasende Leidenschaft bietet sogar das Singen über Minne keine Erleichterung. Indem sie am Schluss des Liedes das Singen selbst thematisiert, schließt sich Hadewijch bei einer höfischen Tradition an, in der das Lied als Balsam für Minneschmerz präsentiert wird. Für die Ich-Figur zeigt diese Medizin keine Wirkung (V. 91). Ihr
Lied 18
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Auch wenn ich viel von der Minne singen würde, das würde mir nicht viel, sondern nur wenig helfen. Aber bei den Alten und den Jungen beruhigt der Minnesang ihr Gemüt. Aber in der Minne hat mein Glück nur einen kleinen Anteil: Mein Gesang, mein Weinen scheint ohne Wirkung.
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Ich rufe, ich klage: Die Minne hat die Tage und ich die Nächte und die Sturmwut.
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Lied endet darum in einer verzweifelten Klage, die wiederum das Bild des „hellen Tages“ (V. 9–10, V. 44) aufruft: Die Minne besitzt die Tage, während die Ich-Figur in der nächtlichen Dunkelheit bleibt und durch brennendes Verlangen verzehrt wird.
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Lied 19
Dit nuwe jaer es ons begonnen. Nu moete ons God met minnen onnen dat wijt also beginnen connen dat der minnen doghe. Hi ne levet onder der sonnen die der minnen genoech vermoghe. Nuwe jaer ende nuwe daghe wetic dat hem wel behaghe die altoos gherne bliscap zaghe in ogen ende in hant. Die mint, hem es al wage, hi ne leve in minnen bant. Met eneghen fieren vrien moede selen wi bidden der minnen goede datse ons te hareselven helpe met spoede, want wi hebbens noet. Die levet buten der minnen hoede, hi es arger dan al doet. Beter es de doet dan better leven. Ay minne, wouddi ons volgeven dat wij boven al werden verheven dat nederheit es! Wij sijn te verre verdreven van u: ontfarme u des.
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Dieses Lied (vM – 20) ist „innig wie ein Gebet, feierlich wie eine Hymne“ und ein Lobgesang auf die „Erhabenheit der Liebe“, schreibt van Mierlo. Kein Mensch kann jemals genug für die Minne tun, und dennoch möchte der Minnende sich ganz der Minne hingeben (Strophen 1–2). Darum wendet sich die Ich-Figur mit einem Gebet an Gott, der Minne ist, um sich selbst und ihre Freundinnen zu vollkommenen Minnenden zu machen (Strophen 3–5). Gleichzeitig ruft sie alle edlen Seelen auf, sich ohne zu zögern und völlig der Minne hinzugeben (Strophen 7–10). Selbst befindet sie sich jedoch noch nicht in der vollkommenen Umarmung durch die Minne, was sie traurig macht (Strophen 11–12 und Reprise).
Lied 19
1
Das neue Jahr hat angefangen. Möge Gott es uns jetzt mit Minne gönnen, dass wir es so beginnen können, dass es für die Minne tauge. Niemand lebt unter der Sonne, der der Minne genügen könnte.
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Ich weiß, dass ein neues Jahr und neue Tage demjenigen gut behagen, der immer gern um sich herum Freude sähe. Für denjenigen, der minnt, ist alles eine Last, wenn er nicht im Band der Minne lebt.
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Mit innigem, kühnem und freiem Gemüt werden wir die gute Minne bitten, dass sie uns eilig zu ihr selbst hilft, denn wir bedürfen dies. Wer außerhalb des Schutzes der Minne lebt, dem geht es schlechter als im Tod.
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Der Tod ist besser als ein bitteres Leben. Ach Minne, würdest du uns doch nur verleihen, dass wir über alles erhoben würden, was niederträchtig ist! Wir sind zu weit von dir weggetrieben: Dessen erbarme dich.
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1–2 Das Lied wird mit dem Wunsch eröffnet, dass die Minne der Ich-Figur und dem Publikum am Anfang des Jahres Befriedigung schenken möge. Aber auf der Erde ist man hiermit nie fertig (Strophe 1). Im Gegensatz zu den Menschen, die im neuen Jahr Freude finden können, erfährt der Minnende die ganze Welt als eine schwere Last, solange er nicht völlig von der Minne aufgenommen wurde (Strophe 2). Diese beiden Strophen beinhalten das zentrale Thema dieses Liedes. 3–4 Die angesprochenen Rezipienten einbeziehend, fleht die Ich-Figur die Minne an, sie zu einem vollkommenen Minneerlebnis zu führen und sie von ihrer Niedertracht zu befreien. Mit einem Zitat, das wörtlich aus Ekklesiastikus (Jesus Sirach) 30,17 entlehnt wurde („Besser sterben als ein bitteres Leben“), betont sie, dass derjenige, der weit von der Minne entfernt ist, ein Leben führt, das schlimmer als der Tod ist.
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God, die ghemaecte alle dinghe ende boven al minne es sonderlinghe, hem biddic dat hi ghehinghe, na sijn genoege, dat minne mi minne also na noch dwinghe alse si can voeghen. Dat minne can voeghen, dats herde na. Maer hoe na, ic ben dies niet en versta. Maer die om minnen es haest ende ga, hi saelt noch weten altoos in woede hoe men minne omva. Hier en doech gheseten. Ay, ay, edele vol redenen, waer moeghedi dueren? Ja, edelste alre creaturen, vercoren ter minnen naturen, in ghebrukene van weldighen smaken: nuwe materie, bliscap, bloeyen alle uren sal gheweldege minne orsaten. Ende ochte gruwelt denghenen die sijn blent ende der minnen smake sijn onbekint, u vraghic wies ghi u onderwint. Ofte ghi wilt minnen, segghet: ‚Ic wille henen gherne daer si mi sent, eest in storme, eest in wenen.‘
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5–6 In der fünften Strophe wiederholt die Ich-Figur ihr Gebet zu Gott, der nicht nur alles erschaffen hat (vgl. V. 25 und Johannes 1,3 „Alle Dinge wurden durch ihn erschaffen“), sondern der vor allem selbst Minne ist (vgl. V. 26 mit 1 Johannes 4,8 und 16: „Gott ist Liebe“). Die vollkommene Einheit mit der Minne hat sie noch nicht erreicht (V. 32). Aber wer sich der Minne hingibt, wird sie in Leidenschaft umfangen (V. 33–36). 7–8 Aus dieser Überzeugung heraus ruft die Ich-Figur die edlen Seelen, die für ein Leben in der Minne auserkoren sind, auf, nicht länger untätig zu sein. Mit einem Hinweis auf den Natureingang in den ersten beiden Strophen behauptet sie, dass nur in der Minne Erneuerung, Freude und Blüte zu finden
Lied 19
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5
Gott, der alles erschaffen hat und in erster Linie Minne ist, ihn bitte ich, dass er entsprechend seiner Genugtuung erlaube, dass Minne Minne so eng an mich drückt, wie sie nur kann.
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Das, was Minne zusammenfügen kann, das ist ganz eng verbunden. Aber wie eng, das weiß ich nicht. Aber wer wegen Minne schnell und rasch ist, wird sicher noch in Raserei kennenlernen, wie man Minne umarmt. Hier taugt es nicht zu verharren.
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Ach, ach, ihr Edlen voller Vernunft, wo bleibt ihr? Ja, edelste aller Geschöpfe, auserkoren für das Wesen der Minne, um herrliche Geschmäcke zu genießen: Neue Materie, Freude, fortwährende Blüte wird gewaltige Minne belohnen.
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Und auch wenn es diejenigen graut, die blind sind, und sie den Geschmack der Minne nicht kennen, frage ich euch, was ihr auf euch nehmt. Wenn ihr minnen wollt, sagt: „Ich möchte gerne dorthin, wohin sie mich schickt, sei es in einen Angriff, sei es ins Elend.“
seien (Strophe 7), auch wenn diejenigen, die blind sind, durch ihre Hinwendung zum Irdischen, vor dem Minnedienst zurückschrecken (V. 43–44). Ihren Aufruf verstärkt sie, indem sie darauf verweist, was die Kirche über die Minne lehrt: einer der wenigen Momente, in denen sie sich explizit auf die kirchliche Lehre bezieht (Strophe 9).
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Lied 19
Want ons orcondet de heileghe kerke – hare meerre, hare minderen, hare papen, hare clerke – dat minne es van den hoochste werke ende edelst bi naturen. Al verwintse ons, si verwint alle sterke, ende hare cracht sal duren. Alse alle dinghen selen vervaren, soe sal die edele minne waren ende haer claer gheheel openbaren, alse ghi in een nuwe beghin met minnen de minne selt anestaren: ‚Siet, dit eest dat ic ben.‘ Alse minne hare lieve dus effene weghet ende minne der minnen met minnen pleghet, ic en weet hoe – het blivet ongheseget ende ooc onverstaen, want dies gelike gheen en leget – hoe minne can lieve bevaen. Hen allen die minnen moets ontfarmen dat mi minne aldus laet carmen ende so dicken roepen: „Wacharmen! Welke tijt ende wanneer sal mi minne bescarmen ende segghen: ‚Dijns rouwen si keer.
Ic saldi warmen. Ic ben dat ic was wileneer. Nu valle in minen armen ende smake mijn rike gheleer.‘“
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10 In einer Sprache, die an die Offenbarung des Johannes 21,1–6, erinnert (der Untergang der alten Welt; die Ankunft Gottes, der sich als derjenige offenbart, der alles erneuert), evoziert Hadewijch die vollkommene und unbeschreibliche Einheit, die am Ende der Zeiten für den Minnenden bereit steht.
Lied 19
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Denn uns verkündet die heilige Kirche – ihre Oberen, ihre Untergebenen, ihre Priester, ihre Gelehrten –, dass Minne die größte Arbeit und von Natur am edelsten ist. Auch wenn sie uns bezwingt, bezwingt sie jede Kraft, und ihre Macht wird andauern.
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Wenn alle Dinge vergangen sein werden, dann wird die edle Minne währen und ihre Klarheit völlig offenbaren, wenn ihr bei einem neuen Anfang mit Minne die Minne anschauen werdet: „Seht, dies ist, was ich bin.“
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Wenn Minne ihre Liebsten als ihr gleichwertig erachtet und Minne sich mit Minne der Minne hingibt, weiß ich nicht wie – es ist ja unbeschreiblich und auch unverständlich, weil es nichts Vergleichbares gibt –, wie Minne ihre Liebsten umarmen kann.
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Alle, die minnen, müssen es bemitleiden, dass mich Minne so jammern und so oft rufen lässt: „Weh mir! In welchem Moment und wann wird Minne mich beschützen und sagen: ,Deine Trauer sei beendet.
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Ich werde dich wärmen. Ich bin diejenige, die ich vorher war. Jetzt falle in meine Arme und schmecke nun meine reiche Lehre.‘“
11–12 und Reprise Dieser herrlichen Vision wird der Schmerz des unermesslichen Verlangens nach Minne in dieser Welt gegenübergestellt. Nicht zufällig kehrt Hadewijch am Ende zur ersten Person Singular zurück, denn es ist diese Haltung zwischen Verlangen und Erwartung, die sie ihrem Publikum als Spiegel vorhält.
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Lied 20
Die tijt vernuwet ende tegheet die oude, die lange hevet ghestaen. Die in minnen dienst ware gereet, van hare soude hi loon ontfaen: nuwen troost ende nuwe cracht. Dat hi hare minde met minne macht, met minnen so worde hi minne saen. Hets onghehort te werdene minne. Die minne wilt werden, hi ne sal niet sparen. Hets wesen boven allen sinne. Hi sal met al in al dorevaren. De minne woent soe diepe in sVader scoot: die dienst sal wesen harde groot, daer minne haer werc sal openbaren. Der ontfarmecheit cost ende de scout der wet gheldet de minnere int beghin. Nadatti dese ghewout beset, comt hi in overgroot gewin: hi werct al werc wel sonder scinen, hi doget al leet wel sonder pinen. Dits leven boven menschen sin.
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In diesem Lied (vM-8) wird die Verpflichtung zur Tugend betont, zu der der wahre Minnende bereit sein muss. Wer sich dafür mit seinen ganzen Kräften einsetzt, wird von der Minne die Kraft erhalten, ihr zu dienen, sodass es den Anschein hat, dass es für ihn keine Anstrengung bedeutet. Dann wird man Minne und führt ein Leben, das die menschlichen Einschränkungen übersteigt. 1 Wie der Frühling den Winter ablöst, so kann auch der Minnende, der zum Minnedienst bereit ist, auf ihren Lohn rechnen, nämlich nuwen troost ende nuwe cracht („Neue Stärkung und neue Kraft“, V. 5). Das zweimal wiederholte nuwe nimmt vernuwet aus dem Natureingang wieder auf (V. 1). Mit der Stärkung und der Kraft, die der Minnende von Minne empfängt, kann er mit der Minne eins werden, was durch das Polyptoton (V. 6–7) betont wird: „Wenn er sie mit der Macht der Minne minnen würde, würde er mit Minne bald Minne werden.“
Lied 20
1
Die Jahreszeit erneuert sich und die alte, die lange gedauert hat, vergeht. Wer zum Minnedienst bereit wäre, sollte von ihr Lohn empfangen: Neue Stärkung und neue Kraft. Wenn er sie mit der Macht der Minne minnen würde, würde er mit Minne bald Minne werden.
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Es ist unvorstellbar, Minne zu werden. Wer Minne werden möchte, der soll nichts zurückhalten. Es ist ein Sein, das über jeden Verstand hinausgeht. Er soll ganz und gar mit Leib und Seele seinen Weg verfolgen. Die Minne wohnt so tief im Schoß des Vaters: Der Dienst wird sehr groß sein müssen, bis Minne ihre Tätigkeit offenbaren wird.
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Den Preis der Barmherzigkeit und die Schuld des Gesetzes bezahlt der Minnende am Anfang. Wenn er diese Macht besitzt, erhält er sehr großen Gewinn: Er verrichtet jede Arbeit ohne Mühe, er erträgt alles Leid ohne Schmerzen. Das ist ein Leben, das den menschlichen Verstand übersteigt.
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2–3 Der Minnende, der mit Minne eins werden möchte, wird angeregt, sich dem Minnedienst vollständig hinzugeben. Dieses erfordert einen Einsatz, der jedes Verständnis übersteigt: „Die Minne wohnt so tief im Schoß des Vaters“ (V. 12). Durch diese Anspielung auf Johannes 1,18 („der eingeborene Sohn, der in des Vaters Schoß ist“) wird die Minne unmissverständlich mit dem Sohn gleichgestellt: Wer Minne werden will, muss wie Christus werden. Das erfordert Dienst: „Den Preis der Barmherzigkeit und die Schuld des Gesetzes“, Nächstenliebe und das Einhalten der Gebote (V. 15). Aber sobald der Minnende wie Christus lebt und somit mit der Minne eins ist, wird der Dienst, auch wenn er noch so schwierig und schmerzhaft ist, ihm nicht länger schwerfallen. Das Leben in Einheit bedeutet also nicht, dass der Schmerz oder die Bürden wegfallen, sondern dass der Minnende sie als etwas Angenehmes wahrnimmt: Dieses übersteigt das Verständnis der gewöhnlichen Sterblichen.
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Lied 20
Die minne wilt werden, hi werct groet werc, want hi ne failiert in ghenen sinne. Hi es onverwonnen ende even sterc daer hi der minnen minne mach winnen, eest in sieke, eest in ghesonde, in blende, in cropele ende in ghewonde. Dat sal hi over scout bekinnen. Den vremden dienen, den armen geven, den sereghen troesten alse hi mach, den vrienden Gods met trouwen leven, in heligen, in menschen, nacht ende dach, met alre macht, boven tgereken. Dunket hem dat hem der cracht mach gebreken, verlate hem vort op minnen sach. In groter minnen toeverlaet vercrighet men al dies men behoeft. Si ghevet den ongeleerden raet, si troest denghenen die hem droeft. Es sine sake in haer allene ende en wilti anderen troost enghene, dats een tekin datti hare genoeget. Die allene wilt minnen pleghen met al der herten ende al den sinne, hi hevet al met al beleghen dat hi haerselven al bekinne.
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4–5 Auffallend ist in diesem Lied der Nachdruck, der auf die Nächstenliebe und die Treue für die Freunde Gottes gelegt wird, seien sie gestorben oder noch lebendig. Mit dieser letzten Gruppe bezieht sich Hadewijch auf diejenigen, die genau wie sie selbst und ihr Kreis ihr Leben auf die Minne ausgerichtet haben. Die ausdrückliche Nennung der Versorgung von Kranken (V. 26–27), Fremden und Armen (V. 29) passt genau zu dem, was über die karitativen Aktivitäten der frühen Beginen bekannt ist.
Lied 20
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Wer Minne werden möchte, der verrichtet große Arbeit, weil er in keiner Hinsicht versagt. Er ist dort unbesiegbar und auch stark, wo er die Minne der Minne gewinnen kann, sei es bei Kranken, sei es bei Gesunden, bei Blinden, bei Behinderten und bei Verwundeten. Das wird er als Schuld anerkennen.
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Den Fremden dienen, den Armen geben, die Traurigen trösten, wie er kann, für die Freunde Gottes mit Treue leben, seien es Heilige, Menschen, Tag und Nacht mit aller Kraft, über das Mögliche hinaus. Denkt er, dass ihm die Kraft fehlen könnte, verlasse er sich weiter auf die Autorität der Minne.
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In großem Vertrauen auf Minne bekommt man alles, was man braucht. Sie gibt den Ungebildeten Rat, sie tröstet denjenigen, der traurig ist. Besteht sein Sein nur in ihr und möchte er keinen anderen Trost, ist das ein Zeichen, dass er ihr genügt.
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Wer nur Minne mit seinem ganzen Herzen und seinem ganzen Verstand durchleben möchte, hat alles auf alles gesetzt, um sie vollständig zu kennen.
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6 und Reprise Die Schlussstrophe und die Reprise fassen das Lied zusammen: Wer sich vollständig der Minne hingibt, erhält die Kraft, sie ganz und gar kennenzulernen. Dann braucht er keine anderen Vertröstungen mehr.
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Alse ons de bloemen van den somere comen sijn, daerna sijn wi der vrocht in waen. Alsoe doet die edele herte fijn, die elken stoerm van minne wilt ghestaen. Si sprect van fieren sinne: ‚Ic gruete u, minne, al minne ende beens fier ende stout. Ic verwinne noch u gewout, of ic scietere mi al inne.‘ Hoe mochte der fierre herten yet messcien, die al toesettet ommedat si minne vercrighen wilt? En mochte haer nemmer comen in dien, wouddi volgeven, minne, dat ghi volgeven selt, alsoet sijn moet altemale. Ay, worden uwe berghen dale ende wij dan mochten sien uwe toghen al voltien, soe quaemt ons al wale. Hi moet ooc trecken sere die minne sal voltien: hare wide wijt, hare hoechste hoeghe, hare diepste afgront. Hi sal in allen storme de weghen doresien. Hem wert haers wonders wonder cont, dats de weelde wide te gane, te dorelopene ende niet te stane, die hoechde dorevlieghen ende doreclemmen, ende dien afgront doreswemmen, daer minne al minne te ontfane.
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Die Hauptrolle in diesem Lied erhält der unverzagte Minnende, der ganz darauf vertraut, dass er sein Ziel, die Minne, erreichen wird. Der exemplarische Minnende im ersten Teil (Strophen 1–4) und die Ich-Figur im zweiten Teil (Strophen 5–7) wissen, dass die wichtigste Eigenschaft des mutigen Minnenden sein unermüdlicher Angriffstrieb ist. Denn wer den Kampf mit der Minne vermeidet, kann sie nie erobern und kennenlernen (Strophe 8 und Reprise). 1–2 Sobald es zu blühen beginnt, freut man sich auf die Früchte. Genauso verhält es sich mit dem mutigen Minnenden: Er strotzt voller Vertrauen, dass er die Minne erobern kann und wird (Strophe 1). Wer alles einsetzt, braucht auch nichts zu fürchten: Die Minne wird sich hingeben (V. 10–14). Dennoch endet die zweite Strophe mit einem Seufzen, in der Wir-Form an die Minne gerichtet: Wenn deine Berge
Lied 21
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Wenn die Sommerblumen gekommen sind, freuen wir uns danach auf die Früchte. Das macht auch das edle feine Herz, das jedem Angriff der Minne standhalten möchte. Es sagt mit tapferem Sinn: „Ich, ganz Minne, greife dich, Minne, an und bin darin tapfer und mutig. Ich bezwinge noch deine Gewalt oder verliere mich ganz selbst dabei.“
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Wie könnte dem tapferen Herzen, das alles daran setzt, Minne zu erlangen, etwas geschehen? Nie würde es dorthin kommen, wenn du, Minne, alles gäbst, was du geben sollst, wie es nun einmal sein soll. Ach, wenn deine Berge Täler würden und wir dann sehen könnten, wie sich deine Erscheinung vollständig entfaltet, dann würde es uns gut gehen.
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Wer Minne vollziehen möchte, muss weit reisen: durch ihre weite Weite, ihre höchste Höhe, ihren tiefsten Abgrund. Er muss bei allen Stürmen die Wege überblicken. Er wird das Wunder ihres Wunders erkennen, das heißt, die wilde Weite ganz durchqueren, weitergehen und nicht stehen bleiben, durch die Höhe fliegen und sie erklimmen und durch den Abgrund schwimmen, um dort, gänzlich Minne, Minne zu empfangen.
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sich absenken, dann würde es uns gut gehen (V. 15–18). Uwe toghen (V. 17) kann auf zwei verschiedene Arten gelesen werden. Toghen kann „erscheinen“ bedeuten. Durch den Seufzer „Ach, wenn deine Berge Täler würden und wir dann sehen könnten, wie sich deine Erscheinung vollständig entfaltet, dann würde es uns gut gehen“ drückt die Ich-Figur die Hoffnung aus, dass es ihr und ihren Freundinnen vergönnt sei, die Minne ohne eine allzu schwere Gipfelbesteigung sehen zu können. Toghen bedeutet jedoch auch „ziehen“. Uwe toghen kann dann auch als die Wanderung zu der Minne hin gelesen werden. Auch diese Lesart korrespondiert mit der räumlichen Metaphorik (Berge und Täler), die in V. 15 evoziert wurde: „Ach, wenn deine Berge Täler würden und wir dann unsere Reise zu dir als völlig beendet betrachten könnten.“ 3–4 In der zweiten Strophe wurde verdeutlicht, was die Minne dem Mutigen gibt: sich selbst. In der dritten Strophe wird erklärt, was der Minnende seinerseits tun muss, um der sich selbst hingebenden Minne begegnen zu können. Er muss die Minne vollständig kennen oder, in der räumlichen Metapho-
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Lied 21
Ay, dat hoghe minne, die so soete scijnt dat hare soetheit al andere soetheit verteert, soe wondet herte ende sinne, dat hi van stoerme dien si gherijnt al nuwe ontmoete beghert, dat hi en ontsiet ghene noede noch pine noch anxt noch dode, hi ne hebbe ter minne spoet. Ay, diet werct, God geve hem goet. Fiere herte en was nie bloede. Ic late de minne al wesen dat si si. Ic en can hare welde wondere niet verstaen. Al eest dat ics genesen mach in mi, si hevet meneghe grote gewelt gedaen. Dies moet hi hebben plaghe diet hare met vreden verdraghe, hi ne were met crachte hare cracht: want die de minne nye en vervacht, hi ne levede nye vrie daghe. Ic gheve der minnen orlof nu ende altoos. Die wille, volge haren hove – mi es wel wee ghesciet. Ic weende gheweest sijn vrouwe int hof sint icse ierste coes. Ic leide al toe in love. Ic en caent ghevolghen niet. Nu scinen mi hare loene ghelijc den scorpione, dat toent scone gelaet ende na so sere verslaet. Ay, wat meinen selke ghetone?
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rik, die in der zweiten Strophe eingeführt wurde: Er muss durch all ihre Dimensionen, ihre bodenlosen Tiefen, ihre unermesslichen Weiten und ihre unendlichen Höhen wandern. Das Bild der verschiedenen räumlichen Dimensionen, die in Gott und / oder der Minne vorhanden sind (vgl. Epheser 3,18), kommt öfter in Hadewijchs Werk vor, nicht nur in den Liedern, sondern auch in den Briefen (z. B. Brief 22) und den Visionen (z. B. Vision 13). Die Strophe endet mit der Andeutung, dass sich die Wanderung sicher lohnt: Man könnte die Minne als Minne empfangen (V. 27) In der vierten Strophe wird dann die Begegnung mit der Minne beschrieben. Zuerst schmeckt sie süßer als süß (V. 29), aber danach erweist sie sich als eine schmerzende Wunde (V. 30). Die Verwundung ist nicht mehr und nicht weniger als das Verlangen nach einer neuen Begegnung. Und dieses Verlangen macht den Minnenden so mutig, dass ihn keine Angst und keine Anstrengung hindern können, die Tiefen der Minne zu erforschen.
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Ach, dass hohe Minne, die so süß erscheint, dass ihre Süße alle andere Süße verzehrt, Herz und Seele so sehr verwundet, dass derjenige, den sie berührt, sich durch den Angriff wieder nach einem neuen Angriff sehnt, dass er sich weder vor Herzensqual noch Schmerz, noch vor Angst noch Tod fürchtet, solange er Erfolg in der Minne hat. Ach, wer das macht, den segne Gott. Ein tapferes Herz war nie feige.
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Ich lasse die Minne ganz so bleiben, wie sie ist. Ich kann ihre wilden Wunder nicht verstehen. Auch wenn ich in mir davon noch genesen kann, sie hat mir große Gewalt zugefügt. Derjenige, der das Ihrige mit Geduld erträgt und nicht mit Gewalt ihre Gewalt abwehrt, gerät in eine traurige Lage: Denn wer die Minne nie bekämpfte, erlebte nie Tage in Freiheit.
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Ich gebe die Minne jetzt und für immer frei. Wer möge, folge ihrem Hof – mir ist sehr viel Leid geschehen. Ich dachte, ich wäre am Hof eine Herrin gewesen, seit ich sie das erste Mal auserwählte. Ich versprach mir davon ihre Gunst. Ich kann es nicht mehr leisten. Jetzt erscheint mir ihr Lohn wie der Skorpion, der sein schönes Antlitz zeigt und danach ganz hart zuschlägt. Ach, was bedeuten solche Handlungsweisen?
5–6 Während in der ersten Hälfte des Liedes der exemplarische Minnende beleuchtet wurde, erscheint nun die Ich-Figur auf der Bühne. Sie fühlt sich durch die Unfassbarkeit und Unerreichbarkeit der Minne besiegt (V. 38). Aber gerade der Minnende, der sich besiegt fühlt und sich nicht länger bemüht, die Minne kämpfend zu erobern, beschwört das Unheil über sich selbst herauf. Er versperrt sich selbst den Zugang zu der Minne (V. 41–45). Genau wie Jakob mit dem Engel kämpfte, um Gott finden zu können (Genesis 32,24–33), lernt der Minnende nur im Kampf die Minne kennen. Die folgende Strophe beginnt mit dem gleichen Bekenntnis der Niederlage. Die Ich-Figur kündigt ihre Aufgabe an. Dieses Mal verwendet die Autorin das Bild vom weiterziehenden Hof. Seit der ersten Begegnung mit der Minne entschied sich die Ich-Figur dafür, bei ihr in den Dienst anzutreten und ihrem Hof zu folgen: „Ich versprach mir davon ihre Gunst.“ Aber sie erhielt für ihren treuen Dienst so viele Schmerzen, dass sie es nicht länger aushalten konnte (V. 46–49). Am Ende der Strophe vergleicht die Autorin die Minne mit einem Skorpion: Vorn (zu verstehen als: bei einer ersten Begegnung)
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Hadde ic gheluc ter minne, dat mi ye vloe ende mine daghe was onghereet, ic soude noch verwinnen ende leven vroe, daer ic nu dole in ellende te wreet. Waert tijt, ic naems gherne een inde. Ic dole met gheninde daer mi de minne doet hare volgen sonder spoet, ende si blivet mi te onghehende. God gheve hem allen die minnen te rechte goed gheval. Al hebbe ic ende menech man der minnen soe cleine deel, diese al kinnen, si gheven al om al. Si ghevet dien sijs an hare selven al gheheel. Hare hadde ye, die mochte. Wat holpet dat men dat dochte dat emmer wesen moet? Hare slaghe sijn alle goet, maer die wedersloeghe, hi vochte.
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erscheint er schön, aber im Schwanz (zu verstehen als: in der Zeit danach) steckt tödliches Gift. In den mittelalterlichen Bestiarien (zum Beispiel in Jacobs van Maerlant Der naturen bloeme) ist der Skorpion ein Symbol für Falschheit und Betrug. Der in diesem Lied angestellte Vergleich zwischen Minne und Skorpion war daher vermutlich ein gewagtes Bild. In Strophe 7 wendet sich die Niedergeschlagenheit der Ich-Figur. Obwohl sie gern das Umherirren in Verlassenheit aufgeben würde (V. 55–58), fährt sie fort, ihre Queste nach der Minne mutig fortzuführen, auch wenn die Minne außerhalb ihrer Reichweite bleibt (V. 59–63). 8–9 und Reprise In den letzten beiden Strophen und in der Reprise bietet die Autorin verschiedene Handlungsanweisungen für suchende Minnende. Sie wiederholt, dass die Minne sich letztendlich
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Hätte ich in der Minne Glück, das mir immer entfloh, und für mich immer unerreichbar war, würde ich am Ende siegen und froh leben, während ich jetzt im jämmerlichen Elend umherirre. Wäre der Moment gekommen, hörte ich gerne damit auf. Ich irre mit Mut umher, dorthin, wohin mich die Minne ihr folgen lässt, ohne Erfolg, während sie für mich weit entfernt bleibt.
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Gott gebe allen, die minnen, viel Glück, wie es sich ziemt. Auch wenn ich und viele andere einen so kleinen Anteil an der Minne haben, diejenigen, die sie ganz kennen, setzen alles ein. Demjenigen, dem sie es gönnt, gibt sie sich selbst völlig hin. Wer sie besitzen durfte, bekam sie für immer. Was hilft es, dass man das fürchtet, was ja doch geschehen muss. Ihre Schläge sind allesamt gut, aber derjenige, der zurückschlägt, kämpft wirklich.
immer demjenigen, der sich völlig für sie eingesetzt hat, hingibt (Strophe 8). Die (Rück-)Schläge der Minne, die man einsteckt, sind nur ein Teil des Auftrags; der zweite und wichtigste Teil ist: hart zurückschlagen (V. 78), als Zeichen dafür, dass das Verlangen, die Minne erobern zu wollen, nicht zu einem Stillstand kommt. Vor dieser schweren Aufgabe steht der mutige Minnende allein. Es hilft nicht, darüber zu klagen. Diejenigen, die keine Schläge der Minne einstecken müssen, können ja für die Klage kein Verständnis aufbringen (V. 73–76). In der Reprise wird noch einmal bestätigt, dass derjenige, der sich selbst einen Weg zu der Minne erkämpft, das Recht erwirbt, in völliger Freiheit mit
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Lied 21
Hets ongehoort nu die over minne yet claghen. Hare name es so ghement dat men hare al verdreghet. Die si nu stoert, ic rade dat sijs nu niet en ghewagen. Het es hen onbekent dien si soe niet en verweghet. Maer die fier es ende coene, sie selve te sinen doene ende were met slaghe den slach. So siet hi noch den dach, de minne bringhet hem selve de soene.
Die minne nemt te verdoene, si gevet hem volle perdoene ende maectene haers al vri. So moghen wij segghen wel: ‚Ay mi, hoe teme wij yet te gheroene?‘
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ihr umzugehen (V. 83–87). Der Schlusssatz ist eine vorwurfsvolle Klage: Wieso trauen wir uns dann zu zögern! Dieser Vorwurf beinhaltet zugleich den Auftrag an das intendierte Publikum, um, genau wie der mutige Minnende aus dem ersten Teil des Liedes, mit voller Konzentration und nie versiegender Hingabe den Kampf mit der Minne aufzunehmen.
Lied 21
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Wer jetzt auch nur etwas über die Minne klagt, handelt ungebührlich. Ihr Name wird so geminnt, dass man alles von ihr erträgt. Wen sie jetzt verwirrt, dem rate ich, dass er jetzt nicht davon spricht. Für diejenigen, die sie so nicht niederdrückt, ist es unverständlich. Aber wer tapfer und mutig ist, trete für sich selbst ein und wehre den Schlag mit Schlägen ab. Dann wird er noch den Tag sehen, an dem Minne ihm selbst die Versöhnung bringt.
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Wer sich vornimmt, die Minne zu besiegen, den begnadigt sie vollständig und sie befreit ihn ganz von sich. So können wir dann wohl sagen: „Weh mir, Wie können wir es wagen, auch nur ein wenig auszuruhen?“
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Mine noet es groet ende onbekint den lieden. Si sijn mi wreet, want si mi gherne scieden daer mi de crachte van minnen al toe rieden. Si ne kinnes niet ende ic en caent hen bedieden. Dus moetic plegen dat ic ben. Dat minne bracht hevet in minen zin, ic ben in dien. Dies wille ic mi ghenieden. Wat kere men mi dade dor de minne, daer willic duren sonder scade inne, want ic versta in edelheit miere sinne dat ic in doegen om hoeghe minne winne. Daeromme willic mi gherne gheven in pine, in raste, in sterven, in leven, want ic dat gebod van hogher trouwen kinne. Dat ghebod dat ic bekinne in minnen nature, dat bringet mine zinne in avonture. Hen hevet vorme noch sake noch figure, doch eest in den smake alse creature. Hets materie miere bliscape, daer ic in alre tijt na hake. Dus leide ic mine daghe in meneghe suere. Van minne en clagic ghene pine. Mi staet haer altoes onderdaen te sine, daer sijt ghebiedt lude ende stilkine. Men canse niet bekinnen dan in scine. Hets een wonder onverstaen, dat mijn herte dus hevet bevaen ende doet dolen in ene welde wostine.
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Eines der seltenen Lieder ohne Natureingang: In diesem Lied, das fast ganz in der ersten Person geschrieben ist, stellt die Ich-Figur im Gegensatz zu dem Unverständnis der Menschen hinsichtlich der Minne ihre bedingungslose Treue der Minne gegenüber heraus, die sich ihr immer wieder entzieht (Strophen 1–4). Minnen auf der Erde bedeutet umherirren in einer wilden Einöde (Strophe 5). Wenn sie sich aber nicht ganz der Minne hingeben würde, wäre sie der Minne untreu und würde ihre eigene Natur leugnen (Strophen 6–10 und Reprise). 1–3 Der Abgrund zwischen der Ich-Figur und denjenigen, die nicht minnen, ist unüberbrückbar: Wer nicht minnt, kann nicht verstehen, was sie mitreißt. Wie schwer der Minnedienst auch ist, sie muss der Minne treu bleiben (Strophe 1). Wer versucht, sie davon abzubringen, fügt ihr Schmerzen zu,
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Mein Leid ist groß und den Menschen unbekannt. Sie sind hartherzig zu mir, weil sie mich gerne davon abhalten möchten, wozu die Kraft der Minne mir geraten hat. Sie kennen sie nicht, und ich kann es ihnen nicht deutlich machen. Darum muss ich so handeln, wie ich bin. Was Minne mir eingegeben hat, des bin ich willens. Dem möchte ich nachkommen.
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Welche Gemeinheiten man mir wegen der Minne zufügen würde, die will ich ohne Schaden ertragen, denn ich verstehe durch den Adel meiner Sinne, dass ich durch das Erdulden um der hohen Minne willen gewinne. Darum will ich mich gerne im Schmerz, in der Ruhe, im Sterben, im Leben hingeben, weil ich das Gebot hoher Treue kenne.
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Das Gebot, das ich in der Natur der Minne erkenne, bringt meine Sinne in Verwirrung. Es hat keine Form, weder Ursache noch Gestalt, dennoch hat es den Geschmack eines Geschöpfes. Es ist die Materie meiner Freude, nach der ich immer dürste. Darum verbringe ich meine Tage in großem Leid.
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Ich klage nicht über Schmerzen wegen der Minne. Es steht mir an, ihr immer unterworfen zu sein, da sie das laut und leise gebietet. Man kann sie nur erkennen, wenn sie sich zeigt. Es ist ein unbegreifliches Wunder, das mein Herz so gefangen hat und mich in einer wilden Wüste umherirren lässt.
aber auch dieses Leid ist Gewinn, weil es aus dem Gebot der Minne, ihr treu zu sein, hervorgeht (Strophe 2). Dieses Gebot entzieht sich aller menschlichen Denkformen: Nicht zufällig streut Hade wijch in der dritten Strophe philosophische Fachbegriffe ein, um diesen Mangel des menschlichen Verstands zu betonen (V. 17): forma (Form), causa (Ursache), figura (Gestalt). Aber für sie ist das Gebot genauso real wie alles Erschaffene (creatura, V. 18); das Gebot ist die Materie, die causa materialis (materielle Ursache) der Freude, die sie nur in der Minne finden kann (V. 19). 4–5 Die Minne jedoch gibt sich nie vollständig zu erkennen, immer wieder entzieht sie sich dem, was der Mensch begreifen kann, sodass der Minnende voller Verlangen in einer unwirtlichen Einöde umherirrt (Strophe 4).
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Soe wrede wostine wart noyt gescepen, so de minne in haer landscap can maken, want si doet met begherten na hare haken ende sonder kinnen haer wesen smaken. Si toent hare alse in een vlien: men volget hare ende si blivet onghesien. Dit doet ellendeghen herten altoos waken. Spaerde ic eneghe cracht van minnen rade, dat kinnen alle de minnen dat ic mesdade. Ic mach nu meester sijn dies ic dan bade, ende soe en verwonne ic mere so grote scade. Nu nemic in naturen delijt, dat mi ghevet minne ende nuwe vlijt. Dies ic in niede nemmermer en sade. Mi swaert dat ic mi niet en can vercrighen int bekinnen, ic en moet mi selven ontbliven. Al soude mi noch begherte therte tewriven ende cracht van minnen noede, mi en soude ontbliven. Ic sal noch weten wat mi trecht ende dicke soe onsaechte wect, alsic mi selven in rasten soude gheriven.
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Aber das Umherirren, dieses Verlangen, ist auch Minne, die Wüste ist Teil ihres Landes (V. 29–30): Man nimmt ihr Wesen wahr, aber ohne es zu kennen (V. 32). In einer Art und Weise, die an das Hohelied erinnert, beschreibt die Ich-Figur die Suche des verlangenden Minnenden nach der unauffindbaren Minne (vgl. V. 34 mit dem Hohelied 5,6 „Ich suchte ihn, und ich fand ihn nicht“) und die Notwendigkeit, immer wieder auf ihre Ankunft gefasst zu sein (vgl. V. 35 mit dem Hohelied 5,2 „Mein Herz ist wachsam“).
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Solch eine grausame Wüste wurde nie geschaffen, wie sie die Minne in ihrer Landschaft gestalten kann, denn sie ist die Ursache dafür, dass man mit Verlangen nach ihr dürstet und, ohne sie zu kennen, ihr Wesen schmeckt. Sie zeigt sich wie auf der Flucht, man folgt ihr, und sie bleibt ungesehen. Dies lässt jämmerliche Herzen immer wachsam sein.
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Würde ich mir etwas von dem Kraftaufwand, wozu Minne anspornt, zurückbehalten, dann würde ich, das wissen alle Minnenden, ein Unrecht begehen. Ich kann jetzt Meister über das sein, was ich sonst erbitten müsste, und dann würde ich einen solch großen Schaden nicht mehr überwinden. Jetzt erfahre ich Freude im Tätigsein, was mir Minne und neuen Eifer verleiht. Dadurch wird meine Leidenschaft nie mehr gesättigt.
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Es bedrückt mich, dass ich es nicht schaffe, die Minne kennenzulernen, es sei denn, ich müsste mich selbst verleugnen. Auch wenn Verlangen und die Kraft des Minneschmerzes mir das Herz zerreiben würden, gehört es sich nicht, dass ich verliere. Ich werde noch wissen, was mich anzieht und oft so unsanft weckt, wenn ich mir selbst Ruhe gönnen würde.
6–9 Nach einer objektiven Passage in der dritten Person in der fünften Strophe schildert die Ich-Figur sich selbst wieder als vorbildliche Minnende: Gerade in der sich nicht schonenden Hingabe an die Minne empfindet sie Freude, und die Freude spornt sie dann wieder an zu noch mehr Minne und noch größerem Eifer (Strophe 6). In einem schmerzvollen Prozess der völligen Hingabe wird sie von jeder Bezogenheit auf sich selbst befreit (Strophe 7). Dieses Leben im Verlangen ist ein harter Weg, denn
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Lied 22
Waer iemen die mi rechte, ic soude hem claghen over mi selven. Ic en caent niet wel verdragen dat mi de minne leidde ye soe hoghe staghen ende icse nu ontmoete met soe meneghen wreden slaghen. In hebber toe gheluc no spoet. In ne weet ochte minne selve doet: ic duchte der ontrouwen wrede valsche laghen. Dat ic ontrouwe ontsie, dats wonder cleine. Si hevet mi gepijnt meer dan ye sceen. Want dat ic ben ghestoert van dat ic mene, dat doet ontrouwe ende andere sake enghene. Si hevet mi selke scade ghedaen. Sal ic haer emmermeer ontgaen, dat sal met hogher trouwen sijn allene. Wat hulpet mi dattic van minnen singhe ende mi selven mine quale linghe? Met wat noede mi de minne bevinghe, vore hare wout en hebbic gheen ghedinghe. Ic lie al dies hi liden sal, dien der minnen cracht sijn herte stal. Wat hulpet dat ic mine nature dwinghe? Want mine nature sal al bliven dat si es ende dat hare vercrighen, al maken de menschen hare wech so inghe.
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auch sie denkt mit Traurigkeit an das Genießen zurück, das sie früher in der Minne erlebte; auch sie ist durch die Versuchung der Untreue bedroht (Strophe 8). Gerade durch das Fehlen der Treue fällt ihr das Leben in der Minne so schwer (Strophe 9). 10 und Reprise Hadewijch beendet ihr Lied mit einer Bekräftigung der Treue gegenüber der Minne. Gegen die Macht der Minne kann man nichts machen: Sie wird leidvoll dasjenige ertragen, was die Minne ihr zuteilt. So wird sie den Weg ihrer eigenen Natur weiter verfolgen. Dieser wird sie dorthin bringen, wohin sie gehört – die Vereinigung mit Gott in Minne –, auch wenn die Menschen ihr den
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Wenn jemand Recht über mich sprechen würde, würde ich bei ihm über mich eine Klage erheben. Ich kann es nicht gut vertragen, dass mich die Minne in solch hohe Höhen führte und ich jetzt von ihr so viele grausame Schläge entgegennehme. Ich habe darin weder Glück noch Erfolg. Ich weiß nicht, ob Minne es selbst tut. Ich fürchte mich vor den harten, falschen Fallen der Untreue.
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Dass ich mich vor der Untreue fürchte, das verwundert wenig. Sie hat mich stärker gepeinigt, als es jemals den Anschein hatte. Denn dass ich an dem, was ich möchte, gehindert werde, das kommt von der Untreue und von keiner anderen Sache. Sie hat mir solch großen Schaden zugefügt. Wenn ich ihr jemals entkommen kann, kann das nur durch große Treue geschehen.
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Was hilft es mir, dass ich von Minne singe und mir selbst meinen Schmerz vergrößere? Mit welcher Gewalt die Minne mich auch bedrängen würde, gegen ihre Macht habe ich nichts einzubringen. Ich erleide alles, was derjenige erleiden muss, dem die Kraft der Minne sein Herz gestohlen hat. Was hilft es, dass ich meine Natur bezwinge?
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Denn meine Natur wird immer bleiben was sie ist, und sie wird das ihre bekommen, auch wenn die Menschen ihren Weg so eng machen.
Weg noch so schwer gestalten. Mit dieser letzten Bemerkung verknüpft sie das Ende des Liedes mit seinem Anfang.
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Lied 23
Die tijt ghevet ons ten goede spoet, ende wrachten wi metten spoede goet, so mochte wi verwinnen. Ende ware wi dan in hoeden vroet, so worden die onvroede behoet, die hem noch niet en bekinnen ende blent sijn van binnen, want si ne weten wat sij minnen. Dus dolen wi in allen staden. Nu moete ons God beraden. Ons vechten ane de kere seer, ende werde wij metten zere keer, soe moete wij keer doen sterven. Verstonde wij der minnen ghehere gheleer ende worden wij mettien ghelere gheheer, wi souden minne verwerven ende in al hare rijcheit erven, diere wij nu al te lange derven, te onser groter scaden. Nu moete ons God beraden.
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Für dieses Lied hat Hadewijch sich in ein anspruchsvolles Formkorsett gezwungen. Die kunstvolle Form ist an sich beeindruckend, aber der Reimzwang beeinträchtigt den Inhalt: Nicht alle Stellen sind einfach zu interpretieren. Das Lied hat wohl ein deutliches Thema: die Notwendigkeit der Hingabe an die Minne. Zuerst wird der eigene Freundeskreis der Ich-Figur wegen des Mangels an Standfestigkeit, Hingabe und Einsicht kritisiert (Strophen 1–3). Das Beispiel des exemplarischen Minnenden zeigt, wie es wohl sein sollte (Strophen 4–5). Danach wirft sich die Ich-Figur selbst vor, dass sie die völlige Hingabe nicht geschafft hat (Strophe 6). Aber sie möchte im Tal der Qualen weiter umherirren, bis sie Freude in der Einheit mit der Minne findet (Strophe 7). In den letzten vier Strophen wird das Thema der Notwendigkeit der Hingabe wieder beleuchtet: aus dem Blickwinkel des exemplarischen Minnenden (Strophe 8), dem versagenden eigenen Kreis (Strophe 9) und der Ich-Figur (Strophe 10). In der letzten Strophe wird die Freude aufgezeigt, die der Minnende, der sich der Minne völlig hingibt, letztendlich erhält, eine Freude, die von keinem Theologen beschrieben werden kann. Schließlich wird in der Reprise dem Kreis noch einmal der mangelnde Einsatz vorgeworfen.
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Die Jahreszeit ermöglicht uns, im Guten Erfolg zu haben, und wenn wir mit Eile etwas Gutes verrichten würden, dann könnten wir gewinnen. Und wenn wir dann klug auf der Hut wären, dann würden die Unklugen behütet, die sich noch nicht erkennen und innerlich blind sind, denn sie wissen nicht, was sie minnen. Darum irren wir überall umher. Nun möge Gott uns beistehen.
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Uns greift die Unbeständigkeit sehr an, und wenn wir die Unbeständigkeit mit Schmerzen abwehren, dann müssen wir die Unbeständigkeit sterben lassen. Verstünden wir die hervorragende Lehre der Minne und würden wir durch die Lehre hervorragend, würden wir Minne erhalten und sie in ihrem ganzen Reichtum erben, die wir nun so lange zu unserem großen Schaden entbehren. Nun möge Gott uns beistehen.
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1–3 Der Natureingang ist minimal: Nur das Wort tijt (V. 1) erinnert daran. Die Jahreszeit ist passend für Minnende, hier in der Wir-Form angesprochen, die sich für das Gute einsetzen wollen. Die Mitglieder des Kreises scheinen jedoch von den günstigen Vorzeichen keinen Gebrauch zu machen („daher irren wir überall umher“, V. 9). Aus diesem Vers ist abzuleiten, dass mit den Unklugen (onvroede, V. 5) durchaus Mitglieder des eigenen Kreises („wir“, V. 3 und 4) und nicht andere gemeint sind, die erzogen werden müssen. Übrigens kann man in Hadewijchs Œuvre nirgendwo Hinweise für eine mystische Missionierung finden. Das innere Auge der Unklugen ist noch nicht geöffnet, wodurch sie weder sich selbst noch ihren Liebsten kennen. Daher wissen sie auch nicht, was sie minnen sollen (V. 4–8). Das Motiv der geistigen Blindheit kommt auch in Lied 19, V. 43, und in Lied 24, V. 77, vor. Unbeständig-
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Wi hadden crachte groten noet, dat wi onse node groot met crachten mochten verdriven, die ons doen wederstoet ter doot. Sloeghe wi met dode wederstoet, so en mochte ons niet ontbliven, wi ne souden minne genoech geriven ende jegen alle vremde verstiven die ons mochte verladen. Nu moete ons God beraden. Die genoech der minnen rike wijct, ic segge dat hi bi wike rijct. Dies gevet trouwe orconde. Want hi hare so ghelike blijct, ende so een met dien blike ghelijct, dat mense beide een vonde, so datse gheen sen ghesceiden en conde, hi ne woende in honghere van minnen gronde met allen vollen zaden. Nu moete ons God beraden. Die dor der minnen hoeghe poeghet, wat hi mettien poeghe hoghet, dat werct hi openbare. Want hijt met allen ghetoeghe doeghet, ende so met vollen gedoeghe toeghet, dat hi de minne ende al haer ware metter minnen minne anestare, ende met volre vriheit, sonder vare, hare diepste gewat moghe dorewaden. Nu moete ons God beraden.
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keit legt die Blinden herein, und diese muss besiegt werden (V. 11–13). Wenn sie die Lehre der Minne wirklich begreifen würden, besäßen sie die ganze Minne (V. 14–17). Das ist jetzt schon viel zu lange nicht möglich (V. 18–19). Sie müssen die Kraft finden, dasjenige, was sie an der vollen Hingabe an die Minne hindert, aus dem Weg zu räumen, und auch trotz der Vorwürfe der Fremden, die nicht im Dienst der Minne leben, nicht zurückweichen (Strophe 3). 4–5 Im Gegensatz zu den versagenden Minnenden in den ersten drei Strophen wird in den Strophen 4 und 5 ein exemplarischer Minnender in der dritten Person präsentiert. Wer sich selbst voller Vertrauen der Minne unterwirft, wird mit ihr eins (Strophe 4, V. 31–37). Und er bildet mit ihr eine Einheit, solange er, in der sättigenden Einheit, gleichzeitig auch das Verlangen nach der Minne fühlt und nährt
Lied 23
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Wir hatten großen Bedarf an Kraft, um mit Kraft unsere große Not, die uns bis zum Tod Widerstand leistet, vertreiben zu können. Könnten wir diesen Widerstand totschlagen, würde es uns an nichts fehlen, wir würden der Minne genügend dienen und gegen alle Fremden, die uns überwältigen wollen, erstarken. Nun möge Gott uns beistehen.
