Göttliche Zufälligkeiten: G. E. Lessings Vernunftkritik als Theodizee der Religionen 9783161616822, 9783161616839, 3161616820

Gotthold Ephraim Lessing (1729-1781) - erklärter "Liebhaber der Theologie" und zugleich ihr epochaler, scharfs

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German Pages [341] Year 2023

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Table of contents :
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Titel
Vorwort
Inhaltsverzeichnis
Vorbemerkung zur Zititerweise
Einleitung
Erster Teil: Wanderjahre
I. Geschichtslose Vernunft vs. vernunftlose Geschichte – Gedanken über die Herrnhuter (1751)
1. Text und Kontext
1.1 Zur Gattungsfrage oder Die Gedanken über die Herrnhuter als ‚Rettung‘ gelesen
1.2 Die Herrnhuter im Sperrfeuer der Orthodoxie
2. Analyse und Interpretation
2.1 Von gelehrten Streitigkeiten als Kriegen und von menschlicher Bosheit
2.2 Die historiographische Explikation der These
2.2.1 „Die Geschichte der Weltweisheit in einer Nuß“
2.2.2 .Die Religionsgeschichte als Geschichte des Abfalls von der natürlichen Religion
Exkurs 1: Vernunft und Offenbarung in Matthew Tindals Christianity as Old as the Creation (1730)
2.3 Appell an die Zeitgenossen
3. Fazit
II. Kritik der Apologetik – Die Rettung des Hier. Cardanus (1752)
1. Text und Kontext oder Rettungsmission zwischen 15.000 Büchern
2. Analyse und Interpretation
2.1 Von der Unverfügbarkeit der Wahrheit oder Notwendigkeit der Überzeugung in Glaubensdingen
2.2 Historische Gründe und Vernunftgründe
2.3 Lessings Kritik der zeitgenössischen Apologetik
Exkurs 2: Die christliche Apologetik zur Jahrhundertmitte August Friedrich Wilhelm Sacks Vertheidigter Glaube der Christen (1748–1751)
III. Versuch einer rationalen Apologetik – Lessings Fragment Das Christentum der Vernunft (1752/1753)
1. Text und Kontext oder Lessings ungeheurer Anspruch, als Endlicher das Unendliche zu begreifen
2. Analyse und Interpretation
2.1 Gott als das einzige vollkommenste Wesen – Die Prämissen im Lichte der traditionellen Metaphysik
2.2 Inwiefern in Gott drei Eines sind
3. Fazit
IV. Diskursivität vs. Subjektivierung – Lessings Feldzug gegen das Gefühlschristentum. Der 49. Literaturbrief (1759)
1. Text und Kontext oder Großer Dichterkrieg, Kleiner Dichterkrieg und Berliner Guerilleros
2. Analyse und Interpretation
2.1 Die Position Klopstocks
2.2 Denken und Empfinden oder Diskursivität und Subjektivität im Streit
3. Fazit
V. Zur soziologischen Notwendigkeit der positiven Religionen – Das Fragment Über die Entstehung der geoffenbarten Religion (1763/64)
1. Text und Kontext oder Gelehrsamkeit zwischen Depression und Spielsucht
2. Analyse und Interpretation oder Erste Irritation am gemeinaufklärerischen Standpunkt
3. Fazit
Zweiter Teil: Kurskorrektur
VI. Die Suffizienzthese in der Krise
1. Berengarius Turonensis (1770) oder Lessings (vermeintliche?) Wendung zur Orthodoxie
2. Des Andreas Wissowatius Einwürfe wider die Dreieinigkeit (1773) oder Lessing und die Leibnizsche Apologetik
Exkurs 3: Das Verhältnis von Glaube und Vernunft bei G. W. Leibniz oder Die Übervernünftigkeit der Mysterien
Exkurs 4: Die ‚neuere Theologie‘ der 1770er-Jahre
3. Fazit
Dritter Teil: Gipfelschau
VII. Geschichtliche Vernunft – vernünftige Geschichte oder Lessings Theodizee der Religionen
1. Nicht orthodox, nicht Neologe – Ein Briefzitat
2. Fragmente eines Ungenannten – Text und Kontext
3. Kritische Fragmente und noch kritischere Gegensätze
3.1 Fragmente eines Ungenannten
Exkurs 5: Erkenntnistheoretische Grundsätze der altprotestantischen Orthodoxie. Eine Skizze
3.2 Die Gegensätze des Herausgebers
4. Lessings ‚abgründige‘ Einsicht in die Geschichtlichkeit der Vernunft
5. Lessings Theodizee der Religionen oder Die Erziehung des Menschengeschlechts (1777/80)
5.1 Grundlegung
5.2 Auf Augenhöhe oder Der „wechselseitige Dienst“ von Vernunft und Offenbarung
Exkurs 6: Vernunft und Offenbarung in J. F. W. Jerusalems Betrachtungen über die vornehmsten Wahrheiten der Religion (1768–1779)
5.3 Nicht orthodox, nicht Neologe oder Die Aufhebung des (positiven) Christentums im ‚dritten Zeitalter‘
5.4 Die Paragraphen 4 und 77 – ein Widerspruch?
6. Fazit
Schluss
Literaturverzeichnis
1. Quellen
1.1 Lessingschriften
1.2 Sonstige Quellen
1.3 Zeitgenössische Rezensionen
1.4 (Kommentierte) Quellensammlungen/Dokumentationen
1.5 Sonstige Hilfsmittel
2. Sekundärliteratur
Register der Schriften Lessings
Personenregister
Sachregister
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Göttliche Zufälligkeiten: G. E. Lessings Vernunftkritik als Theodizee der Religionen
 9783161616822, 9783161616839, 3161616820

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I

Collegium Metaphysicum Herausgeber / Editors Thomas Buchheim (München) · Friedrich Hermanni (Tübingen) Axel Hutter (München) · Christoph Schwöbel † (St Andrews) Beirat /Advisory Board Johannes Brachtendorf (Tübingen) · Douglas Hedley (Cambridge) Johannes Hübner (Halle) · Anton Friedrich Koch (Heidelberg) Friedrike Schick (Tübingen) · Rolf Schönberger (Regensburg) Eleonore Stump (St. Louis)

29

II

III

Daniel Zimmermann

Göttliche Zufälligkeiten G. E. Lessings Vernunftkritik als Theodizee der Religionen

Mohr Siebeck

IV Daniel Zimmermann, geboren 1986; Studium der Evangelischen Theologie und Germanistik in Tübingen; Promotion zum Dr. theol.; Vikariat in der Evangelischen Landeskirche in Würt­ temberg; Pfarrer an der Stadtkirche in Freudenstadt. orcid.org/0000-0001-9254-7211

Die Publikation wurde gefördert durch die Vereinigte Evangelisch-Lutherische Kirche Deutschlands sowie durch die Evangelische Landeskirche in Württemberg. D 21 ISBN 978-3-16-161682-2 / eISBN 978-3-16-161683-9 DOI 10.1628/978-3-16-161683-9 ISSN 2191-6683 / eISSN 2568-6615 (Collegium Metaphysicum) Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nati­onal­ bibliographie; detaillierte bibliographische Daten über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2023 Mohr Siebeck Tübingen. www.mohrsiebeck.com Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für die Verbreitung, Vervielfältigung, Übersetzung und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Das Buch wurde von Computersatz Staiger aus der Stempel Garamond gesetzt, von Gulde Druck in Tübingen auf alterungsbeständiges Werkdruckpapier gedruckt und von der Buchbinderei Spinner in Ottersweier gebunden. Printed in Germany.

V

Gewidmet sei dieses Buch all jenen Theologen, die durch ihr Vorbild sowie durch Predigt, Lehre und das unablässig nach Wahrheit suchende Gespräch mein Denken befeuert, beflügelt und auch geerdet haben – allen voran meinem Vater Dekan i.R. Friedrich Zimmermann, meinem Doktorvater Prof. Dr. Friedrich Hermanni, den Mitstreitern und Freunden Prof. em. Dr. Oswald Bayer, Prof. Dr. Hans-Christian Kammler, Prof. Dr. Roland Deines, Dr. Jonathan Reinert, Vikar ­Simon Blatz, Joel Klenk und Pfarrer Marius Böhmerle. Und meinem verehrten Griechischlehrer OStD i.R. Joachim Scheffzek. Er war es, der mich allererst begeistert hat für die faszinierende Welt der Philosophie.

VI

VII

Vorwort Wenn schon ein herausragender Geist wie Lessing seine epochalen Schriften und Fragmente als „Sudeleien“ bezeichnete, wie wären dann wohl – entsprechend – die hier vorgelegten Ausführungen und Notizen angemessen zu titulieren? – Von der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Eberhard Karls Universität Tübingen jedenfalls wurden sie als Dissertationsschrift angenommen. Als ich bereits über den Schlusskapiteln dieser Studie brütete – und nicht allein mit der Materie, sondern auch und vor allem mit verschiedenen, teils selbstgesetzten, teils von außen bestimmten Fristen zu kämpfen hatte –, äußerte ein unendlich gebildeter Kommilitone (bei einer Tasse Cappuccino) die treffende Bemerkung, dass man eine Dissertation unmöglich zu Ende bringen könne; stattdessen – so seine nüchterne Erkenntnis – gebe man sie einfach „irgendwann einmal“ ab. Ich habe meine Dissertation im September 2020 eingereicht – und das freilich nicht, weil mir nichts mehr zu sagen übriggeblieben wäre, sondern schlicht und ergreifend deshalb, weil die Zeit dafür gekommen war. Es gibt wohl kaum einen Punkt in der Arbeit, von dem aus ich nicht noch hätte weitergehen und tiefer schürfen können. In diesem Sinne bleibt man als Wissenschaftler seinem Gegenstand wohl immer und zwangsläufig etwas schuldig – und sein Ziel hat man in aller Bescheidenheit dort zu gewahren, wo man besagte Schuld wenigstens halbwegs meint, verantworten zu können. Nun sieht sich – gerade wer zu Lessing forscht – mit diesem Dilemma noch einmal (und vielleicht sogar in noch drängenderer Weise) konfrontiert angesichts der Flut von scharfsinnigen Aufsätzen, gebildeten Monographien und pointierten Artikeln, deren Erkenntnisse und Anfragen idealiter doch allesamt mitbedacht und mitdiskutiert werden müssten… Indessen tut auch hier wieder nüchterner Pragmatismus not – wiewohl auf die Gefahr hin, im Beschränken und Auswählen allenfalls auch Grundlegendes übersehen zu können. In diesen Kontext gehört auch die von mir getroffene Entscheidung, eingedenk der vielfältigen familiären Aufgaben und pfarramtlichen Dienste und Pflichten all das, was an wissenschaftlicher Literatur zu Lessing (und insbesondere zu seinem religionsphilosophischen und theologiekritischen Œuvre) seit Abgabe meiner Arbeit im September 2020 erschienen ist, für die Drucklegung vorliegender Studie nicht mehr explizit zu berücksichtigen. Trotzdem sei an dieser Stelle auf einen Titel wenigstens hingewiesen, nämlich die vorzügliche und

VIII

Vorwort

beeindruckende Münchner Dissertation des Philosophen Hannes Kerber (erschienen unter dem prägnanten Titel Die Aufklärung der Aufklärung. Lessing und die Herausforderung des Christentums, Göttingen 2021). Gerade weil Kerber im Blick auf Lessings Spätwerk interpretatorisch ganz andere Akzente setzt, als ich es in meinem VII. Kapitel tun werde, lohnt sich eine vergleichende oder besser: dialogische Lektüre. Der Weg bis zum gedruckten Buch ist weit – und alleine nicht zu schaffen. Deshalb ist es nun an der Zeit, zu danken! Allen voran der altehrwürdigen Evangelisch-Theologischen Fakultät der Eberhard Karls Universität Tübingen, die mich als Alma Mater über viele Jahre hinweg treu und überreich versorgt hat. Sodann meinem Doktorvater Prof. Dr. Friedrich Hermanni, der mir mit seinem unvergleichlichen Scharfsinn nicht nur akademischer Lehrer, sondern auch und in vorbildlicher Weise inspirierender Gesprächspartner, väterlicher Kümmerer und fordernder Förderer war. Ebenfalls gilt mein Dank Prof. Dr. Christoph Schwöbel (1955–2021), dessen schierer Allwissenheit auch die vorliegende Studie maßgebliche Impulse verdankt; außerdem Prof. Dr. Volker Leppin, der nach Prof. Schwöbels plötzlichem Tod im Sommer 2021 kurzentschlossen und mit eindrucksvoller Tatkraft – von Übersee aus – die Mitberichterstattung übernahm. Was aber wäre alles akademische Forschen ohne die inspirierende Kompetenz der Kommilitoninnen und Kommilitonen? – Danke an alle Teilnehmerinnen und Teilnehmer des Systematisch-Theologischen Forschungskolloquiums unter der langjährig gemeinsamen Leitung von Prof. Hermanni und Prof. Schwöbel sowie an Dr. Tobias Jammerthal für die kenntnisreiche und kritische Durchsicht meiner Übersetzung lateinischer Zitate. Den Herausgebern sei herzlich gedankt für die freundliche Aufnahme vorliegender Studie in die ebenso renommierte wie klangvolle Tübinger Schriftenreihe Collegium Metaphysicum. Dem Verlag Mohr Siebeck – und namentlich Markus Kirchner und Bettina Gade – danke ich für die allzeit konstruktive Zusammenarbeit sowie das vorzügliche Lektorat. Wissenschaft will finanziert sein! Mein ausdrücklicher Dank gilt sowohl der Konrad-Adenauer-Stiftung für die Gewährung eines Promotionsstipendiums als auch der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands und der Evangelischen Landeskirche in Württemberg für die Bewilligung großzügiger Druckkostenzuschüsse. Meiner Mutter Annette Zimmermann und meiner Schwiegermutter Sabine Köne­kamp danke ich für die tatkräftige Unterstützung im familiären Alltag. Meiner Mutter sei außerdem von Herzen gedankt für ihre unerschöpfliche Ge-

Vorwort

IX

duld, ihre nimmermüde und stets liebevolle, kreative, individuelle und wertschätzende Förderung sowie alle Verlässlichkeit und unentwegte Unterstützung in den entscheidenden, weichenstellenden (und aus Elternperspektive gewiss nicht nur einfachen) Jahren. Joel, Anton und Ben – danke, dass Ihr meine väterliche Aufmerksamkeit über viele kindheitsprägende Jahre hinweg so großzügig geteilt habt mit diesem – nun, man muss es wohl so sagen – anderen „Baby“. Und wer weiß, Anton: Vielleicht liest Lessing mein Buch ja tatsächlich „dort oben, im Himmel“?! Und dann gilt mein ganz persönlicher Dank meiner geliebten Frau Elena! Wer vielleicht selbst einmal eine mehrjährige Forschungsarbeit verfasst hat oder in sonstiger Weise involviert war in einen solchen Prozess, der weiß, wie oft auf Höhenflüge Bruchlandungen folgen. Danke für Deine unverdrossene Begleitung und Deine treue Liebe! Du hast mich gelehrt, in der Profanität des Alltags immer wieder auch die göttlichen Zufälligkeiten neu zu entdecken. Tübingen, am Trinitatisfest 2022

Daniel Zimmermann

X

XI

Inhaltsverzeichnis Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  VII Vorbemerkung zur Zititerweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  XV

Einleitung

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .    1

Erster Teil:

Wanderjahre I. Geschichtslose Vernunft vs. vernunftlose Geschichte – Gedanken über die Herrnhuter (1751) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  11 1. Text und Kontext . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  11 1.1 Zur Gattungsfrage oder Die Gedanken über die Herrnhuter als ‚Rettung‘ gelesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  11 1.2 Die Herrnhuter im Sperrfeuer der Orthodoxie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .   13

2. Analyse und Interpretation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Von gelehrten Streitigkeiten als Kriegen und von menschlicher Bosheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Die historiographische Explikation der These . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.1 „Die Geschichte der Weltweisheit in einer Nuß“ . . . . . . . . . . . . . 2.2.2 .Die Religionsgeschichte als Geschichte des Abfalls von der natürlichen Religion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

 16  18  21  21  24

Exkurs 1: Vernunft und Offenbarung in Matthew Tindals Christianity as Old as the Creation (1730) . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  28

2.3 Appell an die Zeitgenossen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  43

3. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  51

II. Kritik der Apologetik – Die Rettung des Hier. Cardanus (1752) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  54 1. Text und Kontext oder Rettungsmission zwischen 15.000 Büchern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .   54

XII

Inhaltsverzeichnis

2. Analyse und Interpretation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .   59 2.1 2.2 2.3

Von der Unverfügbarkeit der Wahrheit oder Notwendigkeit der Überzeugung in Glaubensdingen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .   59 Historische Gründe und Vernunftgründe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .   62 Lessings Kritik der zeitgenössischen Apologetik . . . . . . . . . . . . . . . . .   66

Exkurs 2:  Die christliche Apologetik zur Jahrhundertmitte August Friedrich Wilhelm Sacks Vertheidigter Glaube der Christen (1748–1751) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .   78

III. Versuch einer rationalen Apologetik – Lessings Fragment Das Christentum der Vernunft (1752/1753) . . . . . . . . . . . . . . . . . .   92 1. Text und Kontext oder Lessings ungeheurer Anspruch, als Endlicher das Unendliche zu begreifen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .   92 2. Analyse und Interpretation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .   98 2.1 Gott als das einzige vollkommenste Wesen – Die Prämissen im Lichte der traditionellen Metaphysik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .   99 2.2 Inwiefern in Gott drei Eines sind . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  110 3. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  115

IV. Diskursivität vs. Subjektivierung – Lessings Feldzug gegen das Gefühlschristentum. Der 49. Literaturbrief (1759). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  117 1. Text und Kontext oder Großer Dichterkrieg, Kleiner Dichterkrieg und Berliner Guerilleros . . . . . . . . . . . . . . . . . .  117 2. Analyse und Interpretation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  124 2.1 Die Position Klopstocks . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  124 2.2 Denken und Empfinden oder Diskursivität und Subjektivität im Streit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  128 3. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  138

V. Zur soziologischen Notwendigkeit der positiven Religionen – Das Fragment Über die Entstehung der geoffenbarten Religion (1763/64) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  139 1. Text und Kontext oder Gelehrsamkeit zwischen Depression und Spielsucht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  140 2. Analyse und Interpretation oder Erste Irritation am gemein aufklärerischen Standpunkt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  143 3. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  152

Inhaltsverzeichnis

XIII

Zweiter Teil:

Kurskorrektur VI. Die Suffizienzthese in der Krise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  157 1. Berengarius Turonensis (1770) oder Lessings (vermeintliche?) Wendung zur Orthodoxie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  159 2. Des Andreas Wissowatius Einwürfe wider die Dreieinigkeit (1773) oder Lessing und die Leibnizsche Apologetik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  171

Exkurs 3:  Das Verhältnis von Glaube und Vernunft bei G. W. Leibniz oder Die Übervernünftigkeit der Mysterien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  173



Exkurs 4:  Die ‚neuere Theologie‘ der 1770er-Jahre . . . . . . . . . . . . . . . . . .  182

3. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  188

Dritter Teil:

Gipfelschau VII. Geschichtliche Vernunft – vernünftige Geschichte oder Lessings Theodizee der Religionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  193 1. Nicht orthodox, nicht Neologe – Ein Briefzitat . . . . . . . . . . . . . . . . .  193 2. Fragmente eines Ungenannten – Text und Kontext . . . . . . . . . . . . .  194 3. Kritische Fragmente und noch kritischere Gegensätze . . . . . . . . . .  199

3.1 Fragmente eines Ungenannten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  202

Exkurs 5:  Erkenntnistheoretische Grundsätze der altprotestantischen Orthodoxie. Eine Skizze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  205

3.2 Die Gegensätze des Herausgebers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  218

4. Lessings ‚abgründige‘ Einsicht in die Geschichtlichkeit der Vernunft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  236 5. Lessings Theodizee der Religionen oder Die Erziehung des Menschengeschlechts (1777/80) . . . . . . . . . . . . . . .  244 5.1 Grundlegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  247 5.2 Auf Augenhöhe oder Der „wechselseitige Dienst“ von Vernunft und Offenbarung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  254 Exkurs 6:  Vernunft und Offenbarung in J. F. W. Jerusalems Betrachtungen über die vornehmsten Wahrheiten der Religion (1768–1779) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  255

XIV

Inhaltsverzeichnis

5.3 Nicht orthodox, nicht Neologe oder Die Aufhebung des (positiven) Christentums im ‚dritten Zeitalter‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  268 5.4 Die Paragraphen 4 und 77 – ein Widerspruch? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  272

6. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  281 Schluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  285 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  289 1. Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  289

1.1 1.2 1.3 1.4 1.5

Lessingschriften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sonstige Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zeitgenössische Rezensionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (Kommentierte) Quellensammlungen/Dokumentationen . . . . . . . . . . Sonstige Hilfsmittel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

 289  291  294  294  295

2. Sekundärliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  295

Register der Schriften Lessings . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  305 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  309 Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  315

XV

Vorbemerkung zur Zitierweise Lessings Werke werden im Folgenden zitiert nach der von Wilfried Barner et al. besorgten Frankfurter Lessing-Ausgabe in zwölf Bänden (Frankfurt a.M. 1985– 2003; abgekürzt durch die Sigle B, unter Angabe der Bandnummer, der Seitenund Zeilenzahl). Zusätzliche Angaben (Titel der jeweils zitierten Schrift, Paragraphenangaben, Verszahlen etc.) sollen das Auffinden der Zitate in anderen Lessing-Ausgaben erleichtern. Quellentexte werden in den Anmerkungen unter Nennung des Autors, des Titels sowie des (Erst-)Erscheinungsjahres angegeben. Bei wiederholter Nennung werden die Titel durch Kurztitel ersetzt. Vollständige Angaben finden sich im Literaturverzeichnis. – Texte von Autoren des 18. Jahrhunderts werden nach Möglichkeit aus den Originalpublikationen zitiert. Sekundärtitel werden in den Anmerkungen lediglich unter Angabe des Autorennachnamen sowie des Erscheinungsjahres genannt. Die vollständigen Angaben sind dem Literaturverzeichnis zu entnehmen.

XVI

1

Einleitung Nein, Liebe macht nicht blind. Jedenfalls dann nicht, wenn man überall „mit seinen eigenen Augen“1 zu sehen gewillt ist. So wie Gotthold Ephraim Lessing (1729–1781) – erklärter „Liebhaber der Theologie“2 und zugleich ihr epochaler, scharfsichtiger Kritiker. An seinen Vater, den Kamenzer Archidiakonus Johann Gottfried Lessing (1693–1770), schreibt der erst Zwanzigjährige – frühreif: Die Xstliche Religion ist kein Werk, das man von seinen Eltern auf Treue und Glaube annehmen soll. Die meisten erben sie zwar von ihnen eben so wie ihr Vermögen, aber sie zeugen durch ihre Aufführung auch, was vor rechtschaffne Xsten sie sind. So lange ich nicht sehe, daß man eins der vornehmsten Gebote des Xstentums, Seinen Feind zu lieben nicht besser beobachtet, so lange zweifle ich, ob diejenigen Xsten sind, die sich davor ausgeben.3

Freilich: Mit ‚den meisten‘ macht sich ein Lessing nicht gemein. Er geht seinen eigenen Weg. Auf diesem „Weg der Untersuchung“ hofft er, vom ‚Zweifel‘ „zur Überzeugung […] zu gelangen“.4 Und tatsächlich wird ihn sein Weg in diese Richtung führen: von abgeklärt-aufklärerischer Religionskritik hin zu ihrer bahnbrechenden religionsphilosophischen Überwindung. Lessing auf diesem seinem Wege zu folgen und ihn in seinen wichtigsten Etappen nachzuzeichnen, soll Aufgabe dieser Studie sein. Dass dabei die Frage nach dem Verhältnis von Vernunft und Offenbarung zur Leitperspektive erhoben wird, liegt in ihrer zentralen Bedeutung sowohl für das Verständnis von Lessings Religionsphilosophie als auch für die Philosophie und Theologie des 18. Jahrhunderts insgesamt begründet.5

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  Diese Formulierung findet sich immer wieder in Lessings Schriften und Fragmenten, am prominentesten wohl in seiner Ketzer-Definition im Berengarius Turonensis (s.u. Kap. VI. 1.). 2  B 9, 57,32 (Axiomata). 3   Brief Nr. 21 (An Johann Gottfried Lessing; 30. Mai 1749), in: B 11/1, 25–28. Hier: 26,19– 26 (Hervorh. i. O.). 4   B 11/1, 26,16ff. 5   Zu „Vernunft und Offenbarung“ als dem „Problem des 18. Jahrhunderts“ vgl. Aner 1929, 359; zur Zentralität der Frage nach dem Verhältnis von Vernunft und Offenbarung für das Verständnis von Lessings Religionsphilosophie vgl. Thielicke 1967, passim.

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Bevor wir uns aber – mit Lessing – auf seinen Weg begeben möchten, gilt es zunächst, im Rahmen einer vorgängigen Klärung unsere eigenen hermeneutischen und methodischen Voraussetzungen bzw. Entscheidungen in Anknüpfung und Abgrenzung zur einschlägigen theologischen und religionsphilosophischen Lessingforschung wenigstens umrisshaft offenzulegen.6 Mit Friedrich Vollhardt ist zu betonen, dass es Lessing – gerade auch als Religionsphilosophen – um weit mehr als um „eine nur spielerische Infragestellung von Meinungen“ zu tun ist. Vielmehr geht es ihm „auch – ein gewisses Pathos lässt sich hier nicht vermeiden – um Wahrheit“: um Wahrheit, die nach Lessings ureigener Auffassung freilich „nicht leicht zu haben ist.“ Lessings jahrzehntelanges Ringen mit dem Christentum (wie auch dem Judentum und dem Islam) ist demnach als eine intellektuelle Auseinandersetzung zu begreifen, die – weit entfernt vom Wahrheitsrelativismus – „auf die Wahrheitsfrage“ zielt. Vollhardt meint sogar (gegen alle anderslautenden, bis heute weitverbreiteten Auffassungen7), darin einen ‚charakteristischeren‘ Zug für Lessings Werk sehen zu können als in dem so oft bemühten Lessingschen „Bekenntnis zum Streit“.8 Da Lessing als Religionsphilosoph nach der Wahrheit fragt, die Wahrheit aber, wie wir noch sehen werden, sich nicht im „Taumel unsrer Empfindungen“ erhaschen lässt9, ist mit Gideon Stiening folgerichtig festzuhalten, dass Lessing gerade als Wahrheitssucher „streng systematische Interessen verfolgt“.10 In diesem Sinne unternimmt die hier vorliegende Arbeit den Versuch, Lessings „Weg der Untersuchung“ als einen systematisch beschreibbaren Weg zu rekonstruieren. – Freilich ist Lessings Religionsphilosophie damit noch keineswegs als ein in sich geschlossenes System behauptet.11 Indes: Sie kulminiert in der Erziehung des Menschengeschlechts in einem „Fingerzeig“, der nach Lessings eigenen Worten „schon irgend einen Keim“ in sich trägt, „aus welchem sich die noch zurückgehaltne Wahrheit entwickeln läßt“.12

 6   Eine ausführliche Diskussion der Fachliteratur erfolgt am jeweiligen Ort in der direkten Auseinandersetzung mit dem Text.  7   Vgl. (unter vielen anderen z.B.) Moore 1993a; Beutel 2013 (v.a. 163f.).  8   Vollhardt 2018, 18; vgl. auch Fick 2016, XVIIf. (Einleitung zur 4. Aufl.).  9   Vgl. Lessings Auseinandersetzung mit dem gefühlstheologischen Ansatz Friedrich Gottlieb Klopstocks im 49. Literaturbrief (s.u. Kap. IV.). 10   Vgl. Stiening 2012, 221f. 11   Dies sei theologischerseits v.a. mit Schilson 1974 und v. Lüpke 1989 betont; anders hingegen Leisegang 1931. 12   So Lessings „Fingerzeig“-Definition in der Erziehung des Menschengeschlechts (s.u. Kap. VII. 5.).

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Bei Lessing haben wir es keineswegs mit einem (immer schon) vollendeten Denker zu tun. Als auf dem Weg befindliches ist sein Denken vielmehr in dynamischer Entwicklung begriffen. – Man beachte in diesem Kontext etwa Lessings Selbstcharakterisierung seiner Texte als „Gedanken“ und „Sudeleien“. – Dem tragen wir Rechnung, indem wir nicht nur den Wolfenbütteler Lessing, sondern auch den Lessing der Fünfziger- und Sechzigerjahre zu Wort kommen lassen und so „gerade die Spanne des sich entwickelnden Denkens in seinen […] Korrekturen und konsequenten Weiterführungen“ beachten13: Wir können nur dann Lessings Haltung im Fragmentenstreit begreifen und zu einem richtigen Verständnis des ‚Nathan‘ und der ‚Erziehung des Menschengeschlechts‘ gelangen, wenn wir genau prüfen, was Lessing schon vor der Herausgabe der Fragmente in der Auseinandersetzung mit der Theologie seiner Zeit auf theologischem und philosophischem Gebiet veröffentlicht und gedacht hat.14

Um die frühen Texte indes als eigenwertige Zeugnisse Lessingscher Denkentwicklung würdigen zu können und darüber hinaus Lessings Denken auf seinen verschiedenen Stufen nicht vorschnell zu harmonisieren, entschließen wir uns zu einem strikt chronologischen Vorgehen unter konsequenter Vermeidung argumentativer Vorgriffe auf spätere Schriften und Aussagen.15 Da die Problematik von esoterischer und exoterischer (bzw. von gymnastikôs und dogmatikôs getroffener) Aussage mit in diesen Kontext gehört und in der Geschichte der Lessing-Forschung, wenigstens wo sie zum hermeneutischen Prinzip erhoben wurde, zu manch kurioser interpretatorischer Vorentscheidung Anlass gegeben hat, sei an dieser Stelle – in aller Kürze – das Folgende angemerkt: Aufgrund der Aporie all jener Versuche, „unter den Schriften Lessings eine Gruppe [zu] finden, die bekenntnishaft-esoterisch ist und damit eine sichere Grundlage des Verstehens bietet“16 – als esoterisch wurden bei-

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  Schilson 1974, 39.   Schneider 1953, 15; ähnlich Schilson 1974, 39. 15  Die gewissermaßen entgegengesetzte Richtung wählt Hermann Timm mit seinem rezeptionsgeschichtlichen Ansatz: Als hermeneutischer Einstieg dient ihm das Spinoza-­ Gespräch zwischen Lessing und Jacobi, wobei sein Blick „von der Wirkungsgeschichte Lessings“ – „[W]as war dieser ‚Spinozismus‘, daß durch ihn Lessing posthum der zukunftsweisende religiöse Denker der nachfolgenden Jahrzehnte werden konnte?“ – „zurück auf ihn selbst und durch ihn hindurch zu Spinoza“ geht (Timm 1974, 19). 16   Schultze 1969, 34. – Schultze deckt die Zirkularität dieser Bewegung auf: „Alle diese Deutungsversuche unterliegen dem hermeneutischen Zirkel: Die Entscheidung darüber, welche Schrift bzw. welches Materialprinzip Ausgangspunkt der Interpretation sein könne, nimmt deren Ergebnis schon inhaltlich vorweg. Obwohl dieser Zirkel als schlechthin unvermeidlich gelten muß, können die vorliegenden Deutungen – gerade wegen ihrer Konzentration auf das ‚Esoterische‘ bei Lessing – doch nicht befriedigen. Sie müssen die exoterischen Aussagen in einem Maße abwerten, das mit Lessings eigener Forderung unbedingter Wahrhaftigkeit in einen unaufhebbaren Gegensatz gerät. Dieser Widerspruch ist denn auch oft genug als peinlich empfunden worden: Lessing habe von seinen Gegnern einen Grad von Wahrhaftigkeit gefordert, den er selbst nicht durchzuhalten vermochte, sondern vielmehr durch ein System von Winkelzügen, Täuschungen und Halbwahrheiten ersetzte“ (ebd.). 14

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spielsweise Nathan der Weise17, das Christentum der Vernunft 18 oder auch die Erziehungsschrift 19 behauptet –, empfiehlt es sich, mit Schultze nach einem hermeneutischen Ansatz zu suchen, „der Lessing in allen seinen Äußerungen die Wahrhaftigkeit zugesteht, die er selbst stets gefordert hat“.20 Schultze verweist hierbei auf die von Lessing in seinem Leibnitz von den ewigen Strafen (1772/73) aufgestellten Prinzipien für die Leibniz-Interpretation, die „auch zur Grundlage der Deutung seines eigenen Werkes gemacht werden“ müssten. Der entscheidende Lessingsche Passus aber lautet wie folgt: Ich gebe es zu, daß Leibnitz die Lehre von der ewigen Verdammung sehr exoterisch behandelt hat; und daß er sich esoterisch ganz anders darüber ausgedrückt haben würde. Allein ich wollte nur nicht, daß man dabei etwas mehr als Verschiedenheit der Lehrart zu sehen glaubte. Ich wollte nur nicht, daß man ihn geradezu beschuldigte, er sei in Ansehung der Lehre selbst mit sich nicht einig gewesen; indem er sie öffentlich mit den Worten bekannt, heimlich und im Grunde aber geleugnet habe. Denn das wäre ein wenig zu arg, und ließe sich schlechterdings mit keiner didaktischen Politik, mit keiner Begierde, allen alles zu werden, entschuldigen.21 Schultze nun unterstreicht die hier ausgedrückte Begrenzung der „Spannung zwischen exoterischen und esoterischen Aussagen […] durch die Forderung, daß sich das Exoterische wohl methodisch unterscheiden, nicht aber in einen sachlichen Gegensatz zum Esoterischen treten dürfe“.22 Kurzum: Wenn Lessing exoterisch redet, bedeutet dies mitnichten, er habe „etwas völlig Sinnloses behauptet“, etwas, „was er nicht als seine Überzeugung zu verteidigen fähig sei“. Als entscheidend für den interpretatorischen Umgang mit der exoterischen Aussage erweist es sich also, die Aussage lediglich „nicht aus dem Gesprächszusammenhang [zu] lösen“, sprich im Kontext, d.h. als dialogisch qualifiziert zu betrachten. 23 – Mit Blick auf die patristische (und Lessing damit wohl vertraute) Herkunft der beiden Begriffe gymnastikôs – dogmatikôs betont auch Schilson die Fragwürdigkeit jener „angebliche[n] sachliche[n] Entgegensetzung und Unvereinbarkeit von bloß ‚gymnastikôs‘ mit ‚dogmatikôs‘ Gesagtem“. Demgegenüber verstehe z.B. Origenes 17

  Fittbogen 1923, 147f.: „Der Lessing des theologischen Feldzuges wäre nicht zur Unsterblichkeit eingegangen, erst mit dem ‚Nathan‘ tritt der wesenhafte Lessing hervor. […] Hier haben wir wirklich, was wir in all seinen Plänkeleien und Kämpfen vergebens suchen – Lessings Religion, schlicht und einfach, ohne Pomp und Pathos, wie Lessing selbst, Religion im Alltagskleide.“ 18   Leisegang 1931, 56: „Es liegt also hier doch wohl etwas Besonderes vor, das nicht von der Oberfläche und aus dem Kampf des Tages, sondern aus der Tiefe stammt, aus einem Unterstrom in Lessings Wesen und Denken, der von Anfang an da ist und sich erhält, um hier und da hervorzubrechen zum Staunen seiner Freunde, die ihn nicht kennen.“ 19   Thielicke 1967, 57: „Eine in sich abgerundete Systematik des Lessingschen Gedankengutes liegt nun zweifellos vor in der ‚Erz. d. M.‘ Sie empfiehlt sich darum aus mehrfachen Gründen für eine Analyse von Lessings esoterischer Theologie, d.h. seiner normativen Haltung im Widerstreit zwischen Transzendenzgläubigkeit und Immanenzverhaftung.“ – Für Thielicke freilich rückt – eingedenk des Schwankens Lessings „zwischen exoterisch verhüllter und unmittelbarer Vernunfteinsicht“ – „das Exoterische in das ‚System‘, in die ruhende Substanz des Lessingschen Denkens selber ein“ (vgl. aaO., 44–47). 20   Schultze 1969, 35 (Hervorh. D.Z.). 21   B 7, 486,15–26 (Hervorh. i. O.). 22   Schultze 1969, 35. 23  AaO., 37.

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unter dem gymnastisch Gesagten solche Spekulationen und Lösungsansätze, die in einen vom kirchlichen Dogma nicht näher umschriebenen und festgelegten Raum vordringen; diese werden als eigene Denkversuche, nicht aber als dogmatisch-lehrhafte Aussagen gewissermaßen zur Diskussion gestellt. Damit trifft das genaue Gegenteil des angeblich bei Lessing Gemeinten zu; nicht um ein taktisches Anpassungsprinzip und Verstellung geht es im bloß ‚gymnastikôs‘ Gesagten, sondern um einen vorläufig zur Diskussion gestellten und durchaus ernstzunehmenden Denkansatz bzw. -versuch.24

Mit Schilson wollen wir ferner Lessing als einen ‚Denker im Dialog‘ akzen­ tuieren.25 D.h. seine Werke können „erst dann (und nur dann auch sachgemäß) gelesen und verstanden werden […], wenn der andere Partner, der Gegner oder Disputant und dessen Thesen und Aussagen, möglichst klar vor Augen stehen und bei Lessings Entgegnung – als die seine Werke zu begreifen sind – einbezogen werden“.26 Folglich sind Forschung und Interpretation bleibend dazu „herausgefordert, die Ursprungsorte und die grundlegende Situation der in diesen Schriften vollzogenen Kommunikation, also die hier zugrundeliegende Dialogsituation sowie die Gesprächspartner dieser […] Auseinandersetzung möglichst exakt auszumachen und zu bestimmen“.27 Für unser Vorhaben, die Genese Lessingscher Religionsphilosophie im Sinne einer systematisch beschreibbaren Entwicklung zu rekonstruieren, bedeutet dies, ungeachtet aller Notwendigkeit der Explikation gerade der immanenten Gründe für Lessings Denkentwicklung stets und vorrangig den Kontext als gleichsam äußeren Bedingungsrahmen für diese Entwicklung mit zu bedenken. Anders formuliert bilden die mannigfaltigen Diskurse, Debatten, Fehden und Auseinandersetzungen für Lessing jedes Mal den äußeren Anlass, auf seinem Denkweg weiter fortzuschreiten oder – gleichsam platonisch gewendet: den nötigen Anstoß, das in seinem Denken bereits Angelegte nun auch zu entwickeln. Freilich lässt sich der dialogische Charakter von Lessings Denken auch ­diachron beschreiben, wobei es stets zu vermeiden gilt, Lessing „ausschließlich von seinen möglichen oder tatsächlichen Quellen her“ zu verstehen.28 Zu bedenken ist hier sowohl Lessings grundlegender (philosophischer wie theologischer) Eklek-

24   Schilson 1974, 201. – Zur sachlichen Bestätigung der von Schilson vermuteten Anknüpfung Lessings an patristische Redeweise vgl. aaO., 201f. 25   Vgl. Schilson 1999. 26  AaO., 99. 27  AaO., 99f. – In vorbildlicher Weise (gerade im Blick auf eine exakte Darstellung der zugrundeliegenden Dialogsituation sowie insbesondere der Position des Gesprächspartners) leistet dies Gerhard Freund mit seiner „Hermeneutik des gewinnenden Gesprächs“ (vgl. Freund 1989). 28   Schilson 1974, 38 (i. O. kursiv). – In diesem Sinne scheint etwa die starke Abhängigkeit der Lessing-Deutung Henry E. Allisons von Leibniz’ Nouveaux Essais problematisch (vgl. Allison 2018).

