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German Pages 408 [410] Year 2015
Gutes Übersetzen
Albrecht Buschmann (Hrsg.)
Gutes Übersetzen Neue Perspektiven für Theorie und Praxis des Literaturübersetzens
ISBN 978-3-05-005968-6 e-ISBN (PDF) 978-3-05-006535-9 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-038014-9 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2015 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com
In memoriam Eugen Helmlé (1927–2000). Dem Übersetzer, Lehrer und Freund
Inhalt
Inhalt .................................................................................................................................. VII Albrecht Buschmann Gutes Übersetzen. Ein Dialog zwischen Praxis und Theorie .................................................1
Klassische Grundlagen Niklas Holzberg Prüde Antike? Das Übersetzen der Lust im Text .................................................................15 Christiane Reitz/Andreas Fuchs Vertere. Zu Theorie und Praxis des Übersetzens in der Antike ..........................................35
Theoretische und methodologische Fragen Annette Kopetzki Praxis und Theorie des literarischen Übersetzens: Neue Perspektiven ................................69 Andris Breitling Sprachliche Kreativität und Gastfreundschaft. Bedingungen der Möglichkeit des Übersetzens ..........................................................................................................................85 Judith Kasper „Schwindelerregende Türme“. Übertragen und Übersetzen in Dekonstruktion und Psychoanalyse ....................................................................................................................109
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Inhalt
Stefanie Arend Rhetorik, Stil und Verstehen: Theoriegeschichte der ,Angemessenheit‘ (aptum) von der Antike über Goethe und Kayser bis zur linguistischen Pragmatik ...............................119 Dorota Stroińska Sinn und Sinnlichkeit. Warum literarisches Übersetzen eine Kunst ist .............................137 Gesa Mackenthun Übersetzen, Herrschen, Überleben: Imperiale Übersetzung und kolonialer Diskurs in Amerika ..............................................................................................................................153
Wie viel Theorie braucht die Praxis? Albrecht Buschmann Von der Problemforschung zur Ermöglichungsforschung. Sieben Vorschläge für eine praxisorientierte Theorie des Übersetzens ..................................................................177 Thomas Brovot Zielsprache: Deutsch! Fortbildung unter Literaturübersetzern...........................................191 Susanne Lange Der unheimliche Dritte. Der Übersetzer zwischen Literatur und Literaturwissenschaft .........................................................................................................201 Frank Heibert Wortspiele übersetzen: Wie die Theorie der Praxis helfen kann ........................................217
Heilige Schriften Dieter Gutzen „Denn wer dolmetzschen wil, mus grosse vorrath von worten haben.“ Von Luthers Bibelübersetzung zur Bibel in gerechter Sprache ..............................................................243 Martin Rösel Revision und Neuübersetzung. Die Apokryphen in der Lutherbibel 2017.........................283
Inhalt
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Melanie Lange Die Septuaginta des Danielbuches: Übersetzen als theologische Aktualisierung ..............297 Rafael Arnold Das Wissen um die Grenzen der eigenen Methoden. Die Ladino-Übersetzer im 16./17. Jahrhundert .............................................................................................................315
Übersetzen im Deutschen Franz-Josef Holznagel/Martin Rösel „Vnter einer Linden ...“: Susanna 54–59 in den Übersetzungen der Lutherbibel ..............341 Andreas Bieberstedt Reynke Vosz de olde (Rostock 1539). Methodische Überlegungen zur Neuübersetzung eines mittelniederdeutschen Klassikers ...................................................361
Zu den Autorinnen und Autoren ........................................................................................387 Sachindex ...........................................................................................................................393 Personenindex ....................................................................................................................397
ALBRECHT BUSCHMANN
Gutes Übersetzen. Ein Dialog zwischen Praxis und Theorie
Nirgendwo wird so gut übersetzt wie in Deutschland. Es merkt nur keiner: Denn um die Qualität der Übersetzungen ins Deutsche einschätzen zu können, müsste man regelmäßig Übersetzungen in andere Sprachen lesen und auch in der Lage sein, sie zu beurteilen. Und man müsste sich die Arbeit machen, die auf Deutsch erschienenen Übersetzungen mit den Originalausgaben zu vergleichen. Nirgendwo wird so gut und so viel übersetzt wie bei uns. Das lässt sich leicht errechnen: Die Statistiken des Index Translationum der UNESCO und des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels zeigen, dass in Relation zur Zahl der potenziellen Leser Deutsch die häufigste Zielsprache belletristischer Übersetzung ist. Darum haben Literarische Übersetzer hierzulande (sowie in Österreich und der Schweiz) gut zu tun, um Jahr für Jahr etwa 4000 belletristische Titel zu bewältigen, und das schon seit geraumer Zeit. Weitaus wichtiger aber ist die Qualität ihrer Arbeit, die viel damit zu tun hat, dass die literarischen Übersetzer mit enormem Engagement ihre berufliche Fortbildung betreiben. Diese Aufgabe haben sie in Eigenregie übernommen, weshalb heute zahlreiche Übersetzer nicht nur übersetzen, sondern auch ihre (jüngeren) Kollegen unterrichten. Auf diesem Weg sind aus Praktikern Dozenten geworden, die ihr tägliches Tun reflektiert aufbereiten, didaktisch verdichten und in Übungen vermitteln: Denn wer unterrichten will, wie man gut übersetzt, muss sich Gedanken machen über gutes Übersetzen. Und so dürften die heute im deutschen Sprachraum aktiven literarischen Übersetzer, von denen die besten auch als Dozenten tätig sind, mehr als jede Übersetzergeneration vor ihnen, ein enormes Wissen darüber akkumuliert haben, was gutes Übersetzen ausmacht. Wo wird dieses Wissen sichtbar? Zum einen in exzellent übersetzten Büchern, und darum geht es zuallererst. Aber, so lautet die sich anschließende Frage, um die dieses Buch sich dreht, warum wird dieses praktisch erworbene und lehrend verdichtete Wissen vom Übersetzen nicht auch wissenschaftlich sichtbar? Warum wird es nicht methodisch und theoretisch aufbereitet? Denn der Bedarf an Erkenntnissen darüber, worin die Herausforderungen der schwierigsten Form des Übersetzens, des Übersetzens von Literatur, bestehen, und wie bewährte Lösungen aussehen und wie man zu solchen Lösungen gelangt, ist in der Übersetzungsforschung groß. Trotzdem herrscht zwischen der akademischen Wissenschaft und den literarischen Übersetzern bestenfalls freundli-
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ches Desinteresse. Die Gründe dafür sind zunächst recht banal: Literarische Übersetzer können es sich schlicht nicht leisten, für die Wissenschaft zu arbeiten, denn sie sind selbstständige Kleinunternehmer, die nach Seitenhonorar entlohnt werden. Für sie bedeuten ein Tag Arbeit an einem Artikel für eine Zeitschrift, oder drei Tage Anwesenheit bei einer wissenschaftlichen Konferenz, oder eine Woche Vorbereitung für einen tiefergehenden Beitrag, dass ihnen am Ende des Monats einige hundert Euro Einnahmen fehlen. Umgekehrt sind Wissenschaftler gehalten, sich bei ihren Forschungen zum Übersetzen an publizierte Quellen zu halten (die Übersetzer selten liefern) und an anerkannte Autoritäten (die Übersetzer in der Wissenschaft nicht mehr sind). Natürlich gibt es Berührungen zwischen diesen beiden Sphären. Vereinzelt publizieren Übersetzer Studien, in denen sie einen Einblick in ihre Arbeitsweise und deren Grundlagen geben, der über das hinausgeht, was die konkreten Erläuterungen im Nachwort etwa einer Klassikerübersetzung bieten.1 Umgekehrt schreiben einige wenige Philologen und Übersetzungswissenschaftler so über den Gegenstand, dass ihr Bemühen um ein integrales Verständnis vom Prozess des Übersetzens erkennbar wird.2 Aber das sind die Ausnahmen. In der Regel bleibt an den Universitäten unberücksichtigt, welche Erkenntnisse die literarischen Übersetzer3 zum Übersetzen beizusteuern 1
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Vgl. Gabriele Leupold/Katharina Raabe (Hg.), In Ketten tanzen. Übersetzen als interpretierende Kunst, Göttingen 2008; Gabriele Leupold/Eveline Passet (Hg.), Im Bergwerk der Sprache. Eine Geschichte des Deutschen in Episoden, Göttingen 2012; Marie Luise Knott/Georg Witte (Hg.), Mit anderen Worten. Zur Poetik der Übersetzung. 7 Jahre August-Wilhelm-von-SchlegelGastprofessur zur Poetik der Übersetzung, Berlin 2014; Helga Pfetsch (Hg.), Spritz – Sprache im Technischen Zeitalter (Sonderheft: Souveräne Brückenbauer – 60 Jahre Verband der Literaturübersetzer), Köln 2014. Vgl. Jürgen von Stackelberg, Weltliteratur in deutscher Übersetzung. Vergleichende Analysen, München 1978; Klaus Reichert, Die unendliche Aufgabe. Zum Übersetzen, München 2003; Rainer Kohlmayer, „Der Literaturübersetzer zwischen Original und Markt. Eine Kritik funktionalistischer Übersetzungstheorien“, in Lebende Sprachen, 33, 1988, 145–146; ders., „Einfühlungsvermögen – Von den menschlichen Grundlagen des Literaturübersetzens“, in Rainer Kohlmayer/Wolfgang Pöckl (Hg.), Literarisches und mediales Übersetzen. Aufsätze zu und Praxis einer gelehrten Kunst, Frankfurt a. M. 2004, 11–31; Umberto Eco, Quasi dasselbe mit anderen Worten. Über das Übersetzen, aus dem Italienischen von Burkhart Kroeber, München 2006. Es geht in diesem Band allein um literarisches Übersetzen, verstanden als die doppelte Herausforderung, für gute Texte eine gute Übersetzung zu finden. Denn Erkenntnisse zum literarischen Übersetzen versprechen „Orientierungsfunktion“ auch für andere Arten von Texten; vgl. Rainer Kohlmayer, „Literarisches Übersetzen: Die Stimme im Text“, in DAAD (Hg.), Germanistentreffen Deutschland–Italien 8.–12.10.2003. Dokumentation der Tagungsbeiträge, Bonn 2004, 465–486, hier 465. „Gute Texte“, damit sind literarische, essayistische, theologische oder philosophische Werke gemeint, deren Stil eine Herausforderung darstellt, und „gut übersetzen“ meint an dieser Stelle, dass die Übersetzung dem deutschen Leser eine im weitesten Sinne äquivalente Lektüre ermöglichen soll. – Sofort stehen die grundsätzlichen Fragen im Raum: Was genau ist ein „literarischer“ Text? Wie definiert sich eine stilistische Herausforderung? Und kann man den Begriff
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hätten. Das ist so, als ignorierte man an den Fakultäten für Maschinenbau, welche neuen Motoren die Autoindustrie gerade entwickelt hat; als sähen Medizinprofessoren darüber hinweg, welche Therapien sich in der Praxis bewähren. Damit ist die Ausgangslage skizziert: Auf der einen Seite eine kleine, hoch spezialisierte Berufsgruppe mit einem in praktischer Arbeit und berufsbildender Reflexion gewonnenen Wissen vom Übersetzen, auf der anderen ein akademisches Feld, das dieses Wissen nicht wahrnimmt. Deshalb dieses Buch. Ausgehend von einem Symposium an der Universität Rostock, bei dem Praktiker und Akademiker merkten, wie viel sie voneinander lernen können, wurden weitere Autoren angesprochen, mit dem Ziel, den begonnenen Dialog thematisch zu öffnen und historisch zu erweitern. Das Wissen der Antike zum Übersetzen ebenso wie das der Altphilologie über diese Übersetzungspraxis ist unverzichtbar für jeden historisch fundierten Blick auf die Praxis des Übersetzens: Weil gerade römische Autoren sehr bewusst und reflektiert verfuhren beim Nachdichten, „Interpretieren“ oder Übersetzen ihrer griechischen Vorbilder, und weil neben der Theologie wohl keine Disziplin so viel über Neu- und Wiederübersetzung kanonischer Texte unserer Kultur zu sagen weiß wie die Altphilologie. Während der Anglist oder Romanist bei einer neuen Übersetzung Shakespeares oder Flauberts noch aufmerkt, ist es für den Latinisten selbstverständlich, sich zwischen dutzenden Fassungen von Cicero oder Ovid in deutsch, französisch oder englisch zu bewegen. Speziell mit Cicero als Übersetzer beschäftigt sich der erste Beitrag der Altphilologen Christiane Reitz und Andreas Fuchs, der am Beispiel des platonischen Dialogs Timaios zeigt, von welchen Übersetzungsprinzipien er sich leiten ließ – was wiederum Rückschlüsse ermöglicht, an welches Publikum er sich mit welcher Wirkungsabsicht wandte. Niklas Holzberg, Übersetzer und Herausgeber zahlreicher lateinischer und griechischer Klassiker, beschäftigt sich mit der reichen erotischen Literatur der Antike und belegt mit zahlreichen Beispielen aus unterschiedlichen Textgattungen die Neigung deutscher Übersetzer, die erotischen Inhalte alter Texte zu leugnen, zu kaschieren und sogar sinnentstellend wiederzugeben – und das bis in die Gegenwart hinein. Folgt man seinen Übersetzungsvorschlägen, entsteht ein neues Bild von Sinnlichkeit, Sexualität und Geschlechterverhältnissen in der Antike: Weniger erhaben, dafür lebendiger. Weniger Marmor, mehr Farbe. Sein Parcours zeigt exemplarisch, wie übersetzte Texte „Äquivalenz“, der doch mathematische Gleich-Wertigkeit suggeriert, sinnvollerweise benutzen, wenn es um Literatur geht? Diese Fragen beantworten die Beiträger dieses Bandes, jeweils für ihren Gegenstandsbereich. Und als literarischer (philosophischer, theologischer) Text wird derjenige verstanden, der vom Autor als solcher intendiert und vom Leser als solcher rezipiert wird, mit dem gemeinsamen Nenner, dass eine ästhetische Gestaltung des Zusammenspiels von Gegenstand und sprachlicher Form erkennbar ist. Anders gesagt: Es geht nicht um in erster Linie pragmatisch intendierte Texte wie Gebrauchsanweisungen, Reiseführer etc.
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immer nur ein bestimmtes Bild einer Kultur entwerfen, je nach Haltung derjenigen, die übersetzten. Den Abschnitt über „theoretische und methodologische Fragen“ eröffnet Annette Kopetzki. Aus der Perspektive der Praktikerin relativiert Kopetzki, die vor allem aus dem Italienischen4 übersetzt, zunächst einmal die Ansprüche daran, was die Theorie des literarischen Übersetzens leisten kann: Schließlich, so auch die These von Douglas Robinson, sei alle Übersetzungstheorie von Anfang an anekdotisch gewesen, also nicht mit Allerklärungsansprüchen bewehrt. Ihr historischer Überblick zeigt, dass erst seit den sechziger Jahren die Translationswissenschaft und zuletzt auch die Kulturwissenschaften die Erklärungshoheit für Übersetzungsfragen übernommen haben. Mit dem akademischen Schlagwort vom translational turn ist Übersetzen zwar fast schon ein Modebegriff geworden – aber diejenigen, die es praktisch tun, werden, wenn es um das Verstehen des übersetzerischen Handelns geht, inzwischen immer weniger gehört. Gerade für die Analyse des Übersetzens als künstlerische Praxis scheint es wissenschaftlich kaum noch einen Ort zu geben. Illustriert wird Kopetzkis These, das Übersetzen als eine Art Mimesis zu begreifen, mit Beispielen zu der besonders heiklen Frage, wie man mit Dialekten in Übersetzungen umgeht. Aus philosophischer Perspektive nähert sich Andris Breitling, selbst Übersetzer etwa von Henri Bergson, den übersetzungstheoretischen Thesen Paul Ricœurs, der sich die Frage stellte, ob Übersetzen überhaupt möglich ist. So befremdlich die Frage auf den ersten Blick aussehen mag – schließlich wird täglich und erfolgreich übersetzt – so komplex ist sie aus sprachphilosophischer Sicht. Von Wilhelm von Humboldt über Hans-Georg Gadamer bis zu Maurice Merleau-Ponty und Jacques Derrida führt eine Analyse der Übersetzungsreflexion, die nicht zu trennen ist von der Frage, inwieweit dem Menschen Sprache verfügbar und sie dem Verstehen dienlich ist. Beispiele für die Unmöglichkeit äquivalenter Übersetzungen gibt es reichlich, man denke nur an die lexikalischen und sprachgeschichtlichen Hürden, wie sie sich in der Unübertragbarkeit philosophischer „Grundwörter“ zeigen. Aber auch wenn sich im Übersetzen die Grenzen des Verstehens des Anderen aufzeigen lassen, so ermöglicht es doch auch, dieses Andere oder Fremde sichtbar zu machen. Grund hierfür ist die „hospitalité langagière“, die „sprachliche Gastfreundschaft“, von der Ricœur spricht, und dank der Übersetzen als eine Art Doppelfigur begriffen werden kann: Weil es Grenzen sichtbar macht und überschreitet. Wo Andris Breitling noch einen Unterschied annimmt zwischen der letztlich übersetzbaren Sprache und nicht übersetzbaren philosophischen Grundwörtern, geht die Lacan-Übersetzerin Judith Kasper noch einen Schritt weiter und radikalisiert die Prä4
Zudem hat sie aber auch eine Einführung in die Literarische Übersetzung verfasst: Annette Kopetzki/Friedmar Apel, Literarische Übersetzung, 2. vollst. neu bearb. Aufl., Stuttgart [u. a.] 2003.
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misse der Unübersetzbarkeit: Da der Sprache selbst, wie Jacques Derrida in seinem Essay über „Des tours de Babel“ gezeigt hat, eine Vielstimmigkeit und Mehrsprachigkeit eingeschrieben ist, kann auch die Bewegung zwischen den Sprachen nur eine Art ohnmächtig-schwindelnde Verwirrung aufzeichnen. Was aber, wie sie aus der Lektüre zweier Essays von Jacques Lacan herleitet, nicht als Scheitern aufgefasst werden muss, sondern als Suche nach einer gleichsam dritten Sprache zwischen Ausgangs- und Zielsprache, in der ihr „Ver-sagen“ mit aufgehoben sei. Sie argumentiert dabei auch mit der psychoanalytischen Kategorie der Übertragung, die wie das Übersetzen aus der axiomatischen Vieldeutigkeit der Sprache ihr Erkenntnispotenzial gewinnt. Mit ihrer sprachphilosophischen und psychoanalytischen Betrachtung gelangt sie zu einem ähnlichen Fazit wie andere, ästhetisch argumentierende Autorinnen dieses Bandes: dass gutes Übersetzen weniger ein kommunikativer Akt ist als vielmehr ein dichterisches Wagnis. Wenn Übersetzen als Mimesis, als besondere Art der Nachahmung verstanden werden kann – so die These mehrerer Beiträge –, dann lohnt es sich, einen Blick auf den Stilbegriff der Rhetorik zu werfen, wo Nachahmung seit der Antike nicht nur als Teil der stilistischen Formung, sondern auch des Verständnisprozesses selbst verstanden wird. Die Germanistin Stefanie Arend, Autorin einer Einführung in die Rhetorik,5 schlägt in ihrem Aufsatz den Bogen vom Stilbegriff der Antike über Goethes und Kaysers Stilauffassungen bis zur Stiltheorie der linguistischen Pragmatik. Damit versucht sie zu zeigen, dass die Evolution des antiken Konzepts des aptum bis zum heutigen Begriff der Angemessenheit möglicherweise einem ontologischen Prinzip gehorcht, im Sinne eines biologischen Anpassungsmusters. Für den Redner, wie für den Autor und den Übersetzer gilt zudem, dass dem Stil, als Co-Faktor einer Kommunikation und als Operator von Erkennen und Verstehen, zuletzt immer ein je ne sais quoi, ein letztes Rätsel innewohnt. Übersetzen als Mimesis, verstanden nicht als kopierende Imitation, sondern als schöpferische Nachbildung. Dieser Kerngedanke aus Paul Ricœurs Theorie der Metapher scheint ein höchst inspirierender Ansatz für all diejenigen zu sein, die Übersetzen (auch) als Kunst verstanden wissen möchten; dieser Linie folgt auch die Übersetzerin Dorota Stroińska. Der Gedanke, literarisches Übersetzen als eine Form exakter Kunst zu betrachten – so die nur vordergründig als Oxymoron zu verstehende Formulierung von Georg Steiner – steht im Mittelpunkt ihres Beitrags. Mit Antoine Berman begibt sie sich auf die Suche nach einer produktiven Übersetzungskritik und nach Gewährsmännern, die den kreativen Aspekt in der Praxis des Übersetzens theoretisch begründet haben. Fündig wird sie bei Walter Benjamin, der vom „durchscheinenden“ Übersetzen spricht, bei Friedhelm Kemps Vorschlag, die Übersetzung probehalber als eigene lite5
Stefanie Arend, Einführung in Rhetorik und Poetik, Darmstadt 2012.