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Ich sage, dass der, der dem Reich der Minne ausreichend nachgibt, durch das Nachgeben bereichert wird. Dies verbürgt Treue. Denn er erscheint ihr so gleich, und gleicht durch diese Erscheinung so einig mit ihr, dass man sie beide als eins wahrnimmt, sodass niemand sie unterscheiden könnte, es sei denn, er wohnte im Hunger nach dem Inneren der Minne völlig gesättigt. Nun möge Gott uns beistehen.
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Wer sich wegen der Höhe der Minne anstrengt, was er durch die Anstrengung erhöht, das schafft er offensichtlich. Denn er erduldet es in aller Deutlichkeit und verdeutlicht es so mit vollem Erdulden, dass er die Minne und ihre ganze Wahrheit mit der Minne der Minne betrachtet und mit ganzer Freiheit, ohne Angst, ihr tiefstes Watt durchwaten könne. Nun möge Gott uns beistehen.
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(V. 38–39). Wer sich anstrengt, um der edlen Minne würdig zu sein, ist in der Lage, das tiefe Leiden, das auch in ihr vorhanden ist, freimütig und ohne Angst durchzuhalten (Strophe 5).
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Lied 23
Haddic mijn hoege gheslachte bedacht, ic hadde edelen gedachten gheslacht, ende mi der minnen al ghegeven, gheheel met aller machte pacht, ende vercreghe mettien pachte macht in minnen nature een cleven. Soe mochtich minne met minnen leven, dat mi te langhe nu es onbleven in minen nederen daden. Nu moete ons God beraden. Men vendet in minnen sale dal. Die dan vendet in dien dale sal, die es van riken sinne. Sint minne mi ierst quale beval, wie mi iet el bevale, mi qual. Quale neme ic vor alle ghewinne, want ict mijn naeste leven kinne, sint mi te doelne bevolen heeft minne in clemmene ten hoochsten grade. Nu moete ons God beraden.
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6–7 Die beiden folgenden Strophen betrachten das Thema der Notwendigkeit der völligen Hingabe vom Standpunkt der Ich-Figur aus. Mit einem Zitat aus der 12. Predigt De diversis (memor esto nobilitatis tuae, „gedenke deiner hohen Abstammung“; vgl. V. 51) des Bernhard von Clairvaux wirft die Ich-Figur sich selbst vor, dass sie nicht im Einklang mit der höchsten Stufe ihrer Seele leben kann, die, nach der exemplarischen Anthropologie mittelalterlicher mystischer Texte, im Grunde gottgleich ist (Strophe 6).
Lied 23
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Hätte ich meine hohe Abstammung bedacht, dann hätte ich edlen Gedanken geähnelt und mich ganz der Minne hingegeben, mit vollem Einsatz aller Macht, und mit diesem Einsatz Macht bekommen und mich mit der Natur der Minne verbunden. Dann könnte ich Minne mit Minne leben, was mir nun zu lange durch meine niederen Taten unerreichbar geblieben ist. Nun möge Gott uns beistehen.
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Man findet im Saal der Minne ein Tal, wer in diesem Tal den Saal findet, der wird reich an Sinnen sein. Seit Minne mir zuerst Qualen befahl, quälte mich jeder, der mir etwas anderes befahl. Qualen wähle ich vor allem Gewinn, denn das betrachte ich als mein liebstes Leben, seitdem Minne mir befahl umherzuirren und die höchste Stufe zu erklimmen. Nun möge Gott uns beistehen.
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Aber in Strophe 7 bestätigt sie, dass sie sich ganz für die Minne entscheidet und somit auch das Leid umarmt, das dazu gehört. Die Freude der Einheit (der Thronsaal der Minne) ist ja auch mitten im irdischen Leiden zu finden („das Tal“, V. 61 und 62).
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Die ghereet steet te bevane waen, hi sal met hoeghen wane bevaen die minne met minnen werken, ende soe met stoerme te ghestane gaen, ende minnen met doregane ghestaen ende werden even sterke, dus nae dat ict gemerke. Dit es daertoe roept de heileghe kerke hen allen dies hare ghestaden. Nu moete ons God beraden. Ons naken van minnen vare baer. Hets recht dat ons van minnen verbare vaer, dies wij de minne versumen, die ons ghevet so claer hare waer ende, met allen ghehelen ware, claer leret al hare hoochste costumen. Dies wij ons selven gherne rumen, cunne wi, der waerheit vremde tumen, jeghen der minnen gade. Nu moete ons God beraden. Ic hebbe langhe ghetoent rouwe. Hets recht dat mi minne trouwe. Mi berout dicke dat ic moet leven! Ic hebbe in minnen trouwe bescout; dat ic niet en bescouwe ghetrout vore minne, dats mi groet sneven. Doch willic mi gheheel hare gheven ende met toeverlate an hare al cleven. Si ne sal mi niet ontspaden. Nu moete ons God beraden.
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8–10 Wer, genauso wie die Ich-Figur in Strophe 7, die Hoffnung auf eine Einheit mit der Minne aufrecht erhält, findet den Mut, sich auf eine bodenständige Art und Weise der Minne hinzugeben und in ihrem Dienst zu „arbeiten“ (V. 73), das heißt, sich über die Ausübung der Tugend zu veredeln. Das verlangt die Kirche von den Christen (V. 78). Aber der eigene Kreis, der in Strophe 9 durch das einschließende „wir“ angesprochen wird, ist durch Angst gelähmt und kann dem Aufruf nicht Folge leisten.
Lied 23
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Wer bereit steht, die Hoffnung zu erhalten, wird, mit hoher Hoffnung ausgestattet, sich Minne mit Minne erarbeiten und sich so mit Angriffen verteidigen und sich gegen Minne mit Beständigkeit verteidigen und genauso stark werden, wie ich es nur denken kann. Dies ist dasjenige, wozu die heilige Kirche all diejenigen aufruft, die es ihr zugestehen. Nun möge Gott uns beistehen.
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Angst vor der Minne nähert sich uns ganz deutlich. Es ist recht und billig, dass uns von der Minne Angst überkomme, da wir die Minne, die uns so deutlich ihre Wahrheit vermittelt und in voller Wahrheit deutlich ihre würdigsten Regeln lehrt, vernachlässigen. Diesbezüglich halten wir uns gern zurück, wenn wir können, von den fremdartigen Launen der Wahrheit, gegen den Willen der Minne. Nun möge Gott uns beistehen.
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Ich habe lange Reue gezeigt. Es ist recht und billig, dass Minne mir vertraue. Oft bereue ich es, dass ich leben muss! Ich habe in Minne meinen Blick auf Treue gerichtet; dass ich von der Minne nicht als treu betrachtet werde, das ist für mich eine große Niederlage. Dennoch möchte ich mich ihr ganz hingeben und mich mit Vertrauen ganz an sie binden. Sie wird mir nicht entkommen. Nun möge Gott uns beistehen.
In Strophe 10, die nicht in Handschrift A vorkommt, relativiert die Ich-Figur sich selbst. Obwohl sie aus ihrer eigenen Sicht der Minne immer treu gewesen ist, leitet sie daraus, dass ein Zeichen der Minne ausbleibt, ab, dass die Minne sie nicht als treu betrachtet (V. 91–96). Das fühlt sich wie eine schmerzvolle Niederlage an, aber dennoch widmet sie sich weiter treu dem Minnedienst (V. 97–100).
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In al der kerken clerken gewerc, soe segghic dat en merke clerc hoe scone het dengenen stoede die in minnen wrachte sterke werc. Hi worde so met dien werke sterc ende verwonne sonder moede. Hi soude in minnen orewoede verberren in hare diepste vloede ende versmelten alse caden. Nu moet ons God beraden.
Wi sijn te gheruum in onse hoede, ende nemen troest ten iersten spoede. Dies moet ons de minne versmaden. Nu moete ons God beraden.
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11 und Reprise In Strophe 11 arbeitet Hadewijch einen Gegensatz zwischen den Betrachtungen der Theologen über Gott (alle Tätigkeiten der Kleriker, V. 101) und der direkten Gotteserfahrung heraus. Diese wird dem Minnenden zu Teil, der in dem nie nachlassenden Verlangen zu der Geliebten lebt (in minnen orewoede [„in der Sturmwut der Minne“], V. 107), heraus. Ein solcher Minnender wird durch die veredelnde Vervollkommnung der Tugenden (das Arbeiten) genauso stark wie die Minne selbst
Lied 23
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Bei allen Tätigkeiten der Kleriker der Kirche sage ich, dass kein Kleriker erkennt, wie gut es demjenigen erginge, der in Minne große Arbeit verrichtete. Er würde so durch diese Arbeit erstarken und gewänne ohne Mühe. Er würde in der Sturmwut der Minne, in ihrer tiefsten Flut, verbrennen und wie Speck ausgelassen werden. Nun möge Gott uns beistehen.
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Wir sind zu träge in unserer Wachsamkeit und suchen ganz schnell Trost. Deswegen muss uns die Minne verschmähen. Nun möge Gott uns beistehen.
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(V. 104–105). Durch die Ähnlichkeit mit der Minne, die er auf diese Weise umsetzt, kann eine verschmelzende Einheitserfahrung nicht ausbleiben. Darüber können die Gelehrten, soviel wie sie auch nachdenken, nichts sagen (V. 101–103). In der Reprise wird die Bequemlichkeit der Mitglieder des Kreises kritisiert; sie halten nicht durch und aus diesem Grund kann die Minne sie links liegen lassen.
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Lied 24
Die vogele singhen clare ende die bloemen openbare melden ons den tijt. Die tiersten altemale sweghen ende waren vale, hebben nu groot delijt, dat si den tijt nu hebben weder, daer si so langhe na laghen neder. Alsoe moet allen vergaen die in node van minnen sijn bevaen. In gherechter minnen noot ghesmaect men meneghen doot. Dats dat gelove mijn: dien si gherijnt in hare nature, dat hi in onghedure altoos moet sijn ende in groete ongenade. Mi ne hulpe minne met haren rade, derghere ben ic een die van der minnen pine hevet in leen. Wat mach men hem gheraden dien minne dus hevet verladen met haerre swaerre waghe? Dien si leidde int beghin ende toende groot gewin op hare hoghe staghe ende nu so hevet geworpen neder dat hi en waent vercomen weder, hen si al onversien, bi orewoede van minnen, maget gescien.
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Dieses Lied besteht aus zwei großen Teilen. Im ersten objektiven Teil (Strophen 1–4) erteilt Hadewijch den Minnenden den Rat, sich völlig der Minne hinzugeben. Im zweiten persönlichen Teil (Strophen 5–8) lebt die Ich-Figur sozusagen dem Publikum diese Einstellung vor. Die letzte Strophe (9) wiederholt noch einmal im Allgemeinen die zentrale Botschaft dieses Liedes. 1 In der einleitenden Strophe gibt es eine Parallele zwischen dem Natureingang und dem Minnediskurs: Mögen die Minnenden die Freude in der Minne erfahren, in genau derselben Weise, wie die Blumen und die Vögel wegen des Frühlings, auf den sie so lange gewartet haben, froh sind.
Lied 24
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Die Vögel singen mit heller Stimme, und die Blumen kündigen uns ganz eindeutig den Frühling an. Diejenigen, die zuerst ganz schwiegen und blass waren, haben nun große Freude, dass sie nun den Frühling zurück haben, nach dem sie sich so lange gesehnt haben. So möge es allen ergehen, die von Minneschmerz erfüllt sind.
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Im Schmerz um wahre Minne erlebt man viele Tode. Daran glaube ich: Derjenige, den sie in ihrer Natur berührt, muss immer in Unruhe und in großer Ungnade sein. Wenn Minne mir nicht mit ihrem Rat hilft, bin ich eine derjenigen, die von der Minne mit Leid belehnt werden.
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Was kann man demjenigen raten, den Minne derartig mit ihrer schweren Last überladen hat? Denjenigen, den sie am Anfang führte und großen Ertrag zeigte und den sie nun von ihrer hohen Spitze so nach unten geworfen hat, dass er nicht mehr daran glaubt, nach oben zu kommen. es sei denn, ganz unerwartet durch die rasende Sturmwut der Minne, vielleicht.
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2–4 In diesen Strophen wird der Zustand des wahren Minnenden beschrieben: Immer schwebt er in Unruhe und Angst. Das ist auch die Situation, in der sich die Ich-Figur befindet (Strophe 2). Nach der Euphorie der Anfangszeit bleibt dem Minnenden nur ein Ausweg: sich völlig der orewoet (Sturmwut), dem rasenden, nicht zu beruhigenden Minneverlangen, hinzugeben (Strophe 3). Das ist der einzige Rat, der dem Minnenden gegeben werden kann: Wer vor dem Schmerz dieser Hingabe an die Minne zurückschreckt, wird sie nie besitzen (Strophe 4).
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Wat es de naeste raet die hier beneven gaet? Dien minne dus hevet bevaen ende gebonden met haren bande, dat hi hem gheve in hare hande ende altoos si onderdaen al den bedwange dat minne hevet. Die eneghe pine van minnen ontseghet, dats openbare in scijn dat hi lange sal der minnen sonder sijn. Van minnen ben ic onder. Dat en hevet mi gheen wonder, want si es starc ende ic ben cranc. Si doet mi mijns selfs onvri, altoos ane minen danc. Si doe met mi dat si ghebiedt, mijns selfs en es mi bleven niet. Dies ic rike was te voren, dies ben ic arme: in minne eest al verloren. Beide vremde ende vriende dien ic te voren diende, ben ic afghestaen. Ere ende raste hebbic begheven, omdat ic wille leven vri ende in minne ontfaen hoghe rijcheit ende conde. Dies mi veran, heves sonde. Ic en maechs niet ontberen, ic en hebbe el niet: ic moete op minne teren.
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5–8 In diesen Strophen präsentiert sich die Ich-Figur als eine vorbildliche Minnende. Schon in Strophe 2, V. 18–20, hatte sie sich für einen Moment, in der ersten Person Singular, zu den Minnenden gerechnet, die im Minneschmerz leben. Jetzt zeigt sie ihrem Publikum, was vollkommene Hingabe an Minne bedeutet: die Aufgabe der (Schein)-Freiheit, mit der man meint, über sich selbst zu bestimmen (V. 44–46), sodass alles, was man tut, durch Minne gesteuert wird. Der Schluss der fünften Strophe scheint daran zu erinnern, was Paulus in 2. Korinther 8,9 über Christus schreibt: „Er
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Was ist der beste Rat, der hier angebracht ist? Derjenige, den Minne so gefangen und in ihre Ketten gelegt hat, begebe sich in ihre Hände und sei immer dem Zwang der Minne unterlegen. Es ist sehr deutlich, dass derjenige, der den Minneschmerz abstreitet, lange Zeit ohne Minne sein wird.
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Durch die Minne bin ich im Elend. Das überrascht mich nicht, denn sie ist stark und ich bin schwach. Sie beraubt mich der Freiheit über mich selbst, immer gegen meinen Willen. Sie macht mit mir, wie es ihr gefällt, von mir selbst ist mir nichts geblieben. Worin ich früher reich war, darin bin ich jetzt arm: In Minne ist alles verloren.
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Fremde und Freunde, denen ich früher diente, habe ich gleichermaßen aufgegeben. Von Ehre und Ruhe habe ich Abschied genommen, weil ich frei leben und in Minne großen Reichtum und Weisheit empfangen möchte. Wer mir dies nicht gönnt, begeht eine Sünde. Ich kann nicht darauf verzichten, ich habe nichts anderes: Ich muss von Minne leben.
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ist arm geworden, obwohl er reich war.“ Auf diese Weise betont die minnende Ich-Figur ihre Ähnlichkeit mit Christus. Vielleicht kann man auch V. 43 vor dem Hintergrund dieses Briefes verstehen: „Auch wenn Christus in Schwäche gekreuzigt wurde, lebt er in der Kraft Gottes. Denn auch wir sind schwach in ihm, aber wir werden mit ihm in der Kraft Gottes leben“ (2. Korinther 13,4). In diesem Fall wird noch deutlicher betont, dass die Ich-Figur ihre Hingabe an die Minne als ein Leben in der Gemeinschaft mit Christus betrachtet.
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Ende ic ben nu begheven van alle dien die leven, dats oppenbaer in scijn. Ochte ic in minnen niet en mach winnen, wat soudic dan sijn? Ic ben nu cleine, in ware dan niet. Ic ben ellendech, si ne versiet. Ic en hebbe raet, si moet mi gheven daer ic bi mach leven vri. Mi doen de vremde wrede soe ongemate lede in dit ellende swaer met haren valschen rade. Si ne hebben mijns ghene ghenade. Si doen mi meneghen vaer, want si mi met haerre blentheit doemen. Si ne connen daertoe niet comen dat si de minne verstaen, die mijn herte met luste hevet ghevaen. Die minne wilt vercrighen, hi ne late hem niet ontbliven, hi ne gheve hemselven der minnen altoos. Ende hi sal pinen sonder finen omme dat sijn herte coes, ende gheven hemselven in pine, in scanden, in leet, in lief, in minnen bande. Soe sal hem werden cont dat fiere wesen in der minne gront.
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In einem solchen Leben zögert sie nicht, Fremde und Freunde sowie Ehre und Vergnügen aufzugeben: Sie findet nur noch Kraft in der Minne, welche die wahre Freiheit ist (Strophen 6 und 7). Auf den ersten Blick erscheint es überraschend, dass Hadewijch die Ich-Figur auch sagen lässt, dass sie ihre Freunde aufgegeben hat (V. 51). Für die Ich-Figur ist Freundschaft offensichtlich nur wertvoll, wenn sie von Minne und nicht von persönlich motivierten emotionalen Bindungen gesteuert wird. Die blinden Fremden, das sind diejenigen, die außerhalb der Minne leben, verstehen natürlich nichts davon. Mit ihren falschen Ratschlägen und ihrer Kritik fügen sie der Ich-Figur nur noch mehr Schmerzen zu (Strophe 8).
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Und ich bin jetzt verlassen von all denjenigen, die leben, das ist ganz deutlich. Wenn ich in Minne nichts gewinnen kann, was wäre ich dann? Jetzt bin ich klein, aber dann wäre ich nichts. Ich bin beklagenswert, es sei denn, dass sie es verhindert. Ich bin ratlos, sie muss mir dasjenige geben, womit ich frei leben kann.
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Mir fügen die hartherzigen Fremden mit ihrem falschen Rat in diesem großen Elend so maßloses Leid zu. Sie haben mit mir keine Gnade. Sie flößen mir große Angst ein, weil sie mich in ihrer Blindheit verurteilen. Sie können nicht so weit kommen, dass sie die Minne verstehen, die mein Herz mit Sehnsucht gefangen hat.
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Wer Minne erlangen möchte, der soll nicht zurückfallen, sondern sich selbst immer der Minne hingeben. Und er soll sich ohne Unterlass für das, was sein Herz wählte, anstrengen und sich selbst in Schmerz, in Schande, in Leid, in Liebe dem Band der Minne hingeben. So wird er das tapfere Wesen im Inneren der Minne kennenlernen.
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9 Das Lied schließt mit einer Anregung an jeden Minnenden, sich völlig der Minne hinzugeben, ohne Rücksicht auf die Schmerzen, die das mit sich bringt: Nur dann wird er die Minne in ihrem tiefsten Wesen kennenlernen.
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In allen tiden van den jare, hoe dat el metten tide si, hevet hi bliscap ende vare die doget ellende omme minne vri, ende gherne dan lieve ware bi omme te zueten sine ellendeghe daghe. Dats noch niet en es, doet roepen: ‚Ay mi!‘ Dat wesen sal, dat cest de claghe: ‚Ay, ic ben al di, lief, wes al mi, alset di behage.‘ Die minnen wilt, hi moet hem gheven in hare gewout daer sijt ghebiedt, het si in sterven ochte in leven, daer minne sijn wesen in versiet. Hem wert anders niet dan in vrien troest, in bedwonghene vare. Die minne goud ye gherne dat si onthiet met haren claren ware. Ay, dat de minne helen hiet, bringhet hare suetecheit oppenbare.
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Nach einer Einleitung über die Allmacht der Minne, der sich der Minnende ganz hingeben muss (Strophen 1–3), bietet Hadewijch in diesem Lied eine ausführliche Darstellung des mystischen Prozesses (Strophen 4–9). Zu diesem Zweck verselbstständigt sie die inneren Kräfte, die in der Seele des mystischen Minnenden wirken: Vergnügen, Vernunft und Verlangen. Die konfliktgeladene Interaktion dieser personifizierten Seelenbewegungen bildet den dynamischen Motor der Minnequeste. Vergnügen verliert sich im stillen Genuss der Einheitserfahrung. Aber die Vernunft weiß, dass der Minnende und seine göttliche Geliebte (noch) keine Einheit sind, und diese Erkenntnis zerstört die genießende Einheit. Die Vernunft fordert, dass der Minnende sich von der Geliebten losreißt und sich an die Arbeit macht, um ihrer würdig zu sein. Auf diese Weise bewegt er sich, angetrieben durch Verlangen, weiter auf die Vergöttlichung zu und kann bald auf eine wahrhaftigere Weise die Einheit mit seiner Geliebten genießen. Vernunft ist in der Minne somit zugleich Gift und Medizin: Sie vernichtet die genießende Einheitserfahrung, aber ermöglicht dadurch gerade ein höheres Genießen. In der Reprise wird wiederholt, dass in dem Kampf zwischen Vernunft und Vergnügen nur Vernunft selbst die einzig mögliche Vermittlerin sein kann.
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Zu allen Zeiten des Jahres, wie die Zeit auch beschaffen sei, hat derjenige Freude und Angst, der wegen der freien Minne Elend erleidet und gern seiner Liebsten nahe wäre, um seine elenden Tage zu versüßen. Da dies noch nicht so ist, ruft er: „Wehe mir!“ Dass es geschehen wird, beschwichtigt die Klage: „Ach, ich bin ganz dein, Liebste, sei ganz mein, wenn es dir behage.“
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Wer minnen möchte, muss sich in ihre Gewalt begeben, wie sie es gebietet, sei es im Sterben oder im Leben, je nachdem, wozu Minne ihn bestimmt. Ihm ist nichts anderes vergönnt als in freiem Trost, in übermächtiger Angst zu leben. Die Minne erfüllte immer gern, was sie mit ihrer klaren Wahrheit versprach. Ach, was die Minne zu verbergen befahl, bringt ihre Süße ans Licht.
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1–2 Die Naturbeschreibung ist minimal, und im Hinblick auf die Jahreszeiten zeigt sich eine Gleichgültigkeit: In allen Jahreszeiten erfährt der Minnende sowohl Freude als auch Angst. Er fühlt sich verbannt und weit entfernt von seiner Liebsten. Zugleich weiß er, dass die Geliebte sich früher oder später zeigen wird und die jubilierenden Worte des Hoheliedes erklingen können: „Mein Geliebter ist mein, und ich bin sein“ (Hohelied 2,16). Indem der erste Teil des Zitats zu einem Imperativ umgeändert wird („sei ganz mein“, V. 9), hebt Hadewijch hervor, dass die Einheitserfahrung deutlich noch nicht erreicht ist und dass der Minnende seine Geliebte ungeduldig ganz für sich einfordert. Der darauf folgende Nebensatz alset di behage („wenn es dir behage“, V. 10) relativiert wiederum die Forderung und betont die Autonomie der Minne. Die zweite Strophe greift dieses Motiv der autonomen Allmacht der Minne auf. Sie entscheidet über Leben und Tod (V. 13, möglicherweise von dem Römerbrief von Paulus inspiriert [14,8], „Denn wenn wir leben, leben wir für den Herrn, und wenn wir sterben, dann sterben wir für den Herrn: Ob wir nun leben oder sterben, wir gehören dem Herrn“). Andererseits erfüllt die Minne immer ihr Versprechen, dass sie sich demjenigen hingibt, der sie minnt (V. 17–18). Die letzten beiden Verse sind nicht einfach zu interpretieren. Möglicherweise ist gemeint, dass genau das, was im Rausch der ersten freudvollen Berührung verborgen bleibt – nämlich, dass Schmerz und Leid genauso zu der Minne gehören – der Schlüssel für die Erfahrung der Süße der Minne ist (V. 19–20). Schmerz und Freude in der Minne sind ja eine Erfahrung (bliscap ende vare [„Freude und Angst“], V. 3, und in vrien troest, in bedwonghene vare [„in freiem Trost, in übermächtiger Angst“], V. 16).
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Mi wondert van sueter minne dat hare suetheit alle dinc verwint, ende sij mi dus verdoet van binnen ende miere herte noet soe cleine bekint. Si hevet mi soe int wee bewent: dies ic gevoele – in caent gheloven. Die verhoelne wegen die minne mi sent, die sijnt die mi van mi al roeven. Dat gherochte, dat hoghe prosent der nederre stillen, doet mi verdoeven. Hare nedere stille es onghehort, hoe hoghe gerochte dat si maect, en si allene dies hevet becoert, ende dien minne in hare al hevet ghesaect ende met diepen gherijnnen so nae gheraect datti hem al ghevoele in minne. Alse sine met wondere alsoe doresmaect, cesseert een ure tgherochte daerinne. Ay, saen wect begherte, die waect, met nuwen stoerme de inneghe sinne.
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3–4 Die Auffassungen über die Allmacht der Minne und über die paradoxale Anwesenheit der Süße und des Schmerzes in der Minneerfahrung werden in der dritten Strophe mit Bezug auf die Erfahrung der Ich-Figur illustriert. Sie klagt über die Tatsache, dass Minne bisher ihre Souveränität auf negative Weise gezeigt hat, ohne Rücksicht auf den Schmerz, den sie verarbeiten muss (V. 21–26). Die Vorstellung, dass die Minne sie auf eine unverständliche Weise leiden lässt, artikuliert die Ich-Figur danach mit verschiedenen Bildern neu. Genauso, wie der leidende Hiob fühlt sie sich auf verborgene Wege geschickt, auf denen sie sich selbst verliert (V. 27–28; siehe Hiob 3,23 „Wozu Licht für den Mann auf verborgenem Weg, den Gott von allen Seiten einschließt?“). In den abschließenden Versen führt Hadewijch eine auditive Metapher ein (Geräusch – Stille, laut – still), welche mit räumlicher Bildersprache vermischt wird (hoch – tief), und dieser metaphorische Komplex wirkt in der vierten Strophe
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Mich verwundert an der süßen Minne, dass ihre Süße alles übertrifft und sie mich von innen so verzehrt und meinen Herzschmerz so wenig erkennt. Sie hat mich so ins Elend gebracht: Was ich fühle – ich kann es nicht glauben. Die verborgenen Wege, auf die Minne mich schickt, das sind die, die mich meiner ganz berauben. Das Geräusch, das hohe Geschenk der tiefen Stille, betäubt mich.
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Ihre tiefe Stille ist unhörbar, welch großes Geräusch sie auch macht, außer für den, der dies geschmeckt hat, und den Minne ganz in sich hineingezogen hat und ihn mit tiefer Berührung so nahe berührt, dass er sich ganz in Minne fühlt. Wenn sie ihn mit ihrem wunderbaren Geschmack so erfüllt, hört einen Moment lang das Geräusch auf. Ach, bald weckt Verlangen, das wacht, mit neuem Angriff die inneren Sinne.
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weiter. Das Geräusch (V. 29), das die genussreiche Stille (der nederre stillen, V. 30) in der Tiefe des Einheitsgenießens zerbricht, ist schmerzhaft laut und betäubt sie. Aber diese Betäubung verdeckt für sie nicht die Tatsache, dass dieses störende Geräusch gerade ein nobles Geschenk (hoghe prosent, V. 29) der Stille, und somit positiv ist. Am Ende der vierten Strophe erörtert Hadewijch die Stille der Einheitserfahrung: Sie ist nur hörbar für denjenigen, den Minne so berührte, dass er vollständig in sie aufgenommen wurde (V. 31–38). Aber diese wundersame Einheitserfahrung dauert nur einen Moment. Schnell holt das leidenschaftliche Verlangen die verinnerlichte Seele aus der genussreichen Kontemplation (V. 39–40). Die Wortkombination inneghe sinne bezeichnet die inneren Sinnesorgane, mit denen nach dem mittelalterlichen Menschenbild die menschliche Seele ausgestattet ist und mit der diese die geistliche Wirklichkeit wahrnehmen kann.
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Ghenuechte loke wel de oghen ende plage gherne dies si hevet, mocht die verwoede begherte ghedoghen, die altoos in woede levet. Want si haer alle uren daertoe ghevet te roepene: ‚Ay minne, wes al mine!‘ Oec wecse redene, die haer dat zeghet: ‚Sich hier, dit steet di noch te volsine.‘ Ay, daer redene ghenuechte ontseghet, dat quetst meest boven alle pine. Begherte en mach niet swighen stille ende redene ghevet haer claer den raet, want sise verlicht met haren wille ende toent haer dat werc der hoechster daet. Ghenoechte name gherne toeverlaet te pleghene haers liefs in sueter rasten. So toent haer redene den hoochsten graet ende verlaedse metten swaersten lasten. Ay, hadde ghenoechte dan redene doet, si soudse wel cleine bevasten.
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5–6 Das Auftreten des personifizierten Verlangens am Ende der vierten Strophe setzt eine ausgearbeitete Allegorie in Gang, wobei drei dramatis personae auf der Bühne stehen: Vergnügen, Verlangen und Vernunft. Sie werden stark typisiert dargestellt. So ergreift Vergnügen, das mit geschlossenen Augen (V. 41) bewegungslos in der Stille des Einheitsgenießens aufgeht, nirgendwo das Wort. Das Verlangen dahingegen „ruft“ (V. 46) leidenschaftlich und „kann nicht schweigen“ (V. 51), während seine Verbündete Vernunft auf nüchterne und für das Vergnügen auch gleichzeitig ernüchternde Weise „spricht“ (V. 47), „Rat erteilt“ (V. 52), „erleuchtet“ (V. 53) und „zeigt“ (V. 57). Vergnügen möchte in der Bewegungslosigkeit des seligen Genießens verweilen, aber Verlangen weckt es und setzt die Seele wieder in Bewegung. Verlangen will nämlich, dass Minne sich erneut zeigt und sich ihm immer wieder ganz hingibt (V. 46, vgl. V. 9 und Hohelied 2,16). Nicht nur Verlangen, auch Vernunft holt Vergnügen aus seiner Ruhe heraus. Vernunft verdeutlicht, dass der Minnende seiner Geliebten noch nicht ganz würdig ist (siehe auch Strophe 7, V. 65–67) und dass dementsprechend die Einheitserfah-
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Vergnügen schlösse gern die Augen und verweilte gern dort bei dem, was es hat, wenn das rasende Verlangen, das immer in Raserei lebt, es zuließe. Denn es verwendet jede Stunde darauf zu rufen: „Ach Minne, sei ganz mein!“ Auch Vernunft weckt es und sagt ihm: „Sieh her, dies musst du noch werden.“ Ach, wenn Vernunft Vergnügen den Krieg erklärt, das verwundet mehr als jeder Schmerz.
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Verlangen kann nicht still schweigen und Vernunft gibt ihm deutlich den Rat, denn sie erleuchtet es mit ihrem Willen und zeigt ihm das Werk für die höchste Tat. Vergnügen würde sich gern damit begnügen, den Liebsten in süßer Rast zu verkehren. Dann zeigt Vernunft ihm die höchste Stufe und belädt es mit den schwersten Lasten. Ach, könnte Vergnügen dann Vernunft töten, dann würde es die Lasten gar nicht auf sich nehmen.
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rung, an der Vergnügen festhalten möchte, nicht die höchstmögliche ist. Von dieser Einsicht der Vernunft getrieben, richtet sich Verlangen im Besonderen auf die Erfahrung der höchsten Einheit (V. 54). Dadurch holt es Vergnügen aus seiner süßen Ruhe und belastet die minnende Seele mit der schweren Aufgabe, sich zu vervollkommnen. Vergnügen erfährt diese Handlung der Vernunft als ein Komplott. Es wünscht, dass Vernunft stirbt und möchte sich nicht um die ernüchternde Aufgabe kümmern, die Vernunft ihm auferlegt (V. 59–60).
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Maer daer lief met lieven so vaste gheraect dat lief van lieven lief niet en mach, ende lief met lieve soe lief doresmaect dat lief levet lief op lieves sach – ende redene dan doet wederslach ende toent daer onghewassenheit inne, waer redene ye ghelieve oneffene wach, daer wert ye seerst ghequetst de minne. Ay, te swaer es daer de slach, daer lief men lief dan lief al kinne. Wat sal ghequester minnen wesen? Hoe mach haer iemen raet ghegeven? Wat fisisine salse genesen die gherne soude der minnen al minne leven ende onder redene so wert verdreven, die haer gheet met nuwen storme anespreken ende toent hare wat hare es ontbleven: ‚Sich hier, dit soude di noch ghebreken.‘ Ay, wie sal mi van minnen gheven raet ende over redene wreken?
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7–8 In der siebten Strophe wird der Grund deutlich. Hadewijch schildert das Minnegenießen und die Art und Weise, wie Vergnügen es erfährt, mit einem beeindruckenden und vermutlich ironisierenden Polyptoton: In vier Versen kommt das Wort lief zehn Mal vor (V. 61–64). Lief bezeichnet sowohl das Subjekt als auch das Objekt der Minne als auch das Band zwischen beiden. Dies zeigt, dass beide, jedenfalls in der Wahrnehmung des Vergnügens, vollkommen eins sind, und daher auch gleichwertig. Dass Vernunft diese Gleichwertigkeit als Illusion demaskiert und aus dieser Einsicht die Einheitserfahrung zerstört, verwundet dann tief (V. 65–68). Der Abstand zum Objekt des Verlangens, wozu Vernunft den Minnenden verpflichtet, ist besonders für den Minnenden sehr schmerzlich, der bereits erfahren durfte, wie glückselig die Nähe der Minne ist (V. 69–70). Die achte Strophe ist eine große Bitte: Die Strophe beginnt mit einer Frage und endet mit einer Frage: Wer kann verletzter Minne Rat geben (V. 72) oder wer kann sie heilen (V. 73)? Die Tatsache, dass
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Aber wenn der Liebste sich mit der Liebsten so verbindet, dass der Liebste von der lieben Liebsten sich nicht trennen kann, und der Liebste mit Liebe die Liebste so erfüllt, dass der Liebste im Vertrauen auf die Liebste von der Liebsten lebt – und Vernunft dann ihren Gegenangriff startet und darin die Unreife zeigt, wobei Vernunft die Geliebten immer wieder ungleich wertet, dann wird die Minne immer am meisten verwundet. Ach, zu schwer ist dann der Schlag, wenn der Liebste die Liebste als weniger lieb erfährt.
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Was soll aus verletzter Minne werden? Wie kann jemand ihr Rat geben? Welcher Arzt kann sie heilen, die selbst, ganz Minne, für die Minne leben möchte und so in die Enge getrieben wird, durch die Vernunft, die ihr mit einem neuen Angriff begegnet und ihr zeigt, woran es ihr noch mangelt: „Sieh her, dies fehlte dir noch!“ Ach, wer wird mir über die Minne Rat erteilen und wer wird mich an der Vernunft rächen?
der Ausdruck „Rat geben“ schon früher mit Vernunft verbunden wurde, suggeriert, dass gerade die verletzende Vernunft die verletzte Minne heilen kann, und das wird in der neunten Strophe gesagt. Am Ende der achten Strophe tritt die „Ich-Figur“, die sich nach der dritten Strophe zurückzog, um dem allegorischen Spiel zwischen Vergnügen, Verlangen und Vernunft Platz zu machen, wieder in den Vordergrund. Die „Ich-Figur“ identifiziert sich mit der verletzten Minne: Wer wird mich an der Vernunft rächen? (V. 80).
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Ay, wet God dat en mach nieman sijn die over de redene yet mach wreken. Si es selve der minnen fisisijn: si can best heilen al hare gebreken. Die met leste volget al haren treken, in allen weghen daer sine gheleide, dien salse met nuwen wondere aenspreken: ‚Sich hier, besich dit hoochste ghereide.‘ Ay, daer en derf gheen vremt versoenre gaen omme te versoene die vede. Ende die dit bekinnen, si verstaen ghenoech van haren crede.
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9 und Reprise In der neunten Strophe und in der Reprise wird deutlich, dass man sich an der Vernunft nicht rächen kann, weil sie selbst in dem Konflikt der einzig mögliche Vermittler ist. Für den verwundeten Minnenden ist sie ein passender Arzt (fisisijn, V. 83). Anders als in den vorherigen Strophen entwickelt sich die neunte Strophe nicht zu einer Klage, sondern zu einem Versprechen. Derjenige, der den verschlungenen Wegen der Vernunft (vgl. V. 27: verhoelne wegen) geschickt folgt und auf ihre Herausforderungen eingeht, erhält die Gelegenheit, die höchste Seligkeit zu schauen (V. 88). Das
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Ach, Gott weiß, dass es niemanden gibt, der etwas an der Vernunft rächen kann. Sie selbst ist der Arzt der Minne: sie kann am besten ihre ganzen Gebrechen heilen. Wer all ihren Listen geschickt folgt, auf allen Wegen, auf die sie ihn führt, den wird sie mit neuen Wundern herausfordern: „Sieh her, schaue dir die schönste Pracht an.“
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Ach, dorthin braucht kein fremder Versöhner zu gehen, um die Fehde zu beenden. Und diejenigen, die das wissen, verstehen genug von ihrer Lehre.
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Wort „folgen“ (V. 85) evoziert den Gehorsam gegenüber der Minne, welcher in der zweiten Strophe als wichtigster Auftrag für den Minnenden genannt wurde (Die minnen wilt, hi moet hem gheven in hare gewout daer sijt ghebiedt, het si in sterven ochte in leven, V. 11–13). Vernunft ist also der Arzt der Minne, und gerade deswegen, weil sie das naive Vergnügen zerstört und auf diese Weise zusammen mit dem Verlangen eine immer höhere Einheit zwischen dem Minnenden und der Minne ermöglicht. Die Minnenden, die das wissen, verstehen die Lehre der Vernunft richtig (V. 89–92).
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Al es verdroevet dach ende tijt, dies sij al God ghebenedijt: men saelt zaen beter scouwen. Lief, dat ghi mi so verre sijt ende aen u staet al mijn delijt, dat sijn ghestade rouwen. Dats wel recht. Miere herten licht, daer ic bi soude leven, doelt na u al. Siet wat ic sal. Mi en es een twent niet bleven. Ay, wat soude mi iet, lief, dan al ghi? Dat ic u niet en volhebbe, dats mi, ende ghenoech niet ne mach volgeven gerechte minne fier ende vri. Wat men u gave dat iet men si, dat ware u groot sneven, want ghi wilt al minne, met herten ende met sinne ende met gheheelre zielen. Die wanen minnen sonder beghinnen, dat warense ye die vielen.
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In den ersten beiden Strophen beschreibt die Ich-Figur ihren Schmerz, der aus dem Bewusstsein heraus entsteht, dass sie gegenüber dem göttlichen Geliebten, der eine völlige Hingabe möchte, versagt. In der dritten und vierten Strophe präsentiert Hadewijch die Königin von Saba als ideale Minnende: Ihre Bewunderung für Salomos unermessliche Weisheit ließ sie außer sich geraten vor Verlangen. So muss auch derjenige, der minnt, sich völlig der unersättlichen Minne hingeben (Strophen 5–7 und Reprise).
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Auch wenn Tag und Jahreszeit noch traurig sind, Gott sei deswegen sehr gepriesen: In Kürze wird man Besseres sehen. Liebster, da du so weit entfernt von mir bist und meine ganze Freude von dir abhängt, gibt es bleibende Trauer. Das ist wohl deutlich. Meines Herzens Licht, von dem ich leben sollte, irrt ganz nach dir umher. Sieh, was aus mir werden soll. Mir ist gar nichts mehr geblieben.
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Ach, was würde mir etwas bedeuten, Liebster, außer dir allein? Dass ich dich nicht ganz habe, das liegt an mir, und auch, dass ich nicht genügend gerechte Minne, stolz und frei, geben kann. Wenn man dir gäbe, das etwas weniger sei, wäre das eine große Enttäuschung für dich, denn du möchtest völlige Minne, mit Herz und Verstand und mit der ganzen Seele. Diejenigen, die denken, dass sie minnen ohne damit anzufangen, das waren immer diejenigen, die untergingen.
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1–2 Gegenüber der Traurigkeit der winterlichen Natur, die bald in ihr Gegenteil umschlagen wird, steht der bleibende Schmerz der in Minne umherirrenden Ich-Figur (Strophe 1). Sie besitzt ihren Geliebten nicht völlig (V. 14) und ist außerdem nicht in der Lage, ihm zu genügen, auch wenn sie sich ganz hingibt (V. 15–16). Gleichzeitig sehnt sich auch der göttliche Geliebte nach der völligen Minne: Es ist schmerzvoll für ihn – ein sneven („Enttäuschung“), wenn er sie nicht empfängt (V. 17–18). In den an den göttlichen Geliebten gerichteten Versen 19–21 zitiert Hadewijch das bekannte Gebot Christi aus Matthäus 22,37: „Ihr werdet den Herren, euren Gott lieben, mit eurem ganzen Herzen, eurer ganzen Seele und eurem ganzen Verstand.“
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Die connincghinne van Saba, si volgede Salemoene nae, dat was omme wijsheit sueken. Alse sine vonden hadde, ja, so worden hare sine wondere ga ende si affleerde in rueken. Si gaf hem al ende die gichte stal wat so si hadde in binnen, beide herte ende sin. Daer en bleef niet in: het wart al verswolghen in minnen. Hets recht si hadde hem alle ghegeven. Hadse yet vermert in vremden weghen onder dat arme diede, so ware hare dat hoge wonder ontbleven. Nu wartse al in minne tewreven. Dies derven noch vele liede. Si nemen te vroech al hare gevoech onder de ghesellen. Dies sal men spade der minnen dade van hen te wondere tellen.
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3–4 In diesen Strophen präsentiert Hadewijch die Königin von Saba als Vorbild für einen perfekten Minnenden (1. Könige 10,1–10). Sie verschenkt alles (V. 31–33); sie verbleibt nicht in vremden weghen onder dat arme diede („auf fremden Wegen unter den armen Leuten“; V. 38–39), unter Menschen, die sich nicht völlig der Minne hingeben; sie wird durch unbegreifliche Wunder außer sich gebracht (V. 29 und 40), sodass sie sich nicht mehr unter Kontrolle hat und völlig in Minne verschlungen wird (V. 31; vgl. V. 41). Das Bild der Königin von Saba als Vorbild für die minnende Seele kommt nicht von
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Die Königin von Saba reiste zu Salomo, weil sie Weisheit suchte. Als sie ihn gefunden hatte, ja, da lernte sie schnell seine Wunder kennen und wurde verrückt vor Verlangen. Sie gab ihm alles und die Gabe stahl alles, was sie in sich trug, sowohl ihr Herz als ihre Seele. Da blieb nichts übrig: Es wurde alles in Minne verschlungen.
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Zu Recht hat sie ihm alles gegeben. Hätte sie sich ein wenig auf fremden Wegen unter den armen Leuten aufgehalten, hätte sie das große Wunder verpasst. Jetzt wurde sie ganz in Minne zerrieben. Das fehlt vielen Menschen. Sie finden zu früh ihre Befriedigung unter den Leuten. Daher wird man nicht schnell von ihren Minnetaten als Wunder erzählen.
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Hadewijch selbst. Sie paraphrasiert einen Abschnitt aus dem 12. Kapitel des Benjamin Major von Richard von St. Viktor. Richard behandelt darin die drei Stadien, in denen die kontemplative Seele die Grenzen des eigenen Intellekts auf ekstatische Weise übersteigen kann: desiderium („Verlangen“), admiratio („Be- und Verwunderung“) und jubilatio („Jubilieren“). Die Begegnung zwischen der Königin von Saba und Salomo ist das Beispiel überhaupt für eine Ekstase mittels der admiratio (siehe wondere in V. 29, 40, 48, 53).
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Waer die hem ter vrier minnen reken ende in den weghe niet en ghebreken ende hen aen minnen al cleven ende doghen haer ellendeghe treken, daer mach men wonders wonder af spreken, want sien alsoe upgheven alse omme al dorevaren sonder enech sparen ochte minnen genoech geriven, om anxt ter doot dat hen dat grote goet van minnen soude ontbliven. Ay, dus al verloren in minnen cracht, ja, ende dan al vergouden der minnen pacht, alsoe men te rechte al soude, dats ene die alrescoenste hacht ende ene onverwonne nuwe macht, ende wel dat God al woude. Want dat rechste volgheven van minnen, dat es dat ontbliven van binnen. Want si ne connen niet al volleesten, ende dat haer dat es saen verdaen, in der hogher minnen ontfaen. Dus comense buten den gheesten.
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5–7 Den vele liede („vielen Menschen“, V. 42), die sich mit weniger als der ganzen Minne zufrieden geben (V. 42–48), stellt Hadewijch die vorbildlichen Minnenden gegenüber, die sich ganz der Minne hingeben. Diese Minne ist „frei“ (V. 49), weil sie sich durch keine weltlichen Sorgen einschränken lässt.
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Diejenigen aber, die sich zur freien Minne begeben und auf dem Weg nicht steckenbleiben und sich ganz an Minne binden und ihre schrecklichen Listen ertragen, über die kann man Wunder erzählen, denn sie setzen sich so stark ein, als ob sie ohne zu zögern durch alles hindurch reisen wollen, um der Minne genügend zu behagen, in Todesangst davor, dass ihnen das große Gut der Minne fernbleiben könnte.
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Ach, sich auf diese Weise ganz zu verlieren in der Kraft der Minne, ja, und dann die Schätze der Minne ganz zu bezahlen, wie man es ganz zu Recht machen sollte, das ist die allerschönste Gefangenschaft und eine unbesiegbare neue Macht, und genau das, was Gott will. Denn das aufrechteste sich völlige Hingeben in Minne, das ist das innerliche ‚nicht zum Ziel gelangen‘. Denn sie können nicht in allem genügen, und das, was ihnen gehört, ist beim Empfangen durch die hohe Minne schnell verbraucht. So geraten sie außerhalb des Geistes.
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Diese Minnenden geben sich völlig hin und leben gleichzeitig in dem Bewusstsein, dass sie versagen, weil sie der Minne nie genügen können (Strophe 6). Mit dem unergründlichen Verlangen, dass alle menschlichen Fähigkeiten übersteigt, geraten sie – wie die Königin von Saba – buten den gheesten („außerhalb des Geistes“, V. 72), ein Term, den Hadewijch auch in den Visionen verwendet, um den mystischen Zustand zu bezeichnen, in dem der Geist des Menschen so erweitert wird, dass er (für einen Moment) in der Lage ist, Gottes grenzenlose Wirklichkeit zu erfahren. Es ist sehr wahrschein-
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Alse de gheweldeghe redene der minnen opdoet, ende sien toent hare grote goet, dat si es bi naturen, ochte men haer genoech in minnen doet, dat si al dat vergelden moet, dat wect de creaturen ende doetse opstaen ende al ommevaen in herteleker weelden, ende gheloeft hen een rike sonder enech gelike in eweliken zeelden. Die dus verwinnen in storme van minne, dat sijn gherechte heelde. Ende die iet geroen ende niet en voldoen, hets rechte dat mense scelde.
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lich, dass Hadewijch auch diesen Ausdruck buten den gheesten aus dem soeben genannten Kapitel des Benjamin Major entlehnt. Die Erfahrung buten den gheesten übersteigt naturgemäß alles mit der Vernunft Erfassbare. Aber sie wirkt wohl auf die Vernunft ein, die dann ihrerseits dem Menschen zeigt, wie groß die Minne ist. Diese Einsicht spornt die Minnenden an, sich in der Minne alles zuzutrauen. Zugleich beinhaltet das einen Vorausblick darauf, was sie in der ewigen Seligkeit erfahren werden (Strophe 7).
Lied 26
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Wenn die gewaltige Vernunft ihre Augen für Minne öffnet, und ihnen das große Gut, das sie von Natur aus ist, zeigt, das heißt: Wenn man ihr in Minne genügt, dass sie das alles vergelten muss, das weckt die Menschen und lässt sie aufstehen und alles in herzlicher Freude umarmen und verspricht ihnen ein unvergleichliches Reich in der ewigen Seligkeit.
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Diejenigen, die auf diese Weise im Minnekampf gewinnen, das sind wahre Helden. Und diejenigen, die ein wenig ausruhen und nicht genügen, dürfen zu Recht gescholten werden.
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Reprise Mit dem Gegensatz zwischen den wahren Minnenden, die den Rat der Vernunft befolgen und sich in den Kampf mit der Minne trauen, einerseits und zögernden Minnenden andererseits wird eine Zusammenfassung des ganzen Liedes präsentiert.
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Men mach bi den corten daghen merken dies somers keer. Dat moghen voglen ende liede clagen, maer die minnen, hen es anders meer. Want hen es te clagene al el: dat men der minne es so fel. Hare rike gheleer wert seer testoert, daer men bi soude sijn gheheert. Dat si gheclaget der hoochster trouwen, ende met minnen moet si ons bescouwen. Ons es wel meneghe hoghe mare van der minnen doen verstaen: datse over al gheweldech ware ende al hevet ommevaen ende bedwinghet al dat levet. Wie hevet minne dan diense hare ghevet? Dien si iet gevet, hi maecht ontfaen. Doch sele wij hare met sconen dienste sijn onderdaen ende bidden der gheweldegher minnen datse ons hare cracht doe bekinnen.
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Das Lied ist eine Klage gegen die Schändung der Minnegesetze. Die Minne ist allmächtig, und daher muss der Minnende alles, was sie ihm bietet, annehmen, sei es Genuss oder Schmerz (Strophen 1–2). Der jugendliche Minnende denkt jedoch, dass er die Minne ohne Anstrengung genießen kann. Ihm steht der ältere Minnende gegenüber, der weiß, welche Anstrengung der Minnedienst erfordert (Strophen 3–4). In der zweiten Hälfte des Liedes werden die jungen Minnenden explizit angesprochen. Sie wollen sich wie ein kleines Kind in der Minne verwöhnen lassen. Die Minne können sie jedoch erst kennenlernen, wenn sie sich aus der Verwöhntheit befreien und im Elend umherirrend ihr Wesen ergründen (Strophen 5–6). In der letzten Strophe und in der Reprise wird diese Grundregel aus der Minnelehre in den geflügelten Worten „je tiefer gesunken, umso höher gestiegen“ und „je tiefer die Wunde, umso schneller geheilt“ zusammengefasst.