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tizismus29 als auch seine unbestreitbare denkerische Eigenständigkeit und Originalität. In diesem Sinne weist Schilson auf „Lessings besondere Begabung zu einer ‚produktiven Rezeption‘“ hin, „die er nicht nur auf dem Felde der Philologie, sondern […] offenbar auch im Bereich seiner theologischen ‚Liebhaberei‘ unter Beweis gestellt hat“.30 – Wo im Vollzug unsrer eigenen Deutung Rückgriffe auf andere Denker oder Denkweisen (etwa die Leibnizsche Apologetik) für die Argumentation konstitutiv werden, handelt es sich durchwegs um solche Aspekte, die zuvor von Lessing selbst in seinen Schriften ausdrücklich verhandelt wurden. In allen anderen Fällen indes haben die ins Gespräch gebrachten Quellen bloß illustrative oder erläuternde Funktion. Gegenüber der ‚bevorzugt großlinigen Darstellungsweise‘ geistesgeschichtlicher Deutungsansätze31 folgen wir Ingrid Strohschneider-Kohrs auf ihrem „Weg einer textorientierten Darlegung und textnahen [historisch-philologischen] Auslegung“.32 Eingedenk solcher, mitunter ‚mikrologischer‘33 Tätigkeit nun gilt im Blick auf die Textauswahl die schlichte Devise: ‚Weniger ist mehr‘. Dabei erheben wir gleichwohl den Anspruch, die für die religionsphilosophische Entwicklung Lessings einschlägigen und repräsentativen Texte in unsere Deutung miteinzubeziehen.34 Dass dabei Lessings Nathan nicht eigens mit einer (ausführlicheren) Analyse bedacht wird, er im Verfolg unserer Darlegungen vielmehr nur am Rande und lediglich sporadisch Erwähnung findet, ist unserer (gattungsbezogenen) Beschränkung auf argumentierende Texte geschuldet.35 29

  Vgl. Sparn 2018, 67.   Schilson 1999, 100. 31   U.a. Lessing als Begründer des Neuprotestantismus (Fittbogen 1923) bzw. des Rationalismus (Aner 1929), als Vertreter des Irrationalismus (Leisegang 1931), als ‚wahrer‘ Leibnizianer (Allison 2018), als Symptom für die epistemologische Krise im Übergang vom Rationalismus zum Empirismus (Wessell 1977), als der zukunftsweisende religiöse Denker der nachfolgenden Jahrzehnte (Timm 1974). 32   Strohschneider-Kohrs 2009, 7f. 33   Vgl. Bollacher 1978, X. 34   Wenn dabei auch kurze Fragmente zu tragenden Säulen unserer Interpretation werden, so geschieht dies in der festen Überzeugung, auch hier noch genug Wahrheit finden zu können, ist doch „die Wahrheit, die man auf einem Bogen nicht sagen und erweisen kann, […] wohl nicht weit her; – oder ist vielmehr zu weit her“ (G. E. Lessing, ‚Paralipomenon‘. Über den Beweis des Geistes und der Kraft. Ein zweites Schreiben an den Herrn Direktor Schumann in Hannover. Braunschweig, 1778, in: B 8, 467–471. Hier: 468,8ff.). 35  Das Spinoza-Gespräch freilich bleibt aus anderen Gründen unberücksichtigt: Zuvorderst handelt es sich bei ihm nicht um einen Lessingschen Text im engeren Sinne. Sodann ist mit Nisbet (sollte sich auch die Authentizität des Gesprächs mit einigem Recht behaupten und begründen lassen) die „große Frage“, worin denn nun der nähere und eigentliche Anlass für Lessings ‚Bekenntnis‘ gegenüber Jacobi bestanden haben mochte, wohl wie folgt zu beantworten: „[S]obald Lessing aufging, daß Spinoza in Jacobis Augen für alles stand, was er für philosophisch und theologisch verwerflich hielt, spielte er die advocatus diaboli-Rolle, 30

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Und nun: Genug der Vorrede! Machen wir uns auf den Weg – mit Lessing und: von Anfang an!

die ihm auf den Leib geschrieben war, und bezeichnete sich als überzeugten Spinozisten.“ Demnach zeugten Lessings ‚wesentlich reaktiven‘ (und nicht dogmatischen) Behauptungen von der deutlichen Intention, seinen Gesprächspartner dazu zu veranlassen, die eigene fi­ deis­tische Meinung „entweder aufzugeben oder neue und bessere Argumente dafür zu suchen“. Dies würde durch die Form des Dialogs bestätigt, der in erster Linie aus Monologen Jacobis besteht, unterbrochen durch „Fragen, herausfordernde Behauptungen und ironische Einwürfe“ Lessings, „die samt und sonders darauf angelegt sind, Jacobi zur deutlicheren Bestimmung und überzeugenderen Begründung seiner Position zu veranlassen“ (Nisbet 2008, 823ff.). Auch nach Schultze gelingt es Lessing als dem überlegenen Gesprächspartner im Spinoza-­Gespräch, Jacobis Ausgangsfrage umzuwandeln „zu der Frage nach dessen eigener Philosophie […]. Diese formale Erkenntnis muß für die Interpretation grundlegend sein: es kann nicht ein philosophisches Bekenntnis Lessings erhoben werden, wo er selbst mit seinen Fragen nur ein Bekenntnis Jacobis provozieren wollte.“ Und er ergänzt in Klammern: „Dies ist von Moses Mendelssohn klar gesehen worden, indem er darauf hinwies, daß Lessings Äuße­r ungen hier nicht dogmatisch streng verstanden werden dürfen“ (Schultze 1969, 107f.).

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Erster Teil:

Wanderjahre

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Und dieser Untersuchung, sage ich zu mir selbst, unterziehe dich als ein ehr­ licher Mann. Sieh überall mit deinen eigenen Augen. Verunstalte nichts: beschönige nichts. Wie die Folgerungen fließen, so laß sie fließen. Hemme ihren Strom nicht; lenke ihn nicht. (G. E. Lessing, Von der Art und Weise der Fortpflanzung und Ausbreitung der christlichen Religion, Fragment 1763/1764)

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I. Geschichtslose Vernunft vs. vernunftlose Geschichte – Gedanken über die Herrnhuter (1751) 1. Text und Kontext 1.1 Zur Gattungsfrage oder Die Gedanken über die Herrnhuter als ‚Rettung‘ gelesen Wenn Lessing in der „Vorrede“ zu seinen Rettungen1 vorgibt, ebenda „[l]auter verstorbne Männer“ zu verteidigen – Männer also, „die mir es nicht danken können“2 –, so lässt sich daraus keineswegs schließen, dass der bereits eingetretene Tod des zu ‚Rettenden‘ die conditio sine qua non für die Möglichkeit seiner literarischen ‚Rettung‘ bildet.3 Und so hindert die Tatsache, dass Nikolaus Ludwig Graf von Zinzendorf (1700–1760) im Jahre 1751 noch für gut ein Jahrzehnt unter den Lebenden sollte weilen dürfen, nicht daran, Lessings Gedanken über die Herrnhuter 4 ebenfalls zu den ‚Rettungen‘ zu zählen.5 Dies gilt umso mehr, als man dieselben – ihrer engen Verwandtschaft mit der gerichtlichen Verteidigungsrede zum Trotz – nicht im Sinne einer literarischen Gattung behandeln sollte. Was vielmehr die einzelnen Texte, und zwar unabhängig von ihrer tat-

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  Lessing selbst fasst unter der Bezeichnung ‚Rettungen‘ eine ganze Reihe von Essays zusammen, die er im Jahre 1754 im 3. Band seiner Schrifften veröffentlichte (B 3, 149–258). Konkret handelt es sich dabei um die Rettung des Horaz, die Rettung des Hier. Cardanus, die Rettung des Inepti religiosi, und seines ungenannten Verfassers sowie um die Rettung des Cochläus aber nur in einer Kleinigkeit. Dass über die genannten, explizit als ‚Rettungen‘ bezeichneten Essays hinaus weitere Texte aufgrund ihres spezifischen Argumentationsmodus ebenfalls zu den ‚Rettungen‘ zu zählen sind, dafür gibt es in der Lessingforschung gute Argumente. Es sei an dieser Stelle lediglich auf das entsprechende Kapitel bei Fick 2016, 125–132, verwiesen. 2   G. E. Lessing, „Vorrede [zu den Rettungen]“ (1754), in: B 3, 153–157. Hier: 154,11f. 3   Zur (möglichen) Begründung dafür, warum die expliziten Rettungen von 1754 sich durchwegs solchen Personen widmen, die zum Zeitpunkt der Abfassung bereits tot sind und also der Geschichte angehören, s. Wiedemann 2003, 1005. 4   G. E. Lessing, Gedanken über die Herrnhuter, in: B 1, 935–945 (im Folgenden mit dem Kurztitel Gedanken wiedergegeben). 5   So verfahren beispielsweise Stenzel 1989, 1418; Fick 2016, 121; Nisbet 2008, 176. In neuester Zeit hat auch Michael Multhammer betont, dass die Gedanken „in das weitere Umfeld der Rettungen von 1754 eingeordnet werden“ müssen (Multhammer 2013, 218 Anm. 325).

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Erster Teil: Wanderjahre

sächlichen Gattungszugehörigkeit, zu ‚Rettungen‘ macht, ist ihr apologetischer Argumentationsmodus6: Sie dienen der Verteidigung zu Unrecht verleumdeter Menschen, wobei deren Rehabilitation zugleich auch die Widerlegung der Gegner und Ankläger erfordert. Bei Letzteren wiederum handelt es sich, so Lessing weiter in der bereits zitierten „Vorrede“, um „lauter Lebendige, die mir vielleicht ein sauer Gesichte dafür machen werden“.7 Wer nun die ‚Rettungen‘ liest, erhält schnell den Eindruck, dass es Lessing – vor allen anderen – um diese ‚Lebendigen‘ geht, und das heißt – bei allem Amüsement, welches die Lektüre seiner Texte auch für den Laien bereiten mag: um das gelehrte Publikum, und eben nicht so sehr um die bereits verstorbenen oder, wie im Falle Zinzendorfs, zwar lebenden, aber zur Selbstverteidigung unfähigen Verleumdeten. In diesem Sinne sind denn auch die ‚Rettungen‘ in ihrem Kern „exemplarische Abrechnungen mit der Unseriosität, Mißgunst und Lebensfeindschaft der gelehrten Kritik, also Kritik der Kritik, und damit primär an die Gelehrtenschaft selbst gerichtet“.8 Indem Lessing die Verschriftlichung seiner Gedanken in Form des kritischen Essays vollzieht, zeigt sich schon unter rein formalen Gesichtspunkten, dass ihm in seiner Herrnhuter-‚Rettung‘ noch mehr an der Widerlegung der Gegner als an der Verteidigung der zu Unrecht Verleumdeten gelegen ist: Denn wie der Essay in seiner unkonventionellen, starren formalen Anforderungen sich entziehenden Art so besitzt kaum ein zweiter die wesentliche Eigenschaft, „gedankliche[] Verkrustungen und Vorurteile“9 aufzubrechen. Während die Macht des Gelehrten in der Beherrschung der (wissenschaftlichen, systematischen) Methode besteht, verfährt der Essay – mit Adorno gesprochen – „metho 6

  Vgl. Wiedemann 2003, 1001. – Dieser „Argumentationsmodus des Verteidigens, Widerlegens, Rehabilitierens“ ist, aufgrund seiner freien Verfügbarkeit, „auf jede Gattung und jeden Konfliktbereich“ übertragbar (ebd.). – Nach eingehenden begriffsgeschichtlichen sowie geistesgeschichtlichen Darlegungen konstatiert auch Michael Multhammer in seiner akribisch gearbeiteten Untersuchung zu Lessings ‚Rettungen‘ das negative Ergebnis, dass mit der Rettung und der Apologie keine eigene Gattung vorliege (vgl. Multhammer 2013, 122–125). Gleichwohl verwahrt er sich gegen den Eindruck, dass die formale Rahmung im Falle der ‚Rettungen‘ beliebig sei: „Sie [sc. Apologie und Rettung] genügen in ihren unterschiedlichen Erscheinungsformen nicht dem strengen Begriff der Gattung, sind aber präziser zu fassen, als mit dem Begriff der Schreibweise, insofern diese jegliche Art der formalen Rahmung zulässt. Man muss also Form und Stil kurzschließen.“ Dies tut Multhammer, indem er, unter Rekurs auf Dirk Werle, den Begriff des Denkstils in die Diskussion einbringt: „Mit Denkstil wird eine Art und Weise beschrieben, Gedanken zu erzeugen und im Nachgang zu verschrift­ lichen. Die Form des Gedankenganges findet sich demnach in der Form des Textes wieder“ (aaO., 126f.).  7   B 3, 154,13f. („Vorrede [zu den Rettungen]“).  8   Wiedemann 2003, 1004. – Nicht zuletzt in dieser kritischen Intention scheint das Vorbild Pierre Bayles (1647–1706) und dessen Dictionnaire historique et critique (11697) auf (vgl. aaO., 1006f.; Fick 2016, 127f.).  9   Adam 1991, 94.

I. Geschichtslose Vernunft vs. vernunftlose Geschichte

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disch unmethodisch“10: „Er fängt nicht mit Adam und Eva an sondern mit dem, ­worüber er reden will; er sagt, was ihm daran aufgeht, bricht ab, wo er selber am Ende sich fühlt und nicht dort, wo kein Rest mehr bliebe“11. Dass eben dieser „antisystematische[] Impuls“12 gerade im Falle des Herrnhuter-Essays Teil der Kritik oder genauer: ihre bewusste Methode ist13, wird im Folgenden noch deutlich werden. In den Gedanken selbst lesen wir hierzu in Lessings unverwechselbarer Schreibart: Die Ordnung, der ich folgen werde, ist die liebe Ordnung der Faulen. Man schreibt wie man denkt[14]: was man an dem gehörigen Ort ausgelassen hat, holet man bei Gelegenheit nach: was man aus Versehen zweimal sagt, das bittet man den Leser das andremal zu übergehen.15

1.2 Die Herrnhuter im Sperrfeuer der Orthodoxie Wie im Falle der Herrnhuter-‚Rettung‘ die Fronten verlaufen, wer also die ‚Lebendigen‘ sind, gegen die sich Lessings Polemik vornehmlich richtet, erhellt aus seiner Tätigkeit als Rezensent. Als verantwortlicher Redakteur für die ‚Gelehrten Sachen‘ der Berlinischen Privilegierten Zeitung (BPZ) verteidigt Lessing im Jahre 1751 die Herrnhuter Pietisten gleich mehrmals gegen die Angriffe der theologischen Gelehrsamkeit. Im Hintergrund steht die stark polemisch geführte Auseinandersetzung von Vertretern der lutherischen Orthodoxie mit dem Herrnhuter Pietismus, die sich – dem zähen Bemühen Zinzendorfs, an der Verbindung mit der lutherischen Kirche festzuhalten16, zum Trotz – in unverhältnismäßiger Weise entzündet hat.17 In diesem Sinne dokumentieren die Zeit10

  Adorno 2015 (1958), 21.  AaO., 10. 12  AaO., 20. 13   Vgl. Johannes von Lüpke: „Der bewußte Verzicht auf die Konstruktion eines Systems signalisiert die primär kritische Absicht des Verfassers“ (v. Lüpke 1989, 43). 14   Schon der Titel „Gedanken über die Herrnhuter“ (Hervorh. D.Z.) verweist auf das lose, unsystematische, ja essayistische Moment. 15   B 1, 936,17–22. 16   Vgl. Meyer 1998, Sp. 1793. 17   Von Lessings Vater – in welchem Nisbet „ein gutes Beispiel für den pastor doctus“ zu erkennen meint, also ein Beispiel für „den Typus des gelehrten deutschen Pfarrers in der Tradition der lutherischen Hochachtung vor dem geschriebenen Wort“ (Nisbet 2008, 24) – sind Briefe an den weimarischen Hofprediger Bartholomäi erhalten, in denen die Unverhältnismäßigkeit der orthodoxen Angriffe gegen die Herrnhuter zum Ausdruck kommt. So heißt es z.B. in einem Brief vom 16. April 1741: „Der Tag wird vieles klar machen, was manche mit gantz partheiischen Augen ansehen. […] Der Herr Gr. v. Zinzendorf mag wohl seine Inter­ valla haben, allein eben deswegen kan ich ihn nicht beschuldigen, daß er weitaussehende Projecte hätte, das Lehr und Predigt Amt allgemein zu machen und darbey alle Gelehrsamkeit zu verbannen. Ein jeder verständiger mißbilligt seine überflüßige, unbedachtsame u. höchst anstösige Arbeit über das N. T.: allein wer wird deswegen alles gute auff einmahl verwerffen, was er sonst nach dem Urtheil der Unpartheiischen an sich hat. Er will dem einreisenden Unglauben unter den Hohen, u. der sündlichen Schamhafftigkeit Christum zu bekennen ent11

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schriften der 1740er-Jahre „ein wahres orthodoxes Sperrfeuer auf breiter Front gegen Zinzendorf und seine gottlose Brut von Seelenverführern“.18 Nach offizieller Anerkennung der Herrnhuter im Jahre 174819 mag sich die Situation zwar etwas entspannt haben; doch kann und will offenbar nicht jeder Repräsentant des Luthertums die amtliche Einschätzung seiner Kirche stillschweigend hinnehmen. Es kommt zu Nachgefechten, in die sich nun, im Jahre 1751, auch der erst 22-jährige Lessing mischen sollte. In seiner Besprechung der 1751 in Wittenberg erschienenen Dritten und letzten gegründeten Anzeige derer Herrenhutischen Grund-Irrthümer in der Lehre von der H. Schrift, Rechtfertigung, Sacramenten und letzten Dingen; denen evangelischen Kirchen zur nöthigen Warnung ans Licht gestellet von D. Carl Gottlob Hofmann, Generalsuperintendend kritisiert Lessing die „Spötterei“ des Gelehrten, „die oft die feinste nicht ist“20: Anstatt in konstruktiver Weise Kritik zu üben, verliere sich der Generalsuperintendent in „unbarmherzigen Beschuldigungen“, mit denen er übrigens „vor Gerichte nicht fortkommen“ könnte.21 In ähnlicher Weise beklagt Lessing in einer Rezension vom 30. März seine Zeit als eine solche, „da sich die allermeisten in unfruchtbaren Streitigkeiten verlieren; bald einen einfältigen Herrnhuter verdammen“ usf.22 Und noch im August desselben Jahres lobt er gegenüber der weit verbreiteten „prahlende[n] Gelehrsamkeit“ einer als „Sophisterei“ getriebenen Theologie die Herrnhuter als Zeitgenossen, deren Leben „vom Geist der Religion beherrscht“ sei und die sich an Lehrsätze hielten, „die durch eine erhabne Einfalt von ihrem göttlichen Ursprunge zeigen [sic!]“.23 Mit Verweis auf die angeführten Rezensionen, die sowohl thematisch als auch in ihrem Ton eine enge Verwandtschaft zu den Gedanken aufweisen, erscheint – entgegen der weitverbreiteten Annahme innerhalb der Lessingforschung24 – gegen gehen, dargegen aber was thätiges hertzliches u. beständiges in der Religion einführen. Diese Absicht ist rühmlich, gesetzt [auch] daß die Mittel, die er hierzu gebrauchet hat, nicht von einerley Schlag u. Gütte seyn.“ Vor dem Hintergrund eines derart differenzierten Urteils beklagt er in einem anderen Brief vom 24. September 1741 den Eifer seines jüngsten Kamenzer Kollegen: Der „hält ganze Predigten wider die vermeynten Irrthümer der Herrenhuther und güßet das Kind mit dem Bade völlig aus. Neulichst predigte er von Tolerirung dieser Leute und sagte ausdrücklich: Nicht Gott, sondern die Obrigkeit u. der Teuffel wären schuld, daß man diese Menschen im Lande duldete. Da mein Zureden, so auff Mäßigung dieses Eiffers gehet, gar nichts verfänget, so muß geschehen lassen, was nicht zu ändern stehet“ (zit. n. Schmidt 1909 [Bd. 1], 714f.). 18   Stenzel 1989, 1417. 19   Vgl. Fick 2016, 122. 20   G. E. Lessing, BPZ. 35. Stück. 23. 3. [1751], in: B 2, 38ff. Hier: 39,12f. 21  AaO., 39,28f. 22   G. E. Lessing, BPZ. 38. Stück. 30. 3. [1751], in: B 2, 44f. Hier: 44,35ff. 23   G. E. Lessing, BPZ. 103. Stück. 28. 8. [1751], in: B 2, 180f. Hier: 180,14.32; 181,2–5. 24   In diesem Sinne schließen sich Lessing-Herausgeber (so auch in der hier verwendeten Frankfurter Ausgabe) immer noch der von Karl Lessing vorgegebenen Datierung der Gedanken in das Jahr 1750 an (vgl. Nisbet 2008, 176).

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deren Datierung in das Jahr 1751 als naheliegend.25 Neben solchen aus dem historischen Kontext sich ergebenden Indizien sprechen außerdem noch gewichtigere, inhaltliche Gründe für eine spätere Datierung. Lessing – das zeigt nicht zuletzt die ungeheure Vielfalt an Diskursen, die er als Kritiker, Schriftsteller und Denker maßgeblich mitbestimmte – ist wohl am zutreffendsten als ein ‚Denker im Dialog‘26 zu begreifen. Er agiert und reagiert in den unterschiedlichsten Debatten, beobachtet hellsichtig, stellt Fragen mit ungeheurem Scharfsinn, geht in die Offensive, wenn er auf Starrsinn oder Bösartigkeit trifft, und verteidigt, wo er vorschneller und ungegründeter oder doch unverhältnismäßiger Attacken gewahr wird. Ein zweites, was Lessing als geistesgeschichtliche Größe ganz generell auszeichnet, ist seine Gabe der „produktive[n] Rezeption“27: Was er in seiner unstillbaren Wissbegierde lesend oder hörend (im Gespräch) an Ideen und Gedanken empfängt, fällt in ihm auf fruchtbaren Boden und gedeiht schließlich zur schönsten Ernte. In diesem Sinne gilt es im Rahmen der Interpretation der Gedanken nicht allein, den historischen Kontext und also die Dialogsituation zu rekonstruieren und mit zu bedenken, sondern darüber hinaus auch intertextuelle Bezüge zu den gedanklichen Quellen herzustellen, aus denen Lessing – wenngleich nicht unmittelbar, sondern stets vermittelt, nämlich produktiv – schöpft. Neben Albrecht von Hallers Lehrgedicht „Gedanken über Vernunft, Aberglauben und Unglauben“ aus dem Jahre 172928, das in den Gedanken an einer Stelle sogar direkt zitiert wird 29, ist hier vor allem Jean-Jacques Rousseaus Discours sur les sciences et les arts von 1750 (erschienen 1751)30 in Betracht zu ziehen. Die klar feststellbaren formalen wie inhaltlichen Parallelen von Lessings Gedanken zu Rousseaus erstem Discours sind also das inhaltliche Argument, welches die Hypothese einer späteren Datierung untermauern soll31, zumal Lessing im ­April 25

  So verfährt als Erster Johannes von Lüpke (vgl. v. Lüpke 1989, 41f.); in neuester Zeit hat sich z.B. Multhammer explizit dieser Auffassung angeschlossen (vgl. Multhammer 2013, 207ff.). 26   Vgl. hierzu den Aufsatz-Titel Arno Schilsons: „Denken als Dialog und ‚produktive Rezeption‘ […]“ (= Schilson 1999). 27  S. noch einmal besagten Aufsatz-Titel Schilsons. 28   Albrecht von Haller, „Gedanken über Vernunft, Aberglauben und Unglauben (1729)“, in: ders., Versuch Schweizerischer Gedichte (1. Aufl. 1732). – Auf diesen intertextuellen Bezug wird besonders bei Fick verwiesen (vgl. Fick 2016, 123f.). 29   Die beiden von Lessing bei Haller zitierten Verse finden sich in B 1, 942,21f. 30   Jean-Jacques Rousseau, Discours sur les sciences et les arts/Abhandlung über die Wissenschaften und Künste (1751). – Das Erscheinungsjahr 1751 gibt für den Discours u.a. Ulrich Kronauer an (vgl. Kronauer 1995, 26). 31   Zu den Argumenten im Einzelnen s. v. Lüpke 1989, 41ff.; Nisbet 2008, 176–179. Auch Multhammer hält den „Einfluss Rousseaus“ für „unverkennbar“ (Multhammer 2013, 211 Anm. 300). – Dagegen erscheint mir der Einwand Ulrich Kronauers gegen diese spätere Datierung – eine Pointe der Gedanken bestehe darin, „daß der Auftritt eines neuen Sokrates […] in der eigenen Zeit ausgeschlossen wird“, und folglich hätte Lessing zum Zeitpunkt der Abfassung noch nicht Rousseaus Discours gekannt haben können, in welchem ihm ja bereits in den ersten Sätzen der neue Sokrates entgegengetreten wäre –, ein Einwand, den er als deut-

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1751 die Preisschrift des Genfer Philosophen im Neuesten aus dem Reich des Witzes, der von ihm verantworteten Monatsbeilage der BPZ, mit einem ausführlichen Referat und einer differenzierten Kritik gewürdigt hat32 – eine Kritik, die er in den Gedanken sogleich produktiv fruchtbar zu machen vermag.

2. Analyse und Interpretation Es folgen an dieser Stelle Analyse und Interpretation von Lessings Gedanken über die Herrnhuter im Horizont der Problemstellung von Vernunft und Offenbarung. So spielerisch in ihrer Ironie und satirischen Schärfe die Gedanken sich auch präsentieren mögen – wobei das Spielerische auch in der Gattungsspezifik des Essays und also in der Natur der Sache selbst gründet33 –, es müssen doch die Ergebnisse, wie sie im Folgenden zu gewärtigen sind, in ihrer Bedeutung für den weiteren Gang der Untersuchung ernstgenommen werden. Erinnern wir uns an den Weg, den Lessing im Brief an seinen Vater zu begehen angekündigt hat und dessen Rekonstruktion gewissermaßen das Hauptanliegen vorliegender Arbeit darstellt34, so liefert uns der Herrnhuter-Essay als Lessings religionsphilosophisches bzw. theologiekritisches Erstlingswerk gewissermaßen die Koordinaten für den Ausgangspunkt des nachzuzeichnenden Denkweges.35 Indem Lessing hier, seiner ‚Rettungs‘-Absicht gemäß, Partei ergreift gegen das orthodoxe Luthertum, hat er sich bereits im Jahre 1751 mit liches inhaltliches Argument gegen eine Beeinflussung Lessings durch Rousseau bewertet, nicht zwingend (vgl. Kronauer 1995, 26f.). So lassen sich dafür, dass Lessing Rousseau nicht erwähnt, m.E. auch literarische Gründe denken: Indem er den Auftritt seines zeitgenössischen Sokrates als ein Gedankenexperiment inszeniert und ihn so in das Reich der Fiktion verlegt („Man stelle sich vor…“; B 1, 942,14ff.), schafft er einen gleichsam szenischen Rahmen, innerhalb dessen er die streitsüchtige und selbstherrliche, dabei aber ganz und gar unfruchtbare Gelehrsamkeit seiner orthodoxen Gegner als Gelehrtensatire auf die Bühne der Imagination zu bringen vermag. 32   G. E. Lessing, Das Neueste aus dem Reiche des Witzes. Monat April 1751, in: B 2, 64–79. Hier: 65–73. 33   In diesem Sinne Adorno: „Glück und Spiel sind ihm [sc. dem Essay] wesentlich. Er fängt nicht mit Adam und Eva an sondern mit dem, worüber er reden will; er sagt, was ihm daran aufgeht, bricht ab, wo er selber am Ende sich fühlt und nicht dort, wo kein Rest mehr bliebe: so rangiert er unter den Allotria“ (Adorno 2015 [1958], 10). 34  S. „Einleitung“. 35   Auch Stenzel erkennt in den Gedanken – neben „polemischen Impulsen“ – durchaus den Wunsch des noch jungen, um Orientierung ringenden Lessing „nach eigener religiöser Positionsbestimmung“ (Stenzel 1989, 1418); und schon im 19. Jahrhundert fühlt man sich zum Hinweis auf ihre Bedeutung für die religionsphilosophische und theologische Betrachtung des Lessingschen Werkes verpflichtet (vgl. Danzel/Guhrauer 1880 [Bd. 1], 231). – Zur Frage, warum der Text erst 1784 im posthum von Lessings Bruder Karl Gotthelf besorgten Theologischen Nachlaß erschienen ist, sollen an diesem Ort keine spekulativen Antwortversuche unternommen werden.

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seinem ungebundenen Berliner Dasein nicht nur lebensweltlich, sondern auch theologisch von seiner elterlichen Herkunft distanziert. – Jetzt aber gilt es, sich über den Text selbst zu orientieren. Als Grundgerüst soll dabei die folgende Gliederung dienen: Überschrift und Motto (935,1 – 935,5) Einleitung (935,7 – 936,11) (Überleitung 1 [936,12 – 936,24]) These (936,25 – 936,30) Teil I (936,31 – 942,4)     A. Philosophiegeschichtlicher Abriss (936,31 – 938,25)    (Überleitung 2 [938,26 – 938,32])     B. Religions- bzw. theologiegeschichtlicher Abriss (938,33 – 942,4) (Überleitung 3: Wiederholung der These [942,5 – 942,9]) Teil II (942,10 – 945,19)    A. Philosophie (942,14 – 944,28)    B. Theologie (944,29 – 945,19)

Die Gliederung des Textes in die wesentlichen Abschnitte Einleitung, Teil I und Teil II entspricht, zumindest auf den ersten Blick, früheren Gliederungsversuchen.36 Bei genauerem Hinsehen zeigt sich jedoch, dass nach obigem Vorschlag beide, nämlich sowohl der philosophiegeschichtliche (Teil I A) als auch der religions- bzw. theologiegeschichtliche Abriss (Teil I B), unter Teil I gefasst werden.37 Neben inhaltlichen, im Einzelnen noch zu explizierenden Gründen für eine solche Einteilung finden sich auch in der Komposition des Textes Anhaltspunkte dafür. In diesem Sinne bilden These und Wiederholung der These gewissermaßen eine Klammer um Teil I.38 Zudem weisen beide Teile eine parallele Struktur auf (Teil I: A|B; Teil II: A|B), indem jeweils der erste Abschnitt der Philosophie(geschichte) und der zweite der Religion (bzw. Theologie) und ihrer Geschichte gewidmet ist. Mit der Zweiteilung des Textes ist, jedenfalls unter formalen Gesichtspunkten, bereits ein erster intertextueller Bezug zu Rousseaus Discours aufgewiesen.39 Um darüber hinaus zeigen zu können, wie Lessings Rousseau-Rezeption 36

  Vgl. Nisbet 2008, 177; Fick 2016, 123.   Anders Nisbet 2008, 177; Fick 2016, 123. Dort heißt es, dass „dem Lessingschen Fragment ein zweiteiliges Schema zugrunde[liege] (der ‚Geschichte der Weltweisheit in einer Nuß‘ […] folgt eine ebenso komprimierte Geschichte der Religion bzw. Theologie)“. 38   Es sei außerdem darauf hingewiesen, dass die Worte zu Beginn von Teil II (942,10f.) einen Neueinsatz markieren („Nun kömmt es darauf an […]“); zugleich wird das Vorausgehende als Einheit begriffen („diese Betrachtung“, Hervorhebung D.Z.). 39   Vgl. Nisbet 2008, 176f. – Auch Rousseau gliedert seinen Discours in eine kurze Einleitung und zwei Hauptteile. In deren erstem finden sich Beispiele aus der Historie, welche die These von der zivilisatorischen Dekadenz empirisch untermauern sollen. Daran schließt sich dann, im zweiten Hauptteil, die systematische Erklärung der historiographisch festgestellten Phänomene an (vgl. Durand 2015, 27). 37

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ihrerseits sogleich produktiv wird, sollen in einem ersten Schritt Einleitung und These der Gedanken in ihrer Intertextualität beleuchtet werden.

2.1 Von gelehrten Streitigkeiten als Kriegen und von menschlicher Bosheit Dass Lessing in der Einleitung seines Essays zur Kriegsmetapher greift, dürfte wohl in erster Linie40 als (ironischer) Seitenhieb auf Rousseaus Engführung des Tugendbegriffs im Sinne militärischer bzw. kriegerischer Tugenden zu verstehen sein.41 Dabei gibt Lessing, zur Entkräftung der Rousseauschen Argumentation, im Wesentlichen zweierlei zu bedenken: Erstens betont er, dass Kriege zwar durchaus durch Siege entschieden werden, die Siege für sich genommen „aber sehr zweideutige Beweise der gerechten Sache [sind]: oder vielmehr sie sind gar keine“.42 Während also Rousseau meint, die Tugendhaftigkeit einer bestimmten (historischen) Bevölkerung mithilfe des Kriteriums kriegerischen Erfolgs messen und erweisen zu können, wendet Lessing dagegen ein, dass „[t]ausend kleine Umstände“ – und nicht zuletzt das Glück!43 – „den Sieg bald auf diese, bald auf jene Seite lenken“44 können. – Die zweite ironische Spitze gegen Rousseau besteht in der Behauptung, dass auch „[d]ie gelehrten Streitigkeiten […] eine Art von Kriegen“ sind, denn: „Was liegt daran, ob man über ein Reich oder über eine Meinung streitet; ob der Streit Blut oder Dinte kostet? Genug man streitet“.45 Anders als für Rousseau, der die Möglichkeit wahren Mutes, ja

40   Natürlich vermag er mithilfe dieser Metapher auch die Heftigkeit und Unverhältnis­ mäßigkeit der orthodoxen Angriffe gegen die Herrnhuter zum Ausdruck zu bringen. 41   Mit „Tugend“ sind im Discours v.a. die männlichen, „militärischen“ Tugenden (les vertus militaires) bezeichnet. In diesem Sinne speist sich Rousseaus Wissenschaftskritik nicht zuletzt auch aus der Meinung, aufzeigen zu können, dass „das Studium der Wissenschaften eher dazu angetan ist, den Mut zu verweichlichen [amollir] und zu verweibischen [efféminer], als ihn zu festigen und zu stärken“ (Rousseau, Discours, 59). Darüber hinaus wird Rousseaus Hochschätzung des Militärisch-Kriegerischen in seiner Verherrlichung antiker Stadtstaaten und besonders Spartas als einer „kriegerischen Polis“ deutlich (ebd.; vgl. hierzu Rohbeck/Steinbrügge 2015, 14f.). Lessing hat bereits in seinem oben erwähnten Rousseau-Referat gegen die im Discours geäußerte Klage, die Demokratisierung der Wissenschaften bewirke im Menschen eine Verkümmerung seines kriegerischen Naturells, die drastische Frage gerichtet: „Sind wir deswegen auf der Welt, daß wir uns unter einander umbringen sollen?“ (B 2, 73,9f.) – Dass Lessing durch die Verwendung der Kriegsmetaphorik Kritik an Rousseaus Verherrlichung der kriegerischen Tugenden übt, dieser Gedanke findet sich, wenngleich anhand einer anderen Textstelle der Gedanken entwickelt, auch bei Fick 2016, 124. 42   B 1, 935,7–9. 43   B 1, 935,21. 44   B 1, 935,18f. 45   B 1, 935,10–14. – Die Ironie liegt dabei offen zutage, so etwa in dem Vergleich: „Die gelehrten Streitigkeiten sind eben sowohl eine Art von Kriegen, als die kleinen Zuzus eine Art von Hunden sind“ (B1, 935,10–12).

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kriegerischer Tugenden überhaupt allein außerhalb der „Studierstube“ gegeben sieht46, werden für Lessing die Kriege seiner Zeit gerade an Schreibtischen, mit Tinte und Feder, ausgefochten. Freilich gilt auch hier, dass etwaige Siege – z.B. der orthodoxen lutherischen Theologen über die Herrnhuter Pietisten47 – zu Beweisen der gerechten Sache nicht taugen, dass also „der, welcher Recht behält, und der, welcher Recht behalten sollte, nur selten einerlei Person“ sind48 – ein Unzustand, den Lessing als ‚Retter‘ zu korrigieren versucht. Lessings im Neuesten geäußerte grundlegende Kritik der Rousseauschen These49 findet ihren Widerhall dann in der (Haupt-) These der Gedanken. Während nach Aussage des Discours die Progression des sittlich-sozialen Niedergangs mit gleichsam naturgesetzlicher Notwendigkeit vom wissenschaftlichen bzw. künstlerischen Fortschritt abhängt50 , widerspricht Lessing dieser prinzipiellen Wissenschaftskritik, indem er den Blick ganz auf den Menschen und seine Bosheit lenkt:

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  Vgl. Rousseau, Discours, 59.   In diesem Sinne B 1, 936,9ff. 48   B 1, 935,15–17. – Es wird sich noch zeigen, dass für Lessing gerade in Religionsangelegenheiten das dogmatische Rechthaben kein Beweis „der gerechten Sache ist“, sondern einzig und allein der tugendhafte Lebenswandel. In diesem Sinne steht für ihn fest, wer die „Schlacht“ zwischen Orthodoxen und Herrnhutern gerechterweise gewinnen müsste. 49   Im Rahmen seines Rousseau-Referats erhebt Lessing im wesentlichen drei Einwände gegen das Rousseausche „Meisterstück“ (B 2, 66,8). Erstens bestreitet er die Annahme, das Erblühen der Wissenschaften und Künste einerseits und der sittliche sowie gesellschaftliche Niedergang andererseits stünden in unmittelbarer, nämlich kausaler Beziehung zueinander (vgl. B 2, 72,27–73,5). Zweitens führt er die bereits thematisierte Engführung des Tugend­begriffs bei Rousseau mit der erwähnten, drastischen Frage (s.o., in Anm. 41) gewissermaßen ad absurdum (vgl. B 2, 73,5–10). Drittens wendet er sich gegen das im Discours wahrnehmbare prinzipielle Misstrauen gegenüber den Wissenschaften und Künsten – diese werden von Rousseau sowohl in ihrem Ursprung als auch in ihren Gegenständen und Auswirkungen als makelhaft und gefährlich charakterisiert (Rousseau, Discours, 45–53). Damit knüpft Lessing in seinem dritten Einwand an seinen ersten an: Sollte man die Wissenschaften und Künste in einem bestimmten Falle tatsächlich als „den strengen Sitten […] nachteilig“ befinden müssen, „so sind sie es nicht durch sich selbst, sondern durch diejenigen, welche sie mißbrauchen“ (B 2, 73,10–13). Es ist also der Mensch und nur der Mensch, der, seinen jeweiligen Absichten gemäß, selbst das, was „der Tugend dienen“ kann, zum Schaden gebraucht: „Die Künste sind das, zu was wir sie machen wollen. Es liegt nur an uns, wenn sie uns schädlich sind“ (B 2, 73,17ff.). Damit aber hat Lessing den Blick ganz und ausschließlich auf den Menschen und seine (nur unzulänglich wahrgenommene) Verantwortlichkeit gelenkt. 50   Vgl. die zentrale These des Discours: „Das tägliche Steigen und Fallen des Meeresspiegels ist vom Lauf des Gestirns, das uns die Nacht erhellt, nicht weniger abhängig als die Geschicke der Sitten und der Redlichkeit [le sort des mœurs et de la probité] vom Fortschritt der Wissenschaften und Künste. Je höher deren aufklärendes Licht an unserem Horizont aufgestiegen ist, umso mehr ist die Tugend dahingeschwunden, und diese Erscheinung war zu allen Zeiten und allerorten zu beobachten“ (Rousseau, Discours, 27). 47

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Der Mensch ward zum Tun und nicht zum Vernünfteln erschaffen. Aber eben deswegen, weil er nicht dazu erschaffen ward, hängt er diesem mehr als jenem nach. Seine Bosheit unternimmt allezeit das, was er nicht soll, und seine Verwegenheit allezeit das, was er nicht kann. Er, der Mensch, sollte sich Schranken setzen lassen?51

Im Unterschied zu Rousseau sieht Lessing das prinzipielle Übel also nicht auch noch mit der wissenschaftlichen Beschäftigung des Menschen als solcher verknüpft, sondern er verortet es ganz und ausschließlich in einem bestimmten Grundzug menschlichen Seins.52 Isoliert man die These, wie wir sie eben zitiert haben, aus dem Gesamtzusammenhang der Gedanken, so scheint sie streng hamartiologisch begründet zu sein. In diesem Sinne überraschen sowohl die Universalität der Aussage53 als auch die traditionell-theologische Sicht auf den Menschen als ein Wesen, das seine Existenz im Gegensatz und bewussten Widerspruch zu seiner schöpfungsmäßigen Bestimmung vollzieht54: nämlich in der ‚boshaften‘ und ‚verwegenen‘ Missachtung der ihm mit seiner Geschöpflichkeit gesetzten Schranken. Dass hier mit Hallers Gedicht der zweite intertextuelle Bezug aufscheint bzw. – bis in verbale Echos hinein55 – anklingt, liegt auf der Hand.56 Dass Lessing das bei Haller Vorgefundene indes nicht einfach wieder51

  B 1, 936,25–30.   Vgl. Fick 2016, 123. 53   Die These spricht allgemein von dem Menschen, das universalierende Wörtchen allezeit wird gar wiederholt. 54   „Aber eben deswegen, weil er nicht dazu erschaffen ward…“ 55   Solche verbalen Echos vernimmt der aufmerksame Leser noch an vielen weiteren Stellen. Es wird im Folgenden allerdings nicht immer eigens darauf hingewiesen. – Vgl. hierzu auch Fick 2016, 123. 56   In Albrecht von Hallers Gedicht „Gedanken über Vernunft, Aberglauben und Unglauben“ wird die menschliche Misere von Aberglauben und Unglauben in der anthropologischen Grundbestimmung des Menschen als eines „Unselig[en] Mittel-Ding[es] von Engeln und von Vieh“ begründet (Haller, „Gedanken“, 59). Dergestalt als Zwitterwesen zwischen Moralität und Amoralität qualifiziert, scheint es dem Menschen mit Blick auf die ihm anhaftende Animalität in ganz grundsätzlicher Weise verweigert, das Ideal eines wahrhaft vernunftgemäßen Lebens realisieren zu können. So ist der Mensch qua Menschsein „Eigenthum“ des Irrtums (ebd.) und all seine Erkenntnis – selbst wenn sie, wie die durch Newton geschenkte, Einsicht in „die Tafeln […] der ewigen Gesätze, / Die GOtt einmahl gemacht“, gewähren sollte (aaO., 61) – in der Folge hohle Gelehrsamkeit: „Wohl-angebrachte Müh! gelehrte Sterbliche! / Euch selbst mißkennet ihr, sonst alles wißt ihr eh. / Ach! eure Wissenschaft ist noch der Weißheit Kindheit, / Der Klugen Zeitvertreib, ein Trost der stolzen Blindheit“ (ebd.). Von Stolz geblendet und getrieben von Geiz, Ehrsucht und Eitelkeit (vgl. aaO., 62), eilt der Mensch sicheren Schrittes auf verkehrten Wegen und treibt Missbrauch mit seinen Gaben (vgl. aaO., 63). Die Universalität des Problems findet in Spitzenaussagen wie etwa der folgenden Ausdruck: „Wir irren allesamt, nur jeder irret anderst“ (aaO., 75). Dabei ist es auch hier wieder der Mensch, der sich in den Herrschaftsbereich des Irrtums gleichsam ausgeliefert hat, indem er die Grenzen seiner Geschöpflichkeit nicht anerkennen wollte: „Viel Irrthum hat der Mensch sich selber zugezogen: / Er ist, der Erde war, dem Himmel zugeflogen, / Wohin Vernunft nicht reicht, hat Stolz sich hingetraut, / Was an der Welt ihm fehlt, aus eignem Witz erbaut, / Die Schranken eng geschätzt, worinn er denken sollen, / Und draussen fallen eh, als drinnen stehen, wollen“ (aaO., 75f.). – Vgl. zu diesen Ausführungen auch Menhennet 1972, 101. 52

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holt, ja dass seine These im Kontext der Gedanken gerade nicht als in der traditionellen Hamartiologie stehend betrachtet werden kann, erhellt bereits aus dem ersten Teil des Textes, welcher die These gewissermaßen historiographisch zu explizieren sucht.