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rarische Gattung zu betrachten, und bei den Fürsprechern des translator’s turn (Douglas Robinson, Lawrence Venuti), die mit kulturwissenschaftlichen Argumenten für eine größere Sichtbarkeit des Übersetzenden plädieren. Das Fazit ihres Beitrags verbindet das Plädoyer für die Anerkennung der Übersetzung als poetisches Werk mit einer letztlich hermeneutischen Pointe: Weil im Prozess der übersetzerischen Verwandlung das „Unbewusste der eigenen Sprache ins Bewusste gehoben“ werde. Eine besonders heikle Form kultureller Übersetzung steht im Mittelpunkt des Beitrags der Amerikanistin Gesa Mackenthun, der die „translatio imperii et studii“, die Art und Weise der Übertragung europäischer Herrschaftsansprüche nach Nordamerika untersucht. Dabei gilt es einerseits, den Fundus an Diskurstraditionen der Kolonialisten in Erinnerung zu rufen, die den Eroberten in den Chroniken in den Mund gelegt werden: Wenn Moctezuma sein Reich angeblich freiwillig Cortés zu Füßen legt, wenn Indigene nicht widersprechen, während ihnen juristische Dokumente in lateinischer Sprache verlesen werden usf. Weitaus schwieriger gestaltet sich der Blick auf die andere Seite dieser ersten Begegnungen zwischen Europa und den Amerikas, die Suche nach den Stimmen der Kolonisierten. Da ihre Worte nicht in ihrer Sprache verschriftlicht vorliegen, kann nur eine kulturell kontextualisierende Rückübersetzung aus europäischen Quellen Aufschluss darüber geben, wie selbst-bewusst, wie intellektuell beschlagen die „Native Americans“ offenbar den britischen Neuankömmlingen gegenübertraten. Denn wie die genaue Lektüre teils unveröffentlichter Zeugnisse der Virginia Company zeigt, wussten die Indigenen die Machtansprüche hinter imperialen Gesten oder religiösen Konzepten sehr wohl zu erkennen und ihnen rhetorisch geschickt entgegenzutreten. Diese Dokumente und die in ihnen eingeschlossenen Übersetzungen enthalten entgegen der Intention ihrer Verfasser eben doch auch die Stimme eines widerständigen Anderen. Dass aus dieser frühen Phase der britischamerikanischen Begegnung vor allem das romantisierende Pocahontas-Märchen tradiert wird, wirkt da wie eine Deckerzählung, die die Erinnerung an die eigene Unterlegenheit zu verschleiern hat. Die vier folgenden Beiträge stehen unter der Leitfrage, wie viel Theorie die Praxis braucht, und umgekehrt. Die Ausgangsthese dieser Einleitung lautet, dass die derzeit lebenden deutschsprachigen Übersetzer die am besten ausgebildete Übersetzergeneration überhaupt sein dürfte. Daran anknüpfend versuche ich in meinem Beitrag, der theoretischen und methodologischen Diskussion zwischen Übersetzern und Übersetzungswissenschaftlern mit sieben Vorschlägen eine Bresche zu schlagen: Sie zielen u. a. auf eine Ausrichtung der Forschung auf die Akteure, eine Stärkung der Stilforschung sowie auf die Überwindung dichotomischer Denkfiguren. Denn um gutes Übersetzen besser zu verstehen, wäre eine Forschung hilfreich, die mit Übersetzern kooperiert und sich an den Möglichkeiten wie der Ermöglichung des Übersetzens orientiert.
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Über die berufspraktischen Anstrengungen der literarischen Übersetzer ins Deutsche schreibt Thomas Brovot, der sowohl Übersetzer aus dem Spanischen ist, als auch einer der Koordinatoren der Übersetzerfortbildungen im Verband der Literaturübersetzer (VdÜ). Wobei die Frage, ob und wie man literarisches Übersetzen lernen kann, nicht einfach zu beantworten ist. Über Jahrhunderte waren Übersetzer Autodidakten, bis heute ist „Literarischer Übersetzer“ keine geschützte Berufsbezeichnung. Erst in den fünfziger Jahren gab es mehr und mehr Übersetzer, die nicht mehr nur nebenbei arbeiteten, sondern sich als hauptberufliche Übersetzer verstanden und sich zu vernetzen begannen. Von diesen Anfängen, das zeigt Brovot, war es ein langer Weg bis zum hohen Professionalisierungsgrad in den neunziger Jahren. Auch heute noch ist literarisches Übersetzen kein grundständiger Studiengang, und aus den wenigen Aufbaustudiengängen kommen am Ende viele gute Verlagsmitarbeiter, aber nur wenige erfolgreiche Übersetzer: Noch immer sind es eher verschlungene und höchst individuelle Wege, die in diesen Beruf führen, weshalb die Berufsverbände erst für bereits aktive Übersetzer Fortbildungen anbieten. Deren Fokus liegt, aus Gründen der Effizienz wie auch aus ästhetischer Überzeugung, auf der Erweiterung der Kompetenzen in der Zielsprache Deutsch, wie die Einblicke in die Arbeitsweise der übersetzerischen Fortbildungsseminare zeigen. Das Verhältnis zwischen Praxis und Akademia steht auch im Mittelpunkt des Beitrags von Susanne Lange über das eigenartige Nicht-Verhältnis, das derzeit zwischen Übersetzern und Philologen herrscht. Die Übersetzerin, zuletzt ausgezeichnet für ihre Neuübersetzung des Don Quijote, stellt sich eine doppelte Frage: Welchen Beitrag kann das Übersetzen von Literatur zum Studium der Philologie leisten, und wie müsste die universitäre Übersetzungsforschung aussehen, die für Übersetzer tatsächlich hilfreich wäre. Ihr Plädoyer zielt einerseits darauf ab, das praktische Übersetzen nicht nur als didaktische Übung für grammatische Grundkenntnisse zu nutzen, sondern sich dort der Kernfrage aller Philologien zu erinnern und zu vermitteln, wie Stil und Inhalt zusammen zu denken sind. Bezeichnend ist, dass sie, wie auch schon ihr Kollege Thomas Brovot, vor allem vom Deutschen her denkt und auch die Germanistik mit in ihr Panorama einbezieht. Denn, so ihre Überzeugung, nur wer sich auch einmal praktisch mit den feinsprachlichen Strukturen einer anderen Sprache beschäftigt hat, nur wer sich einmal wirklich überlegt hat, was deutsche Syntax kann im Vergleich zu der einer anderen Sprache, der wird hinterher bewusster und (vermutlich) pfleglicher mit der deutschen Muttersprache umgehen. Aus seinem Fundus als Dozent schöpft auch Frank Heibert, Übersetzer aus dem Englischen und aus romanischen Sprachen, wenn er sich einem Aspekt zuwendet, der üblicherweise mit dem Etikett „unübersetzbar“ versehen ist: Wortspiele. Alles, was die besondere Herausforderung des Metiers ausmacht – Verschränkung von Form und Inhalt, von Materialität der Sprache und semantischer Fluidität, oder die unterschiedli-
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che Kodierung der außersprachlichen Bezüge in Ausgangs- und Zielsprache –, all das springt einem im Wortspiel in verdichteter Form entgegen; mit der zusätzlichen Aufgabe, dass die Lösung auch noch witzig sein soll. Andererseits, so Heibert, sind auch Wortspiele nur ein Element des Stils, also mit rhetorischer Analyse und äquivalenter Übertragung beherrschbar. Da Witz nun aber nicht allein textimmanent funktioniert, sondern immer eine außersprachliche Referenz hat (ein „Autor“, der witzig sein will, ein „Leser“, der die Anspielung versteht), lassen sich Wortspiele allein mit den gängigen Kategorien wie Stil und Ton nicht erfassen. Deshalb führt Heibert den Begriff der „Haltung“ ein. Sein komplexes Analysemodell erlaubt es ihm, einige wirklich harte Wortspielnüsse methodisch zu analysieren und (witzige) Übersetzungslösungen anzubieten. Der besonderen Herausforderung, religiöse oder „heilige“ Texte wie die Bibel zu übersetzen, widmen sich mehrere Beiträge, wobei aus gutem Grund die Bedeutung der evangelischen Bibel im Vordergrund steht: Im „Luther-Jahr“ 2017 wird der 500. Jahrestag des Beginns der Reformation gefeiert, weshalb derzeit die Lutherbibel überarbeitet wird. Der Germanist Dieter Gutzen war als germanistischer Fachberater an der bislang letzten, 1984 erschienen Überarbeitung von Luthers Text beteiligt. Im Rückblick rekonstruiert er zunächst die Vorgeschichte, Entstehung, Verbreitung sowie die ersten Überarbeitungen dessen, was in dem Begriff „die Lutherbibel“ fälschlich wie ein homogenes Werk letzter Hand klingt. Denn eine der Herausforderungen für jede Arbeit an diesem Monument deutscher Sprache besteht darin, dass weder die Ausgangstexte philologisch stabil sind, noch die mit Luthers Namen versehenen deutschen Bücher einer einheitlichen Poetik folgen würden. Luthers sprachliche Flexibilität und Kreativität – man denke nur an seine Neuschöpfungen wie Blutgeld, Machtwort oder Herzenslust – im Verlauf der 23 Jahre dauernden Übersetzung ist überwältigend, und die Mehrheit der nachfolgenden Bearbeiter hatte nicht die Absicht, aus diesem langen Schatten sichtbar herauszutreten. Ausnahme war die Ausgabe von 1975, die nicht nur eine radikale Erneuerung der Sprache, sondern auch eine Aktualisierung der theologischen Konzepte versuchte. Der Skandal um diesen „Mord an Luther“ (Walter Jens) führte zu eben jener schnellen Revision der Revision von 1984, die Dieter Gutzen vergleichend analysiert. Martin Rösel, als Theologe derzeit an der aktuellen Durchsicht der Lutherbibel beteiligt, erläutert am Beispiel des Buches Daniel die ganz unterschiedlichen Anforderungen, die die Arbeit an diesem Projekt bedeutet: Da gibt es Textstellen, bei denen Luther und seine Mitarbeiter mit Quellen arbeiteten, die heute philologisch besser erschlossen sind und folglich ganz neu übersetzt werden müssten; an anderer Stelle fehlten Luther schlicht Quellen, die heute vorliegen, so dass hier also neu übersetzt und die Frage gelöst werden muss, wie solch ein neuer Text klingen soll – simulierend nach Luther oder transparent nach etwas Neuem? Bei den Apokryphen, die im Mittelpunkt
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des Beitrags stehen, waren zudem mehrere Übersetzer beteiligt, so dass hier auch nicht von einem leicht wiedererkennbaren Luther-Stil ausgegangen werden kann. Der Blick in die Werkstatt all derer, die mit Blick auf 2017 an Luthers Text gearbeitet haben, macht deutlich, was es heißt, sich nur mit einem theologisch und liturgisch zentralen Werk zu beschäftigen, sondern auch mit einem Buch, das den Anfang der modernen deutschen Hochsprache markiert: An Luthers Deutsch arbeiten heißt, an der Geschichte der deutschen Sprache selbst zu arbeiten. Übersetzen als Arbeit am offenen Herzen der eigenen Sprache. Die Entstehung der textlichen Grundlagen, mit denen Luther die Bibel übersetzte, untersucht der Beitrag der Theologin Melanie Lange. Am Beispiel des Danielbuchs der Septuaginta zeigt sie auf, wie schon bei der frühen Übersetzung der hebräischen Schriften ins Griechische die Bearbeiter theologisch interpretieren, um die alten jüdischen Gesetze den neuen Lebensbedingungen in der ägyptischen Diaspora anzupassen. Auch wenn die Legende behauptet, dass die mit dem Werk beauftragten 72 Übersetzer zu einer gleichlautenden Übersetzung gekommen seien (deshalb der lateinische Name „Septuaginta“), der genaue Vergleich der hebräischen mit der griechischen Fassung des Buches Daniel zeigt, wie kulturelles Bewusstsein und theologische Intention der Übersetzer diesen für Jahrhunderte bestimmenden Bibeltext formten. Einerseits erweist sich die Übersetzungsanalyse hier als Dokument einer theologischen Rejustierung der Hierarchie zwischen Mensch und Gott, andererseits als sicherer Zugang zu den kulturellen Codes einer präzise beschreibbaren Gesellschaftsschicht. Einen weiteren Beleg für die Komplexität aller Übersetzung von als heilig verstandenen Texten, aber auch für die Produktivität der Antworten, die frühere Übersetzungspoetiken darauf gaben, analysiert der Romanist Rafael Arnold in seinem Beitrag über die Ladino-Übersetzungen der hebräischen Bibel. Sie entstanden v. a. im 16. Jahrhundert in jenen jüdischen Gemeinden, die aus Spanien und Portugal ausgewiesen worden waren und die mit diesen in hebräischen Zeichen notierten, aber spanischsprachigen Werken all denen Zugang zur Schrift ermöglichen wollten, deren Hebräischkenntnisse zur Lektüre des Originals nicht mehr ausreichten. Das Ideal dieser Übersetzer war eine Art radikalisierter Wortwörtlichkeit, die das Ziel verfolgte, das Hebräische auch im Spanischen immer deutlich erkennbar zu halten – wozu die Morphologie des Spanischen natürlich verändert werden musste, manchmal bis zur Unverständlichkeit. Die Analyse etwa der Bibel von Ferrara (1553) sowie der Vorworte, mit denen die Übersetzer sich seinerzeit erklärten, belegen deren hoch reflektiertes Vorgehen, das nur auf den ersten Blick für uns heutige Leser, die wir an kommunikative, pragmatische Übersetzungen gewohnt sind, befremdlich erscheint. Denn, so kann man sich fragen, eröffnet diese sprachmaterielle Mimetik, diese diaphanische Transparenz, die die andere Sprache gerade nicht zum Verschwinden bringt, nicht die Möglichkeit eines Brückenschlags zu heutigen kulturwissenschaftlichen Übersetzungstheorien?
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Albrecht Buschmann
„Übersetzen im Deutschen“: Am Ende des Bandes steht die oft vernachlässigte Betrachtung sprachgeschichtlicher Aspekte. Wie eng sprachliche und kulturelle Codes beim Übersetzen der Bibel miteinander verschränkt sind, zeigt der gemeinsame Beitrag des Germanisten Franz-Josef Holznagel und des Theologen Martin Rösel über eine zunächst unscheinbare Passage in den Apokryphen (Susanna 54–59), wo eine Verführungsszene im Griechischen unter einem Mastix-Baum, in Philipp Melanchtons Deutsch der Lutherbibel aber unter einer Linde spielt. Einerseits rekonstruiert der Beitrag, wie verschiedene Übersetzergenerationen seit dem 16. Jahrhundert mit den kunstvollen Klangfiguren des griechischen Textes umgingen, anderseits lotet er alle Facetten der Frage aus, welche sprachlichen und kulturellen Archive sich v. a. in der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen deutschsprachigen Lyrik um die Linde gruppierten. Für das Zielpublikum der Lutherbibel, so wird deutlich, muss die Linde als Ort der Liebe und des Liebeswerbens wie auch der Gerichtsbarkeit lesbar gewesen sein, so dass Melanchton eine Übersetzung gelingt, die seinen Zeitgenossen sogar mehr semantisch passende Horizonte eröffnet als der griechische Text; Malerei und Volkslied hielten diesen Kontext noch lange präsent. Doch wie wirkmächtig sind solche im 16. Jahrhundert verfügbaren Verweise und Rezeptionsmöglichkeiten für die Leser einer Lutherbibel des 21. Jahrhunderts? So sprechen gute Gründe dafür, die Verse in der 2017 erscheinenden Ausgabe ohne Verweis auf eine Linde zu übersetzen. Erneut zeigt sich an dieser Stelle: Ein Schlüsselwort aus Luthers Sprachmonument zu streichen, heißt nicht nur, einen Text zu korrigieren und zu verändern, sondern bedeutet immer auch einen Eingriff in die sprachlichen Tiefenschichten der deutschen Kultur. Luthers Bibel zu bearbeiten, das bedeutet ebenso interlinguales Übersetzen aus den hebräischen, griechischen und lateinischen Quellen wie auch intralinguales Übersetzen, insofern verschiedene historische Sprachschichten des Deutschen sichtbar gehalten oder in den Hintergrund gerückt sind. Die besonderen Herausforderungen des intralingualen Übersetzens führt der Germanist Andreas Bieberstedt vor, der derzeit eine kommentierte Übersetzung einer mittelniederdeutschen Reineke-Fuchs-Fabel erstellt, die 1539 in einem Rostocker Druck unter dem Titel Reynke Vosz de olde erschienen ist. Ausgehend von den Kategorien der Skopostheorie entscheidet er sich für eine möglichst adäquate Übersetzung, die – in Kombination mit einer zweisprachigen und kommentierten Edition – vor allen als Hilfe bei der Erschließung des 500 Jahre alten Deutsch gedacht ist. Doch wie der Beitrag zeigt, sind es gerade die Stellen, an denen die formale Nähe zwischen dem alten und dem neuen Deutsch auf den ersten Blick erkennbar ist, die semantische Fallstricke auslegen: Das erste Verstehen des Ausgangstextes steht hier einer angemessenen Übersetzung entgegen, so dass nur ein sehr systematisches Vorgehen ein korrektes Resultat ermöglicht. Was für das interlinguale Übersetzen unter dem Stichwort „Übersetzen aus (eng) verwandten Sprachen“ diskutiert wird, etwa für Sprachenpaare wie Holländisch-
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Deutsch oder Deutsch-Norwegisch, ist damit methodologisch auch Teil einer Germanistik, die sich der Tatsache stellt, dass heutige Leser alte Texte unserer Sprache nicht mehr verstehen können. Mein Dank gilt dem Rostocker Department Wissen – Kultur – Transformation für die finanzielle und logistische Unterstützung der Arbeitsgruppe Übersetzen, den studentischen Teilnehmerinnen meiner Seminare und Vorlesungen für ihre neugierigen Nachfragen, Dr. Svend Plesch und Fanny Romoth für ihre Hilfe beim Lektorat, sowie Sarah Borde und Henning Preuß für die Erstellung der Druckvorlage. Der größte Dank aber gebührt den Autoren für ihre disziplinenübergreifende Begeisterungsfähigkeit. Rostock/Berlin, im März 2015
Klassische Grundlagen
NIKLAS HOLZBERG
Prüde Antike? Das Übersetzen der Lust im Text
Der zu seiner Zeit sehr renommierte Altphilologe Otto Ribbeck bezeichnete in der zweiten Auflage seiner Geschichte der römischen Dichtung von 1900 die Ars amatoria Ovids (43 v. Chr. – ca. 17 n. Chr.) als „Lehrbuch der Lüderlichkeit“ und begründete das u. a. wie folgt: „Gunst und Hingebung in ehelicher Pflicht ist ihm ein schaler Genuß; der Becher soll überschäumen, Mann und Weib sollen in gleichem Grade aufgelöst sein in trunkener Wonne“ (II 683 ff.).1 Es geht an der von Ribbeck genannten Stelle darum, dass Ovid in der Rolle des Erotikprofessors verkündet, er verabscheue einen Koitus, bei dem nicht sowohl er als auch seine Partnerin einen Orgasmus erleben. Eines der hierher gehörenden elegischen Distichen, das Ribbeck als besonders „lüderlich“ empfunden haben könnte, lautet (2,685 f.): odi, quae praebet, quia sit praebere necesse, siccaque de lana cogitat ipsa sua.2
Ob Ribbeck allerdings genau erfasst hat, was ausgesagt ist, entzieht sich unserer Kenntnis. Es ist möglich, dass ihm die für V. 686 vorauszusetzende erotische Konnotation des Adjektivs siccus – dazu gleich mehr – nicht vertraut war; ein Kommentar zur Ars existierte noch nicht. Wenn ein Zeitgenosse Ribbecks, der Latein nicht beherrschte, zu den beiden Versen eine Übertragung befragen wollte, fand er in derjenigen Wilhelm Hertzbergs, die man damals heranzuziehen pflegte, eine Lücke in der Passage, wo eine Entsprechung für die beiden Verse stehen müsste.3 Was da ausgelassen war, weckte also den Verdacht, höchst „lüderlich“ zu sein. Nun, was an dieser Stelle fehlte, wurde im Jahr 1923, als die Ars amatoria in Wilhelm Hertzbergs Wiedergabe in der gerade begründeten 1 2 3
Otto Ribbeck, Die Geschichte der römischen Dichtung, 2. Aufl., Bd. 2: Augusteisches Zeitalter, Stuttgart 1900, 264 f. Zit. n. P. Ovidius Naso, Liebeskunst. Ars amatoria. Lateinisch-deutsch, hg. und übers. von Niklas Holzberg. 5., überarbeitete Auflage, Berlin 2011, 146. P. Ovidius Naso, Kunst zu lieben, übers. von Wilhelm Hertzberg, Stuttgart 1854, 1516.