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An den kurzen Tagen kann man das Ende des Sommers erkennen. Darüber können Vögel und Menschen klagen, aber für diejenigen, die minnen, gibt es noch etwas anderes. Denn sie müssen etwas ganz anderes beklagen: dass man der Minne gegenüber so böse ist. Ihre reiche Lehre, durch die man angeleitet werden sollte, wird schwer verletzt. Das sei der höchsten Treue geklagt, und sie möge auf uns mit Minne niedersehen.
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Uns wurde manche edle Geschichte über die Minne erzählt: Dass sie über alles herrsche und alles umarme und alles, was lebt, bezwinge. Wer besitzt Minne außer dem, dem sie sich hingibt? Wem sie etwas gibt, der darf es empfangen. Dennoch werden wir ihr mit schönen Diensten untergeben sein und die mächtige Minne bitten, dass sie uns ihre Kraft kennenlernen lässt.
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1–2 Die Tage werden kürzer, der Sommer macht Platz für den Herbst. Der Minnende hat jedoch Besseres zu tun, als darüber zu klagen: Die Lehre der Minne wird verletzt und darüber muss bei der personifizierten Hohen Treue geklagt werden (Strophe 1). Man weiß von der Minne, dass sie allmächtig ist und sich demjenigen, der sie selbst auswählt, frei hingibt. Es ist daher sinnlos, sich gegen sie zu wenden, und die Minnenden, hier mit dem einschließenden „wir“ angedeutet (wi; V. 18), haben nur eine Option: Der mächtigen Minne dienen, und sie darum bitten, dass sie durch den treuen Dienst die Kraft der Minne kennenlernen (Strophe 2).
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Hets ene herde scone bede te biddene om hogher minnen cracht. Maer dien si ghevet minne na minne sede, si worptene in selke ene hacht dat hi ne mach meer ontgaen. Die de minne verwint, hi wert selve verdaen. Soe es hi gewacht. Ende diense ghevet voeden, vertertse al tsijn in nuwer jacht.
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So leert hi ane minne cracht vrede oudde ghewinnen ende der minnen cost in ellende bekinnen. Dat ellende kenne ic bi geraden ende met pleghene niet. Dien minne met kinne hevet out verladen, hoe lede hi hem besiet, dats: hem cleine ende minne so groot, ende die joie die hem ierst minne boot, ende die welde doe hi was een kint. Die minne gevet den jonghen, die niet en bekint, ende laet den edelen ouden dolen dellende, daer jonghe noch dorpere nie minne en kinde.
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3–4 Es ist gut, die Kraft der Minne kennenlernen zu wollen, aber das ist auch mit großen Schmerzen verbunden. Denn Minne zu begegnen, bedeutet, von ihr erobert und zerstört zu werden. Genau diesen Selbstverlust lässt den Minnenden „alten Frieden“ erreichen (V. 29): Alte Minnende kennen nicht nur den Genuss der ersten Verliebtheit, sondern kennen und akzeptieren auch den Preis (cost; V. 30) des Minnens im Elend. Es erscheint auch möglich, vrede oudde mit „hartes Alter“ zu übersetzen: Dann läge die Betonung auf dem starken Schmerz, die das Minnen im Elend nach sich zieht.
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Es ist eine sehr schöne Bitte, die Kraft der hohen Minne zu erbitten. Aber wem sie Minne nach der Gewohnheit der Minne schenkt, den fesselt sie auf eine solche Weise, dass er nicht mehr entkommen kann. Wer die Minne besiegt, wird selbst zerstört. So wird er bedient. Und wem sie Nahrung gibt, den verzehrt sie als Ganzen in einem neuen Streben. So erlernt er an der Kraft der Minne, alten Frieden zu gewinnen und den Preis der Minne im Elend kennenzulernen.
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Dieses Elend kenne ich durch Mutmaßung und nicht durch Erfahrung. Wen Minne so mit Wissen hat altern lassen, mit wieviel Leid betrachtet er sich, nämlich folgendermaßen: Er ist klein und Minne so groß, wie auch die Freude, die ihm Minne zuerst anbot, und der Überfluss, als er ein Kind war. Die Minne gibt dem Jüngeren, der unwissend ist, und lässt den edlen Alten im Elend umherirren, dort, wo weder Junge noch Tölpel jemals Minne kannten.
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Im Aufgesang der vierten Strophe sagt die Ich-Figur, dass sie das Elend nicht aus Erfahrung kennt (V. 31–32). Offensichtlich zählt sie sich noch nicht zu den alten Minnenden. Ein alter Minnender ist jemand, der durch die Erfahrung des Schmerzes im Minnen alt und weise geworden ist (V. 33). Dieser weiß, dass er selbst klein gegenüber der Allmacht der Minne ist, und denkt wehleidig an das selige Vergnügen zurück, das er erfuhr, als er sich als Jüngling verliebt der Minne hingab. In den letzten Versen dieser Strophe wird eine scheinbare Ungereimtheit der Minnelehre formuliert: Der junge, unerfahrene Minnende empfängt die Freude der Minne, während sich der ältere Minnende, der die Minne wirklich kennt, im Elend befindet. Die Naivität des jungen Minnenden, der nur den Genuss in der Minne kennt, ist in den Augen der Ich-Figur so groß, dass sie diesen ohne weiteres mit dem Tölpel, einem dummen Bauern, auf eine Stufe stellt.
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Ghi, jonghe, ghi hebt vele verloren, verliesdi uwe kintse joget. So levedi out minne in toren, daer ghi nu jonc leven moghet ende in weelden van minne vri, alse: ‚Ic al minnen ende minne al mi‘. Dat es nu al uwe doghet. Derre weelden den vroeden ouden luttel hoghet, want si kinnen de coste van der minne jaren, waer men sal teren ende sparen. Hets enech dorpere cume so dwaes, hi ne weet wel wanneer hi sal winnen sijn goet ocht verdoen sijn aes. Al hebbe wij dat ongeval dat wij willen sijn alse een kint al sonder cost in joyen ghemint, dit es dat onse nu al: nu rume wij der minne sale int dal. Bidde wi der minne datse ons gheleidde in hare wege ende in hare hoghe ghereide.
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5–6 Die jungen Minnenden werden warnend angesprochen. In diesem Moment erfahren sie Überfluss in der Minne. Genau wie die Braut im Hohelied können sie sagen: „Mein Geliebter ist mein und ich bin sein“ (V. 46; Hohelied 2,16). In der Zukunft werden sie jedoch als alte Minnende wegen der Minne Kargheit erfahren. Der Überfluss an mystischer Freude, den sie in ihrer Jugend genießen konnten, wird sie nicht mehr erfreuen können (V. 48). In der sechsten Strophe werden die jungen Minnenden, nun in der Wir-Form, kritisiert. Sogar der dümmste Bauer weiß, womit er Gewinn machen kann. Die jungen Minnenden aber klammern sich am Genuss der Minne fest, was in der Minne überhaupt keinen Gewinn nach sich zieht. Man möchte wie ein Kind verwöhnt werden, ohne etwas zurückgeben zu müssen (V. 54–55). Wer aber der Minne wirklich begegnen möchte, muss den Thronsaal verlassen
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Ihr Jungen, ihr habt viel verloren, wenn ihr eure kindliche Jugend verliert. Dann werdet ihr, wie Alte, Minne in Bitterkeit erleben, während ihr nun jung und im Überfluss in der freien Minne leben könnt, nach dem Motto: „Ich ganz der Minne und Minne ganz mir.“ Das ist jetzt eure ganze Tugend. Über jenen Überfluss können sich die klugen Alten wenig erfreuen, denn sie kennen den Preis der Jahre in der Minne, in denen man zehren und sparen muss.
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Kein einziger Tölpel ist kaum so dumm, dass er nicht weiß, wann er sein Gut vermehren wird oder seine Asse verspielt hat. Auch wenn wir das Unglück haben, dass wir wie ein Kind sein wollen, das ganz ohne Anstrengung in Freude geminnt wird, ist es das, was uns nun widerfährt: Nun verlassen wir den Saal der Minne hin zum Tal. Lasst uns die Minne bitten, dass sie uns auf ihren Wegen und in ihre hohe Herrlichkeit führe.
(V. 57–58). Er muss wie ein Verbannter das ausgestreckte Tal erforschen, um die Einheit zu finden (vgl. Lied 23, V. 62–63: Die dan vendet in dien dale sal, die es van riken sinne [„wer in diesem Tal den Saal findet, / der wird reich an Sinnen sein“]). Wie die zweite Strophe schließt auch die sechste Strophe mit einem Gebet an die hohe Minne ab. In diesem Gebet bittet die Ich-Figur darum, dass die Minne die Minnenden wieder zu ihr hinführen möge, auf ihren Wegen, also nicht auf Irrwegen, auf denen die nach Vergnügen verlangenden jungen Minnenden umherirren. Die genaue Bedeutung von hoghe gereide (V. 60; wörtlich „hohe Zierde“ / „hohes Schmuckstück“) ist unklar. Vielleicht ist hiermit der verzierte Thronsaal gemeint, zu dem der Minnende geführt werden möchte, um die mystische Hochzeit zu erleben.
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Ic en scelde niet dat wi gherne nemen in der sueter minne spoet. Die hare lief in minne te spaerne temen, het en doet hem nemmer goet. Ende dies moghe wi seker sijn: die hare lief doreminnen, die sijn fijn ende beide out ende vroet, opdat hen haeste noch lichtcoep wanc en doet. So moghense seker wesen: so diepere verdronken, so hogher geresen. Die werke doen de minne in scijn. Die mint, hi seget: ‚Minne, dat mine es dijn‘. Dore di en wert meer gespaert sen noch moet, cracht noch march no herten bloet. Want in minne vonnesse es ghelesen: soe diepere gewont, so sachtere genesen.
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7 und Reprise Die Ich-Figur relativiert die Vorwürfe, die sie den jungen Minnenden in den beiden Strophen zuvor machte. Schonend zu minnen hilft niemandem und das Verlangen nach dem süßen Geschmack der Minne verurteilt sie nicht. Das Verlangen nach dem Geliebten regt den Minnenden zur Hingabe an. Und genau diese völlige Hingabe an die Minne kann den jungen Minnenden zu einem alten weisen Minnenden wachsen lassen. Hingabe impliziert ja, dass man sowohl die Freude als auch den Schmerz, den man von dem Geliebten erfährt, ganz und gar erlebt. In der Hingabe liegt der Weg
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Ich schimpfe nicht darüber, dass wir gern in der süßen Minne gedeihen. Wer sich erlaubt, seine Liebste in Minne zu schonen, dem tut das niemals gut. Und dessen können wir uns sicher sein: Diejenigen, die durch und durch minnen, sind fein und sowohl alt als auch klug, wenn weder Eile noch Leichtsinn sie wanken lässt. So können sie sicher sein: je tiefer gesunken, umso höher gestiegen.
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Die Werke lassen die Minne offenbar werden. Wer minnt, der sagt: „Minne, das Meine ist dein.“ Durch dich wird weder Verstand noch Gefühl, weder Kraft noch Mark noch des Herzens Blut geschont. Denn im Urteil der Minne liest man: je tiefer verwundet, umso schneller geheilt.
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zum hohen Thronsaal, denn je tiefer man sinkt, umso höher steigt man (V. 70). Die Reprise endet mit einem ähnlichen Gesetz aus der Lehre der Minne: „Je tiefer die Wunde, umso schneller geheilt“ (V. 76).
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Die vogle sijn nu blide, die de winter dwanc. So selen in corten tiden – des hebbe de minne danc – die fiere herten, die hare pinen ghedoget hebben over lanc op toeverlaet van minne. Si hevet so rike gewout: si sal hem gheven sout boven alle sinne. Een die van hoghere minne wilt al minne ontfaen, hi sal in allen sinnen gherne daerna staen dat hi de starcste doet van minnen wilt anegaen ende altoes even coene, wat edele minne ghebiedt, dat hi dies niet en ontsiet, hi ne sijt ghereet te doene. Ay, wat sal hen dan ghescien, die levet na der minnen raet? Want hi ne sal niemene sien die sine noet verstaet. Men sal met vremden oghen hem toenen vremt ghelaet, want hen sal nieman kinnen, wat node hi ghedoghet, eer hi sine noet verhoghet in orewoede van minnen.
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Zu Recht bezeichnet Van Mierlo dieses Lied als „das Lied der Sturmwut (orewoet)“. Der wahre Minnende gibt sich dem rasenden Verlangen für die Geliebte hin, was auch immer andere darüber denken mögen (Strophen 1–3). Die orewoet ist die höchste Belohnung, die er empfangen kann: Gerade in der Leidenschaft wird er eins mit der Minne und auf diese Weise erleichtert sie in paradoxaler Weise die Schmerzen des Mangels (Strophen 4–6). Wer die Schmerzen des Verlangens nicht mehr aushalten kann, darf das Vertrauen in sie nicht verlieren: Minne wird ihm die Kraft geben, das zu sehen und zu akzeptieren, was sie von ihm möchte (Strophe 7 und Reprise). 1–3 Genau wie die Vögel sich wegen des Frühlings freuen, werden diejenigen, die wegen der Minne Schmerzen ertragen, belohnt werden (Strophe 1). Der wahre Minnende, der die vollkommene Minne
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Die Vögel, die der Winter quälte, sind nun froh. Das werden in Kürze – dank der Minne – auch die stolzen Herzen sein, die ihre Schmerzen lange Zeit, auf Minne vertrauend, ertragen haben. Sie hat eine so große Macht: Sie wird ihnen über jede Vorstellungskraft hinaus Lohn schenken.
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Wer von höherer Minne vollkommene Minne erfahren möchte, der muss mit allen Sinnen willig danach streben, dass er den stärksten Tod wegen Minne auf sich nehmen will, und, immer gleichbleibend mutig, nicht fürchten, was edle Minne ihm gebietet, sondern dazu bereit sein, es auszuführen.
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Ach, was wird dann demjenigen geschehen, der nach dem Rat der Minne lebt? Denn er wird niemanden sehen, der sein Leid versteht. Mit fremden Augen wird man sich ihm gegenüber wie ein Fremder verhalten, denn niemand wird begreifen, welches Leid er erduldet, bis er sein Leid überwindet, in der Sturmwut um Minne.
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erlangen möchte, muss bereit sein, ihre schwersten Qualen durchzustehen (Strophe 2). Seine Hingabe wird von jedem, der außerhalb der Minne steht, abgelehnt. Aber das braucht ihn nicht mehr zu kümmern, wenn er die orewoet van minnen („Sturmwut der Minne“), das rasende Minneverlangen, erfährt (Strophe 3).
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Orewoet van minnen, dats een rike leen. Ende die dat woude kinnen, hi ne eischede haer el negheen. Die tiersten waren twee, die doetse wesen een, dies ic die waerheit toghe. Si maect dat suete es suer ende den vremden naghebuer, ende si bringhet den nederen hoghe. Si maect den starken cranc ende den sieken al ghesont. Si maket den rechten manc. Si heilt dien die was ghewont. Si maect den onbekinden die wide weghe cont, daer menech in moet dolen. Si doet hen weten al wat men leren sal in hogher minnen scolen. In hogher minnen scole leert men orewoet. Want si bringet dien in dole die hem wel verstoet. Die tiersten hadde ongeval, dien doetse hebben spoet. Si maectene al dies here, daer minne selve af es vrouwe. Ic ben dies wel getrouwe ende dies meer en kere.
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4–6 Die orewoet, die rasende, maßlose Leidenschaft, ist das beste Lehen, das die Minne dem Minnenden geben kann (V. 31–34). Das höchste Leben in der Minne ist somit nicht das ruhige Genießen einer erworbenen Einheit, sondern ein maßloses Verlangen, das niemals endet. Wer sich in orewoet befindet, verlangt nach nichts anderem (V. 34), weil ausgerechnet orewoet die Kraft ist, die den Minnenden eins mit der Minne werden lässt (V. 35–36). Das ist eine schwer zu verstehende Lektion, was an der langen Reihe von Paradoxa deutlich wird (Strophen 4–6), die von der Ich-Figur wohl nicht zufäl-
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Sturmwut der Minne, das ist ein reiches Lehen. Wer das kennenlernen möchte, sollte nichts anderes von ihr einfordern. Diejenigen, die zuerst zwei waren, lässt sie eins werden, das bezeuge ich, der Wahrheit entsprechend. Sie macht, dass das Süße sauer und der Fremde zum Nachbarn wird, und sie erhöht den Niedrigen.
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Sie macht den Starken krank und den Kranken ganz gesund. Sie macht denjenigen, der gerade läuft, krumm. Sie heilt denjenigen, der verwundet war. Sie zeigt den Unwissenden die weiten Wege, auf denen viele umherirren müssen. Sie lässt sie verstehen, was man lernen soll in der Schule der hohen Minne.
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In der Schule der hohen Minne erlernt man Sturmwut. Denn sie lässt denjenigen umherirren, der einen guten Überblick hatte. Wem zuerst Unglück widerfuhr, den lässt sie Glück erfahren. Sie lässt ihn Herr über alles werden, worüber Minne selbst Herrin ist. Ich bin mir dessen sehr sicher und ändere dazu meine Meinung nicht mehr.
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lig mit der nachdrücklichen Mitteilung, dass sie die Wahrheit spricht, eingeleitet wird (V. 37). Die Minne entzieht sich den Regeln dieser Welt, diesem Ort der Verbannung, weit von Gott entfernt, und die orewoet sorgt dafür, dass die weltlichen Kategorien vor denen der Minne zurückweichen müssen. Die orewoet lehrt in der hohen Schule der Minne (zu diesem Konzept siehe Lied 13), und was sie lehrt, ist nichts anderes als sie selbst (V. 48–52). Die Ich-Figur schließt diesen Abschnitt mit der Mitteilung ab, dass sie das, was sie lehrt, sicher weiß und nicht beabsichtigt, ihre Meinung zu ändern (V. 59–60).
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Die minnen niet en doghen, ic gheve hem goeden raet: ochte si niet meer en moghen, si bidden haer doch afflaet ende dienen met gheloeve in hogher minnen raet ende peisen: ‚Het mach wel wesen datter minnen cracht es groot. Hi es herde na der doot, die niet en mach genesen.‘ Die sinne es hoge geresen, die ontfaen hevet der minnen cracht, sodat hi in der minnen macht sine vonnesse sal lesen.
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7 und Reprise In der letzten Strophe richtet sich die Ich-Figur an diejenigen, die denken, orewoet nicht mehr aushalten zu können: Wenn sie nichts mehr für die Minne tun können, dann müssen sie sie um Vergebung bitten und ihr mit dem Glauben weiter dienen, in der Überzeugung, dass die Macht der Minne so groß ist, dass sie ihnen immer die Kraft geben wird, ihren Willen über sie zur Kenntnis zu nehmen und ihn zu akzeptieren. Wer das kann, hat es in der Minne weit gebracht.
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Denjenigen, die der Minne nicht gewachsen sind, denen gebe ich einen guten Rat: Auch wenn sie nicht mehr können, sollen sie sie dennoch um Vergebung bitten und im hohen Rat der Minne mit Vertrauen dienen und denken: „Es muss wohl so sein, dass die Kraft der Minne groß ist. Derjenige ist so gut wie tot, der nicht mehr genesen kann.“
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Die Seele, die die Kraft der Minne empfangen hat, ist so hoch gestiegen, damit sie in der Macht der Minne ihre Urteile lesen kann.
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Doer hogher trouwen minne, soe sijn al mine zinne in menechfoude pine. Mijn sware draghen sonder claghen werd mi wel in scine. Dieghene daer ic omme douwe ende doeghe so meneghen rouwe, hi hevet mi doen verstaen dat ic met hogher minnen sal ontgaen. Sal mi hoghe minne behouden minen sinne, soe ben ic seker des, met verstane van binnen, dat die minnare onser minnen wel volmaket es. Want al sijn doen es sonder mate. Hem en ghenoeghet voer minne ghene oersate. Dat bekinnen wel die hoeghe minne draghen, ende nieman el.
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Dieses Lied nimmt in der Sammlung einen besonderen Platz ein. Das Thema ist nicht die ritterli che Queste des mystischen Minnenden nach der Minne, sondern Maria. Das Lied preist die Frau, deren tiefe Demut Gott dazu brachte, seinen Sohn der Menschheit zu schenken. Als Vermittlerin der Menschwerdung Gottes ermöglichte Maria zugleich die Vergöttlichung des Menschen: Indem er dem Gottmenschen, den sie zur Welt brachte, folgt, kann der Mensch seinen göttlichen Vater wiederfinden (imitatio Christi). Für Mystiker und besonders für Mystikerinnen galt Maria als das Vorbild (imitatio Mariae). In der 13. Vision und in der Lijst der Volmaakten („Liste der Vollkommenen“) wird deutlich, dass Maria in Hadewijchs Kreis als erste einer kleinen Gruppe von 29 Heiligen aus der Vergangen heit betrachtet wurde, die die Minne auf vollkommene Weise erlebt haben. Es ist daher vielleicht kein Zufall, dass dieses Lied das 29. in der Sammlung ist: In Hadewijchs Kreis evozierte dieses viel leicht die exklusive Gruppe von 29 Vollkommenen, von denen Maria durch ihre vorbildliche Demut die höchste ist. Das Lied hat eine fest gefügte Struktur. Der Text beginnt und endet mit dem Schlüsselbegriff „hohe Treue“ (V. 1 und V. 120). Die ersten drei Strophen sind durch eine Concatenatio auf „hohe Minne“, die dritte bis fünfte Strophe durch den Terminus diepe ootmoed („tiefe Demut“) miteinander verbunden. Für die erzählenden Strophen 6 bis 11 verwendet Hadewijch keine Concatenatio. Sie ordnen das für Christen so einzigartige und zentrale Ereignis der Menschwerdung in eine heilsgeschichtliche Per spektive ein. In der letzten Strophe und in der Reprise spornt die „Ich-Figur“ ihr Publikum an, mit Hilfe „hoher Treue“ ebenso demütig wie Maria zu werden.
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Durch die Minne hoher Treue erleiden all meine Sinne viele Schmerzen. Dass ich schwer trage, ohne zu klagen, kommt mir sicher zugute. Derjenige, wegen dem ich wegschmelze und so viel Trauer erdulde, hat mich wissen lassen, dass ich daraus mit hoher Minne entkommen werde.
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Wenn hohe Minne mich meine Sinne behalten lässt, dann bin ich sicher, und weiß es im Inneren, dass der Minnende unserer Minne ganz vollkommen ist. Denn all sein Handeln ist grenzenlos. Außer Minne genügt ihm kein Lohn. Das erkennen diejenigen an, die hohe Minne tragen, und sonst niemand.
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Für ihren Lobgesang auf Maria als eine Verbindung zwischen dem alten und neuen Bund verwendet Hadewijch vor allem biblische Sprache. Das höfische Register fehlt: Es gibt keine Naturbeschreibung und die ritterliche Metaphorik fehlt fast ganz. 1–3 Das Lied hat keinen Natureingang und beginnt direkt mit einer Beschreibung der schmerzlichen Situation der Ich-Figur: Ihre hohe Treue der Minne gegenüber bringt viel Leid mit sich (V. 1–6). Durch den Ausdruck sware draghen („schwer tragen“, V. 4) ist Maria von Anfang an in diesem Lied anwe send, auch wenn sie erst in der vierten Strophe explizit genannt wird. Maria trug Christus in ihren Schoß und ertrug später die Schmerzen seines Kreuzestodes. Wie Maria ist die Ich-Figur schwanger vor Minne und erlebt in der geistlichen Schwangerschaft Schmerzen. Die Ich-Figur weiß, wie man das Leid ohne Klage ertragen kann: Ihr Geliebter hat ihr das anvertraut (V. 7–9). Vielleicht verbirgt sich hinter diesem Satz das Thema des „verborgenen Wortes“, das häufiger in den Liedern vorkommt, das Wort Gottes, das nur diejenigen hören können, die ihn in seiner Tiefe aufsuchen (siehe z. B. Lied 4, V. 15). Das Geheimnis der „hohen Minne“ (V. 10; auch V. 11 und 20) ist eine wahrhaftige Minne, die eine solche völlige Hingabe an den Geliebten impliziert, dass man alles, was diese Minne nach sich zieht, ob es Leben oder Tod ist (V. 28; siehe Römer 14,8: „ob wir leben oder sterben, wir gehören dem Herrn“), in völliger Demut annimmt, frei von Angst vor dem Schmerz oder der Abweisung (V. 29). Dieses demütige Annehmen ist die richtige Haltung des Minnenden gegenüber des göttlichen Gelieb ten. Dieser ist ja vollkommen (V. 15–16); er gibt sich selbst in der Minne, maßlos und freiwillig, und
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Die hoge minne draghen, si selen lettel claghen, wat lede hen overgheet. Si selen sijn alse die vroede altoes met diepen oetmoede in hoge minne ghereet, daer minne ghebiedet, si verre, si bi, in sterven, in leven, in wat soet sij, in vriheit sonder vaer: dat maecte ons hoghe minne eerst openbaer Wat soe ons God ye onste, hen wart nieman die conste gherechte minne verstaen, eer dat Maria, de goede, met diepen oetmoede die minne hadde gevaen. Tierst was si welt, doe wart si tam. Si gaf ons vore den leuwe een lam. Si maecte de demsterheit claer, die hadde geweest donker wel menech jaer.
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verlangt als Antwort nichts außer Gegenliebe (V. 17–18). Das vorherrschende Wort in den ersten drei Strophen ist „hoch“: Es steht in jedem ersten und letzten Vers (V. 1 und 10; V. 11 und 20; V. 21 und 30). Der Begriff verweist auf die ausschließliche Ausrichtung des mutigen Minnenden auf das höchste Ziel, die Minne. Im weiteren Verlauf des Liedes wird „hoch“ auf eine paradoxale Weise mit tiefer Demut verbunden: Gerade tiefe Demut ist die Haltung (V. 25) die es ermöglicht, dass man hohe Minne erwerben kann. 4–5 In der vierten Strophe verschiebt sich das Augenmerk vom mystischen Minnenden zu Maria und ihrer entscheidenden Rolle in der Heilsgeschichte. Parallel wird die Rolle des Begriffs „hohe Minne“, welche die erste bis dritte Strophe miteinander verkettet, für die dritte bis fünfte Strophe von diepe oetmoet („tiefe Demut“) übernommen. Dieser strophenverbindende Term steht nicht, wie gewöhn lich, im ersten und letzten Vers jeder Strophe, sondern liegt demütig im mittleren Vers verborgen, wie
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Diejenigen, die hohe Minne tragen, sollen wenig klagen, welches Leid ihnen widerfährt. Sie werden wie die Klugen sein: Immer mit tiefer Demut zu hoher Minne bereit, dorthin zu gehen, wo Minne es gebietet, sei es fern, sei es nah, im Sterben, im Leben, wie auch immer es sei, in Freiheit ohne Angst: Das machte uns hohe Minne erst deutlich.
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Was Gott uns auch jemals schenkte, niemand war in der Lage, gerechte Minne zu verstehen, bis Maria, die Gute, mit tiefer Demut die Minne gefangen hatte. Zuerst war sie wild, dann war sie zahm. Sie gab uns für den Löwen ein Lamm, sie erhellte die Finsternis, die so viele Jahre dunkel gewesen war.
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im „Schoß“ der dritten, vierten und fünften Strophe. Maria hat Gott durch ihre vollkommene Verkör perung der Tugend der Demut verführt und in ihrem Schoß „gefangen“ (V. 36). Durch ihre tiefe Demut ist der strafende Gott des Alten Testaments sanftmütig und liebevoll geworden. Die Termini gevangen und der Gegensatz wild – zahm (tam, V. 37) evozieren die Legende vom unzähmbaren Einhorn, das sich von keinem Jäger fangen lässt, aber wohl wie ein verwundetes Lamm seinen Kopf in den Schoß der Jungfrau legt (siehe auch Lied 2, V. 17). Im Mittelalter wurde diese Legende als eine Allegorie der Inkarnation gelesen. Durch ihre unendliche Demut hat Maria Gott in ihrem Schoß fangen können. Der strenge Gott des Alten Bundes wurde durch sie sanft: Das wilde Einhorn wurde zahm.
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Die Vader van aneghinne hadde sine Sone, de minne, verborghen in sinen scoet, eerne ons Maria met diepen oetmoede, ja, verholenleke ontsloet. Doe vloeyde de berch ten diepen dale, dat dal vloyede even hoghe der zale. Doe ward die casteel verwonnen, daer langhe strijt ane was begonnen. Ons dede elc prophete te voren scone beheete: dat hi rike ware ende scoene, die ons soude bringhen vrede van minnen, ende machtech mede. Moyses met Salemoene prijsden alle sine cracht besondere, sine wijsheit ende sine wondere, Tobyas, Ysayas, Daniel, Job, Jeremias, Ezechiel.
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Hadewijch füllt diesen Abschnitt mit biblischen Bildern: Die Menschwerdung Christi brachte Licht in eine Welt voller Dunkelheit (V. 39: vgl. Johannes 1,5); der Sohn, der im Schoß des Vaters verborgen war (Johannes 1,18), hat sich uns durch seine Menschwerdung über Maria offenbart (V. 41–46); ein Nachfahre aus dem jüdischen Geschlecht Juda, dessen Symbol der Löwe war, ist Lamm geworden und hat durch sein Opfer die Menschheit erlöst (V. 38; vgl. Offenbarung 5,5–6, und auch Johannes 1,29 und 36, wo Christus das Lamm Gottes genannt wird). Der unnahbare Gott (berch, [„Berg“]; V. 47) erniedrigte sich und wurde Mensch: Er floss in das tiefe Tal, den Schoß der unendlich demütigen Maria (V. 47). Die Menschheit bekam so eine direkte Ver bindung zu Gott: Das Tal floss in den Thronsaal Gottes zurück (V. 48; siehe auch Lied 27, V. 58; dieser Vers scheint auf Jesaja 40,4 zu beruhen: „Jedes Tal soll erhöht und jeder Berg und Hügel erniedrigt werden“). Derselbe Gedanke liegt dem Bild der Burg (casteel, V. 49), die nun endlich erobert wurde, zugrunde. Der alttestamentliche Gott saß wie ein unerreichbarer Herrscher in seiner Burg verschanzt. Durch die Inkarnation kam Gott unter die Menschen: Die Burg ist jetzt für jeden zugänglich. 6–11 In diesen Strophen wird Maria mit den Propheten (V. 51) des Alten Testaments verglichen: Jesaja, Daniel, Jeremia und Ezechiel, ebenso wie Moses, Salomo, Hiob und Tobias. Die letzten Vier wurden im Mittelalter auch als Propheten und darüber hinaus als Präfigurationen Christi betrachtet (V. 59–60). Die Propheten des Alten Testaments sprachen in ihren Visionen und Prophezeiungen ausführlich über
Lied 29
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Der Vater hielt am Anfang seinen Sohn, die Minne, in seinem Schoß verborgen, bis Maria ihn uns, ja, mit tiefer Demut auf mysteriöse Weise gebar. Da floss der Berg ins tiefe Tal, das Tal floss ebenso hoch zum Saal. Da wurde die Burg erobert, um derentwillen der lange Kampf begonnen worden war.
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Zuvor machte uns jeder Prophet schöne Versprechungen: Dass derjenige, der uns den Frieden der Minne bringen würde, reich und schön und auch mächtig wäre. Moses und Salomo lobten im Besonderen seine Kraft, seine Weisheit und seine Wunder, ebenso wie Tobias, Jesaja, Daniel, Hiob, Jeremias und Ezechiel.
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die Ankunft des Messias, aber die wahre Minne kannten sie nicht (V. 61–68). Maria sprach hingegen nur einen Satz: „Mir geschehe, wie du gesagt hast“ (V. 70; Lukas 1,38), und sie durfte Gott vollkom men in sich empfangen. Von allen Figuren des Alten Testaments galt David, der vermeintliche Autor der Psalmen, als derje nige, der Gott am nächsten gekommen war. Hadewijch zitiert Psalm 77 (76),4: „Ich dachte an Gott und ich freute mich, und ich wurde müde und verlor meinen Geist“ (V. 71–73). Die jubelnde Freude, die David beim Beten erfährt, bewirkt, dass er außer sich gerät. Kontemplative Mystiker des 12. Jahrhun derts, wie Wilhelm von St. Thierry und Richard von St. Viktor, beides Autoren, die Hadewijch beein flussten, betrachteten David daher, zusammen mit der Braut aus dem Hohelied und der Königin von Saba (siehe Lied 26), als ein Vorbild für den ekstatischen Mystiker. Mit dem „großen Werk“, das David geschaffen hat (V. 74), deutet Hadewijch vielleicht genau seine Fähigkeit an, in jubelnder Ekstase in Gott aufzugehen. Aber es ist auch möglich, dass sie sich auf den Kampf zwischen David und Goliath bezieht, der im Mittelalter als Präfiguration von Gottes Sieg über den Teufel gesehen wurde. Aber wie groß Davids Werk auch gewesen sein mag, das von Maria ist um
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Si saghen visioene. Si spraken perabolen scone wat ons God noch soude doen. Maer na minen zinne, die clare, vrie minne bleef van hen al ongheploen. Want si hadden hare zeden alse andre man, nu hier, nu daer, nu af, nu an. Maer Maria en sprac el niet dan: ‚Mi werde dat God versiet.‘ David seide, hem ghedachte van Gode, dat dede hem zachte, ende hem gebrac sijn gheest. Nochtan hetet hi van werke starc. Maer Maria wracte starkere werc. Ja, hi hads wale meest sonder Maria, diene gheheel ontfinc: God ende man ende jonghelinc. Daer mochte men der minnen ierst clare werc bekinnen. Dat was bi diepen nyede dat hare dat grote gesciede, dat die edele minne ute wart gelaten dien edelen wive van hogen prise met overvloedegher maten. Want si el ne woude noch hare el ne was, soe hadse al daer elc af las. Dus heeftse dat conduut gheleit dat elker oetmoedegher herten es ghereit
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ein Vielfaches größer (V. 75–78): Sie schenkte Gott das Leben als Mensch unter den Menschen; sie lebte mit ihm als Kind, als erwachsenem Mann und als Gott. Maria unterscheidet sich von den Propheten des Alten Testaments vor allem dadurch, dass sie ihren eigenen Willen völlig aufgeben konnte (Strophe 9). Und auf diese Weise stellte sie eine Verbindung, einen Kanal (conduut, V. 89), zwischen Gott und der Menschheit her (Ekklesiastikus 24,30; dasselbe
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Sie sahen Visionen. Sie sprachen in schönen Parabeln darüber, was Gott an uns noch tun würde. Aber nach meinem Verständnis pflegten sie in keiner Weise die reine, freie Minne. Denn sie handelten wie andere Menschen: mal hier, mal dort, mal aus, mal an. Aber Maria sprach nichts anderes als: „Mir geschehe, was Gott will.“
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David sagte, dass er, wenn er an Gott dachte, sanft würde und seine Geisteskraft verlöre. Dennoch heißt es über ihn, dass er ein großes Werk schuf. Aber Maria schuf ein größeres Werk. Ja, er schaffte es am besten, Maria ausgenommen, die ihn ganz empfing: als Gott, als Mann und als Kind. Da konnte man zuerst das herrliche Werk der Minne erkennen.
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Es kam durch das tiefe Verlangen, dass ihr Großes widerfuhr und dass die edle Minne auf die edle, hochgelobte Frau in überaus reichlichem Maße ausgeschüttet wurde. Da sie nichts anderes wollte und nichts anderes besaß, besaß sie alles, worüber man je gelesen hat. So hat sie den Kanal gelegt, der für jedes demütige Herz bereit steht.
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marianische Bild kommt auch in Lied 11, V. 56, vor). Dieser Kanal steht seitdem für jeden Menschen, der seinen göttlichen Ursprung zurückfinden will, zur Verfügung. Der Unterschied zwischen dem Alten und dem Neuen Testament ist grundsätzlicher Natur. Unter den jüdischen Königen und Propheten versuchte man, mit Hilfe von Tieropfern und dem Bestreichen mit Opferblut (V. 91–95) Gottes Gunst zu erwirken. Mit der zuletzt genannten Handlung verweist Hadewijch möglicherweise auf Exodus 24,8,
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Die propheten ende al hare kinder offerden scape ende rinder: dat was hare sacrament. Si daden hem metten bloede striken. Hare sacramente waren gheliken, eer Maria dat hoghe prosent, die Sone, gesent ward van den Vader. Nu comt ten groten etenen allegadere, – die brulocht es ghereet – die de minne vint ghechiert int brulochtcleet. Onser vriende der propheten, haerre doghet en doech vergheten. Si was scone ende claer. Si doecheden ellendecheit ende grote betterheit der wet wel menech jaer. Hare sacramente waren gheliken. Dat si daervoren wouden wiken, men maghes hen danken wel, al seggic dat Marien was al el.
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wo erzählt wird, wie Moses das Blut von geopferten Stieren über das Volk sprenkelte. Aber wegen Marias Demut schenkte Gott sich ganz den Menschen (V. 96–97) und im Kreuzestod Christi vergoss er sein eigenes Blut für die Menschheit. Seitdem kann jeder Gläubige Gott bei der Eucharistie in Form des Leibes Christi zu sich nehmen. Die Lehre von der Transsubstantiation lehrte, dass die Hostie Christus nicht nur auf symbolische Weise anwesend macht, sondern tatsächlich Leib und Blut Christi war: Durch die Kommunion werden Christus und Mensch schon hier auf der Erde eins. In den Versen
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Die Propheten und all ihre Kinder opferten Schafe und Rinder: Das war ihr Sakrament. Sie bestrichen sich mit dem Blut. Ihre Sakramente waren Gleichnisse, bis der Sohn, das hohe Geschenk, vom Vater an Maria geschickt wurde. Kommt jetzt alle zur großen Mahlzeit – das Hochzeitsmahl ist vorbereitet –, ihr, die von der Minne im Hochzeitskleid verziert angetroffen werdet.
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Die Tugend unserer Freunde, der Propheten, darf nicht vergessen werden. Sie war schön und klar. Sie ertrugen Elend und viele Jahre große Bitterkeit des Gesetzes. Ihre Sakramente waren Gleichnisse. Dass sie sich davor verbeugen wollten, dafür darf man ihnen dankbar sein, auch wenn ich sage, dass es mit Maria ganz anders war.
98–100 steckt eine Anspielung auf die mystische Hochzeit: Das Brautmahl steht bereit (Matthäus 22,8) und jede Menschenseele, die sich durch die Ausübung der Tugend schmückt, kann die Braut Christi werden.
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Oetmoedeghe, vrie sinne, wildi gheheel al minne, alsoe minne haer selven levet, ic rade u dore trouwe: al lijddi rouwe, vertijt alles ende beghevet. Soe werd uwe herte wijt ende diep. Soe sal u comen dat conduut, dat liep Marien sonder maten. Bidt der hogher trouwen dat sijt u vloyen late. Want hogher trouwen es bevolen, alle die oetmoedecheit doredolen, dat sise volleiden sal daer Maria es met minnen een in al.
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12 und Reprise Die letzte Strophe ist eine Ermahnung: Wer wie Maria die ganze Minne besitzen möchte, muss durch die Ausübung von Demut und Treue das Herz so weit öffnen, dass die Minne zu ihm fließt, durch den Kanal, der von Maria gelegt wurde und durch den der mystische Minnende den Ort erreichen kann, an dem Maria und die Minne eins sind.
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Demütige, freie Seelen, wenn ihr ganz Minne wollt, wie Minne sie selbst gelebt hat, dann rate ich euch durch Treue: Auch wenn ihr Trauer erleidet, entsagt allem und gebt alles auf. Dann wird euer Herz weit und tief. Dann wird der Kanal zu euch kommen, der in vollem Fluss zu Maria lief. Bittet die hohe Treue, dass sie ihn euch zufließen lasse.
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Denn hoher Treue wird befohlen, dass sie diejenigen, die demütig umherirren, ganz dorthin bringt, wo Maria in allem eins mit Minne ist.
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In der Reprise wird die zentrale Rolle der Treue betont. Treue dem hohen, göttlichen Geliebten gegenüber ist die Tugend, die jeden mystischen Minnenden zur Minne führt. Passenderweise schließt dieses Marienlied so ab wie es begann, mit der personifizierten Hohen Treue (V. 1; V. 120 und V. 121).
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Men moet in allen tiden der minnen wesen blide ende hare volgen in elken side, in allen weghen daer si gheleidt. Men moet hare leven blide, ende den rouwe dan alsoe na ghereit. Die minne moets mi onnen. Ic hebbe minne begonnen. Dies mi die vremde wanconnen, dies mi benemen niet en moghen. Ic hebbe minne begonnen. God gheve dattic hare moete doeghen. Sint ic mi gheve in minne – verliesic ochte winne – soe steet in minen zinne: ic wille haer alles weten danc. Verliese ic ochte winne, ic wille staen in hare bedwanc. Die minne wilt behaghen, hi ne sal hem niet beclaghen sijn menechfoude draghen, dat hi dore minne draghen moet. Hi ne sal hem niet beclaghen: omme minne doghen, hets al spoet.
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In diesem Lied nimmt die personifizierte Vernunft eine wichtige Rolle ein. In den ersten fünf Strophen beschreibt Hadewijch den exemplarischen Minnenden, der das ganze Leid, das ihm wegen der Minne widerfährt, treu akzeptiert. Vernunft weckt ihn nach einem glücklichen Beginn in der Minne aus seinem Enthusiasmus und lässt ihn einsehen, wie sehr er als Mensch in Bezug auf die Minne Defizite aufweist. Diese Einsicht ist für den Minnenden eine schweres Los (Strophen 6–12). Aber nur wenn er sich immer wieder neu verwunden lässt, durch die Einsicht, dass jede Hingabe, jeder Dienst, jedes Verlangen zu gering ist, kann er auf der Erde die Minne auf eine vollkommene Weise erleben (Strophen 13–15). In dem Lied wechseln sich Strophen in der Ich-Form mit objektiven Strophen ab, die die Erfahrung der Ich-Figur auf einer allgemeineren und didaktischeren Ebene zum Ausdruck bringen. 1 In diesem Lied kommt kein Natureingang vor, obwohl der typische Reim tiden: blide daran erinnert. Die erste Strophe stellt dar, wie man sich in der Minne verhalten soll: Man muss wegen ihr froh sein, sich ihr in jeder Hinsicht hingeben und – mit einer ebenso unerwarteten wie unbarmherzigen
Lied 30
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Man muss zu allen Zeiten wegen der Minne froh sein und ihr überall hin folgen, auf allen Wegen, die sie entlangführt. Man muss wegen ihr froh leben und dann genauso gut auf die Traurigkeit vorbereitet sein.
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Die Minne möge es mir gönnen. Ich habe angefangen zu minnen. Das verübeln mir die Fremden, die mir das nicht nehmen können. Ich habe angefangen zu minnen. Gott gebe, dass ich für die Minne taugen möge.
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Seitdem ich mich in Minne hingebe – ob ich verliere oder gewinne –, steht mir in meinem Sinn: Ich möchte ihr für alles dankbar sein. Ob ich verliere oder gewinne, ich will in ihrer Macht stehen.
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Derjenige, der Minne behagen möchte, wird sich nicht über die vielen Lasten beklagen, die er wegen Minne tragen muss. Er wird sich nicht beklagen: Wegen Minne zu leiden, ist nichts als Gewinn.
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Wendung am Ende der Strophe – bereit sein, den Schmerz, den die Minne mit sich bringt, zu akzeptieren. 2–3 In diesen Strophen kommt die Ich-Figur zu Wort: Trotz der Feindschaft der vremde („Fremden“) hat sie mit der Minne einen Anfang gemacht, und sie ist nicht bereit, davon abzuweichen. Sie hofft dennoch, dass die Minne (V. 7) und Gott (V. 12) ihr die Kraft geben werden, den Auftrag, der in der ersten Strophe formuliert wurde, anzunehmen. Sie ist bereit, alles, das Gute und das Schlechte, von der Minne zu akzeptieren und sich ganz der Macht der Minne hinzugeben. 4–5 Die Absicht der Ich-Figur wird in diesen beiden didaktischen Strophen bestätigt: Der wahre Minnende klagt nicht über das Leid, das ihm widerfährt. Alles, was er für die Minne erleidet, bringt ihn in der Minne weiter (Strophe 4). Treue Minne erfordert es, dass man sich fortwährend die Tugend vor
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Die minnen wilt met trouwen, hi moet de doghet bescouwen ende de werken bouwen, wilt hi leven in minne bant. Dat mochte men ane hem scouwen die ons die minne bracht ierst int lant. Soe na quam ic der minne dat ic begonste kinnen wat si algader winnen, die hen gheheel der minnen gheven. Alse ic dat mochte bekinnen, so roude mi wat mi was ontbleven. Mochte mi minne ghenueghen. Ic ghingher mi toe voeghen dat alle mine aderen loeghen. Doe quam de redene ende dede mi sien: ‚Sich waer du di wils voeghen ende wat di eer noch moet ghescien.‘ Mi maecte rike ierste de minne. Si dobbeleerde mine sinne ende toende mi alle ghewinne. Twi vlietse nu wech alse een truwant? Si dobbeleerde mine sinne. Nu dolic in der vremder lant.
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Augen hält und dass man gute Werke verrichtet, nach dem Vorbild Christi, der die Minne in die Welt brachte (Strophe 5). 6–8 Die Ich-Figur war schon weit im Minnedienst vorangeschritten, sodass sie über das Glück, das diejenigen erfahren, die sich völlig der Minne hingeben, Einsicht erhält. Ihr Vorbild macht ihr deutlich, dass sie noch nicht genügt (Strophe 6). Der Wunsch, in der Minne Befriedigung zu finden, hat sie dazu angespornt, sich so einzusetzen, dass ihr ganzes Wesen vor Glück jubeln würde. Aber Vernunft hat diesen naiven Optimismus durchkreuzt, indem sie ihr zeigt, wie weit sie noch von der vollkommenen Minne entfernt ist (Strophe 7). Aus diesem harten Kampf ist bei der Ich-Figur das Gefühl entstanden, dass sie von der Minne betrogen wurde: Die Minne hat wie ein truwant („Betrügerin“, V. 46)
Lied 30
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Wer mit Treue minnen möchte, muss sich die Tugend vor Augen führen und Werke verrichten, sofern er im Band der Minne leben möchte. Das konnte man an ihm sehen, der für uns zuerst die Minne ins Land brachte.
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So nahe kam ich der Minne, dass ich anfing zu sehen, was alles diejenigen gewinnen, die sich der Minne vollkommen hingeben. Als ich das sehen konnte, da war ich traurig darüber, was mir noch fehlte.
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Wenn Minne mir Vergnügen bereiten könnte, dann würde ich mich darauf verlegen, dass all meine Adern lachen würden. Da kam die Vernunft und zeigte mir: „Sieh, wohin du dich begeben willst und was zuvor noch mit dir geschehen muss.“
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Mich machte die Minne zuerst reich. Sie verdoppelte meine Kräfte und zeigte mir den ganzen Gewinn. Warum flieht sie nun wie eine Betrügerin? Sie verdoppelte meine Kräfte. Jetzt irre ich im Land der Fremden umher.
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gehandelt, die sich fromm präsentiert, aber in Wirklichkeit andere betrügt und ins Unglück stürzt (vgl. Lied 8, Strophe 3). Am Anfang schien die vollkommene Minne erreichbar zu sein, und dieses Bewusstsein beflügelte die Ich-Figur. Aber jetzt irrt sie noch immer im Land der Fremden umher, in einer Welt, in der die Minne nicht herrscht (Strophe 8).
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Het es wel swaer te bestane van minne in redene te gane. Doch steet daeraf te ontfane die minne gheheel, sal mense ghewinnen. Van minne in redene te gane es onghehort ende te swaer den sinnen. Minne ghinc mi minne al spanen. Mi dunket nu, het was een tanen. Alse ic woude minne al manen, seide redene: ‚Wiltu nu wenschen? Het was van minne een tanen. Ghedinke dattu noch best een mensche.‘ Soe dede mi redene leede. Het dochte mi ene veede dat si mi nam dat ghereide, dat mi minne hadde selve ghegheven. Het dochte mi ene veede. Doch dede mi redene waerheit leven. Die hoghe caritate, die mi minne toende in ghelate, doe si mi sonder mate mijn herte te hare nam gheheel – wat si meinde int ghelate heeft si mi nu ghetoent een deel.
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9 Diese Strophe drückt das Vorhergehende auf eine objektive, allgemeine Weise aus: Der Übergang von der naiven Minne des begeisterten Anfängers zu der Einsicht, die die Vernunft schenkt, fällt dem Minnenden schwer. Das Minneleben, das die Vernunft vorschreibt, übersteigt die menschlichen Kräfte, ist jedoch ausschlaggebend für denjenigen, der die vollkommene Minne erreichen will. 10–13 Nach der didaktischen Unterbrechung in der neunten Strophe erzählt die Ich-Figur in diesen Strophen die gleiche Geschichte wie in den Strophen sechs bis acht: Die Falle der betrügerischen Minne; der naive Gedanke der Ich-Figur, dass sie Minne ganz für sich einfordern konnte; die Unterbrechung durch die Vernunft, die sie daran erinnert, dass sie als Mensch noch nicht zu der vollkommenen Minne in der Lage ist (Strophe 10). Obwohl diese Einmischung der Vernunft von der Ich-Figur als eine
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Es ist wohl ein schwerer Weg, von Minne zu Vernunft zu kommen. Doch davon hängt es ab, die Minne ganz zu empfangen, wenn man sie gewinnen möchte. Von Minne zu Vernunft zu kommen, ist unvorstellbar und für die menschlichen Kräfte äußerst schwer.
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Minne spiegelte mir vollkommene Minne vor. Mir scheint nun, dass es eine Falle war. Als ich Minne ganz einfordern wollte, sagte Vernunft: „Möchtest du nun etwas wünschen? Es war eine Falle der Minne. Denke daran, dass du noch ein Mensch bist.“
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So fügte Vernunft mir Leid zu. Es erschien mir eine Fehde zu sein, als sie mir den Überfluss stahl, den Minne mir selbst gegeben hatte. Es erschien mir eine Fehde zu sein. Dennoch ließ mich Vernunft in Wahrheit leben.