2.2 Die historiographische Explikation der These Der erste Teil der Gedanken dient dazu, unter Verweis auf historiographische Phänomene die These empirisch zu untermauern. Während Rousseau in seinem Discours die Wissenschaften und Künste prinzipiell infrage stellt, nimmt Lessing lediglich die je realisierte Philosophie und Religion(sausübung) in den Fokus seiner Betrachtungen, ohne jedoch Philosophie und Religion (bzw. Theologie) einer grundsätzlichen Kritik zu unterziehen.57 Das eigentliche Problem, welches in den einzelnen beschreibbaren Etappen der Philosophie- und Religionsgeschichte symptomatisch zum Ausdruck kommt, ist ihr missbräuch­ licher, nämlich schöpfungswidriger und damit widernatürlicher Vollzug durch den Menschen. 2.2.1 „Die Geschichte der Weltweisheit in einer Nuß“ Die Deutung des geschichtlichen Verlaufs als eines Verfallsprozesses übernimmt Lessing sowohl von Rousseau als auch von Haller.58 Gemäß der Grund­ these der Gedanken besteht die Dekadenz der Philosophiegeschichte nun genauer darin, dass der Mensch, eigentlich zum Tun erschaffen, im Ungehorsam gegen diese seine schöpfungsmäßige und also natürliche Bestimmung mehr dem Vernünfteln nachhängt, die Philosophie im Laufe ihrer Entwicklung also immer abstrakter wird und so den Bezug zum Leben, die Moralität als ihre Kernaufgabe mehr und mehr aus dem Blick verliert. Das allerdings war – und gerade darauf scheint es Lessing anzukommen – nicht schon immer so, wie etwa der 57   Die von Rousseau neben den Wissenschaften kritisierten Künste lässt Lessing in seiner Untersuchung gänzlich außer Acht (vgl. Nisbet 2008, 177). 58   Vgl. Fick 2016, 123; Nisbet 2008, 177. – Mit Blick auf die Preisfrage der Akademie zu Dijon, „ob die Wiederherstellung der Wissenschaften und Künste dazu beigetragen habe, die Sitten zu läutern“ (Rousseau, Discours, 9) – eine Frage, die, dem optimistischen Selbstverständnis des Jahrhunderts entsprechend, eher im Sinne einer rhetorischen denn einer offenen Frage gedeutet wurde –, mit Blick auf diese Frage also wird die Provokation von Rousseaus Beantwortung noch deutlicher, macht er doch mit seiner Umdeutung des Fortschritts in einen Verfallsprozess „auch vor dem Allerheiligsten seiner Zeit, dem Fortschritt, nicht Halt“ (Rehm 2015, 59; vgl. außerdem Rohbeck/Steinbrügge 2015, 1). – Im Falle Hallers sei besonders auf dessen Ausführungen zum „Aberglauben“ verwiesen (vgl. Haller, „Gedanken“, 65– 71): Dort wird die Religionsgeschichte als Depravationsgeschichte entfaltet (vgl. aaO., 66–68), innerhalb derer sowohl der Vernunft abgeschworen als auch dem Denken eine Absage erteilt wird (vgl. aaO., 65); wieder fungiert des Menschen ‚eitler Stolz‘ (aaO., 66) als Motor. Betrug und Einfalt (aaO., 65), Lügen, „schlaue Heucheley“, „Mord, Bosheit und Verrath“ (aaO., 68), Meineid und Zerstörungswut (aaO., 70f.) bestimmen die Lebenswirklichkeit.

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‚glückselige‘ Ursprung, der Beginn dieser Geschichte zeigt: „Glückselige Zeiten, als der Tugendhafteste der Gelehrteste war! als alle Weisheit in kurzen Lebensregeln bestand!“59 Im Ursprung der Philosophiegeschichte erkennen wir, dass der Hang des Menschen zum Vernünfteln kein Schicksal im Sinne eines ihn zwingenden Loses bedeutet.60 Denn aller Stärke dieser allgemeinmenschlichen Tendenz zum Trotz – und dass diese ein ernsthaftes Problem darstellt, versichert uns die These – gelang es noch den Sieben Weisen61 als Urvätern der Weltweisheit, ihre Philosophie62 in einer leicht fasslichen, handlungsorientierten Lebensweisheit zu artikulieren und also im Wesentlichen als praktische Philosophie, als Tugendlehre zu realisieren. Doch waren, so die lapidaren Worte der Gedanken, diese Zeiten des reinen Ursprungs „zu glückselig, als daß sie lange hätten dauern können“.63 Der weitere Verlauf der Geschichte vom Ursprung weg erweist sich, in der Retrospektive betrachtet, insgesamt als Verfallsprozess; seine Etappen seien hier kurz skizziert: Getrieben von Neugier kehrten bereits die Pythagoreer ihren Blick von den Wahrheiten ihrer Lehrer ab – „Wahrheiten, die jeder fassen, aber nicht jeder üben kann“64 –, und wandten ihn dem Himmel zu. Die noch von den „sieben Weisen“ geschlossene und gelebte Liaison von Denken und Handeln wird nun also vonseiten des Denkens aufgekündigt und damit die Einheit des Menschen als eines zum Handeln bestimmten denkenden, kurz: vernünftigen65 Wesens zerstört. So kam die Zeit für den ersten Mahner der Tugend und „weiseste[n] unter den Menschen“66: Sokrates. „Törichte Sterbliche, was über 59

  B 1, 936,31–34.   Hier scheint das Hallersche Gedicht in seiner Aussage wesentlich stärker und radikaler zu sein, wird doch der Mensch dort als des Irrtums Eigentum betrachtet. Als solcher aber ist er stets und unweigerlich zum Irren verdammt: „Wir irren allesamt, nur jeder irret anderst“ (s.o., in Anm. 56). – Vgl. hierzu auch Fick 2016, 123f. 61   B 1, 936,34. – Die aus älterer Tradition bereits bekannten „Sieben Weisen“ wurden erstmals bei Platon namentlich identifiziert. Da indes diese Liste nicht als verbindlich erachtet wurde, konnten die zu den Sieben Weisen gerechneten Kandidaten in der Folgezeit je nach Autor variieren. Fest zu ihrem Kreis gehörten lediglich vier Personen: Thales von Miletos, Pittakos von Mytilene, Bias von Priene und Solon von Athen. Schon diese vier Namen zeigen, dass es sich bei den „Sieben Weisen“ nicht durchweg um Philosophen im engeren Sinne handelt: So wird neben Solon, dem wohl bedeutendsten griechischen Gesetzgeber in archaischer Zeit, der nicht nur als Politiker und Reformer, sondern auch als Dichter in Erscheinung trat, auch Pittakos von der antiken Tradition in die Reihe der weisen Gesetzgeber gestellt; Bias hingegen machte sich als gewandter Rhetor und erfolgreicher Streiter des Rechts einen Namen. Einzig Thales ist als Philosoph im engeren Sinne zu bezeichnen (vgl. Christes 2001; vgl. ferner Hölkeskamp 1997; Cobet 2000; Meier 2001; Betegh 2002). 62   Da es sich bei den „Sieben Weisen“ nicht durchweg um Philosophen im engeren Sinne handelt (s. Anm. 61), muss der Begriff „Philosophie“ an dieser Stelle freilich weiter gefasst werden. 63   B 1, 936,33f. 64   B 1, 936,35f. 65   Vernünftig ist in diesem Sinne als ganzheitlicher, umfassender Begriff zu verstehen. 66   B 1, 937,5. 60

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euch ist, ist nicht für euch! Kehret den Blick in euch selbst! In euch sind die unerforschten Tiefen, worinnen ihr euch mit Nutzen verlieren könnt“.67 Nach Darstellung der Gedanken hat die Philosophiegeschichte hier, in Sokrates, ihren absoluten Gipfelpunkt erreicht.68 Sein Auftreten wird nachgerade göttlich qualifiziert: „So ermahnte Sokrates, oder vielmehr Gott durch den Sokrates.“69 Sokrates besiegelte diese seine Sendung durch sein Martyrium für die Wahrheit. Nach solchem unverhofften Höhepunkt kann der Niedergang kaum mehr aufgehalten werden: „Nur wenige von seinen [sc. des Sokrates] Jüngern giengen den von ihm gezeigten Weg. Plato fieng an zu träumen, und Aristoteles zu schließen.“70 Indem sich mit Platon und Aristoteles die beiden wegweisenden Philosophen in der Welt der Ideen bzw. im Reich der Logik verloren, erweist sich in der Folge die ganze Geschichte der abendländischen Philosophie als korrumpiert. Erst unter Descartes schien die Wahrheit „eine neue Gestalt zu bekommen“, doch „eine desto betrüglichere, je schimmernder sie war“.71 Wie in Hallers Gedicht, so erfährt auch hier die cartesianische Philosophie eine ambivalente Beurteilung.72 Allerdings wird ihr das Verdienst angerechnet, allen den Zugang zum Tempel der Wahrheit eröffnet zu haben.73 Dennoch ist die Linie, wie sie von Descartes bis ins 18. Jahrhundert gezogen werden kann, weiter im 67

  B 1, 937,8–11.   Freilich gehört solche Sokratesverehrung gewissermaßen zum Selbstverständnis des 18. Jahrhunderts. In diesem Sinne gilt Sokrates als „eine Verkörperung des Lebensgefühles, das die Männer dieses Jahrhunderts erfüllt und von der kirchlich unterbauten Kultur scheidet“ (Böhm 1966, 4). „Sokrates ist der Mensch dieses Jahrhunderts“ (ebd.), sodass man mit Blick auf das 18. Jahrhundert gar vom „sokratische[n] Jahrhundert“ sprechen kann (aaO., 192). 69   B 1, 937,17f. – Wie noch zu explizieren sein wird (s.u. die entsprechenden Ausführungen zum aufgeklärten Offenbarungsverständnis der Gedanken), tut sich dort, wo die natürliche Vernunft eine Stimme bekommt, immer auch das Göttliche kund. 70   B 1, 937,33–35. 71   B 1, 938,2–4. 72   Vgl. Fick 2016, 123. – Nach Aussage von Hallers Gedicht erliegt demnach selbst die reflektierteste – wohl die cartesianische Philosophie assoziierende – Form menschlichen Philosophierens Irrtum und Betrug. „Des Aberglaubens satt“, ist sie in ihrer Wahrheitssuche zwar grundsätzlich richtig orientiert: Sie sucht ohne „Vorurtheil“ und „aus wahren Gründen, / Beym Licht von der Vernunft sich in sich selbst zu finden“ (Haller, „Gedanken“, 73f.). Dieser Weg erscheint zunächst also durchaus zielführend: „Im Anfang führet ihn [sc. den Weisen] sein forschender Verstand, / Nah zu der Wesen Grund, und weit vom Menschen-Tand“ (aaO., 74). Dann aber verleitet Selbstüberschätzung zu der irrigen Meinung, die Vernunft könne auch „entfernt von irdischen Begriffen, / Im weiten Ocean der Gottheit“ als „Leitstern“ dienen (ebd.). – Der Philosoph zerschellt, von „falsche[m] Licht“ geführt, an den Klippen: „Der arme Weise sinkt im Schlamm des Zweifels ein“ (ebd.). Dort, im „dunkeln Dunst verblendter Weißheit“, vermögen es weder „der Gottheit helles Licht“ noch „[d]ie Stimme der Natur“ – in der sich, wie aus der im Weiteren skizzierten Physikotheologie ergibt, Gott selbst offenbart – zu ihm durchzudringen. Wer so radikal zweifelt, dass selbst die eigene Existenz ungewiss wird, der kann auch „keinen Schöpfer glauben“ (ebd.). – Vgl. hierzu auch Menhennet 1972, 103. 73   Hier zeigt sich hinwiederum eine Abgrenzung von Rousseau, dessen Kritik sich ja nicht zuletzt darauf bezieht, dass durch die Philosophen der Aufklärung allen – und damit auch der 68

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Fallen begriffen: Newton, Leibniz, Spinoza, die Wolffische Schulphilosophie74 – in ihrem Streben nach abstrakter Theorie „füllen sie den Kopf, und das Herz bleibt leer. Den Geist führen sie bis in die entferntesten Himmel, unterdessen da das Gemüt durch seine Leidenschaften bis unter das Vieh herunter gesetzt wird.“75 So macht die (geschichtlich realisierte) Philosophie den Menschen auch bei Lessing zu jenem unseligen Mittelding von Engeln und von Vieh.76 2.2.2 Die Religionsgeschichte als Geschichte des Abfalls von der natürlichen Religion Die religionsgeschichtliche Explikation der These bildet gewissermaßen das Herzstück der Gedanken. Nimmt man den Text in seiner programmatischen Dimension ernst – nämlich als einen ersten Versuch des noch jungen Lessing, seinen eigenen religionsphilosophischen Standpunkt zu bestimmen –, so kann sich die Aufgabe der Interpretation keineswegs darauf beschränken, das Gesagte mit all seinen Implikationen möglichst genau auseinanderzulegen. Es gilt vielmehr auch, über dieses – explizit und implizit – Gesagte hinaus oder besser: hinter es zurückzufragen auf die ihm zugrundeliegende religionsphilosophische Position. Hier erst kommt Lessings ganze schriftstellerische Brillanz zur Geltung: in seinem einzigartigen Vermögen, (fundamentaltheologisch wie materialdogmatisch77) folgenreiche und somit gewichtige Aussagen unter der Leichtigkeit des Ausdrucks zu verbergen. Für Lessing gestaltet sich der Verlauf der Religionsgeschichte dem der Philosophiegeschichte parallel.78 Wieder findet sich am historischen Nullpunkt der hierzu unberufenen Mehrheit – der Tempel der Wissenschaften und Künste eröffnet worden sei (vgl. Rousseau, Discours, 75). 74   Die Namen Newton und Leibniz verbergen sich hinter den beiden „Männer[n], die, trotz ihrer gemeinschaftlichen Eifersucht, einerlei Absicht hatten“ etc., und der Spinozas ist wohl beim Stichwort „Meßkunst“ zu assoziieren (B 1, 938,7–14). Die Wolffische Schulphilosophie bilden dementsprechend „[i]hre Schüler […], welche jetzo dem sterblichen Geschlechte Ehre machen, und auf den Namen der Weltweisen ein gar besonders Recht zu haben glauben“ usw. (B 1, 938,15–25). 75   B 1, 938,21–25. – Die anhand der Begriffe „Geist“ und „Gemüt“ beschriebene Schizophrenie des aufgeklärten Menschen bildet gewissermaßen den Endpunkt der Entwicklung, welche mit der Zerstörung der Einheit oder Ganzheit des Menschen als eines denkenden und handelnden Wesens bei den Pythagoreern ihren Anfang nahm (s.o.). 76   Vgl. Hallers anthropologische Grundbestimmung des Menschen (s. obiges Zitat in Anm. 56). – Ein Hinweis auf dieses „Echo“ auf Hallers Lehrgedicht findet sich auch bei Fick 2016, 123. 77   „Zwar hat Lessing in dieser Schrift [gemeint sind die Gedanken; D.Z.] noch kein einzelnes Dogma namhaft gemacht, an dem er Anstoß nahm; er hat sie alle gleicherweise gegenüber dem Tatchristentum inferiorisiert. Aber wer zwischen den Zeilen zu lesen vermag, erkennt, daß ihm doch ein Lehrstück als solches wankend geworden ist“ (Aner 1929, 173; Hervorh. i. O.). Hinsichtlich der nun folgenden Ausführungen formulieren wir besser: „[…], dass ihm doch das eine oder andere Lehrstück wankend geworden ist“. 78   Vgl. B 1, 938,33f.

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reine Ursprung: „Man gehe in die ältesten Zeiten. Wie einfach, leicht und lebendig war die Religion des Adams?“79 Erblickt man in „Adam“ nicht nur den personifizierten Ursprung des Menschengeschlechts, sondern – darüber hinaus – das Menschliche überhaupt, so ist mit „Religion des Adams“ sowohl die ursprüngliche als auch die allgemeinmenschliche, universale Religion bezeichnet. Im Verständnis des 18. Jahrhunderts ist dies die natürliche Religion.80 Wie die spruchhaften Lehren der Sieben Weisen zeichnet sich auch die natürliche Religion durch ‚Einfachheit‘, ‚Leichtigkeit‘ und ‚Lebendigkeit‘ aus. Mit Einfachheit, das erhellt aus dem unmittelbar Folgenden, ist mit Blick auf die Religion ein Ganzes charakterisiert, das weder durch die Hinzufügung willkürlicher Lehren noch durch die Verbindung mit einem ihr ganz und gar äußerlichen Kult aufgesprengt wird. Die Eigenschaft der Leichtigkeit scheint wiederum mit dem Gedanken der Universalität assoziiert zu sein: Als allgemeinmenschliche ist die natürliche Religion für jedermann leicht fasslich und in dieser Eigenschaft gewissermaßen selbstevident. Sie gehört zur schöpfungsmäßigen, natürlichen Ausstattung des Menschen und ist demnach kein Ballast, den er sich im Laufe der Geschichte unnötigerweise aufgeladen hätte. Lebendigkeit schließlich verweist zurück auf die These und betont, dass Religion wesentlich praktische Religion ist, sich also in tugendhaftem Handeln des Menschen realisiert und folglich weder in ein kultisches Zeremoniell noch in abstrakte Lehrbegriffe oder gar Lehrsysteme überführt werden kann. Betrachten wir nun, von solchen Näherbestimmungen ausgehend, die Begriffe ‚Einfachheit‘, ‚Leichtigkeit‘ und ‚Lebendigkeit‘ als die drei wesentlichen Bestimmungen der universalen natürlichen Religion etwas genauer und versuchen, sie zueinander ins Verhältnis zu setzen, so scheint der Begriff der ‚Lebendigkeit‘ die beiden anderen gewissermaßen in sich zu integrieren: ‚Lebendig‘ ist die Religion nur dort, wo sie den ganzen Menschen durchdringt, wo sie ihn ganz, d.h. in allen Vollzügen seines Menschseins bestimmt.81 Dies vermag die Religion allerdings nur insofern, als sie in ihrer ‚Einfachheit‘ bewahrt und also nicht in ihre einzelnen Funktionen ausdifferenziert wird. Kommt es hin79

  B 1, 938,35f.   Ebenso Fick: „die Religion in ihrer ‚Lauterkeit‘ und Reinheit ist für ihn [sc. Lessing] die ‚natürliche Religion‘“ (Fick 2016, 124); ähnlich Nisbet 2008, 179. Auch Multhammer schlägt vor, mit Blick auf die ursprüngliche Religion – im Sinne des 18. Jahrhunderts – „das Adjektiv ursprünglich […] synonym mit natürlich [zu] begreifen“ (Multhammer 2013, 213). 81   Dass mit ‚Lebendigkeit‘ eine für Lessing wesentliche Eigenschaft der Religion bezeichnet ist, erhellt schon aus seinem in der „Einleitung“ zitierten Brief an den Vater. Dort kritisiert er, dass bereits der als ein guter Christ gelte, „der die Grundsätze der christl. Lehre im Gedächtnisse, und oft, ohne sie zu verstehen, im Munde hat, in die Kirche geht, und alle Gebräuche mit macht, weil sie gewöhnlich sind“. Demgegenüber fordert er den Erweis und die Bewährung ‚echter‘ Religiosität im konkreten Tun: „So lange ich nicht sehe, daß man eins der vornehmsten Gebote des Xstentums, Seinen Feind zu lieben nicht besser beobachtet, so lange zweifle ich, ob diejenigen Xsten sind, die sich davor ausgeben“ (Brief Nr. 21 [An Johann Gottfried Lessing; 30. Mai 1749], in: B 11/1, 25–28. Hier: 26,13–16.23–26; Hervorh. i. O.). 80

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gegen zur Sonderung ihrer jeweiligen Funktionen und erhalten, in der Folge, etwa dogmatische Reflexion oder kultische Praxis das Übergewicht, wird die Einfachheit der Religion aufgesprengt. Religion ist jetzt nicht länger eine Angelegenheit des ganzen Menschen – sie interessiert ihn nur noch als Sache der theoretischen Vernunft oder als Feld kultischen Handelns.82 Dergestalt aus dem Gleichgewicht gehoben, treiben ihre einzelnen Funktionen schädlichen Wildwuchs: Das Einfache wird komplex, das Natürliche zu einem hoch artifiziellen Gebilde – die Religion verliert ihre ‚Leichtigkeit‘ und droht ihr Wesentlichstes – ihre ‚Lebendigkeit‘ – unter der Schwere ihrer pervertierten Gestalt zu er­ drücken. Eingedenk der grundlegenden These der Gedanken und ihrer Betonung der menschlichen Affinität zum ‚Vernünfteln‘ sowie mit Blick auf den eben skizzierten philosophiegeschichtlichen Verlauf ist zu erwarten, dass der Mensch im widernatürlichen Vollzug seiner Existenz die äußerst sensible Ökonomie der natürlichen Religion schon bald und in fundamentaler Weise stören sollte. Kurz: Wie in der Philosophie, so währte auch im Falle der Religion die Lauterkeit des Ursprungs – ihre Einfachheit, Leichtigkeit und Lebendigkeit – nicht allzu lange. Schon die nächste Generation nach Adam läutete den Niedergang der Religionsgeschichte ein: Jeder von seinen [sc. Adams] Nachkommen setzte nach eignem Gutachten etwas dazu. Das Wesentliche wurde in einer Sündflut von willkürlichen Sätzen versenkt. Alle waren der Wahrheit untreu geworden, nur einige weniger, als die andern; die Nachkommen Abrahams am wenigsten. Und deswegen würdigte sie Gott einer besondern Achtung. 83

Die Sprengkraft dieser Sätze – zumindest aus Perspektive der traditionellen Theologie – erweist sich besonders im Lichte unserer Problemstellung von Vernunft und Offenbarung. Während die natürliche Religion in ihrer Einfachheit und Leichtigkeit eine Sache der (natürlichen) Vernunft ist, wird die Tatsache einer göttlichen Offenbarung innerhalb der Religionsgeschichte (also Offenbarung im Sinne der revelatio specialis) schlichtweg geleugnet: Die sogenannten positiven Religionen, deren jede ja wenigstens für sich selbst Offenbarungsanspruch erhebt, werden allesamt als menschliche Setzungen, und zwar als will82   Auch Schilson spricht von einer dem Menschen „vorgegebene[n] und aufgegebene[n] Einheit von Theorie und Praxis auf den Gebieten der Philosophie und Religion“ (Schilson 1974, 55). – Nehmen wir von dieser Einsicht aus noch einmal die (Haupt-) These der Gedanken in den Blick, so ist sie in ihrer Betonung des Tuns eine These über den ganzen Menschen. Kritisiert wird demnach nicht, dass der Mensch als zum Tun Geschaffener überhaupt Philosophie oder Theologie treibt. Das Problem des ‚Vernünftelns‘, seine „Sündhaftigkeit“ besteht vielmehr darin, dass die theoretische Vernunft sich von der Dimension des konkreten Handelns und Sichverhaltens emanzipiert und sich am Ende in ihren (philosophischen bzw. theologischen) Spekulationen und d.h. in sich selber verliert. Im ‚Vernünfteln‘ mutiert die Vernunft also gewissermaßen zur ratio incurvata in se ipsam. Dadurch aber wird die Einheit des Menschen als eines zum Handeln bestimmten vernünftigen Wesens zerstört. 83   B 1, 938,37–939,5.

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kürliche menschliche Setzungen abqualifiziert. Das heißt nun freilich nicht, dass die Möglichkeit und Tatsächlichkeit von Offenbarung prinzipiell geleugnet würde. An diesem – für die Fragestellung der Arbeit insgesamt hoch sensiblen und zentralen – Punkt kommt es demnach auf eine möglichst präzise und differenzierte Beschreibung an. Wenngleich die Gegenüberstellung von ‚Wesentlichem‘ hier und ‚Willkür­ lichem‘ dort, von Wahrheit auf der einen und ‚Untreue‘ gegenüber dieser Wahrheit auf der anderen Seite in erster Linie darauf abzielt, die Göttlichkeit der geschichtlichen Religionen zu bestreiten, so impliziert solche Diagnose doch auch zugleich, dass gerade die natürliche Religion – als die einfache, leichte und lebendige „Religion des Adams“ – in ihrer exklusiven Wesentlichkeit und Wahrheit eben diesen Anspruch, göttlichen Ursprungs zu sein, legitimerweise erhebt, nämlich im Sinne einer dem Menschen mit seiner Erschaffung zugleich mitgeteilten göttlichen Wahrheit.84 Zwar vollzieht sich die Mitteilung solcher Wahrheit nicht in direkter, unmittelbarer Kommunikation zwischen Göttlichem und Menschlichem, wie sie etwa in den biblischen Büchern beschrieben ist („Der HERR sprach…“); d.h. die Selbstmitteilung des Göttlichen ereignet sich nicht in einem supranaturalen Geschehen. Sie muss im Falle der natürlichen Religion vielmehr als vermittelte vorgestellt werden – vermittelt durch eine gleichsam göttliche Instanz im Menschen: seine natürliche Vernunft. Wahrt diese die ihr gesetzten Grenzen85 , so tut sich in ihrem einfältigen Spruch das Göttliche kund.86 Menschliche Vernunfterkenntnis wird demnach durch Gott konstituiert. Halten wir bis hierher fest: Mit seiner Kritik richtet sich Lessing keineswegs gegen die prinzipielle Annahme der Möglichkeit und Tatsächlichkeit einer an den Menschen ergangenen göttlichen Offenbarung. Kritisiert wird vielmehr das traditionelle Verständnis von Offenbarung im Sinne der revelata, d.h. der Dogmen als durch Offenbarung gesetzter und als solcher vom Menschen anzunehmender Lehrsätze. Anders ausgedrückt wendet sich Lessing gegen jedes autoritative Offenbarungsverständnis, also dagegen, Offenbarung – im Sinne der revelatio specialis sive supernaturalis – als die Manifestation einer bestimmten religiösen Lehre zu verstehen. Von seiner Kritik unberührt bleibt indes ein 84   Der Makel der geschichtlichen Religionen besteht ja eben darin, dass sie durchweg das Produkt menschlicher Willkür sind – ein Makel, welcher der „Religion des Adams“ gerade nicht anhaftet; als natürliche ist sie keine menschliche Setzung, sondern göttlichen Ursprungs. 85  S. im Wortlaut der These: „Seine [sc. des Menschen] Bosheit unternimmt allezeit das, was er nicht soll, und seine Verwegenheit allezeit das, was er nicht kann. Er, der Mensch, sollte sich Schranken setzen lassen?“ (B 1, 936,27–30). 86   Ganz in diesem Sinne heißt es ja von Sokrates: „So ermahnte Sokrates, oder vielmehr Gott durch den Sokrates“ (B 1, 937,17f.; Hervorh. D.Z.). – Es sei an dieser Stelle außerdem noch einmal an Lessings 103. Stück der BPZ erinnert, wo es mit Blick auf die Herrnhutischen „Lehrsätze“ heißt, sie zeugten „durch eine erhabne Einfalt von ihrem göttlichen Ursprunge“ (B 2, 181,3ff.).

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Verständnis, welches Offenbarung im Sinne einer Illumination der menschlichen Vernunft begreift.87 – Die strikte Zurückweisung jedweden autoritativen Offenbarungsverständnisses führt nun freilich zu grundlegenden Verschiebungen gegenüber älteren Konzeptionen. So wird in der Identifikation der göttlichen Offenbarung mit dem einfachen Spruch der natürlichen Vernunft der über Jahrhunderte – wenngleich unterschiedlich akzentuierte, so doch – durchgehaltene Dualismus von Vernunft und Offenbarung überwunden; gleichzeitig reißt der Graben an anderer Stelle wieder auf: zwischen der Vernunft als Quelle der Wahrheit auf der einen und der Geschichte als Ausdruck der Unwahrheit auf der anderen Seite. Während letztere eine Fallbewegung markiert und in ihrer Unbeständigkeit von schierer Unvernunft zeugt, zeichnet sich erstere gerade durch ihre Unwandelbarkeit aus.88 In diesem Sinne sind, wie das achtzehnte Jahrhundert insgesamt, so auch Lessings Gedanken durchdrungen von dem Glauben an die Einheit und die Unwandelbarkeit der Vernunft. Sie ist dieselbe für alle denkenden Subjekte, für alle Nationen, alle Epochen, alle Kulturen. Aus dem Wechsel der religiösen Glaubenssätze, der sittlichen Maximen und Überzeugungen, der theoretischen Meinungen und Urteile läßt sich ein fester und bleibender Bestand herauslösen, der in sich selbst beharrt und der in dieser Identität und Beharrlichkeit das eigentliche Wesen der Vernunft zum Ausdruck bringt.89

Exkurs 1: Vernunft und Offenbarung in Matthew Tindals Christianity as Old as the Creation (1730) Zu Beginn seines Denkweges zeigt sich Lessing also durchaus noch dem religionsphilosophischen Mainstream seiner Zeit verhaftet – eine Diagnose, die durch den Aufweis augenscheinlicher Strukturanalogien zur Offenbarungskonzeption eines Matthew Tindal zusätzlich unterstrichen werden soll.90 Matthew Tindal (1657–1733), einer der Hauptvertreter des englischen Deismus und als solcher zugleich Repräsentant einer der wichtigsten religionsphilosophischen Strömungen der Aufklärungsepoche, legte mit seiner Schrift Christianity as Old as the Creation: or, the Gospel, a Republication of the Religion of Nature aus dem Jahre 1730 eines der meistbeachteten Werke deistischer Religionsphilosophie vor 91. Diese Schrift, die nach Ernst 87   Es sei bereits hier auf die Lichtmetapher verwiesen, wie sie Lessing im Kontext des Auftretens Christi gebraucht (s.u. Anm. 122). 88   Besonders deutlich wird dies an der Funktion des Auftretens Christi (s.u.). 89   Cassirer 2007 (1932), 4f. 90   Freilich kann – und soll! – mit einem solchen Aufweis die direkte Abhängigkeit Lessings von Tindal (oder anderen deistischen Denkern) nicht behauptet werden. Und doch sind mit Blick auf die Gedanken „deistische Einflüsse“ nicht zu leugnen, wie auch Schilson an entsprechender Stelle geltend macht. Dort findet sich zudem der Hinweis, dass die „für seine Zeit ungewöhnliche Vertrautheit Lessings mit der englischen Sprache […] zumindest die Möglichkeit einer sehr frühen Kenntnis des englischen Deismus“ eröffnet (Schilson 1974, 54; dort auch Anm. 40). 91   Eine deutsche Übersetzung dieses Werkes erscheint bereits 1741, bestellt durch Johann Lorenz Schmidt (1702–1749).

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­ roeltsch „als das Hauptbuch des Deismus angesehen werden“ darf92, soll für die nun folT genden Ausführungen als Textgrundlage dienen. Grundlegend für Tindals Identifikation des göttlichen Lichtes mit dem Spruch der natürlichen Vernunft ist die notwendige Geschichtslosigkeit der natürlichen Religion, die er wie folgt begründet: [I]f Religion consists in the Practice of those Duties, that result from the Relation we stand in to God and Man, our Religion must always be the same. If God is unchangeable, our Duty to him must be so too; if Human Nature continues the same, and Men at all times stand in the same Relation to one another, the Duties which result from thence too, must always be the same: And consequently our Duty both to God and Man must, from the Beginning of the World to the End, remain unalterable; be always alike plain and perspicuous; neither chang’d in Whole, or Part: which demonstrates that no Person, if he comes from God, can teach us any other Religion, or give us any Precepts, but what are founded on those Relations. Heaven and Earth shall sooner pass away, than one Tittle of this Eternal Law shall either be abrogated, or alter’d.93 Gott und die menschliche Natur werden beide als in gleicher Weise unveränderlich gedacht und so jede geschichtliche Dynamik im Verhältnis beider Größen zueinander ausgeschlossen. Wie also aufgrund der Unveränderlichkeit sowohl des göttlichen Wesens und Willens als auch der menschlichen Natur die Verbindungen zwischen Gott und Mensch bzw. Mensch und Mitmensch die immer gleichen, d.h. ewig unveränderliche sein müssen, ebenso auch die Pflichten, welche aus diesen Verbindungen resultieren. Die Möglichkeit, dass unter solchen Voraussetzungen mittels supranaturaler Offenbarungen (im Sinne der revelatio specialis sive supernaturalis) im Laufe der Geschichte Ergänzungen, Korrekturen oder sonstige Neuerungen an diesem Pflichtenkatalog vorgenommen werden, ist folglich undenkbar; oder in den Worten der These zum sechsten Kapitel ausgedrückt: „That the Religion of Nature is an absolutely perfect Religion; and that external Revelation can neither add to, nor take from its Perfection: and that True Religion, whether internally or externally reveal’d, must be the same.“94 Statt eines manifestativen Offenbarungsgeschehens, durch das an einem bestimmten Ort zu einer bestimmten Zeit eine bestimmte Lehre gegenüber einer bestimmten Person oder Personengruppe als für alle Menschen verbindlich kundgetan wird, ist es demnach die dem Menschen als Menschen anerschaffene Vernunft, die – „by considering the Nature of God and Man, and the Relation we stand in to him and one another“95 – uns unsere Pflichten gegenüber Gott und den Mitmenschen vorhält: „And if God designed all Mankind shou’d at all times know, what he wills them to know, believe, profess, and practise; and has given them no other Means for this, but the Use of Reason; Reason, human Reason, must then be that Means.“96 Die bereits hier (mindestens) implizierte, an späterer Stelle explizit gemachte Identität von lex naturae (= „Morality“) und lex divina (= „Religion“) 97 findet ihre – gewissermaßen erkenntnistheoretische – Begründung in der Konzeption der erleuchteten Vernunft: Würde ein jeder Satz in einem System des Beweises durch einen anderen bedürfen, 92

 ­Troeltsch 1925 (1898), 452.   Matthew Tindal, Christianity as Old as the Creation (1730), 17 (Hervorh. i. O.). 94  AaO., 49. 95  AaO., 11. 96  AaO., 7. 97  AaO., 270. 93

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so wäre, angesichts des infiniten Regresses, die Möglichkeit logischer Beweisführungen – und damit (gesicherte) Erkenntnis überhaupt – nicht gegeben: „IF there were not some Propositions which need not to be prov’d, it would be in vain for Men to argue with one another; because they then could bring no Proofs but what needed to be prov’d.“98 Da aber Gott – und etwas anderes anzunehmen, widerspräche seiner unendlichen Güte – „at all Times, has given Mankind sufficient Means of knowing what he requires of them“99, so muss es – gleichsam als Ermöglichungsgrund von Erkenntnis überhaupt – notwendigerweise auch solche Sätze geben, welche keines Beweises bedürfen, Sätze von unmittelbarer Evidenz: „Those Propositions which need no Proof, we call self-evident; because by comparing the Ideas, signify’d by the Terms of such Propositions, we immediately discern their Agreement, or Disagreement.“100 Die Einsicht des unmittelbar Evidenten als der ­sichere Grund aller (mittelbaren) Vernunfterkenntnis ist das göttliche Licht, welches die menschliche Vernunft erleuchtet: This is, as I said before, what we call intuitive Knowledge, and is the Knowledge of God himself, who sees all things by Intuition; and may, I think, be call’d divine Inspiration, as being immediately from God; and not acquir’d by any human Deduction, or draw­ ing of Consequences: This, certainly, is that divine, that uniform Light, which shines in the Mind of all Men, and enables them to discern whatever they do discern; since without it there could be no Demonstration, no Knowledge, but invincible Obscurity, and universal Uncertainty.101 Solche Erleuchtung ist die wahrhafte, universale und ewig gültige Offenbarung; als „Internal [Revelation]“ wird sie dem Menschen bereits mit seiner Erschaffung zuteil. Daneben scheint die Möglichkeit einer darüber hinausgehenden „External Revelation“102 – nicht zuletzt auch aufgrund ihrer geschichtlichen Partikularität und Kontingenz – im System der ewigen, unveränderlichen und also geschichtslosen Vernunft nicht gedacht werden zu können.