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Bilinguenreihe „Tusculum-Bücherei“ als vierter Band erschien, durch den Bearbeiter Franz Burger ergänzt: So eine haß ich, die gibt, weil man anders nicht könne als geben, Daliegt nüchtern und steif, Haushaltsgedanken im Kopf.4
Angesichts dieser Verdeutschung gewinnt man allerdings den Eindruck, die Ars sei zumindest verbal nicht „lüderlich“, und das wird durch die heute gängige Prosaübersetzung Michael von Albrechts bestätigt: Ich verabscheue auch eine, die sich hingibt, nur weil das Gesetz es so will, und dabei nüchtern an ihre Wolle denkt!5
Laut den beiden zitierten Übertragungen verwendet Ovids Persona also für das negative Bild einer Frau, die beim Geschlechtsverkehr keine Lustgefühle artikuliert, weder einen anzüglichen noch gar einen obszönen Ausdruck. Einen solchen fand man bis in die Gegenwart auch in Verdeutschungen anderer erotischer Texte der alten Griechen und Römer sehr selten. Sollen wir daraus schließen, dass die Antike, die ohnehin gerne primär als das Zeitalter eines Platon und Cicero, also erhabener Klassiker, betrachtet wird, prüde war? Nein, sie war alles andere als das, wie unser Beispiel zeigt, wenn man sich klar macht, was in V. 2,686 mit sicca gemeint sein muss: nicht etwa „nüchtern und steif“ oder einfach „nüchtern“, sondern „trocken“, wie wir es ja auch in der Schule gelernt haben. „Trocken“ bleibt aber, wie sich anhand von Parallelstellen belegen lässt,6 nicht die Frau, sondern ihre Vagina; diese wird nicht feucht, weil die Frau im Ehebett nur ihre Pflicht erfüllt und dabei ihr tägliches Wollpensum vor Augen hat. So jedenfalls erklärt es der Erotikprofessor in unbekümmerter Offenheit, und das ist nicht nur nicht prüde, sondern höchst schlüpfrig – gewissermaßen im doppelten Sinne. In einem anderen Gedicht Ovids, der von Sappho an ihren Geliebten gerichteten Versepistel (Epistulae Heroidum, 15), erzählt die Dichterin, wie sie von Sex mit Phaon träumt und beendet dies mit den Worten (133 f.): ulteriora pudet narrare, sed omnia fiunt, et iuvat, et siccae non licet esse mihi.7
Die bei uns zweifellos am häufigsten benutzte Reclam-Prosaübersetzung vermeidet eine direkte Wiedergabe von siccae: 4 5 6 7
Zit. n. P. Ovidius Naso, Liebeskunst. Lateinisch-deutsch, nach der Übersetzung Wilhelm Hertzbergs, bearbeitet von Franz Burger, München 1959, 109. Ovid, Die Liebeskunst. Übertragung, Nachwort, Zeittafel, Anmerkungen und bibliographische Hinweise von Michael von Albrecht, München 1979, 69. Zusammengestellt bei Markus Janka, Ovid Ars amatoria. Buch 2. Kommentar, Heidelberg 1997, 476. Zit. n. P. Ovidius Naso, Heroides. Briefe der Heroinen. Lateinisch/Deutsch, übers. und hg. von Detlev Hoffmann/Christoph Schliebitz/Hermann Stocker, Stuttgart 2000, 166.
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Mehr zu erzählen, schäme ich mich, aber das alles geschieht, und es macht mir Freude, und es ist mir nicht möglich, mich zu beherrschen.8
Diese Umschreibung des tatsächlich Gesagten bringt in die Worte Sapphos, die in der Antike als sehr lasziv galt und von Ovid auch so charakterisiert wird, ganz unpassend so etwas wie moralische Selbstkritik hinein. Sittenstrenge ist das, was man von der Schulbank her für ein wesentliches Charakteristikum des klassischen Altertums hält – die Ausscheidung von Vaginalsekret hingegen stünde für einen Mangel an Beherrschung. So entfernt sich auch Bruno Häuptlis Versübertragung durch unfreiwillige Komik vom Original: Weiteres zu berichten, ist peinlich, doch alles geschieht jetzt, 9 und es macht Spaß, ich muß, bleib auf dem trockenen nicht.
Hier erscheint die arme Sappho – zumindest kann man Häuptlis Pentameter so lesen – sogar als Bettnässerin! Ovids Persona redet im lateinischen Text der beiden zitierten Passagen – so viel dürfte deutlich geworden sein – durchaus anzüglich. Aber der Dichter benutzt keine dirty words. Dies wiederum ist ihm von den Gesetzen der Gattungen, in denen er schreibt, auch gar nicht gestattet: Ars amatoria und Epistulae Heroidum gehören zum Genre der Elegie, in dem zwar von Sexualität sehr offen gesprochen werden darf – und das geschieht gerade bei Ovid permanent –, aber die Grenze zu pornographischer Diktion nie überschritten wird.10 Antike Gattungen, die ganz selbstverständlich obszöne Wörter verwenden, sind im Bereich der Dichtung der in Griechenland Mitte des 7. Jahrhunderts v. Chr. von Archilochos begründete Jambus, in dem vorrangig geschimpft und gespottet wird, die in Athen Ende des 5. Jahrhunderts v. Chr. blühende Alte Komödie, die Skoptik viel Platz einräumt, und das spätestens seit dem Hellenismus (323– 31 v. Chr.) als literarisches Genre geltende Epigramm, soweit es Erotik um ihrer selbst willen thematisiert oder seinerseits spottet. Aus dem Bereich des Prosaschrifttums gesellt sich der satirisch-realistische Roman dazu. Im Folgenden sollen zunächst Stellen aus Werken der genannten Gattungen betrachtet werden, die von Übersetzern bis in die jüngste Gegenwart aus einer unserer Zeit nicht mehr angemessenen Prüderie heraus desexualisiert wurden. Dann ist zu zeigen, dass bei der Wiedergabe anzüglich-frivoler Formulierungen in Texten „harmloser“ 8 9 10
Ebd., 167. Zit. n. P. Ovidius Naso, Liebesbriefe. Heroides – Epistulae. Lateinisch – deutsch, übers. und hg. von Bruno Häuptli, Zürich 2001, 149. Besonders eng an diese Grenze stößt Ovid in Amores, 3,7 und Remedia amoris, 397–440; vgl. dazu Niklas Holzberg, „Ovid, Amores 3,7: a Poet Between Two Genres“, in Latomus, 68, 2009, 933–940 bzw. ders., „Staging the Reader Response: Ovid and His ‚Contemporary Audience‘ in Ars and Remedia“, in Roy Gibson/Stephen Green/Alison Sharrock (Hg.), The Art of Love: Bimillennial Essays on Ovid’s Ars Amatoria and Remedia Amoris, Oxford 2006, 40–53.
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Gattungen sehr häufig aus Mangel an Einfühlung in das double-entendre des Gesagten nicht dessen volle Bedeutung zum Ausdruck kommt. Bei der Erörterung der Beispiele aus der ersten Gruppe gehe ich nach den einzelnen Gattungen vor, beschränke mich aber beim Jambus auf seinen römischen Vertreter Catull (Mitte 1. Jh. v. Chr.), bei der Alten Komödie zwangsläufig auf Aristophanes (um 440 v. Chr. – nach 385 v. Chr.), beim Epigramm auf den Römer Martial (38/41–102/104 n. Chr.) sowie auf zwei uns aus der Griechischen Anthologie bekannte Dichter, Dioskorides (Ende 3. Jh. v. Chr.) und Nikarch (um 80 n. Chr.), und schließlich beim Roman auf Petrons lateinisch geschriebene Satyrica (Mitte 1. oder 2. Jh. n. Chr.). Frivolität und erotisches Innuendo sind bei mir lediglich durch weitere Stellen bei Ovid repräsentiert, und zwar durch Verse aus seinem Hauptwerk, den Metamorphosen.
Jambische Obszönität: Catull Catull eröffnet die Sammlung seiner Carmina mit Gedichten zu verschiedenen Themen und spricht in drei von ihnen (c. 2, 3 und 5), die die Hingabe seiner Persona an Lesbia widerspiegeln, als schwärmerisch Verliebter. Auf das dritte – es ist das erste der beiden berühmten Kussgedichte – folgt eines, in dem das Ich Vermutungen über das Sexualleben eines Freundes anstellt und dabei sagt (13 f.): non tam latera ecfututa pandas, ni tu quid facias ineptiarum.11
Michael von Albrecht übersetzt in Prosa: Deine Lenden lägen nicht so abgekämpft darnieder, wenn du nicht allerlei Unfug triebest.12
Aber ecfututa heißt nicht „abgekämpft“, sondern „ausgefickt“, und ein Wort wie „Lenden“ kennt man vor allem aus der Diktion der lutherischen Bibelverdeutschung; durch die Wiedergabe von V. 13 etwa mit „Nicht würdest du einen so ausgefickten Unterleib präsentieren“ wäre eine äquivalente Wirkung (auf heutige Leser) erzielt. Indem Michael von Albrecht dem Leser diese wörtliche und zeitgemäße Übertragung vorenthält, nimmt er ihm die Möglichkeit, einen vom Dichter offenkundig beabsichtigten Effekt wahrzunehmen: Für denjenigen, der Catulls Gedichte von Anfang an linear liest – so geschah es in der Antike beim Aufwickeln der Papyrusrolle –, ist c. 6 das erste, in dem das schwärmerisch verliebte Ich sein Interesse an Sex pur verrät, und ecfututa ist das erste obszöne Wort der Sammlung. Da dieses vollkommen überraschend in V. 13 des 11 12
Zit. n. C. Valerius Catullus, Sämtliche Gedichte. Lateinisch/Deutsch, übers. und hg. von Michael von Albrecht, Stuttgart 1995, 12. Ebd., 13.
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zehnten Gedichtes förmlich aufblitzt, gibt der Dichter jetzt sehr auffällig ein Signal: Er könne durchaus ab und zu ordinär reden, und dies geschieht ja dann auch immer wieder. Dass der genannte Effekt tatsächlich intendiert sein dürfte, legt eine Parallele bei Martial nahe. Dessen poetisches Alter ego kündigt zwar bereits in der Prosaepistel zu Anfang seines ersten Epigrammbuchs unter Berufung auf Catull (u. a.) an, es werde (im übertragenen Sinne) Latine loqui, also dirty words verwenden, aber auf das erste muss man bis zu Gedicht 35 warten: Dort steht überraschend und ganz pointiert am Ende futui („gefickt werden“), und anschließend erklärt der Ich-Sagende in dem programmatischen Gedicht 35, warum seine Verse „nicht ohne Schwanz“ gefallen können. Die lateinische Entsprechung für das dritte Wort ist mentula, das Rudolf Helm in seiner Martial-Gesamtübersetzung stets absolut unpassend mit „Dingel“ wiedergibt.13 Schon Catull widmet der Frage, welche Funktion Sex in seinem Werk hat, ein eigenes Gedicht. Es ist Nr. 16, worin der „ich“ Sagende zwei seiner Leser beschimpft, weil sie aus seinen Kussgedichten erschlossen hätten, er sei kein richtiger Mann. Um wenigstens den Eindruck zu erwecken, er sei es sehr wohl, reagiert er gleich in den beiden ersten Versen mit Pedicabo ego vos et irrumabo, Aureli pathice et et cinaede Furi.14
Ohne Rücksicht darauf, wie hart das in den Ohren der Zeitgenossen geklungen haben muss, übersetzt Michael von Albrecht: EUCH VÖGELN, euch werd ich Bürzel und Schnabel stopfen, Strichvogel Aurelius und Betthüpfer Furius …!15
Damit es unseren Ohren ähnlich hart klingt, sollte dastehen: Ich werde euch in den Arsch ficken und in den Mund, dich, Schwuchtel Aurelius, und dich, Tunte Furius…!16
Catulls Persona bezeichnet die beiden hier höchst grob als Männer, die so effeminiert seien, dass sie bereit sind, in einer mann-männlichen Beziehung den passiven Part zu übernehmen, und droht ihnen mit der Vergewaltigung durch anale und orale Penetration. Der Vollzug von beidem galt in der Antike, wenn ein Mann betroffen war, als denkbar unwürdige Demütigung. Dass diese z. B. ein überwundener Feind erdulden musste, belegt besonders anschaulich eine im Hamburger Museum für Kunst und Gewerbe aufbewahrte rotfigurige Vase, auf der man sieht, wie ein Perser, nachdem sein 13 14 15 16
Vgl. M. Valerius Martialis, Epigramme, eingeleitet und im antiken Versmaß übertragen von Rudolf Helm, Zürich/Stuttgart 1957. Zit. n. C. Valerius Catullus, Sämtliche Gedichte, 24. Ebd., 25. Zit. n. C. Valerius Catullus, Carmina. Gedichte. Lateinisch – deutsch, übers. und hg. von Niklas Holzberg, Düsseldorf 2009, 27.
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Volk durch den Attischen Seebund in der Schlacht am Eurymedon (ca. 465 v. Chr.), besiegt worden ist, einem Athener, der, sein erigiertes Glied in der Hand haltend, auf ihn zuläuft, unterwürfig den After darbietet.17 Ich glaube nicht, dass ein Perser, den man zu so etwas zwang, sich als „Betthüpfer“ empfand, dem der „Bürzel“ „gestopft“ wurde.
Obszönität in der Komödie: Aristophanes Bleiben wir doch gleich bei den Athenern. Dem Jambus eng verwandt ist die Alte Komödie, die für uns allein durch Aristophanes und seine elf überlieferten Stücke repräsentiert wird, da die gesamte übrige Produktion der komischen Bühne des 5. Jahrhunderts verloren ging. In den Fröschen von 405 v. Chr. steigt der Weingott Dionysos zusammen mit seinem Sklaven Xanthos (die beiden bilden ein ähnliches Herr/DienerPaar wie Don Quijote und Sancho Pansa) in die Unterwelt hinab, um Euripides zurückzuholen, da in Athen nach dessen Tod und dem des Sophokles (406 v. Chr.) kein herausragender Tragödiendichter mehr lebt – und Dionysos ist ja der für das Theater zuständige Unsterbliche. Weil Dionysos sich wie Herakles kostümiert hat – der berühmte Held war bereits in der Unterwelt, um den Kerberos zu rauben – und, als er am Tor zum Palast des Unterweltsherrschers angelangt ist, vom Pförtner Aiakos auch wirklich für Herakles gehalten wird, muss er mit fürchterlichen Strafen rechnen. Aiakos geht jedoch erst einmal in den Palast zurück. Dem Gott in seiner Angst entleert sich der Darm, während Xanthias behauptet, er habe sich vor dem Wortschwall und den Drohungen keineswegs gefürchtet. Deshalb lässt er sich von seinem Herrn dafür gewinnen, nunmehr Löwenfell und Keule zu tragen, und Dionysos mimt den Sklaven. Doch im Gegensatz zu dem Gott profitiert „Herakleioxanthias“ (V. 499) von seiner Kostümierung: Vor das Tor tritt eine Magd, die den Pseudo-Herakles im Namen ihrer Gebieterin Persephone in den Palast einlädt; dort würden ihn diverse Delikatessen, Weine und eine schöne Flötenspielerin sowie zwei oder drei Tänzerinnen erwarten. Auch die Magd kehrt wieder in das Haus zurück, und als Xanthias sie dorthin begleiten will, überredet Dionysos ihn dazu, Löwenfell und Keule wieder zurückzugeben. Der Sklave warnt seinen Herrn daraufhin vor neuen Schwierigkeiten. Zwar lobt der Chor, wenn auch wohl ironisch, das Handeln des Dionysos in der ersten Strophe eines sich anschließenden Liedes, doch dieser sagt in trochäischen Dimetern in der zweiten Strophe (542–545), was Ludwig Seeger in seiner bis heute als klassisch geltenden metrischen Verdeutschung wie folgt wiedergibt: 17
Abbildung bei Christian Meier, Athen. Ein Neubeginn der Weltgeschichte, 2. Aufl., Berlin 2004, 289.
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Wäre das nicht gar zu närrisch, wenn mein Sklave Xanthias hier auf miles’schen Polstern sich küsste mit der Tänzerin und dann das Nachtgeschirr verlangte, und ich hätte zuzusehn, spielt’ mein eignes Instrument dann.18
Die Übersetzung ist bemerkenswert genau – nur nicht die des letzten Verses (545). Da vorher von Sex des Sklaven mit einer Tänzerin und jetzt von einer offensichtlich unangemessenen Alternative für den Herrn die Rede ist, liegt nahe, dass Dionysos Selbstbefriedigung meint. Nun baumelte ja den Akteuren in der Alten Komödie ein Lederphallus zwischen den Beinen, und man kann sich vorstellen, dass der Weingott den Seinen auf eindeutige Weise reibt, während er diesen V. 545 spricht. Aber im Original steht auch kein Äquivalent zu „und ich hätte zuzusehn / spielte mit dem eignen Phallus“, sondern „[ἐ]γὼ δὲ πρὸς τοῦτο βλέπων / τοὐρεβίνθου ᾿δραττόμην“,19 und das heißt: „und ich hätte zuzusehn / und dabei den Schwanz zu wichsen.“ Vers 545 taucht im Original nach den vorausgehenden Versen 542–544 auf, die ohne jede obszöne Formulierung sind, was sehr überraschend ist und pointiert wirkt, zumal an dieser Stelle ein Gott spricht. Und das geht durch Seegers (ohnehin etwas lächerlichen) Euphemismus verloren, während die wörtliche Wiedergabe davon einen adäquaten Eindruck vermitteln kann. Es ließen sich viele weitere Verse aus Aristophanes zitieren, die sehr derb sind, die aber bis in jüngste Zeit alle Übersetzer in der Weise wiedergegeben haben, dass die eigentliche Bedeutung dem Leser geradezu verborgen wurde.20 Das zu tun haben wir heutzutage keinen Grund, und neue Verdeutschungen, die hard core nicht scheuen,21 können vielleicht das Interesse von Theaterregisseuren und einem modernen Publikum wecken.