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Die hohe Nächstenliebe, die mir Minne mit ihrem Verhalten zeigte, als sie mir ohne Zurückhaltung mein Herz ganz in Besitz nahm – was sie mit ihrem Verhalten meinte, hat sie mir nun zum Teil gezeigt.
feindliche Tat erfahren wird, muss sie anerkennen, dass Vernunft sie zur wahren Minne gebracht hat (Strophe 11). In der 12. Strophe schaut die Ich-Figur mit Sarkasmus auf das zurück, was passiert ist: Die „Liebe“, die die Minne ihr zu zeigen schien – nicht zufällig verwendet Hadewijch hier nicht das Wort minne, sondern caritate, was bei ihr meistens „Nächstenliebe“ bedeutet – erweist sich nun als etwas ganz anderes und entspricht nicht der Erwartung, die sie geweckt hatte. Und dennoch: In der 13. Strophe
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Al hevet mi minne verbolgen, nochtan moetic hare volgen, want si hevet al verswolgen die ziele uut mier herten gront. Ic wille gheheel hare volgen, hoe mi redene hevet gewont. Men mach bi redene ghewinnen gerecht gebruuc van minnen, daer redene claer mach bekinnen dat men hen beiden hevet genoech gedaen. Gerecht gebruken van minnen laet redene dan van minnen ontfaen. God gheve hen alle die minnen dat si der redene hulde gewinnen moeten, daer si bi moghen bekinnen hoe men der minnen gebruken sal. Ane der redene hulde ghewinnen leighet ons van minnen volmaectheit al.
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erkennt die Ich-Figur, dass ihr kein anderer Weg bleibt, als der Minne zu folgen – so sehr hat sie ihr Herz und ihre Seele vereinnahmt. 14–15 Hadewijch schließt ihr Lied mit einer Lektion (Strophe 14) und mit einem Wunsch (Strophe 15) ab. Die Lektion behandelt die Einsicht, dass man nur über den Weg der Vernunft zu einem vollkommenen Genießen der Minne gelangen kann. Erfüllung in der Minne erfordert, dass man Vernunft zufriedenstellt, denn sie verleiht die Einsicht, wo man als Minnender nicht genügt (Strophe 14). Daher kommt der Wunsch, dass Gott es den Minnenden gönnt, dass sie mit dem Wohlwollen der Vernunft rechnen können: Denn nur über ihren Weg erreicht man vollkommene Minne (Strophe 15).
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Auch wenn Minne mich verärgert hat, dennoch muss ich ihr folgen, denn sie hat die Seele ganz verschlungen, aus dem Grund meines Herzens. Ich möchte ihr ganz folgen, wie sehr mich Vernunft auch verwundet hat.
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Man kann durch Vernunft das wahrhaftige Genießen der Minne erreichen, wenn Vernunft deutlich erkennen kann, dass man ihnen beiden Genüge getan hat. Ein wahrhaftiges Genießen der Minne lässt Vernunft dann von Minne empfangen.
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Gott gebe allen, die minnen, dass sie die Huld der Vernunft erhalten mögen, wodurch sie erkennen können, wie man die Minne genießen soll. Die Huld der Vernunft zu gewinnen, davon hängt für uns die ganze Vollkommenheit der Minne ab.
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Lied 31
Om grote minne in hoghen ghedachte willic wesen al mijn tijt, want si mi met haerre groter cracht mine nature maect soe wijt dat ic mijn wesen al verpachte in de hoghe geboert van haren gheslachte. Alse ic wille nemen vri delijt, soe werpet si mi in hare hachte. Ic waent wel liden sonder scade dat ic in minnen dus ben bevaen, wilt si mi al die nauste pade van haren weghe doen verstaen. Alse ic mi wane rusten in hare ghenaden, verstoermt si mi met nuwen rade. Dits een wonderlec verslaen: soe si meer mint, soe si meer lade.
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Das zentrale Thema dieses Liedes ist die hohe oder erhabene Natur der Minne, die den Minnenden zwingt, sich selbst immer wieder zu übertreffen. Die erste Strophe führt eine Ich-Figur ein, die aufrecht bereit ist, völlig im Dienst der Minne zu leben und ihren immer höheren Anforderungen zu genügen (Strophen 1–2). In den folgenden Strophen wird dasselbe Thema anhand eines komplexen Wortspiels mit dem Terminus toen weiter entwickelt. Diesen verwendet Hadewijch in der Bedeutung ,musikalischer Tonʻ und in der Bedeutung ,Erklärungʻ: Der erhabene Klang der himmlischen Minne übertrifft jeden irdischen Gesang, und ihre unbegreifliche, paradoxale Natur macht eine Erklärung unmöglich (Strophen 3–5). Der Minnende kann nichts anderes tun, als sich mit Hingabe an die allmächtige Minne zu binden. Darin unterscheidet sich der wahre Minnende von denjenigen, die der Minne fremd bleiben (Strophe 6). In den letzten Strophen steht nochmals die unbegreifliche Natur der Minne im Mittelpunkt (Strophe 7) sowie die Notwendigkeit für den Minnenden, sich völlig ihrer Allmacht zu unterwerfen (Strophe 8). 1–2 Der gebräuchliche Natureingang fehlt, aber der Ausdruck al mijn tijt („mein ganzes Leben“ oder „immer“, V. 2) ruft diesen doch in gewisser Weise kontrastierend hervor: Der hochgestimmte Minnende möchte immer, also losgelöst von der Jahreszeit, im Dienst der Minne leben. Im weiteren
Lied 31
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Um der großen Minne willen möchte ich meine ganze Zeit in hohen Gedanken sein, denn sie erweitert mit ihrer großen Kraft meine Natur so sehr, dass ich mein ganzes Wesen verpachte, um in ihrem Geschlecht hoch geboren zu werden. Wenn ich sie frei genießen möchte, steckt sie mich in ihre Fesseln.
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Ich hoffe, es ohne Nachteil erleiden zu können, dass ich so in Minne gefangen bin, wenn sie mir die ganzen engen Pfade ihres Weges zeigt. Wenn ich mich in Ruhe in ihrer Gnade wähne, erregt sie mich mit neuen Ratschlägen. Das ist ein wunderliches Besiegen: Je mehr sie minnt, desto mehr belastet sie.
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Verlauf, in den Strophen vier und fünf, sagt die minnende Ich-Figur, dass sie nach der „Zeit, die die Minne ist“ (V. 31–34) verlangt. Die Minne währt ewig, und ihre Zeit ist dementsprechend die Ewigkeit. Das impliziert, dass der Minnende, der sich über den wechselnden Zeitverlauf auf der Erde erhebt und mit hohen Gedanken auf die grote minne („große Minne“) gerichtet bleibt, einen Platz in ihrem ewigen Reich erhält. Der Ausdruck hoghe gedachte (wörtlich: „hoher Geist“, V. 1) verweist auf die höchste Fähigkeit der menschlichen Seele, die entsprechend der Anthropologie, die den Hintergrund für Hadewijchs mystische Lehre bildet, nach Gottes Ebenbild und Gleichnis geschaffen wurde. Die Anziehungskraft, die die göttliche Minne auf die minnende Ich-Figur ausübt, ist so groß, dass sie über ihre ,niedrigeʻ menschliche Natur hinaussteigen möchte, um in dem ,hohenʻ Geschlecht der noblen Minne geboren werden zu können (V. 5–6). Die Ich-Figur ist dann von ihrer Gebundenheit an das Irdische befreit (vri [„frei“], V. 7). Stattdessen kommt dann unvermeidlich die ausschließliche Gebundenheit an die göttliche Minne (V. 8). Die zweite Strophe hat einen vergleichbaren Aufbau wie die erste und arbeitet das Motiv der Gefangenschaft weiter aus. Die Erwartungen der Ich-Figur sind hoch: Sie denkt, als Gefangene der Minne, die Minne auf die richtige Art (sonder scade [„ohne Nachteil“], V. 9) erleben zu können, wenigstens wenn die Minne sie nur entlang der schwierigsten Wege führt und ihr die schwersten Aufgaben erteilt (V. 9–12). Die zweite Hälfte der Strophe verdeutlicht, was das bedeutet: Sobald die Ich-Figur denkt, dass sie ausruhen kann, spornt die Minne sie mit neuen Aufgaben an (V. 13–14). Die Minne bezeugt ihre Minne für die Ich-Figur paradoxal, indem sie immer neue Forderungen stellt (V. 15–16).
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Lied 31
Dit es wonder groot te verstane, der minnen nemen ende hare gheven. Alse si mi gheeft troest te ontfane, so werdet vruchten ende beven. Der minne bidde ic ende mane dat si de edele herten spane dat si in minnen toen dus bleven, in nederen twifel, in hoghen wane. Troest ende meslone in enen persoen: dats wesen van der minnen smake. Al levede die wise Salemoen, hi liete te ontbendene soe hoge sake. Wi ne werdens berecht in gheen sermoen: die sanc verhoget allen toen. Die tijt daer ic altoos na hake, hevet in hem selven noch den loon. Haken, beiden, merren langhe na dien tijt, die selve es minne, doet versmaden vremden ghemanghe ende toent verlies ende grote ghewinne. Fierheit radet mi dat ic hanghe soe vaste in minne, dat ic bevanghe een wesen boven allen sinne. Die toen verhoget alle sanghe.
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3–6 In der dritten Strophe spricht die Ich-Figur zuerst über die paradoxale Natur der Minne (V. 17–20), indem sie unter anderem auf Psalm 55 (54),6, verweist: „Angst und Zittern greifen mich an“ (siehe V. 20). Danach bittet die Ich-Figur die Minne darum, dass sie die Minnenden (edele herten [„edle Herzen“], V. 22) dazu bringen solle, sich sowohl in Perioden der Hoffnung als in Perioden der Verzweiflung weiter auf die Minne zu richten (V. 21–24). In den letzten Versen der dritten Strophe wird der Term toen eingeführt (in minnen toen [„im Ton der Minne“]; V. 23), der in den drei folgenden Strophen eine zentrale und mehrdeutige Rolle spielt. Das Wort toen ist in erster Linie eine musikalische Metapher: Der Klang der Minne übertrifft jeden Gesang (Strophe 4, V. 30; Strophe 5, V. 40). Dieses Bild hat seinen Ursprung in dem Gedanken, der im Mittelalter geläufig war, dass die Engel im Empyreum – das ist der höchste Himmel und die Wohnstätte Gottes – Musik hervorbringen. Dieser himmlische Gesang übertrifft alle irdischen Klänge. Darüber hinaus bedeutet das Wort toen auch „was zeigbar ist“. In Vers 30 wird ausgedrückt, dass sich die Melodie der Minne über jede Erklärung erhebt. Beide Bedeutungen von toen hallen aus der mit-
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Es ist ein schwierig zu begreifendes Wunder, das Nehmen und Geben der Minne. Wenn sie mir Trost zu empfangen gibt, dann wird es Angst und Zittern. Ich bitte die Minne und flehe sie an, dass sie die edlen Herzen so lockt, dass sie im Ton der Minne bleiben, in tiefer Verzweiflung, in hoher Erwartung.
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Trost und Strafe in einer Person: Das ist im Wesen der Geschmack der Minne Wenn der weise Salomo noch lebte, er würde es nicht wagen, eine solch hohe Sache zu erklären. Uns wird darüber in keiner Predigt berichtet: Der Gesang erhebt sich über jeden Ton. Die Zeit, nach der ich fortwährend verlange, trägt den Lohn in sich selbst.
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Verlangen, sehnen, lange ausharren nach der Zeit, die selbst Minne ist, lässt fremde Gesellen verschmähen und weist Verlust und großen Gewinn auf. Stolz rät mir, dass ich mich so fest an Minne binde, dass ich einen Zustand erreiche, der jeden Verstand übersteigt. Dieser Ton übertrifft alle Gesänge.
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telalterlichen Perspektive ohne Probleme zusammen wider. Die empyreische Musik ist wegen ihres ätherischen Charakters für irdische Ohren unhörbar und nicht zu erkennen. In der vierten Strophe wird die Ungreifbarkeit der Minne ausgearbeitet: Die paradoxale Verbindung von Genießen und Schmerz in der Minne kann nicht erklärt werden, selbst vom weisen Salomo nicht (V. 25–29). Am Ende der vierten Strophe und am Anfang der fünften Strophe thematisiert Hadewijch dann das Minneverlangen. Das nicht nachlassende Verlangen nach der Minne, ob sie nun Freude oder Schmerz mit sich bringt, gibt die Kraft, dem aus dem Weg zu gehen, was der Minne fremd ist und sich immer weiter an ihr zu orientieren. Es ist die ritterliche Tugend fierheit („Stolz“, V. 37), die der Ich-Figur das Durchsetzungsvermögen verleiht, das notwendig ist, sich bleibend an die launische Minne zu binden. Und so findet sie den Klang, der alle Gesänge übertrifft (V. 40). Dieser letzte Vers ist wiederum mehrdeutig. Verhoget (von dem Verb verhogen) bedeutet ja nicht nur „übertreffen“, sondern auch „sich erfreuen“, und zusammen mit der doppelten Bedeutung von toen könnte
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Die toen die alle sanghe verhoghet, dat meyn ic: minne in hare gewout. Ic segs een luttel, en doech ghetoeghet den vremden herten, die sijn cout ende cleine omme minne hebben ghedoghet. Si ne weten niet dat minne vertoeghet hare rike den fieren, die sijn stout ende in die minne werden ghesoeget. Ghewout van minnen, die al verwint, die es te verstane onghehoert, ende bi in dole, verre bekent, ende een vrede die alle vreden stoert, den vrede die men in minnen ghewint, daer men hare wesen al met versint. Die wert ghesoeghet in hare confoert, die hem met minnen in minne dus mint. Die dus in minnen wilt vervaen, hi ne sal ontsien noch cost no scade noch pine. Hi sal met allen staen int alrenauste van minnen rade ende met hoghen dienste sijn onderdaen, in al hare comen, in al hare gaen. Die dit op minnen trouwe dade, hi soude in minnen al minne volstaen.
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man Vers 40 dann auch so übersetzen: Die Offenbarung der Minne erfreut alle Gesänge. Die sechste Strophe bietet eine Interpretation für das Bild des ,Tons der Minneʻ, der in den vorherigen Strophen vorherrschte: Der Ton steht für die ,Minne in ihrer Allmachtʻ. Es ist nutzlos, diesen allmächtigen, alles übertreffenden Aspekt der Minne den vremden herten („fremden Herzen“, V. 44) zu erklären, die im Gegensatz zu den edele herten („edlen Herzen“, V. 22), nicht im Dienst der Minne leben. Die Minne ist ihnen ja fremd.
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Der Ton, der alle Gesänge übertrifft, damit meine ich: Minne in ihrer Macht. Ich sage wenig dazu, es hat keinen Sinn, dieses fremden Herzen zu zeigen, die kalt sind und wegen Minne wenig gelitten haben. Sie wissen nicht, dass Minne den Stolzen ihren Reichtum zeigt, die tapfer sind und die in der Minne gesäugt werden.
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Macht der Minne, die alles besiegt, ist unmöglich zu begreifen, und sie ist nahe, wenn wir irren, weit entfernt, wenn sie in Sicht ist, und ein Frieden, der jeden Frieden stört, den Frieden, den man in Minne gewinnt, mit dem man ihr Wesen vollkommen begreift. Derjenige wird in ihrem Trost gesäugt, der so mit Minne in Minne minnt.
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Wer so in Minne Heil erwarten will, wird weder Kosten, Schaden noch Anstrengung fürchten. Er wird ganz den bedrohlichsten Aufträgen der Minne standhalten und ihr mit hohem Dienst untertänig sein, in ihrem ganzen Kommen, in ihrem ganzen Gehen. Wer dies im Vertrauen auf Minne täte, der würde in Minne vollkommene Minne vollbringen.
7–8 Von der ersten bis zur sechsten Strophe war die lyrische Ich-Figur ausdrücklich anwesend. Das Lied endet mit zwei didaktischen Strophen in der dritten Person. Die siebte Strophe beschreibt nochmals den unaussprechlichen und ungreifbaren Charakter der paradoxalen Minne. Der Text ist voller Verben, die sich auf das menschliche ,Erkennenʻ beziehen – verstane von verstaen („verstehen“, V. 50); bekent von bekinnen („bekennen“, V. 51); versint von versinnen („verstehen“, V. 54) – und die gerade die Nichtererkennbarkeit der Minne betonen. Die Schlussstrophe ist als Auftrag formuliert. Wer minnt, muss standfest im Dienst der Minne leben, und das sowohl, wenn sie sich zeigt, als auch dann, wenn sie sich zurückzieht. Nur so kann man in der Minne standhaft bleiben und mit ihr eins sein.
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Tsjaermeer ontspringhen ons de bloemen ende andere crude menechfout. Oec sal men die edele herten doemen, die leven in minnen ghewout. In minnen settic mijn behout ende mine gewout in hare hande. Van haer en eyschic ander scout dan ic al blive in haren bande. Die nu droeghe bant van rechter minnen, alse men wel minnen sculdich ware, dies souden hen saen onderwinden die wrede vremde al oppenbare. Si doen hem meneghe grote vare dien die staen in hogher minnen hoede. Maer wat si hen doen te sware, Gode danc, dat es ten cleynen spoede. Die hogher minnen dienen sal, hi ne mach ontsien enghene pine. Hi sal hem gheven al omme al omme hoegher minnen genoech te sine. Ende es dat sake dat hi yet fine, soe mach hi wel de waerheit kinnen dat hi meer ne wordet in scine meester van gherechter minnen.
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Der wahre Minnende gibt sich völlig der Minne hin und kümmert sich nicht um die Kritik derjenigen, die nicht im Dienst der Minne stehen (Strophen 1–5). Er ist ein Ritter, der durch seine Unerschrockenheit Glück in der Minne erwirbt (Strophen 6–7). Die Fremden, die vor dem Schmerz im Minnedienst zurückschrecken, verstehen nichts davon, und man würde der Minne nicht gerecht, wenn man versuchen würde, es ihnen zu erklären (Strophen 8–9). Das Lied endet mit dem Wunsch, dass Gott die mutigen Minnenden an seinen Wundern teilhaben lässt (Strophe 10). 1 Die erste Strophe beinhaltet die zentrale Thematik dieses Liedes. Trotz des Frühlings – oec („dennoch“, V. 3) hat hier eine kontrastierende Bedeutung – werden die Minnenden harte Kritik verkraften müssen. In der zweiten Hälfte der Strophe bekundet die Ich-Figur, dass sie sich dennoch ganz der alles bezwingenden Macht der Minne unterwirft: Nur die Minne kann ihr Heil bringen. Diese beiden Themen werden im weiteren Verlauf des Liedes miteinander kombiniert. Das Motiv, dass man sich gern dem bande („Band“, V. 7–8) der Minne hingibt, entstammt zweifellos der Minnelyrik, in der dieser Gedanke häufig vorkommt. Aber zugleich ist Hadewijchs bant-Metaphorik sicher auch von Richards von St. Viktor caritas ligans („Die Liebe, die bindet“) inspiriert worden, dem zweiten Grad in seinem De quattuor gradibus violentae charitatis („Von den vier Stufen der Liebesgewalt“): Wer von Minne gebunden wird, kann seine Aufmerksamkeit auf nichts anderes richten.
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Bald sprießen für uns die Blumen und viele andere Pflanzen. Dennoch wird man die edlen Herzen, die in der Gewalt der Minne leben, verurteilen. Der Minne vertraue ich mein Heil an, und meine Macht lege ich in ihre Hände. Von ihr fordere ich keine andere Schuld ein, außer dass ich ganz in ihren Banden bleibe.
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Wer nun das Band der rechten Minne trüge, wie man das Minne wohl schuldig wäre, um den würden sich schnell die bösen Fremden ganz öffentlich kümmern. Sie flößen denjenigen viele große Ängste ein, die unter dem Schutz der hohen Minne stehen. Aber welche bösen Dinge sie ihnen auch antun, das hat, Gott sei Dank, nur wenig Erfolg.
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Wer hoher Minne dienen möchte, darf sich vor keinem Schmerz fürchten. Er muss sich ganz einsetzen, um hoher Minne zu genügen. Und wenn er auch nur ein wenig zögert, dann kann er wohl sicher die Wahrheit kennen, dass er bestimmt kein Meister gerechter Minne werden wird.
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2–3 In der zweiten und dritten Strophe kommen die beiden zentralen Themen der ersten Strophe nacheinander an die Reihe. In der zweiten Strophe wird der Gedanke der Verse 3–4 ausgearbeitet, dass diejenigen, die sich von Minne beherrschen lassen, mit der Kritik der Fremden rechnen müssen (V. 9–12). Aber unmittelbar danach wird hinzugefügt, dass die Bemühungen Letzterer vergebens sein werden (V. 15–16). In der dritten Strophe wird das Thema der völligen Hingabe an die Minne aus der ersten Strophe wieder aufgegriffen. Was dort aber in der ersten Person gesagt wurde, wird hier wie eine allgemeine Lehre in der dritten Person formuliert: Wer der hohen Minne dienen will, muss sich völlig hingeben (V. 17–20). Die zweite Hälfte der Strophe wiederholt dieselbe Botschaft, aber jetzt in negativer Hinsicht: Wer auch nur irgendwelche Defizite aufweist, der wird die Minne niemals beherrschen (V. 21–24). Das Spiel der variierenden Wiederholung im ersten und letzten Vers der dritten Strophe, die in erster Linie einander gegenübergestellt zu sein scheinen, nutzt Hadewijch, um ihnen dieselbe Bedeutung zu verleihen: Wer der Minne dient (V. 17), wird sich als ihr Meister erweisen (V. 24).
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Minne es meester menegher dinc. Si ghereet suer ende suete. Sint ic van hare ierste smake ontfinc, licghic altoos op hare voete. Ic bidde hare dat haer ghenoeghen moete dat ic dor hare eere drage quale ter doot, al sonder boete, ende ics den vremden niet ne clage. Die den vremden dade cont wat men verdraghet omme minnen eere, hi maecte hare therte wel onghesont ende quetste hare nature seere. Want si ne verstaen men noch mere wat men dore rechte minne moet doghen avonture ende sware kere, ochte si in hare minne sal hoeghen. Die minnen wille wel genoeghen, ic rade hen dat si niet en sparen ende si hare wesen daertoe voeghen dat sij met nyede in storme dorevaren, ane haren danc diere merkaren, die soe staen na hare pine. Wat sise dan moghen swaren, hen steet altoos vri te sine.
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4–5 In der vierten Strophe erscheint die Ich-Figur erneut, und die beiden Themen werden zum ersten Mal miteinander verbunden: Sie fleht die Minne an, dass sie ihr Erfüllung geben möge, dass sie für sie bis zum Tod Schmerzen erleidet (V. 29–31) und dass sie sich über dieses Leid im Minnedienst bei den Fremden nicht beklagt (V. 32). Die Erklärung dieses letzten Verses erfolgt in der fünften Strophe: Wer außerhalb der Minne bleibt und sie nicht erfährt, ist nicht in der Lage zu verstehen, was der Minnedienst beinhaltet. Wer dennoch mit den Fremden über die Minne spricht, wird ihr nicht gerecht.
Lied 32
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Minne ist Meisterin vieler Dinge. Sie bereitet Saures und Süßes. Seitdem ich sie zuerst schmeckte, liege ich ihr immer zu Füßen. Ich bitte sie, dass es ihr Genüge tun wird, dass ich ihr zu Ehren Qualen bis zum Tod ertrage, ganz ohne Besserung, und dass ich den Fremden gegenüber darüber nicht klage.
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Wer den Fremden kundtun würde, was man wegen der Ehre der Minne erträgt, der würde ihr Herz krank machen und ihre Natur sehr verletzen. Denn sie verstehen überhaupt nicht, was man wegen rechter Minne an Abenteuern und schmerzhaften Ereignissen ertragen muss, wenn Minne sich an ihrer Minne erfreuen soll.
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Denjenigen, die Minne wohl Genüge tun möchten, rate ich, dass sie sich nicht schonen und dass sie sich darauf konzentrieren, kämpferisch in einem Sturmlauf durchzubrechen, gegen den Willen der Merker, die so sehr darauf aus sind, ihnen Schmerzen zuzufügen. Wie schwer jene es ihnen auch machen können, sie sollen immer frei sein.
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6–9 In der sechsten Strophe kann die Ich-Figur nun anderen Minnenden den Ratschlag erteilen, das zu tun, was sie nach dem, was in der vierten Strophe steht, selbst schon tat: Sich vollkommen der Minne hingeben, ohne sich von Kritikern ablenken zu lassen. Gerade in dieser völligen Hingabe liegt ja die Freiheit. Die Verwendung des Wortes avonture („Abenteuer“, V. 39) spielt auf die Welt des Rittertums an. Der wahre Minnende ist wie ein Ritter, der mit großer Kampfeslust auf den Gegner losstürmt (V. 44).
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Lied 32
Vriheit mach men wel bekinnen in joesten ende in hogen daet, die met fierheiden dorevaert van sinne, daer stoerm van minnen hem jeghenstaet. Want men in joesten prijs ontfaet, daer men bi minnen werdech scine. Minne es so riken toeverlaet, hets recht dat men doer hare pine. Die enege pine ontsien in minnen, seker, si ne moghen niet verstaen wat deghene moghen winnen die minnen altoes sijn onderdaen, ende van hare sware slage ontfaen, daer si al onghenesen ave bliven, ende hoghe uprisen ende nederslaen, eer si der minnen genouch gheriven. Traghen herten ende nederen sinnen, hen blivet verborghen tgrote goet, dat deghene wel bekinnen die leven in minnen orewoet. Want si doen menech scoen gemoet in stormen ende in avonturen. Hets recht dat si hebben spoet in der minnen hoge nature. God geve hen spoet, die daernae staen dat si der minnen willen behaghen ende gherne dore haer ontfaen groten last met swaren waghen, ende altoes vele omme hare verdraghen, dies si de minne werdech kennen. Ic onste hen wel dat si noch saghen die wise wondere van der minnen.
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Diese Metaphorik wird in den folgenden drei Strophen (7–9) ausgearbeitet, in denen der Minnedienst mit einer joute, einem Stechspiel, verglichen wird, in dem man in vollem Galopp mit einer gestreckten Lanze auf den Gegner losreitet: Wie der wahre Ritter sich dann nicht zurückhält und Ehre erwirbt, so wird auch der wahre Minnende, der sich völlig der Minne hingibt, der Minne würdig sein (Strophe 7). Dahingegen werden sich diejenigen, die Angst haben, nicht bewusst, wie groß die Belohnung für diejenigen ist, die bereit sind, schwere Schläge entgegenzunehmen (Strophe 8).
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Freiheit kann derjenige in Turnieren und in hohen Taten wohl kennenlernen, der mit einem tapferen Herzen weiterstürmt, auch wenn sich ihm ein Sturm der Minne entgegenstellt. Denn im Turnier erwirbt man Lob und Ehre, wodurch man Minne würdig wird. Minne ist eine so mächtige Zuflucht, zu Recht strengt man sich für sie an.
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Diejenigen, die Angst vor Schmerzen in Minne haben, wahrlich, sie können nicht verstehen, was diejenigen gewinnen können, die immer im Minnedienst stehen und von ihr schwere Schläge erhalten, von denen sie nicht wieder gesund werden und die hoch emporsteigen und niedergeschlagen werden, bis sie der Minne genügend behagen.
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Trägen Herzen und niederen Seelen bleibt das große Gut verborgen, das wohl diejenigen kennenlernen, die in der Sturmwut der Minne leben. Denn in Angriffsstürmen und in Abenteuern führen sie viele schöne Angriffe aus. Zu Recht haben sie in der hohen Natur der Minne Glück.
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Gott gebe denjenigen Glück, die es darauf absehen, der Minne zu behagen und wegen ihr gerne große Lasten mit schweren Gewichten empfangen und wegen ihr immer viel ertragen, von dem sie wissen, dass das der Minne wert ist. Ich würde es ihnen sehr gönnen, dass sie die weisen Wunder der Minne noch sähen.
Für sie bleibt der große Reichtum verborgen, der demjenigen geschenkt wird, der das feindliche Aufeinandertreffen nicht scheut, der sich der orewoet („Sturmwut“) hingibt, der alles verzehrenden Minneraserei (Strophe 9). 10 Das Lied endet mit dem Wunsch, dass Gott diejenigen, die zu allem bereit sind, um die Minne zu befriedigen, die wise wondere der Minne kennenlernen mögen: Weise Wunder deshalb, weil der menschliche Verstand sie nicht begreifen kann.
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Die tijt vernuwet met sinen jaren. Die daghen lichten die donker waren. Die minne begeren ende moete ontbaren, hets wonder datse niet en vervaren.
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Dit nuwe jaer es comen in. Die hevet ghekeert sinen sin dat hi ne wilt sparen meer noch men voer minnen, sine pine wert al ghewin.
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Maer die enege pine vore minnen spaert ende alsoe sine nederheit openbaert ende in vremden genoechten hem soe bewaert, hets recht dat hi in dienste verswaert.
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Maer die van minnen sijn gheboren ende te haerre naturen sijn vercoren, si ne sparen en ghenen pine daervoren; si leven altoos in heileghen toren.
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Dien hogher minnen nature gherijnt, hi es die altoos gherne pijnt, alse aen sine werken wale scijnt: het dunct hem emmer onghefijnt.
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Dat ware den finen mensche scade, datti bi vremden nederen rade liete te werkene de hoge dade, die hongher gheven in minnen zaden.
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Das Lied besteht aus zwei Teilen. Die Strophen 1–6 handeln von der Notwendigkeit der vollen Anstrengung im Minnedienst. Genau diese standhafte Anstrengung macht den Unterschied zwischen den wahren und den falschen Minnenden aus. Die Strophen 7–12 thematisieren die paradoxale Natur der Minne: Die Minne manifestiert sich zugleich als Freude und als Schmerz. Dieses Paradoxon des Minneerlebens wird danach mit Hilfe von drei verschiedenen Metaphern ausgedrückt: Der Minnehunger, der gleichzeitig Sättigung ist, die Minnelast, die Trost ist, und die Angriffe der Minne, die vergnüglich sind. Das Lied schließt mit einer Empfehlung und mit einem Auftrag. Die Ich-Figur empfiehlt der Minne die Minnenden, die sich aufrecht für die Minne einsetzen (Strophe 13). Und sie regt sie an, diese Dynamik zwischen den beiden Polen in der Minne vollkommen zu erleben: Dieses ermöglicht ein nie endendes erneuerndes Einssein mit der Minne (Strophe 14). 1–6 Das Naturbild evoziert den Frühling: Die Tage werden länger. Dagegen kommt für die Minnenden noch kein Licht zum Vorschein: Sie besitzen die Minne nicht und sie erfahren ihr Leben als schwer
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Die Zeit erneuert sich mit den Jahren. Die Tage, die dunkel waren, werden hell. Dass diejenigen, die nach Minne verlangen und sie entbehren müssen, nicht untergehen, kann man ein Wunder nennen.
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Das neue Jahr hat angefangen. Wer seinen Sinn darauf gerichtet hat, dass er wegen Minne absolut nichts zurückhalten möchte, dessen Anstrengung ist nichts als Gewinn.
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Wer aber wegen Minne vor irgendeiner Anstrengung Angst hat und dadurch seine Niedertracht offenbart und sich dann an fremden Vergnügungen erfreut, dem fällt der Dienst zu Recht schwer.
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Aber diejenigen, die aus Minne geboren sind und zu ihrer Natur auserkoren sind, fürchten sich vor keiner Anstrengung; sie leben fortwährend in heiliger Leidenschaft.
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Wer von hoher Minne selbst berührt wird, setzt sich immer gern ein, was auch an seinen Werken sehr deutlich wird: Sie scheinen ihm immer unzureichend.
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Das würde einem edlen Menschen Schaden zufügen, dass er wegen des niederträchtigen Rates von Fremden nachlassen würde, die hohen Taten zu vollbringen, die bei jeder neuen Sättigung der Minne Hunger hervorrufen.
(Strophe 1). Aber gerade das ist gut: Für denjenigen, der sich in der Minne völlig einsetzt, bedeutet Leiden Gewinn (Strophe 2). Wer nicht durchhalten kann und Vergnügungen sucht, die nicht zur Minne gehören, erfährt den Minnedienst als schwer (Strophe 3). Wer sich aber gerufen fühlt, mit der hohen Minne eins zu werden, setzt sich immer weiter leidenschaftlich ein (Strophe 4), und all seine Anstrengungen scheinen ihm immer zu wenig zu sein (Strophe 5). Der edle Minnende vollbringt immer neue hohe Taten, um der Minne würdig zu sein, denn jeder erfüllende Kontakt mit der Geliebten weckt bei ihm gerade das Verlangen (hongher [„Hunger“], V. 2), sich durch Werke zu veredeln und so einer höheren Einheitserfahrung würdig zu werden (Strophe 6).
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Sat ende honger beide in een, dats der vrier minnen leen, alse ye denghenen wale sceen die minne met hare naturen ghereen.
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Dats sat: comt minne, men ne canse ghedraghen. Dats honger: houtse op, dats een claghen. Hare scoenste verlichten sijn sware waghen. Hare scarpste storme sijn nuwe behaghen.
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Hoe maect der minnen coemste sat? Men smaect met wondere dat si es dat. Si doet besitten hare hoochste stat. Si ghevet hare rijcheit, dien groten scat.
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Hoe maect honger der minnen ophouden? Si ne connen bekinnen dat si souden, noch niet gebruken dat si wouden. Dat doet den hongher menechfouden.
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Hoe maect verladen der minnen verlichten? Men ne can ontfaen hare grote gichten, ende men ne can hare gheen ghelike dichten. Soe ne weet men waer gheduren stichten.
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Hoe doetse behaghen storm ende slach, die edele minne, nacht ende dach? Want men niet els gheplegen en mach dan toeverlaet op minnen sach.
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7–12 Der wahre Minnende erfährt Sättigung und Hunger zugleich (Strophe 7): Dieses Motiv wurde vielleicht dem Hymnus Jesu dulcis memoria, V. 61, von dem Lied 33 formal inspiriert wurde, entnommen: Qui te gustant esuriunt („diejenigen, die dich schmecken, haben Hunger“). Der zweite Teil des Liedes arbeitet diesen paradoxalen Charakter des Minneerlebens aus. Von der achten bis zwölften Strophe wird das Paradoxon mit Hilfe verschiedener Metaphern ausgedrückt (Strophe 8), die dann nach und nach analysiert werden (Strophe 9–12). Minne ist Sättigung und Hunger: Sättigung, wenn man erfährt, dass sie sich hingibt, und Hunger, wenn man sie nicht fühlen kann (Strophe 9–10). Ihr sättigender Trost ist eine schwere Last, denn man erfährt in dem
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Sättigung und Hunger zugleich, das ist das Lehen der freien Minne, wie denjenigen wohl immer deutlich war, die von der Minne mit ihr selbst berührt wurden.
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Sättigung bedeutet: Wenn Minne kommt, kann man sie nicht ertragen. Hunger bedeutet: Wenn sie wegbleibt, gibt es nur noch Klagen. Ihre schönsten Tröstungen sind schwere Lasten. Ihre stärksten Angriffe sind neue Vergnügungen.
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Wie sättigt die Ankunft der Minne? Man schmeckt mit Verwunderung, dass sie es ist. Sie lässt ihren höchsten Platz besetzen. Sie schenkt ihren Reichtum, den großen Schatz.
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Wie macht das Fernbleiben der Minne hungrig? Sie können nicht erfahren, was sie erfahren sollten, und nicht genießen, was sie genießen wollten. Das lässt den Hunger stärker werden.
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Wie belastet der Trost der Minne? Man kann ihre großen Geschenke nicht empfangen und man kann sich nichts vorstellen, was ihr ähnelt. Darum kann man es nicht aushalten.
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Wie macht sie Angriffe und Schläge behaglich, die edle Minne, Tag und Nacht? Indem man nichts anderes tun kann als Minne zu vertrauen.
genießenden Moment genau, dass man die Minne nicht völlig umfassen kann (Strophe 11). Ihre stürmischen Angriffe bereiten dann jedoch wieder Vergnügen; gerade wenn man nach der ausbleibenden Minne hungrig ist, lernt man ihr zu vertrauen, und genau dieses Vertrauen verbindet den Minnenden mit der Minne (Strophe 12).
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Nu ic bevele der heileger minnen u allen, die minne wilt bekinnen, ende daervoer en spaerd in ghenen sinnen met nuwen vlite te woenne daerbinnen.
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Met nuwen verlichtene hebt nuwen vlijt, met nuwen werken sat nuwe delijt, met nuwen stoerme nuwen honger so wijt, dat nuwe verslinde nuwe eweliken tijt.
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13–14 Das Lied beschließt mit einer Empfehlung und einem Auftrag. Die Ich-Figur empfiehlt der Minne die wahren Minnenden (Strophe 13). Und sie erteilt ihnen den Auftrag, die paradoxale Natur der Minne vollkommen zu erleben (Strophe 14): Eine tröstende Berührung der Minne führt zu dem Bewusstsein, dass man ihr gegenüber noch Defizite hat, und ruft den Eifer hervor, mit Tugend der Minne mehr würdig zu werden (V. 53); durch die Ausübung von Tugenden (werken [„Werke“]) gleicht man sich dem
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Jetzt empfehle ich euch alle der heiligen Minne, euch, die ihr die Minne erfahren wollt und dafür auf keinerlei Weise zögert, um mit neuem Eifer in ihr zu wohnen.
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Habt durch neuen Trost neuen Eifer, durch neue Werke viel neue Freude, durch neue Angriffe neuen Hunger, der so groß ist, dass das Neue das Neue ewig verschlingen möge.
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göttlichen Geliebten an, was eine neue genießende Einheitserfahrung mit sich bringt (V. 54); diese Ruhe wird dann doch wieder zerstört: Ein neues Verlangen (hongher) nach dem Geliebten entflammt und lässt den Minnenden wieder Werke verrichten, um seiner würdig zu sein (V. 55). Ein wahrhaftiges Erleben der Dynamik zwischen diesen beiden Polen in der Minne ermöglicht ein nicht endendes sich erneuerndes Einssein mit der Minne (V. 56).
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In allen tiden, nuwe ende out, si hi der minnen onderdaen, de somer heet, den wenter cout die minne van minnen wilt ontfaen. Hi sal met vollen dienste staen in hoger minnen hantieren. Soe wert hi minne met minnen saen. Dat en mach hem niet failieren. Suer ende donker ende overwreet sijn der minnen weghe in haer beghin. Eer selc met minnen dienste gesteet, failieert hi dicke ane den sin: daer hi waent verliesen, hets al gewin. Waerbi mach men dat bekinnen? Dats die en sparen meer noch min dan al hen gheven in minnen. Die meneghe twifelen ane de minne, dies hem die arbeit dunct te swaer ende si ten eersten niet en nemen inne. Si dinken: ‚Soutstu dolen daer?‘ Ware hen de loon vore de oghen claer, die minne ghevet ten inde, ic dar wel segghen openbaer: si doelden hare ellende.
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Dieses Lied ruft die Minnenden dazu auf, sich von den Schmerzen des Minnedienstes nicht entmutigen zu lassen: Keine einzige Anstrengung in der Minne war jemals vergebens. Wer durchhält, wird ganz eins mit der Minne, die ihre eigene Belohnung ist (Strophen 1–6). Der Ich-Figur tut es leid, dass sie durch ihr eigenes Unvermögen die Einheit noch nicht erreicht hat (Strophen 7–8), und sie ermutigt jeden, nicht zu verzagen (Strophen 9–10). 1–4 Die erste Strophe beinhaltet die zentrale Thematik des Liedes: Welche Jahreszeit es auch sein möge, immer muss man der Minne auf vollkommene Weise dienen. Dann wird man mit der Minne ganz eins werden.
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Zu allen Zeiten, den neuen wie den alten, dem heißen Sommer wie dem kalten Winter, sei derjenige der Minne untertan, der Minne von Minne empfangen möchte. Er muss sich mit vollem Dienst hoher Minne widmen. So wird er bald Minne mit Minne. Das kann ihm nicht misslingen.
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Bitter und dunkel und schrecklich sind die Wege der Minne in ihrem Anfang. Bevor jemand im Dienst der Minne genügt, verliert er oft seinen Verstand: Wenn er denkt, dass er verliert, gewinnt er alles. Woran kann man das erkennen? An denjenigen, die sich überhaupt nicht schonen, sondern sich ganz in Minne hingeben.
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Viele zweifeln an der Minne, weil ihnen die Anstrengung als zu schwer erscheint und weil sie am Anfang nichts bekommen. Sie denken: „Sollst du dorthin irren?“ Stünde ihnen der Lohn, den Minne am Ende gibt, klar vor Augen, dann traue ich mich deutlich zu sagen: Sie würden ins Elend irren.
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Wer zu minnen anfängt, muss wissen, dass das Leid, das er im Minnedienst erfährt, ihn nicht hinunterdrücken darf. In der Minne ist Leid Gewinn, wie sich an dem Beispiel derjenigen zeigt, die sich ganz der Minne hingeben (Strophe 2). Wer den Lohn der Minne kennen würde, würde sich nicht entmutigen lassen, wie die meisten das tun. Im Gegenteil, er würde das Leben auf der Erde erst wirklich als ein Umherirren im irdischen Jammertal erfahren, weil er merkt, dass er zu weit von der Minne entfernt ist und dadurch ein umso größeres Verlangen nach ihr erfährt (Strophe 3). Was man für die Minne
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Noch nie en wart sake in minnen verloren die men doer minne ye ghedede. Minne geldet emmer, na ochte voren. Minne es altoos der minnen mede. Minne kent met minnen der minnen sede. Haere nemen es altoos gheven. Minne ghevet met hare behendichede wel meneghe doot int leven. Hets oversuete in minne verdolen hare welde weghen, die minne doet gaen. Het blivet den vremden wel verholen, maer die met waerheiden minne gestaen, si selen met minnen in minnen doergaen al dat rike, daer minne es vrouwe, ende al dat heerscap met hare ontfaen, ende doresmaken hare edele trouwe. Die smake die trouwe in minne ghevet, wie el iet seget dat weelde sij, die hevet ye sonder weelde gelevet, nadien dattic versinne mi. Want hets hemelsche genoechte vri, te vollen, sonder gebreken: ‚Du mi al, lief, ende ic al di.‘ Daer nes gheen ander spreken.
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durchlebte, war ja nie vergebens: Das Nehmen der Minne ist immer ein Geben, weil das schreckliche Leid des Minnenden wegen der Abwesenheit der Minne ihn gerade näher zu ihr bringt (Strophe 4). 5–6 Dass das Umherirren entlang der weiten Wege der Minne oversuete („überaus süß“, V. 33) ist, bedeutet nicht, dass das Leid aufhört. Das ist gerade das Paradoxon, das die Fremden nicht verstehen können. Es bedeutet wohl, dass der Minnende immer stärker an den Rhythmus der Minne angepasst lebt. Er wird so sehr mit ihr vereint, dass das Leid ihn nicht mehr greifen kann, sondern dass
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Noch nie ging etwas in Minne verloren, das man je wegen Minne tat. Minne lohnt immer, früh oder spät. Minne ist immer der Lohn der Minne. Minne kennt mit Minne die Art der Minne. Ihr Nehmen ist immer Geben. Minne gibt, listig, wie sie ist, manchen Tod während des Lebens.
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Es ist überaus süß, in Minne umherzuirren, auf den wüsten Wegen, die Minne uns gehen lässt,. Es bleibt für die Fremden ganz unbegreiflich, aber diejenigen, die aufrecht in Minne stehen, sie werden mit Minne in Minne durch das ganze Reich, in dem Minne Herrin ist, hindurchziehen und mit ihr die ganze Herrschaft empfangen und ihre edle Treue vollkommen schmecken.
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Wer etwas anderes als den Geschmack, den Treue in Minne gibt, Freude nennt, der hat immer ohne Freude gelebt, so meine ich. Denn es ist ein himmlisches freies Vergnügen, vollkommen, ohne Mängel: „Du ganz mir, Geliebter, und ich ganz dir.“ Nichts anderes wird da gesagt.
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er zusammen mit der Minne über ihr Reich herrscht. Ein solcher Minnender erfährt die Treue, die die Eigenschaft der Minne par excellence ist (Strophe 5). Treue der Minne gegenüber ist das höchste Genießen, das in der Minne möglich ist. Die Treue ist ja die Einheit mit dem göttlichen Geliebten, und mit dem Vers Du mi al, lief, ende ic al di („Du ganz mir, Geliebter, und ich ganz dir“) wird die Gegenseitigkeit ausgedrückt (vgl. Hohelied 2,16 „Mein Geliebter ist mein und ich bin sein“, und Hohelied 6,2 „Ich meinem Geliebten und mein Geliebter mir“, aber auch Ovid, Heroides 16,180 Te mihi meque tibi communia gaudia jungant („Gegenseitige Freude wird dich mit mir und mich mit dir binden“).
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Die dus in minnen sijn worden een, ic mach wel swighen hoet hen steet. Noch sien, noch spreken, dats mijn leen. Want ict met wesene niet en weet hoe lief daer lief al ommeveet ende ghebruken een gheven. Wat wondere eest dat mi rouwe versleet, dat mi dat noch es ontbleven? Dat ic der minnen ye ure ghebrac, berouwet mi sere. Dan nes wonder niet. Met rechte doeghics onghemac dat ic mi ye so nederliet. Want mi de minne al goet onthiet, ochte ic ye so hoghe gedachte te werkene int rike dat si mi hiet, int hoochste van haren ambachte. Dat rike daer ons de minne toe riet, ende tambacht dats ons werken hiet, dats minnen plegen ende anders niet, met al den dienste die daertoe gheet. Die dit met trouwen wel versteet te werkene in allen zinne, hi est dien minne al beveet ende hi wert al een in minnen. Hiertoe so manic alle de fine, die minne met minnen willen ghestaen, aldus in minnen dienste te sine, in al haer comen, in al haer gaen. Hare opheffen, haer nederslaen si hem al even soete. Soe werden si minne met minnen saen. Dies ons God hulpen moete.
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7–10 In diesen Strophen erkennt die Ich-Figur, dass sie diesen Grad der Einheit, in dem sich die Geliebten auf der Basis von Gleichheit gegenseitig genießen, noch nicht erreicht hat, und dass dies sie mit Schmerz und Trauer erfüllt (Strophe 7). Es reut sie sehr, dass sie im Minnedienst versagt hat, obwohl Minne ihr noch alles Gute versprochen hatte (Strophe 8).
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Wie es um diejenigen, die auf diese Weise in Minne eins geworden sind, steht, darüber sollte ich besser schweigen. Weder sehen noch sprechen, das ist mein Lehen. Denn ich weiß nicht aus eigener Erfahrung, wie Liebste und Liebster sich gegenseitig innig umarmen und sich gegenseitig Genießen schenken. Ist es dann ein Wunder, dass Trauer mich niederdrückt, weil mir das noch nicht zuteilwurde?
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Dass ich der Minne gegenüber jemals unzulänglich war, bereue ich sehr. Das ist kein Wunder. Zu Recht erleide ich Betrübnis, dass ich mich so schändlich verhielt. Denn die edle Minne versprach mir alles Gute wenn ich jemals so hohe Bereitschaft hätte, in ihrem Reich, das sie mir versprach, zu arbeiten, im höchsten ihrer Ämter.
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Das Reich, zu dem die Minne uns riet, und das Amt, das sie uns auszuüben befahl, das ist Minne zu pflegen und nichts anderes, mit jedem Dienst, der dazu gehört. Wer mit Treue in der Lage ist, dies in jeder Hinsicht zu vollbringen, der ist derjenige, den Minne ganz umarmt und er wird ganz eins in Minne.
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Hierzu rufe ich alle edlen Menschen auf, die Minne mit Minne bewältigen wollen, auf diese Weise im Dienst der Minne zu sein, in all ihrem Kommen, in alle ihrem Gehen. Ob sie sie nun erhebt oder sie niederwirft, alles sei ihnen gleich süß. So werden sie schnell Minne mit Minne. Möge Gott uns dabei helfen.
In der folgenden Strophe wird die persönliche Situation der Ich-Figur zu einem „wir“ erweitert: nicht nur die Ich-Figur, sondern auch die Freundinnen des Kreises werden in das Reich der Minne eingeladen, um dort das höchste Amt des vollkommenen Minnedienstes auszuüben (Strophe 9). Das Lied endet mit dem Aufruf an alle edlen Minnenden, der Minne zu dienen, und das bedeutet: Alles in treuer Hingabe an die Minne anzunehmen. Denn auf diese Weise erreicht man die vollkommene Minne.
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Die tijt es donker ende cout. Dies droeven voghelen ende dier. Die herten doeghen el menechfout die kinnen hare nature fier ende hen dan minne ontbliven sal. Wie oprijst, ic blive int dal, van rike troeste onberaden, met swaren waghen altoos geladen. Die waghe es mi al te swaer, die niet en leget, bi gere noot. Hoe mochte een herte gedueren daer, die liden moet soe meneghen doot alse hi ghesmaect die hem bekint altoos van minnen al onghemint ende al ontseget – wien si ontfaet: hulpe ende troost ende toeverlaet? En wilt minne mi minne niet ontfaen, wat soudic dan ye gheboren? Ben ic vore minnen dus ontdaen, soe ben ic sonder waen verloren. So maghic claghen wers na wee al minen tijt vordane meer. So ne hopic niet voer eeneghe geval, sint minne mi dus ontbliven sal.
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In diesem Lied steht die Ich-Figur im Mittelpunkt, die sich wegen der Unerreichbarkeit der Minne schrecklich fühlt (Strophen 1–2). Mit vielen Anspielungen auf den schwer geprüften Hiob aus dem gleichnamigen biblischen Buch klagt die Ich-Figur die Minne heftig an: Trotz ihres völligen Einsatzes erfährt sie nur Zurückweisung (Strophen 3–8). Nur durch Treue der treulosen Minne gegenüber wird sie aufrecht gehalten. In den letzten Strophen gibt die Ich-Figur ihre Anklage auf und erklärt erneut ihre Hingabe an die unergründliche Allmacht der Minne (Strophe 10). 1–2 Die Tiere mögen zwar im dunklen Winter leiden, aber ihr Schmerz ist mit dem der tapferen Minnenden (herten [„Herzen“], V. 3) nicht vergleichbar. Diese letzten sind sich ihrer hohen Bestimmung bewusst. Sie leben ausschließlich für die Minne, obwohl sie für sie unerreichbar bleibt (V. 4–5). Die
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Die Jahreszeit ist dunkel und kalt. Darüber sind Vögel und Tiere traurig. Ganz anders leiden die Herzen, die sich selbst als stolz kennen und für die Minne außer Reichweite bleiben wird. Wer auch emporsteigt, ich bleibe im Tal, ohne Unterstützung eines reichen Trostes, immer mit schweren Lasten beladen.