Hieraus nun ergeben sich weitreichende Konsequenzen gegenüber der traditionellen Verhältnisbestimmung von Vernunft und Offenbarung(sreligion): Räumt die theologische Tradition der natürlichen Theologie lediglich im Vorhof des Glaubens (praeambula fidei) ihren angestammten Platz ein103, behaupten die oben zitierten Sätze, indem sie die göttliche Offenbarung mit dem einfältigen Spruch der natürlichen Vernunft identifizieren, die Suffizienz der natürlichen Religion und üben von hier aus vernichtende Kritik an den geschichtlichen – aus ihrer Perspektive lediglich sogenannten – „Offenbarungs“-Religionen104:  98

 AaO., 160.  AaO., 1. 100  AaO., 160. 101   Ebd. (Hervorh. i.O.). 102  AaO., 2. 103   Ein prägnanter Überblick zum Thema findet sich bei Joest 1988, 110–114. Dort fällt, unter Rekurs auf Thomas von Aquin, auch der Begriff der praeambula fidei. 104   Diese Kritik trifft auch das Judentum: Zwar sind „die Nachkommen Abrahams“ (B 1, 939,4) der Wahrheit, wie sie in der natürlichen Religion beschlossen ist, am wenigsten untreu geworden; doch ist auch dieser Vorzug der jüdischen Religion nur ein relativer und als ein solcher schon bald irrelevant geworden: „Allein nach und nach ward auch unter ihnen die  99

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Was die positiven Religionen gegenüber der natürlichen Religion an Mehrgehalt jeweils aufzuweisen haben, geht nicht auf göttliche Offenbarung zurück, sondern erklärt sich allein aus der Willkür des Menschen.105 Lessing hat, so konnte mittels der Analyse allein dieser wenigen Sätze demonstriert werden, den Boden der Tradition längst verlassen. Wie oben bereits thematisiert, gilt dies – allem gegenteiligen Anschein zum Trotz – auch für die Begründung seiner These.106 Von einem Fall Adams ist nirgends die Rede. Im Gegenteil ist seine einfache, leichte und lebendige Religion identisch mit der Menge nichts bedeutender und selbst erwählter Gebräuche so groß, daß nur wenige einen richtigen Begriff von Gott behielten“ (B 1, 939,6–9). Dass darüber hinaus Lessings Kritik nicht nur auf die vorchristlichen positiven Religionen zielt, sondern auch auf das Christentum selbst in seiner Positivität, wird noch dargelegt werden. – Auch anhand dieser kritischen Funktion der natürlichen Religion lässt sich eine Strukturanalogie zur Tindalschen Konzeption aufweisen: „I desire no more than to be allow’d, That there’s a Religion of Nature and Reason written in the Hearts of every one of us from the first Creation; by which all Mankind must judge of the Truth of any instituted Religion whatever“ (Tindal, Christianity as Old as the Creation, 50f.). Entsprechend obiger Ausführungen (s. Exkurs 1) begründet Tindal diese kritische Funktion der natürlichen Religion erkenntnistheoretisch wie folgt: „WERE it not for those self-evident Notions, which are the Foundation of all our Reasonings, there could be no intellectual Communication between God and Man; nor, as we fram’d, can God ascertain us of any Truth, but by shewing its Agreement with those self-evident Notions, which are the Tests by which we are to judge of every thing, even the Being of a God and Natural Religion; which, tho’ not knowable by Intuition, are to be demonstrated by such Proofs, which have, mediately or immediately, a necessary Connexion with our self-evident Notions“ (aaO., 162). D.h. „were there not some Truths relating to Religion of themselves so evident, as that all [= jedermann] must agree in them, nothing relating to Religion cou’d be prov’d, every Thing wou’d want a further Proof; and if there are such evident Truths, must not all others be try’d by their Agreement with them? And are not these the Tests, by which we are to distinguish the only True Religion from the many false ones?“ (aaO., 165). Daraus folgt notwendigerweise die Ablehnung jedweden autoritativen Offenbarungsverständnisses; so könnte nach Tindal nicht einmal der Heilige Geist „deal with Men as rational Creatures, but by proposing Arguments to convince their Understandings, and influence their Wills, in the same manner as if propos’d by other Agents“ (aaO., 176). 105   Auch Tindal führt den Mehrgehalt der positiven Religionen auf die Willkür des Menschen zurück: In seinem Streben nach Macht habe dieser die ihrer Natur nach allgemeine und für jedermann fassbare wahre Religion dazu missbraucht, neue Abhängigkeitsverhältnisse zu schaffen: „IN short, True Religion can’t but be plain, simple, and natural, as design’d for all Mankind, adapted to every Capacity, and suited to every Condition and Circumstance of Life; and if it be render’d otherwise, is it not owing to those, who have made it their business to puzzle Mankind, and render plain things obscure; in order to get the Consciences, and consequently, the Properties of the People at their disposal; and to be in a manner ador’d, notwithstanding the grossest Immoralities, as the sole Dispensers of such Things, as no ways relate to Good of the Community; and to destroy all that will not comply with their pernicious Designs, as Enemies of God, and his Holy Church?“ (aaO., 217). 106   Demzufolge wäre Beyreuthers Einschätzung stark zu relativieren, wonach das Menschenbild, welches Lessing noch als Autor der Gedanken vertritt, „Züge lutherischer Frömmigkeit“ aufwiese (vgl. Beyreuther 1975, 96). – Hallers Aussage „Wir irren allesamt“ (s.o. in Anm. 56) ist in ihrer Universalität und Radikalität der traditionellen theologischen Anthropologie näher.

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Wahrheit selbst. Erst seine Nachkommen – und zwar ‚jeder von seinen Nachkommen‘ – sollten in Unwahrheit und Untreue gegenüber der Wahrheit fallen. Damit nun scheint zweierlei ausgesagt: Erstens, wenn Adam nicht fällt, so fällt in ihm auch nicht die ganze Menschheit. Die biblische Rede von dem Einen, durch dessen Sünde die Verdammnis über alle Menschen gekommen ist107, ist folglich obsolet. Stattdessen, und darin besteht die zweite Aussage, wird der Sündenfall lediglich individuell, also je und je vollzogen.108 Die Sünde ist damit, anders als in der theologischen Tradition, nicht mehr beides, Verhängnis und Schuld, sondern lediglich Schuld, individuelle Schuld – und als solche prinzipiell vermeidbar.109 Ganz auf dieser Linie liegt dann auch die Deutung von Person und Werk Christi: „Wer konnte die Welt aus ihrer Dunkelheit reißen? Wer konnte der Wahrheit den Aberglauben besiegen helfen? Kein Sterblicher. Θεος ἀπο μηχανης. / Christus kam also.“110 Dass Christus hier der Masse der Sterblichen entnommen, ja dass er gar als Deus (ex machina) bezeichnet wird, sollte uns indes nicht täuschen.111 – Die Metapher vom Welttheater begegnet im weiteren Verlauf des Textes noch einmal.112 – Um also eine Fehlinterpretation der Lessingschen Christus-Deutung im Sinne des traditionellen vere Deus zu vermeiden, suchen wir das tertium comparationis von Christus und dem Deus ex ­machina im Bereich der dramatischen Funktion des letzteren, nämlich in seinem Auftreten „zur überraschenden Auflösung eines scheinbar ausweglosen Kon107   Vgl. Röm 5,18. – Dass zur Deutung der Funktion Adams bzw. Christi (s.u.) die paulinische Adam-Christus-Typologie (aus Röm 5) als interpretative Folie herangezogen wird, geschieht, um präzise herausstellen zu können, wie weit sich Lessing bereits in diesem wohl frühesten uns erhaltenen religionsphilosophischen Entwurf vom Standpunkt der theologischen Tradition entfernt hat. 108   Es ist dies übrigens die einzige Stelle im ganzen Herrnhuter-Essay, an der Lessing von der „Sünde“ spricht, nämlich in der Wortverbindung „Sündflut“: „Jeder von seinen [sc. Adams] Nachkommen setzte nach eignem Gutachten etwas dazu. Das Wesentliche wurde in einer Sündflut von willkürlichen Sätzen versenkt. Alle waren der Wahrheit untreu geworden […]“. 109   So konnte ja schon oben anhand des philosophiegeschichtlichen Abrisses aufgewiesen werden, dass der Hang des Menschen zum Vernünfteln kein Schicksal im Sinne eines ihn zwingenden Loses bedeutet. 110   B 1, 939,13–16. 111   So bereits Ernst Albin Bergmann: „Niemand wird sich durch den hohen Ausdruck und das Citat aus Menander oder Plutarch zu der Annahme verleiten lassen, Lessing habe Christum für den Sohn Gottes passieren lassen wollen […] Dieser zweifelhafte deus ex machina ist gerade Lessing zweifelhaft“ (Bergmann 1883, 9). 112   In Teil II A (s. Gliederung) der Gedanken heißt es: „Er [sc. der sokratische Weltweise unserer Tage] lehrte uns endlich, dem Tode unerschrocken unter die Augen gehen, und durch einen willigen Abtritt von diesem Schauplatze beweisen, daß man überzeugt sei, die Weisheit würde uns die Maske nicht ablegen heißen, wenn wir unsere Rolle nicht geendigt hätten“ (B1, 942,32–37). Überhaupt „nimmt das Fragment am Ende einen beinahe komödienhaften Ton an; deutlich zeichnen sich hinter der Wissenschaftskritik die Konturen der Gelehrtensatire ab“ (Fick 2016, 124).

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fliktes“.113 In diesem Sinne kann das Auftreten Christi, können Tugendhaftigkeit und Lauterkeit seines Lebens und Lehrens ja gerade nicht aus der Dekadenz der universalgeschichtlichen Entwicklung abgeleitet werden; als Lichtgestalt in globaler Dunkelheit verfügt vielmehr auch der Lessingsche Christus über gewisse Sonderkapazitäten. Gleichzeitig aber – und dies gilt es zu beachten – ist seine Funktion von der des Sokrates (sowie auch des später noch in Szene gesetzten sokratischen Weltweisen) „nicht wesentlich verschieden“.114 Mit einem Wort: Obschon Christus auch in den Gedanken als eine Ausnahmegestalt zur Geltung gebracht wird, werden gleichwohl – und zwar in höchst unorthodoxer Weise – seine Person und auch sein Werk in ihrer absoluten Einmaligkeit und Unüberbietbarkeit relativiert. Eine solche Lesart scheint denn auch besser mit der Intention des folgenden Satzes zusammenzustimmen: „Man vergönne mir, daß ich ihn [sc. Christus] hier nur als einen von Gott erleuchteten Lehrer ansehen darf.“115 Indem diese Aussage am Ende des von Christus handelnden Abschnitts noch einmal wiederholt wird, bildet sie gewissermaßen einen Interpretationsrahmen um die entsprechenden Ausführungen: „Ich sage es noch einmal, ich betrachte hier Christum nur als einen von Gott erleuchteten Lehrer. Ich lehne aber alle schreckliche Folgerungen von mir ab, welche die Bosheit daraus ziehen könnte.“116 Für den letzten der zitierten Sätze schlägt Karl Aner die folgende Deutung vor: Es lag doch wahrhaftig kein Grund zu dieser Versicherung vor. Auch die Orthodoxie redete im locus de munere prophetico von Christus als gotterleuchtetem Lehrer. Daß er [sc. Lessing] jene Verwahrung ausspricht, ist Journalistentrick: er will darauf aufmerksam machen, daß hier ein Problem vorliegt. Das „hier nur“ ist ein Wegweiser zum „überhaupt nur“. Es ist mir nicht zweifelhaft, daß dies „überhaupt nur“ schon für Lessing galt[.]117

Erinnern wir uns daran, dass echte Überzeugung für Lessing nur über den Weg des Zweifels zu erlangen ist118; und machen wir uns darüber hinaus bewusst, dass die Gedanken gleichsam die ersten Schritte auf diesem Wege dokumentieren, dass hier, im Sinne einer „vorurteilsfreien“ Prüfung, also alle vermeintlichen Gewissheiten – so auch die von der Gottheit Jesu Christi – (wenigstens vorerst) in Zweifel zu ziehen sind, so erscheint es durchaus plausibel, die Lessingschen Ausführungen mit Karl Aner im Sinne einer Minimal113

  Balme 2007, 625.   Vgl. v. Lüpke 1989, 53f. 115   B 1, 939,16f. 116   B 1, 939, 29–32. 117   Aner 1929, 173f. (Hervorh. i. O.). – In der neueren Forschung scheint sich diese Deutung weitgehend durchgesetzt zu haben; so liest u.a. Nisbet die Äußerung Lessings als „ganz bewußt arianisch (oder unitarisch)“ (Nisbet 2008, 179). 118   Vgl. Brief Nr. 21 (An Johann Gottfried Lessing; 30. Mai 1749), in: B 11/1, 25–28. Hier: 26,16–19. 114

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christologie, sprich: des „überhaupt nur“ – oder präziser: des „vorerst nur“ – zu deuten. Unterstützt wird eine solche Lesart ferner durch die obige, durch Kontrastierung mit Röm 5 gewonnene Interpretation, mit Lessings Adamsdeutung sei die biblische Rede von dem Einen, durch dessen Sünde die Verdammnis über alle Menschen gekommen ist, obsolet. Denn damit ist einer der Grundpfeiler, auf dem die traditionelle Soteriologie und mit ihr zugleich auch die Christologie gründen, abgebrochen, und so droht nun nicht weniger als das ganze Gebäude einzustürzen: Wenn Adam nicht gesündigt hat, dann ist ebenso wenig durch die Sünde des Einen die Verdammnis über alle Menschen gekommen; und so muss auch nicht durch die Gerechtigkeit des Einen – nämlich Christi – für alle Menschen die Rechtfertigung kommen, die zum Leben führt.119 – ‚Alle schrecklichen Folgerungen‘ also, welche ‚die Bosheit‘ aus dem „hier nur“ ziehen könnte, hat Lessing selbst längst – wenngleich auch nur vorerst? – gezogen.120 Christus ist kein Offenbarer – wenigstens nicht im Sinne der biblischen bzw. dogmatischen Tradition –, und noch viel weniger die Selbstoffenbarung Gottes schlechthin.121 Und da die Menschheit keiner Erlösung bedarf, ist er auch nicht der Heiland der Welt. Christus ist – wenngleich als von Gott Erleuchteter eine Ausnahmegestalt122 , so doch – nur ein Lehrer.123 Es liegt demnach in 119

 Vgl. Röm 5,18 (zur Adam-Christus-Typologie insgesamt Röm 5,12–21 und 1Kor 15,20–28). – Hierin bestätigt sich die Einschätzung Monika Ficks, es handle sich bei den Gedanken um ein „Dokument für die ‚anthropozentrische Wende‘ der Zeit“ (Fick 2016, 124). Demnach manifestiere sich diese Wende für Lessing v.a. in der „Auffassung, dass der Mensch von sich aus dazu fähig sei, das Gute zu erkennen und ein befriedigendes Zusammenleben für alle zu realisieren, mit anderen Worten: [in der] Zurückweisung der Vorstellung, der Mensch sei auf die göttliche Gnade angewiesen“ (aaO., 20). – Die antiorthodoxen Konsequenzen dieser anthropozentrischen Wende werden spätestens in der unten gegebenen Interpretation des zweiten Teils der Gedanken deutlich werden. 120   Gegen Beyreuthers Versuch, diese Aussagen in ihrer Heterodoxie abzuschwächen (vgl. Beyreuther 1975, 92). – Auch für Schneider zeigt sich hier „nur zu deutlich […], dass Lessing in ihm [sc. Christus] nicht nur hypothetisch, sondern auch tatsächlich bloss einen Lehrer sieht“ (Schneider 1953, 72). Mit Schilson sei bereits hier darauf hingewiesen, dass Lessing „mit der Lehre von der Göttlichkeit Jesu […] zeitlebens in mehr oder weniger offenem Widerstreit“ liegt (Schilson 1974, 272). 121   Christus ist (gemäß ausgeführtem Verständnis) nicht der logos ensarkos. In und durch Christus offenbart sich das Göttliche lediglich insofern, als in und durch ihn die natürliche Vernunft wieder eine Stimme erhält. 122   Präzise formuliert, ist Christus nicht „als von Gott Erleuchteter eine Ausnahmegestalt“: So ist nach obigem Verständnis von Offenbarung als einer Illumination der natürlichen Vernunft jeder Mensch qua Vernunft ein „von Gott Erleuchteter“, wobei die Lichtmetapher den Illuminationscharakter von Offenbarung noch einmal unterstreicht. Die Sonderstellung Christi gründet vielmehr darin, dass er inmitten der Finsternis seiner Zeit das jedem Menschen anerschaffene göttliche Licht wieder erstrahlen lässt und so „die Welt aus ihrer Dunkelheit reiß[t]“. 123   Noch einmal Bergmann: „[E]hrlich setzt er [sc. Lessing] hier und immer Christum nur als einen von Gott erleuchteten Lehrer, wie Sokrates und Moses auch. Es ist die Auffassung

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der Konsequenz der Sache, wenn nach Lessingscher Deutung Christus auch nichts „Neues“ brachte.124 Für ihn bedeutet Christus vielmehr die Restitution des Allerältesten, des Ursprungs: der „Religion des Adams“. Deren Einfachheit, Leichtigkeit und Lebendigkeit wiederherzustellen, allein darauf zielten seine Bemühungen125:

des edleren Rationalismus, wie später bei Kant. Christus ist ihm nur das Symbol und der Träger der Majestät der sittlichen Idee“ (Bergmann 1883, 9f.). – Freilich folgt Lessing auch in der christologischen Frage bereits ausgetretenen Pfaden: Einem Jahrhundert, in dessen Verlauf die „einzelnen dogmatischen Loci […] sich zunehmend an dem […] Leitkriterium der rationalen Evidenz zu bewähren“ hatten und in welchem „die zeitgenössische Philosophie […] neben der formalen auch die materiale Gestalt der Dogmatik zu prägen“ begann (Beutel 2009, 221), musste die traditionelle Christusverkündigung als ein Skandalon gelten. 124   Vgl. Goerges Pons: „Der Leser des Fragments hat tatsächlich den Eindruck, Lessing lasse wenn nicht die Nützlichkeit, ja die Notwendigkeit des Eingreifens Jesu, so doch zumindest die Originalität und die eventuelle Überlegenheit seiner Lehre beiseite und gebe sich mit der deistischen These der ‚Genügsamkeit‘ der natürlichen Religion zufrieden: Von der christlichen These einer progressiven, in übervernünftigen Glaubenssätzen gipfelnden Offenbarung bleibt hier keine Spur“ (Pons 1980, 395f.). 125   Ganz analog hierzu lautet auch die Haupt-These Tindals, wie sie bereits im vollständigen Titel seiner Schrift formuliert wird: Christianity as Old as the Creation, or, the Gospel, a Republication of the Religion of Nature. In diesem Sinne kann der Vernünftige nicht umhin, zu erkennen, „that the Design of the Gospel was not to add to, or take from this Law [of Nature, or Reason; D.Z.]; but to free Man from that Load of Superstition which had been mix’d with it: So that TRUE CHRISTIANITY is not a Religion of Yesterday, but what God, at the Beginning, dictated, and still continues to dictate to Christians, as well as others“ (Tindal, Christianity as Old as the Creation, 7f.). Angesichts der inhaltlichen Iden­ tität von ‚wahrem Christentum‘ und natürlicher Religion wird ihr Unterschied lediglich formal, nämlich in der Art und Weise ihrer Mitteilung begründet: „The one being the Internal, as the other the External Revelation of the same unchangeable Will of a Being, who is alike at all times infinitely wise and good“ (aaO., 2). Hätten die Menschen zu allen Zeiten das ihnen ins Herz geschriebene Gesetz der natürlichen Religion beobachtet, so hätte es der ‚äußeren Offenbarung‘ gar nicht erst bedurft: „[…] had Mankind observ’d them [sc. the Rules God gave them], there cou’d have been no Occasion for an external Revelation: and its great Use now is, to make Men observe those neglected Rules, which God, of his infinite Wisdom and Goodness, design’d for their present, and future Happiness“ (aaO.,172). – Ungeachtet aller sichtbaren Früchte solcher „external Revelation“ betont Tindal – in seiner Auseinandersetzung mit Samuel Clarke –, dass eine Offenbarung in der Geschichte zu keiner Zeit im strikten Sinne notwendig („absolutely necessary“) habe sein können noch irgendeinmal sein könnte (vgl. aaO., 339f.). Freilich setzt die von Tindal vertretene optimistischere Einschätzung der menschlichen Fähigkeiten ihrerseits eine wesentlich abgeschwächte Hamartiologie voraus (vgl. ebd.). – Schilson bringt (ohne Tindal als Referenz zu nennen) ebenfalls einen kurzen Hinweis auf solche Analogie: „Christus als der große Lehrer und Wiederhersteller der fast verlorenen natürlichen Religion – in dieser Deutung unterscheidet sich Lessing kaum vom deistischen Christusverständnis […]“ (Schilson 1974, 271). Auch Multhammer spricht von „sehr deistisch geprägte[n] Gedanken“ (Multhammer 2013, 218 Anm. 325).

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Waren seine Absichten etwas anders, als die Religion in ihrer Lauterkeit[126] wieder herzu­stellen, und sie in diejenigen Grenzen einzuschließen[127], in welchen sie desto heilsamere und allgemeinere Wirkungen hervorbringt [128], je enger die Grenzen sind?129

Diesen seinen Absichten gemäß wird die Verkündigung Christi im Jesuswort aus Joh 4,24 zusammengefasst: „Gott ist ein Geist, den sollt ihr im Geist anbeten.“130 Die Religion, deren Lehre sich in diesem einen Satz konzentriert, ist einfach, verbietet doch die Anbetung im Geist jegliche Form eines äußeren Kultes. Indem nun die vorchristlichen positiven Religionen – von denen im Text ja lediglich das Judentum explizite Erwähnung findet131 – sich in erster Linie aufgrund ihrer je eigenen Gebräuche voneinander unterschieden, nimmt dieser Lehrsatz dasjenige weg, was am augenscheinlichsten trennt.132 Positiv formuliert ist er wie kein zweiter dazu vermögend, „alle Arten der Religion zu verbin126   Lauterkeit meint hier Einfachheit, wie wir sie oben definiert haben, nämlich rein von (willkürlicher) Hinzufügung irgendwelcher Lehren und frei von der Verbindung mit einem ihr ganz und gar äußerlichen Kult. 127   Die Religion wieder in engere Grenzen einzuschließen, heißt, sie wieder auf ihre selbstevidente und als solche für jedermann leicht fassliche, natürliche Gestalt zurechtzubringen. 128   Als wiederbelebte bringt die Religion dann wieder heilsame und allgemeine Wirkungen hervor. 129   B 1, 939,18–22. 130   B 1, 939,22f. 131   Nämlich in der Rede von den „Nachkommen Abrahams“ (s.o.). 132   Freilich gehören hierzu – neben dem je spezifischen religiösen Ritus – auch die in Willkür gesetzten und also unvernünftigen Lehren: Es wurde ja in allen positiven Religionen das „Wesentliche […] in einer Sündflut von willkürlichen Sätzen versenkt“. Insofern vermag das von Lessing zitierte Jesuswort nicht allein die Einfachheit der Religion wiederherzustellen, sondern auch deren Leichtigkeit. Multhammer zeigt dies anhand der Trinitätslehre auf: „Wenn Gott Geist ist, so folgt daraus unmittelbar, dass Jesus eben nicht der fleischgewordene Sohn Gottes ist, und es ist der Geist, der angebetet werden soll.“ Mit solcher „Ablehnung der Heiligen Dreieinigkeit“ aber bestreitet Lessing zugleich einen der Hauptgegenstände der „gelehrten Sophistereien“ orthodoxer Theologie: „Dass drei Personen wesensgleich und somit eine sind, dabei jedoch unterschieden, ist nicht gerade selbstevident. Um diesen Umstand plausibel zu machen, bedarf es einiges an gelehrter Argumentation“ (Multhammer 2013, 213f.). Hierzu sei in aller Kürze angemerkt: Sollte die von Multhammer unmittelbar aus der Bestimmung Gottes als Geist gezogene Schlussfolgerung, bei Jesus könne es sich unmöglich um den fleischgewordenen Sohn Gottes handeln, tatsächlich auch für Lessing impliziert sein (was die oben vertretene Deutung der Lessingschen Christologie ja lediglich unterstreichen würde!), so kann dies unmöglich für den ursprünglichen Kontext des hier zitierten Jesuswortes gelten: Denn dass eben dieser als Geist zu bestimmende Gott in seinem Sohn Jesus Christus „Fleisch ward“, steht gewissermaßen als Überschrift über dem Johannesevangelium (Joh 1,14). – Wie Lessing, so meint auch Tindal v.a. in den Mysterien sowie im religiösen Brauchtum die Wurzel des Übels erkennen zu können: „THERE are two ways which never fail to make Superstition prevail; Mysteries to asume the Enthusiasts, especially the Pretenders to deep Learning, and all that admire what they do not understand; and gaudy Shews and pompous Ceremonies, to bewitch the Vulgar“ (Tindal, Christianity as Old as the Creation, 150).

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den“.133 Diese Verbindung aber oder: das wahre Christentum134 ist die universale, die natürliche Religion.135 Und „diese Verbindung war es, welche Priester und Schriftgelehrte wider ihn erbitterte“.136 So sollte auch Christus die Wahrheit mit seinem Tode besiegeln.137 Dass mit dem Auftreten Christi noch keinerlei Versöhnung zwischen Vernunft und Geschichte erreicht ist, wird mindestens in zweierlei Hinsicht deutlich: Zum einen ist sein Kommen (als das eines Deus ex machina) aus der Geschichte keineswegs ableitbar; im Gegenteil setzt die Religionsgeschichte mit ihm – als einem zweiten Adam – noch einmal „bei Null an“.138 Zum anderen vermag es die Geschichte nicht, nach ihrem Neustart bei ­– oder besser in – der von Christus bezeugten unwandelbaren, weil natürlichen Vernunft-Wahrheit zu beharren; vielmehr kehrt sie sich – in ihrer Unvernunft – abermals von der Wahrheit ab und bringt so ihre Opposition zur Vernunft erneut ans Licht. 133

  B 1, 939,24.   Zum Begriff des ‚wahren Christentums‘ vgl. Lessings Rede vom „wahre[n] Christ[en]“ (B 1, 942,2). 135   Vgl. v. Lüpke 1989, 53. 136   B 1, 939,25f. 137   Die in den Gedanken gegenüber der theologischen Tradition vollzogene starke Relativierung von Person und Werk Christi findet, wie bereits erwähnt, auch in der Parallelisierung von Sokrates und Christus ihren Ausdruck: der eine ein Sprachrohr Gottes, der andere ein „von Gott erleuchtete[r] Lehrer“; der eine führt die Philosophiegeschichte auf ihren Höhepunkt, der andere die Geschichte der Religion; beide treten auf als Zeugen der Wahrheit und besiegeln diese mit ihrem Tod. In diesem Sinne könnte auch die oben zitierte Rede von den „Jüngern“ des Sokrates darauf zielen, die Analogielosigkeit Christi zu bestreiten: Christus ist nicht mehr als ein Sokrates der Religionsgeschichte. Oder, mit Bergmann gesprochen: Für Lessing „ist der echte Weltweise zugleich der echte Religiöse“ (Bergmann 1883, 12). – Zur vorgeschlagenen antidogmatischen Christusdeutung in Lessings Gedanken passen – gerade im Kontext der Parallelisierung von Sokrates und Christus – auch die folgenden Ausführungen Benno Böhms: „Sokratisch soll wie christlich Ausdruck einer Kultur werden, Sokratismus das Christentum ablösen, sokratische Wissenschaft wie früher die christliche die Gesamtheit des geistigen Lebens umfassen; ein neues Lebensgefühl ohne die Demut des christlichen Sündenbewußtseins mit dem Freiheitsanspruch des autonomen Menschen schafft sich seine Welt. Und zieht man sich jetzt auf christlicher Seite gegenüber dem Rationalismus immer mehr auf das eigentlich Christliche, die Person Christi, seine Wunder als Beglaubigung seiner göttlichen Sendung und auf den Glauben an ewige Seligkeit und Unsterblichkeit zurück, so führt von sokratischer Seite aus der Vorgang der Selbstbefreiung zu einer grundsätzlichen Gegenüberstellung der metaphysischen Werte, die in beiden Gedankenkreisen liegen, mit dem Ziel, die christlichen Werte durch die Gegenüberstellung mit den sokratisch-rationalen ihrer einzigartigen Stellung zu entkleiden. Das ist der Sinn jener Vergleiche, die alle die metaphysischen Hauptfragen streifen, des Vergleichs der Stifter der beiden Bekenntnisse, der Problemlösungen der Unsterblichkeit und der Seligkeit; alles nicht allgemein-philosophische Erörterungen, sondern zunächst Dogmafragen des Christentums“ (Böhm 1966, 134f.). Obgleich Lessing hier den Sokrates-Christus-Vergleich nicht anhand dogmatischer Probleme aufzieht, dient die Parallelisierung beider ‚Figuren‘ doch dazu, Christus (und damit zugleich auch das positive, geschichtliche Christentum) in seiner „einzigartigen Stellung zu entkleiden“. 138   Vgl. Multhammer 2013, 213. 134

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Auf eine kurze Phase der Treue gegenüber der (natürlichen Vernunft-)Lehre Christi folgt ein kaum aufzuhaltender Abwärtstrend. Diese kurze Phase der Treue aber bildete die Zeit der ersten Christen. D.h. die Restitution der „Religion in ihrer Lauterkeit“ ist Christus als einem „von Gott erleuchteten Lehrer“ wenigsten insofern gelungen, als das erste Jahrhundert „so glücklich [war] Leute zu sehen, die in der strengsten Tugend einhergiengen“139 und die – wie Christus (und auch Sokrates!) – bereit waren, ja sich gar „um die Wette bestrebten, die Wahrheit mit ihrem Blute zu versiegeln“.140 Es ist für Lessing eben diese in Tugendhaftigkeit sich äußernde Lebendigkeit der Religion, welche in der Verfolgungssituation der ersten Jahrhunderte der christlichen Religion „diejenige Schärfe zu geben [vermochte], der wenig Feinde zu widerstehen fähig sind“.141 Doch unterliegt auch die christliche Religion den allgemeinen Regeln der Geschichte: Das Schwert nutzt man im Kriege, und im Frieden trägt man es zur Zierde. Im Kriege sorgt man nur, daß es scharf ist. Im Frieden putzt man es aus, und giebt ihm durch Gold und Edelsteine einen falschen Wert.142

Sobald sich das Blatt wendete, sobald die natürliche Religion Christi, statt weiteren Verfolgungen ausgesetzt zu sein, zur Staatsreligion erhoben und als Christentum in geschichtliche Positivität versetzt wurde, „so bald fiel sie [sc. die Kirche] darauf, ihre Religion auszuschmücken“143: Das Wesentliche, ihren wahren Wert, nämlich Tugendhaftigkeit und „heilige[] Lebensart“144, tauschte sie ein gegen den falschen Wert einer Systematisierung und Dogmatisierung ihrer Lehren sowie deren philosophischer Apologetik.145 Kurz: Ihrem Hang zum Vernünfteln erliegend, vernachlässigte auch sie das Tun. – Die natürliche Religion als die Religion sowohl Adams wie auch Christi wurde durch willkürliche Ausschmückung in ihrer ‚Einfachheit‘ aufgesprengt und durch Systematisierung bzw. Verkomplizierung in ihrer ‚Leichtigkeit‘ zerstört. So verlor das Christentum in seiner Positivität zunehmend an ‚Lebendigkeit‘. Diese Tendenz der alten Kirche setzte sich dann in der mittelalterlichen, römisch-dominierten Kirche fort. Nur, dass sich hier zudem noch die „verab139

  B 1, 939,33f.   B 1, 939,36f. 141   B 1, 940,15f. – Wenn hier die entwaffnende Wirkung eines „unsträfliche[n] und wunderbare[n] Leben[s]“ (aaO., Z. 14) betont wird, so erinnert dies stark an Lessings Forderung im 103. Stück der BPZ, „den Witz der [Religions-] Spötter […] durch ein Leben, welches der Geist der Religion beherrscht, […] zu entwaffnen“ (B 2, 181,1ff.). 142   B 1, 940,9–12. 143   B 1, 940,16f. 144   B 1, 940,4. 145   Die Religion auszuschmücken, heißt demnach: „ihre Lehrsätze in eine gewisse Ordnung zu bringen, und die göttliche Wahrheit mit menschlichen Beweisen zu unterstützen“ (B1, 940,17–19). 140

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scheuungswürdige[]“146 ‚Gewissenstyrannei‘ Roms dazugesellte, die sich in der Macht des Papstes konzentrierte: Ich wollte nur wünschen, daß ich meinen Leser Schritt vor Schritt durch alle Jahrhunderte führen und ihm zeigen könnte, wie das ausübende Christentum von Tag zu Tag abgenommen hat, da unterdessen das beschauende durch phantastische Grillen und menschliche Erweiterungen zu einer Höhe stieg, zu welcher der Aberglaube noch nie eine Religion gebracht hat. Alles hieng von einem Einzigen ab, der desto öfterer [sic!] irrte, je sicherer er irren konnte.147

Die am Ende dieser Periode festzustellende historische Situation schreit so sehr nach einer Lösung, wie wenig sie aufgrund der dekadenten Entwicklung erwartet werden kann. Doch erzeugte gerade diese Bewegung eine ihr entgegenwirkende Tendenz: „Der menschliche Verstand läßt sich zwar ein Joch auflegen; so bald man es ihm [sic!] aber zu sehr fühlen läßt, so bald schüttelt er es ab.“148 Es sind Johann Hus und andere Vorboten der Reformation, „die in diesen unwürdigen Zeiten zuerst wieder mit ihren eigenen Augen sehen wollten“.149 Was Männer wie Hus begannen, vollendeten die Reformatoren. In dieser Deutungsperspektive erscheint die Reformation vorrangig als Vernunftbewegung und somit als Vorläuferin der Aufklärung.150 Sie brachte den Aberglauben, wie er in den Jahrhunderten römischer ‚Tyrannei‘ zu höchster Blüte gelangen konnte, zu Fall. Doch obwohl die reformatorischen Bemühungen darauf zielten, die Religion von allen „phantastische[n] Grillen und menschliche[n] Erweiterungen“ zu reinigen, die Reformation also in dieser Hinsicht als eine Bewegung hin zu ursprünglicher ‚Einfachheit‘ begriffen werden kann, blieb sie doch weit hinter ihren Möglichkeiten zurück: Anstatt „die Religion in ihrem eigentümlichen 146

  B 1, 940,25.   B 1, 940,29–37. – Die eingangs aufgestellte Hypothese, Lessing habe seine Gedanken unter dem Eindruck von Rousseaus Discours verfasst, scheint durch den unmittelbaren Kontext des eben Zitierten weiter unterfüttert werden zu können. So sieht Lessing „die vornehmste Ursache, warum das römische Reich von einem Kaiser zu dem andern immer mehr und mehr fiel“ (B 1, 940,26–28), darin, dass „Rom, das vorher allen besiegten Völkern ihre väterlichen Götter ließ, […] auf einmal zu einem verabscheuungswürdigen Tyrannen der Gewissen“ wurde (B 1, 940,21f.24f.). Dass Lessing mit dieser Deutungshypothese tatsächlich und bewusst eine Alternative zu Rousseaus Interpretation (der Niedergang Roms liege in der Aufnahme und Pflege der Wissenschaften und Künste begründet) ins Spiel bringen möchte, scheint dadurch noch zusätzlich bekräftigt werden zu können, dass er diesen kurzen Exkurs mit den Worten beschließt: „Doch diese Betrachtung gehöret nicht zu meinem Zweck“ (B 1, 940,28f.). Man könnte also fragen, warum Lessing dann überhaupt diese Betrachtung hier anstellt – wenn nicht, um Rousseau zu widersprechen? 148   B 1, 941,2–5. 149   B 1, 941,1f. 150   Insofern muss das aufklärerische Urteil über die Reformatoren differenziert ausfallen, will es nicht ungerecht sein: „Selige Männer [gemeint sind Luther und Zwingli; D.Z.], die undankbaren Nachkommen [sc. die Aufklärer?] sehen bei eurem Lichte, und verachten euch“ (B 1, 941,14–16). 147

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Glanze wieder herzustellen“151, gerieten Luther und Zwingli über die Abendmahlsfrage in einen unseligen Streit. Indem es dabei um die rechte Lehre ging, handelte es sich in der Logik der Gedanken um einen Streit „über Worte, über ein Nichts“.152 Wie zuvor schon die cartesianische Philosophie, so erhält also auch die Reformation eine ambivalente Beurteilung. Indem sie ihren Fokus auf die Rechtgläubigkeit verlegte, wurde sie durch die Vernunft, „die so schwer in ihrer Sphäre zu erhalten ist“153, zwar weg vom alten Aberglauben, doch auf einen andern „Irrweg“ geführt, nämlich den des sola fide.154 Dieser Irrweg war „zwar weniger von der Wahrheit, doch desto weiter von der Ausübung der Pflichten eines Christen entfernt“.155 – In ihrer Gelehrsamkeit sollten die Theologen der altprotestantischen Orthodoxie ihm mit noch größerer Konsequenz folgen.156 Noch härter geht Lessing mit den neu aufgekommenen Formen protestantischer Theologie ins Gericht. Gemeint sind akademische Ausprägungen wie der theologische Wolffianismus oder die Neologie, wenn in ironischem Ton von einer „so vortreffliche[n] Zusammensetzung von Gottesgelahrtheit und Weltweisheit“ die Rede ist, „worinne man mit Mühe und Not eine von der andern unterscheiden kann, worinne eine die andere schwächt“.157 Denn während noch die ursprüngliche Religion in ihrer Lauterkeit und Natürlichkeit sich durch intuitive, leichte Fasslichkeit auszeichnete und in ihrer Lebendigkeit den ganzen Menschen – also auch und vor allem sein Handeln als Ausdruck eben dieses ganzen Menschen – bestimmte, fordert die theologische Methode nun, „den Glauben durch [philosophische] Beweise [zu] erzwingen“.158 Als ein Akt intellektueller Bestätigung rational bewiesener Lehren mutiert der Glaube so aber zu einer Sache des reinen Denkens, losgelöst von Gefühl und Willen. – Und 151

  B 1, 941,12f. – In diesem Sinne erhebt die Re-formation ja gerade den Anspruch, „das Christentum in seiner Ursprungsgestalt wiederherzustellen“ (Kaufmann 2017, 175). 152   B 1, 941,11. 153   B 1, 941,26f. 154   Das Problem des reformatorischen sola fide besteht für Lessing wohl darin, dass Glauben und Handeln in ihrer Einheit zerstört werden, indem lediglich ersterem – und zwar im Sinne eines bloß theoretischen Wissens oder Fürwahrhaltens, mithin einer Operation der theoretischen oder spekulativen Vernunft (nämlich der Vernunft, „die so schwer in ihrer Sphäre zu erhalten ist“) – im Rechtfertigungsgeschehen Relevanz beigemessen wird. Durch solches Übergewicht des Glaubens gegenüber den Werken läuft der Glaubende Gefahr, sich nicht länger als ganzer Mensch, d.h. als zum Handeln bestimmtes vernünftiges Wesen angesprochen zu fühlen. – Freilich zielt solche Kritik am spezifisch (biblisch-) reformatorischen Glaubensverständnis vorbei (vgl. Schneider 1953, 74). 155   B 1, 941,28–30. 156   Diese in der Reformation vermeintlich vorgenommene Fokussierung der christlichen Religiosität auf den (theoretischen) Glauben kulminiert nach Darstellung der Gedanken dann in der „absoluten Identifikation der Religion mit den systematischen Lehrbüchern“ in der altprotestantisch-orthodoxen Theologie (vgl. Hüskens-Hasselbeck 1978, 101). 157   B 1, 941,32–36. 158   B 1, 941,36f.