18 19 20 21
Hans-Joachim Newiger (Hg.), Antike Komödien/Aristophanes, Neubearbeitung der Übersetzung von Ludwig Seeger, München 1968, 489. Zit. n. Aristophanes, Frogs, edited with translation and notes by Alan H. Sommerstein, Oxford 1996, 80. Zur Obszönität bei Aristophanes vgl. Jeffrey Henderson, The Maculate Muse: Obscene Language in Attic Comedy, 2. Aufl., New York 1991. Einen ersten Versuch stellen meine Übersetzungen von Die Wolken, Die Vögel, Lysistrate, Thesmophoriazusen (unter dem Titel Das Frauenfest) und Die Frösche dar (vgl. Aristophanes, Lysistrate, hg. und übers. von Niklas Holzberg, Stuttgart 2009; Aristophanes, Das Frauenfest, hg. und übers. von Niklas Holzberg, Stuttgart 2011; Aristophanes, Die Frösche, hg. und übers. von Niklas Holzberg, Stuttgart 2011; Aristophanes, Die Vögel, hg. und übers. von Niklas Holzberg, Stuttgart 2013; Aristophanes, Die Wolken, hg. und übers. von Niklas Holzberg, Stuttgart 2014).
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Obszönität im Epigramm: Martial, Dioskorides, Nikarch Die römische und griechische Epigrammatik enthält viele obszöne Gedichte, in denen das Thema die Liebe von Männern einerseits zu Frauen, andererseits zu Knaben ist. Nicht immer freilich werden uns Sexualhandlungen ungeschminkt vergegenwärtigt; wie bei Ovid kann hier die Wortwahl ambivalent sein, kann das eigentlich Gemeinte mit Hilfe von Metaphern oder arte allusiva oder auf andere Weise indirekt zum Ausdruck gebracht und so der nackte Vorgang der Phantasie des Lesers überlassen werden. Ein gutes Beispiel für diese stilistische Variabilität bietet der folgende Auszug von Martial (1,46): Cum dicis ‚propero, fac si facis‘, Hedyle, languet protinus et cessat debilitata Venus. expectare iube: velocius ibo retentus. Hedyle, si properas, dic mihi ne properem.22
Hans Peter Obermayer, der die erste Monographie über den Eros bei Martial und in der übrigen Literatur der frühen Kaiserzeit schrieb, wobei er den Schwerpunkt auf Texte über mann-männlichen Sex legte,23 übersetzte auch erstmals die Zitate, darunter ganze Gedichte, so weit wie möglich wörtlich. Dabei bemühte er sich, die deutsche Wiedergabe so zu formulieren, dass für den heutigen Leser klar erkennbar wird, was seiner Ansicht nach der Dichter in Worte fassen will. Martial 1,46 versteht er in seiner Übersetzung wie folgt: Mein kleiner Süßer, wenn du zu mir sagst: „Gleich kommt’s mir, nun mach schon, !“, erschlafft mein Schwanz sofort und zieht sich geschwächt zurück. „Laß dir Zeit“, sag: So zurückgehalten, werde ich um so schneller kommen. Hedylus, wenn’s dir kommt, sag zu mir: „Komm noch nicht!“24
Wie man sieht, integriert Obermayer seine Interpretation des Epigramms, die sicher den Kern des Gemeinten trifft, in seine Wiedergabe. Aber sollte er das als Vorschlag für eine adäquate Übersetzung begreifen – ob dies der Fall ist, verrät er nicht –, darf man bezweifeln, dass es sich wirklich um eine solche handelt. Denn Martial hat mehrfach Begriffe gewählt, die das, wozu das Ich den Gedichtadressaten auffordert, nur andeuten, ja geradezu verschlüsseln. Vom Leser wiederum wird offenkundig erwartet, 22 23
24
Zit. n. M. Valerius Martialis, Epigramme. Lateinisch-deutsch. Hg. und übers. von Paul Barié und Winfried Schindler, Düsseldorf 1999, 64. Hans Peter Obermayer, Martial und der Diskurs über „Homosexualität“ in der Literatur der frühen Kaiserzeit, Tübingen 1998. In der Einleitung werden die Gründe erläutert, warum der Begriff der Homosexualität im Zusammenhang mit der Antike und ihrer Literatur nicht gebraucht werden sollte. Hans Peter Obermayer, Martial und der Diskurs über „Homosexualität“, 74.
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dass er die einzelnen Worte dekodiert, wenn Obermayer ihm das aber abnimmt, beraubt er ihn der Gelegenheit zu einem reizvollen literarischen Erkennungsspiel. Schon die Wiedergabe von Hedylus durch ein deutsches Äquivalent stellt geradezu eine Bevormundung des Lesers dar. Denn Römer beherrschten das Griechische gut genug, um die mit der Verwendung eines sprechenden Eigennamens wie Hedylus verknüpfte implizite Aussage würdigen zu können; wir wissen ja auch z. B., was der englische Kosename „Honey“ bedeutet. Aber wie in den Synchronisationen amerikanischer Filme niemand zum Partner „Honig“ sagt – das wäre sehr albern –, scheint mir auch eine Verdeutschung von Hedylus unangebracht; sie sollte lediglich in einer Anmerkung erscheinen. Obermayers Wiedergabe von propero – wörtlich: „ich eile“ – ist sinngemäß zutreffend, aber Martial evoziert mit diesen Worten vermutlich eine Stelle in Ovids Ars amatoria, wo der Erotikprofessor seinem Schüler einen Ratschlag für dessen Verhalten beim Koitus erteilt (2,725–728): sed neque tu dominam velis maioribus usus desere, nec cursus anteat illa tuos; ad metam properate simul: tum plena voluptas, cum pariter victi femina virque iacent.25 Aber lass weder du die Geliebte, indem du größere Segel setzt, im Stich, noch soll sie deiner Fahrt vorauslaufen; eilt gleichzeitig zum Ziel: Dann ist es die volle Lusterfüllung, wenn gleichermaßen besiegt Frau und Mann daliegen. (Übers.: Niklas Holzberg)
Das ovidische Bild vom gemeinsamen „Endspurt“ der Bettpartner ist so komisch, dass der Leser, wenn er es intertextuell assoziiert – für die Zeitgenossen dürfen wir das voraussetzen, da die Ars amatoria bereits in der Epoche, in der Martial lebte, ein beliebter Klassiker war –, sich auch über das Epigramm amüsiert. In Obermayers HardcoreDiktion wirkt der Text sehr ernst, was aber nicht recht zur Gattung passen will. Deshalb sollte man auch Venus, was hier metonymisch für „Penis“ steht, nicht mit „Schwanz“ übertragen. Dafür gebraucht Martial sonst mentula, und auch wenn das wohl nicht ins Metrum einzufügen war, ist nicht ohne weiteres anzunehmen, dass das Ich mit seinem Gegenüber, doch wohl einem Knaben, ordinär spricht; das geschieht ja auch nicht im übrigen Epigramm. Obermayers Wiedergabe klingt eher so, wie Schwule in einem modernen Film ihre Partner anreden, nicht wie die Bitte eines antiken Mannes an einen Knaben; eine solche ist bei Martial und anderen in der Regel in Worte gefasst, die auch an eine junge Frau gerichtet werden könnten. Alles spricht also dafür, weniger interpretierend als Obermayer etwa wie folgt zu schreiben:
25
Zit. n. P. Ovidius Naso, Liebeskunst. Ars amatoria. Lateinisch-deutsch. Hg. und übers. von Niklas Holzberg, Berlin 2011, 150.
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Hedylus, wenn du sagst: „Ich hab’s eilig, mach schon, wenn du’s machst“, wird mein Glied sofort geschwächt und zieht sich zurück. Befiehl mir zu warten, dann komm ich, weil zurückgehalten, schneller. Hedylus, hast du’s eilig, sag mir: „Beeil dich nicht.“26
Griechische Epigramme sind uns vor allem aus der Griechischen Anthologie überliefert, die, aus mehreren antiken Epigrammsammlungen zusammengewachsen, im 10. Jahrhundert n. Chr. in Byzanz entstand. In dieser Zusammenstellung sind rund 3 700 Texte aus der Zeit von der Mitte des 5. Jahrhunderts v. Chr. bis ins Mittelalter enthalten, die in den Ausgaben auf 16 Bücher verteilt sind. Die für unser Thema relevanten Epigramme finden sich in Buch 5 (erotische Epigramme, in denen es um die Liebe zu Frauen geht), Buch 11 (Spottepigramme) und Buch 12 (päderastische Epigramme). Von den sehr freizügigen erotischen Epigrammen sei zunächst eines betrachtet, das Dioskorides verfasste (1,55): Δωρίδα τὴν ῥοδόπυγον ὑπὲρ λεχέων διατείνας ἄνθεσιν ἐν χλοεροῖς ἀθάνατος γέγονα. ἡ γὰρ ὑπερφυέεσσι μέσον διαβᾶσα με ποσσὶν ἤνυσεν ἀκλινέως τὸν Κύπριδος δόλιχον, ὄμμασι νωθρὰ βλέπουσα· τὰ δ᾿, ὴύτε πνεύματι φύλλα, ἀμφισαλευομένης ἔτρεμε πορφύρεα, μέχρις ἀπεσπείσθη λευκὸν μένος ἀμφοτέροισιν, καὶ Δωρὶς παρέτοις ἐξεχύθη μέλεσι.27
Dies lautet in der Versübersetzung von Hermann Beckby: Doris mit rosigen Bäckchen saß jüngst mir im Bett auf dem Schoße, und in der blühenden Pracht ward ich beseligt zum Gott. Fest umpreßte sie mir mit den herrlichen Knien die Hüften, während sie Kyprias Bahn rastlosen Laufes durchmaß. Starr nur ruhte auf mir ihr Blick, und da sie sich regte, ging, wie durch Blätter der Wind, zitternd ein Funkeln durch ihn. Endlich verströmten wir beide die Lust in schäumendem Opfer, und mit ermattetem Leib kraftlos sank Doris zurück.28
Beckbys Verdeutschung der gesamten Griechischen Anthologie gehört zu den größten Leistungen auf dem Gebiet hierzulande entstandener Übersetzungen antiker Texte, und es ist sehr bedauerlich, dass die vier Bände, nachdem sie, 1957 erstmals erschienen, 1965–1967 noch einmal in verbesserter Form aufgelegt worden waren, längst vergriffen sind; das dürfte damit zusammenhängen, dass die nach wie vor überwiegend klas26 27 28
Zit. n. Niklas Holzberg (Hg.), Liebesgedichte der Antike, ausgewählt und übers. von Niklas Holzberg, Stuttgart 2012, 74. Zit. n. Anthologia Graeca. Griechische Anthologie. Griechisch/Deutsch, ausgewählt, übers. und hg. von Niklas Holzberg, Stuttgart 2010, 10. Hermann Beckby (Hg.), Anthologia Graeca. Griechisch-Deutsch, 2. Aufl., Bd. 1, München 1965, 289.
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sizistisch ausgerichtete deutsche Gräzistik an Universität und Gymnasium diese im 17./18. Jahrhundert so wirkungsmächtige Textsammlung heute weitgehend ignoriert. Die Wiedergabe des vorliegenden Dioskorides-Epigramms ist Beckby hervorragend gelungen. Freilich sieht man wieder einmal, wie der metrische Zwang einer genauen Wiedergabe Grenzen setzt, und die „Bäckchen“ zeigen ebenso wie das „schäumende Opfer“, dass auch dieser Übersetzer die Diktion der Erotik aus einer gewissen Prüderie heraus verfremdet. Hier nun eine Prosaübertragung, welche die lexikalische Bedeutung der Konkreta deutlicher erkennbar macht. Die Doris mit dem rosigen Hintern spreizte ich oben auf dem Bett auseinander, und in ihrer frischen Blüte bin ich unsterblich geworden. Denn mit den herrlichen Schenkeln umspannte sie mir die Mitte und vollbrachte rastlos das Rennen der Aphrodite, mit den Augen starr blickend. Die aber – wie Blätter im Wind – flackerten funkelnd, während sie sich heftig auf und nieder bewegte, bis gespendet war die weiße Kraft für uns beide und Doris sich ausstreckte mit ermatteten Gliedern.29
Mein zweites Textbeispiel aus der Griechischen Anthologie, ein Gedicht Nikarchs (11,7), enthält außer dirty words, die Übersetzern Schwierigkeiten bereiten, komisch zusammengefügte Wörter, also Dekomposita, die bei den Griechen Aristophanes besonders oft verwendete – in den Frauen in der Volksversammlung steigert er sich zu einem aus 78 Silben bestehenden Wort für ein Gericht (V. 1169 ff.) – und im deutschen Sprachraum von Johann Nestroy nachgeahmt wurden („Mantelnachdemwinddrehung“). Hier zunächst der griechische Text und Beckbys Wiedergabe: Οὐδεὶς τὴν ἰδίην συνεχῶς, Χαρίδημε, γυναῖκα κινεῖν ἐκ ψυχῆς τερπόμενος δύναται· οὕτως ἡ φύσις ἐστὶ φιλόκνισος ἀλλοτριόχρως, καὶ ζητεῖ διόλου τὴν ξενοκυσθαπάτην.30 Das ist noch keinem geglückt, daß er stets mit begeistertem Herzen nur seine eigene Frau, o Charidemos, liebkost. Schäkern will die Natur, liebt andere Haut mal und wünscht sich daß auch ein fremdes Revier gern sie verstohlen empfängt.31
Die metrische Verdeutschung erinnert ein wenig an die zahmen unter Goethes Venetianischen Epigrammen und lässt nichts von dem sarkastischen Tonfall des mit vielen sehr bösen Spottgedichten hervorgetretenen Epigrammatikers Nikarch erkennen. Denn κινεῖν („bewegen“) heißt in einem erotischen Kontext keineswegs „liebkosen“ und das in φιλόκνισος steckende κνίζειν („kratzen, reizen“) schon gar nicht „schäkern“. Das längste Dekompositum in dem Gedicht, ξενοκυσθαπάτη, ist aus ξένος 29 30 31
Niklas Holzberg (Hg.), Liebesgedichte der Antike, 12. Zit. n. Anthologia Graeca. Griechische Anthologie, 110. Hermann Beckby (Hg.), Anthologia Graeca. Griechisch-Deutsch, 2. Aufl., Bd. 3, München 1968, 549.
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(„fremd“ bei Beckby) und ἀπάτη („Betrug“; „verstohlen“ bei Beckby) mit κύσθος in der Mitte zusammengesetzt. Bei diesem von „fremd“ und „Betrug“ bedeutungsvoll umklammerten Wort handelt es sich um eine vulgäre Bezeichnung für das, was das Greek-English Lexicon von Liddell, Scott und Jones wissenschaftlich-züchtig „pudenda muliebris“ nennt.32 „Revier“ weist also nicht unbedingt in die richtige Richtung, und von dem Pointeneffekt, der durch die Platzierung des sechssilbigen Wortungetüms am Gedichtende erzeugt wird, ist bei Becky nichts zu merken. Das alles kann am ehesten eine Prosaübertragung versuchen nachzuahmen, ohne freilich in der Lage zu sein, die poetische Kunst des Originals nachzuempfinden: Niemand kann dauernd, Charidemos, seine eigene Frau ficken und sich dabei von Herzen vergnügen. So herumfummelgeil ist unsere Natur, so fremdhautwild, und sie sucht ständig nach dem Fremdfotzenseitensprung.33
Sex im Roman: Petrons Satyrica Zum Thema seines pikaresken Romans Satyrica („Satyrische Geschichten“) machte der Römer Petron die von dem Ich-Erzähler Enkolp („der, welcher am Busen liegt“), einem fahrenden scholasticus („Student“), erlebten Abenteuer mit seinem geliebten Knaben Giton. Diese sind in den erhaltenen Bruchstücken des Textes, größtenteils Exzerpten aus einem Werk enormen Umfangs, in Unteritalien lokalisiert und über weite Strecken erotischer Natur. Es ist von verschiedenen sexuellen Praktiken die Rede, aber selten in vulgärer Diktion. Das gilt zumindest für die auf uns gekommenen Textabschnitte. Doch einer davon, in dem die Protagonisten an einer Sexualorgie teilnehmen (Kap. 20,1–26,6), ist am Anfang (20,1–21,3) nur in zusammenhangslosen Sätzen überliefert, und das deutet vielleicht darauf hin, dass die Redaktoren solcher Exzerpte zur Schere griffen, wenn in ihrer Textvorlage dirty words vorkamen. Man stößt immerhin gelegentlich auf einen obszönen oder fäkalischen Ausdruck. Da aber der Wortlaut des Textes sehr schlecht überliefert ist und Altphilologen leidenschaftlich gerne ebenso emendieren wie konjizieren, ist es wohl kein Zufall, dass davon auch schon mal ein anstößiges Wort betroffen war. Ein besonders gutes Beispiel bietet hier Kap. 51 mit der durch Trimalchio dargebotenen Geschichte von einem Mann, der mit einer Schale 32
33
Vgl. Henry George Liddell/Robert Scott, A Greek-English Lexicon, revised and augmented by Henry S. Jones, 9. Aufl., Oxford 1940, 1014 s.v. κύσθος; Wilhelm Pape schreibt s.v. κύσθος: „eigt. die Höhlung, die weibliche Schaam“, er nennt also immerhin die Grundbedeutung, der bei uns „Loch“ entsprechen würde (vgl. Wilhelm Pape, Griechisch-deutsches Handwörterbuch, 2., überall berichtigte und verm. Ausg., 5. Abdr., Braunschweig 1871, 1471). Zit. n. Anthologia Graeca. Griechische Anthologie, 111.