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Die Last, die nicht endet, ist mir allzu schwer, wie groß die Not auch ist. Wie könnte ein Herz das dort ertragen, das so viele Tode erleiden muss, wie sie derjenige schmeckt, der weiß, dass er nie von Minne geminnt werden wird und dass ihm alles verweigert wird – wen auch immer sie sonst empfängt: Hilfe und Trost und Unterstützung?
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Wenn Minne mich nicht als Minne empfangen möchte, warum wurde ich dann jemals geboren? Wenn ich für Minne so hoffnungslos bin, bin ich ohne Zweifel verloren. Dann kann ich immer weiter klagen, ab jetzt mein ganzes Leben lang. Dann erhoffe ich überhaupt kein Glück mehr, da Minne für mich so unerreichbar bleiben wird.
Ich-Figur verkehrt in dieser Situation: Ohne die Nähe ihres himmlischen Geliebten erfährt sie ihren Verbleib im irdischen Jammertal als trostlos (V. 6–8). Wer sich, wie die Ich-Figur, von der Minne nicht geminnt fühlt und von ihr keine tröstende Berührung erwarten kann, erleidet unerträglichen Schmerz (Strophe 2). 3–6 In den folgenden Strophen identifiziert sich die Ich-Figur mit dem schwer geprüften Hiob. Ihr Leben ist sinnlos, wenn die Minne ihr nicht begegnen will, und ohne Hoffnung auf eine Begegnung ist sie zu endlosem Klagen verdammt (V. 17–22; Hiob 10,1 „Ich kann nur klagen und in Verbitterung sprechen“). Und sie erfährt ihre Tage daher als dunkle Nächte (V. 32; Hiob 5,14 „Bei helllichtem Tag stoßen sie auf Dunkelheit“). Sie fleht ihre Geliebte um Gnade an, aber die Minne negiert sie völlig (Strophe 5; Hiob 5,1: „Rufe nur und sieh, ob jemand antwortet“).
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Ic toende minnen mine pine. Ic bat hare dat siere hadde genade. Si dede met ghelate in scine dat sijs en hadde wille noch stade. Wat mi gesciet, dats haer al een. Hoe si mi ye in onsten sceen, hebben mi hare vremde kere ontgheven. Dies moetic nachte bi dage leven. Waerhenen es minne? In vender niet. Minne hevet mi alle minne ontseget. Waer mi dat ye bi minnen ghesciet dat ic ene ure hadde ghelevet in hare hulde, hoe soet mi staet, so sochtic aen hare trouwe afflaet. Nu moetic swighen, doeghen ende duren scarp ordeel met nuwen uren. Die vonnessen doen mi bederven, dat minne mi dus ontbliven moet. Al woudic omme hare hulde werven, daertoe ne hebbic gheluc no spoet. Mestroest hevet mi so wederstaen, ic en can confoert engheen ontfaen die miere herten ontkeren mach dien onghehoorden wederslach.
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Sie sucht die Minne überall, findet sie aber nirgendwo (Strophe 5, V. 33; Hiob 23,8–9: „Aber gehe ich ostwärts, er ist nicht dort, westwärts, er ist nicht dort; arbeitet er im Norden, niemand ist zu entdecken; kehrt er in den Süden, er bleibt unauffindbar“). Auch die juristische Terminologie, die in diesem Abschnitt eine wichtige Rolle spielt (Hiob 23,1–17), hat in diesem Lied Bedeutung: Die Ich-Figur erhält solche harten Urteile (V. 40 und 41), dass sie verzweifelt (Strophe 6).
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Ich zeigte Minne meinen Schmerz. Ich bat sie, Gnade zu gewähren. Sie zeigte mir durch ihr Verhalten, dass sie dafür weder den Willen noch die Zeit hatte. Was mir geschieht, ist ihr ganz gleichgültig. Den Gedanken, dass sie mir jemals günstig gesonnen erschien, haben mir ihre fremden Launen ausgetrieben. Darum muss ich meine Tage als Nächte erleben.
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Wo ist Minne hin? Ich finde sie nicht. Minne hat mir alle Minne verweigert. Wäre es mir durch Minne jemals passiert, dass ich einen Moment in ihrer Huld gelebt hätte, dann hätte ich in ihrer Treue Trost suchen können, wie es auch um mich steht. Jetzt muss ich schweigen und scharfe Urteile erdulden und ertragen, immer wieder aufs Neue.
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Die Urteilssprüche, dass Minne unerreichbar für mich bleiben muss, stürzen mich ins Verderben. Auch wenn ich mich einsetzen würde, ihre Huld zu erwerben, hätte ich dazu weder Glück noch Erfolg. Verzweiflung hat mir so zugesetzt, dass ich nicht in der Lage bin, Trost zu empfangen, der mein Herz von dem schrecklichen Unglück befreien könnte.
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Minne, ghi waert daer te rade daer mi God mensche wesen hiet. Ghi meynet mi in onghenaden. Si al uwe scout, wat mi ghesciet. Ic waende van minnen geminnet sijn! Ic ben ontseget, dats mi in scijn. Mijn toeverlaet, mijn hoge waen es mi te rouwen al vergaen. Soe suete nature alse minne sij, waer mach sij nemen vremden nijt, dien si alle uren sticht op mi ende mier herten gront met stoerme doresnijt? Ic dole in deemsterheit sonder claer, buten vrien troeste, in vremden vaer. Ghevet, minne, den edelen fieren minne ende voldoet in mi al uwe beghinne. Minne hevet mi rechte loos ghedaen. Ane wien sal ic nu sueken raet? Dats ane trouwen, wilt si mi ontfaen, dat si mi omme hare hoghe daet vore minne gheleide, dat ic haer mochte mi al upgheven, ochte sijs iet rochte. Inne bidde hare troeste noch rade enghene, dan si mi hare bekinne allene.
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7–8 Genau wie Hiob sich direkt an Gott richtet, spricht die Ich-Figur während ihres „Prozesses“ die Minne direkt an (Strophe 7). Sie überträgt der Minne die ganze Verantwortung für ihr Leiden. Zusammen mit Gott hat diese ihr aufgetragen, Mensch zu sein (V. 50–51), und sie hat daher gewollt, dass sie in Ungnade lebt (V. 52). Aus dem Kontext ist nicht sofort ersichtlich, worauf sich der „Auftrag, Mensch zu sein“ bezieht. Die Aussage erinnert an einen Abschnitt aus der ersten Vision Hadewijchs. Christus richtet sich in einem langen Monolog an die Visionärin, in dem er ihre Defizite darlegt. Hadewijch erhält unter anderem den Auftrag, nicht nur eine Einheit mit Christus als Gott, sondern auch in seinem Menschsein anzustreben: „Darüber hinaus gebe ich dir“, sprach er, „ein neues Gebot: Wenn du mir in meinem Menschsein genauso gleich sein willst, wie du verlangst, die ganze Gottheit mit mir im Genießen zu teilen, dann musst du danach verlangen, der ärmste, elendste und verachtetste von allen Menschen zu sein.“ (Vision 1, Z. 289–306; siehe Hofmann, S. 61). Später fasst Christus die Botschaft noch einmal kurz zusammen: „Da du nun einmal ein Mensch bist, so lebe im Elend wie ein Mensch“ (Z. 349–350). Vor diesem Hintergrund kann die siebte Strophe wie folgt gelesen werden: Durch ihre Wahl für ein Leben im Dienst der Minne (in der Nachfolge Christi) ging die Ich-Figur davon aus, Gott vollkommen begegnen zu können, aber die Einheit wurde ihr verweigert.
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Minne, du warst bei der Beratung anwesend, als Gott mir befahl, Mensch zu sein. Du wolltest, dass ich in Ungnade lebe. Es ist alles deine Schuld, was mir geschieht. Ich dachte, von Minne geminnt zu werden! Ich werde abgewiesen, das ist mir deutlich. Meine Hoffnung, meine hohe Erwartung ist mir ganz in Schmerz vergangen.
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So süß, wie Minne eigentlich ist, woher nimmt sie doch diesen fremden Hass, den sie ständig gegen mich richtet und mit dem sie in einem Sturmlauf den Grund meines Herzens durchbohrt? Ich irre in Dunkelheit ohne Licht, weit entfernt von freiem Trost, in fremder Angst. Gib, Minne, dem edlen, tapferen Minnenden Minne und vollende in mir, was du begonnen hast.
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Minne hat mir wirklich Böses zugefügt. Bei wem kann ich nun Unterstützung finden? Bei Treue, wenn sie mich empfangen möchte. damit sie mich, mit ihren hohen Taten zur Minne führt, sodass ich mich ihr ganz hingeben kann, wenn sie wenigstens darauf Wert legt. Ich bitte sie um keinen anderen Trost oder Rat, außer dass sie mich als die ihrige anerkennt.
Der Grund für diese störrische Haltung der Minne ist ihr unbekannt (Strophe 8). Die Ich-Figur bittet die Minne, sich doch hinzugeben und die Einheit stattfinden zu lassen, damit sie beenden kann, womit Minne begann (V. 64). Hadewijch deutet mit diesen letzten Worten vermutlich ihren eigenen Weg spiritueller Vervollkommnung an. Und vielleicht verweist sie gleichzeitig auf Gottes kosmischen Heilsplan, der am Ende der Zeiten die Erfüllung des Irdischen und die Aufnahme des Irdischen in die himmlische Herrlichkeit vorsieht. Dieser Plan fing mit dem von Minne verursachten, erlösenden Kreuzestod Christi an, wodurch der Mensch die Möglichkeit erhielt, seine Seele zu gottähnlicher Vollkommenheit umzuformen. Die Vollkommenen, die diese Umformung während ihres Lebens realisieren, werden bei ihrem Tod in den verherrlichten Christus aufgenommen und tragen so dazu bei, „das zu beenden, womit Minne anfing“. 9–10 Die Ich-Figur kann nicht bei Minne um Einheit bitten: Diese hat sie ja betrogen (V. 65). Obwohl alle Handschriften hier rechte loes ghedaen („wirklich Böses zugefügt“) aufweisen, ist es nicht ausgeschlossen, dass eigentlich rechteloos als ein Wort gemeint war, in der Bedeutung „außerhalb des Rechts“. Dann würde V. 65 bedeuten, dass die Ich-Figur ihre Angelegenheit nirgendwo mehr vor-
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Ay, minne, doet al uwe ghenoeghe. Uwe recht dat es mijn naeste troest. Ic wille met al mi daertoe voeghen, het si ghevanghen ochte verloost. Uwen liefste wille willic vore al gestaen, in quale, in doed, in mesval. Ghevet, minne, dattic u minne bekinne. Dats rijcheit boven alle ghewinne.
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bringen kann. Die einzige Hoffnung, die sie in dieser Situation hat, ist die personifizierte Treue, die Tugend, die ihr die Kraft gibt, der untreuen Minne treu zu bleiben. Mit Treue als Verbündeter muss die Ich-Figur früher oder später zu Minne gelangen. Und dann wird sie sich ihr völlig hingeben. Sie erwartet in dieser Hinsicht keinen Trost von der Minne, sondern nur die Anerkennung, dass sie zu denjenigen gehört, die zur Minne auserkoren sind (V. 71–72). In der letzten Strophe gibt die Ich-Figur ihre harte Klage gegen die Minne auf. Sie erkennt ihre Allmacht („mach alles, was du möchtest“ [V. 73]; „Er tut, was er will“ [Hiob 23,13]) und gibt sich ihren unergründlichen Gesetzen völlig hin. Sie akzeptiert das Leiden, das das nach sich zieht. Und sie bittet darum, die Minne vollkommen, in allen ihren Dimensionen, kennenlernen zu dürfen.
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Ach Minne, mach alles, was du möchtest. Dein Gesetz ist mein wichtigster Trost. Ich möchte mich mit allem danach fügen, sei es als Gefangene oder als Erlöste. Deinen liebsten Willen möchte ich vor allem vollbringen, im Elend, im Tod, im Unglück. Gib, Minne, dass ich dich als Minne kennenlernen darf. Das ist Reichtum über allem Gewinn.
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Hoe dat jaer hevet sinen tijt, die minnare sijt, houdet soe uwen vlijt dat u sake ne si te inghe noch te wijt, maer al ghemate, wat minne met u doe ochte late, wedert si scade soe bate, want dat sijn ghelate daer minne omme benedijt uwe zate in de minne. Dien minne ye ure benedide, si als te tide droeve ende blide, ende emmer ane der minnen side, ende hi sij altoos ghereet daer hi der minnen wille weet, in lichte, in wreet, in lief, in leet: dat welde wide hi ommeveet in die minne.
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Dieses Lied ist mit 148 Versen das längste und mit seiner bizarren Metrik das unregelmäßigste der ganzen Sammlung. Es hat darüber hinaus einen Refrain, der wie ein Mantra wiederholt, wohin der Minnende gehört: in die minne. Die zahlreichen Wiederholungen und Polyptota mit dem Wort minne verstärken diese Wirkung. Der größte Teil des Liedes besteht aus didaktischen Strophen, in denen das vorbildliche Minneleben geschildert wird (Strophen 2–5, 7, 9–10), abgewechselt mit einigen Strophen, in denen der Rezipient direkt aufgerufen wird, sich der Minne hinzugeben (Strophen 1 und 6), oder dessen mangelnder Einsatz in der Minne getadelt wird (Strophe 8). In der elften Strophe kommt dann die Frage auf, wo Minne ist, wenn sie nicht durch denjenigen, der wegen ihr so große Schmerzen aushält, erfahren wird. In der zwölften Strophe stellt sich heraus, dass das auch die Situation ist, in der sich die Ich-Figur befindet. Das Lied endet mit einem Gebet, dass Gott den Minnenden helfen möge (Strophe 13), und mit dem feierlichen Versprechen, dass Minne ihnen vollkommene Erfüllung zuteil kommen lassen wird (Reprise).
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Welche Jahreszeit es auch sein mag, ihr, die ihr Minnende seid, setzt euch so ein, dass euch die Dinge nicht zu klein und nicht zu groß sind, sondern passend, was auch immer Minne mit euch mache oder unterlasse, ob es schädlich oder nützlich ist, weil das eine Haltung ist, aufgrund derer Minne eure Stätten in der Minne segnet.
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Wen Minne jemals segnete, sei zur richtigen Zeit traurig und froh und immer an der Seite der Minne und sei immer zu dem bereit, von dem er weiß, dass es der Wille der Minne ist, im Guten, im Bösen, in Liebe, im Leid: Die wilde Weite umarmt er in der Minne.
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1 Der Natureingang (V. 1) ist hier ganz in der Minnebotschaft verwurzelt, ein Aufruf an alle Minnenden, sich ganz der Minne hinzugeben, was auch geschehen möge. Dann wird die Minne ihren Segen schenken. 2–6 In den didaktischen Strophen (2–5) wird die Einstellung des wahren Minnenden beschrieben: Er weicht nicht von der Seite der Minne und ist unter allen Umständen bereit, ihren Willen auszuführen. Es ist auffällig, dass Hadewijch in diesen Strophen die Dimensionen Weite (V. 20, 23, 29), Höhe (V. 29, 37, 40) und Tiefe (V. 46) verwendet. Der vollkommene Minnedienst wird mit der Metapher des Umarmens der welde wide („wilde Weite“, V. 20) in der Minne wiedergegeben. Diese Reise durch die welde wide ist zugleich eine Reise zu dem höchsten Saal (V. 29), in dem Minne ihre Geheimnisse preisgibt (Strophe 3). Voller Vertrauen erhebt sich der Minnende über allem, was Minne nicht ist, um die „Urteile“ zu lesen, die Minne über ihn gefällt hat (Strophe 4). Die Urteile nimmt der Minnende dann im Tiefsten seiner selbst auf (Strophe 5). Die vierte und vor allem die fünfte Strophe scheinen von dem Traktat De natura et dignitate amoris („Über die Natur und die Würde der Liebe“, Hrsg. Verdeyen 2003, Z. 452–629) des Wilhelm von
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Die de wijdde van minnen wilt ommevaen, hi sal minne verstaen: hare comen, hare gaen, hoe minne minne met minne sal ontfaen, met altemale. So ne hevet die minne vore hem ghene hale, si ne toene hare wijdde, haere hoechste zale, – wet alle wale – die hevet voldaen met sier quale in de minne. Dien minne sine quale sal ghenesen, sal minnen wesen na hare ghetesen, met toeverlate boven al verresen na minne fine. Hi doget al leet wel sonder pine omme hoegher minne ghenoech te sine. Hi doet in scine dat hi sal lesen al die vonnessen sine in de minne. Vonnesse van minne gheet diepe binnen met inneghen sinne. Die en mach gheen neder herte bekinnen, die vore minnen yet spaert. Maer die fierlike dorevaert al der minnen aerd, daer minne met minnen minne anestaert, omme sijn verwinnen blijft hi verclaert in die minne.
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St. Thierry inspiriert worden zu sein. Hadewijch hat einen Teil dieses Abschnitts in ihrem 18. Brief bearbeitet. Wenn wir die fünfte Strophe des Liedes neben Wilhelms Text legen, fällt auf, wie stark der lateinische Text, den sie vermutlich auswendig kannte, hier auf den lyrischen kreativen Prozess eingewirkt hat. So bringt Wilhelm die Urteile, welche die Seele im Antlitz Gottes liest, am Ende einer Darstellung zur Sprache, in der er ausführlich auf die fünf sensus spiritualis oder die Sinnesorgane der Seele eingeht (vgl. met inneghen sinne [„der inneren Sinne“], V. 47). In demselben Abschnitt sagt
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Wer die Weite der Minne umarmen möchte, wird Minne verstehen: Ihr Kommen, ihr Gehen, wie Minne Minne mit Minne empfangen wird, ganz und gar. So hat die Minne für ihn kein Geheimnis, sie zeigt ihre Weite, ihren höchsten Thronsaal – vernehmt es alle gut – demjenigen, der mit seinem Leiden in der Minne genügt hat.
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Wen Minne von dem Leiden heilen soll, der muss für Minne da sein, so wie es ihr gut gefällt, und mit Vertrauen über alles hinweg bis zur feinen Minne emporsteigen. Er erduldet alles Leid ohne Schmerz, um hoher Minne zu genügen. Er zeigt in der Tat, dass er alle Urteile über sich in der Minne lesen wird.
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Das Urteil der Minne dringt entlang der inneren Sinne tief ein. Dies kann ein niederes Herz, das der Minne etwas vorenthält, nicht erkennen. Wer aber tapfer das Gebiet der Minne durchreist, dort, wo Minne mit Minne Minne anstarrt, wird durch seinen Sieg in der Minne erleuchtet bleiben.
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Wilhelm, dass die Seele fortwährend in das Antlitz Gottes „starrt“ (anestaert, vgl. V. 52). Mit anderen Worten: Der Minnende, der ganz und gar Minne geworden ist, richtet sich mit all seinen Kräften auf Gott, der Minne ist, und kehrt sich von allem ab, was nicht Gott ist. In diesem Zustand, so schreibt Wilhelm noch, stirbt der Körper des Minnenden ab, aber seine Seele wird lebendig und stärker: „Mutig, standfest und klug reist sie entlang all ihrer (der der Minne) Wege
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Ay, creature ende edele figure, doeget avonture. Aneziet uwe recht ende uwe nature, die emmer minnen moet, ende mint der minnen beste goet. Omme hare te ghebrukene doet scoen ghemoet, soe hebdi spoet. En spaerd ghene ure, eer ghi voldoet in die minne. Die minnen raet na minne verstaet, ende bi minnen anevaet omme minne meneghe rike daet al sonder keer, men sijn dan minne es hen groot seer. Dies toent hen minne hare rike gheleer nuwe emmermeer: sonder verlaet blivet hi gheheer in die minne.
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und Pfade.“ Es liegt auf der Hand anzunehmen, dass die Verse Maer die fierlike dorevaert al der minnen aerd („Wer aber tapfer das Gebiet der Minne durchreist“, V. 50–51) von diesem Satz inspiriert wurden. Mit dem Motiv der mutigen Reise durch das Gebiet der Minne artikuliert Hadewijch das ihr so vertraute Thema der ritterlichen Âventiure (verwinnen, V. 53), das sie in der nächsten Strophe weiterführt: avonture (V. 58), scoen ghemoet doen („mutig angreifen“, V. 62). In dieser sechsten Strophe wendet die IchFigur sich direkt an die Mitglieder des Kreises, die daran erinnert werden, dass sie von Natur aus dafür vorbestimmt sind, zu minnen, und dass sie zu dieser hohen Aufgabe auch berechtigt sind (v. 59–60).
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Ach, Kreatur und edle Gestalt, ertrage das Abenteuer. Betrachte dein Recht und deine Natur, die immer minnen muss, und minne das beste Gut der Minne. Um sie zu genießen, greife sie mutig an, dann hast du Erfolg. Schiebe es keinen Moment auf, bis du in der Minne den Anforderungen genügst.
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Wer den Rat der Minne, der Minne entsprechend, versteht und durch die Minne wegen der Minne viele große Taten ohne Umkehr vollbringt, weniger als Minne zu sein, für ihn ist es ein großer Schmerz. Darum zeigt Minne ihm ihre große Lehre immer aufs Neue: Ohne Unterlass bleibt er in der Minne ausgezeichnet.
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7–8 In der siebten Strophe wird erneut der vorbildliche Minnende präsentiert, der in Übereinstimmung mit dem Rat (raet, vgl. hier oben vonnesse [„Urteil“]) der Minne mächtige, ritterliche Taten vollbringt und nicht akzeptieren kann, dass er im Minnedienst versagt. Minne zeigt ihm ja, dass sie immer neu und unerschöpflich ist (V. 73–74). Gerade auf diesem nie endenden Streben basiert das Ansehen des wahren Minnenden in der Minne (V. 75–77). Gegenüber diesem unerschrockenen Minnenden stehen die Zweifelnden, die schon früher (neder herte [„niederes Herz“], V. 48–49) kurz zur
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Maer die van minne raet ontseget, daer trouwe in leget, ende dien pine verweghet, ic gelove dat u noch treghet ende om niet. Want ghi nie ne daedt dat minne riet, ende minne met minne u minne onthiet, ende ghij dat vliet, so blivet ontweghet des die minne versiet in de minne. Dien minne versiet met wat dat si, leve alsoe vri altoes daerbi alse: ‚Ic al minnen ende minne al mi.‘ Fier ende stout maent hi al minnen minne voer scout. Dies gevet si rijcheit menechfout. Si es heme alles hout. Allene hi hevet volle ghewout in de minne.
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Sprache kamen, die jedoch hier von der Ich-Figur direkt angesprochen und zurechtgewiesen werden (Strophe 8). Weil sie den Rat der Minne nicht befolgen und vor der Anstrengung zurückschrecken, werden die Gaben der Minne außerhalb ihrer Reichweite bleiben (V. 83–88).
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Ihr aber, die ihr den Rat der Minne, der Treue beinhaltet, abschlagt und den Schmerz niederdrückt, euch, so glaube ich, wird es noch unnötig verdrießen. Weil ihr noch nie das gemacht habt, wozu Minne riet, und Minne euch Minne mit Minne anbot und ihr davor geflohen seid, darum bleibt verborgen, was die Minne in der Minne schenkt.
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Wer von der Minne etwas bekommt, was es auch sei, der lebe damit beständig so frei wie: „Ich ganz der Minne und Minne ganz mir.“ Tapfer und mutig fordert er als Schuld alle Minne der Minne ein. Darum gibt sie großen Reichtum. Sie ist ihm in jeder Hinsicht gewogen. Nur er hat die ganze Macht in der Minne.
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9–10 Nach der Ermahnung der Zweifelnden in der achten Strophe wird in den beiden folgenden Strophen das vollkommene Leben in der Minne beschrieben. In dem vollkommenen Minneleben ist es nebensächlich, ob die Minne Freude oder Leid schenkt (V. 89), weil der wahre Minnende alles „frei“,
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Lied 36
Die minne es bi haer selven goet. Wat si hem doet, si maectene vroet. Hoe minne maect minnen hoeghen moet, doet si hem weten, soe dat hijs meer en mach vergheten. Soe heeftene minne met minnen beseten. Wats hem geweten? Bi der minnen woet wert hi al gheten in de minne. Ay, waer es minne dan, alse mense ne can vinden, selc man die toeset al dat hi ye ghewan, ende nochtan minnen niet en vent, dattene de minne in wee so went ende hem minne minne sent ende dat hire niet ne kent? Maer dien sijs wel an, hi hevet saen ghehent in die minne.
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was unbekümmert bedeutet, in vollkommener Hingabe an die Minne annimmt. Einem solchen Minnenden wird der Vers des Hoheliedes (6,2) „Ich meinem Geliebten und mein Geliebter mir“ wie ein Auftrag in den Mund gelegt. Weil der vollkommene Minnende nicht aufhört, die Minne ganz einzufordern, gibt sie ihm Reichtum im Überfluss: Ihre Geschenke machen ihn klug und schenken ihm den Mut, den Minnedienst nie aufzugeben und sich ganz von der Minne verschlingen zu lassen.
Lied 36
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Die Minne ist aus sich selbst heraus gut. Was sie ihm auch zufügt, sie macht ihn klug. Sie lehrt ihn, wie Minne der Minne hohen Mut verleiht, sodass er es nie mehr vergessen kann. So hat Minne ihn mit Minne in Besitz genommen. Was steht ihm bevor? Durch Minnewut wird er ganz in der Minne vertilgt.
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Ach, wo ist Minne denn, wenn derjenige sie nicht finden kann, der alles einsetzt, was er je bekam und dennoch Minne nicht findet, so dass Minne ihn im Leid so durcheinanderbringt während Minne ihm doch Minne schickt, obwohl er sie nicht erfährt? Aber wem sie es doch gönnt, der kommt in der Minne schnell an.
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11–12 In diesen beiden folgenden Strophen schildert die Ich-Figur die Situation desjenigen, der alles, was er hat, für die Minne einsetzt und sie dennoch nicht zu finden scheint. In der elften Strophe wird gesagt, dass Minne dem Minnenden in der Tat Minne schenkt, dass dieser aber die Anwesenheit der Minne nicht fühlt, nicht spürt (V. 111–118). Dahingegen gönnt die souveräne Minne einem anderen diese Erfahrung wohl, ohne dass er darauf viel Mühe verwenden müsste (V. 119–121). In der folgenden Strophe gibt die Ich-Figur an, dass sie sich in genau derselben Situation wie der Minnende befindet,
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Lied 36
Minne es aldaer, ghinder, in weet waer, vri, sonder vaer. Dat mi minne niet en es oppenbaer, dat doet mi anghe, ende noch meer hem wee die vaste anghen ane minne in overswaren bedwanghe. Maer dat en duerde niet langhe, ghave minne al claer hare ommevanghen in de minne. Nu moete God deghene beraden, die gherne voldaden na der minnen gaden ende die diepe woestine willen dorwaden na der minnen lant, daert dicken ten sorghen hem es bewant, ende alles der minnen gaen in hant, in sware bant. Dus houtse minne verladen in staden brant in die minne. Dats minnen pant: daer minne met minnen trouwe in vant ende alle pine omme minne verslant, suete ende onghehant, die volle zaden werden hem becant in die minne.
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dessen Sehnsucht nie zu einem Stillstand kommt: Die Minne ist souverän (vri, V. 124), sie ist überall, aber für die Ich-Figur bleibt sie verborgen. Diese Situation fügt ihr und denjenigen, die sich in einer vergleichbaren Situation befinden, große Angst zu. Aber die Angst wird schnell vorübergehen, wenn die Minne sich mit ihrer Umarmung dem Minnenden zu erkennen gibt.
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Minne ist da, dort, ich weiß nicht, wo, frei, ohne Angst. Dass Minne für mich nicht sichtbar ist, flößt mir Angst ein, und noch mehr denjenigen, die mit der Minne in übermäßig schwerer Not fest verbunden sind. Aber das würde nicht lange dauern, wenn Minne ganz deutlich ihr Umarmen in der Minne zeigen würde.
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Jetzt möge Gott diejenigen beraten, die gerne den Willen der Minne erfüllen und durch die tiefe Wildnis in das Land der Minne wandern möchten, wo ihnen oft Kummer bereitet wird und sie sich ganz der Minne unterwerfen, in schweren Ketten. So hält Minne sie niederdrückt in einem fortwährenden Feuer in der Minne.
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Das ist das Pfand der Minne: Derjenige, in dem Minne mit Minne Treue fand und der, der alle Schmerzen wegen der Minne verschlang, als seien sie süß und schmerzlos, der erfährt die vollkommene Erfüllung in der Minne.
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13 und Reprise In der letzten Strophe bittet die Ich-Figur Gott, den Minnenden zu helfen, die zu einer vollkommenen Hingabe bereit sind und ohne Unterbrechung in Feuer und Glut für sie einstehen. In der Reprise versichert sie, dass Minne diesen Minnenden vollkommene Erfüllung schenken wird.
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Lied 37
Het sal de tijt ons naken sciere dat ons de somer sine baniere set op met bloemen meneghertieren. Dies werd verblijdt de meneghe fiere.
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Want ons de daghen werden lanc ende die voglen hoghen haren zanc. Dien minne doet suete al sijn bedwanc, hi mach hare segghen lieven danc.
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Ic dancte u oec, minne, haddijs verdient, met alle, alse een uwer armer vrient. Maer sint ghi mi ierst in u joc spient, haddi ye mijn gheluc ontsient.
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Du doet goet denghenen dien ghijs ont. Mi scijnt dat ghijs ghedoghen en cont. Dies droevet mijn herte, dies claget mijn mont, dies es mine cracht wel onghesont.
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Waerdi minne, minne, alse ghi wel sijt, waer soudi nemen vremden nijt, daer ghi dengonen met doresnijt die u ghevet cussen in alre tijt?
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Ya, ghi sijt al, minne, ghi sijt so vroet. Uwe name es minne ende van prise soe goet. Hets emmer ghenoech, al dat ghi doet, wie dats blivet in den wedermoet.
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Uwe name verciert, uwe ghelaet verscoent, u ophouden verteert, uwe gheven croont. Hoe sere ghi ons hebt ghehoent, met enen cussene ghi al volloent.
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Dieses Lied ist eine Hymne an die Allmacht der Minne. Es mag zwar Minnende geben, die während des schönen Sommers Glück erfahren (Strophen 1–2), die Ich-Figur jedoch leidet unter ihrer launischen Abwesenheit (Strophen 3–10). Diese Erfahrung lehrt sie, dass der Minnende bereit sein muss, die Minne in all ihren Erscheinungsformen kennenzulernen und sowohl die schmerzhafte Einsamkeit als auch die jubilierende Einheit zu erfahren (Strophen 11–14). 1–10 Der Natureingang verteilt sich auf zwei Strophen. In der ersten Strophe schildert die Ich-Figur den Triumphzug des Sommers, der wie im Sturm das Terrain des Winters erobert. Danach wird er die
Lied 37
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Die Zeit des Jahres kommt nun schnell, in der der Sommer seine Fahne mit mancherlei Blumen aufrichtet. Dadurch freuen sich viele Tapfere.
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Denn die Tage verlängern sich für uns, und die Vögel vermehren ihren Gesang. Wem Minne all seinen Kummer lindert, kann ihr lieben Dank aussprechen.
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Ich, als einer deiner armen Freunde, würde dir auch mit allem danken, Minne, wenn du es verdient hättest. Aber seitdem du mich zuerst in dein Joch gespannt hast, hast du mir immer mein Glück verdorben.
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Du tust demjenigen, dem du es gönnst, Gutes. Mir scheinst du das nicht zuzugestehen zu können. Das betrübt mein Herz, darüber klagt mein Mund, davon ist meine Kraft sehr geschwächt.
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Minne, wärst du Minne, die du doch bist, woher solltest du fremden Groll nehmen, mit dem du denjenigen durchbohrst, der dir die ganze Zeit Küsse gibt?
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Ja, du bist alles, Minne, du bist so klug. Dein Name ist Minne und wird so hoch gelobt. Alles, was du machst, genügt immer, wer auch immer sich hierdurch im Elend befindet.
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Deine Name verziert, dein Antlitz verschönert, dein Zurückhalten verzehrt, dein Schenken krönt. Wie sehr du uns auch verhöhnt hast, mit einem Kuss bezahlst du es alles.
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Fahne in den Boden stecken, und das wird die Kampfeslust der Tapferen – und vermutlich werden hier die tapferen Minnenden gemeint sein – erhöhen. In der zweiten Strophe wird die Freude der Vögel mit der der Minnenden verglichen, denen die Minne in dieser schönen Jahreszeit keine schweren Lasten auferlegt. Die Ich-Figur gehört jedoch nicht dazu. Sie fühlt sich von der Minne im Stich gelassen und klagt darüber (Strophen 3–4; V. 15 bezieht sich möglicherweise auf Hiob 23,4: „Ich fülle meinen Mund mit Klagen“). Zuerst wirft sie der Minne ihren unbegreiflichen Groll vor: Warum hasst sie gerade den-
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Dus es minnen werc boven al ghedregen ende al met haren sterken beleghen. Hare waghe hevet alle waghe verweghen. Haer en es gheen vlien, men ga haer jeghen.
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God moete de minne benediden! Die wilt, late hem el minne vrien. In mach hare wondere noch jalosien te minen wille niet vele belien.
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Sint ghi al, minne, met minne vermoghet, ghevet mi doer minne dies minne hoeghet: te ghebrukene doer uwe hoochste doghet. Doch hebdi verteert al mine joghet.
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Minne wilt dat minne al minnen met minnen mane. Si hevet opgheset hare hoochste vane. Daerbi leert men hare werken ghedane, met claerre waerheit, sonder wane.
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Ghi, edele, keert u in minne ghestichte ende verciert u metter waerheit lichte, dat u ghene demsterheit aen en vechte, ghi ne pleget uwes lieves in minnen rechte.
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Minne wilt al minnen van edelen fieren ende datse hen met werken concordieren ende met memorien jubelieren ende met ghebrukene in hare juweren.
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jenigen, der sie mit Hingabe minnt (Strophe 5)? Aber danach preist sie die Minne für ihre Allmacht, ihre Gerechtigkeit und die erlösende Kraft ihrer Umarmung (Strophen 6–7). Man kann nie vor der Minne flüchten, und aus diesem Grund kann man nichts anderes tun als gegen sie anzugehen (Strophe 8). Das wenigstens hat die Ich-Figur aus ihrer Erfahrung der Einsamkeit gelernt; diejenigen, die größeres Entgegenkommen der Minne erfahren, kennen vielleicht einen anderen Weg, fügt sie mit merkbarer Ironie hinzu (Strophe 9). Die Ich-Figur fleht die Minne an, in der Minne genießen zu dürfen, aber ihre Erfahrung ist, dass ihre ganze jugendliche Kraft durch die Sehnsucht nach der abwesenden Minne verzehrt wird (Strophe 10).
Lied 37
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So wird das Werk der Minne über allem emporgehoben und alles wird mit ihrer Kraft belagert. Ihre Last wiegt schwerer als alle Lasten. Man kann ihr nicht entfliehen, man gehe ihr entgegen.
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Gott möge die Minne segnen! Wer möchte, lasse sich auf eine andere Weise durch Minne den Hof machen. Weder von ihren Wundern noch von ihrem Interesse zu meinen Gunsten kann ich viel erkennen.
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Da du, Minne, mit Minne alles vermagst, gib mir um der Minne willen, was Minne erfreut: wegen deiner höchsten Tugend zu genießen. Doch du hast meine ganze Jugend verzehrt.
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Minne möchte, dass Minne mit Minne die ganze Minne einfordere. Sie hat ihre höchste Fahne aufgerichtet. Dabei lernt man die Art ihrer Werke kennen, in reiner Wahrheit, ohne Zweifel.
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Ihr Edlen, kehrt in das geweihte Gebäude der Minne ein und verziert euch mit der hellen Wahrheit, dass euch keine Dunkelheit angreife, und behandelt eure Liebste nach dem Recht der Minne.
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Minne möchte von den tapferen Edlen ganze Minne und, dass sie in ihren Werken damit übereinstimmen und mit ihrer ganzen Seele jubilieren und in ihr genießend spielen.
11–14 Die letzten vier Strophen sind didaktischer Natur. Minne möchte, dass die Minnenden sich vollständig einsetzen und dass sie alle Arten und Weisen, wie die Minne wirkt, kennenlernen (Strophe 11). Die Ich-Figur ruft die tapferen Minnenden dazu auf, das ganze Gebiet der Minne zu erforschen, wobei sie sich von ihrer Wahrheit erleuchten lassen und die Gesetze der Minne in Ehre halten sollen (Strophe 12). Das Einzige, was Minne möchte, ist die völlige Hingabe der Minnenden, und das in den drei Formen, in denen man die Minne erleben kann (Strophe 13). Zum einen in der Arbeit in Einsamkeit in der Nachfolge Christi, wodurch man seine Tugenden kultiviert und sich immer mehr Christus
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Lied 37
Lof si der minnen ende ere, haerre groter cracht ende haerre rikere ghelere! Ende si moetse alle troesten van haren zere, die gherne voldoghen in minnen kere.
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annähert (V. 50). Zum anderen erlebt man die Minne, wenn man innerlich jubelt, weil man sich, in der memoria, mit dem transzendenten Gott verbunden fühlt (V. 51). Memoria ist ein terminus technicus aus der mittelalterlichen christlichen Psychologie, der sich auf eine angeborene Fähigkeit der menschlichen Seele bezieht – eigentlich des höchsten Teils der menschlichen Seele, den „Geist“ (lat. mens) –, wodurch man über die Erkenntnis verfügt, dass der wahre Ursprung des Menschen in Gott liegt. Zum dritten gibt es das gebruken, das genießende Aufgenommensein in der Liebesbeziehung
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Lob und Ehre sei der Minne, ihrer großen Kraft und ihrer reichen Lehre! Und sie möge all diejenigen, die gern die Launen der Minne ertragen, in ihrem Leid trösten.
zwischen Gott in seiner göttlichen (Gottvater) und Gott in seiner menschlichen Gestalt (dem Sohn). Diese Minne wurde im Mittelalter mit dem Heiligen Geist gleichgestellt, und die 13. Strophe stellt daher für die Ich-Figur und die angesprochenen Rezipienten, möglicherweise auch Hadewijch selbst und die Mitglieder ihres Kreises, ziemlich sicher einen Bezug zur Dreifaltigkeit her. Das Lied endet mit einem Lob auf die Allmacht der Minne und mit der Bitte, dass die Minne den tapferen Minnenden in ihrem Leiden beistehen möge.
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Lied 38
Alse ons de linten wert gheboren, soe es men scoenre tijt in waen, dat bloyen sal gars ende coren, daer de meneghe op mach vervaen. Selc hevet op toeverlaet ghedaen, dies hem bleef int herte toren. Maer die minne met minnen wilt bestaen, hi comt te sinen best te voren. Oec bloeyen in den zomer bloemen vele, daer cleine aen es belanc. Wij willen ons vele ter minnen noemen, die nie gherechte minne en dwanc. Selc maket van minnen nuwen zanc ende wilt hem gelucs van hare beroemen. Dien minne doet goet, hi weets haer danc; van hare hebbic el cleine dan doemen. Ay, nadien dat die minne ghehinget dat ic clage doemen ende herten noot, so ne hebbic voer haer gheen ghedinghe: mijn recht es cleine, haer cracht es groot. Men zeghet de zwane, alse hi de doot ghesmaken sal, dat hi dan singhet. Wat soe ye minne van mi ghebood, dat willic dat si al volbringhe.
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In der ersten Strophe benennt Hadewijch das zentrale Thema: Wer sich mit Minne der Minne hingibt, trifft die beste Wahl. Viele denken, dass sie erfahrene Minnende sind, weil sie viel Süße erfahren (Strophe 2). Gegenüber diesen Prahlern positioniert sich die Ich-Figur, der in der Minne das schrecklichste Elend widerfährt (Strophen 3–4). Das Handeln der Minne, die den einen zu begünstigen und den anderen zu quälen scheint, ist nun einmal unbegreiflich (Strophen 5–6). Aber der wahre Minnende ist bereit, sich mit ganzer Leidenschaft der Minne auszuliefern: Wer auf diese Weise mit der Minne umgeht, wohnt in ihr (Strophe 7 und Reprise). 1–2 Es ist auffällig, dass der Natureingang hier am Anfang von zwei Strophen vorkommt. Auch die Ausarbeitung ist komplizierter als gewöhnlich, da zwei Naturbilder einander gegenübergestellt werden. Der Sommer bietet Gewinn (für die Tiere) und Korn (V. 1–4), sommerliche Blumen dahingegen bieten wenig Nutzen (V. 9–10). In den Versen 5–6 wird deutlich gemacht, dass die Hoffnung auf irdische Vorteile enttäuscht werden kann; wer minnt, wählt immer das Beste (V. 7–8). Und genauso wie die
Lied 38
1
Wenn der Frühling geboren wird, denkt man schon an die schöne Zeit, wenn Gras und Korn blühen werden, worauf viele ihre Hoffnung richten. Manche haben in der Hoffnung auf Erfolg gehandelt aber ihnen blieb Enttäuschung im Herzen. Wer aber Minne mit Minne ergreifen möchte, erreicht sein Ziel am besten.
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Im Sommer blühen auch viele Blumen, von denen man wenig Nutzen hat. Wir möchten uns als erfahren in der Minne bezeichnen, wir, die wir nie von wahrer Minne bezwungen wurden. Einige dichten neuen Minnesang und rühmen sich des Glücks durch die Minne. Derjenige, dem Minne gut tut, sei ihr dankbar; ich selbst erfahre von ihr nichts anderes als Bestrafung.
3
Ach, nachdem die Minne zugestanden hat, dass ich über Bestrafung und Herzensqualen klage, kann ich nichts gegen sie vorbringen: Mein Recht ist gering, ihre Kraft ist groß. Man sagt, dass der Schwan dann singt, wenn er den Tod spürt. Was Minne auch jemals von mir verlangte, ich möchte, dass sie darauf beharrt.
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Blumen, auch wenn sie sehr zahlreich sind, wenig Nutzen bringen, neigen Minnende sehr schnell dazu, ihren Einsatz in der Minne zu hoch anzusetzen, obwohl sie nicht wissen, was wirkliches Minnen bedeutet (V. 9–12). Am Ende der zweiten Strophe stellt die Ich-Figur ihrem eigenen Leid (V. 16) die Vergnügungen, die andere in ihren Minneliedern für sich in Anspruch nehmen, gegenüber (V. 13–14). Durch die Analogie mit den unwichtigen Blumen wissen wir jedoch bereits, dass diese Vergnügungen eigentlich nichts wert sind. 3–5 Im Anschluss an den letzten Vers aus Strophe 2 bringt die Ich-Figur in diesen Strophen ihre eigene Situation zur Sprache. Gegen die Willkür der Minne kann sie nichts ausrichten; im Vergleich zu den fröhlich singenden Minnenden aus der vorherigen Strophe ist sie wie der Schwan, der singt, bevor er stirbt. Diese im Mittelalter weit verbreitete Auffassung kommt als Motiv in der Minnelyrik wohl des Öfteren vor, zum Beispiel in Lied 25 des Heinrich von Veldeke: Geschiht mir als dem swan, der dâ singet, als er sterben sal … („Wenn es mir wie dem Schwan geschieht, der dann singt, wenn
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Lied 38
Ay, minne, al houddi mi dus swaer, dat mi de tijt verswaret al, ghi gevet uwen caren openbaer uwe clare wondere sonder ghetal. Ay, dicke en wetic wat ic sal, alse ghi mi houdet soe wee in vare. Wie met u clemt, ic blive int dal. Mi gruwelt dicke hoe icke vare. Ay, minne, die doch mochte vergheten dat grote leet dat gi ons doet, ende wat ghi den meneghen hebt geweten, den enen wreet, den anderen goet. Dezelke besitti in uwe woet, dat hi van binnen al wert gheten; dieselke sijn saechte van u ghevoedt, ende sijn van u doch onbeseten. Van minnen mach men wonder spreken, haers wonders werke, wat dat si. Si toent met liste denselken hare treken, alse: ‚Ic al di ende du al mi.‘ Si comt denzelken zaen soe bi, dat sine gherijnt op thertebreken, ende selken laetse haer al vri. Dus canse ontweghen ende wederreken.
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er sterben wird,…“). In der vierten Strophe kommt die Ich-Figur, nun in direkter Rede an die Minne, auf den Gegensatz zwischen dem Leid, das Minne ihr zufügt, und den herrlichen Wundern, die Minne ihren caren („Lieblingen“) bereitet, zu sprechen; vielleicht kann man bei diesem seltenen Lehnwort auch ein wenig Sarkasmus bei Hadewijch durchschimmern sehen. Diese Feststellung bringt sie dazu, die Minne am Anfang der fünften Strophe anzuflehen, ihr unbegreifliches Handeln zu unterlassen. Am Ende der Strophe stellt sich allerdings deutlich heraus, dass
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Ach, Minne, auch wenn du mich so beschwerst, dass mir die Zeit ganz schwer wird, schenkst du deinen Lieblingen öffentlich deine prächtigen, zahllosen Wunder. Ach, oft weiß ich nicht, was ich machen soll, wenn du mich so leidend in Angst hältst. Wer auch immer mit dir hinaufsteige, ich bleibe im Tal. Mir graut es oft, wie es mir ergeht.
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Ach, Minne, könntest du doch das große Leid, das du uns antust und das du vielen zugefügt hast, dem einen das Böse, dem anderen das Gute, weglassen. Manchen hast du in deiner Wut in Besitz genommen, sodass er von innen ganz zerfressen wird; manche werden von dir sanft genährt und sind doch nicht in deiner Macht.
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Von Minne kann man über ihre wunderbaren Werke, welche das auch sind, wunderbare Sachen erzählen. Sie spielt bei manchem listig ihre Kunstgriffe vor, wie: „Ich bin ganz dein und du bist ganz mein.“ Sie kommt einem anderen schnell so nahe, dass sie ihn berührt, bis beinahe sein Herz bricht, einen anderen lässt sie ganz frei. So kann sie jemanden vom Weg abbringen und wieder dort hinführen.
derjenige, der von Minneleidenschaft verzehrt wird, ein höheres Minnestadium erreicht hat als derjenige, der auf eine sanftmütige Weise verwöhnt wird. 6 Diese wundersame und für den Menschen unbegreifliche Handlungsweise der Minne bildet auch das zentrale Thema der didaktischen sechsten Strophe. Das vielversprechende und interessante Angebot der vollkommenen Einheit durch die Minne (mit einem aus dem Hohelied 2,16, oder auch aus Ovids Heroides 16,180, entlehnten Zitat in V. 44) erweist sich als Betrug. Diejenigen, denen sich die Minne am meisten nähert und die also am meisten mit ihr vereinigt sind, erfahren durch ihre Berührung den größten Schmerz (V. 45–46). Andere lässt sie „frei“ und belästigt sie nicht mit ihren hohen Forderungen (V. 47).
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Lied 38
Te niete werden al in minne, dat es dat beste dattic weet van al den werken die ic kinne, al wetict mi wel onghereet. Ende die de minne met niede dan besteet, al sonder herte ende sonder sinne, ende minne dan niet met niede versleet: dats cracht daer men bi minne ghewinne. Voertane meer wien lief, wien leet: die de minne met niede can ontghinnen, si ne can verweren die stoerme heet, hi ne wone ghelijc met haer daerbinnen.
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7 und Reprise In der Schlussstrophe und in der Reprise werden aus dem Vorherigen die Schlussfolgerungen gezogen. Das Einzige, was zählt, ist „zu einem Nichts werden in der Minne“, sich durch sie ganz besitzen zu lassen (V. 49–51). Diese Vernichtung kommt durch das unaufhaltsame Verlangen nach vollkommener Minne zustande, wogegen die Minne kein Mittel kennt. Ein Wortspiel mit den
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In Minne völlig zu einem Nichts zu werden, das ist meines Wissens das Beste von all den Tätigkeiten, die ich kenne, auch wenn ich weiß, dass es für mich unerreichbar ist. Und wenn man dann die Minne mit Leidenschaft angreift, sodass man Herz und Verstand verliert, und Minne dann Leidenschaft mit Leidenschaft besiegt: Das ist die Kraft, mit der man Minne erringt.
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Sei es fortan mehr Lieb oder Leid, die Minne kann die heißen Stürme desjenigen, der sie mit Leidenschaft angreift, nicht abwehren, ohne dass er mit ihr zusammen darin wohnt.
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Homonymen niet („nichts“, V. 49) und niet / niede („Kampfesmut, Leidenschaft, Eifer“, V. 53, 55, 58) betont diese Botschaft wie eine Apotheose. Wie öfter bei Hadewijch wird auch hier das Verlangen mit der Terminologie des Kampfes, mit dem man die Minne besiegt, indem man sich durch sie besiegen lässt (V. 55), ausgedrückt (V. 56, 59).
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Lied 39
Almeest sijn alle creaturen bedwongen van den wintere cout. Vele meer die mint, es bi naturen bedwonghen in minnen ghewout. Die van sinne ware fier ende stout ende al woude avonturen, dat suete metten zueren, maende minne vore scout: hi soude minne al met minnen berueren. Wie mach der minnen rueren prisen? Diet wel versteet, hi gevet haer prijs. Denselken gevet si al aes van sisen, selcken maecse van aes al sijs. Si maect den ongheleerden wijs ende si ontwijst den wisen. Si doet den nederen risen alse: ‚Dit es mijn zuete amijs‘, ende voetene met haerre spisen. Der minnen zeden en can bekinnen engheen man die nie was soe vroet. Si wondet denghenen dat herte binnen die nie na minnen bant en stoet. Die gherne bi minnen levede behoet, dien bringet si al uten sinnen. Ende die gherne al minnen gebrukede, hout si sonder spoet, soedat hise waer en weet ontghinnen.