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während noch die älteste Philosophie aus solchen Wahrheiten bestand, „die jeder fassen, aber nicht jeder üben kann“159, Wahrheiten, die in freier Vernunfttätigkeit gewonnen wurden und unabhängig von religiösen Anschauungen Gültigkeit und Akzeptanz besaßen, soll nun die „Gottesgelahrtheit“ ihrerseits die philosophischen „Beweise durch den Glauben unterstützen“.160 Damit hat die christliche Theologie, wie auch die Philosophie, mit der Aufklärung ihren Tiefpunkt erreicht: [D]urch diese verkehrte Art, das Christentum zu lehren, [ist] ein wahrer Christ weit seltner, als in den dunklen Zeiten geworden. Der Erkenntnis nach sind wir Engel, und dem Leben nach Teufel.161

Mit Blick auf den religionsgeschichtlichen Abriss der Gedanken (Teil I B) sollen folgende Ergebnisse festgehalten werden: Bereits diese erste Marke auf Lessings „Weg der Untersuchung“ zeigt, wie weit sich der im orthodoxen Luthertum erzogene Pastorensohn schon hier von seiner ideellen Heimat entfernt hat.162 So wird im Rahmen eines Offenbarungsverständnisses, das Offenbarung im Sinne einer Illumination der menschlichen Vernunft – und eben nicht (mehr) als Manifestation einer vom Menschen im Glauben anzunehmenden, supranatural kommunizierten Lehre – begreift, die natürliche Religion zum Ideal der Religion schlechthin erhoben. Ihre Idealität manifestiert sich dabei in doppelter Hinsicht: erstens in ihrer ausgewogenen Ökonomie von Einfachheit, Leichtigkeit und Lebendigkeit, die sie zu einer Angelegenheit des ganzen Menschen macht; und zweitens in ihrer Unüberbietbarkeit, die ihrerseits in der Unwandelbarkeit der – göttlich illuminierten – Vernunft gründet. Gemessen an diesem Ideal werden dann, in einem zweiten Schritt, die geschichtlichen, positiven Religionen als willkürliche, menschliche Setzungen kritisiert. Substanz erhält solche Kritik durch die religionsgeschichtliche Explikation der These, indem also gezeigt wird, wie der (nachadamitische) Mensch in seiner „Bosheit“ und „Verwegenheit“ entweder dem Drang zum „Vernünfteln“ erliegt und die eigentlich ihn als ganzen betreffende Religion zu einer Angelegenheit insbesondere der theoretischen – d.h. von der Dimension konkreten Handelns und Sichverhaltens emanzipierten – Vernunft macht oder aber sie als Experimentierfeld für (willkürliche) kultische Handlungen missbraucht. Kurz: In der (vorherrschend) „anthropozentrischen“ Geschichtsbetrachtung163 der Gedanken wird der Mensch in seinem schöpfungsungemäßen oder widernatürlichen Existenzvollzug zum Motor der Geschichte und – in der Konsequenz – Geschichte zur 159

  B 1, 936,35f.   B 1, 941,37. – Vgl. v. Lüpke 1989, 45f. 161   B 1, 942,1–4. 162   Besonders drastisch formuliert Schneider, wenn er Lessing hier als „ein[en] antiorthodoxe[n] Dogmenfeind“ bezeichnet (Schneider 1953, 77). 163   Vgl. Schilson 1974, 57. 160

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Unheilsgeschichte.164 Mit anderen Worten: Die (Religions-)Geschichte – als das Resultat menschlicher Willkür – wird in all ihren Wechseln zum Gegenkandidaten der unwandelbaren und also geschichtslosen Vernunft(sreligion) göttlichen Ursprungs. Die Lokalisierung der Wahrheit in der natürlichen Religion und somit jenseits der Geschichte führt fernerhin zur Aufgabe theologisch zentraler Lehren aus dem Bereich der Hamartiologie, der Christologie sowie der Soteriologie. In diesem Sinne konnte gezeigt werden, dass mit der These von der (absoluten) Suffizienz der natürlichen Religion und der damit verbundenen Unmöglichkeit einer sie überbietenden göttlichen Offenbarung in der Geschichte eine Umdeutung von Person und Werk Christi einhergeht. Demnach zielt die Sendung dieses „von Gott erleuchteten Lehrer[s]“ allein auf die Restitution der natürlichen Religion in ihrer Ursprünglichkeit und Lauterkeit. Was sich im tradierten Christentum darüber hinaus an dogmatisch artikulierten Lehren und äußerlichen Gebräuchen (bzw. Symbolen) findet, ist demnach – in seiner Willkür und Unvernunft – bloß historisch und infolgedessen als eine Setzung des Menschen zu kritisieren, der auch hier das Wesentliche „in einer Sündflut von willkürlichen Sätzen versenkt“ und so die heilsame Ökonomie der natürlichen Religion zerstört (hat). Angesichts der vernichtenden Diagnose am Ende des ersten Teils der Gedanken – es sei „durch diese verkehrte Art, das Christentum zu lehren, ein wahrer Christ weit seltner, als in den dunklen Zeiten geworden“ – erscheint ein Entkommen der Menschheit aus den Fängen ihrer selbsterzeugten Unheils-Geschichte geradezu als unmöglich. Und doch hat Lessing, aller geschichtlichen Dekadenz zum Trotz, die Hoffnung darauf noch nicht aufgegeben. Denn obgleich der Mensch in dieser von ihm heraufbeschworenen „Sündflut“ zu ertrinken droht – nämlich insofern er als geschichtlicher Akteur „allezeit“ und in vorsätzlicher Aktivität den ihn umgebenden Wirklichkeitszusammenhang als Unheils-Geschichte bestätigt –, bleibt er doch substantiell – als Vernunftwesen – aus diesem Unheils-Zusammenhang herausgelöst.165 Mit anderen Worten: 164   Freilich ist „Unheilsgeschichte“ kein von Lessing selbst gebrauchter Begriff; auch soll er nicht in radikalem Gegensatz zu (traditionellen) heilsgeschichtlichen Vorstellungen aufgefasst werden. Denn aller Fokussierung auf die (unheilvolle) Geschichtsmächtigkeit des (ungehorsamen) Menschen zum Trotz handelt es sich bei der Geschichte auch nach Ansicht der Gedanken mitnichten um eine „vorherbestimmte[] Dekadenzgeschichte“. In diesem Sinne ist „der theologische Horizont“ – wenngleich im Hintergrund, so doch – auch hier nicht gänzlich ausgeblendet; „in der axiomatisch-grundlegenden Umschreibung eines Schöpfungsauftrages des Menschen und dessen Verkehrung“ bleibt er vielmehr thematisch angesprochen (vgl. Schilson 1974, 56). 165   So jedenfalls lehrt es uns Lessing unter der Chiffre ‚Adams‘ (vgl. B 1, 938,35f.). Für den nachadamitischen Menschen bedeutet dies, dass sich der Graben zwischen Vernunft und Geschichte gewissermaßen als Riss in ihm fortsetzt. – Auf die Gleichzeitigkeit von „miß-

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In ihrer Geschichtslosigkeit und Unwandelbarkeit schwebt die natürliche Vernunft gewissermaßen über der Finsternis des geschichtlichen Chaos. Besinnt sich der Mensch auf sie, lässt er sich von ihrem göttlichen Licht – aufgerufen durch einen Christus oder Sokrates – auf den Weg der Wahrheit zurückführen, so gelingt ihm das scheinbar Unmögliche: sich am eigenen Schopfe aus dem Sumpf der Unwahrheit zu ziehen.166

2.3 Appell an die Zeitgenossen Teil II der Gedanken muss in der Logik der These in ihrem weiteren Kontext verstanden werden. Wie oben ausgeführt, scheint Lessing in ihrer Begründung zwar zunächst der traditionellen Hamartiologie zu folgen; bei genauerem Hinsehen jedoch zeigt sich, dass er durch die Verschiebung des „Sündenfalls“ in nachadamitische Zeit die traditionelle Erbsündenlehre längst verworfen hat. Indem nun nicht mehr in dem Einen alle fallen, ereignet sich der Abfall von der Wahrheit je und je und also individuell. Gegenüber ihrem traditionellen Verständnis wird der Sünde dadurch der Stachel gezogen: Sie verliert ihren Verhängnischarakter, ist lediglich individuelle Schuld. Wenn also ein Blick in die Geschichte „durchgängig“167 zeigt, dass die Menschen sowohl in der Religion als auch in der Philosophie „nur immer haben vernünfteln, niemals handeln wollen“168, so ist darin mitnichten ein suprapersonales Verhängnis, sondern lediglich individuelle und als solche: vermeidbare Schuld zu erkennen. Vor diesem Hintergrund will der zweite Teil als Appell an die Zeitgenossen verstanden werden. Einen ersten Hinweis hierauf gibt bereits das Motto, welches Lessing seinen Gedanken voranstellt: Wenn dort mit Worten Marcus Tullius Ciceros inständig darum gebeten wird, „die von so viel Unrecht erschütterte und verfolgte Gerechtigkeit an diesem Orte endlich bekräftigen“ zu lassen169, so impliziert die Adverbiale „tandem“ den Appell, den scheinbar endlosen Zusammenhang menschlicher Schuld endlich zu durchbrechen und die zwar aktuell im Herrnhuter Pietismus verkörperte, doch ganz und gar ursprüngliche Wahrheit – anders als die Zeitgenossen des Sokrates oder Christi – nicht mehr zu verfolbrauchte[r] Geschichtsmächtigkeit des Menschen (statt zu tun, vernünftelt er)“ und „bleibend andere[r] göttliche[r] Bestimmung“ verweist auch Schilson 1974, 56. 166   Noch einmal Schilson: Eben weil mit „der bleibend anderen göttlichen Bestimmung“ auch und gerade angesichts der menschlichen Verkehrung „der theologische Horizont“ thematisch angesprochen bleibt, wird „eine mögliche Umkehr der bisherigen Verfallsgeschichte angezielt“ (ebd.). 167   B 1, 942,7. 168   B 1, 942,8f. 169   Im lateinischen, von Lessing zitierten Wortlaut heißt das Motto: „– – oro atque obsecro ut multis injuriis jactatam atque agitatam aequitatem in hoc tandem loco confirmari pa­tiamini. Cicero pro Publ. Quintio“ (B1, 935,2–5; Hervorh. i. O.). Die oben angeführte deutsche Übersetzung ist dem Stellenkommentar zu den Gedanken entnommen (Stenzel 1989, 1419).

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gen und abzuurteilen, sondern ihr zu allgemeiner Durchsetzung und Blüte zu verhelfen. In diesem Sinne würde – mit Blick auf obigen Gliederungsvorschlag – im ersten Teil der Gedanken die Geschichte gewissermaßen als Negativfolie zur Darstellung gebracht, vor der nun – im zweiten Teil – die Gegenwart sich bewusst und geflissentlich abzuheben aufgefordert wird: nämlich als wahrhaft aufgeklärte, wahrhaft vernünftige.170 Wie der erste, so hat auch der zweite Teil eine zweigliedrige Struktur. Zunächst muss Lessing „einen kleinen Sprung zurück auf die Philosophie tun“171, bevor er sich wieder der Theologie widmet und „diese Betrachtung [endlich!] auf die Herrnhuter anwende[t]“.172 Aber der Reihe nach! In Teil II A führt Lessing folgendes Gedankenexperiment durch: Man stelle sich vor[173], es stünde zu unsern Zeiten ein Mann auf, welcher auf die wichtigsten Verrichtungen unserer Gelehrten von der Höhe seiner Empfindungen verächtlich herabsehen könnte, welcher mit einer sokratischen Stärke die lächerlichen Seiten unserer so gepriesenen Weltweisen zu entdecken wüßte, und mit einem zuversichtlichen Tone auszurufen wagte:    Ach! eure Wissenschaft ist noch der Weisheit Kindheit,    Der Klugen Zeitvertreib, ein Trost der stolzen Blindheit!174

Die Verwandtschaft zwischen Lessings Sokrates redivivus und dem Genfer Philosophen ist zu augenfällig, als dass man sie ignorieren könnte.175 Und so sei an 170   So auch Schilson: „Der Blick auf den sittlichen Niedergang der Geschichte bis hin zur Gegenwart […] läßt darum den kritischen Betrachter keineswegs einem dumpfen Fatalismus anheimfallen, sondern ruft ihn auf, seine Freiheit ganz in den Dienst seiner Grundbestimmung zu stellen und so die verlorene Einheit [von Theorie und Praxis; D.Z.] des Ursprungs Gegenwart und Zukunft werden zu lassen“ (Schilson 1974, 56). Eine ähnliche Funktion der in den Gedanken gegebenen kulturpessimistischen Darstellung wird auch bei Fick erwogen: „Damit enthüllt sich der vorgetragene Kulturpessimismus auch als ein pädagogisches Mittel, um beim Publikum die Gegenkräfte zu mobilisieren“ (Fick 2016, 124). – Die antiorthodoxe Stoßkraft dieses Appells an die Zeitgenossen lässt sich wohl am ehesten mit dem Begriff der anthropozentrischen Wende beschreiben (s.o., in Anm. 119). 171   B 1, 942,12f. 172   B 1, 942,10f. 173   Dazu Karin Hüskens-Hasselbeck: „Die dargestellte Szene wird durch einen Imperativ in der 3. Pers. Sg. in Verwendung mit dem Indefinitpronomen ‚man‘ eingeleitet. Der Rahmensprecher (Ich) appelliert auf diese Weise direkt an die Vorstellungskraft des Lesers. Der Rahmen der Streitszene, der den Realitätshintergrund der folgenden Dialogreden bildet, wird durch den Appell an den Leser, sich das Folgende vorzustellen, ausdrücklich als nur vorgestellte […] Realität ausgewiesen“ (Hüskens-Hasselbeck 1978, 13). 174   B 1, 942,14–22. – Die beiden Gedichtverse sind aus Hallers „Gedanken“ zitiert. 175   Siehe in diesem Kontext auch Rousseaus sokratische Selbstinszenierung als „einen ehrenhaften Mann […], der nichts weiß, sich dieserhalb aber selbst nicht weniger schätzt“ (Rousseau, Discours, 13). Vgl. direkt hierzu Durand 2015, 41: „Sokrates ist für Rousseau eine Identifikationsfigur […], ein Philosoph, der zwar geistig tätig ist, der aber seine Tugend […] bewahrt hat und die Fähigkeit besaß, seine Philosophie als Lebensweisheit praktisch u ­ mzusetzen. Obwohl er Philosoph ist, tritt er als Inkarnation der Tugend auf und stellt somit einen Präzedenzfall für Rousseaus paradoxe Position dar: ein Philosoph, der

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dieser Stelle noch einmal ein Blick in Rousseaus Discours getan, in dessen Lichte auch Lessings fingierter Kritiker schärfere Konturen gewinnt. Entgegen der epochalen, gut drei Jahrzehnte später artikulierten Selbstbeschreibung, Aufklärung sei der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit 176, wirft Rousseau den Protagonisten seiner Zeit vor, die Menschen zwar „aus ihren alten ideellen Abhängigkeiten von den Institutionen des Ancien régime“ zu lösen, dies jedoch „nur, um sie ihrer eigenen Doktrin zu unterwerfen. Die Menschen werden so gerade nicht unabhängig gemacht und zum eigenen Urteil ermutigt; sie fügen sich lediglich in ein anderes Denksystem ein.“177 Zwar wurden „vor dem Tempel der Musen die Hindernisse“ abgetragen, „die den Zugang versperrten“; und auch scheuten die „Wissensvermittler[]“ (Auteurs élémentaires) sich nicht, „das Tor zu den Wissenschaften aufzubrechen und in deren Heiligtum den Pöbel einzulassen“.178 Insofern erscheint uns die Aufklärung als ein egalitäres Ereignis, das Wissenschaften und Künste allen gleichermaßen zugänglich macht. Doch – und gerade darin liegt „das große Paradoxon der Aufklärung“179 wie auch die Spitze der Rousseau’schen Kritik an ihr – produziert sie damit zugleich neue Ungleichheit, indem die Wissenschaften und Künste „zum elitären Maßstab für gesellschaftliches Ansehen“180 werden. War es einstmals möglich, sich aufgrund von Tugendhaftigkeit verdient zu machen, gerät nun mehr und mehr das wissenschaftliche bzw. künstlerische Talent in den Fokus gesellschaftlicher Aufmerksamkeit. Mit Rousseau gesprochen: Hierin liegt die offensichtlichste Wirkung all unseres Studierens und in ihren Folgen die gefährlichste. Man fragt bei einem Mann nicht mehr, ob er redlich ist, sondern ob er Talente besitzt; bei einem Buch nicht mehr, ob es von Nutzen ist, sondern ob es gut geschrieben ist. Der Schöngeist erntet die Belohnungen, und die Tugend wird mit keinerlei Ehrungen bedacht.181

Die Bemühungen zielen auf den Schein, und nicht auf das Sein182; darauf, den Geist mit Gelehrsamkeit zu schmücken, und nicht darauf, wahrhafte, ganzheitliche Bildung angedeihen zu lassen – Bildung, die vermittelt, „was einem Mann zu tun obliegt“.183 Auf solchen Schein und den damit einhergehenden gegen geistige oder kreative Tätigkeit polemisiert. Sokrates ist der einzige Philosoph, der von Rousseau nicht verachtet wird […] Sokrates gilt Rousseau als Modell einer gelebten Weisheit […]“. 176   Immanuel Kant, „Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?“ (1784), 9. 177   Rehm 2015, 54. 178  Rousseau, Discours, 75. 179   Rehm 2015, 51. 180  Ebd. 181  Rousseau, Discours, 67. 182   Vgl. aaO., 23. 183  AaO., 63 (Hervorh. D.Z.).

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Ruhm bedacht184, gehe es „den ‚philosophes‘ […] nicht um Wahrheit, sondern um das Rechthaben, um die Vormachtstellung auf dem Markt der Meinungen“.185 Obgleich Lessing, wie bereits dargelegt, im Gegensatz zu Rousseau das Problem nicht bei den Wissenschaften – und noch viel weniger bei den Künsten – als solchen sieht, ist seine Kritik am Wissenschafts- und Bildungsbetrieb seiner Zeit stark von Rousseau her inspiriert. Dessen ganzheitlichen Bildungsbegriff rezipierend, entlarvt er die Eindimensionalität und Scheinhaftigkeit der Gelehrten, indem er sie auf der Bühne der Vorstellung direkt mit der Tugendhaftigkeit und Authentizität seines sokratischen Zeitgenossen konfrontiert. Inszeniert wird diese Konfrontation in kurzen, fragmentarischen Szenen, in welchen nacheinander „ein stolzer Algebraist“186 , ein Astronom187 und „[e]in paar Metaphysiker“188 auftreten und ihren Anspruch, den Philosophentitel mit Recht zu führen, gegen die Provokation des sokratischen Weltweisen zu behaupten suchen.189 Ihre Rechtfertigungsstrategie sieht es dabei vor, den Gegner möglichst gleich zu disqualifizieren, um so jede weitere, ernsthafte Auseinandersetzung von vornherein zu unterbinden. Marktschreierisch fordern sie ihn dazu auf, „einen hyperbolischen Afterkegel zu cubieren“190 , „eine Exponential-Größe [zu] differentieren“191, sich über die „Irrational-Größe“ zu erklären192 und endlich seine „Theorie des Monds“ darzulegen193; die Metaphysiker schließlich beabsichtigen gar, ihn in eine Disputation über Sinn und Unsinn der Monadenlehre zu verwickeln.194 Mit polterndem Auftritt und lärmendem Rufen – „Hu!“195 ,

184

  Vgl. aaO., 67.   Rehm 2015, 53. – Vgl. Rousseau, Discours, 71. 186   B 1, 943,21. 187   B 1, 943,31. 188   B 1, 944,1. 189   Mit Blick auf diese Stelle findet sich auch bei Fick der Hinweis auf „einen beinahe komödienhaften Ton […]; deutlich zeichnen sich hinter der Wissenschaftskritik die Konturen der Gelehrtensatire ab“ (Fick 2016, 124). Freilich ist solch satirischer Angriff nicht allein gegen Vertreter der mathematisch-naturwissenschaftlichen bzw. philosophischen Disziplinen gerichtet: Aufgrund ihrer Wesensverwandtschaft stehen ebenso die zeitgenössischen Theologen in der Kritik. – Hierher gehört auch Lessings Urteil über die gelehrte Theologie als einer „prahlende[n] Gelehrsamkeit“ und „Sophisterei […], welche nichts weniger als einen Einfluß auf das Leben hat“ (B 2, 180,14.32f. [BPZ. 103. Stück]), ein Urteil, das angesichts der eingangs erwähnten Anzeige derer Herrenhutischen Grund-Irrthümer in der Lehre von der H. Schrift, Rechtfertigung, Sacramenten und letzten Dingen des Generalsuperintendenten Hofmann jedenfalls nicht unberechtigt zu sein scheint. 190   B 1, 943,23. 191   B 1, 943,24f. 192   B 1, 943,27f. 193   B 1, 943,35ff. 194   Vgl. B 1, 944,1–5. 195   B 1, 943,21. 185

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„Ha! Ha!“196 , „O Verwegenheit! o Zeit! o Barbarei!“197, „Vortefflich!“198 – suchen sie, ihre Vormachtstellung auf dem Markt der Meinungen zu behaupten. Ihr Desinteresse am eigentlich (nämlich praktisch-) philosophischen Gespräch199 bringen sie vollends in ihrer Reaktion auf die wichtigen Gegenfragen ihres Kontrahenten zum Ausdruck: Umsonst, sage ich, würde er [sc. der sokratische Weltweise] seinen Hohnsprechern andere wichtige Fragen vorlegen. Vergebens würde er sogar beweisen, daß seine Fragen mehr auf sich hätten, als die ihrigen. Könnt Ihr, würde er etwa zu dem ersten sagen, Euren hyperbolischen Stolz mäßigen? Und zu dem andern: seid Ihr weniger veränderlich, als der Mond? Und zu dem dritten: kann man seinen Verstand nicht in etwas bessern üben, als in unerforschlichen Dingen? Ihr seid ein Schwärmer! würden sie einmütig schreien. Ein Narr, der dem Tollhause entlaufen ist!200

Wie dem Genfer Philosophen, so ist es auch Lessings fingiertem Weltweisen darum zu tun, die zur Schau gestellte Bildung der Gelehrten als das zu entlarven, was sie tatsächlich ist, nämlich wertloses Blendwerk.201 Demgegenüber kann nur dort wahrhaft von Bildung gesprochen werden, wo sie den Menschen als ganzen – d.h. als Person, und nicht bloß als Wissenden – betrifft; mit anderen Worten: wo sie nicht zur Zierde, sondern von Nutzen ist. Es gilt also auch hier wie schon zu Zeiten des Sokrates, „die Lehrbegierde von diesem verwegenen Fluge zurückzuholen“202 und die Vernunft – nun in wahrhaft aufklärerischer Absicht – (wieder) in ihre eigentlichen, natürlichen Schranken zu weisen 203: 196

  B 1, 943,31.   B 1, 943,29f. 198   B 1, 944,5. 199   In diesem Sinne noch einmal Hüskens-Hasselbeck: „Mit der Interjektion ‚Hu!‘, jeglicher Äußerung vorangestellt, eröffnet der Algebraist die Dialogreden der ‚Philosophen der Zeit‘. Diesem Sprachzeichen kommt im Vergleich zu der übrigen Rede eine deutlich erkennbare Selbstwertigkeit zu. Durch ein Ausrufezeichen von der übrigen Rede abgetrennt, läßt es die Emotion dieses Philosophen sinnfällig werden. Dieses Textzeichen allein genügt, um die Tatsache zu verdeutlichen, daß der Algebraist seine Abneigung weder formuliert noch begründet, sondern lediglich manifestiert. Die darstellende Funktion der Sprache wird hier durch die expressive Funktion so überlagert, daß nicht ein kognitiver Aussagegehalt, sondern ein emotiver in den Vordergrund rückt. Diese Ausdrucksmanifestation evoziert die Vorstellung einer Person von geringem Reflexionsvermögen, die zu der Information des Rahmens, es handle sich hier um einen Philosophen, in Diskrepanz steht“ (Hüskens-Hasselbeck 1978, 21). – Wie wenig die von Lessing hier vorgeführten (Schein-)Gelehrten in ihrer „Selbstbesessenheit“ zu einer echten Begegnung willens und auch fähig sind, vermag Hüskens-Hasselbeck in ihren weiteren Ausführungen überzeugend und mit beeindruckender philologischer Akribie herauszustellen (vgl. aaO., 21–25). 200   B 1, 944,11–20. 201   Vgl. B 1, 943,13f. 202   B 1, 938,7f. 203   Die Vernunft in ihren Schranken ist für Lessing die Vernunft im Rahmen der Physikotheologie: „Er [sc. der sokratische Weltweise] kenne die Schönheiten und Wunder der Natur nicht weiter, als in soferne sie die sichersten Beweise von ihrem großen Schöpfer sind“ (B 1, 943,3–6). Natürlich kommt in diesen Worten wieder eine Saite aus Hallers Lehrgedicht zum 197

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Gesetzt, alle seine Ermahnungen und Lehren zielten auf das einzige, was uns ein glückliches Leben verschaffen kann, auf die Tugend. Er lehrte uns, des Reichtums entbehren, ja ihn fliehen. Er lehrte uns, unerbittlich gegen uns selbst, nachsehend gegen andre sein. Er lehrte uns, das Verdienst, auch wenn es mit Unglück und Schmach überhäuft ist, hochachten und gegen die mächtige Dummheit verteidigen. Er lehrte uns, die Stimme der Natur in unsern Herzen lebendig empfinden. Er lehrte uns, Gott nicht nur glauben, sondern was das vornehmste ist, lieben. Er lehrte uns endlich, dem Tode unerschrocken unter die Augen gehen, und durch einen willigen Abtritt von diesem Schauplatze beweisen, daß man überzeugt sei, die Weisheit würde uns die Maske nicht ablegen heißen, wenn wir unsere Rolle nicht geendigt hätten.204

Wie für Sokrates, wie für Rousseau, so ist auch für Lessing das „Glück“ gemäß der „wahrhafte[n] Philosophie“ (la véritable Philosophie) „in uns selbst [zu] finden“.205 In diesem Sinne könnten die Schlussworte aus Rousseaus Discours auch von Lessings sokratischem Weltweisen gesprochen sein: Warum unser Glück in der Meinung anderer suchen, wenn wir es in uns selbst finden können? […] O Tugend! Du erhabene Wissenschaft einfältiger Seelen, bedarf es denn so vieler Mühen und Anstalten, Dich zu erkennen? Sind Deine Gesetze [principes] nicht tief in alle Herzen eingeschrieben, und genügt es da nicht, um Deine Grundregeln [Loix] zu begreifen, in uns selbst einzukehren und auf die Stimme unseres Gewissens zu hören in der Stille, jenseits der Leidenschaften?206

Das Wesentliche, die Wahrheit liegt zeitlos, ewig und unverlierbar geborgen in der Natur des Menschen. In der ‚Stimme seines Gewissens‘, im Spruch seiner natürlichen Vernunft tut das Göttliche sich kund. Demgegenüber sind die geschichtlichen Moden Willkürlichkeiten der entfesselten, aus ihrem ganzheitlichen Zusammenhang von Denken, Fühlen und Handeln gelösten und verabsoKlingen. Der Gedichtüberschrift entsprechend – „Gedanken über Vernunft, Aberglauben und Unglauben“ – werden dort drei verschiedene Wege beschrieben, wie sie vom Menschen bei seinem Versuch, sich im Labyrinth der Erkenntnis zurechtzufinden, beschritten werden: Ausgerüstet mit der Vernunft, setzt er diese entweder absolut, d.h. er verlässt sich ausschließlich, und zwar in allen Belangen, allein auf ihre Führung (Unglaube), oder aber er verwirft sie und folgt – statt ihrer – anderen, vernunftwidrigen Autoritäten (Aberglaube); oder – und hierin besteht der dritte, gewissermaßen mittlere Weg – er gebraucht seine Vernunft in dem dafür vorgesehen Rahmen und erkennt damit zugleich eine gewisse Begrenzung ihres Kompetenzbereiches an (vgl. Menhennet 1972, 95–100). Die Grenzen der Vernunft sind aber die der Physikotheologie (vgl. Haller, „Gedanken“, 79). In ihrem Rahmen erkennt der vernünftige Mensch das Weltganze als ein bis ins Letzte gestaltetes göttliches Wunderwerk sowie sich selbst als das Meisterwerk schlechthin (vgl. aaO., 77f.) – eine Erkenntnis, die von „Eitelkeit“ und Ehrsucht, die vom Druck, die eigene Existenz durch gesellschaftliche Anerkennung rechtfertigen zu müssen, befreit und es so ermöglicht, sich über den „Tand“ zu erheben. Solche „Seelen-Ruh“ aber ist „des Lebens wahres Gut“ (aaO., 79; vgl. auch Menhennet 1972, 104) – ein Gut, wie es sich auch in Lessings Glauben an die alles bestimmende Weisheit findet (vgl. B 1, 942,32–37). 204   B 1, 942,23–37. 205  Rousseau, Discours, 79. 206  Ebd.

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lutierten menschlichen Vernunft. Sie mögen zwar „Wissenschaft“ heißen, und sind doch „der Weisheit Kindheit“, nichts weiter als „Der Klugen Zeitvertreib, ein Trost der stolzen Kindheit“. So weit Lessings Gedankenexperiment, dessen Überschritt aus der Fiktion in die Wirklichkeit seiner Einschätzung nach an der Macht der Gelehrten scheitern würde, die, getrieben von Eitelkeit und Ruhmsucht, „schon sorgen [werden], daß meine Einbildung nimmermehr zur Wirklichkeit gelangt“.207 Was also im Bereich der Philosophie lediglich als Gedankenexperiment durchgespielt wird, scheint auf dem Feld der Theologie indes Wirklichkeit geworden zu sein: Wie aber, wenn so ein Schicksal unsre Theologen betroffen hätte? Doch ich will mich ohne Umschweif erklären. Ich glaube, das, was so ein Mann, wie ich ihn geschildert habe, für die Weltweisen sein würde, das sind anjetzo die Herrnhuter für die Gottesgelehrten. Sieht man bald, wo ich hinaus will?208

Worauf Lessing hinaus will, liegt offen zutage: Wie einst Sokrates und Christus Philosophie und Religion wieder auf ihr Wesentliches zurückzuführen suchten, so auch jetzt die Herrnhuter.209 Dabei kann es ihm – nach allem bislang Ausgeführten – bei ihrer ‚Rettung‘ kaum um die „spezifische Bluttheologie“ Zinzendorfs noch um dessen christozentrischen Gefühlsglauben zu tun sein 210; die Gruppe um den Grafen von Z. dient Lessing vielmehr „als Vehikel, um zum Kern seiner religiösen Vorstellungen vorzustoßen und diese zu kommunizieren“.211 Nun fällt es, in Anbetracht des hierzu Gesagten, nicht weiter schwer, eine gewisse Idealität der Herrnhuter festzustellen – so insbesondere aufgrund ihrer (wenngleich protestantischen) Überkonfessionalität und ihres damit verbundenen ekklesiologischen Selbstverständnisses als einer toleranten Liebesgemeinschaft.212 In ihrer praktisch orientierten Religiosität geht es den Herrnhutern keineswegs darum, „die Theorie unsers Christentums zu verändern“.213 207

  B 1, 944,26ff.   B 1, 944,29–34 (Hervorh. i. O.). 209   Zu Zinzendorfs „tiefe[m] Gefühl[] für die innere Verwandtschaft mit Sokrates“ s. Böhm 1966, 159–163. 210   Vgl. Rohls 1997 (Bd. 1), 145. 211  Multhammer 2013, 217. –­ Demnach bleibt Lessing gerade nicht dabei stehen, die Krankheit bloß zu diagnostizieren und zu verdammen, ohne ein Heilmittel zu verschreiben (gegen Nisbet 2008, 177). – Man beachte in diesem Zusammenhang auch die Auflistung dessen, was Lessings fingierter sokratischer Weltweise uns alles lehren könnte [s. Zitat bei Anm. 204], eine Auflistung, die gleichsam als Maßnahmenpaket zur Restitution der Philosophie [bzw. Religion] innerhalb der Grenzen der natürlichen Vernunft verstanden werden kann. 212   Vgl. Rohls 1997 (Bd. 1), 144; vgl. außerdem Multhammer 2013, 215f. – Dass für Lessing tätige Liebe „allein das wesentliche Kennzeichen eines Christen ausmacht“, formuliert er in einer Rezension vom 30. März 1751 (B 2, 45,6f. [BPZ. 38. Stück]; vgl. auch Nisbet 2008, 175). 213   B 1, 945,2f. (Hervorh. D.Z.). – Da für Lessing, wie die Analyse des religions- bzw. theologiegeschichtlichen Abrisses der Gedanken zeigen konnte, auch die „Theorie des Christentums […] alle Kritik“ verdient, die Herrnhuter jedoch „als Theorie-Kritiker gar nicht gelten wollen“, ist seine ‚Rettung‘ nicht als Apologie einer spezifisch Herrnhutischen Theologie 208

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Erster Teil: Wanderjahre

Wenn also die Gedanken mit der scheinbar offenen Frage enden: „Was will er [sc. Zinzendorf] denn?“214, so ist die Antwort darauf offensichtlich: Dem Grafen von Zinzendorf geht es, wie einst auch Christus, darum, „die Religion in ihrer Lauterkeit wieder herzustellen“ – und wenn schon nicht als „die Religion des Adams“, so doch als die um dogmatische Spitzfindigkeiten erleichterte, einfache und lebendige Religion; mit anderen Worten: als jenes Ganze, das den ganzen Menschen durchdringt und ihn ganz, als Denkenden, Fühlenden und Handelnden, in Anspruch nimmt.215 Indem also die Antwort auf die am Schluss des Textes zwar aufgeworfene, indes nicht mehr explizit beantwortete Frage aus dem Vorhergehenden von selbst sich ergibt216, erscheint es äußerst fraglich, die Gedanken als ein unfertiges Stück Literatur zu betrachten.217 Dem Text in seiner klaren, abgeschlossenen Struktur jedenfalls scheint die Annahme eher gerecht zu werden, dass Lessing – wie Rousseau am Ende des ersten Teils seines Discours – sich an dieser Stelle lediglich die Mühe ersparen wollte, „dasselbe mit anderen Namen zu wiederholen“.218 Gemäß den Regeln des Essays bricht

misszuverstehen; Zinzendorf und seine Leute interessieren ihn vielmehr (nur) als Vertreter eines ausübenden Christentums (vgl. Briegleb 1971, 209f.; dort finden sich auch die in dieser Anm. angeführten Zitate; Hervorh. i. O.). 214   B 1, 945,18f. 215   Es sei hier noch einmal auf die bereits öfter zitierte Rezension in der Berlinischen Privilegierten Zeitung vom 28. August 1751 (103. Stück) hingewiesen, wo Lessing die Herrnhuter eben mit einem „Leben, welches der Geist der Religion beherrscht“, assoziiert wie auch mit Lehrsätzen, „die durch eine erhabne Einfalt von ihrem göttlichen Ursprunge zeigen [sic!]“ (B 2, 181,2–5). 216   Vgl. Multhammer: „Die Frage, mit der der Text endet, ist eine rhetorische, deren Beantwortung nichts weniger ist, als die gesamte Abhandlung davor“ (Multhammer 2013, 216). 217   Für die weitverbreitete Ansicht, es handle sich bei Lessings Herrnhuter-Essay um ein unfertiges Stück Literatur, sei hier repräsentativ Erich Schmidt angeführt. Er sieht in den Gedanken „eine fragmentarische Rettung […], leider fast unmittelbar nach der allgemeinen Einleitung beim Übergang zu dem vielgescholtenen […] Zinzendorf abgebrochen“ (Schmidt 1909 [Bd. 1], 207). – Neben der vermeintlich offenen Frage am Schluss der Gedanken könnte noch auf eine weitere Passage am Ende des Textes verwiesen werden (B 1, 945,6–16), um die Annahme, es handle sich bei den Gedanken um ein nicht zu Ende gebrachtes, abgebrochenes Projekt, zu erhärten. Auf die Versicherungen Zinzendorfs, „daß seine Lehrsätze in allem dem augspurgischen Glaubensbekenntnis gemäß wären“, lässt Lessing die Theologen mit Widerspruch reagieren („[…] warum behauptet er in seinen eigenen Schriften Sachen, die diesen Versicherungen offenbar widersprechen?“), um sie dann mit den Worten hinzuhalten: „Man erlaube mir, daß ich die Beantwortung dieses Punktes ein wenig verspare.“ Wenn die „Beantwortung“ dann aber ganz ausbleibt, so gibt es auch dafür eine simple Erklärung: Dieser „die Theorie unsers Christentums“ betreffende Punkt interessiert Lessing, dem es auf „das praktische des Christentums“ (B 2, 44,34 [BPZ. 38. Stück]) ankommt, (hier) nicht! – Auch v. Lüpke weist darauf hin, dass von dem Systemkritiker Lessing eine dogmatische Beurteilung der Herrnhuter nicht zu erwarten ist (vgl. v. Lüpke 1989, 43). 218   „[…] et épargnons-nous la peine de répéter les mêmes choses sous d’autres noms“ (Rousseau, Discours, 40f.).

I. Geschichtslose Vernunft vs. vernunftlose Geschichte

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er – noch einmal mit den oben zitierten Worten Adornos gesprochen – dort „ab, wo er selber am Ende sich fühlt und nicht dort, wo kein Rest mehr bliebe“. Das Fragmentarische ist hier also literarisch gewollt und kann somit „als vollendet gelten“.219

3. Fazit Zusammenfassend lässt sich sagen, dass auch Lessing – den Appell Rousseaus und Hallers aufnehmend – fordert, die Vernunft in den ihr gewiesenen Grenzen und damit in ihrer den ganzen Menschen durchdringenden Kraft wieder zur Geltung zu bringen. Im Bereich der Religion heißt dies, zu deren ursprünglicher Lauterkeit und Natürlichkeit, nämlich zur natürlichen Religion in ihrer Einfachheit, Leichtigkeit und Lebendigkeit zurückzukehren. Letztlich geht es Lessing – wie Rousseau – um eine Rückbesinnung des Menschen auf seine Natur, also darum, unserem Innersten, dem Herzen zu folgen, anstatt in abstrakter Reflexion uns selbst und damit auch Gott, der geliebt, nicht nur geglaubt sein will, zu verlieren. Anders als für Haller220 ist für Lessing dieses Innerste, Na219   v. Lüpke 1989, 43; im Ergebnis ähnlich auch Nisbet: „Auf diese Weise hat er sein Fragment zu einem eigentlichen Abschluss gebracht“ (Nisbet 2008, 177). 220   Eine Analyse der Bearbeitungen, welche Haller besonders in der Auflagenfolge der 1730er- und 1740er-Jahre an seinen „Gedanken“ vorgenommen hat, liefert zahlreiche Anhaltspunkte dafür, dass die noch 1729 vertretene These von der Suffizienz der natürlichen Religion bzw. der natürlichen Gotteserkenntnis schon bald verworfen wurde. Vielleicht ist es das im zeitgenössischen Kontext ungewöhnlich starke Bewusstsein menschlicher Unzulänglichkeit („Wir irren allesamt…“), welches den Dichter dazu veranlasste, bereits in der zweiten Auflage aus dem Jahre 1734 die folgenden Verse einzuarbeiten: „Mehr [sc. als dass das Weltganze wunderbare Schöpfung Gottes ist] find ich nicht in mir, Gott, der in allem strahlt, / Hat in der Gnade sich erst deutlich abgemahlt: / Vernunft kan, wie der Mond, ein Trost der dunkeln Zeiten, / Uns durch die braune Nacht mit halbem Schimmer leiten; / Der Wahrheit Morgenroth zeigt erst die wahre Welt, / Wann Gottes Sonnen-Licht durch uns’re Dämmrung fällt. / Zu stammelnd für den Schall geoffenbahrter Lehren / Soll die Vernunft hier Gott mit eignem Lallen ehren“ (Haller, „Gedanken“, 78). Während also noch in der ersten Auflage des Gedichtes die menschliche Gotteserkenntnis darauf beschränkt bleibt, Gott mittels der Vernunft als den Schöpfer des Weltganzen einzusehen, und darüber hinaus die Suffizienz dieser Erkenntnis betont wird („Sie [sc. die Vernunft] führt uns bis zu Gott, mehr ist ein Ueberfluß“; aaO., 79), zeichnet sich mit den eben zitierten Versen bereits ab der zweiten Auflage die Tendenz ab, neben der Offenbarung im Sinne einer Illumination der menschlichen Vernunft nun auch einer solchen im Sinne der revelatio specialis Raum zu geben. Diese Offenbarung „in der Gnade“ aber überstrahlt unsere vernünftige Gotteserkenntnis als das, was wir ‚in uns finden‘, wie etwa das Sonnenlicht den Schimmer des Mondes (vgl. auch Menhennet 1972, 104). – Dass Lessing mindestens die dritte Auflage des Versuchs Schweizerischer Gedichte von 1743 vorgelegen haben muss und er somit um die Relativierung dieses so zentralen Gedankens von der Suffizienz der natürlichen Gotteserkenntnis bei Haller wusste, beweist der Wortlaut der im Herrnhuter-Essay zitierten Verse aus Hallers Lehrgedicht (vgl. Haller, „Gedanken“, 61 Anm. f).