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aus unzerbrechlichem Glas einen römischen Kaiser so sehr beeindruckt, ja schockiert, dass er annimmt, ihn ganz für sich gewonnen zu haben. Der Satz, mit dem Trimalchio über diesen Moment in der Handlung berichtet, lautet in der Standardausgabe von Konrad Müller:34 „putabat se solium Iovis tenere“ (51,5); das bedeutet wörtlich übersetzt: „Er glaubte, den Thron Jupiters innezuhaben“ und wird in Müllers Bilingue auf der rechten Seite neben dem Text von Wilhelm Ehlers frei mit „Er glaubte, der Herrgott persönlich zu sein“ wiedergegeben.35 Aber solium ist eine Konjektur für coleum („Hoden“), das im Kodex steht und sich in den Kontext bestens einfügt: „Er glaubte, Jupiter am Sack zu halten.“ Zur Bestätigung, dass coleum zu Unrecht emendiert wurde,36 braucht man sich eigentlich nur an einen Witz zu erinnern, der einst in den USA über eine Figur in der TV-Werbung erzählt wurde: „What do you have, if you are holding a green ball in your left hand and another green ball in your right hand? Then you’ve got complete hold of the Jolly Green Giant.“ Betrachten wir noch kurz zwei obszöne Stellen, deren Wortlaut alle Editoren, soweit ich sehe, getreu der handschriftlichen Überlieferung abdruckten. Enkolp in Kap. 23 liegt als Teilnehmer an der oben erwähnten Orgie auf einem Sofa, als ein cinaedus herantritt; Ehlers überträgt das Wort mit „Mannshure“,37 was nicht für jedermann verständlich sein dürfte,38 ein passendes Äquivalent ist dagegen „Tunte“. Es geschieht dies: „omni vi detexit recusantem. super inguina mea diu multumque frustra moluit“ (23,4 f.).39 Ehlers schreibt: „Er … deckte mich, obwohl ich mich sträubte, mit aller Gewalt auf. Über mein Glied gebeugt, nuddelte er lange und gründlich, aber ohne Erfolg.“40 „Nuddelt“ er wirklich? Und ist dieses etwas alberne Synonym für das auch nicht bessere „Nuckeln“, falls moluit dafür stehen sollte – dann wäre „lutschte“ vorzuziehen –, dem Vorgang, bei dem es sich dann um eine erzwungene Fellatio handeln müsste, angemessen? Und sagt super inguina wirklich aus, dass der cinaedus sich über 34 35
36 37 38
39 40
Petronius Arbiter, Satyricon reliquiae, hg. von Konrad Müller, 5. verb. Aufl., Berlin 2003, 45. Petronius Arbiter, Satyrica. Schelmenszenen. Lateinisch – Deutsch, hg. von Konrad Müller und Wilhelm Ehlers, 5. Aufl., Düsseldorf 2004, 97. Diese Bilingue ist innerhalb der „Sammlung Tusculum“ jetzt ersetzt durch Petronius Arbiter, Satyrische Geschichten. Satyrica. Lateinischdeutsch, hg. und übers. von Niklas Holzberg, Berlin 2013. Mehr dazu bei Reinhold Glei, „Coleum Iovis tenere? – Zu Petron 51,5“, in Gymnasium, 94, 1987, 529–538. Petronius Arbiter, Satyrica. Schelmenszenen, 43. Grimmsches Wörterbuch und Deutsches Universal Wörterbuch verzeichnen das Wort nicht (Vgl. Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm, bearbeitet von Moriz Heyne, Bd. 12, Leipzig 1885; Duden. Deutsches Universal Wörterbuch, 2., völlig neu bearbeitete und stark erweiterte Auflage. Herausgegeben und bearbeitet vom Wissenschaftlichen Rat und den Mitarbeitern der Dudenredaktion unter der Leitung von Günther Drosdowski, Mannheim 1989); Google lieferte mir zwei unzuverlässige Belege. Petronius Arbiter, Satyricon reliquiae, 18. Petronius Arbiter, Satyrica. Schelmenszenen, 43.
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Enkolps Penis beugte? Das Verb molare bedeutet „mahlen“, und das weist sehr wahrscheinlich darauf hin, dass nicht einfach ein erigiertes Glied felliert, sondern kräftig massiert und gerieben wird, da es schlaff ist. Aber wie praktiziert der cinaedus das? Oral? Manuell? Auf irgendeine andere Weise? Obermayer vermutet, dass der cinaedus sein Opfer entweder „sehr heftig“ masturbiere oder ihn, während er rittlings auf ihm sitze, zur analen Penetration nötige.41 Letzeres ist vielleicht schon in 21,2 gemeint, wo es von einem (anderen?) cinaedus heißt: „mox extortis nos clunibus cecidit“.42 Hier die Ehlers’sche Version: „Bald berammelte er uns unter Verrenkungen seines Hinterns.“43 Was das heißen soll, ist unklar, Obermayer aber glaubt es zu wissen: „Er bumste uns mit seinen auseinandergezogenen Arschbacken.“44 Das ist eine ohne weiteres denkbare Wiedergabe, und sie setzt voraus, dass ein cinaedus, der sonst bei mann-männlichem Sex den passiven Part übernimmt, hier insofern aktiv ist, als er einen Mann dazu zwingt, ihn zu penetrieren. Ob Obermayer richtig vermutet oder nicht – auf keinen Fall sollte man wie Ehlers aus Scheu vor obszöner Diktion Sätze wie die genannten so wiedergeben, dass der Leser kaum begreift, um was es geht, und überdies wären die mit solchen Passagen verbundenen Probleme in einem Kommentar zu erörtern.
Innuendo und Intertextualität: Ovids Metamorphosen Wie in der Ars amatoria erotisiert Ovid in den Metamorphosen, in denen das Liebesmotiv eine zentrale Rolle spielt, den Text durch subtiles double-entendre. Das kombiniert er oft mit Intertextualität, welche die Anzüglichkeit auf ein hohes geistiges Niveau hebt. Davon ist aber in den uns vorliegenden Verdeutschungen auch aus jüngerer Zeit wenig zu bemerken, und einer von mehreren Gründen dafür dürfte sein, dass die Übersetzer die neueren Forschungsarbeiten und Kommentare nicht berücksichtigen, die, seit Mitte der achtziger Jahre des 20. Jahrhunderts von anglophonen und italienischen Latinisten erschienen, das Textverständnis auf ein ganz neues Fundament gestellt haben.45 Betrachten wir ein einfaches Beispiel. Als Jupiter sich in der Gestalt eines weißen Stiers Europa genähert hat, hält sie ihm Blumen ans Maul. Er reagiert so (2,862 f.): gaudet amans et, dum veniat sperata voluptas, 41 42 43 44 45
Hans Peter Obermayer, Martial und der Diskurs über „Homosexualität“, 202, Anm. 59. Petronius Arbiter, Satyricon reliquiae, 16. Petronius Arbiter, Satyrica. Schelmenszenen, 39. Hans Peter Obermayer, Martial und der Diskurs über „Homosexualität“, 202. Darüber berichtet erstmals ausführlich K. Sara Myers, The Metamorphosis of a Poet: Recent Work on Ovid“, in The Journal of Roman Studies, 89, 1999, 190–204.
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oscula dat manibus; vix iam, vix cetera differt.46
Gerhard Fink gibt das in seiner erstmals 2004 in der Sammlung Tusculum publizierten Prosaübertragung wie folgt wieder: Da freut sich der Verliebte und küßt, bis daß die erhoffte Liebesnacht kommt, vorerst nur ihre Hände. Kaum noch, kaum noch erträgt er weiteren Aufschub.47
Einmal davon abgesehen, dass gar keine „Liebesnacht“ stattfinden wird – Jupiter trägt Europa bekanntlich übers Meer nach Kreta, um sie gleich dort am Strand zu vergewaltigen –, voluptas hier also nicht weiter als (punktuelle) „Lusterfüllung“ bedeutet, ist auch cetera differt nicht präzise erfasst. Es handelt sich dabei um einen der bei Ovid zahlreichen Fälle von Intratextualität, d. h., Ovid „zitiert“ sich selber, und zwar nimmt er mit cetera Rekurs auf den Schluss seiner Elegie Amores, 1,5. Dort erzählt er, wie er bei einem Rendezvous mit Corinna während der Siesta die Geliebte entkleidet und an sich presst, und dann fügt er nur noch hinzu (V. 25 f.): cetera quis nescit? lassi requievimus ambo. proveniant medii sic mihi saepe dies.48 Wer würde nicht das Weitere kennen? Ermattet ruhten wir beide. Mögen mir die Mittagsstunden oft so verlaufen! (Übers.: Niklas Holzberg)
Es ist wie in einem Film, in dem ein nacktes Liebespaar im Bett beim Küssen gezeigt wird und plötzlich das Fadeout die Szene beendet. Ovid verwendet also cetera gewissermaßen euphemistisch für den Koitus, und so auch in Metamorphosen 2,863, wo „vix iam, vix cetera differt“ mit „kaum, ja kaum kann er das Weitere noch aufschieben“ wiederzugeben ist.49 Der Amores-Vers 1,5,25 dürfte intertextuell auf ein Epigramm Philodems von Gadara Bezug nehmen, wo der Sprecher zu seiner Frau sagt (Griechische Anthologie, 5,4,5 f.50): Und du, liebhaberliebende Gattin, lerne das Weitere (τὰ λειπόμενα), das von Aphrodite kommt! (Übers.: Niklas Holzberg).
46 47 48 49 50
Zit. n. P. Ovidius Naso, Metamorphosen. Lateinisch/Deutsch, übers. und hg. von Michael von Albrecht, Stuttgart 2010, 138 Zit. n. P. Ovidius Naso, Metamorphosen, übers. und hg. von Gerhard Fink, 2. Aufl., Düsseldorf 2007, 117. Zit. n. P. Ovidius Naso, Liebesgedichte. Amores. Lateinisch-deutsch. Hg. und übers. von Niklas Holzberg, 2. überarbeitete Aufl., Berlin 2014, 50. Zit. n. P. Ovidius Naso, Metamorphosen. Lateinisch/Deutsch, 139. Text nach David Sider, The Epigrams of Philodemos. Introduction, Text, and Commentary, Oxford 1997, 85 f.
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Inhaltlich stehen die griechischen Verse, da sie auf „das Weitere“ vorausblicken, der Metamorphosen-Stelle näher, die also vermutlich mit einer „window reference“ über den Amores-Vers auf denjenigen Philodems verweist.51 In Metamorphosen 3,362–365a begründet der Erzähler, warum die Nymphe Echo ihrer Fähigkeit beraubt wird, vollständige Sätze zu formulieren, so dass sie nur noch die Laute am Ende von Gesprochenem wiederholen und mit Worten, die sie gehört hat, erwidern kann: fecerat hoc Iuno, quia, cum deprehendere posset sub Iove saepe suo nymphas in monte iacentes, illa deam longo prudens sermone tenebat dum fugerent nymphae,52
Michael von Albrecht übersetzt: Das hatte Iuno so angeordnet, weil Echo oft, wenn Iuno auf den Bergen Nymphen in ihres Iuppiters Armen hätte ertappen können, die Göttin wohlweislich mit langen Gesprächen hinhielt, damit die Nymphen unterdessen entwischen konnten.53
Die Wendung „sub Iove [...] suo nymphas [...] iacentes“, mit „Nymphen in ihres Iuppiters Armen“ und von Fink mit „Nymphen [...], die [...] bei ihrem Jupiter lagen“54 wiedergegeben, muss unbedingt wörtlich durch „Nymphen, die unter (sub!) ihrem Jupiter lagen“ – übertragen werden. Denn Ovid evoziert witzig die im Lateinischen gängige Metonymie sub Iove = „unter freiem Himmel“55 und weckt dadurch die komische Vorstellung von einem riesigen Gott, der beim open air sex wie der Himmel auf der Erde auf der unter ihm hingestreckten Nymphe „lastet“ und sie geradezu plattdrückt. Die somit erzeugte Diskrepanz zwischen diviner Erhabenheit und menschlichallzumenschlichem hanky-panky ist bekanntlich brillant eingefangen in dem Aperçu „non bene conveniunt nec in una sede morantur / maiestas et amor“ (Metamorphosen, 2,846 f.56: „Nicht gut passen zusammen und weilen selten an ein und demselben Ort Würde und Liebe“; Übers.: Niklas Holzberg). Aber das haben die beiden Übersetzer sich wohl nicht so recht zu Herzen genommen. Eine weitere höchst feinsinnige Passage in den Metamorphosen, die ich nirgendwo adäquat verdeutscht und erläutert gesehen habe, folgt auf eine denkbar knappe Para51 52 53 54 55 56
Weitere Stellen bei Regina Höschele, Verrückt nach Frauen. Der Epigrammatiker Rufin, Tübingen 2006, 81 f. P. Ovidius Naso, Metamorphosen. Lateinisch/Deutsch, 170. Ebd., 171. P. Ovidius Naso, Metamorphosen, 143. Ovidio, Metamorfosi, vol. II, Libri III–IV, a cura di Alessandro Barchiesi. Traduzione di Ludovica Koch. Commento di Alessandro Barchiesi e Gianpiero Rosati, Roma/Milano 2007, 186. P. Ovidius Naso, Metamorphosen. Lateinisch/Deutsch, 136.
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phrase des Mythos von Minotaurus, Theseus und Ariadne bis zur Ankunft des Liebespaars auf Naxos (Metamorphosen, 8,176b–177a): desertae et multa querenti amplexus et opem Liber tulit.57
In neun Wörtern wird so knapp wie möglich resümiert, was der Sage nach auf der Insel geschah: Theseus verbrachte eine Nacht mit Ariadne auf der Insel, verließ die Schlafende und segelte davon; sie klagte darüber in einem langen Monolog, dann aber erschien Bacchus und machte sie zu seiner Frau; dies geschah, wie üblich beim Sex eines Gottes mit einer Sterblichen, durch eine Vergewaltigung – jedenfalls darf man es so der Schilderung der Szene mit dem Auftreten des Gottes in Ovids Ars amatoria, 1,525 ff. (dort 561 f.), entnehmen. Hier nun die Wiedergabe der beiden halben Verse durch Michael von Albrecht und Gerhard Fink: Die Verstoßene und unablässig Klagende rettete Liber mit seiner Umarmung.58 Der Verlassenen, hemmungslos Klagenden schenkte Bacchus seine Liebe und seinen Schutz.59
Dazu ist zweierlei zu bemerken: 1. multa ist offensichtlich von querenti abhängiges Akkusativ-Objekt, heißt einfach „vieles“ und bezieht sich auf die berühmte querela der Ariadne bei Catull, die immerhin 70 Verse umfasst (64,132–201); „multa querenti“ sagt also leicht ironisch: „der in vielen Worten Klagenden“,60 und man soll wohl ergänzen: „Und diese vielen Worte, lieber Leser, findest du bei Catull.“ 2. Die AriadneKlage in Catulls Gedicht 64 ist dort Teil einer ausführlichen Erzählung des Mythos von Theseus und Ariadne, die der Dichter in den Mythos von der Hochzeit des Peleus mit Thetis eingelegt hat (V. 52–264). Ovid, der in den Metamorphosen diese Einlage, die „Geschichte in der Geschichte“, sicherlich betont nur als extrem kurzes „Geschichtchen“ referiert und so (anders als mit Epistulae Heroidum 10, dem Ariadne-Brief) einer erneuten Bearbeitung des bereits „klassisch“ adaptierten Stoffes ausweicht, verzichtet freilich nicht auf einen kurzen (für ihn typischen) frivolen Zusatz zu Catull: Liber bringt der auf eine einsame Insel gewissermaßen verbannten Frau erst amplexus und dann ops,61 und das bedeutet nicht das, was Michael von Albrecht und Gerhard Fink schreiben, sondern in etwa dies: Erst gibt es (erzwungenen) Sex für den Deus ex machina und dann Hilfe für Mrs. Robinson. Warum ein erfahrener Übersetzer wie Michael von Albrecht das amüsante Zeugma amplexus et opem ferre, das er als solches 57 58 59 60 61
P. Ovidius Naso, Metamorphosen. Lateinisch/Deutsch, 458. Ebd., 459. P. Ovidius Naso, Metamorphosen, 379. Ähnlich: Ovidio, Metamorfosi, vol. IV, Libri VII–IX, a cura di Edward J. Kenney. Traduzione di Gioachino Chiarini, Roma/Milano 2011, 325. Ovidio, Metamorfosi, vol. IV, 325: „esattamente in quest’ordine.“
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doch wahrgenommen haben müsste, nicht nachzuahmen versucht hat, ist schwer begreiflich. Fink hat sich zwar darum bemüht, aber seine Verdeutschung ist wieder einmal so erbaulich, wie Altphilologen es (leider) lieben. Eine Vergewaltigung ist aber nicht „Liebe“, und „Schutz“ weckt die Vorstellung vom lieben, guten Bacchus, der die Arme ganz selbstlos in die Arme nimmt, während doch lediglich gesagt wird, dass er Ariadne, die sich auf einem desert island befand, zu Hilfe kam. Mit meinem letzten Beispiel stelle ich an das Ende dieser Ausführungen die Betrachtung einer Verwandlungsgeschichte mit glücklichem Ausgang. Es geht um die Geschichte von Iphis, der als Mädchen geboren, aber von seiner Mutter als Knabe ausgegeben und als solcher verkleidet wurde, weil der Vater ein Mädchen hätte töten lassen; im Begriff, als junge Frau eine andere junge Frau zu heiraten, wird Iphis am Tag vor der Eheschließung von der Göttin Isis in einen jungen Mann verwandelt, und so kann der Erzähler in den beiden letzten Versen der Geschichte, die zugleich die beiden letzten von Buch 9 sind, folgendes Happy End verkünden: … Venus et Iuno sociosque Hymenaeus ad ignes conveniunt, potiturque sua puer Iphis Ianthe.62
Bei Michael von Albrecht steht: Da kommen Venus, Iuno und Hymenaeus zu den hochzeitlichen Opferflammen, und Iphis gewinnt als Knabe seine Ianthe.63
Die Wiedergabe von potitur mit „gewinnt“ erweckt den Eindruck, es sei von der Hochzeitszeremonie vor dem Eintritt der frisch Vermählten ins Brautgemach die Rede, und das gilt auch für Gerhard Finks Version der letzten fünf Wörter: „Iphis, der Jüngling, darf seine Ianthe besitzen.“64 Aber potiri heißt, wie wir es in der Schule gelernt haben, „sich bemächtigen“; der Ausdruck existiert ja im gegenwärtigen Deutsch wie so manch anderer eigentlich nur noch als Erbe des Lateinunterrichts. „Sich bemächtigen“ aber weist auf die Brautnacht, und so wird man schreiben: „... und Iphis nahm mit Kraft seine Ianthe.“65 Genau das passt aber auch zu ihm. Denn sein Name – das hat Stephen Wheeler in einem glänzenden Aufsatz nachgewiesen – evozierte bei den Zeitgenossen 62 63 64 65
P. Ovidius Naso, Metamorphosen. Lateinisch/Deutsch, 572. Ebd., 573. P. Ovidius Naso, Metamorphosen. Lateinisch/Deutsch, 477. Zu dieser Bedeutung von potiri (P.G.W. Glare [Hg.], Oxford Latin Dictionary, Oxford 1982, 1418 s.v. „potior“, 2c; darauf verweist auch Kenney in Ovidio, Metamorfosi, Vol. IV, 797, aber „Ifi fece sua la sua Iante“ in der Übersetzung Seite 205 scheint mir zu schwach) vgl. z. B. Ovid, Fasti, 3,21 über die Vergewaltigung der Rhea Silvia: „Mars videt hanc visamque cupit potiturque cupita“ (zit. n. P. Ovidius Naso, Fasti. Festkalender. Latein-deutsch. Auf der Grundlage der Ausgabe von Wolfgang Gerlach neu übers. und hg. von Niklas Holzberg. 4., überarbeitete Auflage, Berlin 2012, 98) (wörtlich: „Mars sieht sie, begehrt die Gesehene und nimmt mit Kraft die Begehrte“; Übers.: N. H.); der Vers erinnert ein wenig an Caesars bekanntes „veni vidi vici“.
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offenkundig den u. a. von Homer gebrauchten Instrumentalis ἶφι zu ἴς („Kraft“), das mit Lateinisch vis verwandt und bedeutungsgleich ist. Jedenfalls verwendet Ovid in seiner Iphis-Erzählung mehrfach und doch wohl gezielt Lexeme des Wortfeldes „Kraft, Macht“, zu denen auch solche gehören, welche die Römer fälschlich für Derivate von vis hielten.66 Dies dürfte der Dichter mit der Absicht verbinden, darauf aufmerksam zu machen, dass Iphis „Kraft“ in seinem Namen trägt. Dazu, potitur am Schluss der Geschichte auf den Einsatz männlicher ἴς im Brautbett zu beziehen, rät auch das Ende von Longos’ Daphnis und Chloe, ebenfalls eine Hochzeitsnacht. Goethe hat einmal dazu aufgefordert, diesen Roman „alle Jahre einmal zu lesen“ (zu Eckermann 20.3.1831).67 Das sollte für viele griechische und römische Texte gelten, und, wie hoffentlich deutlich geworden ist, lohnt es sich auch und gerade für Übersetzer.