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Genau wie in Lied 38 ist das zentrale Thema in diesem Lied die unbegreifliche und hartherzige Handlungsweise der Minne gegenüber den Minnenden im Allgemeinen (Strophen 1–4) und der Ich-Figur im Besonderen (Strophe 5). Trotz dieser schmerzhaften Erfahrungen gibt sich die Ich-Figur der Minne hin (Strophen 6 und 8–10). Sie versichert den anderen Minnenden, dass Minne ihnen, wenn sie geduldig sind, Freude schenken wird (Strophe 7) und rät jugendlichen Minnenden, nicht vor der Minne zu fliehen (Reprise). 1 Am Anfang dieser Strophe wird die Macht des Winters über die lebenden Wesen mit der der Minne über die Minnenden verglichen, allerdings ist ihre Macht noch größer. Dieser Vergleich wird formal durch die Parallele zwischen den ersten beiden Verspaaren, bei denen das Wort bedwong(h)en („unterdrückt“) jeweils am Anfang des zweiten Verses steht, verstärkt. Aber die Minne ist nicht unnah-
Lied 39
1
Beinahe alle Geschöpfe werden von dem kalten Winter unterdrückt. Noch viel mehr wird derjenige, der minnt, von Natur aus durch die Gewalt der Minne unterdrückt. Wer von seinem Gemüt her tapfer und kampfstark wäre und alles wagen würde, das Süße und das Saure, würde Minne als Schuld einfordern: Er würde Minne ganz und gar mit Minne berühren.
2
Wer kann die Berührung durch die Minne loben? Wer es gut versteht, zollt ihr das Lob. Manchen teilt sie immer ein Ass statt einer Sechs aus, für andere macht sie aus einem Ass eine Sechs. Sie macht den Unwissenden klug und lässt den Klugen verdummen. Sie lässt den Niederen emporsteigen mit: „Dies ist mein süßer Geliebter“, und ernährt ihn mit ihren Speisen.
3
Die Gewohnheiten der Minne kann kein Mensch begreifen, wie klug er auch sei. Sie verwundet denjenigen mitten im Herzen, der nie das Band der Minne suchte. Wer gern von Minne behütet lebte, den bringt sie ganz von Sinnen. Und wer gerne Minne vollständig genießen möchte, dem enthält sie jeden Erfolg vor, sodass er nicht weiß, wie er sie angreifen soll.
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bar: Kampfeslustige Minnende, die bereit sind, alles aufs Spiel zu setzen, sind wegen ihrer Minne in der Lage, die Minne zu berühren. Auf diese Weise werden die zwei nahe miteinander verwandten Themen angesprochen: die Macht der Minne und die Kampfbereitschaft des Minnenden. 2–4 In diesen Strophen wird die Macht der Minne mittels einer Reihe von Paradoxa, die zugleich ihre Unnahbarkeit und Unbegreiflichkeit zum Ausdruck bringen, beschrieben. In der zweiten Strophe wird die verwirrende Wirkung der Paradoxa verstärkt durch grammatische Reime: prisen: prijs („loben“, „Lob“), sisen: sijs („Sechs“), wijs: wissen („klug“, „die Klugen“), durch die Kombination von Chiasmus und Wortwiederholung: al aes van sisen: van aes al sijs („ein Ass statt einer Sechs“: „aus einem Ass eine Sechs“) und durch die figura etymologica (die Kombination verschiedener Wörter desselben Stammes): wijs, ontwijst, wisen.
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Lied 39
Dien dusdane minnen seden genoegen, hi griper ane ende wachte hem wel dat hem al heffene wale voeghe, wat minne hem scijnt, soe traghe, soe snel. Het waent selc minnen doer sijn spel, si es hem soe onghevoeghe. Met wat wee sine sloeghe, hi ne conste nochtan ghedoen niet el dan dies hem minne ghewoeghe. Onnere ende sware avonture hebbic gedoghet meneghen dach. Mi sijn alle die zaken suere die ic ye met oghen zach. Hoe mochtics hebben goet verdrach? Mi houdet wale wee in suere die minne, suetste boven alle nature, ende die al gheven mach. Mi gruwelt hoe ic ghedure. Ic sal die minne laten wesen van minen thalven wat si wilt. Selc waent sine vonnesse in haer lesen. Si hevet zaen sijn gheruchte verstilt ende saen al sijn ghelof onthilt, daer hi bi was verresen. Si can na hare ghetesen wel scermen onder den scilt, al en maghes nieman ghenesen.
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Die vierte Strophe klingt fast ironisch: Wer mit der unbegreiflichen und unangenehmen Handlungsweise der Minne einverstanden ist, soll die Herausforderung annehmen und sich nicht aus der Fassung bringen lassen. Denn es gibt keine andere Wahl, als das zu tun, was Minne sagt. 5–7 In diesen Strophen zeigt die Ich-Figur anhand ihres eigenen Beispiels, wie der Minnende in Minne lebt. In der fünften Strophe wird aufgezeigt, wie unbarmherzig die Minne sie behandelt, obwohl sie ihr dennoch alles geben könnte. Die Ich-Figur erleidet weltliche Schande und kann sich an nichts erfreuen, während die Minne ihr nur Leid zufügt. In der sechsten Strophe erklärt sie, dass sie sich trotz dieses Leides ganz der Willkür der Minne unterwirft (V. 46–47). Danach vergleicht sie sich selbst
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Wem solche Gewohnheiten der Minne genügen, der ergreife sie und achte darauf, dass alles ihm gleichermaßen gefällt, wie Minne ihm erscheint, sei es langsam oder schnell. Demjenigen, der meint, zum Spaß zu minnen, ist sie sehr feindlich gesinnt. Mit welchem Leid sie ihn auch treffen würde, er könnte dennoch nichts anderes machen als dasjenige, was Minne ihm aufträgt.
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Schande und schwere Abenteuer habe ich an vielen Tagen erlitten. Mir sind all die Dinge unerträglich, die ich je mit Augen betrachtete. Wie könnte ich das gut ertragen? Mir macht die Minne, die süßeste über alle Natur hinaus, und die alles geben kann, sehr schmerzhaft das Leben sauer. Mir graut davor, ob ich es aushalte.
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Von mir aus werde ich die Minne so sein lassen, wie sie sein möchte. Mancher denkt, in ihr Urteile über sich lesen zu können. Sie hat bald seine Geräusche verstummen lassen und sein ganzes Lob, an dem er sich aufgerichtet hatte, beendet. Sie kann, nach ihrem Belieben, hinter dem Schild gut kämpfen, auch wenn niemand davon geheilt werden kann.
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mit denjenigen, die denken, dass sie in der Minne erfolgreich sind und zu wissen meinen, was Minne mit ihnen vorhat: Unerwartet kann die Minne, hinter ihrem Schild plötzlich hervorkommend, angreifen und Wunden zufügen, von denen niemand geheilt werden kann (V. 48–54). In der siebten Strophe fleht die Ich-Figur um Gottes Segen für die anderen Minnenden, nicht damit Minne sie auf eine angenehme Weise behandelt, sondern damit sie ehrerbietig und geduldig sind: Irgendwann wird Minne ihre Pracht zeigen. Aber in einem ironischen Zwischensatz (V. 62) gibt sie zu, dass man dafür viel Geduld aufbringen muss.
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Hoe ic in minnen el hebbe gevaren, God geve hem goet die minnen plien ende die in haren lichten ende in haren swaren wel connen volgen ende vlien. Die beiden mach na goet ghescien ende minne nu wel can sparen, si sal hem openbaren – die beiden mach tote dien – dat minne al sal verclaren. Ic weet wel: hads die minne stade, si troeste minen droeven moet. Ende docht hare van mi yet scade, dat si mi dus verderven doet? Met groeten wee, al sonder spoet, houdet si mi buten rade. Si ne doe mi zaen ghenade ende make mi haers bat vroet, si comt mi lichte te spade. Hoe nauwe ic dole in minnen pade ende mi hare conde es al te lanc, hoe diepe ic wade in hare ghewade, ic wille hare alles weten danc. Want mi es mijn al ane hare belanc, sal ic volclemmen hare grade. Want wat soe ic eldere dade, mijn hongher bleve al swanc, si ne gave mi vol hare zade.
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Die martialische Metaphorik am Ende der sechsten Strophe (die Minne weiß gut, wie sie sich hinter einem Schild geschickt verteidigt) wird in der siebten Strophe mit dem volgen ende vlien („folgen und sich zurückziehen“, V. 58) fortgeführt: Mit dieser Begrifflichkeit wurden Manöver angedeutet, die ein Kämpfer im Mittelalter beherrschen musste.
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Wie es mir mit Minne auch ergangen sei, Gott segne diejenigen, die sich der Minne hingeben und die ihr im Leichten wie auch im Schweren gut folgen oder sich zurückziehen können. Wer warten kann, dass ihm etwas Gutes geschieht und Minne jetzt ehrfurchtsvoll behandeln kann, dem wird sie offenbaren – wenn er bis dahin warten kann – dass Minne alles erleuchten kann.
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Ich weiß wohl: Hätte die Minne Lust dazu, würde sie meine traurige Stimmung aufheitern. Geht sie bei mir von einem Mangel aus, dass sie mich so zugrunde richtet? In großem Leid, ganz ohne Glück, belässt sie mich ganz ratlos. Wenn sie mir nicht bald Gnade zukommen und sie mich sie nicht besser kennenlernen lässt, kommt sie vielleicht zu spät für mich.
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Wie ängstlich ich auch auf den Wegen der Minne umherirre und mir es zu lange dauert, sie kennenzulernen, wie tief ich auch in ihrer Tiefe wate, ich möchte ihr für alles danken. Denn ich bin ganz von ihr abhängig, wenn ich auf ihre Stufen hinaufklettern soll. Denn was immer ich sonst auch täte, mein Hunger bliebe groß, solange sie mich nicht ganz sättigt.
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8–10 und Reprise Nach der feierlichen Versicherung, dass die Minne den geduldigen Minnenden letztendlich belohnen wird, kehrt die Ich-Figur in der achten Strophe zu ihrer eigenen, traurigen Situation zurück. Diese erfüllt sie mit Ratlosigkeit: Wenn die Minne selbst offensichtlich keine Lust hat, sie zu erfreuen, könnte der Grund vielleicht darin liegen, dass die Ich-Figur als Minnende noch nicht vollkommen ist (V. 64–67)? In der neunten Strophe gibt die Ich-Figur selbst die Antwort: Die vollkommene Hingabe an die Minne ist erforderlich, trotz allem. Die Traurigkeit, der Hunger bleiben immer
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Dus blive ic ane der minne side, wat so mi ghesciet daerna: haers hongers rouwe, haerre saedde blide, begherten neen, ghenoechten ja. Die fiere gheve slaghen, eer minne sla: soe comt hi scone ten stride. Die de minne besteet met nide, hoe welt dat hem verga, hi sal bevaen hare wide. Ic rade den fieren, die de minne besta in sinen jonghen tide, dat hier niet en mide, hi ne sie dat hise volva, eer si vore hem lide.
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genauso groß, so lange, bis man unvollständig von der Minne gesättigt ist. In der zehnten Strophe wird diese Treue, mit der man alle Anfeindungen der Minne gleichmütig akzeptiert (V. 82–85) erneut mit einer martialischen Metaphorik beschrieben: Der ,tapfereʻ Minnende muss Minne immer wieder leidenschaftlich angreifen, wie schrecklich es ihm auch ergeht (V. 86–90). In der Reprise wird diese wichtige Botschaft wieder aufgegriffen, mit der Spezifizierung, dass vor allem der jugendliche Minnende gemeint ist, der sich umso leichter entmutigen lässt.
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So bleibe ich an der Seite der Minne, was mir danach auch geschehen möge: Trauer aus Hunger nach ihr, Freude wegen ihrer Sättigung, Das Nein des Verlangens, das Ja des Vergnügens, Der Tapfere erteile Schläge, bevor Minne zuschlage: So kommt er gut in den Kampf. Wer die Minne mit Kampfeslust angreift, wie schrecklich es ihm auch ergehe, er wird ihre Weite umfassen. Ich rate dem Tapferen, der in seiner Jugend gegen die Minne kämpft, dass er nicht vor ihr fliehe, sondern zusehe, dass er sie überwältigt, bevor sie an ihm vorbeigeht.
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Alse ons dit nuwe jaer ontsteet, soe hoept men dat saen comen sal die tijt daer menech op verveet, die groeyen doet berch ende dal. Doch es die bliscap onghereet. Soe es hem oec die ghevet sijn al op hoger minne scone beheet, eer hi verlinget die verheit der minnen. Wie sal die snelle wesen dan, die sal verlinghen verre minne? Die fiere, die neemt dies minne hem an, ende levet bi rade ende werket bi zinne ende toeset wat hi ye ghewan, soedat verlichte redene kinne datti voer minnen niet sparen en can, hi sal verlinghen die verheit der minnen. Dat ons de minne soe verre si, die ons met rechte soude sijn soe na, dat scijnt meneghen ende mi, die up vremde troeste verva. Die fiere van minnen leve also vri dat hise met selken storme besta al toter doet ochte nae daerbi, hochte hi verwint de cracht der minnen.
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Dieses Lied hat einen klaren Aufbau. Jeweils zwei Strophen sind miteinander verbunden, weil sie einen nahezu identischen Schlussvers haben. Diese Schlussverse sind wiederum miteinander verbunden, weil sie alle die gleiche Struktur haben (Konjunktion, Subjekt, Verb, Objekt), und da sie alle mit dem gleichen reimlosen Wort, dem mystischen Kernbegriff minnen, enden. Zuerst wird der mystische Minneprozess mit einem Wettrennen verglichen, bei dem der Minnende seine Geliebte einholen muss (Strophen 1–2). Danach muss der exemplarische Minnende in einem Zweikampf auf Leben und Tod die Minne besiegen, damit er sich durch sie besiegen lässt (Strophen 3–4). In dem Moment treffen sich Minnender und Minne in einer grenzenlosen Leidenschaft (Strophen 5–6). Diese Einheitserfahrung kann man nicht in Worten ausdrücken, denn sie übersteigt die Grenzen des menschlichen Verstands (Strophen 7–8) 1–2 Das neue Jahr hat angefangen, und die Erwartung des Frühlings hängt in der Luft. Der Minnende befindet sich in derselben Situation: Die Minne ist zuerst noch außerhalb seiner Reichweite, aber der schnelle Minnende, der sich mit all seinen Kräften einsetzt, wird den Abstand zwischen sich und der Minne früher oder später überwinden. Einen tapferen Minnenden erkennt man an seiner Bereitschaft,
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Wenn dieses neue Jahr anfängt, hofft man, dass bald die Jahreszeit kommen wird, von der viele eine Erlösung erwarten und die Berg und Tal blühen lässt. Aber die Freude lässt auf sich warten. So ergeht es auch demjenigen, der sich ganz und gar den schönen Verheißungen der hohen Minne hingibt, bevor er den Vorsprung der Minne eingeholt hat.
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Wer wird dann der Schnelle sein, der entfernte Minne einholen wird? Der Tapfere, der annimmt, was die Minne ihm zuteilt, und mit Weisheit lebt und mit Verstand handelt, und alles einsetzt, was er je bekam, sodass erleuchtete Vernunft weiß, dass er vor der Minne nichts verbergen kann, der wird den Vorsprung der Minne einholen.
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Dass die Minne so weit von uns entfernt ist, während sie uns eigentlich so nah sein müsste, das nehmen viele und auch ich wahr, die sich auf fremden Trost verlassen. Der Tapfere in der Minne lebe so frei, dass er sie mit einem solchen Angriff ganz bis zum Tod oder kurz davor abwehrt, bis er die Kraft der Minne besiegt.
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das zu akzeptieren, was er von der Minne empfängt (V. 11), durch seine Besonnenheit (V. 12) und durch seine Bereitschaft, alles einzusetzen, was er besitzt (V.13). Ob die eigene Hingabe wirklich vollkommen ist oder (noch) nicht, kann nur die personifizierte erleuchtete Vernunft beurteilen (V. 14–15). Erleuchtete „Vernunft“ (siehe auch Lied 9, V. 87; Lied 19, V. 29; Lied 25, V. 53) steht in Hadewijchs mystischer Anthropologie für die von der Vernunft geleitete Seele (anima rationalis), insofern diese sich nicht länger von dem persönlichen Urteilsvermögen leiten, sondern sich ausschließlich von der Liebe Gottes erleuchten lässt. Der Minnende, der sich nach dem Maßstab der erleuchteten Vernunft wirklich vollkommen einsetzt, wird die Minne tatsächlich einholen und ihr begegnen können (V. 16). Das Bild des Wettrennens ist vielleicht von einem Brief des Paulus inspiriert, in welchem er über das letzte Urteil folgendes sagt: „Ich habe das Wettrennen beendet, den Glauben bewahrt. Jetzt wartet auf mich der Kranz der Gerechtigkeit, mit dem der Herr, der gerechte Richter, mich am großen Tag belohnen wird“ (2 Timotheus 4,7). 3–4 Die Mitglieder des Kreises (ons [„uns“], V. 17) wählten bewusst ein Leben in Hingabe an die Minne und sie hätten sich also, genau wie der exemplarische tapfere Minnende, der Minne immer mehr annähern müssen. Dennoch ist das nicht der Fall. Statt sich mit der Minne in einen Kampf auf
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Die dus verwint der minnen cracht, hi mach sijn kimpe wel bekint. Want men leest van der minnen macht dat si alle andere dinc verwint. Die vroede vergelde al der minnen pacht ende sie dat hijs soe scoene beghint, altoes met stoerme van nuwer jacht, ochte hi verwint de cracht der minnen. Dien minne verwint dat hise verwinne, hem wert hare suete nature noch cont. Alse hi gevoelt de soete minne, werd hi met haren wonden gewont. Alse hi met wondere hare wondere kinnet, sughet hi met nide der aderen gront altoos met dorste van nuwen beghinne, eer hi gebruket der zueter minnen. Soe werdet utermaten goet – begherte scept, genuechte drinket – die fiere die dat sine in minnen verdoet ende met woede in hare gebruken sinket. Soe hevet hi vol der minnen spoet, daer minne met minnen hare minne al scinket, ende soe werdt die minne al minne volvoet, daer hi ghebruket der sueter minnen.
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Leben und Tod zu begeben, verlassen sie den Kampfplatz, um sich mit Dingen zu beschäftigen, die der Minne fremd sind (vremde troeste, V. 20). Die vierte Strophe preist den Sieger, der durch sein Durchsetzungsvermögen die Minne bezwingt. Mit einem Verweis auf das – auch im Mittelalter – weit verbreitete Vergil-Zitat Amor vincit omnia („Die Minne besiegt alles“), deutet die Autorin indirekt an, dass die Kraft, mit der der Minnende siegt, einzig und allein die Minne selbst ist (V. 27–28). 5–6 Die Minne zu besiegen heißt paradoxerweise, von ihr verwundet und besiegt zu werden (V. 33–36). In der Begegnung, die aus diesem Sieg hervorgeht, lernt der Minnende die Macht der Minne kennen, die so groß ist, dass sie ihn mit Verwunderung erfüllt (V. 37). Die bewundernde Verwunderung nährt das Verlangen nach der Geliebten. Solange, wie das Verlangen lebendig bleibt, trinkt der Minnende
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Wer auf diese Weise die Kraft der Minne besiegt, muss wohl ein bewährter Kämpfer sein. Denn man liest über die Macht der Minne, dass sie alle anderen Dinge besiegt. Der Kluge bezahle die ganze Pacht der Minne und achte darauf, dass er so gut damit anfängt, immer nur stürmend in neuer Verfolgung, bis er die Kraft der Minne besiegt.
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Wen Minne besiegt, damit er sie besiege, der wird ihre süße Natur noch kennenlernen. Sobald er die süße Minne fühlt, wird er mit ihren Wunden verwundet. Sobald er verwundert ihre Wunder kennenlernt, saugt er begierig aus dem Inneren der Ader, immer mit neu einsetzendem Durst, bis er die süße Minne genießt.
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Dann wird es außerordentlich gut – Verlangen schöpft, Vergnügen trinkt – für den Tapferen, der sich selbst in der Minne verbraucht und mit Sturmwut in ihr Genießen versinkt. So besitzt er die Glückseligkeit der Minne vollkommen, da Minne mit Minne ihre Minne ganz schenkt, und so wird die Minne ganz mit Minne genährt, da er die süße Minne genießt.
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mit unstillbarem Durst aus der unversiegbaren Lebensader der Minne (V. 38–39; auch V. 42). Für Hadewijch und die Mitglieder ihres Kreises rief die Metaphorik dieser Strophe vielleicht das Bild des gekreuzigten Christus hervor, an dem sie sich orientierten. In ihrer identifizierenden Minne werden sie mit den Kreuzeswunden verwundet und trinken das erlösende lebensspendende Blut, das aus seiner Seitenwunde fließt (siehe Johannes 7,37–38: „Wenn jemand Durst hat, der komme zu mir; wer an mich glaubt, trinke! Wie die Heilige Schrift sagt: Ströme lebendigen Wassers werden aus dem Innersten fließen.“). Das Bild des Trinkens wird in der sechsten Strophe weiterentwickelt, in der Hadewijch noch einmal die mystische Einheitserfahrung aufruft, dieses Mal nicht mit einer Kampfmetaphorik, sondern in der Begrifflichkeit des Ernährens und des Genährtwerdens, des Trinkens und des Betrunkenwerdens.
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Der minnen ghebruken, dat es een spel dat nieman wel ghetoenen en mach. Ende al mocht dies pleget iet toenen wel, hi ne const verstaen dies noyt en plach: hoe minne wilt minne ende niet el van al dat ie besceen die dach. Die loep des troens en es niet so snel soe der minnen loep es in der minnen. Die loep des troens ende der planeten ende der tekene die metten trone gaen, mach men iet met ghelike weten ende met mate van ghetale bevaen. Maer gheen meester en mach hem dies vermeten dat hi minne met sinne mach doen verstaen alle die minne ye wisten ende selen weten ende selen lopen den loep der minnen. Si hebben der minnen wijdde vergheten, die minne met sinne wanen bestaen. Ay deus, wat heeft hen God geweten die lopen moeten den loep der minnen.
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7–8 und Reprise Unabhängig davon, welche Metaphorik man auch verwendet, die Einheitserfahrung ist ein „Spiel“, das man einfach nicht in Worten wiedergeben kann (Strophe 7). Das Wort „Spiel“ (V. 49) bezieht sich nicht auf einen unverbindlichen Zeitvertreib, sondern verweist auf das Bild des Kampfspiels auf Leben und Tod, das von der dritten bis zur fünften Strophe ausgearbeitet wurde. Der Mut und die Hingabe, die für diesen Kampf erforderlich sind, sind mit nichts Irdischem zu vergleichen. Mit dem Bild der Sonne, die das Tageslicht auf die Erde scheinen lässt (V. 54), beginnt eine Reihe kosmologischer Metaphern, während auch das Bild des mystischen Prozesses als Wettrennen wieder aufgenommen und zugleich verändert wird. Die Schnelligkeitsmetaphern aus der ersten und zweiten Strophe werden nicht mehr verwendet, um die Verkürzung des Abstandes zwischen dem Minnenden und der Minne zu beschreiben, sondern um die überirdische „Schnelligkeit“ der Einheitserfahrung auszudrücken. Nach der mittelalterlichen Kosmologie wurde das Weltall vom Schöpfer in Bewegung gesetzt. Die Bewegung zieht sich, beginnend in Gottes ewigem Wohnort, dem dritten Himmel oder dem Empyreum, durch das ganze Weltall, vom Kristallhimmel, auch Gottes Thron genannt (siehe V. 55), über den festen Sternenhimmel, mit Tierkreiszeichen (V. 58) und den verschiedenen Umlaufbahnen der Planeten (V. 57) bis zur Erde. Je weiter man von Gott entfernt ist, desto langsamer der Umlauf. In einem geozentrischen Bild der Welt ist die Erde der Ort, der am weitesten von Gott ent-
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Die Minne genießen, das ist ein Spiel, das niemand gut beschreiben kann. Und wenn jemand, der dies spielt, wohl etwas beschreiben könnte, derjenige, der dies noch nie gespielt hat, könnte es nicht verstehen: Wie Minne Minne möchte und nichts sonst von allem, was an dem Tag jemals beschienen wurde. Der Lauf des Throns ist nicht so schnell wie der Lauf der Minne in der Minne.
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Der Lauf des Throns und der Planeten und der Tierkreiszeichen, die mit dem Thron mitwandern, kann man zum Teil durch Vergleiche kennenlernen und mit Zahlenangaben verstehen. Aber kein Meister kann sich anmaßen, dass er Minne mit dem Verstand erklären kann, für alle, die jemals Minne kannten und kennen werden und den Lauf der Minne laufen werden.
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Sie haben die Weite der Minne vergessen, diejenigen, die dachten, der Minne mit Verstand zu begegnen. Ach, deus, was hat Gott denjenigen angetan, die den Lauf der Minne laufen müssen.
fernt liegt und daher auch den langsamsten Zeitverlauf aufweist. Im Kristallhimmel ist der Umlauf am schnellsten, aber, so sagt die Ich-Figur, sogar diese Schnelligkeit ist nichts im Vergleich zu der Schnelligkeit im Empyreum, dem Ort, an dem die Seele sich in dem Moment befindet, in dem sie mit der Minne eins geworden ist (V. 55–56). Das ewige Empyreum befindet sich außerhalb von Raum und Zeit und unterscheidet sich deshalb wesentlich von der erschaffenen Welt. Letztere kann man mit Berechnungen und Vergleichen erfassen (V. 57–60). Aber niemand, auch kein universitär geschulter Magister (meester, V. 61), ist in der Lage, die Minne mit dem menschlichen Verstand zu erfassen oder zu erklären. In V. 61–66 kommt das schwierige Verhältnis zwischen den Mystikern, die Minne erleben, und den Theologen, die Minne begreifen wollen, zum Ausdruck: Der Gelehrte, wie klug er auch ist, kann dem mystischen Minnenden, der die Minne erlebt hat oder die Minne erleben wird, nichts sagen. Die Weite der ewigen göttlichen Dimension übersteigt ja die Vernunft des Menschen. Der Minnende, der gerufen wurde, die mystische Minne zu erleben, steht vor einer sehr schwierigen Aufgabe: Er muss sich mit der ewigen göttlichen Welt verbinden, während er sich in der sich davon wesentlich unterscheidenden irdischen Wirklichkeit befindet. Das Lied endet entsprechend mit einer Klage: Was für eine unvorstellbare Aufgabe hat Gott denjenigen auferlegt, die nichts anderes können, als nach der Einheit mit der Minne zu streben?
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Al es dit nuwe jaer begonnen, beide de maent ende dat jaer, hier es bliscap noch cleine gewonnen, want ons ghebreken die daghe claer ende andere bliscap menechfout, die jonghe herten blide maket. Maer boven al hevet hi onghedout die minne beghert ende niet ne volsmaket. Ay, hem vernoeyt der dieper weghe die verre ellende bezueken zal. Die doelt na minne ende hevet onzeghe, hem doet wel wee sijn ongeval dat hi so vele van haer niet en weet daer hi bi seker wesen mach wat minnen lief si ochte leet. Hi levet wel dicken droeven dach. Ay minne, uwe abolghe ochte uwe hulde en conne wi onderkinnen niet, uwen hoghen wille ende onse sculde, waeromme ghi comt ochte vliet. Want bi cleinen dienste condi gheven uwe suete wondere in claerheit groet, ende dat scijnt bi cleinen mesdoene verdreven, ende dan gevedi slage ende bittere doot.
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Das Lied behandelt das Thema des nicht begreifenden Minnenden, der das wechselhafte Handeln der Minne nicht versteht (Strophen 1–5). Aber wer sich ganz der Macht der Minne ausliefert und unter allen Umständen möchte, was sie möchte, kann sie unmöglich verlieren (Strophen 6–8). 1–2 Auch wenn es Neujahr ist, lässt der Frühling auf sich warten. Man achte auf den leicht ironischen Ton in V. 6: scheinbar sind es allein jonghe herten, unerfahrene Minnende, die im Frühling Freude schöpfen können. Für sie bringt der Winter Traurigkeit, aber offensichtlich nur zeitweise. Dennoch kann das Leid des erfahrenen Minnenden, der sich nach Minne sehnt und sie nicht vollkommen schmeckt, nicht einfach durch den Frühling gelindert werden. Dieses wird in der zweiten Strophe mit dem Bild des Minnenden, der auf unwirtlichen Wegen umherirrt, näher ausgearbeitet. Mit diesem
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Obwohl dieses neue Jahr angefangen hat, sowohl der Monat als auch das Jahr, hat man damit erst nur geringe Freude gewonnen, denn die hellen Tage sowie viele andere erfreuliche Dinge, die junge Herzen froh machen, bleiben aus. Aber vor allem verkehrt derjenige in einem jämmerlichen Zustand, der Minne ersehnt und sie nicht völlig schmecken kann.
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Ach, denjenigen quälen die tiefen Wege, der in einem fernen, fremden Land suchen wird. Wer nach Minne umherirrt und eine Niederlage erleidet, den schmerzt sein Unglück, dass er so viel über sie nicht weiß, von dem er sicher sein kann, ob es der Minne lieb oder leid wäre. Der erlebt wohl oft traurige Tage.
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Ach Minne, deinen Zorn oder deine Huld, können wir nicht unterscheiden und ebenso deinen hohen Willen und unsere Schuld, warum du kommst oder fliehst. Denn für einen kleinen Dienst kannst du deine süßen Wunder in großer Klarheit geben, und die scheinen durch ein kleines Missgeschick vertrieben zu werden, und dann erteilst du Schläge und bitteren Tod.
Bild wird das Hauptthema des Liedes angekündigt: die Unbegreiflichkeit der Handlungsweisen der Minne und die Unkenntnis des Minnenden, wie er handeln muss, um sie zufriedenzustellen. 3–5 In dieser Unkenntnis befinden sich auch die Ich-Figur und die Zuhörer. Die Freude und die Traurigkeit, welche die Minne schenkt, scheinen ja mit ihrem Einsatz überhaupt nicht in einem Zusammenhang zu stehen. Damit hängen die beklemmenden Fragen an die Minne in der vierten Strophe zusammen: Wie kann der Minnende lernen, ihren Schlägen zu entkommen und ihre Gunst weiterhin zu erfahren?
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Ay minne, hoe sele wi gheleren wies ghi comt ende wies ghi gaet? Waer selen wi u ontgaen ghekeren ende die stoerme daer ghi ons bi verslaet? Ende bi wat crachten selen ons bliven uwe suete wondere in wise clare, dat wijt bi nederheiden niet en verdriven, ocht sijn mach, dat ons el gheware. Ay, in ellendeghen, donkeren weghen laet ons de minne dolen wel, in meneghen stoerme sonder seghe, daer si ons scijnt wreet ende fel. Ende selken gevet si sonder pine hare grote joie menechfout. Dit sijn vore ons wel vremde scine, maer hen ghenoechte die kennen hare vrie gewout. Ay minne, in welken soe ghijt doet, uwe henevaren scijnt abolghe. Maer die fier es ende vroet, hem es beste datti met allen volge, in sueten, in sueren, in troeste, in vare, tote hi volweet wat ghi hem wilt. Alse ghi hem toent uwen wille so clare, soe es sijn wee in vreden ghestilt.
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In der fünften Strophe stellt die Ich-Figur ihr eigenes Leiden und das der Zuhörer dem Vergnügen derjenigen gegenüber, die scheinbar ohne Anstrengung von der Gunst der Minne profitieren (V. 37–38), aber auch diejenigen, die ihr freies souveränes Handeln akzeptieren und darin Freude finden, werden der Ich-Figur und ihren Zuhörern gegenübergestellt (V. 40).
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Ach Minne, wie sollen wir lernen, warum du kommst und warum du gehst? Wie sollen wir deinem Entkommen entgegenwirken und den Angriffen, mit denen du uns besiegst? Und durch welche Kräfte sollen uns deine süßen Wunder in klarer Weisheit erhalten bleiben, damit wir, wenn es möglich wäre, nicht dasjenige durch Niedertracht vertreiben, was sonst uns gehören würde.
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Ach, auf fremden, dunklen Wegen lässt uns die Minne umherirren, in vielen Angriffen ohne Sieg, bei denen sie uns böse und hartherzig erscheint. Und manchem gibt sie ohne Schmerzen viele Male ihre große Freude. Das sind für uns befremdliche Eigenarten, aber es ist ein Vergnügen für diejenigen, die ihre freie Macht verstehen.
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Ach Minne, was du auch machst, dein Weggang erscheint wie Zorn. Wer aber tapfer und klug ist, für den ist es am besten, wenn er in voller Hingabe folge, im Süßen, im Sauren, im Trost, in der Angst, bis er vollkommen weiß, was du von ihm willst. Wenn du ihm deinen Willen so deutlich zeigst, dann wird sein Leid in Frieden gelindert.
6–8 Letztere scheinen die Minnenden zu sein, deren Einstellung als Vorbild dienen soll. Ein kluger und tapferer Minnender fragt sich nämlich nicht, warum Minne ihn im Stich zu lassen scheint, sondern akzeptiert alles, was ihm passiert, als Willen der Minne (V. 41–45 und 53–56), wie der Seemann, der nicht in Küstennähe segelt, keine andere Wahl hat, als das zu akzeptieren, was ihm passiert
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Ay, die verre verseilt, hi moet ghedoghen dat hem die avonture ghevet. Alsoe die mint, moet nauwe poghen eer hi der minnen genoech vollevet. Hi moet willen in allen tiden haren hoghen wille ende anders niet, ende els niet verdroeven noch verbliden, wat hem anders meer ghesciet. Ay, die dus al mint der minnen wille, daer mach sijn minne hare selven genoech, in hoghen gheruchten, in nederen stille, in al dies minne hem ye gewoech. Dit es ene de alrestaercste veste ende die scoenste were die ye man sach, ende die hoechste mure ende de grachte beste, daer minne bi meer ontvlien en mach.
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(V. 49–50). Durch diese Unterwerfung unter den Willen der Minne wird der Schmerz zum Schweigen gebracht (V. 48), und man lebt jenseits von Freude und Traurigkeit (V. 55–56). In der letzten Strophe folgt die Schlussfolgerung: Die Minne zieht nur bei demjenigen ein, der den Willen der Minne minnt. Das Tugendschloss eines solchen Minnenden wird sie nie verlassen.
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Ach, wer weit segelt, muss das ertragen, was das Abenteuer ihm zuteilt. So muss derjenige, der minnt, sich eifrig anstrengen, bis er so lebt, dass er Minne vollkommen genügt. Jederzeit muss er ihren hohen Willen und nichts anderes wollen und über nichts anderes traurig oder froh werden, was auch immer ihm widerfahre.
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Ach, wenn jemand so ganz nach dem Willen der Minne minnt, dann kann Minne sich selbst genügen, in großem Lärm, in tiefer Stille, in allem, worüber Minne je mit ihm sprach. Dies ist die allerstärkste Festung und die schönste Verteidigung, die man je sah, und die höchste Mauer und der beste Graben, sodass Minne nicht mehr entfliehen kann.
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Comen es de droeve tijt van buten, ende vele van binnen meer. Dat ghi ons, lief, ontbleven sijt, dat es een onverwinlec seer. Dat goet dat ghi gavet wilen eer, dat ontblivet ons bi vremden keer, ende uwe rike gheleer, ende hoe ghi uwe selven sijt gheheer. Wildi ons, minne, van u ontherven, soe ne wete wi waer ontvlien. Soe moete wi altemale bederven, wi ne wisten onthouden sijn van wien. Wi selen ons troesten doch in dien: dat ghi seidet, het es waer, het sal ghescien. Men en sal niet twifelen in dien: waerdi verhoget, ghi soudet voltien. Ay, minne, wie sal u in hem volhoghen, dat ghine vertrect al dat ghi sijt? Wie sal die diepe dalen poghen, die hoghe berghe, die velde wijt, met diepen oetmoede, in nuwen vlijt, met toeverlate in hoghe delijt, starc in den strijt? Dies hulpet saen, minne: dies es noet, het es tijt.
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Es ist Winter, und auch im Herzen der Minnenden ist es wegen der Abwesenheit der Geliebten kalt (Strophe 1). Das Vertrauen darin, dass die Minne ihr Versprechen einhält, ist der einzige Halt, und wer Minne finden möchte, braucht ein großes Durchsetzungsvermögen (Strophen 2–3). Die Minne mag dann zwar süß und überall gegenwärtig sein, wie ausgegossenes Öl, aber nur wenige können sich allein durch sie ernähren. Nur wer liebestrunken ist, kann ausschließlich auf die Minne konzentriert bleiben (Strophen 4–5). Wer der Minne begegnen möchte, muss sich ihr völlig unterwerfen, bis zu dem Stadium, dass man in sie versinkt und mit ihr eins wird (Strophen 6–7). Aber nur wenige können die Schmerzen einer solchen Hingabe ertragen: man sucht lieber vorzeitig Trost darin, was der Minne fremd ist (Strophe 8). 1 Es ist Winter und auch im Herzen der Minnenden herrscht Traurigkeit. Die Freude, welche die Ich-Figur und die Rezipienten (ons, V. 3) früher in der Minne erfahren haben, unterbleibt wegen befremdlicher Launen (bi vremden keer, V. 6). Möglicherweise schimmert hier auch die bei Hadewijch gebräuchliche Bedeutung des Adjektivs „fremd“ als „was der Minne fremd ist“ durch. Die Fügung bi
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Draußen ist die traurige Jahreszeit gekommen, und innen noch viel mehr. Dass du, Liebste, uns ferngeblieben bist, das ist ein unüberwindbares Leid. Das Gute, das du uns früher gabst, und deine reiche Lehre und wie du dir selbst herrlich bist, das bleibt uns durch befremdliche Launen fern.
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Wenn du, Minne, uns deiner berauben willst, wissen wir nicht, wohin wir fliehen sollen. Dann müssen wir ganz untergehen, ohne zu wissen, bei wem wir Unterstützung finden. Aber wir werden uns doch noch trösten: was du sagst, das ist wahr, das wird geschehen. Man wird daran nicht zweifeln: wenn du erhöht wirst, wirst du alles an dich ziehen.
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Ach Minne, wer wird dich in sich erhöhen, damit du ihm alles zeigst, was du bist? Wer wird sich durch die tiefen Täler begeben, die hohen Berge, die weiten Felder, in tiefer Demut, in neuem Eifer, in Zuversicht auf hohes Glück, stark im Kampf? Darum hilf schnell, Minne: Die Not ist groß, es ist Zeit.
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vremden keer (V. 6, „durch befremdliche Launen“) bedeutet daher vielleicht „durch (unsere) Hinwendung zu dem, was der Minne fremd ist“. Die Klage über den Zustand der Verlassenheit enthielte somit auch den Grund dafür: die unerklärliche Umkehrung der wechselhaften Minne hängt mit der eigenen Abkehr von der Minne und der Hinwendung zu dem, was sie nicht ist, zusammen. Dadurch haben die Minnenden keinen Zugang mehr zu der Lehre der Minne und wissen nicht, wie herrlich sie ist (V. 7–8). 2–5 In dem Zustand der völligen Trostlosigkeit gibt es nur einen Halt: das Vertrauen darin, dass die Minne ihr Versprechen der Einheit früher oder später einlösen wird (Strophe 2). Das Einheitsversprechen wird in V. 16 mit einer Paraphrase des Versprechens von Jesus an die Apostel ausgedrückt: „Wenn ich von der Erde emporgestiegen bin, werde ich alles an mich ziehen“ (Johannes 12,32). Der Minnende richtet diese Worte Jesu über das Ende der Zeiten an die Minne: in den Augen der Ich-Figur sind die Minne und der göttliche Mensch identisch. Am Anfang der dritten Strophe interpretiert Hadewijch das Johanneszitat in mystischem Sinn: wer sich ausschließlich nach der Minne richtet, erhebt Gott (die Minne) in die eigene Seele und so kann Gott (die Minne) sich dort offenbaren (V. 16–17). Aber
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Het es ghelijc uwe hoghe name alse olie uteghegoten, minne, suete ende saechte, verwale bequame. Maer boven al sidi ghenoechte den innegen sinne. Si sijn ghesaeyt doch herde dunne, die vet werden gevoedt daerinne, ende die wel bekinnen, minne, van uwen name die rike gewinne. Dies, minne, uwe name es uteghegoten ende met wonders vloede al overgaet, soe sijn die opwassende dorevloten ende minnen in woede boven raet. Soe doense meneghen rike daet ende roepen al vri: ‚In toeverlaet es al mijn raet‘. Ay, hoe hi tegheet, daer hi volvaet! Hi ne vecht niet die hem niet en wert. Die volwassen wilt, hi ne spare hem niet. Die sonder voeden wert verteert, het es selden dat hem ere ghesciet. Hi es bloede, die dat vliet dat hem selven jagen riet: dat es minne, die ons hare rike onthiet. Ay, niet men dan al en si ons iet.
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wie viele Menschen gibt es, die in der Lage sind, ihre Seele so tief, hoch und weit zu öffnen, dass die Seele Gott in seiner ewigen Dimension empfangen kann? Das erfordert viel Demut, Mut und Vertrauen (V. 21–23). Die dritte Strophe endet mit einer Bitte an die Minne, dem Minnenden zu helfen, diese Tugenden zu erwerben (V. 24). Denn obwohl Gott sich fortwährend in Liebe zu uns ergießt und sich den inneren Sinnesorganen als süße Speise anbietet, sind nur wenige in der Lage, sich durch ihn allein zu ernähren (Strophe 4). Das Bild des göttlichen Namens, der so süß wie ausgegossenes Öl ist, geht zurück auf das Hohelied 1,3: „Köstlich ist der Duft deiner Salben, dein Name hingegossenes Salböl.“ Dass die Autorin von der zweiten bis zur fünften Strophe die Geliebte mehrere Male mit dem Namen „Minne“ anspricht (V. 9, 17, 26, 33), geht möglicherweise auch auf diese Bibelverse zurück. Hadewijch gießt den Namen
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Es ist, als ob dein hoher Name wie Öl ausgegossen wäre, Minne, süß und sanft, sehr angenehm. Aber über allem anderen bist du ein Vergnügen für die inneren Sinne. Diejenigen, die darin fett genährt werden, und die den reichen Gewinn deines Namens, Minne, sehr gut kennen, sind doch sehr dünn gesät.
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Minne, da dein Name ausgegossen wurde und mit einer Flut an Wundern ganz überläuft, sind die Heranwachsenden davon erfüllt und minnen in unaufhaltsamer Raserei. So vollbringen sie viele große Taten und rufen ganz frei heraus: „Im Vertrauen liegt meine ganze Rettung.“ Ach, wie verliert sich derjenige, der dich ganz umarmt.
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Wer sich nicht wehrt, kämpft nicht. Wer erwachsen werden möchte, verschone sich nicht. Wer ohne Nahrung verzehrt wird, dem geschieht es selten, dass ihm Ehre widerfährt. Derjenige ist feige, der vor dem flüchtet, was ihm zu jagen riet: das ist Minne, die uns ihr Reich versprach. Ach, nicht weniger als alles sei uns etwas.
„Minne“ gewissermaßen auch im Lied wie Öl aus. Und genau wie im Hohelied, in dem die Beschreibung der betäubenden Verlockung des Geliebten in der Behauptung mündet, dass er darum geliebt werde (Hohelied 1,3), ist die Süße der Minne der Grund dafür, dass die jungen Minnenden, Jungen wie Mädchen, sich mit einer unbändigen Leidenschaft verlieben. Ihr grenzenloses Verlangen führt dazu, dass sie in der Lage sind, sich ausschließlich auf die Minne zu richten. Und so verfügen sie mühelos über das Vertrauen, dass in der zweiten und dritten Strophe als der einzige Halt für den Minnenden in der Not bezeichnet wurde (V. 15 und 22). Die fünfte Strophe endet entsprechend mit dem Ausruf: wer sich selbst in der Minne vollkommen verliert, umfängt sie (V. 40). 6–8 In den letzten drei Strophen wird mit Hilfe verschiedener mystischer Metaphern – Minnekampf (V. 42–46), Minnehunger (V. 43, 51, 59), die Geburt der Minne in der Seele (V. 53) – noch einmal betont, dass der Minnende an den Herrlichkeiten der Minne nur teilnehmen kann, wenn er sich vollkommen einsetzt und sich völlig hingibt. In diesem Moment kann die Seele in die Geliebte versinken
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Mach enech dinc de herte hermaken, die selve minne niet en es al, dat geet buten der zielen smaken, want hare niet men ghenoeghen en sal dan van minnen geborte die opwal ende die grote wondere sonder ghetal tote dien inval, daer minne der minne nie minne en hal. Dat minne der minne yet soude helen, dat ware der zielen een evel slach. Soe moeste si in honghers woede quelen, die niet dan minne ghesaden en mach. Maer herte ende sen ghedoen wel el: in dachcortinghen ende in spel ende in aerm gheniet verwandelen si wel hare verdriet.
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(inval, V. 55) und mit ihr eins werden. Würde die Minne in dem Augenblick auch nur ein wenig von sich selbst zurückhalten, dann bliebe bei dem wahren Minnenden das Verlangen erhalten, die Minne ganz zu erobern (V. 57–60). Das Lied endet pessimistisch: das Gefühl und der Verstand vieler Minnender sind zu einem solchen Einsatz nicht in der Lage. Mit Dingen, die der Minne fremd sind, trösten sie sich lieber von ihrem Minnekummer (V. 61–64).
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Wenn etwas das Herz erfreuen kann, das selbst nicht ganz und gar Minne ist, schmeckt das nicht der Seele, weil ihr nichts genügen kann, außer die Geburt der aufwallenden Minne und die großen zahllosen Wunder bis zum Hineinsinken, bei welchem Minne niemals vor der Minne Minne verbarg.
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Dass Minne vor der Minne etwas verbergen sollte, das wäre ein schwerer Schlag für die Seele. Dann müsste sie in der Raserei des Hungers leiden, den nichts außer Minne stillen könnte. Aber Herz und Verstand machen etwas anderes: im Zeitvertreib und im Spiel und in armseligem Genießen vertreiben sie ihren Kummer.
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Alse ons ontsteet de winter sware, die meneghen maket dat herte swaer, in dien tide es openbare de feeste van allen heilegen baer. Ic hebbe ghedoget meneghe vare, maer boven al gheet mi die vaer hoe ic ter minnen sal gheraken. Mi ne mach troesten niet de minne, doer hare es mi al leet ghewin. Si es de cracht van minen sinne, want si es selve raet ende sin. Weder ic verliese ochte winne, minne sal wesen mijn ghewin, want si es selve ghenoech in allen zaken. Ay minne, docht u yet te tide, – het ware mi wel langhe tijt – dat ghi bezaghet dat ellendeghe wide, dat mi te lanc es ende te wijt, ende ghi mijn herte maket blide, dat overselden es verblijdt, sint ic na u ierst moeste haken.
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In diesem Allerheiligenlied spielt Hadewijch ein virtuoses Spiel mit dem Reim. Trotz der formalen Einschränkungen, die das mit sich bringt, ist die Botschaft sehr deutlich: Wenn der Minnende auf eine vollkommene Weise minnen möchte, muss er sich von allem, was nicht zu seiner Natur gehört, reinigen und es hinter sich lassen. Das ist jedoch ein nie endender Prozess, denn Minne ist unerschöpflich. Darum kann das Verlangen nie zu einem Stillstand kommen, wie schmerzhaft das auch ist. 1–2 Der Natureingang verweist auf den Winteranfang. Auch wenn viele dann niedergeschlagen sind, können sie durch das Allerheiligenfest (1. November), das im Mittelalter auch das Osterfest des Herbstes genannt wurde, Trost finden. Viel beklemmender als die Traurigkeit über den nahenden Winter ist die Frage, wie die Ich-Figur jemals die Minne erreichen kann. Die auf den ersten Blick überraschende Mitteilung der Ich-Figur, dass der Minnende sie nicht zu trösten braucht (V. 8), findet ihre Erklärung in der stolzen Aussage am Ende der Strophe: Was auch immer sie wegen der Minne erlebt, Gutes oder Schlechtes, alles ist für die Ich-Figur ein Gewinn (V. 12–14). 3–6 Das bedeutet nicht, dass das Leben in der „elendigen Weite“, in der weltlichen Verbannung (V. 17), weit entfernt von der vollkommenen Einheit mit der Minne, der Ich-Figur nicht schwer fällt. In der dritten
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Wenn für uns der harte Winter anfängt, der manchem das Herz schwer macht, fällt in diese Zeit bekanntlich das Fest Allerheiligen. Ich habe viele Ängste durchlitten, aber vor allem plagt mich die Angst, wie ich die Minne erreichen soll.
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Mich braucht die Minne nicht zu trösten, durch sie ist mir jeder Schmerz Gewinn. Sie ist die Kraft meines Verstandes, denn sie ist selbst Rat und Verstand. Ob ich verliere oder gewinne, Minne wird mein Gewinn sein, denn sie selbst genügt in allem.
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Ach Minne, würde es dir doch auch an der Zeit scheinen – für mich wäre es schon lange Zeit –, dass du die elendige Weite betrachtetest, die mir zu lang und zu weit ist, und dass du mein Herz erfreutest, das zu selten froh gewesen ist, seitdem ich zuerst nach dir verlangen musste.
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bis fünften Strophe wendet sie sich an die Minne mit der Bitte, dass sie Minne berühren möge (V. 35). Sie macht das in drei Schritten. In der dritten Strophe fleht sie die Minne an, sie zu erfreuen. In der vierten Strophe bittet sie darum, die Bücher sehen zu dürfen, in denen die Geliebten der Minne verzeichnet sind, damit sie, vereinigt mit ihnen und wie sie, die vollkommene Minne schmecken könne. Das ausgerechnet dieses Motiv in diesem Allerheiligenlied auftritt, ist sicher kein Zufall. Mit dem Wort brief (V. 23), das auf Mittelniederländisch „Buch“ oder „Liste“ bedeuten kann, wird hier nämlich auf das Buch des Lebens verwiesen (Philipper 4,3; Offenbarung 3,5; 20,12; 21,27), in welchem nach der christlichen Tradition die Namen der Heiligen aufgeschrieben wurden. In der fünften Strophe schließlich bittet sie darum, von der Minne von allem gereinigt zu werden, das sie daran hindert, mit der Natur der Minne „eins“ zu werden. Minne, und nichts anderes, ist ja von Natur aus die Bestimmung des Menschen.