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Erster Teil: Wanderjahre

türliche, Ursprüngliche und letztlich Ungeschichtliche jedoch unüberbietbar: Er betont die Suffizienz der natürlichen Religion 221; von einer Offenbarung „in der Gnade“222 ist bei ihm jedenfalls keine Rede mehr.223 Für Lessings Argumentation grundlegend erweist sich dabei der als Opposition explizierte Dualismus von Vernunft und Geschichte. Demnach vermag der Mensch nur dort seiner schöpfungsmäßigen Bestimmung zu entsprechen, wo er die geschichtlich-kontingenten Züge seines Menschseins ablegt und wieder ganz seiner eigentlichen – d.h. unveränderlichen und als solcher: ungeschichtlichen – Natur Ausdruck verleiht.224 Analog verhält es sich mit der Religion: Auch sie ist nur insofern wahre Religion, als sie natürliche, d.h. aller geschichtlichen Kontingenz entkleidete Religion ist. Dies wird ebenso an der (absolut ursprünglichen) „Religion des Adams“ wie an der Religion Christi deutlich: Indem mit Christus – als einem zweiten Adam – die Religionsgeschichte noch einmal „bei Null“ einsetzt, wir also auch hier wieder an einem absoluten (weil unvermittelten) Anfangspunkt stehen, stellt auch seine Religion – wie die des Adams – kein Geschichtliches im Sinne eines Gewordenen dar.225 – Da aber der Mensch nur in der Geschichte existiert, kann auch seine ureigenste Angelegenheit, die Religion 226 – und sei es als Vernunftreligion –, nur als geschichtlich 221   Vgl. Goerges Pons: „Der Leser des Fragments hat tatsächlich den Eindruck, Lessing […] gebe sich mit der deistischen These der ‚Genügsamkeit‘ der natürlichen Religion zufrieden: Von der christlichen These einer progressiven, in übervernünftigen Glaubenssätzen gipfelnden Offenbarung bleibt hier keine Spur“ (Pons 1980, 395f.). – Auch im 1751 veröffentlichten Gedichtfragment Die Religion (in: B 2, 264–276) scheint Lessing die These von der Suffizienz der natürlichen Religion zu vertreten. Folgt man Multhammers Interpretation, so gelangt der gründlich zweifelnde Dichter dort – auf seiner Suche nach einem festen, nicht weiter bezweifelbaren Fundament der Religion (und zwar der „Religion überhaupt“ [B 2, 264,12]) – zu der Erkenntnis, dass am „Ende, nachdem man von allem abstrahiert hat, […] ein moralisches Urteil, die Unterscheidung zwischen Sünde und Nicht-Sünde“ steht. „Ohne alle Anleitung, vermag der Mensch diese Entscheidung zu treffen.“ Als das Allgemein-Menschliche ist es diese Fähigkeit zum moralischen Urteil, die den Menschen allererst als Menschen konstituiert. „[R]eligiöse Überzeugungen, der Stand an Gelehrsamkeit oder Wissen und alle weiteren denkbaren Faktoren“ spielen mit Blick auf diese Fähigkeit keine Rolle. Kurz: „Es liegt in der Natur des Menschen, das Laster oder die Sünde zu erkennen und damit moralisch handeln zu können“ (vgl. Multhammer 2013, 233–236; die Zitate finden sich auf den Seiten 235f.; Hervorh. i. O.). 222  S. Zitat in Anm. 220. 223   Folgerichtig pointiert also v. Lüpke die „‚Stimme der Natur‘ […] als Organ der Gnade, […] als säkularisierte Gestalt des Evangeliums“ (v. Lüpke 1989, 54). 224   Zutreffend schreibt v. Lüpke: „Kraft der ‚Stimme der Natur‘ gelangt der Mensch in das rechte Verhältnis zu Gott und wird er zur Tugend befähigt“ (ebd.). 225   Folglich ist das ‚wahre Christentum‘ als eine (lediglich paradox formulierbare) geschichtslose Realisierung des Ideals der natürlichen Religion anzusprechen. 226   In diesem Sinne bilanziert etwa Gottfried Fittbogen, dass bei aller Uneindeutigkeit des ‚Menschen‘-Begriffs im 18. Jahrhundert „all die verschiedenen Auffassungen“ gleichwohl darin übereinkommen, dass „zum Wesen des Menschen […] die Religion“ gehört (Fittbogen 1923, 2).

I. Geschichtslose Vernunft vs. vernunftlose Geschichte

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realisierte gedacht werden. Die von Lessing am Beginn seines Weges propagierte Vorstellung einer reinen, aller geschichtlichen Kontingenz entkleideten Religion ist folglich nicht mehr als eine Idee, eine Utopie.227

227   Die Problematik dieser Idee zeigt sich schon darin, dass Lessing ausgerechnet vermittels einer geschichtlichen Rekonstruktion zur geschichtslosen Natur des Menschen zu gelangen sucht: Als die Vernunft des geschichtlichen Ursprungs aber ist freilich auch die natürliche Vernunft selbst geschichtlich.

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II. Kritik der Apologetik – Die Rettung des Hier. Cardanus (1752) 1. Text und Kontext oder Rettungsmission zwischen 15.000 Büchern Wir schreiten fort. – Lessings plötzlichem Weggang aus Berlin folgend, gelangen auch wir Ende des Jahres 1751 ins achtzig Kilometer südwestlich gelegene Wittenberg.1 Mit ihrer zeitweise führenden Universität bietet die kleine Stadt an der Elbe – wenigstens vordergründig – für Lessing die Gelegenheit, die liegengelassenen universitären Studien wiederaufzunehmen und (endlich!) zu einem Abschluss zu bringen. Sein eigentliches Interesse dürfte freilich woanders liegen: nämlich in der Möglichkeit, sich für den Umlauf eines ganzen Jahres uneingeschränkt der Gelehrsamkeit hinzugeben.2 Unter den zahlreichen Arbeiten, die in dieser Zeit entstehen3 und zu denen neben solchen aus dem Bereich der Gelehrten- und Wissenschaftsgeschichte auch klassisch-philologische Arbeiten zu Horaz sowie eigene literarische Versuche (v.a. Epigramme) gehören, finden sich ebenso Zeugnisse, die sein anhaltendes Interesse für Theologie und Religionsgeschichte bekunden. Besonders zu erwähnen sind hier die drei theologiekritischen Rettungen – im Einzelnen die Rettung des Hier.[onymus] Cardanus, die Rettung des Inepti Religiosi und die Rettung des Cochläus –, die Lessing zwei

1   Lessing hat bereits vor seiner Berliner Zeit, im Jahre 1748, vier Monate in Wittenberg verbracht. Warum er die damals unterbrochenen universitären Studien nun gerade hier wiederaufzunehmen gedenkt, kann nicht mit Bestimmtheit geklärt werden (vgl. Multhammer 2013, 6; dort auch Anm. 4). 2   Diese eigentliche Motivation Lessings artikuliert sich bereits im Thema seiner medizinischen Magisterarbeit: „Daß Huarte Arzt war, genügte der Medizinischen Fakultät zur Beglaubigung des Themas; trotzdem hat Lessings Interesse daran weniger mit Medizin zu tun als mit seinem erneuten Studium der spanischen Sprache und der Wissenschaftsgeschichte“ (Nisbet 2008, 161f.). – Erinnern wir uns an die Polemik, wie sie Lessing im Herrnhuter-Essay gegen jede Art von selbstgenügsamer Gelehrsamkeit richtet, so mag seine hier sich äußernde starke Neigung „zur Gelehrsamkeit um ihrer selbst willen“ (aaO., 163) irritieren. In diesem Sinne spricht Nisbet denn auch von einer „äußerst ambivalent[en]“ Einstellung Lessings zur Wissenschaft (aaO., 162f.). 3  Wir blicken auf eine „der produktivsten Phasen in Lessings Leben“ (Multhammer 2013, 7).

II. Kritik der Apologetik

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Jahre später, im dritten Teil seiner Schrifften (1754), einem allgemeinen Publikum präsentieren wird.4 Einen Großteil seines zweiten Wittenberger Aufenthaltes verbringt Lessing also in der dortigen Universitätsbibliothek. In diesem Zusammenhang muss auf ein Detail hingewiesen werden, „das in der Lessingforschung seit Martin Franzbach [also seit dem Jahre 1965, D.Z.] unverändert wiederholt wird und dennoch falsch ist“, nämlich die „Aussage, dass Studenten in Wittenberg zu Zeiten Lessings keinen und Professoren kaum Zugang zur Bibliothek“ haben.5 Falsch ist diese Aussage deshalb, weil sie sich auf die Wittenberger Bibliotheksordnung aus dem Jahre 1766 bezieht; für die frühen 1750er-Jahre ergibt sich indes ein anderes Bild. So zeigt ein Blick in die seinerzeit noch gültige Vorgänger-Ordnung aus dem Jahre 1623, dass die Studenten durchaus noch Zugang zur Bibliothek haben – wenngleich schon jetzt entsprechend restringiert. Hierher gehört v.a. die Untersagung eines freien und direkten Zugangs zu den Bücherbeständen. Die Bibliothek zu nutzen, bedeutet demnach, sich einzelne Bücher ins „Vestibulum“, einen kleinen Durchgangsraum, bringen zu lassen, um sie dort unter Aufsicht zu lesen oder, in genau geregelten Einzelfällen, auch zur Ausleihe ‚auf die Stube‘ zu nehmen; „allein bei den Büchern umbzugehen“ ist dem „Studioso“ hingegen ebenso wenig gestattet wie das Herausnehmen der „Bücher aus ihren Ständen“.6 Wer also – wie Lessing – in „unbegrenzter Neugierde […] durch alle Felder der Gelehrsamkeit herumschweifen, alles anstaunen, alles erkennen“ will7; und wer – wie er – ahnt und erfährt, dass sich die echten Reichtümer „öfter auf dem Schleichwege, als auf der Heerstraße finden lassen“8; kurz: Wer auf ziellosen Streifzügen9 bloß ‚zufällig‘ Entdeckungen machen will, wird v.a. hierin in schmerzlicher Weise sich eingeschränkt fühlen. Dass Lessing gleichwohl sich später noch rühmen wird, ein jedes der gut 15.000 Bücher aus dem Wittenberger Bibliotheksbestand in der Hand gehabt zu haben, verdankt sich einzig und allein einem glücklichen Umstande: seiner Bekanntschaft mit Friedrich Immanuel Schwarz (1728–1786), einst Mitschüler Lessings an der humanistischen Lateinschule St. Afra und nun zum Kustos der Wittenberger Uni-

4   Die drei erwähnten Rettungen finden sich in B 3, 198–258. – Vgl. Fick 2016, 125; Nisbet 2008, 161f. 5   Multhammer 2013, 10. 6   Aus dem vierten Abschnitt der Bibliotheksverwaltung von 1623 zit. n. Multhammer 2013, 12f. 7   G. E. Lessing, Hermäa, Erster Band, Vorrede, in: B 5/1, 449. Hier: 449,7–11. – Mit Multhammer ist anzunehmen, dass sich dieser erst in den frühen 1760er-Jahren entstandene Text nicht zuletzt auch auf Lessings Erfahrungen in der Wittenberger Universitätsbibliothek bezieht (vgl. Multhammer 2013, 133f.). 8   B 5/1, 449,21f. 9   Lessing spricht von der Unfähigkeit, „seinem Geiste eine feste Richtung zu geben“ (B 5/1, 449,9).

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Erster Teil: Wanderjahre

versitätsbibliothek bestellt.10 Gerade mit Blick auf die theologiekritischen Rettungen ist es die Lektüre seltener Bücher, die ihn dazu anregt, von der Kirchengeschichtsschreibung zu Unrecht verketzerte Menschen sowohl gegen bereits geschehene Verleumdungen zu verteidigen als auch vor deren Fortschreibung durch ungeprüfte Übernahme zu „retten“.11 In diesem Sinne heißt es in seiner Rettung des Hier. Cardan: Ich für mein Teil, habe es dem nur gedachten Herrn Adjunct Schwarz zu danken, daß ich nicht in das gemeine Horn [der Cardan-Kritiker] mit blasen darf. Bei ihm habe ich die allererste Ausgabe des Cardanschen Werks de subtilitate in die Hände bekommen, und sie mit um so viel größrer Begierde durchblättert, da eben dasselbe Exemplar dem Philipp Melanchthon zugehöret hatte, von dessen eigner Hand, hier und da, einige kleine Noten zu lesen waren.12

Die Rettung des Hier. Cardanus bildet also die nächste Station auf unserem gemeinsam mit Lessing abzuschreitenden Wege. Dem Vorbild Pierre Bayles (1647– 1706) folgend13, nimmt auch er – wie noch oft in seinem Leben – den Kampf mit den Gelehrten auf: Wo immer er im Rahmen der Wissensüberlieferung der unkritischen – d.h. gefährlich naiven – oder aber böswilligen Weitergabe von Vorurteilen gewahr wird, ergreift er mit spitzer Feder Partei für die dadurch Verleumdeten. Im konkreten Falle des Hieronymus Cardan (1501–1576), seines Zeichens Naturphilosoph, Mathematiker und Mediziner aus dem italienischen Pavia, geht es um den „Verdacht[] der Atheisterei“14 – für Lessing eine „augenscheinliche Verleumdung, die man noch nicht aufhört aus einem Buche in das andre überzutragen“.15 Um nun jedoch nicht weiter in die Auseinandersetzung verwickelt zu werden, als es unsere Absichten ohnehin erfordern, sei an dieser Stelle, mittels folgender Gliederung, eine erste Orientierung über den Text gegeben: Einleitung (198,2 – 199,13) Teil I: Die Anklage gegen Cardan (199,14 – 201,26) A. Wie sie lautet (199,14 – 200,5) B. Wer sie vertritt (200,6 – 200,25) C. Lessings ‚kühne Behauptung‘ und sein damit verbundener Vorwurf gegen Vogt (200,26 – 201,26) (Überleitung 1 [201,27 – 201,34]) 10

  Vgl. Multhammer 2013, 9–14; vgl. außerdem Multhammer 2014, 12–15; Nisbet 2008, 160f. 11   Zu den Rettungen überhaupt – zu ihrer Strategie und Intention sowie zur Gattungsfrage – s.o. die entsprechenden Ausführungen in Kap. I. 1.1. 12   G. E. Lessing, Die Rettung des Hier. Cardanus, in: B 3, 198–223. Hier: 200,32–201,2 (Hervorh. i. O.). 13   Vgl. B 3, 199,11ff. 14   B 3, 198,13f. 15   B 3, 198,19f.

II. Kritik der Apologetik

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Teil II: Der Streit der Religionen im Cardan-Zitat (201,35 – 207,4) A. Polytheistisches Heidentum (202,11 – 203,12) a. Apologie (202,11 – 203,6) b. Widerlegung (203,6 – 203,12) B. Judentum (203,13 – 203,26) a. Apologie (203,13 – 203,20) b. Widerlegung (203,20 – 203,26) C. Christentum (203,27 – 205,7) a. Apologie (und zugleich antiislamische Polemik) [b. Widerlegung: geschieht noch im Rahmen der islamischen Apologie] D. Islam (205,8 – 207,4) a. Apologie (und zugleich antichristliche Polemik) [b. Widerlegung: geschah bereits im Rahmen der christlichen Apologie] (Überleitung 2 [207,5 – 207,11]) Teil III: Lessings „Rettung“ des Cardan (207,12 – 221,29) A. den Religionsvergleich betreffend (207,12 – 217,30) a. Der Religionsvergleich „an und vor sich selbst“ als unverzichtbares Mittel zur Ermittlung der Wahrheit (207,16 – 208,9) b. Cardans Religionsvergleich im Besonderen (208,10 – 217,30) i. Die Apologie der christlichen Religion (208,15 – 211,12) ii. Die Darstellung der außerchristlichen Religionen (211,13 – 217,30) 1. Eine generelle Anmerkung vorweg (211,18 – 212,7) 2. Lessings Cardan-Kritik (212,7 – 217,30)    Rede eines ‚rechtgläubigen Israeliten‘ (213,3 – 213,35)    Rede eines ‚Mahometaners‘ (214,22 – 217,23) B. die „so oft verdammten Worte“ des Cardan betreffend (217,31 – 221,29) Bemerkungen zur Editionsgeschichte von Cardans De subtilitate (221,30 – 222,37) Abschließende Anmerkung (223,1 – 223,17)

Unter religionsphilosophischen Gesichtspunkten ist v.a. Teil III A. von Interesse. Um diesen größeren Abschnitt aber im Ganzen des Essays verorten zu können, sei die Gliederung hier um ein paar wenige Hinweise zum Inhalt ergänzt.16 Im ersten Teil des Essays erfahren wir, worin die Anklage gegen Cardan besteht und wer sie im Verlauf von gut zwei Jahrhunderten alles erhoben hat. Repräsentativ für eine ganze Reihe gelehrter Cardan-Kritiker lässt Lessing einen ihrer Vertreter in einem längeren Zitat zu Wort kommen (Teil I A.). Es han16

  Die in unserer Analyse (s.u.) vorgenommene Fokussierung auf Lessings „Anmerkungen“ zu Cardans Religionsvergleich soll nicht im Sinne von Schilsons „Unterscheidung zwischen vordergründigem Rahmen (die ausdrückliche ‚Rettung‘) und eigentlichem Aussageteil“ missverstanden werden (vgl. Schilson 1974, 58); so gelang es nicht zuletzt Michael Multhammer und Eric Achermann, die inhaltliche und strukturelle Komplexität des Cardan-Essays überzeugend aufzuweisen (vgl. Multhammer 2013, 170–200; Achermann 2015). Wenn wir uns dennoch auf Teil III. A (s. Gliederung) konzentrieren, so geschieht dies in der Überzeugung, die für den Fortgang unserer Untersuchung relevanten Ergebnisse anhand dieser Textgrundlage vollständig entwickeln zu können.

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Erster Teil: Wanderjahre

delt sich hierbei um einen gewissen „Herr[n] Pastor Vogt“17 (1695–1764), seines Zeichens evangelischer Geistlicher und Bibliophile sowie v.a. Herausgeber des Catalogus historico-criticus librorum rariorum18 , eines Buches, das „in seiner Art ein Handbuch der Gelehrten geworden ist“.19 – Für dieses Mal erhält also Johann Vogt die zweifelhafte Berufung in den Kreis jener ‚Lebendigen‘, an die sich Lessing mit seinen ‚Rettungen‘ primär richtet und die – das weiß er, das kalkuliert er, ja das provoziert er – ihm dafür „vielleicht ein sauer Gesichte […] machen werden“.20 Die Kritik des ‚Herrn Pastor‘ nun entzündet sich – so seine eigenen, von Lessing zitierten Worte21 – an „eine[r] sehr gottlose[n] und ärgerliche[n] Stelle“22 des Cardanschen Werkes De subtilitate, nämlich an einer Handvoll „unbedachtsame[r] Worte[]“, mit denen Cardan nach einem Vergleich der „vier Hauptreligionen“ – Heidentum, Judentum, Christentum und Islam – „und nachdem er eine gegen die andre hat streiten lassen“23, schließt. Diese Worte lauten: „igitur his arbitrio victoriae relictis. Das heißt auf gut deutsch, er [sc. Cardan] wolle es dem Zufalle überlassen, auf welche Seite sich der Sieg wenden werde“24 – eine Aussage, die nach Ansicht des ‚Herrn Pastor‘ Vogt die Gleichgültigkeit des Cardans, in Ansehung des Sieges deutlich beweiset, welchen eine von den vier Religionen, es möge nun sein welche es wolle, entweder durch die Stärke der Beweise, oder durch die Gewalt der Waffen, davon tragen könne.25

Im zweiten Teil des Essays setzt Lessing den Streit der Religionen aus Cardans De subtilitate in einem mehrseitigen, von ihm eigenhändig ins Deutsche übertragenen Zitat her und gibt seinen Lesern so die Möglichkeit, mit „eignen Augen“26 zu sehen und sich selbst ein Bild von der strittigen Stelle in ihrem unmittelbaren Kontext zu machen.27 Daraufhin meldet er sich persönlich zu Wort 17

  B 3, 199,18 (Hervorh. i. O.).   „Historisch-kritisches Verzeichnis seltenerer Bücher“, 1732. Die Rettung des Inepti ­Religiosi ist – so verkünden es die Worte gleich zu Beginn derselben – (ebenfalls!) „wider den Herrn Pastor Vogt gerichtet“ (B 3, 224,3f.; vgl. entsprechend im „Stellenkommentar“, B 3, 1039). 19   B 3, 199,17f. – In seinen Ausführungen zu Johann Vogt betont Multhammer, „dass Vogt als Gelehrter sowie als intimer Kenner heterodoxen Schriftguts eine ernst zu nehmende Größe war und Lessing mit seinem Angriff einem Gegner auf Augenhöhe begegnete“ (Multhammer 2013, 241). 20   B 3, 154,13f. („Vorrede [zu den Rettungen]“). – S. auch hier wieder o. die allgemeinen Ausführungen zu Lessings Rettungen in Kap. I. 1.1. 21   Bei den folgenden Zitaten bis einschließlich demjenigen bei Anm. 25 handelt es sich um Vogt-Zitate. 22   B 3, 199,23f. 23   B 3, 199,30. 24   B 3, 199,32ff. 25   B 3, 200,1–5. 26   B 3, 200,28. 27   Dadurch sucht Lessing dem allgemeinen Missstand Abhilfe zu schaffen, welchen er in der ‚kühnen Behauptung‘ zusammenfasst, „daß alle diese Gelehrte [sc. die Anklage gegen den 18

II. Kritik der Apologetik

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und fügt seinerseits dem zitierten Abschnitt „einige Anmerkungen“28 an (Teil III A.). Freilich begnügt sich Lessing keineswegs damit, die Gegner des Cardan von der Unhaltbarkeit ihres Vorwurfs zu überzeugen. Und ebenso ist auch das, was wie seine eigene Cardan-Kritik erscheint, weit mehr als das: Lessing nutzt seine „Anmerkungen“ für eigene religionsphilosophische Reflexionen, die wir, wie oben bereits erwähnt, eingehender untersuchen werden. – Die von Lessing verfochtene, rein philologische Lösung des in der Anklage aufgeworfenen Problems (Teil III B.) soll uns indes nicht weiter interessieren.

2. Analyse und Interpretation In aller ihm nur möglichen Bescheidenheit also ‚wagt‘ Lessing „einige Anmerkungen über das, was man [bei Cardan] gelesen hat“.29 Für ihn ist dabei die Frage leitend, warum überhaupt die Gelehrten –­ seit nunmehr zwei Jahrhunderten – Anstoß an Cardans Religionsvergleich nehmen. Wie aus obiger Gliederung ersichtlich, ergeben sich hieraus sogleich zwei präzisierende Anschlussfragen, nämlich: „Ist die Vergleichung der verschiednen Religionen, [1.] an und vor sich selbst, strafbar; oder ist es [2.] nur die Art, mit welcher sie Cardan unternommen hat?“30 Bevor Lessing also Cardans Religionsvergleich im Besonderen einer scharfsinnigen Analyse unterzieht, nutzt er zunächst die Gelegenheit, um mit Blick auf den Religionsvergleich „an und vor sich selbst“ in grundlegenderer Weise etwas anzumerken.

2.1 Von der Unverfügbarkeit der Wahrheit oder Notwendigkeit der Überzeugung in Glaubensdingen Im Hintergrund von Lessings „Anmerkungen“ stehen zwei Erkenntnisse, die im Text selber zwar nicht explizit genannt werden, die aber – das kann man sagen – für ihn zeitlebens leitend sind. Die eine besteht darin, dass kein Mensch über die Wahrheit verfügt; und die andere, dass keine positive Religion den Anspruch, die (einzige) wahrhaft göttliche zu sein, als evident berechtigten für sich erheben kann. Aus diesen beiden Einsichten ergeben sich zweierlei Konsequenzen: Erstens kann Religion nicht als ein solches begriffen werden, in dessen Gestalt der Mensch die Wahrheit besitzen und – einem Erbe gleich – an Kinder und Kindeskinder weitergeben könnte. Entsprechend ist Religion „kein Werk, das Cardan erhoben haben resp. erheben], entweder nur Nachbeter sind, oder, wenn sie mit ihren eignen Augen gesehen haben, nicht haben construieren können. Ich sage: nicht können; denn auch das kann man nicht, woran uns die Vorurteile verhindern“ (B 3, 200,27–31). 28   B 3, 207,10. 29   B 3, 207,10f. 30   B 3, 207,12–15 (Hervorh. i. O.).

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man von seinen Eltern auf Treue und Glaube annehmen soll“.31 Vielmehr gilt es, den beschwerlichen „Weg der Untersuchung“ auf sich zu nehmen, um so – bestenfalls und überhaupt und allererst – „zur Überzeugung“ von ihrer Wahrheit zu gelangen.32 Ganz in diesem Sinne heißt es im Cardan-Essay: „Was ist nötiger, als sich von seinem Glauben zu überzeugen[33], und was ist unmöglicher als Überzeugung, ohne vorhergegangene Prüfung?“34 Nun aber kann – das ist die zweite Konsequenz, die sich aus den oben skizzierten Einsichten ergibt – solche Prüfung nicht auf die eigene Religion beschränkt bleiben. Dies nämlich setzte voraus, dass die eigene Religion unmittelbar – also vor aller Prüfung schon – als ‚der rechte Weg‘ gewusst würde. Da jedoch die Wahrheit oder Göttlichkeit keiner Religion unmittelbar evident ist, bleibt gerade diese Einsicht dem Menschen schlichtweg verwehrt. Zur Gewissheit ‚des rechten Weges‘ vermag er also nur über den Umweg der Untersuchung zu gelangen, nämlich dadurch, dass er die anderen Wege als „Irrwege“ erkennt und verwirft.35 Nun zielt der Religionsvergleich auf nichts anderes als eben die Untersuchung und Vergleichung der einzelnen Wege ab und ist insofern in seiner grundsätzlichen Berechtigung und Notwendigkeit nicht in Frage zu stellen. Vor dem Hintergrund dieser Argumentation freilich erscheint es geradezu als Bruch, wenn Lessing mit den folgenden Sätzen fortfährt: „Und benimmt man sich nicht, durch die Anpreisung dieser einseitigen Untersuchung“ – gemeint ist die Prüfung lediglich der eigenen Religion – selbst die Hoffnung, daß die Irrgläubigen aus Erkenntnis unsre Brüder werden können? Wenn man dem Christen befiehlt, nur die Lehren Christi zu untersuchen, so befiehlt man auch dem Mahometaner, sich nur um die Lehre des Mahomets zu bekümmern. Es ist wahr, jener wird darüber nicht in Gefahr kommen, einen bessern Glauben für einen schlechtern fahren zu lassen; allein dieser wird auch die Gelegenheit nicht haben, den schlechtern mit einem bessern zu verwechseln. Doch was rede ich von Gefahr? Der muß ein schwaches Vertrauen auf die ewigen Wahrheiten des Heilandes setzen, der sich fürchtet, sie mit Lügen gegen einander zu halten. Wahrer als wahr, kann nichts sein; und auch die Verblendung hat da keine Statt, wo ich auf der einen Seite nichts als Unsinn, und auf der andern nichts als Vernunft sehe. Was folgt also daraus? Daß der Christ, bei der Vergleichung der Religionen, nichts verlieren, der Heide, Jude und Türke aber unendlich viel gewinnen kann; daß sie nicht nur, nicht zu untersagen, sondern auch anzupreisen ist.36

31   So die bereits mehrfach zitierten Worte aus Lessings Brief an seinen Vater (Brief Nr. 21 [An Johann Gottfried Lessing; 30. Mai 1749], in: B 11/1, 25–28. Hier: 26,19f.). 32   B 11/1, 26,17. 33   Zum Begriff des Überzeugens sei bereits hier auf die ‚Mahometaner‘-Rede und seine dortige Verwendung verwiesen (vgl. B 3, 215,19ff.). 34   B 3, 207,17ff. 35   Zum ‚Gleichnis‘ des rechten Weges und der Irrwege vgl. B 3, 207,23–26. 36   B 3, 207,26–208,9.

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Entgegen der von ihm selbst erhobenen Forderung, die Wahrheitsfrage sowohl der eigenen als auch der anderen Religionen erst nach eingehender Prüfung und Ab­wägung der verschiedenen ‚Wege‘ zu entscheiden, scheint Lessing im angeführten Zitat – noch vor aller Untersuchung – die Wahrheit der christlichen Religion schlicht vorauszusetzen und infolgedessen nur einen Ausgang der Unter­suchung zu gewärtigen: „Was folgt also daraus? Daß der Christ, bei der Vergleichung der Religionen, nichts verlieren, der Heide, Jude und Türke aber unendlich viel gewinnen kann“. Gemäß solcher Logik handelt es sich beim mohammedanischen Glauben – gegenüber dem christlichen – denn auch notwendig um „einen schlechtern“; und nach derselben Logik haben alle großen, außerchristlichen Religionen durch ihre Auseinandersetzung mit dem Christentum auch „unendlich viel“ zu gewinnen. – Noch größer wird die Irritation indes, wenn Lessing, in einzelnen Spitzenaussagen des obigen Zitats, die Lehren der christlichen Religion kurzerhand mit der Wahrheit selbst identifiziert und dieser dann die „Lügen“ der außerchristlichen Religionen gegenüberstellt, sodass er „auf der einen Seite nichts als Unsinn, und auf der andern nichts als Vernunft“ zu erblicken vorgibt.37 Anstatt Lessing nun der Widersprüchlichkeit zu zeihen, schlage ich vor, den festgestellten Bruch als wohlkalkuliert aufzufassen und also im Rahmen einer rhetorischen Strategie zu deuten.38 Diese besteht – grob gesagt – darin, immer dort, wo die Wahrheit der christlichen Religion kurzerhand vorausgesetzt oder gar exklusiv beansprucht wird, die Sprache der Gegner zu imitieren, um in der Folge die Brüchigkeit ihres Standpunkts desto augenfälliger zu machen.39 In diesem Sinne wird uns Lessing in seiner Auseinandersetzung mit Cardans Religionsvergleich noch demonstrieren, dass weder die Wahrheit der christlichen 37

  Wären dies wirklich Lessings „eigene“ Worte, wäre spätestens dort der Selbstwiderspruch perfekt, wo seine Cardan-Rettung in Kritik umschlägt (s. Gliederung: III A. b. ii. 2.). So heißt es an dieser Stelle: „Wir haben nicht eher eine aufrichtige Kenntnis davon [sc. von Mohammed und seinen Lehren] erhalten, als durch die Werke eines Relands und Sale; aus welchen man am meisten erkannt hat, daß Mahomet eben kein so unsinniger Betrieger, und seine Religion eben kein bloßes Gewebe übel an einander hangender Ungereimtheiten und Verfälschungen sei“ (B 3, 214,9–14; Hervorh. D.Z.). 38   In eine ähnliche Richtung deutend spricht Friedrich Vollhardt von – zwar „zunächst kaum merkbarer“, so doch von – „Ironie“ in den Lessingschen Ausführungen (Vollhardt 2018, 105). Gegen unseren Vorschlag, die widersprüchlichen Aussagen im Rahmen einer rhetorischen Strategie zu deuten, meint Georges Pons hier echte „Widersprüche“ erkennen zu können, jedoch nicht „bewußte Widersprüche“, sondern: Indem Lessing „auf die Gefahr der Parteilichkeit bei solchen Vergleichen [hat] reagieren wollen“, trieb er es „zu weit“ und ließ „dabei Widersprüchliches mitgehen […], das die Verlegenheit eines fünfundzwanzigjährigen Mannes vor den Argumenten der Hauptreligionen verrät“ (Pons 1980, 392). – In den meisten anderen Analysen und Interpretationen zum Cardan-Essay wird diese Widersprüchlichkeit indes gar nicht erst bemerkt oder wenigstens nicht thematisiert. 39   Ähnlich stellt auch Silvia Horsch mit Blick auf diese Textstelle fest, Lessing wiege „den christlichen Leser zunächst in Sicherheit“ (Horsch 2004, 35); vgl. außerdem Schneider 1953, 104.

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Religion noch die Unwahrheit der außerchristlichen – zumindest monotheistischen – „Hauptreligionen“ im Rahmen der zeitgenössischen Apologetik als erwiesen gelten kann.

2.2 Historische Gründe und Vernunftgründe Nachdem Lessing die erste der beiden zu Beginn seiner „Anmerkungen“ aufgeworfenen Fragen40 klar verneinen musste, kann Cardan – sofern die Vorwürfe seiner Gegner einigen Grund haben sollen – letztlich nur „in der Art dieser Vergleichung gefehlt haben“.41 Nun sind auch in dieser Hinsicht zwei Fälle denkbar: „Entweder er [sc. Cardan] hat die Gründe der falschen Religionen allzustark, oder die Gründe der wahren allzu schwach vorgestellt.“ 42 Lessing betrachtet zunächst die zweite dieser Möglichkeiten und zieht, am Ende des Abschnitts43, das folgende Fazit: „[I]ch halte diese Stelle des Cardans für den gründlichsten Auszug, den man aus allen Verteidigungen der christlichen Religion, die, vor ihm und nach ihm, sind geschrieben worden, machen kann.“44 Indem Lessing die mustergültige Stelle des Cardan in gekonnter Weise systematisiert, analysiert dieser Abschnitt zugleich die Mittel, welche der theologisch-apologetischen Praxis generell zur Verfügung stehen und – darüber hinaus, abstrakter – die Möglichkeiten erschöpfen, historische Religion überhaupt als wahr zu begründen. Dieser Mittel nun sind zwei: (1.) historische Gründe und (2.) Vernunftgründe.45

40

  „Ist die Vergleichung der verschiednen Religionen, an und vor sich selbst, strafbar[…]?“   B 3, 208,10f. 42   B 3, 208,12ff. – Mit der Rede von den außerchristlichen als den „falschen Religionen“ und der christlichen als der „wahren“ imitiert Lessing freilich wieder die Sprache seiner Gegner. Auch kann es im Rahmen einer philosophischen Untersuchung ein ‚Zu-stark‘ in der Darlegung der Gründe – selbst des Falschen und Unwahren – nicht geben, wie Lessing weiter unten noch ausführen wird. 43   In unserer Gliederung befinden wir uns im Abschnitt Teil III A. b. i. 44   B 3, 211,9–12. – Freilich sind, wie noch zu zeigen sein wird, die von Lessing referierten Ausführungen Cardans lediglich im Kontext einer vorwiegend historisch argumentierenden Apologetik als mustergültig zu erachten; insofern also Lessings Kritik die Schwächen eben dieser Tradition aufzudecken sich anschickt (s.u.), ist sein Lob mindestens ambivalent, wenn nicht gar ironisch zu verstehen. 45   Georges Pons nennt dieser Mittel drei: „zuerst Berufung auf historische Beweise […], dann Berufung auf moralische Beweise […], schließlich Berufung auf philosophische Beweise“ (vgl. Pons 1980, 390). Da die Vernunft im ganzheitlichen Verständnis Lessings (s. die entsprechenden Ausführungen zum Herrnhuter-Essay, o. Kap. I. 2.2.1) sowohl die Moral (praktische Vernunft) als auch die Philosophie im engeren Sinne (theoretische Vernunft) umgreift, werden hier die moralischen und die philosophischen Beweise unter „Vernunftgründe“ zusammengefasst. In dieser Weise scheint mir auch Lessing zu verfahren, wenn er „Moral“ und ‚natürliche Weltweisheit‘ folgendermaßen im Begriff der „Vernunft“ koordiniert: „Allein er [sc. Cardan] ist zu klug, diese Aufopferung der Vernunft, so gerade hin, zu fordern. Er behauptet vielmehr, daß die ganze Lehre Christi nichts enthalte, was mit der Moral und mit der 41

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Hinsichtlich der christlichen Religion kann man, so differenziert Lessing weiter, drei Arten von historischen Gründen annehmen: Historische Gründe, welche aus den Zeiten vor der Menschwerdung des Heilandes hergenommen sind; historische Gründe aus den Zeiten des Heilandes selbst, und endlich historische Gründe, aus den Zeiten die nach ihm gefolget sind. Die ersten sind diejenigen, die uns die Propheten an die Hand geben[46]; die andern sind die, welche auf den Wundern unsers Erlösers beruhen, und die dritten werden aus der Art, wie die christliche Religion ausgebreitet worden, hergeholt.47

Von all dem also hat Cardan – darin weiß sich Lessing mit dem ‚unparteiischen Leser‘ einig48 – mit unerreichter Stärke, mit aller nur wünschenswerten Gründlichkeit und mit äußerstem Scharfsinn gehandelt.49 – Dass indes selbst die bestmögliche Art, die historischen Gründe zum Erweis der Wahrheit einer Religion darzulegen, nicht hinreicht, diesen Erweis dann auch tatsächlich zu erbringen, diese Einsicht weckt Lessing – zumindest bei seinem aufmerksamen Leser – bereits hier.50 Es ist lediglich ein Wort, eine Formulierung, die Cardans „scharfsinnig[e]“51 Begründung in ihrer philosophischen Überzeugungskraft richtiggehend aushöhlt. So lesen wir, dass Cardan hinsichtlich der Wunder Christi zwei Dinge [bemerkt], deren eines bei den Wundern der falschen Religionen immer mangelt. Er behauptet, daß sie wirkliche Wunder sind, und behauptet, daß sie, als solche, von glaubwürdigen Zeugen bekräftiget worden.52

Historische Gründe sind aufgrund der Kontingenz aller historischen Ereignisse nicht evident und können also lediglich behauptet, niemals aber bewiesen werden – ein Umstand, der ihre Beweiskraft für die Wahrheit mehr als zweifelhaft

natürlichen Weltweisheit streite, oder mit ihr in keine Einstimmung könne gebracht werden“ (B 3, 210,19–24; Hervorh. D.Z.). 46   Gemeint sind die „Vorherverkündigungen der jüdischen Propheten“, die „in Christo so genau erfüllet worden“ (B 3, 208,33ff.). 47   B 3, 208,24–31. 48   Vgl. B 3, 208,15–20. 49   Cardans apologetische Bemühungen erweisen sich nicht zuletzt deshalb als mustergültig, weil er als „Verfechter des christlichen Glaubens“ zwei Eigenschaften erkennen lässt, „die nicht immer beisammen sind“, nämlich Stärke und Vorsicht: „Cardan läßt bei diesem Beweise nichts weg, als das, was ich wünschte, daß man es immer weggelassen hätte. Das Blut der Märtyrer nemlich, welches ein sehr zweideutiges Ding ist. Er war in ihrer Geschichte, ohne Zweifel, allzuwohl bewandert, als daß er nicht sehr viele unter ihnen bemerken sollte, die eher Toren und Rasende genannt zu werden verdienen, als Blutzeugen. Auch kannte er ohne Zweifel das menschliche Herz zu gut, als daß er nicht wissen sollte, eine geliebte Grille könne es eben so weit bringen, als die Wahrheit in allem ihren Glanze“ (B 3, 210,3–15; Hervorh. i. O.). 50   Ein Hinweis hierauf findet sich auch bei Vollhardt: „Unvermerkt beginnt er [sc. Lessing] an diesem Punkt ein Spiel mit der Dignität des historischen Wissens“, auch wenn seine Aufzählung von „Unsicherheit […] zunächst wenig spüren“ lasse (Vollhardt 2018, 105). 51   B 3, 209,10. 52   B 3, 209,10–14 (Hervorh. D.Z.).