66 67
Stephen Wheeler, „Changing Names: the Miracle of Iphis in Ovid Metamorphoses 9“, in Phoenix, 51, 1997, 190–202; dort der Nachweis dieses Wortfeldes. Johann Peter Eckermann, Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Mit Einleitung und Anmerkungen hg. von Gustav Moldenhauer, Bd. 2, Leipzig o.J., 220.
CHRISTIANE REITZ/ANDREAS FUCHS
Vertere. Zu Theorie und Praxis des Übersetzens in der Antike
Über die Praxis des Übersetzens griechischer Texte ins Lateinische existiert eine schier unübersehbare Fülle von Literatur. Gerade in den letzten Jahren erlebt die Forschung zu diesem Thema auch in den Altertumswissenschaften einen merklichen Aufschwung.1 Eine Pionierarbeit ist das Buch Römische Übersetzer von Astrid Seele.2 Ebenso ist die Übersetzungspraxis aus den alten Sprachen in die modernen in den letzten Jahren immer stärker flankiert worden durch wissenschaftliche Untersuchungen, wie sie z. B. Nina Mindt für zwei Wissenschaftler vorgelegt hat, die durch ihre Übersetzungen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts höchst einflussreich waren, den Homerübersetzer Wolfgang Schadewaldt und besonders den Ciceroübersetzer Manfred Fuhrmann.3 Zudem ist festzustellen, dass das Interesse an antiken Texten durch die geringere Verbreitung von Griechischkenntnissen – für das Lateinische trifft das den Statistiken der Schulexperten zufolge nicht in demselben Maße zu – keineswegs abgenommen hat, sondern das Bedürfnis nach übersetzten Texten eher steigt. Ein Beispiel aus der aktuellen verlegerischen Arbeit ist etwa das Projekt der Platonübersetzungen unter der Obhut der Mainzer Akademie der Wissenschaften, die, wie es in der Ankündigung des Verlages heißt, „korrekt und lesbar sein [sollen], doch möglichst auch einen Gesamteindruck von der Eleganz platonischer Gespräche vermitteln. Die Kommentare 1
2 3
Siehe insbesondere das Teilprojekt „Übersetzung der Antike“ im Sonderforschungsbereich 644 „Transformationen der Antike“ an der Humboldt-Universität zu Berlin (vgl. Institut für Geschichtswissenschaften der Humboldt-Universität zu Berlin, Sonderforschungsbereich 644. Transformationen der Antike, URL {http://www.sfb-antike.de}, letzter Zugriff: 24.09.2014). Erst nach Abfassung dieses Aufsatzes wurde uns folgende Arbeit bekannt, in polnischer Sprache mit deutschem Resümee: Katarzyna Marciniak, Cicero vortit barbare. Przekłady mówcy jako narzędzie manipulacji ideologicznej, Gdańsk 2008. Vgl. Astrid Seele, Römische Übersetzer. Nöte, Freiheiten, Absichten: Verfahren des Übersetzens in der griechisch-römischen Antike, Darmstadt 1995 [Zugl.: Diss. Konstanz 1993]. Nina Mindt, Manfred Fuhrmann als Übersetzer der Antike. Ein Beitrag zu Theorie und Praxis des Übersetzens, Berlin 2008; siehe auch die dazugehörige Rezension von Ilona Claudia Popa in Bryn Mawr Classical Review, 06.03.2010.
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wenden sich auch an Leser ohne Kenntnisse des Griechischen; sie sollen den Text dem heutigen Leser erschließen, geben daher philologische, historische und thematische Erläuterungen und versuchen, Argumentationsweise und Gedankenführung verständlich zu machen.“4 Eine solche Ausrichtung auf ein heutiges Lesepublikum, die „Argumentationsweise und Gedankenführung“ Platons im Zusammenspiel von Übersetzung und Kommentar nachvollziehbar machen möchte, ist nicht möglich ohne die Kenntnis der antiken Theorie und Praxis des Übersetzens. Hier setzt der folgende Beitrag an: Er geht von der Überzeugung aus, dass die Reflexion über antike Übersetzungspraxis und die implizite Theoriebildung eine Folie bietet, um über die Übersetzung antiker Texte in heutigen kulturellen Zusammenhängen überhaupt nachzudenken. Als Beispiel für die antike theoretische Diskussion und vor allem für die Zeugnisse der praktischen Übersetzungstätigkeit dient uns der römische Politiker, Anwalt und Autor Marcus Tullius Cicero (106–43 v. Chr.). Bis heute gilt er als einer der großen Vermittler – interpretatores – zwischen zwei Sprachen. Zeit seines Lebens ist er nicht nur als Autor poetischer Werke, als Herausgeber seiner gehaltenen Gerichts- und politischen Reden und als Autor – manche Zweige der älteren Forschungsdiskussion behaupten: Kompilator – philosophischer Schriften tätig gewesen, sondern das Thema des Übersetzens hat diese schriftstellerische, politische und anwaltliche Tätigkeit wie ein Ostinato begleitet. Sowohl seine jeweils im kulturhistorischen Diskurs kontextualisierten Äußerungen zum Übersetzen (und das bedeutet hier stets aus dem Griechischen ins Lateinische) wie auch die Textzeugnisse selbst sind in hohem Maße prägend für die europäische Geistesgeschichte. Cicero hat die Terminologie – nicht nur die übersetzerische, sondern die philosophische Terminologie insgesamt – geprägt, ja zu Teilen geschaffen. Dabei ist es von besonderer Bedeutung, dass er für einen Leserkreis schrieb, der durchaus in der Lage war, seine Version mit dem Original zu vergleichen, denn die römische Gesellschaft des 1. Jahrhunderts v. Chr., jedenfalls die urbane Oberschicht, haben wir uns zweisprachig vorzustellen. Dieser Tatsache ist sich auch Cicero in hohem Maße bewusst. Die Ungunst der Überlieferungslage hat manches für immer verunklärt. Aber wir können doch sowohl von seiner praktischen Übersetzungstätigkeit wie von seiner Reflexion darüber genügend zusammenstellen und rekonstruieren, um einen Einblick in die generelle Diskussion dieser Thematik im Rom der ausgehenden Republik zu erhalten, einer Epoche, in der der kulturelle Aufschwung stattfand und sich die Etablierung der verschiedenen literarischen Gattungen in selbstbewusster Eigenständigkeit vollzog oder gar schon mit den ersten Gegenbewegungen konfrontiert wurde. 4
Vgl. hierzu Petra Plättner/Rebecca Mellone, Akademie der Wissenschaften und der Literatur Mainz, URL {http://www.adwmainz.de/index.php?id=69}, letzter Zugriff: 24.04.2014; vgl. Ernst Heitsch/Carl Werner Müller/Kurt Sier (Hg.), Platon, Werke. Übersetzung und Kommentar, Bd. III 4 Phaidros, Göttingen 1993–99, 5 f.
Vertere. Zu Theorie und Praxis des Übersetzens in der Antike
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Zunächst wird also in einem Überblick Cicero als Übersetzer poetischer Texte kurz vorgestellt. Dabei ist zu unterscheiden einerseits zwischen der Übersetzung ganzer Texte als expliziten Übertragungen (lat. „vertere“ – vgl. z. B. den Gebrauch von „version“ im Französischen) und deren Wirkungsabsichten, und andererseits der Einfügung von Dichterzitaten in (eigener oder fremder) Übersetzung in anderen Kontexten, etwa Briefen5 oder philosophischen Diskursen. Zweitens wenden wir uns den Überlegungen zu, die Cicero selbst, meist an programmatisch herausgehobenen Stellen der philosophischen oder rhetorischtheoretischen Werke (v. a. den Proömien), anstellt; es geht uns dabei nicht um Vollständigkeit (die Quellen sind im Übrigen in der älteren Literatur zuverlässig zusammengestellt), sondern um den exemplarischen Beleg des Miteinanders, aber auch mitunter des Gegeneinanders von Theorie und Praxis in seinem Schreiben. In einem nächsten Schritt wird anhand einer detaillierten Analyse eines Beispiels aus Ciceros Übersetzung des platonischen Dialogs Timaios gezeigt, welche Übersetzungsprinzipien er anwendet; daraus kann man folgern, wie Zielgruppe und Erkenntnisziel die Übersetzungstätigkeit beeinflussen.6 Zum Abschluss unserer Ausführungen möchten wir den Fokus von der Betrachtung der antiken Übersetzungspraxis und -theorie zurück auf die Gegenwart richten. Dies geschieht in Form knapper Thesen zur Funktion und Funktionalisierung antiker Texte in der Gegenwart und zur übergeordneten Problematik der „Sprachlosigkeit“ von Rezipienten und der sich daraus ableitenden Deutungshoheit oder auch Deutungsnot von Interpreten.
Cicero als Übersetzer griechischer Dichtung Cicero ist als junger Mann mit – heute fast ganz verlorenen – dichterischen Produkten in Erscheinung getreten. Neben (vermutlich) einer Gedichtsammlung nach griechischem Vorbild (Limon, dt. Wiese) und einer Elegie ist es vor allem eine Übersetzung, die ihn im literarischen Rom bekannt gemacht hat. Zu datieren vermutlich vor das Jahr 79 v. Chr., dem Jahr seiner Griechenlandreise, fällt dieser Text in die Zeit eines gewissen Vakuums in der lateinischen Poesie: Der Satiriker Lucilius verstarb im Jahre 103 v. Chr., der Tragiker Accius im Jahre 86 v. Chr. Vor diesem Hintergrund entsteht Ciceros 5
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Vgl. dazu die Dissertation von Anja Behrendt, Mit Zitaten kommunizieren. Untersuchungen zur Zitierweise in der Korrespondenz des Marcus Tullius Cicero, Rahden/Westf. 2013 (zugl. Diss. Rostock 2012). Der Überblick stammt im Wesentlichen von Christiane Reitz, die Analyse des Timaios-Beispiels von Andreas Fuchs.
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Übersetzung von 5547 Versen eines hellenistischen Lehrgedichts, der Phainomena des Aratos (ca. 275 v. Chr.). Die Forschung erhebt zu dieser Übersetzung einige Kritikpunkte. Jedoch ist dem Urteil früherer Interpreten, es handele sich um ein unbeholfenes Jugendwerk mit teilweise ungeschicktem Gebrauch des Hexameters, entgegenzutreten.8 Immerhin ist der Hexametergebrauch nahezu ‚frühklassisch‘,9 die Prosodie verzichtet in den uns erhaltenen Teilen jedenfalls auf Archaismen.10 Auch stilistisch sind relativ wenige Archaismen – das heißt für uns ein bei Ennius (239–189 v. Chr.), dem Verfasser epischer und tragischer Werke nachweisbarer Sprachgebrauch – zu verzeichnen; insgesamt ist sowohl der Wortgebrauch wie auch die Syntax im Ganzen moderner, das heißt mehr auf Vergil (70–19 v. Chr.) hindeutend als auf Lukrez (vermutlich 55 v. Chr. gestorben). Einige Neologismen fallen auf und manche davon sind in die lateinische Dichtersprache eingegangen.11 Auch die Morphologie ist eher klassisch als archaisch. Interessant ist, dass die Verwendung des appositionellen Partizips dem griechischen Sprachgebrauch sehr nahe kommt, was im normierten Sprachgebrauch der ‚klassischen‘ lateinischen Prosa unüblich ist. Andererseits ist eine Entfernung vom Original unverkennbar. Dieses Original beruht seinerseits auf einer Prosaschrift zu den Wetterzeichen und Himmelserscheinungen des Eudoxos von Knidos aus dem 4. Jh. v. Chr. Zusätzliche Beschreibungen durch Cicero fügen nun dem eher nüchternen Original eine gewisse Pracht, Breite sowie Informationen hinzu. Ein Beispiel ist die Schilderung des Mythos vom Skorpion (417–458 v. Chr.). Die schlichte Raffinesse des Originals geht verloren und wird ersetzt durch Pathos und Ostentation, außerdem werden gelehrte Anspielungen auf Sagenvarianten untergebracht, die zeigen, dass die Leserschaft auf der einen Seite offenbar die Romanisierung des Originals, d. h. eine Ausrichtung auf das römische Publikum, erwartete und goutierte, andererseits auch mit dem Original so vertraut war, dass – zumindest teilweise – auch die gelehrten Diskurse zu dem ohnehin schon komplexen Stoff mitge7
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Die Frage, ob wir es mit einer Art „zweiten Auflage“ zu tun haben, in der noch knapp 30 zusätzliche Verse, die sogenannten Prognostica, Platz fanden, soll an dieser Stelle nicht erörtert werden. Zur Diskussion siehe beispielsweise David P. Kubiak, „Cicero and the Poetry of Nature“, in Studi Italiani di Filologia Classica, 8, 1990, 198–214. Im Folgenden beziehen wir uns u. a. auf die Ausführungen von Christoph Schubert, Einfach nur peinlich? Ciceros autobiographische Dichtung im Horizont der Gattung, im Rahmen des Altertumswissenschaftlichen Kolloquiums in Rostock am 5. Januar 2012. Vgl. das Urteil von Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff, Hellenistische Dichtung in der Zeit des Kallimachos, Berlin 1924, 229; vgl. die Analyse bei William W. Ewbank (Hg.), The poems of Cicero, London 1933, passim. So tritt etwa die in archaischen Texten verbreitete Apokope des auslautenden -s nur einmal in Vers 429 auf. Ein Beispiel ist das Kompositum „mortifer“.
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lesen wurden. Cicero beruft sich später mehrfach auf seine carmina Aratea, er zitiert sie, ohne sie mit einem konkreten Titel zu benennen, und gibt sie bei Bedarf auch neu heraus (um 60 v. Chr.). Spätere Übersetzungen sind belegt: so die Fassung des Germanicus, der ein Mitglied des julisch-claudischen Hauses war, dem Princeps Augustus sowie dem Tiberius nahestand und dabei Amateur-Poet wie Intellektueller war, und die Fassung des Avienus (4. Jh. n. Chr.). Diese Versionen sind Belege dafür, dass nicht nur der Stoff, d. h. die Sternzeichen, von Interesse blieb, sondern dass es vor allem auf eine Konkurrenz mit der ersten lateinischen Version ankam, auf ein Kräftemessen mit dem berühmten Redner, der in dieser Übersetzung den Trends der Zeit folgt, indem er ein alexandrinisches Gedicht in moderner Manier nach Rom bringt und es wagt, die lateinische Sprache auf ihre Anwendbarkeit für dieses Experiment zu erproben. In diesem Zusammenhang sei kurz erwähnt, dass die späteren eigenen dichterischen Erzeugnisse Ciceros aus den fünfziger Jahren, insbesondere die Dichtung über sein Konsulat, sich von dieser – bei aller Überhöhung des Originals – eher schlanken und eleganten Form- und Sprachgebung absetzen und sich stark an den von ihm vielleicht mindestens ebenso aus ideologischen wie aus poetisch-ästhetischen Erwägungen verehrten Ennius anlehnen. Ciceros Usus, in seine philosophischen Schriften Dichterzitate (insbesondere der griechischen Tragiker) in lateinischer Übersetzung einzufügen, erreicht in den Tusculanen die höchste Frequenz und nimmt in den sehr gut datierbaren folgenden Schriften, die allesamt in seine letzte Schaffensperiode gehören, zunehmend ab. Der Grund hierfür könnte das Streben nach größerer stilistischer Einheitlichkeit und Glätte sein; ein Zusammenhang mit der jeweiligen Thematik ist zu erwägen.12 Es gibt verschiedene Ansichten, woher diese Zitate stammen, ob sie auf eigenen älteren oder von anderen angefertigten Übersetzungen basieren, aus Florilegien entnommen sind oder auf eigener ad hoc-Übertragung beruhen. Für einen großen Teil der Zitate wird letztere Möglichkeit in der Forschung zunehmend für plausibel gehalten und gilt damit als Ausweis und Beleg für Ciceros poetische Leistungsfähigkeit.13 Als Beispiel sei hier ein Zitat aus Sophokles’ Tragödie Trachinierinnen angeführt (siehe Zitat links), das Cicero im zweiten Buch seiner philosophischen Schrift Tusculanen (2,20–22) ins Lateinische übersetzt anführt (siehe Zitat rechts). Dort heißt es im Zusammenhang mit dem mythischen Heros Hercules: 12
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Die Tusculanen weisen ohnehin durch die Dialogform des 1. Buches einen eher aufgelockerten als streng argumentativen Charakter auf. Dem stehen in De natura deorum strenge Lehrvorträge gegenüber. Dafür kann vermutlich der Zusammenhang mit der Einstellung der Epikureer zur Dichtung verantwortlich gemacht werden. Gerade im Vergleich mit der Bewertung seiner autobiographischen Dichtungen ist dieses positive Urteil bemerkenswert.
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40 ὦ πολλὰ δὴ καὶ θερμὰ κοὐ λόγῳ κακὰ καὶ χερσὶ καὶ νώτοισι μοχθήσας ἐγώ· κοὔπω τοιοῦτον οὔτ᾽ ἄκοιτις ἡ Διὸς προύθηκεν οὔθ᾽ ὁ στυγνὸς Εὐρυσθεὺς ἐμοί, οἷον τόδ᾽ ἡ δολῶπις Οἰνέως κόρη καθῆψεν ὤμοις τοῖς ἐμοῖς Ἐρινύων ὑφαντὸν ἀμφίβληστρον, ᾧ διόλλυμαι. πλευραῖσι γὰρ προσμαχθὲν ἐκ μὲν ἐσχάτας βέβρωκε σάρκας, πλεύμονός τ᾽ ἀρτηρίας ῥοφεῖ ξυνοικοῦν, ἐκ δὲ χλωρὸν αἷμά μου πέπωκεν ἤδη, […]
O multa dictu gravia, perpessu aspera, Quae corpore exanclata atque animo pertuli! Nec mihi Iunonis terror implacabilis Nec tantum invexit tristis Eurystheus mali, Quantum una vaecors Oenei partu edita. Haec me inretivit veste furiali inscium, Quae latere inhaerens morsu lacerat viscera Urgensque graviter pulmonum haurit spiritus; iam decolorem sanguinem omnem exorbuit.
Viel heiße Kämpfe hab’ ich, schon zu denken schlimm, mit meinen Fäusten, meinem Nacken durchgekämpft. Niemals jedoch hat Zeus’ Gemahlin solche Qual mir auferlegt, auch des Eurystheus Tücke nicht, wie sie die falsch gesinnte Tochter Oineus’ jetzt um meine Schultern warf mit dem Gewand, das mir die Rachegeister webten, das den Tod mir gibt. Denn festgeklebt am Leib, hat sich’s von außen her ins Fleisch gefressen, haust in mir und saugt mir an den Lungenröhren, hat mein bestes Lebensblut schon weggetrunken, […]14
Oh vieles schwer zu sagen, zu tragen aber
hart, was ich mit Geist und Körper ausgeschöpft und litt! Doch nicht der Iuno unversöhnter schrecklich Zorn, Eurystheus nicht, der finstre, bracht’ mir so viel Leid, wie einer Rasen, die aus Oineus’ Stamm entsproßt! Sie hat nichtsahnend mich im Giftgewand verstrickt, das, haftend meinem Leib, im Biß mein Fleisch zerreißt und heftig würgend meiner Lunge Atem nimmt, schon hat es all mein farblos Blut herausgeschlürft.15
Das in lateinische Jamben übersetzte Zitat wird eingerahmt von zwei Zitaten aus der älteren lateinischen Tragödie, nämlich dem Philocteta des Accius; danach folgt ein längeres Aischylos-Zitat. Es ist deutlich, dass die Zitate innerhalb der Argumentation dieselbe Funktion erfüllen; der griechische Text verschmilzt in seiner Beweiskraft ganz
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Zit. n. Sophokles, Dramen: Griechisch und deutsch, hg. und übers. von Wilhelm Willige, 5. Aufl., Düsseldorf 2007. Zit. n. Marcus Tullius Cicero, Gespräche in Tusculum. Lat.-Dt., übers. von Karl Büchner, München 1984.