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Hoe gherne soudic sien die brieve hoe ghi, minne, hebt in uwen brief uwe overherteleke lieve, hoe ghi met minnen mint u lief, dat ic mi minnen met hen verhieve, want ic mi, minne, so nie en verhief, alse si nu doen die uwes ghesmaken. Ay, fine minne, allene pure, wanneer maecti mi u so puer dat ic u ghenouch si in nature? Want mi es al onnatuer. Mi sijn alle andere saken suere, maer boven al es mi dat suer, dat ic u niet en can gheraken. Ay, sonder minne was ic ye noede, want dat es alre node noet. Die sonder minne leven, sijn doede. Maer boven al es dat ene doed: dat minne yet jeghen lief es bloede, want volmaecte minne en was nie bloed, si ne sochte hare rechte die hare gebraken. Ay, werde nature, minne fine, wanneer maecti mine nature so fijn al uwer naturen genoech te sine? Want ic genoech al woude sijn. Soe waren al mine andere dine, ende daertoe de uwe algader mijn: ic woude in uwen brant verblaken.
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Was es bedeutet, nach der Natur der Minne zu leben, zeigt die Ich-Figur selbst in der sechsten Strophe. Sie kann nicht ohne Minne leben; wer ohne Minne lebt, ist tot. Aber auch der Minnende, der sich nicht traut, in seiner Minne bis zum Äußersten zu gehen – das heißt, der denkt, dass er seiner göttlichen Geliebten nicht gewachsen ist und vor ihrer Größe zurückschreckt –, weiß nicht, was vollkommene Minne ist, und ist gleichermaßen „tot“. Der wahre Minnende zögert nämlich nicht, Gottes Minne als ein Recht einzufordern. 7–8 Hier wendet sich die Ich-Figur erneut, wie in den Strophen 3–5, an die Minne. In der siebten Strophe bittet sie die Minne, ihre Natur so zu reinigen (vgl. Strophe 5), dass sie der Minne genügen kann. Dann wird all das in ihr, das noch nicht zur Minne gehört (onnatuer, V. 32), auf eine solche Weise umgeformt,
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Wie gern würde ich die Bücher sehen, sehen wie du, Minne, in deinem Buch deine Herzallerliebsten verzeichnet hast, wie du mit Minne deine Liebsten minnst, sodass ich mich mit ihnen zur Minne erhebe, denn ich habe mich, Minne, noch nie so erhoben wie diejenigen, die dich nun schmecken.
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Ach, edle Minne, als einzige rein, wann machst du mich für dich so rein, dass ich dir mit meiner Natur genüge? Denn alles ist mir unnatürlich. Mir sind alle anderen Dinge bitter, aber vor allem stimmt mich bitter, dass ich dich nicht erreichen kann.
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Ach, ohne Minne war ich immer voller Angst, denn das ist die Angst aller Ängste. Wer ohne Minne lebt, ist tot. Aber über allem steht dieser eine Tod: dass Minne gegenüber dem Liebsten schüchtern ist, denn vollkommene Minne war nie schüchtern, sie forderte ihre Rechte ein, die ihr fehlten.
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Ach, werte Natur, edle Minne, wann machst du meine Natur so edel, dass ich deiner Natur ganz genüge? Denn ich möchte dir ganz genügen. So wäre alles, was in mir noch anders ist, dein und darüber hinaus das deine ganz mein: ich möchte in deinem Feuer verglühen.
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dass sie die Minne vollständig in Besitz nehmen kann. Dieser Prozess findet im läuternden Feuer des Minneverlangens statt. In der achten Strophe stellt Hadewijch denjenigen, dessen Natur ganz mit der der Minne eins wird (V. 50–51), demjenigen gegenüber, der sich nicht getraut hat, bis zum Äußersten zu gehen (V. 52–53), womit sie erneut das Motiv aufnimmt, das bereits in der sechsten Strophe (V. 39–42) thematisiert wurde.
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Ay minne, die sijn van uwen aerde, voedet uwe nature na uwen aert. Die sine nature voer u iet spaerde, hi bleve voer u nature ghespaerd, maer dien uwe nature ie ure verclaerde, hi blivet in uwe nature verclaert, sodatti levet na volmaken. Die wilt volmaect sijn, hebbe oetmoede ende in al sinen vermoghene oetmoet. Soe comt hem al sijn werc te goede ende el en daedt hem nemmer goet, in allen ghelijc: in crachte, in spoede. Want si ne hadden meer ter minnen spoet, die der minnen werc ane hen yet traken. Men sal oec in den ongevalle dore minne kiesen ongeval. Soe hulpe der minnen cracht hen allen daer si haer selven met es al. In hare grote wondere sonder ghetalle, diere nemmermeer en wert ghetal, mach hi met minnen in gaen scaken. Van minnen hebbic nachte bi daghe, die mi bi nachte soude doen hebben dach. Begherte doet mi dat ic clage, genoechte seghet mi altoos: ‚Clach‘ ende redene radet dat ict verdrage ende seghet: ‚Dore minnen werc ende verdrach, tote di dijn werc hulpet selve in wraken.‘
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Wer jedoch jemals durch die Minne erleuchtet (verclaert) wurde, d. h. von ihr die Einsicht erhielt, wie man in Minne zu leben hat, lebt nur noch dafür, immer besser zu minnen und so vollkommen zu werden (V. 54–56). 9–10 In zwei belehrenden Strophen erklärt Hadewijch ihrem Publikum, wie der vollkommene Minnende leben soll. In erster Linie muss er demütig sein (Strophe 9). Welche großen Anstrengungen er auch unternimmt, welchen Genuss er durch die Minne auch erfährt, ist nicht sein Werk, sondern das der Minne (V. 63), die in ihm wirkt. Und zweitens (Strophe 10) muss er bereit sein, um der Minne willen Unglück zu akzeptieren (V. 63–64). Dann wird die Minne ihm helfen, und wird er ihre Wunder erfahren.
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Ach Minne, diejenigen, die von deiner Art sind, ernährt deine Natur nach deiner Art. Derjenige, der seine Natur vor dir verschlösse, dem bliebe deine Natur verschlossen, aber derjenige, den deine Natur je einmal erleuchtete, bleibt in deiner Natur erleuchtet, sodass er für die Vervollkommnung lebt.
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Wer vollkommen sein möchte, habe Demut und zeige auch Demut in all seinem Können. So kommt ihm all seine Arbeit zugute, und sonst würde sie ihm nicht gut tun, er sei so in allem: in der Kraftanstrengung, im Glück. Denn diejenigen hatten in der Minne kein Glück mehr, die das Wirken der Minne auch nur ein wenig sich selbst zuschrieben.
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Man kann auch im Unglück um der Minne willen Unglück annehmen. So helfe die Kraft der Minne all denjenigen, mit denen sie ganz sie selbst ist. In ihren großen zahllosen Wundern, deren Zahl nie bekannt werden wird, kann man sich mit Minne erfreuen.
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Durch die Minne, die mir die Nacht zum Tag machen sollte, erlebe ich den Tag als Nacht. Verlangen lässt mich klagen, Vergnügen sagt mir immerzu: „Klage“, und Vernunft rät, dass ich es ertrage, und sagt: „Arbeite und leide wegen der Minne, bis dir dein Werk bei der Rache selbst hilft.“
11 Was sie in der vorherigen Strophe gelehrt hat, illustriert die Ich-Figur nun anhand ihres eigenen Beispiels. Die Minne lässt sie dieses irdische Leben als Unglück erfahren (V. 71–72). Nicht nur das unerträgliche Verlangen lässt sie leiden, sondern sogar das Vergnügen hält ihr vor, dass sie klagen muss: in der folgenden Strophe wird deutlich, dass es daher kommt, dass die Befriedigungen, die man durch die Minne erfährt, immer zeitlich begrenzt sind, wonach das Verlangen immer noch größer wird (V. 82–84). Daher rät ihr die (erleuchtete) Vernunft, immer weiter zu arbeiten und zu leiden, denn gerade dieser treue Dienst wird sie in die Lage versetzen, sich an der Minne zu rächen (V. 76–77), das heißt, in der Einheit mit der Minne zu leben.
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Bi redenen rade eest werken scone. In segghe niet dat het mach sijn verscoent. De redene gelovet ons grote loene, maer minne hevet selve te hant gheloent. Si toent bi uren sulken toene. Dien sise ophielde ende hadde ghetoent, dat waren scachte, die diepe staken. Fiere herte doelt na minnen gronde, die minne en hevet doch ghenen gront. Hare derven dat es haer ongesonde, dies si te spade wert ghesont. Alse si naest hevet der minnen conde, soe wert hare minne van ierst oncont. Soe doet begherte hare aderen craken. Men sal al minnen omme minnen begeven. Hi es vroet die minne om minnen begevet. Alleens si sterven ochte leven: omme minnen sterven es genoech gelevet. Ay minne, ghi hebbet mi lange verdreven, maer in welken soe ghi mi verdrevet, ic wille u, minne, al minne waken. Ay minne, wildi oec mijn sneven, hoe node ic ie hebbe ghesnevet, ic wilt al doghen omme u ghenaken. Alle die voer groetheit der minnen beven ende in hopen haerre groetheit leven, die minne sal hen wassen, meer dan laken.
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12–13 Im Folgenden arbeitet Hadewijch die Beziehung zwischen Vernunft und Minne in zwei didaktischen Strophen weiter aus. Die Vernunft rät dem Minnenden, im Hinblick auf große Belohnungen (V. 78 und 80), zu arbeiten, aber Minne (V. 81–82) gibt ihm diese, indem sie ihn die Anwesenheit Gottes erfahren lässt. Die Belohnungen verschwinden jedoch unerwartet, wonach der Schmerz noch stechender und das Verlangen dementsprechend noch größer wird (V. 83–84). Das Bild von den Speeren oder Pfeilen, mit denen Minne den Minnenden verwundet, braucht Hadewijch nicht notwendigerweise aus der weltlichen Literatur entlehnt zu haben; auch in der geistlichen Literatur, und im Besonderen in den Hoheliedkommentaren der Kirchenväter war es weit verbreitet. Das begehrende Leben des Minnenden wird danach in der 13. Strophe beschrieben: Die Dynamik des Verlangens kommt nie zu einem Stillstand, denn die Minne ist bodenlos.
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Nach dem Rat der Vernunft zu arbeiten ist schön. Ich sage nicht, dass es nicht noch schöner sein kann. Die Vernunft verspricht uns große Belohnung, aber Minne hat selbst sofort entlohnt. Manchmal erscheint sie in solch schönen Erscheinungen. Demjenigen, bei dem sie sie zurückzog, nachdem sie so erschienen war, versetzte sie Speerstiche, die tief stachen.
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Ein tapferes Herz irrt zum Minnegrund umher, die Minne ist jedoch bodenlos. Sie zu entbehren, das ist für das Herz ungesund, sodass es zu spät gesund wird. Wenn es beinahe die Minne kennt, dann wird sie ihm im selben Moment unbekannt. So lässt Verlangen seine Adern zerreißen.
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Wegen Minne muss man völlige Minne aufgeben. Derjenige, der Minne der Minne wegen aufgibt, ist klug. Es ist gleich, ob man stirbt oder lebt: wegen Minne zu sterben, ist genug gelebt. Ach, Minne, du hast mich weit weg vertrieben, aber wohin du mich auch vertrieben hast, ich, selbst ganz Minne, möchte für dich, Minne, wachen.
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Ach, Minne, auch wenn du meinen Untergang willst, wie widerwillig ich auch jemals unterginge, ich will alles ertragen, um dir nahe zu kommen.
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Alle, die wegen der Größe der Minne zittern und in der Hoffnung ihrer Größe leben, wird die Minne weißer als ein Laken waschen.
14–15 und Reprise In der letzten vollständigen Strophe (14) formuliert Hadewijch ihre Entscheidung: Um der Minne willen muss man die Minne aufgeben (V. 92). Das bedeutet: Man soll nicht an dem festhalten wollen, was Minne gibt, den Trost, den sie schenkt, sondern man muss immer offen sein, neu zu suchen, in neuem Verlangen, nach der ganzen Minne, in radikaler, nichts verschonender Hingebung. In V. 96–101 erklärt die Ich-Figur, dass sie dazu bereit ist. In der Reprise formuliert sie dieselbe Botschaft, aber jetzt allgemein als die Bereitschaft, gleichzeitig in Angst und Hoffnung zu leben: Angst vor der nie zu erreichenden Größe der Minne, Hoffnung, sie dennoch zu erreichen. Mit dem letzten Vers spielt Hadewijch unverkennbar auf Offenbarung 7,14 an: „Es sind die, die aus der großen Bedrängnis kommen; sie haben ihre Gewänder gewaschen (laverunt stolas suas et dealbaverunt eas) und im Blut des Lammes weiß gemacht“, ein Text, der während der Mette zu Allerheiligen vorgelesen wurde. Hadewijch zeigt damit, dass derjenige, der nach ihrer Lehre lebt, zur Gemeinschaft der Heiligen gehören wird.
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Alse ons de vrochte van den jare in sijn comen al openbare, sonder sorge ende sonder vare, dies al de werelt blide levet, so hevet hi rouwe ende hongher sware, die minne beghert ende niet en volhevet. Dat elc beghert, dat name hi gerne, maer van minnen es dat meeste wee te ontberne. Daervore ic alle mensche waerne, dat sier voer hebben hoede vroet. Alle andere pine sijn te scerne vore minnen begheren sonder spoet. Dien andere dinghen werden te goede dan dolen in minnen orewoede, de scinen vore de vremden vroede, die so in minnen niet en sijn verdeilt. Diet wel doen mach, hi hebbe hoede: hi ne hevet gheen keren, dier in verseilt. Selc hevet ter minnen in den beghinne dore spelen ghekeert sine sinne, datti soe es verseilt daerinne dat met hem uten spele gheet. Weder hi verliese ochte winne, hem sijn de kere wel ongereet.
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Dieses Lied beschreibt die bittere Situation des Minnenden, der die Minne nicht vollständig besitzt (Strophen 1 und 2). Der Minnende kann zwar mit der Minnequeste angefangen haben wie mit einem Spiel, aber schnell wird es ernst, und von Aufgeben kann keine Rede mehr sein (Strophen 3–4). Wenn die Minne dann keine Erfüllung schenkt, fühlt der Minnende sich wie ein am Galgen Hängender, der auf seine „Befreiung“ wartet (Strophen 5–7). In den letzten beiden Strophen fragt die Ich-Figur die Minne direkt, warum sie einen solchen Abstand hält. Das Ausbleiben einer Begegnung ist unerträglich, und das Lied endet mit einem Verweis auf das Buch Hiob: „Mir graut es, dass ich lebe“ (Strophen 8–9).
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Wenn die Früchte des Jahres für jeden sichtbar geerntet sind, ohne Sorgen und ohne Angst, worüber die ganze Welt froh ist, dann hat derjenige Trauer und großen Hunger, der sich nach Minne sehnt und sie nicht vollständig besitzt.
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Wonach sich jemand sehnt, das hätte er gerne, aber am meisten schmerzt es, die Minne zu entbehren. Ich warne alle Menschen davor, dass sie davor umsichtig auf der Hut sind. Alle anderen Schmerzen sind ein Scherz, verglichen mit dem erfolglosen Verlangen nach Minne.
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Diejenigen, für die andere Dinge als das Umherirren in der Sturmwut der Minne Glück bedeuten, scheinen für die Fremden Kluge zu sein, die nicht auf diese Weise zur Minne verurteilt sind. Wer es gut anstellt, sei auf der Hut: wer in sie verstrickt wird, kann nicht mehr umkehren.
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Am Anfang hat manch einer seine Sinne darauf gerichtet, dass Minne ein Spiel sei, bis er so darin verstrickt ist, dass das Spiel für ihn beendet ist. Ob er verliert oder gewinnt, für ihn gibt es es kein Umkehren.
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1–4 Alles ist sicher geerntet und überall ist Freude. Nur der Minnende hat Hunger: Er sehnt sich nach der Minne, aber er besitzt sie nicht völlig (Strophe 1). Diese Entbehrung ist das Schmerzhafteste, was es gibt, aber es macht einen wesentlichen Bestandteil der Minne aus (Strophe 2). Minnende, die diese Entbehrung nicht erfahren, scheinen klug zu sein in den Augen derjenigen, die nicht wissen, was Minne eigentlich ist (die Fremden, V. 15). Aber diejenigen, die in der Minne gedeihen, werden gewarnt: Wer sich einmal der Minne hingibt, kann nicht mehr zurück und, so wird suggeriert, muss früher oder später auch die Einsamkeit in der Minne erfahren (Strophe 3). Manche beginnen mit der Minne wie mit einem Spiel, aber schnell wird es ernst und dann haben sie keine Gelegenheit, sich zurückzuziehen (Strophe 4).
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Men ne mach in minne verliesen niet, al eest soe dat sijt spade versiet. Si gout ye gherne dat si onthiet. Die dies gheloeft, hi wachter na. Dats: te verlatene op selc gheniet alse: die hanghet, beide dat menne afsla. Die hanghet, hoe goede beide hi hevet, ende die in bant van minnen levet, dats alleens, ende die als om minnen begevet. Ay, minne, daer siet noch selve toe, hoe verre ghine ye in scine verdrevet, siet, dat hem uwe nature voldoe. Het mach wel sijn dat minne voldoet, maer de nanoet es den armen goet. Dat minne hare tere met minnen verdoet, dats wel recht, si es soe groet, ende si ons altoos doe scone gemoet: hare sparen es arger dan al doet. Ay, minne, weder spaerdi mi, soe spare ic u, dies manic di. Mi wondert bi wat saken het si dat ghi mi so vremde sijt. Ghi sijt mi verre ende ic u bi. Dies lide ic altoes droeven tijt. Ay, minne, gemaet uwe geweldeche crachte. Ghi hebbet die dage ende ic die nachte. Wat doedi mi jaghen uwe jachten, ende ghi mi soe verre voer ontfaert? Ghi doet mi gelden selke pachte. Mi gruwelt dat ic ye mensche ward.
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5–9 Im Spiel der Minne kann man jedoch nie verlieren, denn die Minne gibt sich letztendlich immer hin. Öfter jedoch begegnet sie dem Minnenden erst sehr spät. Das lechzende Warten des Minnenden, der sich danach sehnt, wird sarkastisch verglichen mit der Situation von einem, der darauf wartet, vom Galgen geholt zu werden (V. 28–30, V. 31–33). Am Ende der sechsten Strophe wird die Minne direkt angesprochen und gebeten, dem gequälten Minnenden Erfüllung zu schenken (V. 34–36). Die armen Minnenden sind mit den Resten zufrieden, die nach der Ernte auf dem Feld liegen bleiben, aber der wahre Minnende möchte die vollkommene Minne empfangen. Wahre Minne ernährt sich mit nichts anderem als Minne (V. 39–40). Darum bittet
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Man kann in der Minne nicht verlieren, auch wenn es so ist, dass sie es erst spät belohnt. Sie bezahlte immer gern, was sie versprach. Wer dies glaubt, warte darauf. Wer sich auf ein solches Genießen verlässt, ist wie der Gehenkte, der darauf wartet, dass man ihn abschneidet.
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Derjenige, der hängt – wie gut das Warten für ihn auch sei – und derjenige, der im Band der Minne lebt und der alles wegen der Minne aufgibt, sind beide gleich. Ach Minne, achte selbst darauf, wie weit du ihn auch scheinbar vertrieben hast, sieh zu, dass deine Natur ihm Genugtuung schenkt.
7
Es kann wohl sein, dass Minne Genugtuung schenkt, aber die Nachernte ist für die Armen gut. Dass Minne ihren Vorrat mit Minne verzehrt, das ist wohl recht und billig, sie ist so groß, auch wenn sie immer prächtig auf uns losstürmt, ihr Verschonen ist schlimmer als der Tod.
8
Ach Minne, wenn du mich verschonst, verschone ich dich, das schwöre ich dir. Mich wundert es, warum du mir so fremd bist. Du bist mir fern und ich bin dir nahe. Daher ertrage ich andauernd traurige Zeiten.
9
Ach Minne, mäßige deine gewaltige Kraft. Du hast die Tage und ich die Nächte. Warum lässt du mich Jagd auf dich machen und fliehst du so weit von mir weg? Du lässt mich eine solche Pacht bezahlen. Mir graut es, dass ich jemals Mensch wurde.
409
die Ich-Figur darum, auch im Namen der Zuhörer („uns“, V. 41), dass Minne sie weiter angreift, bis sie der vollkommenen Minne würdig sind (V. 41–42). Die letzten beiden Strophen haben die Form einer Klage, welche die Ich-Figur direkt an die Minne richtet. Warum bleibst du so unerreichbar, während ich mir dir doch hingebe (Strophe 8)? Und warum lässt du mich so unfassbar schwer leiden (Strophe 9)? Im letzten Vers des Liedes schimmert die existenzielle Klage aus Hiob 10,1 durch –„meine Seele ekelt sich vor meinem Leben“–, die Hadewijch an mehreren Stellen in ihren Liedern paraphrasiert (siehe Lied 13, V. 12 und Lied 16, V. 24–25).
410
45
1a
1b
2a
2b
3a
3b
Lied 45
Ay, in welken soe verbaerd de tijt, en es in al de werelt wijt dat mi gheven mach delijt dan verus amor.
4
Ay minne, op trouwe, want gi al sijt miere zielen joie, mier herten vlijt, ontfaermt der noet, siet ane den strijt, hort cordis clamor.
8
Ay, wat ic mijn wee roepe ende clage, de minne doe met mi hare behaghe. Ic wille hare gheven al mine daghe laus et honor.
12
Ay minne, ochte trouwe uwe oghe anezaghe! Want mi maect coene dat ics ghewage. Want mi ierst up uwe hoghe staghe uwe traxit odor.
16
Ay minne, ja gi, die nie en loghet, want ghi mi toenet in der joghet daer ic na quele. Want ghijt vermoghet, sijt medicina.
20
Ay ja, minne, ghi die als sijt voghet, ghevet mi omme minnen dies mi meest hoghet, want ghi sijt moeder alre doghet, vrouwe et regina.
24
Dieses Lied basiert auf der lateinischen Sequenz Mariae praeconio und weist einen starken Bezug zur Jungfrau Maria auf. Im größten Teil wechseln sich Lobpreisungen und flehende Bitten an die Minne ab, die in einem Bekenntnis allgemeiner Hingabe kulminieren. Die letzten Worte des Liedes, bene mori („gut sterben“), runden die Sammlung als Ganzes passend ab. 1a–b Obwohl das lateinische Vorbild keine Veranlassung dazu gibt, beginnt auch dieses Lied mit einem kurzen Hinweis auf die Jahreszeit. Die Relevanz für die Ich-Figur wird geleugnet: nur die Minne kann der Ich-Figur wahre Freude geben. In Strophe 1b spricht die Ich-Figur die Minne direkt an und bittet sie, diejenige, von der all ihr Glück abhängt, um Mitleid in ihrer Not. Diese doppelte Botschaft (Lobpreis der Minne als einziger Quelle der Freude; flehende Bitte an die Minne in einem Leidenszustand) kehrt im Laufe des Liedes beständig wieder und wird in den ersten beiden Strophen mit den lateinischen Wörtern verus amor („wahre Liebe“) und cordis clamor („Herzensschrei“) prägnant zusammengefasst.
Lied 45
1a
Ach, auf welche Weise die Zeit auch zum Vorschein kommt, es gibt in der ganzen weiten Welt nichts, das mich beglückt als wahre Minne.
1b
Ach Minne, denn du bist gewiss ganz die Freude meiner Seele, die Lust meines Herzens, erbarme dich der Not, sieh dir den Kampf an, höre den Herzensschrei.
2a
Ach, wie ich mein Leid auch herausrufe und darüber klage, die Minne soll mit mir machen, was ihr behage. Ich möchte ihr in all meinen Tagen Lob und Ehre erweisen.
2b
Ach Minne, ob dein Auge Treue erkennen kann. Denn davon zu berichten, gibt mir Mut. Denn auf deine hohen Stufen zog mich erst dein Duft.
3a
Ach Minne, ja du, die du nie gelogen hast, du hast mir doch in der Jugend gezeigt, wonach ich mich sehne. Weil du es vermagst, sei Medizin.
3b
Ach ja, Minne, die du Herrin über alles bist, gebe mir um der Minne willen das, was mich am meisten erfreut, denn du bist die Mutter aller Tugend, Dame und Königin.
411
2a–b In der Strophe 2a bekennt sich die Ich-Figur zu ihrer vollkommenen Hingabe an die Minne, ohne Rücksicht auf das Leid, in dem sie sich befindet. Ab 2b wird das Lied eine Rede an die Minne, nach dem Vorbild der lateinischen Sequenz, die ebenfalls ein langes Gebet an Maria ist. Die unwiderstehliche Anziehungskraft der Minne (ihr Duft) hat die Ich-Figur damals zu ihren hohen Stufen gebracht. Darum wagt sie es jetzt die Minne anzuflehen, ihre Treue zu berücksichtigen. 3a–b Strophe 3a greift die Botschaft von 2b wieder auf: die Minne muss der Ich-Figur, der sie in ihrer Jugend eine Einheitserfahrung geschenkt hat, jetzt auch die Medizin für ihr Leid schenken können. In Strophe 3b wird diese flehende Bitte wiederholt, aber jetzt, indem sie sich auf die Allmacht der Minne beruft.
412
45
4a
4b
5a
6b
Lied 45
Ay, werde minne, fine pure, wan siedi ane hoe ic ghedure? Ende sijt in mine bettere zuere condimentum.
28
Ay, ic dole te swaer in de avonture. Mi sijn al andere saken suere. Volgevet mi, minne, uwe hoghe nature sacramentum.
32
Ay, ben ic in vrome ochte in scade, si al, minne, bi uwen rade. Uwe slaghen sijn mi genoech genade Redemptori.
36
Ay, wadic gewat, clemmic up grade, bennic in honger ochte in sade, dat ic u, minne, genoech voldade, bene mori.
40
4a–b Die flehenden, an die hochgepriesene Minne gerichteten Bitten aus den Strophen 1b bis 4a erreichen in der Strophe 4b einen Höhepunkt: in der Bitte, dass Minne der Ich-Figur ihre hoghe nature als Sakrament schenken solle, als ein „heiliges Mysterium“ – wobei man in erster Linie an die Eucharistie denken muss, den Moment, in welchem religiöse Frauen in der Kommunion die vollkommene Einheit mit ihrem göttlichen Geliebten schmecken konnten. Nach der katholischen Lehre sind die geweihte Hostie und der geweihte Wein ja der Körper und das Blut Jesu Christi.
Lied 45
4a
Ach, verehrte Minne, feine reine, warum siehst du nicht, wie ich standhalte? Und sei in meinem bitteren Elend Linderung.
4b
Ach, ich irre zu sehr im Abenteuer umher. Mir fallen alle anderen Sachen schwer. Gib mir ganz und gar, Minne, deine hohe Natur als Sakrament.
5a
Ach, ob ich Gewinn oder Verlust mache, alles geschehe, Minne, nach deinem Gutdünken. Deine Schläge sind mir Gnade genug in den Augen des Erlösers.
6b
Ach, ob ich durch das Watt wate oder Höhen erklimme, ob ich hungrig oder gesättigt bin, möchte ich dir, Minne, vollkommen genügen, und gut sterben.
413
5a–b Der Erhalt der hoghe nature der Minne scheint mit der völligen Unterwerfung an die Verfügungen der Minne zusammenzufallen. Mit anderen Worten: Die Schläge der Minne sind für die Ich-Figur die Gnade, wonach sie sich sehnt (V. 35). Das sind sie auch in den Augen des Erlösers, Christus, mit dem sie vereinigt ist (vgl. 4b). Wie Christus und mit ihm möchte sie in völliger Hingabe an die Minne einen guten Tod sterben. Das ist ihr letztes Wort.
III. Melodien
416
Melodie Lied 2
2
Melodie Gace Brulé, Qui sert de fausse proire, Ms. x, f. 56v
Melodie Lied 3
417
3
Melodie Moniot d’Arras, Qui bien aime, a tart oblié, Ms. x, f. 262v
418
Melodien Lied 8
8a
Melodie A Anonym, De penser a vilanie, Ms. x, f. 276
Melodien Lied 8
419
8b
Melodie B Perrin d’Angicourt, Quant le cinceniz, Ms. z, f. 106
420
Melodie Lied 9
9
Melodie Thibaut de Champagne, De ma dame souvenir, Ms. n, f. 6v
Melodie Lied 15
421
15
Melodie Rogeret de Cambrai, Nouvele amour qui si m’agree, Ms. k, S. 259
422
Melodie Lied 17
17
Melodie Gace Brulé, En dous tens et en bone eure, Ms. m, f. 24
Melodie Lied 18
423
18
Melodie Rogeret de Cambrai, Nouvele amour qui si m’agree, Ms. k, S. 259
424
Melodie Lied 20
20
Melodie Gace Brulé, En dous tens et en bone eure, Ms. n, f. 31
Melodie Lied 21
425
21
Melodie Gilbert de Berneville, Amours pour ce que mes chanz soit jolis, Ms. p, f. 115v
426
Melodie Lied 27
27
Melodie Gilbert de Berneville, Mout sera cil bien nouris, Ms. x, f. 258
Melodie Lied 31
427
31
Melodie Blondel de Nesle, S’Amours veut que mes chans remaigne, Ms. m, f. 138
428
Melodie Lied 32
32
Melodie Anonym, Joie et soulas me fait chanter, Ms. O, f. 67
Melodien Lied 33 429
33a
Melodie A Jesu dulcis memoria, Ms. Trier
33b
Melodie B Jesu flos matris virginis, Ms. Tongeren, o l v Basiliek 63, f. 292
430
Melodien Lied 34
34a
Melodie A Colard le Boutellier, Ne puis laissier que jou ne chant, Ms. m, f. 129v
Melodien Lied 34
431
34b
Melodie B Gace Brulé, De la joie que desir tant, Ms. m, f. 27
432
Melodien Lied 37
37a
Melodie A Jesu dulcis memoria, Ms. Einsiedeln 628
37b
Melodie B Jesu dulcis memoria, Liber usualis
Melodie Lied 39
433
39
Melodie Gace Brulé, Qui sert de fausse proire, Ms. x, f. 56v
434
Melodie Lied 40
40
Melodie Moniat d’Arras, Ne me done pas talent, Ms. O, f. 87
Melodie Lied 43
435
43
Melodie Gilles de Vieux-Maisons, Pluie ne vens, gelee ne froidure, Ms. n, f. 179
436
Melodie Lied 45
45
Melodie Mariae praeconio, Utrechter Prosarium, Utrecht ub 417
Melodie Lied 45
437
438
45
Melodie Lied 45
Melodie Lied 45
439
Kommentar zu Form und Melodie Lied 1 Dreiteilige Chansonstrophe mit Refrain: 4a 3b 4a 3b 4c 3d 4c 3d 3E 3f 3E 3f. Ein Lied, das Hadewijch möglicherweise als Quelle gedient hat, ist bisher nicht gefunden worden. Die Quelle der lateinischen Verse Vale, vale millies si dixero, non satis est („Wenn ich tausend Mal Heil Heil wünschen würde, ist es nicht genug“) ist unbekannt, aber ähnliche Formulierungen trifft man öfter in lateinischen Marienliedern an. Auffällig ist die raffinierte Art und Weise, mit der Hadewijch den lateinischen Text über die beiden Verse verteilt. Dadurch wird vale, vale millies in erster Linie als ein Gruß und Heilswunsch („tausend Mal Heil, Heil“) an die Mitglieder des Kreises aufgefasst, und das hat starke Auswirkungen besonders bei den Strophen, in denen die anschließenden Verse die zweite Person Plural verwenden. Erst wenn der zweite lateinische Vers gelesen oder gesungen wird, wird deutlich, dass vale, vale eigentlich kein Gruß, sondern Teil eines Konditionalsatzes ist. Das Reimschema abab cdcd EFEF kommt einmal in der Trouvèreliteratur vor, nämlich in dem Lied De sainte Leocade der berühmten Miracles de Nostre-Dame des Gautier de Coinci (1177 oder 1178–1236). Jeder Vers hat im Französischen sechs Silben. Das müsste im Niederländischen immer drei Hebungen ergeben, aber bei Hadewijch wechseln sich vier und drei Hebungen ab – dieser Unterschied muss aber nicht gegen eine Verbindung sprechen. Auffälligerweise bilden die letzten vier Verse bei Gautier einen Refrain; aufgrund von Hadewijchs konsequentem Zitieren der lateinischen Verse in der letzten Gruppe von vier Versen kann man vermuten, dass ihre Quelle auch einen solchen Refrain aufwies. De sainte Leocade ist eine der beiden Kontrafakturen, die Gautier zu einem Conductus von Perotinus (tätig 1. Hälfte des 13. Jhs.) mit dem Titel Beata viscera machte (Text vermutlich von Philipp dem Kanzler [1160/1185–1236]). Auch die letzten vier Verse von Beata viscera bilden einen Refrain, in diesem kommen die Wörter vale vale millies aber nicht vor. Das Reimschema ist abab abab CDCD, also mit weniger Reimklängen als Gautiers abab cdcd EFEF – offensichtlich entstand hier eine strophische Variation. Die Form des Beata viscera ist unter den Hunderten überlieferten Conducti nicht einzigartig; so weist zum Beispiel Partus semiferos dasselbe Reimschema auf, ebenfalls mit einem Refrain. Möglicherweise handelte es sich bei Hadewijchs Quelle um einen ähnlichen Conductus. Das Reimschema abab abab CDCD kommt im Übrigen auch bei einigen Trouvèreliedern vor, mit einer ungefähr passenden Silbenzahl, aber diese kommen als Quelle nicht in Frage, da Hadewijch offensichtlich eine lateinische Quelle verwendete.
Kommentar zu Form und Melodie
441
Lied 2 (Melodie auf S. 416) Dreiteilige Chansonstrophe: 4a 4b 4a 4b 3/4b 3a 3a 3b 3a; Reprise: 3b 3a 3a 3b 3a. In Bezug auf die Reimtechnik ist dies eine schwierige Strophenform, da pro Strophe fünf a- und vier b-Reimwörter gefunden werden müssen. In manchen Strophen scheint der fünfte Vers vier statt drei Hebungen aufzuweisen. Eine ähnliche Form findet man auch in Lied 39, das jedoch im fünften Vers jeder Strophe immer vier Hebungen aufweist. Obwohl 18 französische Trouvèrelieder ein vergleichbares Reimschema haben, ist kein einziges Lied überliefert, das in metrischer Hinsicht genau mit diesem Lied Hadewijchs übereinstimmt. Am meisten ähnelt dieses einem Lied des Trouvère Gace Brulé (um 1160 – nach 1213), Qui sert de fausse proire: 4a’ 4b 4a’ 4b 3/4b 3a’ 3a’ 3b 3a’ Hadewijch 7a’ 7b 7a’ 7b 5b 5a’ 7a’ 5b 7a’ Gace Brulé
(In diesen Formeln markiert jeweils das Apostroph die weiblichen Reimklänge; siehe auch oben S. 49). Ob die Ähnlichkeit signifikant ist, kann man schwer sagen, aber Hadewijchs Text kann man gut mit Gaces Melodie kombinieren. Qui sert de fausse proire war ziemlich beliebt, was sieben Handschriften zeigen, in denen Text und Melodie überliefert sind. Die wichtigste Melodie ist in sechs Handschriften vorhanden; für die vorliegende Rekonstruktion wurde die Version aus der Handschrift X, f. 56v, gewählt (Paris, Bibliothèque nationale, nouv. acq. fr. 1050). Eine der Handschriften weist eine alternative Melodie auf. Eine Edition von Gaces Liedtext und der Melodien bietet Tischler 1997, Nr. 752. Hadewijchs Lied 39 kann zu derselben Melodie gesungen werden.
Lied 3 (Melodie auf S. 417) Dreiteilige Chansonstrophe: 4a 4b 4a 4b 4b 4a 4b 4a 4b; Reprise: 4b 4a 4b 4a 4b. Mit nur zwei Reimen für neun Verse handelt es sich hier um eine anspruchsvolle Strophenform, die man auch in der Troubadour- und Trouvèrelyrik findet. Von den Liedern mit dieser Form ist Amours nʼest pas, que cʼon die des Moniot d’Arras (dichtete 1213–1239) bei weitem am beliebtesten gewesen. Die Form stimmt völlig überein, auch im Hinblick auf das Geschlecht der Reime (die weiblichen Reimklänge sind mit einem Apostroph markiert): 4a’ 4b 4a’ 4b 4b 4a’ 4b 4a’ 4b Hadewijch 7a’ 7b 7a’ 7b 7b 7a’ 7b 7a’ 7b Moniot d’Arras
Die Form geht auf den Troubadour Cercamon (dichtete 1135–1145) zurück. Moniots Liedtext ist in elf Handschriften überliefert, es sind darüber hinaus acht Kontrafak-
442
Kommentar zu Form und Melodie
turen bekannt, unter denen sich drei Marienlieder befinden. Insgesamt gibt es sechs verschiedene Melodien in diesem Komplex, von denen wir diejenigen, die am meisten vorkommen (13 Stellen), für die Rekonstruktion der Melodie zu Hadewijchs drittem Lied ausgewählt haben. Wir bieten die erste Version aus der Trouvèrehandschrift X, f. 262v (Paris, Bibliothèque nationale, nouv. acq. fr. 1050), mit dem Text des Marienliedes Qui bien aime, a tart oublié, ebenfalls von Moniot. Dieser Marientext ist auch mit einer alternativen Melodie überliefert, die in drei Handschriften vorkommt. Eine Edition aller französischen Texte und Melodien findet man bei Tischler 1997, Nr. 701. Hadewijchs Text wurde mit dieser Melodie bereits von Grijp 1992, 89 ediert.
Lied 4 Rondellus-Strophe ohne Innenrefrain: 4a 4a 4a 4b 4a 4b. Dieselbe Strophenform kommt in Lied 44 vor.
Lied 5 Das vorherrschende Strophenschema ist 4a 4a 4a 3b 2c 2c 3b, aber verschiedene b-Verse scheinen nur zwei anstatt von drei Hebungen zu haben. Außerdem sind die c-Reime in der vierten und fünften Strophe durch a-Reime ersetzt worden: 4a 4a 4a 3b 2a 2a 3b. Wie in der Einleitung dargestellt wurde (S. 36–37), haben wir es hier mit einer rondellus-Strophe zu tun. Es ist auffällig, dass viele a-Verse in diesem Lied einen binären Aufbau aufweisen (bi wilen… bi wilen), mit einer Zäsur in der Mitte. Dies hat vielleicht mit der Melodie zu tun: in einem rondellus muss diese ja in allen a-Versen dieselbe gewesen sein.
Lied 6 Dreiteilige Chansonstrophe: 3a 3b 3c 3d 3a 3b 3c 3d 3e 3e 3e 3a; Reprise: 3f 3f 3f 3a. In der westeuropäischen Lyrik des 12. und 13. Jhs. kommt dieses Reimschema nur in dem Lied In dem aberellen („Im April“) des Heinrich von Veldeke (dichtete 1170– 1190) vor: Die Verse haben in Veldekes Lied jedoch nur zwei Hebungen, bis auf den letzten Vers mit vier Hebungen.
Kommentar zu Form und Melodie
443
Lied 7 Dreiteilige Chansonstrophe: 3a 3b 3c 3d 3a 3b 3c 3d 3e 3e 3e 3a; Reprise: 3f 3f 3f 3a. Hier handelt es sich um dasselbe Schema wie in Lied 6.
Lied 8 (Melodien auf S. 418 und 419) Dreiteilige Chansonstrophe: 4a 4b 4a 4b 4b 4b 4a 4a 3c 3d 3c; Reprise: 3b 3b 3a 3a 3c 3c 3a 3c. Der vorletzte Vers bleibt immer ohne Reim. Das ist auch in den sehr ähnlichen Strophenschemata zweier anonymer Trouvèrelieder der Fall, dem Minnelied Quant li nouviaus tens repaire und dem Marienlied De penser a vilanie (Grijp 1992, 79): 4a’ 4b 4a’ 4b 4b 4b 4a’ 4a’ 3c° 3d’ 3c° Hadewijch 7a’ 7b 7a’ 7b 7b 7b 7a’ 7a’ 7c 6d’ 6c Quant li nouviaus tens 7a’ 7b 7a’ 7b 7b 7b 7a’ 7a’ 7c 6d’ 7c De penser a vilanie
(Die weiblichen Reime sind jeweils mit einem Apostroph markiert; ein ° gibt an, dass das Geschlecht des Reims stark variiert). Die anonymen Lieder sind Kontrafakturen zweier bekannterer Lieder: Quant le cinceniz s’escrie des Perrin d’Angicourt (tätig zwischen 1245 und 1250) und Penser ne doit vilanie des Jehan Érart (†1258/59). Beide Dichter kamen aus oder aus der Nähe von Atrecht und standen mit dem brabantischen Herzog und Trouvère Heinrich III. (ca. 1231–1261) in Verbindung. Die Lieder Perrins und Jehans haben beide wechselnde Refrains, das heißt, dass sich der Refrain von Strophe zu Strophe ändert, weil er immer wieder aus anderen Quellen entlehnt wurde (zum Beispiel von anderen Chansons). Beide Chansons kann man nicht getrennt voneinander betrachten, es ist allerdings schwierig festzustellen, wer wem nachgeeifert hat. Das betrifft auch die Frage, wen Hadewijch als Vorbild wählte. Die Lieder stehen sich hinsichtlich ihrer Bekanntheit in nichts nach. Perrins Lied ist in sieben Handschriften überliefert, das von Jehan in fünf. Zu beiden Liedern entstand jeweils eine Kontrafaktur. Hadewijchs Text wird in der vorliegenden Rekonstruktion mit beiden Melodien präsentiert. Jehans Melodie wird nach der Version mit dem Text des Marienliedes aus der Trouvèrehandschrift X wiedergegeben (Paris, Bibliothèque nationale, nouv. acq. fr. 1050), f. 267; Perrins Melodie nach Handschrift Z (Siena, Biblioteca municipale, H.X. 36), f. 106. Alle Texte und Melodien sind ediert von Tischler 1997, Nr. 701 bzw. Nr. 657.
Lied 9 (Melodie auf S. 420) Dreiteilige Chansonstrophe: 4a 4b 4a 4b 4a 4a 4b 4b 4b. Es handelt sich um eine ziemlich schwierige Strophenform, die pro Strophe vier a- und fünf b-Reime erfordert. Eine ähnliche Strophe findet man in dem Lied De ma dame souvenir des Thibaut de Cham-
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Kommentar zu Form und Melodie
pagne. Man kann wohl von einer strophischen Variation sprechen, weil Hadewijchs letzte drei b-Reime bei diesem Lied c-Reime sind. Darüber hinaus stimmen die männlichen und weiblichen Reime (letztere sind unten jeweils mit einem Apostroph markiert) nicht richtig überein, aber ob das relevant ist, lässt sich bei Hadewijch immer schwer sagen, vor allem bei Liedern wie diesem, bei dem sie selbst hinsichtlich des Geschlechts des Reimes nicht sehr konsequent ist (siehe auch S. 52): 4a’ 4b 4a’ 4b 4a’ 4a’ 4b 4b 4b Hadewijch 7a 7b’ 7a 7b’ 7a 7a 7c 7c 7c Thibaut de Champagne
Thibaut (1201–1253) war Graf von Champagne und Brie, König von Navarra und einer der wichtigsten Trouvères. Hadewijchs Text passt ausgezeichnet zu Thibauts Melodie, hier notiert nach der Trouvèrehandschrift N (Paris, Bibliothèque nationale, fr. 845), f. 6v. Thibauts Lied muss beliebt gewesen sein, da es in neun Handschriften überliefert ist. Es scheint alles in allem wahrscheinlich, dass Hadewijch Thibauts Lied als Quelle benutzt hat. Text und Musik wurden nach Tischler 1997, Nr. 834 ediert.
Lied 10 Dreiteilige Chansonstrophe: 3a 3a 3b 3a 3a 3b 3c 3c 3c 3b 3c 3c 3c 3b; Reprise: 3c 3c 3c 3b. Es handelt sich hier um ein anspruchsvolles Strophenschema mit vier a- und vier b-Reimen und sogar sechs c-Reimen. Dieses erklärt vielleicht, warum der Satzbau an manchen Stellen sehr kompliziert ist. Für dieses Lied wurde noch keine Quelle gefunden.
Lied 11 Dreiteilige Chansonstrophe: 4a 4b 4a 4b 4b 4c 4c 3d 4c 3d. Eine Quelle für dieses Lied ist nicht bekannt.
Lied 12 Dreiteilige Chansonstrophe: 3a 3b 3a 3b 4b 3a 4b 3a; Reprise: 4b 3a 4b 3a. Obwohl das Reimschema in der ganzen westeuropäischen und vor allem in der französischen Minnelyrik verwendet wird, hat keines der bekannten Lieder ein vergleichbares metrisches Muster. Eine Ausnahme bildet das anonyme okzitanische Frauenlied Quan vei los praz verdesir („Wenn ich sehe, wie die Weiden grün werden“), das aus der zweiten Hälfte des 13. Jhs. stammt und außerdem einen Refrain enthält: Die Übereinstimmung ist hier wohl zufällig. Lied 38 hat eine Strophe mit einem vergleichbaren
Kommentar zu Form und Melodie
445
Reimschema, aber mit einer anderen Metrik. Die vier a- und vier b-Reime müssen an Hadewijch ziemlich hohe Anforderungen gestellt haben.
Lied 13 Rondellus-Strophe ohne Innenrefrain: 4a 4a 4a 3b 4a 3b. Dasselbe Schema treffen wir in den Liedern 16 und 19 an.
Lied 14 Dreiteilige Chansonstrophe mit Stollen, bestehend aus drei Versen: 4a 4a 3b 4a 4a 3b 2c 2c 3d 2e 2e 3d. Die letzte Strophe folgt dem Schema des Abgesangs und fügt dort nach demselben Muster noch drei Verse hinzu: 2a 2a 3b 2c 2c 3b 2d 2d 3b. Die Reprise übernimmt dann wieder die Struktur des Aufgesangs: 4a 4a 3b 4a 4a 3b. Dieselbe Strophenform kommt auch in Lied 26 vor. Eine Quelle wurde bisher nicht gefunden.
Lied 15 (Melodie auf S. 421) Dreiteilige Chansonstrophe: 3a 4b 3a 4b 2c 2c 4b 2c2c 4b; Reprise: 3c 3c 3b. Man kann annehmen, dass das Lied eine Kontrafaktur des Chansons Nouvele amour qui si m’agree von dem ansonsten unbekannten aus dem 13. Jh. stammenden Trouvère Rogeret de Cambrai ist (siehe S. 53 und Schmelzer 2008, 55). Die Strophenschemata stimmen überein, wenn wir annehmen, dass es eine strophische Variation in der Zahl der Betonungen gegeben hat, wodurch die Zahl der erwarteten Betonungen im ersten und dritten Vers drei statt vier ist: 3a 4b 3a 4b 2c 2c 4b 2c 2c 4b Hadewijch 8a’ 8b 8a’ 8b 4c’ 4c’ 8b 4c’ 4c’ 8b Rogeret de Cambrai
Es ist von geringerer Bedeutung, dass das Geschlecht der Reime nicht völlig übereinstimmt (die weiblichen Reime wurden hier jeweils mit Apostroph markiert). Rogerets Lied war in Nordfrankreich nicht sehr bekannt (es gibt davon nur vier Notationen), es war aber in einer anderen Gestalt weit verbreitet: Es gibt nicht nur eine okzitanische Version, sondern die Melodie ist darüber hinaus in der Cantiga Maravillosos et piadosos von Alfons X. dem Weisen (1221–1284) übernommen worden, der von 1252 bis 1284 über Kastilien und León regierte. In diesem Lied wird ein Marienmirakel erzählt, das sich in Flandern abgespielt haben soll. Der französische Text und die vier bekannten Versionen der Melodie wurden von Tischler 1997, Nr. 280, ediert. In der Rekonstruk-
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Kommentar zu Form und Melodie
tion wurde die Version aus der Handschrift K (Paris, Bibliothèque de l’Arsenal, 5198), f. 259, benutzt. Eine verkürzte Version dieser Melodie ist auf Lied 18 anwendbar.
Lied 16 Rondellus-Strophe ohne Innenrefrain: 4a 4a 4a 3b 4a 3b; Reprise: 4c 3b 4c 3b. Dieselbe Form (Reimschema und Metrik) treffen wir auch in den Liedern 13 und 19 an.
Lied 17 (Melodie auf S. 422) Dreiteilige Chansonstrophe 4a 4b 4a 4b 4c 4c 4b. Das Reimschema war in der damaligen westeuropäischen Minnelyrik weit verbreitet, aber in einer Kombination mit sieben oder acht Silben (welche mit Hadewijchs vier Hebungen übereinstimmen) kommt es bei einem beliebten Lied des Trouvère Gace Brulé vor (um 1160 – nach 1213), En dous tens et en bone eure: 4a’ 4b 4a’ 4b 4c’ 4c’ 4b Hadewijch 7a’ 7b 7a ’7b 7c’ 7c’ 7b Gace Brulé
Auch das Geschlecht der Reime stimmt überein (die weiblichen Reime wurden hier jeweils mit einem Apostroph markiert). Es ist gut denkbar, dass dieses Lied Hadewijchs Quelle war, aber ein Beweis fehlt – dafür ist das Strophenschema zu wenig spezifisch (siehe S. 57). Gaces Liedtext ist in elf Handschriften überliefert (alternativ käme als Vorlage ein anonymes Lied in Frage, das allerdings nur unikal überliefert ist). En dous tens ist mit verschiedenen Melodien, besser gesagt mit stark von einander abweichenden Melodieversionen, notiert worden. Die Melodie zu Hadewijchs Text ist hier nach einer Version aus der Trouvèrehandschrift M (Paris, Bibliothèque nationale, fr. 844), f. 24r, notiert. Für eine andere Melodieversion siehe Lied 20, das genau dieselbe Form hat. Die rhythmische Notation folgt der Ausgabe durch Tischler 1976, Nr. 593.