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erscheinen lässt.53 Insofern muss es einmal mehr innerhalb von Lessings rhetorischer Strategie verstanden werden, wenn er dieselben als „die vornehmsten“ unter den Gründen zum Erweis der christlichen Wahrheit qualifiziert54 und seine Ausführungen zu Cardans Explikation der historischen Gründe gar mit den folgenden Worten beschließt: Cardan hätte es bei den historischen Gründen können bewenden lassen; denn wer weiß nicht, daß, wann diese nur ihre Richtigkeit haben, man sonst alle Schwierigkeiten unter das Joch des Glaubens zwingen müsse?55

Wieder imitiert Lessing die Sprache seiner Gegner. Für Lessing selbst kann die Wahrheit einer Religion allein und ausschließlich mittels Vernunftgründen erwiesen werden.56 Insofern ist es nur „klug“, dass Cardan die „Aufopferung der Vernunft [nämlich unter das Joch des Glaubens], so gerade hin“57 nicht fordert, sondern auf die Vereinbarkeit der Lehre Christi mit der Vernunft hinweist. – Da diese Stelle unter Lessinginterpreten schon einige Verwirrung zu stiften vermochte, sei sie zunächst im Wortlaut hergesetzt und im Anschluss kurz kommentiert: Er [sc. Cardan] behauptet[58] vielmehr, daß die ganze Lehre Christi nichts enthalte, was mit der Moral und mit der natürlichen Weltweisheit streite, oder mit ihr in keine Einstimmung könne gebracht werden: nihil continent praecepta Christi a philosophia 53   Das Lob, welches Lessing dem Cardan zu zollen sich verpflichtet sieht, spricht also keineswegs für die Überzeugungskraft des vermeintlichen Wunderbeweises selbst: „Kann man ihre [sc. der geschehenen Wundertaten Christi] Glaubwürdigkeit besser, oder kann man sie nur anders beweisen“ (B 3, 209,20f.) – als nämlich unter Verweis auf die Glaubwürdigkeit der Zeugen? 54   Vgl. B 3, 208,21f. – Freilich steckt in der unpersönlichen Formulierung „Man weiß, …“ (Hervorh. D.Z.), zumindest bei genauerer Draufsicht, ein deutliches Moment der Distanzierung. 55   B 3, 210,16–19 (Hervorh. i. O.). – Gerade darin besteht ja die Schwäche der von Lessing kritisierten zeitgenössischen Apologetik, dass sie sich auf die historischen Gründe kapriziert (s.u. Lessings Kritik der zeitgenössischen Apologetik). 56   Dass die Vernunft das eigentliche und ausschließliche Kriterium zum Erweis der Wahrheit darstellt, hat Lessing bereits in seiner Identifikation der „ewigen Wahrheiten“ mit der reinen „Vernunft“ bzw. der „Lügen“ mit dem baren „Unsinn“ angedeutet (vgl. B 3, 207,37– 208,5). Expliziter wird diese Auffassung dann im Rahmen von Lessings Cardan-Kritik (s.u.). 57   B 3, 210,20f. 58   Dass Lessing auch hier, im Kontext der Vernunftgründe, davon spricht, dass Cardan behaupte, kann nicht im Sinne des obigen behaupten gedeutet werden. Grund für die Formulierung an dieser Stelle ist vielmehr, dass Cardan hier tatsächlich nur behauptet, ohne diese Behauptung näher zu begründen oder mit Beispielen zu unterfüttern. So heißt es am entsprechenden Ort des Cardan-Zitats (Teil II C.) lediglich: „Der dritte Grund [auf welchen sich der Christ stützt] wird von den Geboten Christi hergenommen, welche nichts enthalten, was mit der Moral oder mit der natürlichen Philosophie streitet“ (B 3, 204,19ff.; Hervorh. i. O.). Im Unterschied zu den historischen Gründen, die notwendig nur behauptet werden können, besitzen die Vernunftgründe – bei entsprechender Begründung und Explikation – durchaus Evidenz.

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morali aut naturali absonum, sind seine eigne Worte. Das ist alles, was man verlangen kann! Man sage nicht, daß er dadurch auf einer andern Seite ausgeschweift sei, und unsrer Religion ihre eigentümlichen Wahrheiten, auf welche die Vernunft, vor sich allein, nicht kommen kann, absprechen wolle. Wenn dieses seine Meinung gewesen wäre, so würde er sich ganz anders ausgedrückt haben; die Lehre Christi, hätte er sagen müssen, enthält nichts anders, als was die Moral und natürliche Philosophie enthält; nicht aber: was sie enthält, harmoniert mit diesen. Zwei ganz verschiedne Sätze!59

Die Verwirrung, die infolge dieser Worte schon entstanden ist, gründet in erster Linie in der vorschnellen Identifikation Lessings mit Cardan, und zwar hinsichtlich ihrer Bewertung der Übervernünftigkeit der christlichen Mysterien. In diesem Sinne heißt es bei Johannes Schneider, Lessing selbst(!) räume „die Möglichkeit der ‚eigentümlichen Wahrheiten‘ [ausdrücklich!] ein, ‚auf welche die Vernunft vor sich allein nicht kommen kann‘“.60 Freilich erklärt sich eine solche Lesart vom ähnlich klingenden Wortlaut in den §§ 4 und 77 der – um Jahrzehnte später verfassten – Erziehung des Menschengeschlechts her. Und doch vermag der nicht recht zu sehen, der – wie Schneider – im Lessing der frühen 1750er-Jahre einen „suprarationalistischen Leibnizianer“ zu erkennen meint.61 Demgegenüber kann die eigentliche Funktion des zitierten Abschnitts in seinem unmittelbaren Kontext genau bestimmt werden: Es geht Lessing darum, Cardans Verteidigung der christlichen Religion nach Maßgabe der zeitgenössischen Apologetik als mustergültig zu erweisen. Mit Blick auf dieses Ziel birgt die von Lessing im originalen Wortlaut zitierte Stelle insofern das Potential zum Missverständnis, als sie in gleichsam „deistischem“ Sinne ausgelegt werden kann.62 Um also Cardan gegen einen neuerlichen Atheismus-Vorwurf zu immunisieren63, weist Lessing auf dessen antideistische Haltung hin: Cardan beabsichtige keineswegs, „unsrer Religion ihre eigentümlichen Wahrheiten, auf welche die Vernunft, vor sich allein, nicht kommen kann“, abzusprechen, sondern vielmehr dieses: deren Übervernünftigkeit als nicht widervernünftig darzulegen. Während also Cardan auf diese Weise zum „suprarationalistischen Leibnizianer“ gestempelt wird, ist für Lessing selbst die Möglichkeit einer ‚höheren Offenbarung‘ mindestens problematisch64 und einzig durch den Beweis 59

  B 3, 210,21–35.   Schneider 1953, 109. 61   Vgl. aaO., 110. – Dieses von uns hier lediglich behauptete, nicht weiter begründete Urteil über die referierte Position wird sich dem als zutreffend erweisen, der sich – als Leser dieser Arbeit – gemeinsam mit uns auf den Weg gemacht hat und sieht, wo dieser Weg herkommt und wohin er weiter führen wird. 62   Nämlich in dem von Lessing ausgeführten Sinne, dass die Lehre Christi „nichts anders“ enthalte, „als was die Moral und natürliche Philosophie enthält“. 63   Wir müssen ja „mit Lessing […] eine ‚weitläufigere Auslegung‘ des Atheismus-Begriffs annehmen, dessen Bedeutungsumfang durch den jeweiligen Geltungsbereich der Dogmen sowie durch eine erkennbar religiöse Lebensführung bestimmt wird“ (Achermann 2015, 149). 64  S. hierzu die entsprechenden Ausführungen o. in Kap. I. 2.2.2. 60

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zu begründen, dass – so die Worte seines ‚Mahometaners‘, dessen Bekanntschaft wir gleich noch machen werden – „der Mensch zu mehr verbunden ist, als Gott zu kennen, und tugendhaft zu sein; oder wenigstens, daß ihm beides die Vernunft nicht lehren kann, die ihm doch eben dazu gegeben ward!“65

2.3 Lessings Kritik der zeitgenössischen Apologetik Nachdem also die Frage nach der Legitimität des Religionsvergleichs „an und vor sich selbst“ ebenso wie auch die nach der Güte von Cardans Verteidigung der christlichen Religion (zumindest nach Maßgabe der zeitgenössischen Apologetik!) – beide – zugunsten des Angeklagten beantwortet sind, bleibt den Gegnern nur noch eine Möglichkeit, ihre Vorwürfe zu begründen: Noch ist der zweite Fall zurück. Wann Cardan die Gründe für die Wahrheit nicht geschwächt hat, so kann er doch der Lügen Farbe und Leben gegeben, und sich dadurch verdächtig gemacht haben. Auch dieses verdient erwogen zu werden. 66

Bei Erwägung dieser letzten Möglichkeit unterzieht Lessing, in einem ersten Schritt, die Legitimität solcher Verdächtigung einer prinzipiellen Prüfung, der Verdächtigung nämlich, „bei Untersuchung der Wahrheit“ der Gegenposition – im Falle der Wahrheit heißt das: „der Lügen“ – „Farbe und Leben gegeben“ zu haben.67 In diesem Zusammenhang verleiht er der scheinbar banalen, doch fundamentalen und, als solcher, folgenreichen Erkenntnis Ausdruck, dass der Streit um die Wahrheit einer anderen Logik folgt, als ‚bürgerliche Händel‘68 es tun. Auf zweierlei Dinge weist Lessing hin: Erstens kann im Falle einer gerichtlichen Auseinandersetzung (im bürgerlichen Kontext) immer nur eine Partei den Sieg davontragen, es korreliert also mit dem Gewinn der einen notwendig der Verlust der anderen69; und zweitens kann von einem Richter weiter nichts gefordert werden, „als daß er mit seinem Ausspruche auf diejenige Seite tritt, welche das meiste Recht vor sich zu haben scheinet“.70 In der Konsequenz liegt den streitenden Parteien also besonders daran, die je eigene Sache in ein möglichst vorteilhaftes Licht zu rücken.71 – Ganz anders verhält es sich im Streit um die Wahrheit. Hier gilt erstens, dass in Anbetracht des Verhandlungsgegenstan65   B 3, 215,24–27. – Vgl. hierzu auch Tindals erkenntnistheoretische Begründung der Identität von Moral und Religion, von lex naturae und lex divina in der Konzeption der erleuchteten Vernunft (s. Exkurs 1). 66   B 3, 211,13–17 (Hervorh. i. O.). – Bei der (christlichen) „Wahrheit“ und den (außerchristlichen) „Lügen“ handelt es sich freilich wieder um die Terminologie der Gegner. 67   Vgl. B 3, 211,18ff. 68   B 3, 211,21. 69   Vgl. B 3, 211,26f. 70   B 3, 211,28ff. (Hervorh. i. O.). 71   Aus diesem Grund würde man „denjenigen für einen Rasenden halten“, der „in bürgerlichen Händeln […] seinem Widersacher Beweise gegen sich an die Hand“ gäbe, „ohne die er [sc. der Widersacher] seine Sachen sogleich verlieren müßte“ (B 3, 211,20–24).

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des ‚Schein‘ als Urteilskriterium ausscheidet, sowie zweitens, dass aus diesem Streit keine Partei als Verlierer, sondern alle – und zwar notwendigerweise – als Gewinner hervorgehen: Man streitet zwar um sie [sc. die Wahrheit]; allein es mag sie der eine oder der andere Teil gewinnen, so gewinnt er sie doch nie für sich selbst. Die Partei welche verlieret, verlieret nichts als Irrtümer; und kann alle Augenblicke an dem Siege der andern, Teil nehmen.72

Wahrheit, so stellten wir bereits eingangs fest, ist nichts, worüber verfügt werden könnte. Wahrheit ist nie einfach vorhanden; sie kann lediglich im Laufe eines Erkenntnisprozesses errungen werden. Wahrheit findet sich – wenn überhaupt, dann – nur am Ziele dieses Prozesses. In Ermangelung einer Landkarte, die den Weg dorthin vorzeichnet, liegt es folglich an jedem einzelnen, „den rechten Weg“ – tastenden Schrittes – selbst auszukundschaften. Dabei kann, auch das wissen wir bereits, der rechte Weg einzig und allein durch die „Irrwege“ erkannt werden.73 Wer also im Streit um die Wahrheit den Triumph der Gegenpartei einsieht, erkennt damit nicht nur den eigenen Standpunkt als Irrtum, sondern nimmt mit dieser Einsicht zugleich auch selbst „an dem Siege der andern[] Teil“: Auch er erringt die Wahrheit – nämlich die Wahrheit nicht des andern74, sondern die Wahrheit überhaupt! In diesem Sinne ist für Lessing die „Aufrichtigkeit […] das erste, was ich an einem Weltweisen verlange“.75 In seiner Aufrichtigkeit braucht der „keinen Satz deswegen [zu] verschweigen, weil er mit seinem System weniger überein kömmt, als mit dem System eines andern; und keinen Einwurf deswegen, weil er nicht mit aller Stärke darauf antworten kann“.76 Vielmehr obliegt es dem Philosophen – als dem Wahrheitsliebenden schlechthin –, „auch die falschen Religionen, und die aller gefährlichsten Sophistereien, in das aller vorteilhafteste Licht [zu setzen], um sich die Widerlegung, nicht sowohl leicht, als gewiß zu machen“.77 Kurz: Um sich der Wahrheit des eigenen Standpunktes gewiss werden (oder aber: ihn als erwiesenermaßen falschen aufgeben) zu können, gilt es im Streit um die Wahrheit, die Gegenpartei an ihrem stärksten Punkt zu kritisieren. Demnach könnte Cardans Reli­gions­ ver­gleich nur dann als gelungen betrachtet werden, wenn er nicht allein den Wahrheitserweis der christlichen Religion auf die gründlichste Weise erbracht hätte, sondern auch 72

  B 3, 211,32–36. – Nach dieser Logik bietet sich für die oben zitierte Aussage, „[d]aß der Christ, bei der Vergleichung der Religionen, nichts verlieren […] kann“ (s. obiges Zitat bei Anm. 36), also noch eine ganz andere Verstehensmöglichkeit. 73   Vgl. B 3, 207,23–26. 74   Insofern hat der das Wesen der Wahrheit verkannt, der meint, aus ihr „ein eigennütziges Geschäfte“ machen zu können (B 3, 212,5). 75   B 3, 211,36f. 76   B 3, 211,37–212,4. 77   B 3, 212,9–12. – Fick spricht von der „Grundregel des Streitgesprächs“ (Fick 2016, 130).

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den heidnischen, jüdischen und türkischen Glauben, mit so vielen und starken Gründen unterstützt hätte, daß auch die aller feinsten Köpfe von ihren eignen Anhängern nichts mehr hinzu tun könnten[.]78

Damit ein Vergleich der Religionen also überhaupt gelingen kann, muss der, welcher ihn durchführt, sich allererst auf den Standpunkt der „Parteilosigkeit“ – nämlich des Prüfenden, nicht des Besitzenden – zurückziehen.79 An diesem Punkt schlägt Lessings Cardan-Verteidigung in Kritik um – in Kritik an Cardan und in doppelte Kritik an dessen Gegnern. Indem er dem Italiener nämlich dort ein Zuwenig an Stärke vorwirft, wo seine Gegner ein Zuviel kritisieren, verschärft er zugleich und vor allem seine Kritik an diesen80: Es gelingt ihm nicht allein, ihre Vorwürfe gegen Cardan als unbegründet zurückzuweisen; mit seiner Kritik an Cardans mangelnder „Aufrichtigkeit“ stellt Lessing zugleich, und zwar in noch grundlegenderer, massiverer Weise, auch ihre Aufrichtigkeit in Frage, und damit nicht allein ihre Wahrheitsliebe, sondern – und hierauf scheint es ihm v.a. anzukommen – die Geltung des von ihnen behaupteten Wahrheitsanspruches im Streit der Religionen. – Lessings These also lautet – und er wähnt sich hier mit jedem vorurteilsfrei Prüfenden in Übereinkunft81 –, Cardan „sei mit keiner einzigen Religion aufrichtig verfahren, als mit der christlichen; die übrigen alle hat er mit den allerschlechtesten Gründen unterstützt, und mit noch schlechtern widerlegt“.82 Um zu demonstrieren, wie leicht Cardans „Trugschlüsse“83 entkräftet werden können, schaltet Lessing nacheinander die fiktiven Reden eines ‚rechtgläubigen Israeliten‘ und eines ‚Mahometaners‘ ein, die sich beide durch die Cardansche Fassung des Religionen-Disputs mindestens falsch verstanden, wenn nicht gar ungerecht behandelt fühlen.84 Wieder nutzt er die formale Offenheit des Essays und wechselt in einen dramatischen Modus.85 Anders als Cardan, in dessen Darstellung die Vertreter der nicht-christlichen Re78

  B 3, 212,14–18. – Die unmittelbar sich anschließenden Worte: „Würden sie [die nichtchristlichen Glaubensweisen] deswegen weniger falsch bleiben, oder würde unser Glaube deswegen weniger wahr werden?“ (B 3, 212,18f.), sind – indem sie die Wahrheit der eigenen und die Unwahrheit der anderen Religionen bloß voraussetzen – freilich nicht die eines ‚aufrichtigen‘ Philosophen, sondern wieder im Sinne der Cardan-Gegner gesprochen. 79   Von ‚Parteilosigkeit‘ spricht Helmut Göbel (vgl. Göbel 1980, 178). 80   Insofern bekundet Lessing sein blankes Unverständnis: „Ich möchte doch wissen, was denn nunmehr daraus folgte, wann es auch wahr wäre, daß Cardan, den heidnischen, jüdischen und türkischen Glauben, mit so vielen und starken Gründen unterstützt hätte, daß auch die aller feinsten Köpfe von ihren eignen Anhängern nichts mehr hinzu tun könnten? Würden sie deswegen weniger falsch bleiben, oder würde unser Glaube deswegen weniger wahr werden?“ (B 3, 212,12–19; Hervorh. i. O.). 81   Vgl. B 3, 212,26f. 82   B 3, 212,23–26. 83   B 3, 213,36. 84   Vgl. B 3, 213,37–214,19. 85   Zu Lessings Rettungen als Essays s. auch die allgemeinen Ausführungen o. in Kap. I. 1.1.

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ligionen lediglich in indirekter Rede zu Wort kommen und wo der Autor selbst „mit seinem abwertenden Kommentar“ stets zugegen ist, gelingt es Lessing als „Vertreter einer kritischen Vernunft“, sich – wenigstens stilistisch betrachtet – aus der Kontroverse herauszuhalten: Indem er das Stil- und Argumentationsprinzip des Cardan in die direkte Rede abändert, eröffnet er damit zugleich einen Freiraum, „den Vertretern der jüdischen und mohammedanischen Religion die Freiheit der Rede zu ermöglichen“. Erst auf diese Weise werden sie im Streit um die Wahrheit zu echten Dialogpartnern.86 Die Aufwertung der eigenen, von Cardan „mit den allerschlechtesten Gründen“ unterstützten und „mit noch schlechtern“ Gründen widerlegten Position 86

  Vgl. Göbel 1980, 178f.; dort finden sich auch die wörtlichen Zitate. – Auch Karl-Josef Kuschel spricht von einem „entschiedene[n] Paradigmenwechsel gegenüber Cardanus und der gesamten christlichen Islam-Theologie, die stets ‚über‘ die Religionen geurteilt hatte. Bei Lessing bekommen die Religionen nun eine eigene Stimme“ (Kuschel 1998, 93). – Evelyn Moore meint an dieser Stelle zeigen zu können, dass es Lessing „nicht mehr um das Thema, sondern vielmehr um die Kunst des Streitens per se gehe“. Demnach kreise seine Auseinandersetzung mit Cardan weniger um Inhalte als vielmehr „um methodische Fragen der Beweisführung“: „Lessing scheint sich nämlich am meisten daran zu stoßen, daß Cardanus den Argumenten der anderen Religionen jegliche Überzeugungskraft versagt, indem er auf rhetorische Figuren und Tropen als Mittel der Vorstellung verzichtet.“ Demgegenüber nun entwerfe Lessing ein „ganz anderes Ideal erfolgreicher Argumentation: Ein Ideal, welches das argumentative Moment mit dem Streitlustigen, Dramatischen, Persönlichen und Lebendigen verbindet und einen didaktisch nüchternen Ton zurückweist“. Indem also Lessing „die Auseinandersetzung zwischen den Religionen in ein echtes Gespräch voll Farbe und Leben umwandelt“, suche er – über die bloße „Aufzeichnung von Argumenten“ hinaus – auch die „damit verwobenen Emotionen“ zu vermitteln. Für Moore erscheint diese Beobachtung deshalb zentral, weil im Rahmen der von ihr behaupteten „epistemologischen Polemik“ die „rhetorische[n] Kunstgriffe als Mittel für eine Erprobung der Wahrheit“ absolute Notwendigkeit erlangen; und sie sucht solche Notwendigkeit damit zu begründen, dass für Lessing „ein Argument nur via Intellekt und Gefühl überzeugen“ könne (vgl. Moore 1993a, 392f. u. 397–400; Hervorh. i. O.; vgl. ferner: Moore 1993b, 19–37). Freilich handelt es sich hierbei um eine sehr einseitige Deutung des Cardan-Essays. Gerade wer Lessings Cardan-Kritik liest, kann sich doch des Eindrucks kaum erwehren, dass es dem jungen Kritiker bei aller rhetorischen und schriftstellerischen Brillanz sehr wohl um das Thema, und nicht allein um methodische Fragen zu tun ist. Hinter seiner Auseinandersetzung mit Cardan steckt also ernsthaftes thematisches Interesse. – S. in diesem Zusammenhang auch Friedrich Vollhardts Kritik am „Bild des unprogrammatischen, den Inhalten gegenüber distanzierten, nur am Verfahren orientierten Intellektuellen“ (Vollhardt 2006a, 362f.). Auch Fick beurteilt, bei aller Kürze ihrer Ausführungen, die Reden des Juden und des Mohammedaners wesentlich differenzierter: Sie seien „lebendig, eindringlich, affektiv und zugleich philosophisch auf der Höhe der Zeit“ (Fick 2016, 130; Hervorh. D.Z.). Darüber hinaus kann gegen Moores Behauptung, für Lessing könne „ein Argument nur via Intellekt und Gefühl überzeugen“, eine Reihe von religionsphilosophischen Schriften angeführt werden, in welchen Lessing mit philosophischer Nüchternheit und Präzision und also bewusst jenseits aller Rhetorik zu argumentieren sucht. Für die frühe Phase sei besonders auf sein Christentum der Vernunft hingewiesen. Überhaupt muss sich für Lessing ein Argument zuallererst im Denken bewähren, dieses aber vom Empfinden/Gefühl klar unterschieden werden; s. hierzu Lessings Auseinandersetzung mit Klopstocks Gefühls­ christentum, unten Kap. IV.

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bildet demnach die vordergründige Absicht der nun eingeschalteten Wider­ reden gegen den Italiener. Betrachtet man die vom Juden bzw. Mohammedaner geführte Argumentation jedoch genauer, so zeigt sich, dass deren Kritik noch eigentlicher darauf zielt – und hierauf soll der Fokus unserer Analyse vor allem liegen –, die durch Cardan vertretene, historisch argumentierende Apologetik in ihrer Siegesgewissheit zu erschüttern.87 Dies geschieht in zwei Schritten. – Zunächst also die Rede des ‚rechtgläubigen Israeliten‘: Sie reagiert auf den in Cardans Religionsvergleich gemachten Einwurf, „daß Gott dasjenige nicht könne gefallen haben, was er habe lassen untergehen“.88 Nun wird ja solcher Einwurf bereits durch das bloße Faktum des Judentums widerlegt: „Ist sie denn untergegangen die jüdische Religion?“89, fragt denn auch Lessing selbst, noch bevor er das Wort an ‚seinen‘ Juden übergibt. Unter dessen Berufung auf Hiob als den scheinbar verworfenen, zuletzt jedoch vielfältig gesegneten Mann wird einer ganz anderen, indes – angesichts der Unabgeschlossenheit der historischen Situation – ebenso möglichen Deutung des jüdischen Schicksals Ausdruck verliehen: Irre dich nicht, Cardan, […] unser Gott hat uns so wenig verlassen, daß er auch in seinen Strafgerichten, noch unser Schutz und Schirm bleibt. Wann er nicht über uns wachte, würden wir nicht längst von unsern Feinden verschlungen sein? Würden sie uns nicht längst von dem Erdboden vertilgt, und unsern Namen aus dem Buche der Lebendigen ausgelöschet haben? In alle Winkel der Welt zerstreuet, und überall gedrückt, beschimpft und verfolgt, sind wir noch eben die, die wir, vor tausend und viel mehr Jahren, gewesen sind. Erkenne seine Hand, oder nenne uns ein zweites Volk, das dem Elende so unüberwindliche Kräfte entgegen setzt, und bei allen Trübsalen den Gott anbetet, von dem diese Trübsalen kommen; ihn noch nach der Weise ihrer Väter anbetet, die er mit guten überschüttete.90

Wie einst zu Satan im Falle Hiobs, so habe Gott auch jetzt zu ihren Feinden „ein schonet gesprochen; und was er spricht ist wahr“.91 Nein, das Ende des Judentums sei noch nicht gekommen: „denn endlich wird er [sc. Gott] doch in einem 87  Ob die von Lessing vorgenommene Konzentration auf die historisch verfahrende Beweisführung tatsächlich auch der Intention von Cardans Text gerecht wird, diese Frage beurteilt Vollhardt – u.E. zurecht – als für unseren Zusammenhang weitgehend irrelevant: „Wichtig ist, dass Lessing die Beweisführung auf diese drei Schritte [gemeint sind der Weissagungsbeweis, der Wunderbeweis sowie der Beweis aus der Art der Ausbreitung der christlichen Religion] konzentriert bzw. reduziert […] Die Welt der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Religionsgespräche war allerdings wesentlich vielgestaltiger, was Lessing ignoriert, um mit der Standardisierung der Argumente die apologetische Praxis seiner eigenen Zeit in den Disput zu integrieren. Die drei Beweise bildeten das Grundgerüst jener anti-deistischen Traktate und Handbücher, die in der Mitte des 18. Jahrhunderts zu Dutzenden erschienen“ (Vollhardt 2018, 106). 88   B 3, 212,30f. 89   B 3, 212,31f. 90   B 3, 213,5–18. 91   B 3, 213,27 (Hervorh. i. O.).

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Wetter herabfahren, und unser Gefängnis wenden, und uns zweifältig so viel geben, als wir gehabt haben“.92 Zweierlei sei hierzu angemerkt: Zum einen führt der jüdische Vertreter mit dem Hinweis auf die wundersame Erhaltung des Judentums ein Argument ins Feld, das in seinem wesentlichen Aussagegehalt mit dem von Cardan (und der zeitgenössischen Apologetik) angeführten „Beweise aus der Fortpflanzung der christlichen Religion“93 übereinstimmt. Durch solche Übereinstimmung aber wird dieser Beweisgrund seiner „schließende[n] Kraft“94 benommen, gründet doch letztere v.a. in der Exklusivität der Ereignisse.95 – Zum anderen ersehen wir aus der Reaktion des ‚rechtgläubigen Israeliten‘, dass die historische Situation des globalen Antijudaismus auch eine ganz andere Deutung zulässt als die vom gottgewollten Untergang96; aus der offenkundigen Mehrdeutigkeit des historischen Ereignisses folgt aber weiter – und zwar notwendig – die grundsätzliche Fraglichkeit seiner Beweiskraft, zumal wenn es um die eine, letzte Wahrheit geht, welche die Religion in sich zu schließen beansprucht. Die hier mehr implizite Kritik an der historischen Begründbarkeit des christlichen Wahrheitsanspruches macht Lessing dann in der ‚Mahometaner‘-Rede explizit97: „Und was würde er [sc. Cardan] wohl haben erwidern können, wann sich ein Muselmann, der eben der gelehrteste nicht zu sein braucht, folgender Gestalt mit ihm eingelassen hätte.“98 Im Zentrum dieser Rede steht der Gegensatz von Offenbarungsreligion und natürlicher Religion, wobei der ‚Mahometaner‘ uns nicht im Zweifel darüber belässt, auf welcher Seite er selber sich wähnt. Doch hören wir ihn selbst: 92

  B 3, 213,32–35.   Vgl. B 3, 209,21–210,12. 94   B 3, 209,24. 95   Vgl. Schilson 1974, 60. – Mit dem Hinweis auf die „faktische Geschichte“ und die darin sich äußernde antijüdische „Grausamkeit der Christen“ führt die Rede des ‚Israeliten‘ freilich auch „einen praktischen Gegenbeweis gegen den Anspruch der christlichen Religion, den jüdischen Glauben abgelöst zu haben, mit sich“ (Fick 2016, 130). 96  Diese Möglichkeit ergibt sich ja nicht allein aus der Perspektive des ‚Israeliten‘, sondern auch für Lessing selbst: „Wie wann ihr jetziger Zustand, nichts als eine verlängerte Babylonische Gefangenschaft wäre? Der Arm, der sein Volk damals rettete, ist noch jetzt ungeschwächt. Vielleicht hat der Gott Abrahams, die Schwierigkeit, die Nachkommenschaft dieses Frommen wieder in ihr Erbteil zu führen, nur darum sich so häufen, und nur darum so unübersteiglich werden lassen, um seine Macht und Weisheit in einem desto herrlichern Glanze, zur Beschämung ihrer Unterdrücker, an Tag zu legen“ (B 3, 212,32–213,3). 97   Im Folgenden soll die ‚Mahometaner‘-Rede unter eben diesem Gesichtspunkt betrachtet werden. Andere Aspekte, wie etwa Lessings Verhältnis zum Islam, bleiben dabei weitgehend unbeachtet. Gleichwohl sei hier mit Göbel darauf hingewiesen, dass das selbständige Auftreten des Islams „neu in der deutschen Aufklärung“ ist und dass darüber hinaus mit Lessing „kein unwissender Aufklärer“ spricht (Göbel 1980, 179). Die Relevanz des Themas betonen auch monographische Studien, unter denen v.a. Kuschel 1998 und Horsch 2004 genannt seien. 98   B 3, 214,19–22. 93

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Erster Teil: Wanderjahre

Gleich Anfangs bin ich schlecht mit dir [sc. Cardan] zufrieden, daß du die Lehren unsers Mahomets in eine Classe setzest, in welche sie gar nicht gehören. Das, was der Heide, der Jude und der Christe seine Religion nennet, ist ein Wirrwar von Sätzen, die eine gesunde Vernunft nie für die ihrigen erkennen wird. Sie berufen sich alle auf höhere Offenbarungen, deren Möglichkeit noch nicht einmal erwiesen ist. Durch diese wollen sie Wahrheiten überkommen haben, die vielleicht in einer andern möglichen Welt, nur nicht in der unsrigen, Wahrheiten sein können. Sie erkennen es selbst, und nennen sie daher Geheimnisse; ein Wort, das seine Widerlegung gleich bei sich führet.99

Der – kategoriale100 – Gegensatz von Offenbarungsreligion und natürlicher Religion lässt sich demnach durch die folgenden Oppositionsverhältnisse ausdrücken: Während die eine sich auf „höhere Offenbarungen“ beruft101, sieht sich die andere durch die „gesunde Vernunft“ konstituiert102; während die eine (scheinbar) widervernünftige „Geheimnisse“ zu ihrem spezifischen Inhalt hat, schließt die andere nur solche Lehren in sich, die „mit der allerstrengsten Vernunft übereinkomme[n]“103; während die eine auf formaler Seite ein „Wirrwar von Sätzen“ aufweist, zeichnet sich die andere durch ein geordnetes, von jedermann nachvollziehbares System vernünftiger Lehren aus; und während die eine zu glauben gebietet, vermag die andere zu überzeugen.104 – Erinnern wir uns an die früheren Ausführungen zum Herrnhuter-Essay, so scheint die solcherart in Anschlag gebrachte Gegensätzlichkeit von Offenbarungsreligion auf der einen und natürlicher Religion auf der anderen Seite jene uns bereits bekannte These vom Antagonismus der „Religion des Adams“ und der Religionen ‚seiner Nachkommen‘ schlicht zu wiederholen.105 Allerdings, und das sei mit Nachdruck betont, hat Lessing seinen damaligen Standpunkt schon hier in entscheidender Hinsicht modifiziert: Indem es in der Figur des ‚Mahometaners‘ zur Identifikation der natürlichen Religion mit dem geschichtlichen Islam kommt106, überwin 99

  B 3, 214,26–37.   „[…] daß du die Lehren unsers Mahomets in eine Classe setzest, in welche sie gar nicht gehören […]“. 101   Es sei an dieser Stelle auf die im Kontext des Herrnhuter-Essays gemachten Ausführungen zu Lessings Kritik des traditionellen Offenbarungsverständnisses hingewiesen (s.o. Kap. I. 2.2.2). Hinter dem Ausdruck ‚höherer Offenbarungen‘ verbirgt sich demnach die Kritik eines supranaturalen Offenbarungsverständnisses, d.h. eines Verständnisses, das Offenbarung im Sinne der revelata, also der Dogmen als durch Offenbarung gesetzter und im Glauben anzunehmender Lehrsätze begreift. 102   Inwiefern auch die natürliche Religion gerade als Vernunftreligion durch Offenbarung (nicht aber durch „höhere“ Offenbarung) konstituiert ist, wurde bereits dargelegt (s.o. Kap. I. 2.2.2 sowie Exkurs 1). 103   B 3, 215,16f. – Der ‚Mahometaner‘ nennt neben der Lehre vom „einigen Gott“ auch diejenige von „zukünftige[r] Strafe und Belohnung“ (B 3, 215,17f.), kurz: Gotteserkenntnis, Tugendhaftigkeit und Unsterblichkeit (vgl. B 3, 215,25f.). 104   Vgl. B 3, 215,7.19ff. 105   S.o. Kap. I. 2.2.2. 106   Am deutlichsten drückt sich solche Identifikation in den folgenden Worten des ‚Mahometaners‘ aus: „Oder glaubst du in der Tat, daß Mahomet und seine Nachfolger ein ander 100

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det Lessing die von uns anhand der Gedanken aufgewiesene Schwierigkeit, von der Geschichte loskommen und sich unmittelbar auf die Natur des Menschen beziehen zu wollen107: Die natürliche Religion markiert nicht mehr einen Ort Bekenntnis von den Menschen gefordert haben, als das Bekenntnis solcher Wahrheiten, ohne die sie sich nicht rühmen können, Menschen zu sein?“ (B 3, 216,32–35) – Silvia Horsch geht in ihrer Monographie ausführlicher auf diese Identifikation ein. Sie weist darauf hin, dass Lessing „den Islam als eine natürliche Religion präsentiert, die auf Vernunftlehren statt auf Offenbarungen beruht“. Allerdings erreiche Lessing „diese Angleichung von Islam und natürlicher Religion [lediglich] durch Reduktion“: Von den sechs, Lessing durch George Sales (1679–1736) Darstellung durchaus bekannten Glaubensartikeln des Islam unterschlage er „kurzerhand vier und nennt nur den Glauben an Gott und den Jüngsten Tag. In einer bewussten Selektion lässt er alles weg, was den Islam als Offenbarungsreligion charakterisiert und nennt nur das, was auch mit den Grundsätzen des Deismus übereinstimmt. Dass auch der Islam sich auf ‚höhere Offenbarungen‘ beruft und den Glauben an übernatürliche Erscheinungen, wie z.B. die Engel beinhaltet, wird nicht berücksichtigt. […] Man kann also nicht davon sprechen, dass Lessing hier den Islam nach dem islamischen Selbstverständnis dargestellt hätte“. Und doch „geht Lessing am Selbstverständnis des Islam nicht völlig vorbei, wenn er ein starkes Gewicht auf die Vernunftgemäßheit der Religion legt“. Demnach sei Glaube „nach islamischem Verständnis eine Überzeugung, die durch Wissen gewonnen wird“ (Horsch 2004, 32f.; vgl. ähnlich: Schneider 1953, 108; Pons 1980, 391). Freilich: Insofern auch für die Anhänger der mohammedanischen Lehre der Koran norma normans ist, dieser aber – seinem Selbstverständnis nach – auf ‚höhere Offenbarungen‘ zurückgeht (vgl. z.B. Sure 56:77–80, u. ferner Sure 2:2–4), ist Lessings grundsätzliche Kritik der Offenbarungsreligionen auch gegen den Islam selbst gerichtet. Gleichwohl steht Lessing mit seiner Auffassung der mohammedanischen als einer natürlichen Religion im 18. Jahrhundert keineswegs alleine da, wie etwa ein Blick in Leibniz’ Vorrede zur Theodicée zeigt. Dort heißt es: „Mohammed blieb bei diesen großen Lehren der natürlichen Theologie stehen; seine Anhänger verbreiteten sie selbst in die entlegensten Winkel Asiens und Afrikas […] und sie schafften so in einer ganzen Reihe von Ländern die heidnischen Formen des Aberglaubens ab, die der wahren Lehre von der Einzigkeit Gottes und der Unsterblichkeit der Seele entgegenstanden“ (Gottfried Wilhelm Leibniz, Versuche in der Theodicée über die Güte Gottes, die Freiheit des Menschen und den Ursprung des Übels [1710], 5). Die Parallelen zu Lessings eingeschalteter, kleiner ‚Rettung‘ Abu Obeidachs sind unübersehbar (vgl. B 3, 216,35–217,17). – Dass also der geschichtliche Islam im 18. Jahrhundert durchaus als eine natürliche Religion verstanden werden kann, ist das eine, das für unsere Identifikationsthese spricht. Ein anderes Indiz dafür, dass Lessing mit seinem ‚Mahometaner‘ einen Apologeten des geschichtlichen Islam (und nicht etwa einen maskierten Deisten) auftreten lässt, ist in der Rechtfertigung auch der historisch überlieferten Gewalttaten Mohammeds zu sehen (vgl. B 3, 216,13–35) – ein Unterfangen, zu welchem ein Deist sich niemals hätte hinreißen lassen. Kurz: Es ist, aller inhaltlichen Reduktion zum Trotz, der Islam als historische Religion – und nicht etwa der Islam in Form eines ungeschichtlichen Abstraktums –, den Lessing hier mit der natürlichen Religion identifiziert. – Ähnlichen Sinnes referiert auch Kuschel den Hinweis ‚anderer Forscher‘, „daß Lessing mit der Betonung der Rationalität des islamischen Glaubens das Selbstverständnis der Muslime traf“ (Kuschel 1998, 100). – Überhaupt müssen wir die Angabe, dass hier ein „Muselmann“ spricht, „der eben der gelehrteste nicht zu sein braucht“, ernst nehmen. So ist es keineswegs ein philosophisch geschulter Deist, der hier das Wort ergreift, wie vermittels eines modallogischen Fehlers gleich zu Beginn der Rede – mit Lessingschem Augenzwinkern – klargestellt wird: Denn Wahrheiten, die ihre „Widerlegung gleich bei sich führe[n]“, d.i. Selbstwidersprüchlichkeiten können auch „in einer andern möglichen Welt“ niemals Wahrheiten sein! 107   S.o. in Kap. I. 3. die abschließende Kritik von Lessings Argumentation im Herrn­

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jenseits der Religionsgeschichte; vielmehr zeigt sie sich in geschichtlichem Gewand. Entsprechend verschiebt sich der Fokus von Lessings Kritik: Diente das Gegenüber von (ungeschichtlicher) natürlicher Religion und (geschichtlichen) positiven Religionen im Herrnhuter-Essay noch einer – mindestens deistisch inspirierten – allgemeinen Kritik der historischen Religion108, so zielt die jetzige Konfrontation der (geschichtlichen!) natürlichen Religion mit der (bzw. den) Offenbarungsreligion(en) auf eine Kritik der Apologetik.109 huter-Essay. – Zum möglichen Hinweis, schon in den Gedanken wäre die Identifikation von natürlicher Religion und historischem Christentum vollzogen (und damit eine Versöhnung von Vernunft und Geschichte erreicht) worden, wurde an gegebener Stelle bereits angemerkt, dass die Religion Christi (wie schon diejenige Adams) kein Geschichtliches im Sinne eines Gewordenen darstellt, dass es sich beim ‚wahren Christentum‘ also um die (lediglich paradox formulierbare) ungeschichtliche Realisierung des Ideals der natürlichen Religion handelt. Während also im Herrnhuter-Essay das (ideale) Christentum des 1. Jahrhunderts jeglicher Positivität entbehrt, finden sich am Islam des ‚Mahometaners‘ durchaus Merkmale derselben. 108   In diesem Sinne kam der natürlichen Religion im Herrnhuter-Essay eine primär kritische Funktion zu, nämlich die positiven Religionen als willkürliche, menschliche Setzungen und demnach als Verfälschungen der einzig wahren, natürlichen Religion zu entlarven. 109   Insofern formuliert Schilson unpräzise, wenn er mit Blick auf den Cardan-Essay von einer „Kritik der historischen Religion“ redet (vgl. Schilson 1974, 57). Eine Kritik der historischen Religion betreibt Lessing bereits früher, nämlich im Herrnhuter-Essay; hier jedoch geht es ihm um die Offenbarungsreligionen oder vielmehr um die Aporie ihrer Begründbarkeit, mithin um Kritik der Apologetik. Auf diesen „vergessene[n] Zugang zum Werk G. E. Lessings“ weist besonders Friedrich Vollhardt hin (vgl. Vollhardt 2002; mit Blick auf den Cardan-Essay vgl. ferner: Vollhardt 2006a, 368ff.), und bereits zuvor Pons 1980. Pons betont zudem die in dieser Hinsicht zentrale Stellung des Cardan-Essays im Kontext der frühen und mittleren Schriften Lessings (vgl. aaO., 387); allerdings scheint für ihn der noch junge Lessing sich in Widersprüchen zu verwickeln, mithin sein Verhältnis zur Apologetik uneindeutig und widersprüchlich zu sein (vgl. aaO., 390ff.). Demgegenüber vermag Schilson Lessings Cardan-Kritik in überzeugender Weise als Kritik an der vornehmlich historisch argumentierenden Apologetik darzulegen (vgl. Schilson 1974, 58–61); auch Multhammer nimmt diesen Aspekt auf und wendet ihn gekonnt gegen die „in der Forschung gängige Meinung, dass Lessing in dem im Anschluss an Cardano inszenierten Religionsgespräch eine Unterminierung des jeweilig absoluten Wahrheitsanspruches der Religionen unternimmt, was zu einer Relativierung derselben führt und somit aufgrund der Unentscheidbarkeit einer Forderung nach Toleranz gleichkommt“. So scheint z.B. Horsch in ihrer Interpretation die implizite „Kritik an der Legitimation des christlichen Wahrheitsanspruchs“ gerade in der von Multhammer kritisierten Intention herauszuarbeiten (vgl. Horsch 2004, 29–41); Ähnliches scheint auch für Kuschels Interpretation der Lessingschen Cardan-Kritik als einer „Rettung der nichtchristlichen Religionen vor diesem christlichen Philosophen [sc. Cardan]“ zu gelten (vgl. Kuschel 1998, 91–103). Demgegenüber – so Multhammer weiter – gebe es im Streit der Religionen durchaus „einen bestimmbaren Sieger“. Um denselben – nach Multhammer identifiziert Lessing diesen mit dem Christentum – aber unanfechtbar als Sieger herausstellen zu können, brauche es „bessere Argumente als die althergebrachten der traditionellen Apologetik“. Indem also Lessing die außerchristlichen Positionen in ihrer ganzen Stärke entfaltet, bringe er „die traditionelle Apologetik […] in Zugzwang“ (vgl. Multhammer 2013, 190–197; zu den Zitaten s. 190 u. 192f.). Statt, wie Multhammer, von der ‚traditionellen‘ Apologetik zu sprechen (der ja auch rationale Vertreter wie etwa ein Anselm von Canterbury zuzurechnen sind), sollte hier besser von einer vornehmlich historisch argumentierenden Apologetik die

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Im Rahmen seines kritischen Referats von Cardans Verteidigung der christlichen Religion hat Lessing – freilich die Sprache seiner Gegner imitierend – die historischen Gründe zum Erweis der Wahrheit als „die vornehmsten“110 bezeichnet und außerdem betont, „daß, wann diese nur ihre Richtigkeit haben, man sonst alle Schwierigkeiten unter das Joch des Glaubens zwingen müsse“.111 Davon will sein ‚Mahometaner‘ nun nichts mehr wissen: Schwatze [gemeint ist Cardan; D.Z.] nicht von Wundern, wann du das Christentum über uns erheben willst. Mahomet hat niemals dergleichen tun wollen; und hat er es denn auch nötig gehabt? Nur der braucht Wunder zu tun, welcher unbegreifliche Dinge zu überreden hat, um das eine Unbegreifliche mit dem andern, wahrscheinlich zu machen. Der aber nicht, welcher nichts als Lehren vorträgt, deren Probierstein ein jeder bei sich führet. Wann einer aufstehet, und sagt: ich bin der Sohn Gottes; so ist es billig, daß man ihm zuruft: tue etwas, was ein solcher nur allein tun könnte! Aber wenn ein andrer sagt: es ist nur ein Gott, und ich bin sein Prophet; das ist, ich bin derjenige, der sich bestimmt zu sein fühlet, seine Einheit gegen euch, die ihr ihn verkennet, zu retten; was sind da für Wunder nötig?112

Lessing hat bereits – wenn auch versteckt – darauf hingewiesen, dass historische Gründe aufgrund ihrer Kontingenz lediglich behauptet und infolgedessen – wenigstens grundsätzlich – auch bestritten werden können; der ‚Mahometaner‘ nimmt diesen Gedanken auf: Die argumentative Verknüpfung mit einem historischen Ereignis vermag einen Sachverhalt lediglich als wahrscheinlich, niemals aber als gewiss zu erweisen. Noch problematischer verhält es sich im Falle des christlich-apologetischen Wunderbeweises: Beim Versuch, die unbegreif­ liche und als solche (wenigstens vermeintlich) widervernünftige Lehre von der Gottessohnschaft Christi durch das ebenfalls (und zwar wesentlich) unbegreifliche Wunder als wahr zu erweisen, wird am Ende nicht mehr erreicht als der Erweis ihrer Unwahrscheinlichkeit. Abstrakter formuliert besteht die Aporie der Offenbarungsreligion hinsichtlich ihrer Begründbarkeit durch den Wunderbeweis darin, dass die Wahrheit der sie begründenden ‚höheren Offenbarungen‘ allein durch das sie bestätigende Wunder erwiesen, dieses aber sowohl in seiner Tatsächlichkeit als auch in der Glaubwürdigkeit seiner Bezeugung lediglich behauptet werden kann.113 Da also die Prämisse des Wunderbeweises, nämlich die Wahrheit des Wunders, selbst nicht bewiesen werden kann, begeht die christliche Apologetik (im Falle des Wunderbeweises) eine petitio Rede sein. – Die nun folgenden Analyseergebnisse berühren sich immer wieder mit denjenigen der genannten Autoren. 110   B 3, 208,21. 111   B 3, 210,17ff. 112   B 3, 215,27–216,4. 113   Vgl. B 3, 209,9–21. – Demnach warnt Lessing die zeitgenössischen Apologeten davor, „die Grundsätze der Offenbarung mit Hilfe eines historischen Tatsachenbeweises rationalisieren zu wollen“ (Vollhardt 2018, 106).