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mit dem der älteren lateinischen Tradition und bildet so ein mythisches Bildungsamalgam innerhalb des philosophischen Gedankenganges.
Cicero als Übersetzungstheoretiker Nun zu einem kurzen Blick auf Ciceros programmatische Aussagen. In diesem Zusammenhang muss man sich immer vergegenwärtigen, dass diese Programmatik zu dem typisch römischen Diskurs über den „Freizeitcharakter“ literarischer Tätigkeit gehört, dass also der viel beschäftigte Redner und Politiker Cicero sich dafür rechtfertigen muss oder zu müssen glaubt, dass er überhaupt Zeit mit Übersetzungen verbringt. Die berühmte16 und fortan häufig zitierte Stelle (De optimo genere oratorum, 5,14; siehe auch Hieronymus, Epistulae, 57) lautet: nec converti ut interpres, sed ut orator, sententiis isdem et earum formis tamquam figuris, verbis ad nostram consuetudinem aptis, in quibus non verbum pro verbo necesse habui reddere, sed genus omne verborum vimque servari: non enim ea me adnumerare lectori putavi oportere, sed tamquam appendere.17 Ich habe nicht wie ein Dolmetscher, sondern wie ein Redner übersetzt, mit denselben Sinngehalten und deren Form wie Stilfiguren, jedoch mit Wörtern, die an unsere Gewohnheit angepasst sind. Und bei diesen Worten hielt ich es nicht für nötig, jedes einzelne Wort durch ein anderes zu ersetzen, sondern die gesamte Art der Worte und ihr Gewicht zu bewahren, denn ich glaubte, es komme nicht darauf an, dem Leser die Wörter zuzuzählen, sondern sie ihm zuzuwägen. (Übers. Christiane Reitz)
Cicero fühlt sich also nicht der Wörtlichkeit verpflichtet, sondern trachtet danach, einen Kompromiss zu finden. Es gilt, bei allem Bemühen, die Gedanken des Originals, bei möglichst getreuer Beibehaltung der äußeren Form, zu bewahren, darum, dennoch den entstehenden Text den Konventionen der lateinischen Sprache anzupassen. Das Argument der lateinischen Sprachrichtigkeit („mos noster“, „unser Gebrauch“) spielt also eine wichtige Rolle; es wird in De optimo genere oratorum, 7,23 wiederholt, wenn Cicero betont, dass er dem griechischen Wortlaut nur folgen möchte, wenn er dem lateinischen Sprachgebrauch nicht widerspricht. Das betrifft insbesondere Fälle, in denen griechische Termini zu übertragen sind – Transliteration oder Neuprägung kön-
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Zur Deutung und Fruchtbarmachung dieser und anderer Passagen bei Cicero, Horaz, Quintilian vgl. Manfred Fuhrmann, „Die gute Übersetzung. Was zeichnet sie aus, und gehört sie zum Pensum des altsprachlichen Unterrichts?“, in Der Altsprachliche Unterricht, 35, H. 1, 1992, 4–20. Zit. n. Marcus Tullius Cicero, De optimo genere oratorum, hrsg. von August S. Wilkins, Oxford 1903 u. ö.
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nen nur ausnahmsweise akzeptiert werden.18 Zentral ist, dass der Übersetzer sich als beredt und elegant zeigt und nicht als „interpres indisertus“ (nach De finibus, III 4,15). Das ciceronische Ideal, den Sinn des Originals zu bewahren, wird auch dort deutlich, wo er über andere als seine eigene Übersetzungstätigkeit urteilt. An den Tragikerübersetzungen von Ennius und Pacuvius bewundert er, so Academica, I 3,10, dass sie nicht die Worte, sondern die Kraft der griechischen Vorlage bewahrt haben: „non verba, sed vim Graecorum expresserunt poetarum.“ Der weitere Kontext, in dem im ciceronischen Œuvre über das Übersetzen gesprochen wird, behandelt meist das grundsätzliche Problem der Vermittlung griechischer Philosophie in lateinischer Sprache, so besonders im Proöm der Tusculanen und in den Academica. In De oratore wird das Übersetzen als wichtige rhetorische Übung behandelt (vgl. I 155). De finibus enthält Anweisungen, wie beim Übersetzen lexikalische Lücken zu beheben seien (vgl. 3,15). In De finibus I 3,7 schreibt Cicero über die Möglichkeit, Platon und Aristoteles zu übersetzen, erwähnt aber auch, dass er das selbst noch nicht in Angriff genommen habe. Denn es muss stets bedacht werden, dass die Übersetzungstätigkeit und auch das Reflektieren darüber stets im Kontext von Ciceros Bemühen stattfindet, die griechische Philosophie auf systematische Weise in Rom heimisch zu machen.19 Obwohl er vermutlich ganze Werke Platons (den Protagoras und, wie unten in Absatz III etwas genauer beschrieben, den Timaios) übersetzt hat, bleibt doch sein wichtigstes Ziel, eigenständig in der Dialogform die Anliegen der verschiedenen philosophischen Schulen für seine römische Leserschaft darzustellen. Für seine grundsätzliche Einstellung zum Übersetzen scheint es bezeichnend, dass keineswegs immer die aus dem Griechischen – meist aus Platons Werken – übertragenen Passagen auch als Zitat markiert werden. So wird dem Leser nicht angezeigt, dass das sechste Buch von De re publica über weite Teile eine Übersetzung und Übertragung der platonischen Politeia darstellt. Bei anderen, meist kürzeren Stellen hingegen wird die Quelle identifiziert, so die beiden platonischen Dialoge Gorgias und Menexenos im fünften Buch von Ciceros Tusculanen (V 12,34–36). Die Frage, ob Cicero de facto auch Werke des Aristoteles übersetzt hat, hängt mit dem komplexen Problem zusammen, welche Schriften des Stagiriten überhaupt in Rom verbreitet waren.20 So aufschlussreich es wäre, Parallelen und Unterschiede im Umgang mit verschiedenen Ausgangstexten zu identifizieren, bleibt hier vieles spekulativ. 18
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Vgl. dazu Thorsten Fögen, Patrii sermonis egestas: Einstellungen lateinischer Autoren zu ihrer Muttersprache. Ein Beitrag zum Sprachbewusstsein in der römischen Antike, München 2000, zu Cicero 77–141. Vgl. dazu aktuell und zusammenfassend: Eckart Schütrumpf, The earliest translations of Aristotle’s Politics and the creation of political terminology, Paderborn 2014, bes. 9–12. Dazu ebd., 10 f.
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Jedenfalls kann man die Tendenz, die sinngemäße der wörtlichen Übersetzung vorzuziehen, für weit verbreitet ansehen, wie aus einem berühmten Vers der horazischen Ars Poetica, einer versifizierten Poetik insbesondere für den Bereich dramatischer Dichtung, hervorgeht. Dort formuliert der augusteische Dichter, etwa 30 Jahre nach Ciceros Überlegungen, im Zusammenhang mit der Frage nach Originalität und Verfügbarkeit von thematischen Stoffen: „ne verbum verbo curabis reddere fidus / interpres nec desilies imitator in artum“ („du musst sorgen, dass du nicht Wort für Wort als treuer Dolmetscher reproduzierst und auch nicht als Nachahmer in einen engen Kreis hinabsteigst“; Ars Poetica, 133 f.). Vor diesem Hintergrund, der das Nachsinnen – von einer Theorie in unserem Sinne kann man wohl eher nicht sprechen – über die Notwendigkeit und die Komplexität des Übersetzens skizziert hat, soll nun im Folgenden ein konkretes Beispiel durchgespielt werden.
Platon und Cicero: Τίμαιος – Timaeus21 Ciceros Übersetzung von Platons berühmtem Dialog genoss in der Forschung nicht immer hohes Ansehen.22 Gerade an der Wörtlichkeit der Übersetzung nahm man
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Im Folgenden steht die Betrachtung des Sprachgebrauchs im Mittelpunkt. Auf den Inhalt des philosophischen Werks wird hier nur dann eingegangen, wenn es für das Verständnis der Übersetzungstechnik nötig erscheint. Für Stellenangaben in der griechischen und lateinischen Fassung halte ich mich an die übliche Zählweise, die Stephanus-Paginierung: Die editio princeps der platonischen Werke (Platonis opera quae extant omnia) besorgte Henri Estienne 1578 (latinisiert: Henricus Stephanus) in Paris. In dessen dreibändigen Werk nahm der Dialog Timaios im 3. Band die Seiten 17a1–92c5 ein (die angehängten Buchstaben geben die Abschnitte an, zusätzliche Zahlen die Zeilen im Abschnitt). Ciceros lateinische Fassung des Abschnitts 27d5–47b2 wird in Paragraphen untergliedert (1–52). In meinen Textausschnitten stütze ich mich auf folgende einschlägige Ausgaben: Plato, Platonis Opera, rec. brevique adnotatione critica instr. Ioannes Burnet, T. IV, 34. Aufl., Oxford 1986 [1902]; Wilhelm Ax (Hg.), M. Tullius Ciceronis scripta quae manserunt omnia. Fasc. 46. De Divinatione, De Fato, Timaeus, 2. Aufl., Stuttgart 1977 [1938]; Marcus Tullius Cicero, De divinatione. De fato. Timaeus, hg. von Remo Giomini, Leipzig 1975. Vgl. auch Remo Giominis ausführliche Stellungnahmen zur Überlieferungsgeschichte der ciceronischen Übersetzung: Ricerche sul Testo del ‚Timeo‘ Ciceroniano, Rom 1967. Außerdem habe ich mich an folgenden Übersetzungen orientiert: Gunther Eigler (Hg.), Platon. Werke in Acht Bänden. Griechisch und Deutsch, übers. von Hieronymus Müller/Friedrich Schleiermacher, Bd. 7: Timaios, Kritias, Philebos, Sonderausgabe, Darmstadt 1990 (der Timaios wurde in diesem Band von Hieronymus Müller [1785–1861] übersetzt); Platon, Timaios. Griechisch/Deutsch, übers. von Thomas Paulsen/Rudolf Rehn, 2. Aufl., Stuttgart 2009; Marcus Tullius Cicero, Timaeus de Universitate.
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Anstoß. Als Beispiel sei das nicht positiv gemeinte Urteil von Franz Hochdanz „translatio verbum a verbo reddens“23 genannt; auch „interpretatio ad verbum translata“ hat diesen kritischen Unterton. Das brachte den Forscher sogar zu dem Schluss, dass Cicero auf diese Weise gar nicht übersetzt haben kann, sondern sein ehemaliger Sklave Tiro der Übersetzer gewesen sein muss: „valde verisimile est Tironem fuisse, quem ille [i.e. Cicero] tali mandato dignum habuerit.“24 Diese Auffassung fand mit Recht keinen Widerhall in der Forschung. Bemerkenswert daran ist nur, wie sehr diese Verunglimpfung der wörtlichen Übersetzung („verbum de verbo“), die man in den „Anweisungen“ Ciceros begründet sah,25 noch im 19. Jahrhundert in der wissenschaftlichen Literatur spürbar ist. Die Überlegungen, die Karl Friedrich Hermann in seiner noch früheren Arbeit anstellt, sind dagegen grundlegend und heute noch akzeptiert.26 Er entwickelt hier überzeugend den Gedanken, dass Ciceros Timaeus, der wohl im Juli des Jahres 45 v. Chr. entstanden ist,27 zu einer nicht mehr fertig gestellten umfassenden philosophischen Schrift gehört haben könnte, die einen Titel wie De rerum natura o.ä. hätte tragen können.28
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Timaeus über das Weltall. Lateinisch-Deutsch, hg. und übers. von Karl und Gertrud Bayer, Düsseldorf 2006. Franz Hochdanz, Quaestiones criticae in Timaeum Ciceroni e Platone transcriptum, Nordhausen 1880, 1. Für beide Zitate ebd., 13. Vgl. De legibus, De optimo genere oratorum und De finibus bonorum et malorum. Vgl. Karl Friedrich Hermann, De interpretatione Timaei Platonis dialogi a Ciceronis relicta, Göttingen 1842, passim. Vgl. Remo Giomini, „praefatio“, in Marcus Tullius Cicero, De divinatione. De fato. Timaeus, hg. von Remo Giomini, Leipzig 1975, XIV. Es kann auch an eine Schrift De Pythagorae doctrina gedacht werden. Im Prooemium von De Divinatione, 2 (wohl Frühjahr 44 v. Chr. entstanden) zählt Cicero seine gerade entstandenen philosophischen Bücher auf. Einen Timaeus gibt er hier nicht an. Das mag man als Fingerzeig darauf verstehen können, dass Cicero mit dieser Teilübersetzung noch andere Ziele gehabt hat und ein unfertiges Projekt nicht unter abgeschlossene Werke aufnehmen wollte; so Remo Giomini, „praefatio“, XVI f.; vgl. besonders XVII: „ausus non est id [i.e. opus {Timaei Platonici interpretandi}] libris iam editis adiungere.“ Unterstützung findet Giomini in diesem Punkt in der älteren Forschungsliteratur: vgl. ebd., Anm. 2. Auch Mario Puelma ist dieser Ansicht: Mario Puelma, „Cicero als Platon-Übersetzer“, in Museum Helveticum, 37, 1980, 137–178, hier 151 f., Anm. 30. Carlos Lévy bringt in seine Untersuchung noch die Frage ein, ob Cicero eine philosophische Motivation dazu bewogen hat, den Timaeus – in welcher Form auch immer – nach De natura deorum und De divinatione in sein philosophisches Programm aufzunehmen. Vgl. Carlos Lévy, Cicero and the Timaeus, in Gretchen J. Reydams-Schils (Hg.), Plato’s ‚Timaeus‘ as Cultural Icon, Notre Dame 2003, 95–110, hier 97. In einigen späteren Handschriften, die Remo Giomini für die Textüberlieferung als weniger wichtig einstuft, finden sich bereits Titel der Timaios-Übersetzung, die über Formulierungen mit der bloßen Namensnennung Timaeus hinausgehen. Aus diesen in den
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Der Timaeus könnte dann auch als ein in den größeren Argumentationszusammenhang eingelegtes Übersetzungszitat verstanden werden, das so wie es überliefert ist, als vollständig zu erachten wäre. Freilich gibt es Lücken zwischen den Paragraphen 2 und 3, 28 und 29 (Platon, 37c3–38c3, ca. 38 Oxford-Zeilen,29 in 29 (Platon, 38c5–d1, ca. 4 Oxford-Zeilen30), sowie zwischen 48 und 49 (Platon, 43b–46a2, ca. 102 OxfordZeilen).31 Der Inhalt dieser Lücken lässt sich zumeist aus den entsprechenden Textstellen des griechischen Originals erschließen. Nur für die erste Lücke im Übergang vom Vorgespräch zur Übersetzung existiert keine griechische Vorlage, da Cicero diesen rahmenbildenden Eröffnungsteil selbst konzipiert hat. Die These, dass hier ein vollständiger Übersetzungsabschnitt vorliegt, kann auch durch zwei Textstellen am Ende des ciceronischen Timaeus erhärtet werden. Diese können als Abschlussformeln verstanden werden. Wenngleich wir uns hierbei immer noch innerhalb der Übersetzung befinden, deuten in dem einen Fall Ciceros Abweichungen vom platonischen Tempusgebrauch auf eine andere Aussageintention hin als das Original. Cicero würde demnach bewusst vom Original abweichen, ohne dass ein sprachliches Defizit der Muttersprache dafür verantwortlich gemacht werden könnte. Dieser Gedanke, im Lateinischen des 1. Jh. v. Chr. habe es keine besseren Ausdrucksmöglichkeiten gegeben, wurde eine Zeit lang stark in den Vordergrund der Forschungsbeiträge zu Ciceros Übersetzungen aus dem Griechischen gerückt. Vor allem Roland Poncelet hat diese Auffassung vertreten und die sprachlichen Möglichkeiten, komplexe philosophische Gedanken zur Zeit Ciceros auf Lateinisch auszudrücken, sehr niedrig eingestuft.32 Allerdings stießen in der nachfolgenden Forschung Poncelets recht harsche Urteile über Ciceros Sprachvermögen durchweg auf Kritik. Auch noch Astrid Seele geht in ihrem Übersetzungsvergleich des platonischen und ciceronischen Ein-
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kritischen Apparat aufgenommenen Titeln wie Marci T C de cosmi sive mundi creatione liber Incipit (D = Parisinus Lat., 6333, 13. Jahrhundert), Marci Tuly Ciceronis de essentia seu productore mundi liber incipit (Ambrosianus Lat., E 15 inf., 14. Jahrhundert), M.T.C. liber de Universalitate incipit (Rossianus Lat., 559, 15. Jahrhundert) oder Ciceronis liber de universitate (Parisinus Lat., 6624, 15. Jahrhundert) lässt zwar nichts auf Ciceros Vorhaben schließen, aber es lässt sich immerhin erkennen, dass bereits früh bei den Verfassern der Handschriften ein inhaltlicher Rahmen von Interesse war, der über das in der Übersetzung Behandelte hinausging. Vgl. die Ausgabe von Karl und Gertrud Bayer (Hg.): Marcus Tullius Cicero, Timaeus de Universitate. Timaeus über das Weltall, 47. Die Bezeichnung ‚Oxford-Zeile‘ rührt von den in Oxford besorgten Textausgaben her. Ebd., 49. Ebd., 75. Vgl. Roland Poncelet, Cicéron. Traducteur de Platon. L’expression de la pensée complexe en latin classique, Paris 1957; ders., „Deux aspects du style philosophique latin: Cicéron et Chalcidius, traducteurs du ‚Phèdre‘ 245C“, in Revue des Études Latines, 28, 1950, 145–167. Vgl. zudem Mario Puelma, „Cicero als Platon-Übersetzer“, 137–178; Noemi Lambardi, Il ‚Timaeus‘ Ciceroniano. Arte e Tecnica del ‚Vertere‘, Florenz 1982 (Quaderni di Filologia Latina).
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gangssatzes im Timaeus zunächst recht ausführlich auf die sprachlichen Unterschiede ein,33 bevor sie auf Stilkriterien zu sprechen kommt. Die beiden vor allem für die Diskussion fruchtbar gemachten Textstellen seien im Folgenden nacheinander angeführt; in Ciceros Timaeus (52) heißt es: Rerum enim optumarum cognitionem nobis oculi attulerunt. Nam haec, quae est habita de universitate oratio a nobis, haud umquam esset inventa, si neque sidera neque sol neque caelum sub oculorum aspectum cadere potuissent. Die Augen haben uns die Kenntnis der besten Dinge vermittelt. Denn dieser Vortrag, den wir über das Universum gehalten haben, wäre niemals erdacht worden, wenn weder die Gestirne noch die Sonne und der Himmel mit den Augen hätten erfasst werden können.34
Karl und Gertrud Bayer übersetzen an dieser Stelle so wörtlich, dass die für uns entscheidende Information gewahrt bleibt. Die Formulierung: „dieser Vortrag, den wir über das Universum gehalten haben“ – noch wörtlicher wäre: „dieser Vortrag, der von uns gehalten worden ist“ (haec est ... habita oratio) – deutet mit seinem resultativen Aspekt35 auf den Abschluss der Handlung: Der Vortrag ist zu seinem Ende gekommen. In Platons Text lesen wir (47a1–a4): ὄψις δὴ κατὰ τὸν ἐμὸν λόγον αἰτία τῆς μεγίστης ὠφελίας γέγονεν ἡμῖν, ὅτι τῶν νῦν λόγων περὶ τοῦ παντὸς λεγομένων οὐδεὶς ἄν ποτε ἐρρήθη μήτε ἄστρα μήτε ἥλιον μήτε οὐρανὸν ἰδόντων.