Lied 18 (Melodie auf S. 423) Dreiteilige Chansonstrophe: 4a 4b 4a 4b 2c 2c 4b; Reprise: 2d 2d 4b. Dieses Reimschema war in der westeuropäischen Minnelyrik weit verbreitet. Hadewijch verwendet es auch in den Liedern 17 und 20, aber so, dass in diesen beiden Liedern im fünften und sechsten Vers nicht zwei, sondern vier Hebungen vorkommen. Die Lieder wurden daher wohl zu anderen Melodien gesungen. Zieht man das Muster der Hebungen in den Vergleich mit ein, dann zeigt das Strophenschema eine gewisse Verwandtschaft mit dem von Lied 15 (Schmelzer 2008, Anm. 17), bei dem die Wiederholung des Endes
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weggelassen wurde. Die vorliegende Strophe ähnelt sogar mehr der angenommenen Quelle von Lied 15 (Rogerets de Cambrai Chanson Nouvele amour qui si m’agree) als Lied 15 selbst, weil die Zahl der Betonungen vollständig und auf diese Weise auch das Geschlecht der Reime (weibliche Reime wurden hier jeweils mit einem Apostroph markiert) übereinstimmt: 4a’ 4b 4a’ 4b 2c’ 2c’ 4b Hadewijch 8a’ 8b 8a’ 8b 4c’ 4c’ 8b 4c’ 4c’ 8b Rogeret de Cambrai
Siehe auch den Kommentar zu Lied 15 und das Kapitel über die Rekonstruktion der Melodien, S. 56.
Lied 19 Rondellus-Strophe ohne Innenrefrain: 4a 4a 4a 3b 4a 3b; Reprise: 3a 3b 3a 3b. Dieselbe Form (Reimschema und Metrik) finden wir auch in den Liedern 13 und 16.
Lied 20 (Melodie auf S. 424) Dreiteilige Chansonstrophe: 4a 4b 4a 4b 4c 4c 4b; Reprise: 4d 4e 4d 4e. Dieselbe Strophenform kommt in Lied 17 vor, dasselbe Reimschema (mit metrischen Abweichungen) in Lied 18. Anders als sonst stimmt die Form der Reprise (4d 4e 4d 4e) nicht mit dem Ende der vorherigen Strophe (4c 4c 4b) überein. Offensichtlich wird hier am Ende der erste Teil der Melodie wiederholt. Die für Lied 17 vorgeschlagene Quelle kann natürlich auch für dieses Lied verwendet worden sein: En dous tens et en bone eure von dem Trouvère Gace Brûlé (ca. 1160–nach 1213). Für dieses Lied sind verschiedene Melodien oder Melodieversionen überliefert. In der vorliegenden Rekonstruktion wurde Hadewijchs Text an eine andere Melodie als bei Lied 17 angepasst, nämlich an eine Melodie aus der Trouvèrehandschrift N (Paris, Bibliothèque nationale, fr. 845), f. 31. Die rhythmische Notation folgt der Ausgabe von Tischler 1976, Nr. 593. Siehe hierzu außerdem die Erläuterung, S. 57, und den Kommentar zu Lied 17.
Lied 21 (Melodie auf S. 425) Dreiteilige Chansonstrophe: 5a 5b 5a 5b 3c 3c 3d 3d 3c; Reprise: 3c 3c 3d 3d 3c. Formal zeigt das Lied eine auffällige Übereinstimmung mit einem Mariengedicht (einem serventois) des aus Douai stammenden nordfranzösischen Dichters Jean le Court, Brisebarre genannt, der jedoch erst in der ersten Hälfte des 14. Jhs. tätig war (Grijp 1992, 82). Vielleicht haben beide dieselbe Quelle benutzt, und diese könnte dann das
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Lied Amours, pour ce que mes chanz soit jolis des aus Atrecht stammenden Trouvère Gilbert de Berneville gewesen sein. Gilbert schrieb dieses Lied nach 1247 für Beatrix von Kortrijk (ca. 1225–1288), der Schwester des Herzogs Heinrich III. von Brabant, mit dem er ein jeu-parti (ein Dialoglied) verfasste. Gilberts Strophe stimmt metrisch genau mit der Hadewijchs (und Brisebarres) überein und weicht nur in einem unwichtigen Punkt vom Reimschema ab (siehe S. 52–53). Auch das Geschlecht der Reime schließt sich schön an (die weiblichen Reimklänge werden hier jeweils mit einem Apostroph markiert): 5a 5b 5a 5b 3cʼ 3cʼ 3d 3d 3cʼ Hadewijch 10a 10b 10a 10b 5cʼ 5cʼ 5b 5b 5cʼ Gilbert de Berneville
Gilberts Lied muss ziemlich beliebt gewesen sein. Es ist in sieben Handschriften überliefert, dazu wurden zwei Kontrafakturen gemacht, unter denen eine ein Marienlied ist: Com cil qui est de bone amor esprins. Für Hadewijchs Text wurde die Melodieversion des Amours, pour ce que mes chantz soit jolis aus der Trouvèrehandschift P (Paris, Bibliothèque nationale, fr. 847), f. 115v, benutzt. Sowohl die Melodie, Gilberts weltlicher Text und Com cil qui est de bone amor esprins wurden von Tischler (1997, Nr. 898) ediert.
Lied 22 Die Strophenform weicht von den Schemata, die wir sonst in der Sammlung antreffen, ab: 5a 5a 5a 5a 4b 4b 5a; Reprise: 4c 4c 5a. Ziemlich ähnliche Strophen findet man sowohl in der mittellateinischen als auch in der altfranzösischen Liedkunst (die rotrouenge) (12.–13. Jh.): Auf eine Reihe von vier durchgängig verhältnismäßig langen, miteinander reimenden Versen folgen kürzere b-Verse, die in beiden Sprachen jedoch beinahe immer Bestandteil eines Refrains sind.
Lied 23 Dreiteilige Chansonstrophe: 4a 4a 3b 4a 4a 3b 3b 3b 3b 3c 3c; Reprise: 3b 3b 3c 3c. Dieses augenscheinlich einfache Schema versperrt die Sicht auf eine äußerst komplizierte Form. Alle a-Verse weisen einen Doppelreim auf, das heißt, dass sich der Endreim über zwei betonte Silben erstreckt: goede spoet: spoede goet (V. 1–2). Darüber hinaus bildet der erste Teil des Doppelreims im ersten a-Vers einen grammatischen Reim mit dem zweiten Teil des Doppelreims im folgenden a-Vers (z. B. goede: goet), und umgekehrt (spoet: spoede), sodass man einen Chiasmus feststellen kann. Nur die zehnte Strophe, die nicht in Handschrift A vorkommt, erfüllt dieses Muster nicht. Außerdem müsste in der 11. Strophe, V. 107, gewerc zu gemerc („Kontempla-
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tion, Überlegungen“) verbessert werden, um auch dort das Schema genau zu erfüllen. Der Refrain Nu moete ons God beraden reimt sich mit dem Vers, der unmittelbar vor diesem steht. Das impliziert, dass Hadewijch sogar zwölf Reimwörter auf -aden finden musste. So kommt es, dass auch ein Begriff wie cade (gerösteter Fettrand) in diesen mystischen Liedern verwendet wird.
Lied 24 Dreiteilige Chansonstrophe mit Stollen bestehend aus drei Versen: 3a 3a 3b 3c 3c 3b 4d 4d 3e 4/5e. Dieselbe Strophenform kommt in Lied 29 vor. Eine mögliche Quelle wurde bisher nicht gefunden. Dass zwei a-Reime des ersten Stollens im zweiten Stollen c-Reime werden, ist in der germanischen Minnelyrik sehr gebräuchlich.
Lied 25 Dreiteilige Chansonstrophe: 4a 4b 4a 4b 4b 4c 4b 4c 4b 4c; Reprise: 4d 4e 4d 4e. Ein vergleichbares Schema findet man sonst nicht.
Lied 26 Dreiteilige Chansonstrophe: 4a 4a 3b 4a 4a 3b 2c 2c 3d 2e 2e 3d; Reprise: 2f 2f 2d 2g 2g 2d. Dieselbe Strophenform wie in Lied 14. Eine mögliche Quelle ist nicht bekannt.
Lied 27 (Melodie auf S. 426) Dreiteilige Chansonstrophe: 4a 3b 4a 3b 3c 4c 4b/d 4b/d 4d/e 4d/e; Reprise: 4c 4c 4b 4b 4d 4d. Sowohl Metrik als auch Reim sind ziemlich unregelmäßig. Möglicherweise handelt es sich um eine Kontrafaktur des Marienliedes Mout sera cil bien nouris, das das gleiche Reimschema aufweist, auch wenn das Muster der Hebungen abweicht: 4aʼ 3b 4aʼ 3b 3c 4c 4b 4b 4dʼ 4dʼ Hadewijch 7a 5b 7a 5b 5c 7c 4b 9b 7Dʼ 7Dʼ Mout sera cil bien nouris
Beim siebten Vers würde man bei Hadewijch wegen der Halbierungsregel eher zwei als vier Betonungen erwarten. In der Tat scheint ein solches Muster bei den Hebungen in einigen Strophen von Hadewijchs Lied durchzuschimmern, zum Beispiel in der dritten Strophe, die man auf die folgende Weise lesen kann:
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4aʼ 3b 4aʼ 3b 3c 4c 2b 5b 4dʼ 4dʼ
Hadewijchs siebter und achter Vers stimmen mit drei kurzen Versen der Quelle überein, über die Hadewijch ihre Silben offensichtlich auf verschiedene Art und Weise verteilt hat. Damit kann die Ähnlichkeit der äußerst charakteristischen Strophen in überzeugender Weise gezeigt werden. Dass der a-Reim bei Hadewijch weiblich (angedeutet mit einem Apostroph) und in dem Vorbild männlich ist, scheint von geringerer Bedeutung zu sein. Das Marienlied selbst ist eine Kontrafaktur des Minnelieds Hé, Amours, je fui nouris, das im Reim eine leichte, metrisch indifferente Abweichung aufweist. Hé, Amours wird in den Handschriften den Atrechter Trouvères Gilbert de Berneville oder Robert de Le Piere aus der Mitte des 13. Jhs. zugeschrieben. Dieses Lied muss ziemlich beliebt gewesen sein, denn außer der Tatsache, dass es in acht Handschriften überliefert ist, wird die Melodie auch noch einmal in dem anonymen Minnelied Aucune gent m’ont blasmé benutzt. Es gibt wenig Zweifel daran, dass Hadewijch ihr Lied zu dieser Melodie gedichtet hat, die für all diese französischen Lieder dieselbe ist. Hier wurde die Version aus der Trouvèrehandschrift X (Paris, Bibliothèque nationale, nouv. acq. 1050), f. 258, gewählt. Eine Ausgabe der französischen Texte und Melodievarianten bietet Tischler 1997, Nr. 908.
Lied 28 Dreiteilige Chansonstrophe: 3a 3b 3a 3b 3c 3b 3d 3e 3e 3d; Reprise: 3d 3f 3f 3d. Diese Strophenform kann man sonst in der westeuropäischen Lyrik nicht antreffen. Der fünfte Vers hat einen Waisen.
Lied 29 Dreiteilige Chansonstrophe mit Stollen, bestehend aus drei Versen: 3a 3a 3b 2/3c 2/3c 3b 4d 4d 3e 4/5e; Reprise: 4f 4f 3g 5g. Die Zahl der Hebungen scheint nicht immer festgelegt. Dasselbe Schema kommt in Lied 24 vor. Eine mögliche Quelle ist bis heute nicht gefunden worden.
Lied 30 Rondellus-Strophe: 3a 3a 3a 4b 3a 4b. Die Form des lateinischen rondellus hat hier auch den Text beeinflusst: der zweite und der fünfte Vers sind ganz oder teilweise gleich, was auch im lateinischen Genre oft der Fall ist.
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Lied 31 (Melodie auf S. 427) Dreiteilige Chansonstrophe: 4a 4b 4a 4b 4a 4a 4b 4a. Das Reimschema wurde vor allem in der nordfranzösischen Lyrik in der ersten Hälfte des 13. Jhs. verwendet, von bekannten Trouvères wie Blondel de Nesle (dichtete 1175–1200/1210), Conon de Béthune († 1219/20) und Thibaut de Champagne (1201–1253). Von Blondel kennen wir ein Lied, das auch metrisch genau zu Hadewijchs Strophe passt, S’Amours veut que mes chans remaigne: 4a’ 4b° 4a’ 4b° 4a’ 4a’ 4b° 4a’ Hadewijch 8a’ 8b 8a’ 8b 8a’ 8a’ 8b 8a’ Blondel de Nesle
Das Geschlecht der Reime, bei Hadewijch ziemlich instabil, widerspricht nicht dem bei Blondel (die weiblichen Reime sind mit einem Apostroph markiert, Reimklänge, die genauso oft männlich wie weiblich sind, mit °). Alles in allem scheint eine Anleihe Hadewijchs bei Blondel wahrscheinlich, auch wenn die Strophenform nicht sehr spezifisch ist. Blondels Lied muss ziemlich beliebt gewesen sein, da es in acht Handschriften überliefert ist (eine neunte Handschrift ist verlorengegangen). Die dazugehörige Melodie steht in drei Handschriften, eine alternative Melodie mit demselben Text in einer Handschrift. Blondels Liedtext hat acht Silben pro Vers. Die Melodie wurde hier nach der Trouvèrehandschrift M ediert (Paris, Bibliothèque nationale, fr. 844), f. 138. Blondels Text und die Melodien wurden von Tischler 1997, Nr. 67, herausgegeben. Theoretisch ist es übrigens auch noch denkbar, dass Hadewijch ihr Lied nach dem Chanson Amours par sa courtoiserie des Atrechter Trouvère Jehan de Renti gedichtet hat, mit demselben Reimschema und sieben Silben pro Vers. Dieses Lied ist jedoch nur in einer Handschrift ohne Melodie aufgeschrieben worden.
Lied 32 (Melodie auf S. 428) Dreiteilige Chansonstrophe: 4a 4b 4a 4b 4b 4c 4b 4c. Dieses Strophenschema findet man in zwei anonymen französischen Minneliedern (Joie et soulas me fait chanter und Pour ce se je sui en prison) und auch in dem einstrophigen Lied Diu welt ist der lîhteheite alze rüemeclîchen balt, eine Klage Heinrichs von Veldeke (tätig 1170–1190) über den Verfall der Sitten. (Dasselbe Reimschema kommt in Lied 34 vor, aber mit einer anderen Metrik.) Hadewijchs Text kann zu einem der französischen Minnelieder gesungen worden sein, aber wegen der geringen Bekanntheit der Lieder ist die Wahrscheinlichkeit nicht so groß, dass sie diese wirklich gekannt hat. Das Lied Joie et soulas kommt noch am ehesten in Betracht. Bei diesem stimmen die weiblichen c-Reime (jeweils markiert mit einem Apostroph) mit denen bei Hadewijch überein, bei der das Geschlecht des Reimes ansonsten instabil ist:
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4a° 4b° 4a° 4b° 4b° 4c’ 4b° 4c’ Hadewijch 8a 8b 8a 8b 8b 8c’ 8b 8c’ Joie et soulas
Die Melodie steht, zusammen mit dem unikal überlieferten Text, in Handschrift O (Paris, Bibliothèque nationale, fr. 846), f. 67, und wurde von Tischler 1997, Nr. 480, ediert.
Lied 33 (Melodien auf S. 429) Hymnestrophe bestehend aus vier Versen: 4a 4a 4a 4a. Das Lied ist vermutlich eine Kontrafaktur der Hymne Jesu dulcis memoria. Siehe den Kommentar zu Lied 37 und S. 34 und 57–58 Aus den vielen Melodien, zu denen die Hymne gesungen wurde, wurden für die vorliegende Rekonstruktion zwei ausgewählt. Eine Melodie aus einer Handschrift des 15. Jhs. in Trier (nach Van Duyse Hg. 1907, 2252) für Jesu dulcis memoria; und eine Melodie aus einer Handschrift des 13. Jhs. aus Tongeren, OnzeLieve-Vrouwebasiliek, 63, f. 292r, für die Hymne Jesu flos matris virginis, welche dieselbe Form wie Jesu dulcis memoria hat. Zwei alternative Melodien findet man für Lied 37, das vielleicht auch auf Jesu dulcis memoria zurückgeht.
Lied 34 (Melodien auf S. 430 und 431) Dreiteilige Chansonstrophe: 4a 4b 4a 4b 4b 3c 4b 3c. Dasselbe Reimschema kommt in Lied 32 vor, dort aber mit einer anderen Metrik. Mögliche Vorbilder sind die Lieder De la joie que desir tant, das (möglicherweise zu Unrecht) dem Trouvère Gace Brulé zugeschrieben wird (1160–nach 1213), und Ne puis laissier que jou ne chant des Atrechter Dichters Colard le Bouteiller (dichtete im zweiten Drittel des 13. Jhs.). Beide Lieder stimmen ziemlich genau mit Hadewijchs Strophe überein, inklusiv der charakteristischen kürzeren Verse am Ende mit ihrem weiblichen Reim (jeweils markiert mit einem Apostroph): 4a 4b 4a 4b 4b 3c’ 4b 3c’ Hadewijch 8a 8b 8a 8b 8b 6c’ 8b 6c’ Colard le Bouteiller 8a 8b 8a 8b 8b 6c’ 8b 6c’ Gace Brulé
Keines der beiden französischen Lieder war weit bekannt: Das von Gace kennen wir aus vier Quellen und das von Colard aus drei. Kontrafakturen gibt es für keines von beiden. Wegen der zeitlichen und räumlichen Nähe liegt es näher, Colards Lied für die Quelle für Hadewijchs Lied zu halten, gut möglich wäre aber auch das Lied von Gace. Colards Melodie wird hier in der Version der Trouvèrehandschrift M geboten (Paris, Bibliothèque nationale, fr. 844), f. 129v (siehe Tischler 1997, Nr. 185), die Alternative von Gace nach derselben Handschrift, f. 27 (siehe Tischler 1997, Nr. 209).
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Lied 35 Dreiteilige Chansonstrophe: 4a 4b 4a 4b 4c 4c 4d 4d. Dieses Strophenschema war in de westeuropäischen Minnelyrik des 12. und 13. Jhs. sehr verbreitet.
Lied 36 Das vorherrschende Schema ist 4a 2a 2a 4a 2b 4b 4b 2b 2a 2b 2C; Reprise: 2b 4b 4b 3b 2a 2b 2C, die Hebungen sind jedoch ziemlich unregelmäßig verteilt. Die vielen kurzen Verse, die große Zahl an Wörtern mit demselben Reim (fünf a- und fünf b-Reime) und die Länge des Liedes haben es Hadewijch offenbar nicht einfach gemacht. Ein ähnliches Schema findet sich weder in der deutschen, noch in der französischen oder okzitanischen Literatur
Lied 37 (Melodien auf S. 432) Hymnestrophe mit vier Versen: 4a 4a 4a 4a. Dieselbe Form kommt in Lied 33 vor. Die vermutlich lateinische Quelle beider Lieder ist die Hymne Jesu dulcis memoria. Dass in der sechsten und siebten Strophe des Liedes 37 der „Name“ der Minne gepriesen wird (V. 22 und 25), wurde vielleicht von dieser Hymne beeinflusst, die wohl auch Jubilus rhythmicus de nomine Jesu („Jubilus in Versen auf den Namen Jesus“) genannt wurde. Außerdem geht auch die Formulierung in V. 51 (met memorien jubelieren) vermutlich auf die lateinische Quelle zurück, die nicht nur in vielen Handschriften als ein Jubilus bezeichnet wird, sondern darüber hinaus in ihrem ersten Vers das Wort memoria enthält. Schließlich könnte auch der typische hymnische Beginn der letzten Strophe von dem Vers Tibi laus, honor („Für dich Lob und Ehre“) derselben Hymne beeinflusst worden sein. Von den vielen Melodien, zu denen Jesu dulcis memoria gesungen wurde, wurden hier zwei auf Hadewijchs Text angewandt: eine Jesu dulcis memoria-Melodie aus der Handschrift Einsiedeln 628 aus dem 13. Jh. (nach dem Antiphonarium Monasticum secundum traditionem Helveticae Congregationis Benedictinae. Typis Monasterii B. M. V.de Monte Angelorum [Engelberg] 1943, 444), und die heute gebräuchliche Melodie der Hymne, wie man sie im Liber usualis finden kann; diese letzte Melodie könnte aus dem 12. Jh. stammen. Für zwei alternative Melodien siehe Lied 33.
Lied 38 Dreiteilige Chansonstrophe: 4a 4b 4a 4b 4b 4a 4b 4a; Reprise: 4b 4a 4b 4a. Dieses Schema kommt in der französischen Lyrik so oft vor, dass es schwierig ist, eine Quelle zu benennen. Auch Heinrich von Veldeke (dichtete 1170–1190) benutzte es in
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seinem zweiten Lied (Ich bin vrô, sît uns die tage). Dasselbe Reimschema, aber mit einer anderen Metrik, begegnet uns in Lied 13. Mit nur zwei Reimen für acht Verse pro Strophe muss dieses Lied für Hadewijch eine große Herausforderung gewesen sein.
Lied 39 (Melodie auf S. 433) Dreiteilige Chansonstrophe: 4a 4b 4a 4b 4b 3a 3a 3b 3a; Reprise: 4b 3a 3a 3b 3a. Reimtechnisch handelt es sich hierbei um eine schwierige Strophenform, da pro Strophe fünf a- und vier b-Reimwörter gefunden werden müssen. Dasselbe Reimschema kommt auch in Lied 2 vor, das jedoch im fünften Vers oft drei statt vier Hebungen hat. Obwohl das Reimschema auch in der französischen, okzitanischen und deutschen Minnelyrik vorkommt, gibt es in diesen Traditionen kein Lied, das auch in metrischer Hinsicht ganz mit Hadewijchs beiden Liedern übereinstimmt. Ein Lied von Gace Brulé (ca. 1160 – nach 1213), Qui sert de fausse proire, ähnelt dem Lied am meisten. Siehe weiter beim Formenkommentar zu Lied 2, für das dieselbe Melodie benutzt wurde.
Lied 40 (Melodie auf S. 434) Reihenstrophe (siehe Einleitung, S. 33): 4a 4b 4a 4b 4a 4b 4a 4c; Reprise: 4a 4b 4a 4c. Nach Grijp (1992, 76–78) ist Hadewijchs Lied eine Kontrafaktur zu einer Melodie des französischen Trouvère Moniot d’Arras (dichtete 1213–1239). Die Strophenform stimmt völlig mit dessen Lied Ne me done pas talent überein: 4a 4b 4a 4b 4a 4b 4a 4c’ Hadewijch 7a 7b 7a 7b 7a 7b 7a 7c’ Moniot d’Arras
Der charakteristische Waise am Ende der Strophe ist immer minnen. Das stimmt mit der Situation in Moniots Lied überein, bei dem der c-Reim in allen Strophen derselbe ist. Sogar das Geschlecht der Reime bei Hadewijch stimmt genau mit denen bei Moniot überein, einschließlich des weiblichens Reimes des letzten Verses (markiert mit einem Apostroph). Alles in allem ist die Ähnlichkeit der Strophen sehr überzeugend und auffallend. Ne me done pas talent muss sehr bekannt gewesen sein, denn die Melodie ist in einem jeu-parti (Debatte in Liedform) übernommen worden: Phelipe, je vos demant, verfasst von den Trouvères Thibaut de Champagne (1201–1253) und Philippe de Nanteuil (dichtete 1229–1249/50), und in einem Marienlied des Richard de Fournival (1201–1259/1260). Moniots Text kommt sogar in elf Handschriften vor, das Jeu-parti in neun. Es kann nicht festgestellt werden, welchem der drei genannten Lieder Hade wijch ihre Melodie entnommen haben könnte. Hier wurde Hadewijchs Text auf die Version von Phelipe, je vos demant aus Ms. O (Paris, Bibliothèque nationale, fr. 846),
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f. 87, zugeschnitten. Die Rhythmisierung ist von Yvonne Baljeu. Die Melodie ist mit der von Lied 43 verwandt (siehe dort). Eine Edition der französischen Texte und aller Melodievarianten bietet Tischler 1997, Nr. 432.
Lied 41 Dreiteilige Chansonstrophe: 4a 4b 4a 4b 4c 4d 4c 4d. Dieses Schema ist sowohl in der französischen, okzitanischen wie deutschen Minnelyrik weit verbreitet. Als Quelle kommt vielleicht das französische Marienlied Vierge qui sa virginité Veut garder entierement („Eine Magd, die ihre Jungfräulichkeit ganz bewahren möchte“) in Frage. Diese Annahme ist reizvoll, weil das Lied in einer (1944 zerstörten) Handschrift (um 1300) überliefert war, in der verschiedene französische Texte aus dem lotharingischen Beginenmilieu vorhanden waren (Metz, Bibliothèque municipale, 535). Mehrere Texte aus dieser Handschrift wurden 1994 von Joris Reynaert mit Hadewijch in Verbindung gebracht. Andererseits ist diese Hypothese nicht unbedingt zu erhärten, da es eine große Zahl anderer Lieder gibt, von denen Hadewijchs Lied eine Kontrafaktur sein könnte, und da zwischen den Texten keine inhaltliche Verwandtschaft aufgezeigt werden kann.
Lied 42 Dreiteilige Chansonstrophe: 4a 4b 4a 4b 4b 4b 3b 4b. Ein vergleichbares Strophenschema wurde in der deutschen, okzitanischen und französischen Literatur nicht gefunden.
Lied 43 (Melodie auf S. 435) Reihenstrophe (siehe Einleitung, S. 33): 4a 4b 4a 4b 4a 4b 4c; Strophe 15: 4a 4b 4c; Reprise: 4b 4b 4c. Die einfache Formel wird Hadewijchs virtuosem Spiel mit dem Reim nicht gerecht. Bis auf zwei Ausnahmen (V. 8/9 und V. 47/48) bilden die Reime a und b in jedem Verspaar untereinander auch noch einen grammatischen Reim (zum Beispiel: sinne: sin, winne: ghewin, blide: verblijdt). Der c-Vers ist ein rim estramp, d. h. ein Reim, der in allen Strophen derselbe ist (hier: -aken) und in diesem Lied sogar 17 Mal auftaucht, sodass genauso viele Reimwörter auf -aken gefunden werden mussten. Das Reimschema findet man auch bei einem Lied des Trouvère Gilles de Vieux-Maisons (um 1200), Pluie ne vens, gelee ne froidure, zwar ohne grammatischen Reim, aber mit einem rim estramp für den c-Vers:
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4a’ 4b 4a’ 4b 4a’ 4b 4c’ Hadewijch 10a’ 10b 10a’ 10b 4b 6a’ 10b 7c’ Gilles de Vieux-Maisons
Metrisch passt Hadewijchs Lied, wenn man den Rhythmus modal interpretiert (siehe hierzu S. 54–56). Hier wurde Hadewijchs Text zu der Version von Gillesʼ Melodie in der Trouvèrehandschrift N notiert (Paris, Bibliothèque nationale, fr. 845), f. 179. Eine Edition von Gillesʼ Lied bietet Tischler 1997, Nr. 1203, auf die hier für die Rhythmisierung zurückgegriffen wurde. Der Anfang der Melodie von Gilles erinnert an Ne me done pas talent van Moniot dʼArras, nach der Hadewijch ihr 40. Lied gedichtet hat. Auch die Strophenform ist verwandt: beide haben einen c-Vers mit rim estramp.
Lied 44 Rondellus-Strophe ohne Innenrefrain: 4a 4a 4a 4b 4a 4b. Dieselbe Form tritt in Lied 4 auf.
Lied 45 (Melodie auf S. 436–439) Sequenz: 4a 4a 4a 2b. Die Reime wechseln pro Strophenpaar, und jeder b-Vers besteht aus einem oder mehreren lateinischen Wörtern. Das Lied ist eine Kontrafaktur der Sequenz Mariae praeconio, was an der Entlehnung lateinischer Wörter deutlich wird. Hadewijchs Strophen stimmen auch formal völlig mit der lateinischen Quelle überein. Unten folgt der Text der Sequenz: Mariae praeconio serviat cum gaudio fervens desiderio verus amor.
Möge die wahre Liebe sich mit Freude in den Dienst des Marienlobes stellen, brennend vor Verlangen.
Amoris suffragio presentetur filio matris in obsequio cordis clamor
Möge, mit der Hilfe der Liebe, der Schrei des Herzens dem Sohn als ein Dienst an seiner Mutter angeboten werden.
Ave salus hominum, virgo decus virginum, te decet post dominum laus et honor.
Gegrüßt, Heil der Menschen, Magd, Zierde der der Mägde, dir werden, nach dem Herrn, Lob und Ehre zuteil.
Tu rosa, tu lilium, cuius Dei filium carnis ad connubium traxit odor.
Du Rose, du Lilie, deren Duft den Sohn Gottes in das Hochzeitsband mit dem Fleisch zog.
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Ave manans satie fons misericordiae vera mentis sauciae medicina.
Gegrüßt, reichlich fließende Quelle der Barmherzigkeit, echtes Heilmittel für den verwundeten Geist.
Tu pincerna veniae, tu lucerna gratiae, tu superna gloriae es regina.
Du, Schenkerin der Gnade, du, Lampe der Gnade, du bist die hohe Königin der Herrlichkeit.
Ave carens carie, speculum munditiae, venustans ecclesiae sacramentum.
Gegrüßt, du, die kein Verderben kennt, Spiegel der Reinheit, schmückendes Sakrament der Kirche.
Tu finis miseriae, tu ver es laetitiae, pacis et concordiae, condimentum.
Du, Ende des Elends, du bist der Frühling der Freude, die Würze des Friedens und der Einigkeit.
O felix puerpera, nostra pians scelera, iure matris impera redemptori.
Oh, selige Mutter, die unsere Missetaten wieder gutmachst, befehle dem Erlöser, mit dem Recht einer Mutter.
Da fidei foedera, da salutis opera, da in vitae vespera bene mori. Amen.
Gib die treue Bindung des Glaubens, gib die Werke des Heils, gib am Abend des Lebens gut zu sterben. Amen
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Die Sequenzform impliziert, dass sich die Melodie pro Strophenpaar ändert. Während der Kopist der Handschrift C (oder einer seiner Vorgänger) jedes Paar als eine Strophe aufgefasst hat, wird jedes Strophenpaar in Handschrift A als zwei Strophen wiedergegeben. Dieses Loblied auf Maria entstand vermutlich in Frankreich, möglicherweise bereits am Ende des 11., aber spätestens zu Beginn des 12. Jhs. Hier wurde Hade wijchs Text zu der Version Mariae praeconio aus dem Utrechter Prosarium aus dem 13. Jh. notiert, hg. von De Goede 1965, 131. Diese Version wurde vorher von Grijp (1992, S. 85–87) veröffentlicht. Schmelzer (2008, Anm. 12) nennt alternative Quellen für die Melodie.
Register Das Register bezieht sich auf die Einführung, den Kommentar und die Besprechung von Form und Melodie. Die verschiedenen Bücher der Bibel kann man unter dem Lemma ,Bibel‘ finden, die Signaturen von Handschriften unter dem Lemma ,Handschriften‘. Abelard 23, 79 Abgesang 32–33, 38, 56, 445 Adam von Sankt Viktor, Mundi renovatio nova parit gaudia 140–141 Alfons X der Weise, Maravillosos et piadosos (cantiga) 445 ambrosianische Strophe 34 amor (Etymologie) 111 Angillis, A. Angz. 15, 76 anima: siehe Seele Aristoteles 23–24 Aucune gent m’ont blasmé (Minnelied) 450 Aufgesang 32–33, 285, 445 Augustinus 20, 24, 142–143 avonture („Abenteuer“) 30, 40, 47, 99–100, 110, 138, 202, 325, 352 Baljeu, Yvonne 455 balleren: siehe Tanz bant (van minne), binden („Band der Minne“, „binden“) 39, 46, 110, 220, 322 Beata viscera (Conductus) 440 Beatrix von Kortrijk 448 Betonungen: siehe Hebungen Bild Gottes (imago Dei) 24–25, 78, 79, 317 Beginen 16, 17, 18, 19, 20, 23, 28, 34, 76, 77, 79, 81, 158, 184, 232, 455 Belohnung 39, 125, 132, 152, 186, 192, 197, 230, 290, 334, 335, 377, 404 Berg 161, 165, 234–235, 300 Bethlehem (Kloster bei Leuven) 27 Bernhard von Clairvaux 19, 20, 22–23, 25, 34, 78–79, 142–143, 168–169, 172, 252 Bibel: Genesis (2,10–11) 24, (15,5) 203, (22,17) 203, (32,22–32) 153, (32,24–33) 40, 181, 237 Exodus (19,12) 161, (24,8) 303–304, (33,20) 100 1 Könige (10,1–10) 276 Hiob (3,4) 204, (3,23) 266, (4,12) 123, (5,1) 341, (5,14) 152, 341, (5,18) 118, (6,13) 101,
(10,1) 41, 101, 203, 341, 406, 409, (10,2) 204, (10, 9) 203, (10, 21) 203, (12,13) 105, (19,8) 195, (19,12) 195, (19,19) 101, (19,21) 101, (19,22) 102, (19,25) 198, (23,1–17) 342, (23,4) 361, (23,8–9) 342, (23,13) 346, (26,2) 102, (28,24) 105 Psalmen (23(22),5) 172, (42(41),8) 142–143, (55(54),6) 318, (77(76),4) 301 Hohelied (1,1) 22, 119, 184, (1,3) 394–395, (2,5) 41, (2,12) 168, (2,16) 41, 178, 265, 268, 286, 337, 369, (5,2) 244, (5,6) 143, 244, (6,2) 120, 337, 356, (7,12) 168 Ekklesiastikus (Jesus Sirach) (3,22) 104–105, (24,30) 302, (30,17) 225 Jesaja (2,2) 161, (40,4) 300 Sacharja (8,2) 161 Matthäus (11,30) 168–169, (20,16) 124–125, (22,8) 305, (22,11–13) 149, (22,14) 124–125, (22,37) 275 Lukas (1,38) 301 Johannes (1) 153, (1,3) 226, (1,5) 300, (1,18) 231, 300, (1,29 und 36) 300, (6,48–51) 111, (7,37–38) 383, (12,32) 393 Römer (14,8) 265, 297 2 Korinther (8,9) 260–261, (13,4) 261 Epheser (1,13–14) 149–150 (3,18) 236, (4,24) 106 Philipper (2,7) 153, (4,3) 399 2 Timotheus (4,7) 381 1 Johannes (4,8 und 16) 226 Offenbarung (3,5) 399, (5,5–6) 300, (7,14) 405, (12,1) 158, (12,2) 158, (14,14) 204–205, (20,12) 399, (21,1–6) 228, (21,27) 399 binden: siehe bant Blindheit (geistliche ~) 227, 249–250, 262 Bloemaerdinne (Helwigis Bloemards) 16 Blondel de Nesle 60, 451; S’Amours veut que mes chans remaigne 427, 451 Brandsma, Titus 17 Braut 22, 40, 41, 79, 149, 286, 301, 305 Brisebarre, siehe Jean le Court
Register cantiga de Santa Maria 58, 445 caritate 313 Cercamon 441 chanson (höfisches Minnelied) 32–33, 37–42, 440–456 Chiasmus 373, 448 Christina von Stommeln 34, 80 Colard le Bouteiller Ne puis laissier que jou ne chant 430, 452 Com cil qui est de bone amor esprins (Marienlied) 53, 448 Concatenatio 38–39, 81, 109, 211, 216, 296, 298–301, 304, 306 Conductus 440 Conon de Béthune 451 Daniel 300 Dante 173 Daróczi, Anikó 48, 60 David 301 Demut 19, 153, 296, 297, 394, 402 De penser a vilanie (Marienlied) 418, 443 Doppelreim 448 durchgereimt 32–33 Einhorn 109, 299 Elisabeth von Spalbeek 184 ellende („Verbannung“) 26, 40, 44, 100, 119, 265, 287, 293, 398 Eucharistie 111, 304, 412 Exemplarismus 24, 252 Ezechiel 300 fier(heit) („Stolz“, „Kühn(heit)“) 40, 74, 99, 203, 204, 319 fin’amor 39, 42 Franziskus von Assisi 25 frei, Freiheit 39, 102, 113, 114, 124, 186, 190, 260, 262, 265, 278, 283, 297, 317, 325, 355, 369, 388 fremd, die Fremden 44, 101, 126, 147, 157, 166, 175, 198, 200, 202, 206, 212, 232, 250, 262, 276, 309, 311, 316, 319, 320, 322, 323, 324, 336, 382, 392–393, 396, 407 Gace Brulé 60; Qui sert de fausse proire 54, 416, 433, 441, 454; En dous tens et en bone eure 57, 422, 424, 446, 447; De la joie que desir tant 431, 452 Galicien 58
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Gautier de Coinci 59; De sainte Leocade 441 gebreken („fehlen“) 82 gebruken („genießen“) 45–47, 74, 82, 111, 147, 189, 203, 206, 364–365 Gefangenschaft 39, 109, 110, 299, 317; siehe auch bant Geist (mens) 24–25, 43, 44, 279, 301, 317, 364 gelucke („Glück“) 116–117 genoechte, siehe Vergnügen gerinen („berühren“) 40, 44 gerochte („Lärm, Geräusch, Tumult“) 123, 266–267 Gilbert de Berneville 59; Amours, pour ce que mes chanz soit jolis 52–53, 425, 448; Mout sera cil bien nourris 426; Hé, Amours, je fui nourris 450 Gilles de Vieux-Maisons 60; Pluie ne vens, gelee ne froidure 54–55, 435, 455–456 Godevaart de Bloc 27 grammatische Reime 33, 373, 448, 449, 455 Gregorius der Große 20 Groenendaal 28, 29, 76 hachte: siehe Gefangenschaft Halbierungsregel 50, 54–57, 449–450 Handschriften (mit Werken von Hadewijch) Antwerpen, Ruusbroecgenootschap, Neerl. 385 II (Handschrift R) 28, 66–68, 79 Brüssel, Koninklijke Bibliotheek, 2877–78 (Handschrift B) 27, 28, 67 Brüssel, Koninklijke Bibliotheek, 2879–80 (Handschrift A) 9, 27–28, 36, 66–68, 76, 255, 448, 457 Gent, Universiteitsbibliotheek, 941 (Handschrift C) 17, 27, 28, 31, 66–68, 77, 457 Handschriften (mit Werk von Trouvères) Paris, Bibliothèque de l’Arsenal, 5198 (Sigel: K) 421, 423, 446 Paris, Bibliothèque nationale, fr. 844 (Sigel: M) 422, 427, 430, 431, 446, 451, 452 Paris, Bibliothèque nationale, fr. 845 (Sigel: N) 420, 424, 435, 444, 447, 456 Paris, Bibliothèque nationale, fr. 846 (Sigel: O) 428, 434, 452, 454–455 Paris, Bibliothèque nationale, fr. 847 (Sigel: P) 425, 448
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Register
Paris, Bibliothèque nationale, nouv. acq. fr. 1050 (Sigel: X) 416, 417, 418, 421, 426, 433, 441, 442, 443, 450 Siena, Biblioteca municipale, H.X.36 (Sigel: Z) 419, 443 Handschriften (mit lateinischen Liedern) Einsiedeln 628: 58, 432, 453 Tongeren, Onze-Lieve-Vrouwebasiliek, 63: 58, 429, 452 Trier, Stadtbibliothek: 429, 452 Utrecht, Universiteitsbibliotheek, 417 (das Utrechter Prosarium): 436–439, 457 Hebungen 32, 35, 49–50, 52–57, 61–65, 440, 441, 442–450, 453, 454 Heinrich III. von Brabant 443, 448 Heinrich von Breda 16–18 Heinrich von Veldeke, In dem aberellen 33, 51, 80, 442; Diu welt ist der lîhteheite alze rüemeclîchen balt 451; Ich bin vrô, sît uns die tage 453–454; Die minne bit ich unde man 367–368 Herne, Kartause von 27, 76, 79 Hiob 40, 41, 101, 266, 300, 340, 341, 344; für das Buch Hiob, siehe Bibel Hugo von Sankt Viktor 21, 23, 78 Hymne 34, 57–58, 80, 140–141, 224, 330, 360, 452, 453 intellectus 24 Jaeger, C. Stephen 21, 78 Jakob (Patriarch) 44, 181–182, 237 Jakob von Vitry 19–21, 77 Jan van Leeuwen 29, 76, 80 Jan van Ruusbroec 16, 28–29, 76, 79–80 Jean Érart 59–60; Penser ne doit vilanie 443 Jean le Court, genannt Brisebarre 447 Jeremia 300 Jesaja 300; siehe auch Bibel Jesu dulcis memoria 34, 57–58, 80, 83, 330, 429, 432, 452, 453 Jesu flos matris virginis 58, 429, 452 Jesus Christus: Christus als Sohn im Schoss seines Vaters 231; Christus als Sonne 205; Christus als Licht in der Dunkelheit 300; Minne ist Christus 111, 153; Christus brachte die Minne in die Welt 310; Minne als Grund des Todes Christi 25, 174, 179; Christus als das Lamm Gottes 299–300; Christi Sieg über den Teufel 301; Erlösung
durch Christus 25, 141, 300, 304, 345, 413; Nachfolge Christi 25, 101, 127, 197, 231, 261, 344, 363–364, 383, 412; siehe auch Eucharistie jeu-parti 448, 454 Johanes Groenins 30 Joie et soulas me fait chanter (Minnelied) 67, 428, 451–452 jonc (junge(r) Minnende(r)) 119, 133, 144, 186, 191–192, 221–222, 282, 285–288; 395; siehe auch Jugend joye („Freude“) 39, 221 jubilus, jubileren („Jubel(n)“) 46–47, 82, 119–120, 131, 183, 277, 360 Jugend 110, 282, 286, 362, 376, 378, 415; siehe auch jonc Juliana von Mont-Cornillon 20 Kartäuser: siehe Herne Kontrafaktur 9, 48, 50–53, 56, 58–59, 83, 440, 443, 445, 448, 449–450, 452, 454, 455, 456 Kuss 22, 28, 118–119, 184 Lohn: siehe Belohnung Loos, Ike de 10, 48, 80, 83 Marguerite Porete 79, 81 Maria 16, 44, 50, 109–110, 114, 158, 171–172, 296–307, 410–411, 457; siehe auch Marienlied(er) Maria von Oignies 19, 77 Mariae praeconio (Sequenz) 30, 34, 51, 58–59, 80, 410–413, 436–439, 456–457 Marienlied(er) 50, 51, 53, 307, 440, 442, 443, 448, 449–450, 454, 455 Mechthild von Magdeburg 23, 79, 81 Melisma 53, 54, 65 memoria 20, 364, 453 Mierlo, Jozef van 9, 16–18, 48, 66, 67, 70, 76, 77, 202, 224, 290 Minne 21–22, 25, 26, 30, 38–47 und passim Minnelied, höfisches: siehe chanson Mölk, Ulrich & Friedrich Wolfzettel 49, 54, 57, 83 Mone, Franz Joseph 15, 27, 31, 80 Moniot d’Arras 59, Ne me done pas talent 49–50, 454, 456; Qui bien aime, a tart oublié 417; Amours n’est pas, que c’on die 51, 441–442
Register Mout sera cil bien nouris (Marienlied) 453 Moses 300–301, 304 mulieres religiosae 18–21, 23, 34, 77, 78, 79, 82, 131 Nächstenliebe 231–232, 313: siehe auch caritate nature („Natur“, philosophischer Terminus) 23–25, 43, 73–74, 242, 246, 316–318, 328, 332, 352, 398–403, 412–413 Natureingang 37–38, 81, 98–99, 116, 122, 129, 132, 134–135, 140, 148, 156, 174, 202, 214–215, 226, 230, 242, 249, 258, 297, 308, 316, 349, 360, 366, 398 Nachfolge Christi (imitatio Christi) 25, 79, 296, 344, 363; siehe auch Jesus Christus nederheit („Niedertracht“) 45, 157–158 Nederlandse Liederenbank 57, 83 Notre-Dame-Schule (Paris) 35, 81 nuwe(heit) („Neu(heit)“) 46, 102, 106, 140–147, 174–176, 210–212, 221, 226, 230, 268, 328–329, 333, 353, 405 ongenade („Ungnade“) 44, 145, 148, 152, 344 onthopen („verzweifeln“) 203, 205 orewoet („Sturmwut“) 44–45, 74, 142, 187, 214, 222, 256, 259, 290–294, 327 Origenes 22 orsate: siehe Belohnung out („alt“) 106, 113, 140–145, 282, 284–286, 288 Ovid 337, 369 Partus semiferos (Conductus) 440 Perotinus, Beata viscera 440 Perrin d’Angicourt 59; Quant le cinceniz 419, 443, Personifikation 43, 74, 82, 116, 186 Philippe de Nanteuil, Phelipe je vous demant (jeu-parti) 454 Philipp der Kanzler, Beata viscera 440 pleideren („vorbringen“ oder „angreifen“) 119 Polyptoton 43–44, 74, 132, 157, 210, 218, 230, 270 Pour ce se je sui en prison (Minnelied) 451 Quant li nouviaus tens repaire (Minnelied) 443 Quan vei los praz verdesir (Frauenlied) 444
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Refrain 29, 33, 35–36, 74, 98, 348, 440, 442, 443, 444, 445, 446, 447, 448, 449, 456 Register, registrale Poetik 40, 41, 81, 297 Reihenstrophe 33, 80, 454, 455 Reimgeschlecht 49, 50, 52, 53, 54, 56, 57, 441, 443, 444, 445, 446, 447, 448, 451, 454 Reinmar von Zweter 31 reprise 38, 81 und passim Reynaert, Joris 20, 455, 456 Reypens, Leonce 28 Richard de Fournival, Mere au roi omnipotent 50, 454 Richard von St. Viktor 23, 41, 79, 142, 169, 180–181, 277, 301, 322 rim estramp 33, 455–456 Robert de Le Piere 450 Robert le Bougre (meester Robbeert) 16–17, 77 Rogeret de Cambrai, Nouvele amour qui si m’agree 53, 56, 60, 421, 423, 445, 447 rondellus 35–37, 81, 442, 445, 446, 447, 450, 456 rondet de carole 35 Rookloster 27, 76 Rose 114 rotrouenge 448 Ruelens, Karel 16, 76 Ruh, Kurt 9, 18 Saba (Königin von ~) 40, 274–277, 279, 301 Salomo 104, 274, 277, 300, 319 Schmelzer, Björn 48, 53, 56, 81 Schule der Minne (schola caritatis) 21, 78, 113, 180, 182–183, 185, 293 Schwan 367–368 Schwangerschaft 110, 169–170, 297 Seele (anima) 23–25, 34, 40, 43, 47, 79, 82, 101, 109, 124–125, 142, 149, 150–151, 154, 180, 186, 211, 214, 224, 226, 252, 264, 267, 268–269, 275, 276–277, 305, 314, 317, 345, 350–351, 364, 381, 385, 393–394, 395, 409 Sequenz 9, 30, 34, 48, 51, 59, 80, 140–141, 410, 411, 456–457 Serrure, C.P. 27 serventois 447 Skorpion 237–238 Snellaert, Ferdinand Augustijn 15, 76 Spanke, Hans 54 Stille 123, 264, 266–268 Stollen 32–33, 445, 449, 450 storme („Sturm“) 74, 99, 157, 190, 325, 331, 360
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Register
Streit 40, 79, 99, 109–110, 118–119, 157, 181–182, 234, 237, 239, 301, 325–326, 360–361, 370–371, 374–376, 380, 381–382, 384, 395; siehe auch storme strophische Variation 52–56, 440, 444, 445 Tal 161, 235, 248, 253, 287, 300, 335, 341 Tanz(lied) 35, 36, 46, 81, 184 Tau 114 termineren („Schlüsse ziehen“) 183 Thibaut de Champagne (= Thibaut IV., Graf von Champagne) 31, 80, 444, 451; De ma dame souvenir 53, 60, 420, 443–444; Phelipe, je vos demans 454 Tischler, Hans 55, 58, 83, 441, 442, 443, 444, 445, 446, 447, 448, 450, 451, 452, 455, 456 Tobias 300 tornada: siehe reprise Trouvères 9, 39, 48, 49, 55–56, 58, 59, 60, 61, 83, 440, 441, 442, 443, 444, 445, 446, 447, 448, 450, 451, 452, 454, 455, 456 Treue 41, 42, 43, 45, 108, 109, 114, 116–117, 122–127, 148–150, 156, 157, 161, 168, 176–177, 186, 192, 214, 216–217, 220, 232, 237, 242, 246, 283, 296, 297, 306–307, 309, 337, 339, 340, 346, 378, 403, 411 Trunkenheit (mystische ~) 171–172, 383, 392 Untreue 156–157, 216, 246, 346 Verbannung: siehe ellende Vergil 382 Vergnügen (genoechte) 39, 43–47, 74, 82, 145, 149, 157, 164, 166, 174, 177, 186, 189–190,
262, 264, 268–271, 273, 285, 287, 328, 329, 331, 367, 388, 403 Verlangen (begerte) 23, 25, 34, 37, 38, 41, 43, 44, 46, 74, 82, 110, 123, 132–133, 137, 138, 143, 158, 165, 168, 170–171, 180–183, 185, 187, 189, 202, 211, 214, 223, 229, 236, 239, 243–245, 250, 256, 259, 264, 267–271, 273–274, 277, 279, 287–288, 290–292, 308, 319, 329, 333, 335, 370–371, 382, 395, 396, 398, 401, 403–405 Vernunft (redene, ratio) 23–24, 25, 41, 43, 45, 46, 74, 82, 154, 183, 184, 185, 186, 189–190, 214, 216–217, 221, 264, 268–273, 280–281, 308, 310, 312–314, 381, 385, 403–404 Vierge qui sa virginité veut garder entierement (Marienlied) 455 Waise 55, 450, 454 werc, werken 25, 70, 133, 148, 301, 310, 329, 332–333, 402, 448 wesene („Wesen“, philosophischer Terminus) 77–78, 128, 206, 244, 263, 282, 310 Willem Jordaens 28 Wilhelm von St. Thierry 22, 78, 79, 82, 100, 143, 183, 185, 301, 349–350 Willems, Jan Frans 15 Wolfzettel, Friedrich: siehe Mölk, Ulrich Wunde (Liebeswunde) 40, 41, 118, 180–181, 185, 211, 236, 270, 272, 282, 289, 299, 308, 375, 382–383, 404 wondere („Wunder“) 171, 218–219, 267, 274, 276–277, 322, 327, 368–369, 382, 402 Wort (das verborgene –, verbum absconditum): siehe unter Bibel Hiob 4,12