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Vgl. Astrid Seele, Römische Übersetzer, 51–53. Zur Kritik an Poncelet vgl. Mario Puelma, „Cicero als Platon-Übersetzer“, 147, Anm. 18; Noemi Lambardi, oben Anm. 32, 8–12; Astrid Seele, Römische Übersetzer, 127, Anm. 200. Zit. n. der zweisprachigen Ausgabe von Karl und Gertrud Bayer: Marcus Tullius Cicero, Timaeus de Universitate. Timaeus über das Weltall. Für weitere Informationen zu diesem Thema bieten sich folgende einschlägige Werke an: Harm Pinkster geht auf das Zusammenspiel von Tempus, Aspekt und Aktionsart ein: Harm Pinkster, „Tempus, Aspect and ‚Aktionsart‘ in Latin (Recent trends 1961–1981)“, in Hildegard Temporini/Wolfgang Haase (Hg.), Aufstieg und Niedergang der römischen Welt, Bd. 29.1: Sprache und Literatur (Sprachen und Schriften [Forts.]), Berlin 1983, 271–319. Pinkster löst dabei die Aspekte aus dem Schematismus, dem sie noch in älteren Untersuchungen angehört zu haben scheinen, und legt besonderen Wert darauf, dass ein Aspekt, gerade der des Perfekts, abhängig ist von „paratatic contexts“ (278): „that is in contexts in which an event must be understood as having lasted for some time.“ Harm Pinkster verweist dabei auf den Aufsatz von Miroslav Kravar, „Zur Frage des lateinischen Verbalaspekts“, in Živa Antika, 18, 1968, 49–66, hier 64 f. Pinkster setzt sich in seinem Beitrag mit der lateinischen Standardgrammatik auseinander: Johann Baptist Hofmann, Lateinische Grammatik, Bd. 2, Teil 2: Lateinische Syntax und Stilistik: mit dem allgemeinen Teil der lateinischen Grammatik, 2. Aufl. (verbesserter Nachdruck der Erstauflage 1965), München 1972, hier 300–304 (Handbuch der Altertumswissenschaft 2. Abteilung).
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Das Sehvermögen ist nämlich nach meiner Überzeugung Ursache des größten Nutzens, weil von den Erwägungen, die wir jetzt über das All angestellt haben, keine jemals angestellt worden wäre, wenn wir weder Sterne noch Sonne, noch Himmel sähen.36
Neben dem syntaktischen Unterschied, dass bei Platon eine Satzperiode vorliegt – bei Cicero sind es zwei parataktisch angeordnete Sätze –, die aus einem Hauptsatz und einem kausalen Adverbialsatz besteht, wird auch die Information über „das Halten des Vortrags“ in einer anderen grammatischen Form erteilt: „τῶν νῦν λόγων τοῦ παντὸς λεγομένων [οὐδείς]“; dt.: „(keine) von den Erwägungen, die wir jetzt über das All angestellt haben“. Das Perfekt der deutschen Übersetzung ergibt sich aus der nahe liegenden Gleichzeitigkeit der Handlungen, die durch das Partizip (λεγομένων) und das übergeordnete finite Verb im Indikativ Aorist Passiv (ἐρρήθη) ausgedrückt werden. Streng genommen kann im Griechischen natürlich nicht von einem Zeitverhältnis wie etwa im Lateinischen gesprochen werden. Vielmehr drückt das erwähnte Partizip – es handelt sich um ein Partizip Präsens Passiv – den durativen Aspekt aus.37 Die untergeordnete Handlung im Partizip dauert während der Haupthandlung in der finiten Verbform noch an. Cicero übersetzt auch das Zeitadverb „jetzt“ (νῦν)38 nicht. Cicero hebt also mit seiner Formulierung möglicherweise den Abschluss des Vortrags hervor.39 36
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Zit. n. Platon, Timaios, übers. von Hieronymus Müller, in Gunther Eigler (Hg.), Platon. Werke in Acht Bänden. Griechisch und Deutsch, übers. von Hieronymus Müller/Friedrich Schleiermacher, Bd. 7: Timaios, Kritias, Philebos, Sonderausgabe, Darmstadt 1990. Zu Tempora und Aspekten im Griechischen, die in dieser Sprache eine weit wichtigere Rolle spielen als im Lateinischen, können grundsätzliche Informationen im Standardwerk der griechischen Grammatik eingesehen werden: Eduard Schwyzer, Griechische Grammatik, Bd. 2: Syntax und syntaktische Stilistik, vervollst. und hg. von Albert Debrunner, 3. Aufl., München 1966 [1939], 246–301. Zusätzlich sei noch eine andere Besonderheit der griechischen Sprache erwähnt. Die attributive Verwendung eines Adverbs (τῶν νῦν λόγων) lässt sich weder im Lateinischen noch im Deutschen wiedergeben; wörtlich: *„von den jetzt Erwägungen“ (also genauso unmöglich wie *nunc oratio). Im Griechischen kann der Aorist ebenfalls einen resultativen Aspekt annehmen. Man vergleiche etwa als bekanntes Beispiel aus dem Schulunterricht: „Θουκυδίδης Ἀθηναῖος ξυνέγραψε τὸν πόλεμον τῶν Πελοποννησίων καὶ Ἀθηναίων.“ (dt.: „Der Athener Thukydides hat den Krieg der Peloponnesier und der Athener aufgeschrieben [oder: ein Geschichtswerk abgefasst zu ...].“). Hätte nun Cicero den Anfang der Historiae des Thukydides übersetzen wollen, wäre er kaum um folgende Übersetzung herumgekommen: „Thucydides Atheniensis conscripsit bellum Peloponnesiorum et Atheniensium“. An dieser Stelle müsste im Lateinischen also das Perfekt stehen. Zu Thukydides’ und Platons Zeit war im Griechischen der Indikativ Perfekt in der Bedeutung des erreichten Zustands noch geläufig. Das Perfekt (in unserem Fall: ξυγγέγραφε) würde etwa heißen: „ist der Verfasser von ...“ Mit der Entwicklung des Resultativperfekts in hellenistischer Zeit wird das Perfekt erst mit dem Indikativ Aorist gleichrangig. Vgl. dazu Eduard Schwyzer, Griechische Grammatik, 286 f. Der resultative Aspekt bei Platon an unserer Stelle ist dadurch begründet, dass sich Timaios einem Abschnittsende seines Vortrags nähert.
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Auch die zweite Formulierung Ciceros, die als Abschlussformel verstanden werden kann, ist als Übersetzung des griechischen Originals zu verstehen. In diesem Fall sind es jedoch keine sprachlichen oder stilistischen, sondern inhaltliche Gründe, die dafür sprechen, dass hier der Abschluss der Übersetzungspassage erreicht ist (52; letzter Satz der überlieferten Übersetzung): quibus40 ex rebus philosophiam adepti sumus, quo bono nullum optabilius, nullum praestantius neque datum est mortalium generi deorum concessu atque munere neque dabitur. Dadurch haben wir die Philosophie erhalten, das wünschenswerteste und hervorragendste Gut, das dem Menschengeschlecht von den Göttern als Gnadengabe zugestanden worden ist; eine bessere wird es niemals erhalten.
Diese Formulierung gehört auch bei Platon zum Abschluss eines Abschnittes. Timaios beendet den ersten Teil seiner Rede über das Entstehen der Welt (vgl. 27c1–47e2; hier 47a7–b2): ἐξ ὧν ἐπορισάμεθα φιλοσοφίας γένος, οὗ μεῖζον ἀγαθὸν οὔτ’ ἦλθεν οὔτε ἥξει ποτὲ τῷ θνητῷ γένει δωρηθὲν ἐκ θεῶν. Hierdurch haben wir den Weg zur Philosophie gefunden; ein größeres Gut als dieses ist niemals als Geschenk von den Göttern zu den Menschen gekommen und wird niemals kommen.
Auch der inhaltliche und grammatische Bezug der einleitenden Relativpronomina in den beiden Fassungen unterscheidet sich: Cicero setzt neben das Pronomen (quibus) zur Generalisierung die kongruente Form von res (Ding, Sache, etc.), um zusammenhängend die vorausgehenden Überlegungen einzubeziehen, während sich Platons Text mit dem Pronomen ὧν auf die zuvor erwähnten „Augen“ (46e6 und indirekt e8 [αὐτῶν] beziehen muss).41 Das Lob der Philosophie, dem im Lateinischen mit den gleichen sprachlichen Mitteln Ausdruck verliehen wird wie im Griechischen, kann bei Cicero allgemein auf die vorhergehenden Ausführungen bezogen werden und wird dadurch zu einer knappen Abschlussformel.42 Platon markiert dagegen das Ende des ersten Abschnittes im Hauptteil des Timaios. 40
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In den beiden Teubnerausgaben (Remo Giomini und Wilhelm Ax) wird der Satz vom vorhergehenden durch ein Semikolon getrennt, nach Auffassung von Gertrud und Karl Bayer durch einen Punkt. Platon, Timaios, 46e6–47a1: „τὰ μὲν οὖν τῶν ὀμμάτων συμμεταίτια πρὸς τὸ σχεῖν τὴν δύναμιν ἣν νῦν εἴληχεν εἰρήσθω· τὸ δὲ μέγιστον αὐτῶν εἰς ὠφελίαν ἔργον, δι’ ὃ θεὸς αὔθ’ ἡμῖν δεδώρηται, μετὰ τοῦτο ῥητέον.“ („Was nun bei den Augen Mitursache dafür ist, dass sie die Fähigkeit erhielten, die sie jetzt besitzen, sei damit abgehandelt. Ihre im Hinblick auf den Nutzen wichtigste Leistung, weshalb der Gott sie uns geschenkt hat, ist hiernach zu behandeln.“; Übers: Andreas Fuchs). Dieses Lob wird in dieser oder ähnlicher Formulierung noch in vielen anderen Texten von Cicero verwendet. Vgl. dazu den Similienapparat zur Stelle in der Ausgabe von Remo Giomini.
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Zu diesen ersten zitierten Textstellen wie auch zu den folgenden können wir als Vergleichstext eine spätere lateinische Übersetzung heranziehen, die für die Bedeutung des platonischen Dialogs im Mittelalter nicht überschätzt werden kann. Calcidius, von dem wir nicht viel wissen, außer dass er Christ war,43 übersetzte wohl um das Jahr 400 mehr als die erste Hälfte des Timaios (17a1–53c2) und fügte seiner Übersetzung den ersten lateinischen Kommentar bei.44 Die ersten beiden Passagen sollen noch nicht in einem Übersetzungsvergleich münden, sondern nur noch einmal darauf hinweisen, dass Cicero an das Ende seines Textes zwei Abschlussformeln setzte. Davon muss sich der Text des Calcidius abheben, da sein Text erst sechs Stephanus-Seiten später endet. Seine Formulierung lautet folgendermaßen (44,4–7): Visus enim iuxta meam sententiam causa est maximi commodi plerisque non otiose natis atque institutis ob id ipsum quod nunc agimus; neque enim de universa re quisquam quaereret nisi prius stellis sole caeloque visis. Das Sehvermögen ist nämlich nach meiner Ansicht der Grund für den größten Nutzen, da zu der Thematik, von der wir gerade handeln, sonst nicht Überlegungen in großer Zahl mit Muße entstanden und hervorgebracht worden wären; auch würde sicher niemand eine Frage zum Weltall stellen, wenn er nicht zuvor Sterne, Sonne und der Himmel gesehen hätte.
Calcidius übersetzte bereits für Leser, die der griechischen Sprache nicht mehr oder nicht mehr so souverän mächtig waren wie Ciceros Übersetzungspublikum.45 Calcidius weicht an einigen Stellen von Ciceros Version ab. Im abhängigen Relativsatz wählt Calcidius die Tempusform Präsens quod nunc agimus. Dieses Tempus lässt natürlich nicht auf den Abschluss des Vortrags schließen. Die zweite oben bereits zitierte Textstelle des platonischen Timaios heißt in Calcidius’ Übertragung folgendermaßen (44,11–13): quasi quoddam seminarium philosophiae pangens, quo bono nihil umquam maius ad hominum genus divina munificentia commeavit. gewissermaßen eine bestimmte Pflanzstätte der Philosophie einrichtend, das größte Gut, das göttliche Wohltätigkeit dem Geschlecht der Menschen vermittelt hat.
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Vgl. Jan Hendrik Waszink, „Calcidius“, in Jahrbuch für Antike und Christentum, 15, 1972, 236– 244, hier 236–38 (Nachtrag 243 zum Reallexikon für Antike und Christentum). Für den Timaeus des Calcidius ziehe ich folgende Ausgabe heran: Jan Hendrik Waszink, „Timaeus a Calcidio transl. commentarioque instr. in societatem operis coniuncto Povl J. Jensen“, in Raymond Klibansky (Hg.), Plato Latinus, Vol. IV, Leiden 1962. Die Stellenangaben sind nach Seitenund Zeilenzahl dieser Ausgabe zitiert. Die Übersetzungen daraus stammen von Andreas Fuchs. Vgl. dazu die Literatur, die Klaus Schöpsdau in seinem Beitrag angibt: „Vergleiche zwischen Lateinisch und Griechisch in der antiken Sprachwissenschaft“, in Carl Werner Müller [u. a.] (Hg.), Zum Umgang mit fremden Sprachen in der griechisch-römischen Antike, Stuttgart 1992, 115–136, hier 116, Anm. 3. Der Artikel von Rudolf Weis, „Zur Kenntnis des Griechischen im Rom der republikanischen Zeit“, 137–142 im gleichen Band führt bei unserer Fragestellung nicht weiter.
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Die Sentenz reduziert Calcidius auf die Wortverbindung „seminarium philosophiae“. Calcidius bleibt näher am Original, indem er, ähnlich wie Platon, „Philosophie“ zum Genitivattribut eines anderen Ausdrucks macht. Wie nahe er am griechischen Original bleibt, zeigt seine wörtliche Übersetzung von γένος (Art, Geschlecht, Gattung und Sprössling), abgeleitet von γίγνεσθαι ([geboren] werden). Calcidius übersetzt Platon an dieser Stelle wörtlicher als Cicero. Dieser verwendet „seminarium“ selbst schon in übertragenem Sinn.46 Deshalb verwundert die Vorsicht, mit der Calcidius an dieser Stelle zu Werke geht. Er mildert den übertragenen Ausdruck in zweifacher Weise: mit dem Adverb „quasi“ und dem Indefinitpronomen „quoddam“. Das ist ein Vorgehen, wie es Cicero in seinen Übersetzungen vielfach praktiziert.47 46
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Vgl. etwa In Catilinam, 2,23: „scitote hoc in re publica seminarium Catilinarum futurum“, zit. n. Marcus Tullius Cicero, Catilinarians, hg. von Andrew Dyck, 2. Aufl., Cambridge, 2009 (dt.: „Seid versichert, dies wird eine Pflanzstätte von Catilina sein“). Andrew Dyck gibt in seinem Kommentar weitere Vergleichsstellen an. Je nach Zusammenhang nimmt aber auch Cicero die Kühnheit des Ausdrucks zurück; vgl. Cicero, De officiis, 1,54 (ed. M. Winterbottom, Oxford 1994): „id autem est principium urbis et quasi seminarium rei publicae“; dt.: „Dies aber ist der Anfang der Stadt und gewissermaßen die Pflanzstätte des Gemeinwesens“). Mario Puelma, „Cicero als Platon-Übersetzer“, 155, Anm. 39, erkennt ebenfalls die Vielzahl der glossierenden und abschwächenden Formeln in Ciceros Übersetzungen, die dieser den seiner Meinung nach zu kühnen Ausdrücken voranstellt. Eine systematische Zusammenstellung dieser formelhaften Ausdrucksweise bei Cicero ist aber offensichtlich bis heute ein Desiderat in der Forschung geblieben. Besonders bemerkenswert ist folgende Formulierung in Ciceros Timaeus, 23: „deinde instituit dupla et tripla intervalla explere, partis rursus ex toto desecans; quas intervallis ita locabat, ut in singulis essent bina media (vix enim audeo dicere medietates, quas Graecis μεσότητας appellant, sed quasi ita dixerim intellegatur, erit enim planius“; dt.: „Danach begann der Schöpfergott, die zweifachen und dreifachen Intervalle auszufüllen, indem er weitere Teile aus dem Ganzen herausschnitt; diese fügte er in die Zwischenräume so ein, dass in jedem Intervall zwei Mitglieder (= „media“) waren“ [kaum wage ich nämlich, diese als „medietates“ zu bezeichnen – die Griechen nennen sie μεσότητες –, aber man möge das so verstehen, dass ich den Ausdruck nur hilfsweise verwende; die Sache wird gewiss leichter verständlich]; übers. nach Gertrud und Karl Bayer). Der römische Übersetzer kommentiert seine Lehnübersetzung ausführlich. Es entsteht ein formal neuartiges Wort, das dem griechischen Substantiv nachgebildet ist. Cicero gebraucht dieses Wort jedoch nur an dieser Stelle (vgl. Mario Puelma, „Cicero als Platon-Übersetzer“, 157, Anm. 48); z. B. in De officiis, 1,89 schreibt er bei der Wiedergabe eines aristotelischen Gedankens „mediocritas“. Danach tritt medietas erst wieder bei Apuleius in der überlieferten lateinischen Literatur auf; vgl. Thesaurus Linguae Latinae [ThLL], Bd. 8, 554, Z. 40–557, Z. 80, hier 555, Z. 55 (Vinzenz Bulhart), imprim. 1939. Neben dem Mildern des Ausdrucks, der Nebeneinanderstellung zweier Übersetzungsvorschläge und der Nennung des griechischen Originals fügt Cicero auch noch die explizite Erläuterung, die Glossierung, hinzu. Zu Ciceros Zurückhaltung gegenüber Übersetzungslehnwörtern vgl. Astrid Seele, Römische Übersetzer, 26–30, hier 29. Calcidius verwendet „medietas“ dann natürlich an mehreren Stellen als Übersetzung von τὸ μέσον und ἡ μεσότης (24,12;13;15, 25,22; 26,15;17; 41,19 und 24,21; 25,2; 27,26 [die Stelle bei Cicero]; 39,13 sowie im Kommentar von Jan Hendrik Waszink: 61,14; 62,9).
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Um Aussagen zu Ciceros Übersetzungstechnik machen zu können, sollen im Folgenden Textpassagen im Original mit der Übertragung verglichen werden. Die Version des Calcidius wird angehängt. Das Vorgespräch führt in den Dialog ein. Cicero stellt seiner übersetzten Passage einen kurzen Einleitungspassus voran. Er führt hier seinen Zeitgenossen und Freund Publius Nigidius Figulus (100–45 v. Chr.) ein, der den Part des Hauptredners Timaios von Lokroi übernimmt.48 a) Im Eingangssatz der Übersetzung wird deutlich, welchen syntaktischen Zwängen Cicero unterworfen ist. Die Unterschiedlichkeit der beiden Sprachen fordert den Übersetzer philosophischer Prosa auf besondere Weise heraus.49 [durch die Überlieferung bedingte Lücke in Ciceros Text] Quid est quod semper sit neque ullum habeat ortum, et quod gignatur nec umquam sit? Quorum alterum intellegentia et ratione comprehenditur, quod unum atque idem semper est; alterum, quod adfert opinio et sensus rationis expers, quod totum opinabile, id gignitur et interit nec umquam esse vere potest. Was ist das, was immer >ist< und keinen Ursprung hat, und das, was entsteht und niemals >ist