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principii.114 – In scharfem Kontrast dazu werden die Lehren des Mohammed als solche kommuniziert, die des bestätigenden Wunders nicht bedürfen115, da doch ein jeder „deren Probierstein“ – die Vernunft – „bei sich führet“: Das als wahr Anzuerkennende (die religiösen Lehren von der „Einheit Gottes“ und der „Zukunft des Gerichts“116) wird auf das anerkannte Wahre (die allgemeinen Vernunftwahrheiten) zurückgeführt.117 Auf diese Weise untergräbt der Muslim mit seiner rational verfahrenden Apologetik „die Legitimation des christlichen Wahrheitsanspruchs, welcher vor allem auf historischen Beweisen beruht, und zwingt damit den Christen, die Wahrheit der christlichen Religion neu zu ergründen“.118 Hierzu kommt es allerdings nicht mehr: Indem Lessing den Streit der Religionen mit der Rede des ‚Mahometaners‘ beschließt, lässt er seinen Ausgang bewusst offen.119 In Anbetracht der Einschätzung, es handle sich bei Cardans Verteidigung der christlichen Religion (wenigstens nach Maßgabe der historisch argumentierenden Apologetik) um eine der stärksten120 und gründlichsten121 ihrer Art, richtet sich die Frage, mit welcher Lessing an Cardan sich wendet – nämlich: „was“, angesichts der mohammedanischen Widerrede, „er wohl [würde] haben erwidern können“122 –, an die zeitgenössische Apologetik insgesamt. Und wir ahnen schon jetzt, dass diese Frage nur eine Antwort zulässt: den Versuch, die spezifisch christlichen Lehren123 im Rahmen einer rationalen Argumenta114   Wenn also schon die „Möglichkeit [‚höherer Offenbarungen‘] noch nicht einmal erwiesen ist“ (B 3, 214,32f.) – Tindal meint vielmehr deren Unmöglichkeit durch die notwendige Unüberbietbarkeit der natürlichen Religion erweisen zu können (s. Exkurs 1) –, so noch viel weniger ihre Tatsächlichkeit. 115   Vgl. B 3, 215,27–216,13. 116   Vgl. B 3, 217,11f. 117   Insofern kommt es – „vor dem Hintergrund einer Jahrhunderte langen Geschichte der Verachtung“ – freilich zu einer Aufwertung des Islam (vgl. Horsch 2004, 36f.; vgl. außerdem Kuschel 1998, 99) – allerdings, wie ja letztlich auch Horsch zeigt (vgl. aaO., 37f.), in primär kritischer Absicht (jedoch, wie oben mit Multhammer gegen Horsch bereits ausgeführt: nicht im Sinne einer „Kritik an der Legitimation des christlichen Wahrheitsanspruchs“ an sich, sondern mit Blick auf dessen vornehmlich historische Begründung!). 118   Horsch 2004, 35f. – Von solchem Ergebnis her kann es also nur im Rahmen einer rhetorischen Strategie gedeutet werden, wenn Lessing das Verhältnis von Christentum und Islam, wie oben ausgeführt, zunächst mit dem Verhältnis von „ewigen Wahrheiten“ und „Lügen“, von barem „Unsinn“ und reiner „Vernunft“ identifiziert. 119   Diese Offenheit darf nun aber nicht im Sinne einer generellen Unentscheidbarkeit und also Relativierung der Religionen missverstanden werden: „Der Gegensatz zu einem Toleranzkonzept tritt deutlich zutage: Es gibt einen bestimmbaren Sieger!“ (Multhammer 2013, 192). Dass die Sicherheit der christlichen Wahrheit weggebrochen scheint, impliziert v.a. die Aufgabe, sie neu zu finden (vgl. Fick 2016, 130). 120   Vgl. B 3, 208,15–21. 121   Vgl. B 3, 211,9–12. 122   B 3, 214,19f. 123   Hinweise darauf, worum es sich bei diesen Lehren vornehmlich handelt, finden wir im Text: Entgegen seiner ursprünglichen Bekundung, die ungeheuerlichen Mysterien der christ-

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tion als vernünftig, sie als ‚ewige Wahrheiten‘124 zu erweisen.125 Die „Göttlichkeit“126 des Christentums besteht nicht im Wunder; und wenn sie mit Recht, ja mit Gewissheit127 behauptet werden will, so kann dies nur geschehen im Erweis des Christentums als einer historischen Erscheinung der natürlichen Religion, kurz: im Erweis des Christentums als eines Christentums der Vernunft.128

lichen Religion nicht eigens nennen zu wollen (vgl. B 3, 214,37–215,1), kann sich der Lessingsche ‚Mahometaner‘ die eine oder andere Spitze gegen die „Geheimnisse“ der göttlichen Trinität (vgl. B 3, 217,14–17) sowie der Person Jesu Christi (vgl. B 3, 215,35ff.) nicht verkneifen. 124   Vgl. B 3, 207,37–208,1. 125   In diesem Sinne Eric Achermann: „Vernunft ist ihm [sc. Lessing] Wahrheits- und Echtheitskriterium einer Religion“ (Achermann 2015, 174). – Die Religionen stellen so „allerdings ein[en] sehr würdige[n] Gegenstand“ für die Philosophen dar (vgl. B 3, 221,26ff.). 126   Vgl. Lessings Rede von den „Merkmale[n] der Göttlichkeit“ (B 3, 207,21). Zu Lessings Identifikation von „Göttlichkeit“, Wahrheit und Vernunft s. den gesamten Abschnitt B 3, 207,16–208,9 (v.a. 207,37–208,5). 127   Zum hier gewählten Begriff der ‚Gewissheit‘ vgl. B 3, 212,12. 128   Ganz ähnlich Multhammer 2013, 196f. u. 200; ferner auch Schneider 1953, 108; Schilson 1974, 61. – Insofern ist es zu eindimensional, wenn Albert Reh „Lessings grundsätzliche Auffassung von der richtigen Anwendung der Vernunft in Glaubensfragen“ auf den Bereich der praktischen Vernunft reduziert: „Die Wahrheit der Religion zeigt sich wie die Vernunftwahrheit in der ‚Lebenspraxis‘, an ihren ‚Früchten‘“ (Reh 1984, 184). So geht es – über den praktischen Erweis der Wahrheit der eigenen Religion hinaus – ja vornehmlich auch darum, sich selbst von deren Wahrheit zu überzeugen (vgl. B 3, 207,17ff.).

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Exkurs 2: Die christliche Apologetik zur Jahrhundertmitte Bevor wir uns Lessings eigenem apologetischen Versuch zur Demonstration christlicher Zentralgehalte zuwenden, verweilen wir auf seinem „Weg der Untersuchung“ und nehmen mit August Friedrich Wilhelm Sacks Vertheidigtem Glauben der Christen (1748–1751) ein seinerzeit vielbeachtetes Werk christlicher Apologetik in den Blick. Dass gerade der junge Lessing als ein genauer Kenner der zeitgenössischen apologetischen Literatur gelten darf, geht nicht zuletzt aus einem späten, im Kontext des Fragmentenstreits entstandenen Textfragment von 1779 hervor. Dort schreibt Lessing rückblickend: Der bessere Teil meines Lebens ist – glücklicher oder unglücklicher Weise? – in eine Zeit gefallen, in welcher Schriften für die Wahrheit der christlichen Religion gewissermaßen Modeschriften waren. Nun werden Modeschriften […], eben weil es Modeschriften sind, sie mögen sein von welchem Inhalte sie wollen, so fleißig und allgemein gelesen, daß jeder Mensch, der sich nur in etwas mit Lesen abgiebt, sich schämen muß, sie nicht auch gelesen zu haben. Was Wunder also, daß meine Lektüre ebenfalls darauf verfiel, und ich gar bald nicht eher ruhen konnte, bis ich jedes neue Produkt in diesem Fache habhaft werden und verschlingen konnte. […] Genug, was unmöglich ausbleiben konnte, blieb bei mir auch nicht einmal lange aus. Nicht lange; und ich suchte jede neue Schrift wider die Religion nun eben so begierig auf, und schenkte ihr eben das geduldige unparteiische Gehör, das ich sonst nur den Schriften für die Religion schuldig zu sein glaubte. So blieb es auch eine geraume Zeit. Ich ward von einer Seite zur andern gerissen; keine befriedigte mich ganz. Die eine sowohl als die andere ließ mich nur mit dem festen Vorsatze von sich, die Sache nicht eher abzuurteln, quam utrinque plenius fuerit peroratum [‚als bis sie von beiden Parteien ausführlicher vorgetragen wäre‘]. Bis hieher, glaub’ ich, ist es manchem andern gerade eben so gegangen. Aber auch in dem, was nun kömmt?   Je zusetzender die Schriftsteller von beiden Teilen wurden – […] desto mehr glaubte ich zu empfinden, daß die Wirkung, die ein jeder auf mich machte, diejenige gar nicht sei, die er eigentlich nach seiner Art hätte machen müssen. War mir doch oft, als ob die Herren […] ihre Waffen vertauscht hätten! Je bündiger mir der eine das Christentum erweisen wollte, desto zweifelhafter ward ich. Je mutwilliger und triumphierender mir es der andere ganz zu Boden treten wollte: desto geneigter fühlte ich mich, es wenigstens in meinem Herzen aufrecht zu erhalten.   Das konnte von einer bloßen Antiperistasis, von der natürlichen Gegenwirkung unsrer Seele, die mit Gewalt ihre Lage ändern soll, nicht herkommen. Es mußte folglich mit an der Art liegen, mit der jeder seine Sache verteidigte.129 Um Lessings Ringen sowohl mit der zeitgenössischen Apologetik als auch um eine Neuformierung derselben besser verstehen zu können, widmen wir uns also – exemplarisch – Sacks Vertheidigtem Glauben der Christen. Die ausführlichere Analyse dieses gewissermaßen populärwissenschaftlichen Versuchs soll dabei, an einigen wenigen Stellen, um Anmerkungen zu den dezidiert Academischen Reden über den Entwurff der Theologiae Anti-Deisticae von Christoph Matthäus Pfaff aus dem Jahre 1759 ergänzt werden.

129   G. E. Lessing, Bibliolatrie, in: B 10, 165–172. Hier: 171,4–172,17 (Hervorh. i. O.). Die in eckigen Klammern beigefügte Übersetzung folgt dem Stellenkommentar in B 10, 928.

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August Friedrich Wilhelm Sacks Vertheidigter Glaube der Christen (1748–1751) Wenn Karl Aner in seiner Theologie der Lessingzeit den Berliner Hofprediger August Friedrich Wilhelm Sack (1703–1786) als „Nestor“ der Neologie bezeichnet130, so gilt es gleichwohl, denselben von Lessings mancherorts gegen die Neologie gerichtetem Verdikt auszunehmen.131 Es sind Beispiele wie dieses, die uns die Notwendigkeit einer differenzierten Wahrnehmung und Darstellung der sogenannten Neologie deutlich vor Augen führen. Notwendige Präzisierung erfährt der Sprachgebrauch also dort, wo Mark Pockrandt in seiner Berliner Dissertation von A. F. W. Sack als einem Vertreter einer biblischen Aufklärung spricht: Die „biblische Aufklärung“ bezeichnet die sich an Aussagen der Bibel orientierende Theologie. Nicht die natürliche Theologie mit ihren Schlagworten „Gott, Tugend, Unsterblichkeit“ gehören zu ihren besonderen Kennzeichen, sondern die darüber hinausgehende biblische Offenbarung – das „Fernglas“ der Vernunft – mit ihren Leitbegriffen „Gott, Vorsehung, Erlöser, ewiges Leben“.132 Dass für Sack „[a]llein der vernunftgeleitete Rückbezug auf die biblischen Schriften […] eine angemessene Darstellung des Christentums gewährleisten“ kann und so die innerprotestantischen Lehrunterschiede „ganz in den Hintergrund“ treten, zeigt sich nun in besonderer Weise auch an seinem theologischen Hauptwerk, dem Vertheidigten Glauben der Christen.133 Dort heißt es in einer „Erinnerung“, die Sack seinen abschließenden Darlegungen im 8. Stück vorausschickt: Ich wollte von Herzen wünschen, daß ein jeder, dem die Sache JEsu Christi heilig ist, sein ganzes angenommenes Lehrgebäude nach der klaren Vorschrift der Offenbarung Stück vor Stück prüfen und selber durchdenken, und dabey die Vorstellungen und Gründe genau erwägen wollte, die man nöthig hat, wenn man den Glauben der Christen zu seiner ursprünglichen Einfalt und Vernünftigkeit zurückbringen, und wider die verschiedenen Anfälle seiner Feinde vertheidigen will. Ich bin versichert, daß durch dergleichen Prüfung, die einem von allem Gewissens-Zwang befreyetem Protestanten so wohl anstehe, manche Neben-Meynung wegfallen, eine klärere Einsicht und Ueberzeugung gewürkt, und das Wesentliche des Glaubens in ein desto helleres Licht gesetzt werden würde.[134] So viel weiß ich gewiß, und schreibe es hie mit der größten Frey130

  Vgl. Aner 1929, 61; und in neuerer Zeit: Beutel 2009, 116.   Vgl. Pockrandt 2003, 11 u. 552. – Übrigens legt sich eine persönliche Bekanntschaft A. F. W. Sacks mit dem noch jungen Lessing nahe (vgl. aaO. 94); auch scheint Letzterer auf den Berliner Hofprediger einiges zu halten, sofern jedenfalls seine Bezeichnung Sacks als „eine[s] von unsern größten geistlichen Rednern“ einigen Ernst besitzt (vgl. G. E. Lessing, 13. Literaturbrief, in: B 4, 483–486. Hier: 483,12f.; Hervorh. i. O.). 132   Pockrandt 2003, 553. 133   Vgl. aaO., 544f. – Dementsprechend besteht die Intention des Werkes in der „Erwiderung der von außen gegen das Christentum herangetragenen Vorwürfe“, und nicht in der „Erörterung innerchristlicher, und das heißt vor allem innerprotestantischer Streitigkeiten“ (aaO., 203). 134   Obgleich wir hier, wie Aner schreibt, „echte Neologensprache“ zu lesen bekommen (gemeint sind Stichworte wie „ursprüngliche[] Einfalt und Vernünftigkeit“ oder auch die Unterscheidung von „Neben-Meynung“ auf der einen und „Wesentliche[m] des Glaubens“ auf 131

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müthigkeit, daß die bittere Verketzerung derjenigen, welche nicht die ganze Liste von Sätzen ihrer Parthey annehmen[135], nicht allein wider die wahren Principia der Reformation, sondern auch schnur stracks wider den wahren Geist des Evangelii streite, die Beförderung der Wahrheit und Gottseligkeit gewaltig aufhalte, und von Tage zu Tage von allen vernünftigen und rechtschaffen gottesfürchtigen Christen beyder Kirchen mehr verabscheuet werde.136 Pockrandt zählt das in den Jahren 1748 bis 1751 in acht Stücken erschienene Werk A. F. W. Sacks „zu den wichtigsten apologetischen Schriften in der Mitte des 18. Jahrhunderts“ – wobei dies „weniger für den akademischen als vielmehr für den nichtakademischen Bereich“ gelte.137 Die epochale Bedeutung des Werks geht auch aus zeitgenössischen Einschätzungen hervor. So heißt es etwa in einem Nachruf aus dem Jahre 1786, Sack sei der Erste gewesen, „der in seinem vertheidigten Glauben der Christen für ganz Deutschland so schrieb und von ganz Deutschland gelesen wurde“.138 Auch hier wird deutlich: nicht bloß die intellektuelle Elite, ganz Deutschland ist Adressat seines gelehrten Schaffens. Es geht Sack also nicht um den „rein akademische[n] Beitrag“; vielmehr drängt er auf „die Praktizierung des Glaubens“.139 In der Zielrichtung dieses Letzteren liegt es auch, dass Sack im Vertheidigten Glauben die apologetische mit der dogmatischen Perspektive verbindet, und so nicht allein den Religionskritikern Antwort gibt, sondern auch die Grundartikel des christlichen Glaubens entfaltet140: Ich werde nach einigen vorhergegangenen Betrachtungen [sc. Prolegomena], die Christliche Religion nach allen ihren Hauptlehren, blos aus der heiligen Schrift, mit aller nur möglichen Ordnung und Deutlichkeit vorstellen, ihre Beweise und Gründe durchgehends hinzufügen, solche aber so verständlich und faßlich zu machen suchen, daß sie ein jeder begreifen kann, und dann endlich überall diejenigen Einwürfe und Schwierigkeiten der Ungläubigen, die von einiger Bedeutung und der Achtung werth sind, der anderen Seite), so ist beim Verständnis dieser Worte gleichwohl Vorsicht geboten. Denn im Unterschied zur späteren Neologie erscheint die traditionelle Dogmatik in Sacks Vertheidigtem Glauben „nur um weniges verkürzt“, indem lediglich die Sünden- und Gnadenlehre jeweils eine Korrektur erfahren: erstere in der Deutung der Sündenfallgeschichte als der Geschichte eines jeden sündigen Menschen (und damit verbunden die Leugnung einer adamitischen Erbschuld); letztere durch Aufhebung der Irresistibilität der Gnade durch die (menschliche) Möglichkeit der Abwehr (vgl. Aner 1929, 64; vgl. auch Beutel 2009, 117f.). 135   Gemeint sind hier die verschiedenen protestantischen, also lutherischen und reformierten Lager. 136   A. F. W. Sack, Vertheidigter Glaube der Christen, 8. Stück (1751), 8–10. – In Anbetracht des begrenzten Rahmens sollen die allgemeinen Ausführungen zur Theologie A. F. W. Sacks auf das bislang Skizzierte beschränkt bleiben. Einen umfassenden Einblick in Biographie und Theologie Sacks gewährt Pockrandt in seiner bereits zitierten Dissertation. 137   Pockrandt 2003, 198. – Insofern scheint es, wie eingangs angedeutet, sinnvoll, neben Sack als gewissermaßen populärwissenschaftlichem Vertreter auch Christoph Matthäus Pfaff in seinen dezidiert Academischen Reden zu Wort kommen zu lassen. 138   Wilhelm Abraham Teller, Zum Andenken A.F.W. Sacks. Berlinische Monatsschrift 8/7 (1786), 19–34. Hier: 22 (zit. n. Pockrandt 2003, 198). – Auch Georges Pons rechnet Sacks Ver­ theidigten Glauben zu den frühesten erwähnenswerten „systematischen Verteidigung[en] der christlichen Religion“ (vgl. Pons 1980, 383). 139   Vgl. Pockrandt 2003, 198f. 140   Vgl. aaO., 216.

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aufzulösen und zu beantworten trachten; und zwar auf eine Weise, daß die Zweifel, die zuweilen auch einen gut gesinnten Menschen beunruhigen können, zugleich mit gehoben werden.141 Lessings Kritik der Apologetik folgend, legen wir den Fokus unserer Betrachtung auf die fundamentaltheologischen Darlegungen A. F. W. Sacks; darüber hinaus werden wir uns – mit Blick auf Lessings eigenen apologetischen Versuch im Fragment gebliebenen Christentum der Vernunft – außerdem Sacks Ausführungen zur Trinitätslehre anschauen. Das zu untersuchende Textkorpus kann demnach eingegrenzt werden auf die Stücke I-III (1748) und VI (1749) des Vertheidigten Glaubens.142

Prolegomena oder Offenbarung als göttlicher Unterricht für die Vernunft Wenn Sack in seinen fundamentaltheologischen Ausführungen die Notwendigkeit einer göttlichen Offenbarung an den Menschen begründet, so tut er dies nicht nur mit Blick auf die spezifisch christlichen, d.h. über die natürliche Religion hinausgehenden Lehren, sondern auch hinsichtlich dessen, was die Aufklärung gemeinhin als den ureigensten Besitz der menschlichen Vernunft verstanden wissen will. In diesem Sinne problematisiert Sack den von der Aufklärungsphilosophie aus der evidenten Vernunftgemäßheit der Lehren der natürlichen Religion gezogenen Schluss, „daß meine Vernunft eben diese Wahrheiten aus sich selbst heraus gebracht, und für sich allein gefunden habe“.143 Er begründet dies zunächst mit einem Argument aus der eigenen Erfahrung, wie sie jeder Mensch zu jeder Zeit bestätigen kann: Ich weiß viele Sachen, von deren Wahrheit ich völlig überzeugt bin, und die ich jetzt deutlich denken und vorbringen kann, eben als wann sie eine Frucht meines eigenen Verstandes wären; die ich aber dennoch nicht von mir selber gelernt, sondern fremden [sic!] Unterrichte zu danken habe, und die mir also auch noch bis diese Stunde entweder ganz dunkel oder gar völlig unbekannt geblieben seyn würden; wann ich diesen Unterricht nicht gehabt hätte.144 Was hier von vielerlei Gegenständen gilt, beweisen die Berichte der Weltfahrer auch mit Blick auf die Wahrheiten der sogenannten natürlichen Religion:

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  A. F. W. Sack, Vertheidigter Glaube der Christen, 1. Stück (1748), 32f.   Im Folgenden wird nur im Falle des 3. Stücks aus einem Druck des Jahres 1748 zitiert. Textgrundlage in allen übrigen Fällen bilden Nachdrucke der Erstauflage (vgl. hierzu Pockrandt 2003, 201 Anm. 187); hierbei handelt es sich genauer um Nachdrucke aus den Jahren 1751 (1. und 2. Stück) und 1767 (6. Stück). Diese sind, wie auch die Erstdrucke des Werkes, bei Haude und Spener in Berlin erschienen und mit diesen (weitestgehend) text- und seitengleich. Zur Zitation sei noch angemerkt, dass die jeweilige Bezifferung der verschiedenen zitierten Stücke in römischer Schreibweise angezeigt wird, z.B. im Falle des 1. Stücks: „Vertheidigter Glaube I“. 143  Sack, Vertheidigter Glaube I, 89. 144  AaO., 89f. (Hervorh. i. O.). 142

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Ein jeder weiß, aus allen in diesem Stücke einhellig mit einander übereinstimmenden Reise-Beschreibungen, in was vor einer gänzlichen Unwissenheit [beispielsweise145] die Einwohner des nördlichen Theils von Amerika in Ansehung GOTTES und der Religion leben, und wie vernünftig sie dennoch, nach empfangenen Unterrichte, zumahl wann sie in gute Hände fallen, davon zu urtheilen und zu reden wissen.146 Wenn aber das vermeintlich natürliche Wissen von Gott gar nicht als der ureigenste und als solcher: universale Besitz der menschlichen Vernunft gelten kann, so lässt sich bereits hier muthmassen, daß die Vortreflichkeit unserer Vernunft nicht etwa darinn bestehe, als wann sie für sich ganz allein zu ihrer Erkänntniß gelangen könnte, sondern darinn, daß sie fähig ist, unterrichtet zu werden, und sodann zu aller nur möglichen menschlichen Erkänntniß und Wissenschaft gelangen kann; und daß also auch die richtigen Begriffe, die sie von GOTT hat, nicht sowohl einen Beweis abgeben, daß sie darinn niemahls eines Unterrichts bedürftig gewesen, als vielmehr, daß sie solchen würklich einmahl müsse bekommen haben.147 Ihres vermeintlich ureigensten Besitzes beraubt, wird die Vernunft in ihrer Nacktheit – d.i. die „Vernunft, wann sie keinen Unterricht empfängt“ – als „ein blosses Vermögen ohne sonderliche Würkung und Nutzen“ erkannt. Sie ist „also nicht sowohl vor den Lehrmeister des menschlichen Geschlechts, als vielmehr vor einen fähigen Schüler eines ganz andern und höhern Lehrmeisters an[zu]sehen“.148 Wenn hieraus nun „die Nothwendigkeit eines solchen Unterrichts, für die menschliche Vernunft, oder, welches einerley ist, einer göttlichen Offenbarung, völlig klar“ ist149, ja wenn folglich, wie auch die Philosophiegeschichte bestätigt150, „unsere heutige Erkänntniß der natürlichen Religion nicht eine Frucht der alleinigen Kräfte unserer Vernunft, sondern desjenigen Unterrichts sey, den ihr GOtt durch seine Offenbahrung gegeben hat“, so stellt sich für den Christen sogleich die „Haupt-Frage […]: Ob unsere Bibel würklich diese Offenbahrung und dieser von GOtt unserer Vernunft gegebene Unterricht sey, oder nicht?“151

145   Sack nennt darüber hinaus noch andere Beispiele, so von den grönländischen Ureinwohnern, von Amazonas-Indianern und auch von Taubstummen (vgl. aaO., 91–93). 146  AaO., 90f. 147  AaO., 93 (Hervorh. i. O.). 148  Sack, Vertheidigter Glaube II, 5f. – Sack meint hier sogar „mit gutem Grunde schliessen“ zu können, „daß die Menschen, ohne Unterricht, zu gar keiner vernünftigen Erkänntniß, und der stärksten Vermuthung nach, auch nicht einmahl zu einer würklichen Sprache würden haben gelangen können“ (aaO., 11f.). Hat die Vernunft allerdings einen „ersten Unterricht“ erhalten, so kann sie, gemäß ihrer „wahre[n] Bestimmung“, in einem deduktiven Verfahren „zu einer immer mehr erweiterten Erkänntniß hinansteigen, und wird würklich geschickt, das Wahre und das Falsche, das Gute und das Böse, richtig zu beurtheilen“ (aaO., 18f.). Hierher gehört auch die Aussage des Apostels Paulus in Röm 1,20; vgl. aaO., 17f. 149  AaO., 12. 150   So haben, wie Sack an späterer Stelle noch ausführlicher darlegen wird (vgl. Vertheidigter Glaube II, 80ff.), „auch die besten heydnischen Philosophen, die ihre Vernunft am meisten geübt haben, die Wahrheiten der natürlichen Religion noch lange nicht so gründlich, so deutlich und zusammenhangend, eingesehen, als wir solche in unseren Tagen einsehen“ (Sack, Vertheidigter Glaube I, 93f.). 151  AaO., 94f.

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Wir befinden uns systematisch an dem Punkt, wo „Von dem Göttlichen Ursprunge der heiligen Schrift“ zu handeln ist.152 Für die Identifikation der Bibel mit der göttlichen Offenbarung spricht für Sack bereits die rein formale Tatsache, dass sie als Heilige Schrift eben in schriftlicher Form, nämlich als Buch überliefert ist: Um einer im Fortgang der Jahrhunderte zunehmenden Verfälschung der ursprünglich reinen Offenbarung auch im Sinne einer ausgewogenen Wunder-Ökonomie vorbauen zu können – der allweise haushaltenden Vorsehung geziemte es freilich nicht, „Wunder-Wercke mit Wunder-Wercken […] ohne Noth“ zu häufen –, konnte die göttliche Weisheit kein ‚bequemeres Mittel‘ wählen, „als daß diese Offenbahrung schrifftlich verfaßt, und auf diese Weise unverändert aufbehalten würde“.153 Nun weist die Bibel vor allen anderen Büchern, die diesen Anspruch gleichfalls erheben mögen, über das genannte mediale Kriterium hinaus noch die folgenden formalen wie inhaltlichen Merkmale ihres göttlichen Ursprungs an sich auf: ihr unübertroffenes Alter154, eine unvergleichliche „Majestät des Ausdrucks“ und „Erhabenheit der Gedanken“155, eine „ganz natürliche Sprache der Wahrheit“.156 Wer die Psalmen und Propheten, die Evangelisten und Apostel „mit einer ruhigen und aufmerksamen Seele“ liest, bei dem verdichten sich all diese Merkmale zu einer „Demonstration des Geistes und der Kraft“157 an das Herz und zu einem „dadurch gewürkte[n] innere[n] Gefühl der Gewißheit von der Göttlichkeit der Schrift“158, kurz (unter Rekurs auf 2 Petr 1,21): zur Gewissheit, dass „diese heiligen Männer GOttes [sc. die biblischen Autoren] geredet haben, getrieben von dem heiligen Geist“.159 Zur existentiellen Gewissheit wird solche De152

  Unter dieser Überschrift steht denn auch das 2. Stück des Vertheidigten Glaubens.  Sack, Vertheidigter Glaube II, 23f. 154   Vgl. aaO., 25. – Dass die Bibel „ganz unstreitig das allerälteste Buch ist, so jemahls in der Welt bekannt gewesen“, genügt Sack zur Begründung dafür, „daß ich solches [sc. dieses Buch] zu der vorhabenden Untersuchung, vor allen andern, zur Hand nehme, und mit aller nur möglichen Aufmercksamkeit und nachdenkender Erwägung lese, um zu sehen, ob die so tröstliche und verlangenswürdige göttliche Offenbahrung darinn zu finden sey, oder nicht“ (ebd.). Dass er es dann allerdings nicht weiter für nötig erachtet, auch die ‚heiligen Schriften‘ der anderen (monotheistischen) Religionen einer solchen Untersuchung zu unterziehen, zeigt, dass auch er dem von Lessing angemahnten Trugschluss erliegt, „daß die Prüfung seiner eignen Religion schon zureiche; daß es nicht nötig sei, die Merkmale der Göttlichkeit, wenn man sie an dieser schon entdeckt habe, auch an andern aufzusuchen“ (B 3, 207,20–23 [Rettung des Hier. Cardanus]). 155   Vgl. Sack, Vertheidigter Glaube II, 25–28. 156   Vgl. aaO., 28f. 157   Vgl. 1 Kor 2,4f. 158  Sack, Vertheidigter Glaube II, 50. 159  AaO., 33 (i. O. sind diese Worte als Bibelworte hervorgehoben). – Die damit ausgesagte Inspiration der Bibel spezifiziert Sack an dieser Stelle noch nicht genauer; allerdings distanziert er sich von den gelehrten Streitigkeiten zur Inspirationslehre – für Pockrandt wird hieran „Sacks Trennung von der orthodoxen Haltung deutlich“ (Pockrandt 2003, 247) –, indem er die ‚Notwendigkeit‘ und auch ‚Wichtigkeit‘ derartiger Erörterungen – wenigstens außerhalb der Universitäten – bestreitet: „Eben so unbekümmert und ruhig bin ich bey meiner Ueberzeugung, in Ansehung der Frage, ob die heiligen Männer GOttes alles, was sie aufgeschrieben, Wort vor Wort und Sylbe vor Sylbe durch eine göttliche Eingebung empfangen, oder ob solches nur bey den Prophezeyungen allein geschehen, und GOtt im übrigen, nur durch eine allgemeine Leitung, ihren Verstand und ihre Gedanken dergestalt regiert habe, daß sie nichts anders haben schreiben können, als was der genauesten Wahrheit und seinem offenbarenden Willen gemäß war.“ Die Entscheidung dieser Frage „mag ausfallen, wie sie will, so wird meine 153

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monstration dort, wo „ich [sie] auch, in manchen Verlegenheiten und Nöthen, zu meinem Troste und zur völligen Beruhigung meines beklemmten Herzens gefühlt“ habe.160 Da nun aber nicht bloß einzelne so gefühlt haben und noch fühlen, da vielmehr „dis Buch bey so vielen Menschen eine ganz gleiche Würkung hervor bringt“, vermag die Vernunft auch hieraus den unzweifelhaft göttlichen Ursprung der Bibel zu ersehen: So schliesse dann, du strenge und schwierige Vernunft, wann du ja schliessen willst, daß dis Buch von niemanden anders seinen Ursprung haben könne, als von dem Schöpfer unserer Seelen, der, als ein GOTT alles Trostes, am besten weiß, wie sein weinendes und betrübtes Geschöpf aufzurichten und zu beruhigen sey.161 Die oben aufgeworfene Frage, ob „unsere Bibel würklich diese Offenbahrung und dieser von GOtt unserer Vernunft gegebene Unterricht sey, oder nicht“, lässt sich also schon hier mittels des Erfahrungsbeweises zugunsten der Heiligen Schrift entscheiden; und so könnte Sack – nach eigenem Bekunden – seine Erörterung bereits an dieser Stelle ab­ brechen:

Ueberzeugung, von dem wahrhaftig-göttlichen Ursprunge der Schrift, dadurch weder stärker noch schwächer werden“ (Sack, Vertheidigter Glaube II, 47f.). An späterer Stelle, im 3. Stück, erörtert Sack die Inspirationsfrage noch einmal eingehender. Dort nimmt er, der „Natur der Sache“ gemäß, an, „daß die göttliche Eingebung eigentlich in dreyen besonderen Würckungen bestehe, nehmlich in einem göttlichen Antriebe zum Schreiben, in einer eigentlichen göttlichen Offenbarung und Eingebung, und drittens in einer allgemeinen göttlichen Leitung […] Zum Schreiben überhaupt sind die Verfasser der heiligen Bücher von GOTT angetrieben worden. Die göttliche Eingebung und Offenbarung hat bey allen denjenigen Sachen statt, die keines Menschen Verstand von selbst erreichen und ausdencken kann. Die allgemeine Leitung des Geistes GOttes aber hat, in allen übrigen Stücken, einem jeden der heiligen Schreiber seine ihm eigene Gemüths-Fassung und seine besondere Art zu dencken und sich auszudrücken gelassen, ihn aber bey dem allen so gelenckt, daß er die Sachen nicht anders, als der Wahrheit und der göttlichen Absicht gemäß, hat aufzeichnen können. Und auf diese Weise ist alles in der heiligen Schrift von einem gleichen göttlichen Ansehen, ohngeachtet dabey der Geist GOttes auf eine verschiedene Art auf den Verstand und das Gemüth der Schreiber gewürcket hat“ (Sack, Vertheidigter Glaube III, 92f.). – Auch nach Christoph Matthäus Pfaff handelt es sich bei den biblischen Autoren um „Propheten und von GOtt unmittelbar erleuchtete Männer“, wobei er dies hinwiederum aus der Schrift beweisen zu können meint, wie z.B. die Demonstration des Prophetentums Moses zeigt (vgl. ­Christoph Matthäus Pfaff, Academische Reden über den Entwurff der Theologiae Anti-Deisticae, da die Einwürffe der unglaubigen Geister wider die Christliche Offenbahrung entwickelt werden [1759], 562f.). An dieser Stelle scheint mir noch eine kurze (kirchengeschichtliche) Einordnung Christoph Matthäus Pfaffs geboten: C. M. Pfaff (1686–1760, seit 1717 Tübinger theologischer Ordinarius, ab 1720 dann Professor primarius und Universitätskanzler; von 1756 bis zu seinem Tod Theologieprofessor, Universitätskanzler und Generalsuperintendent in Gießen) wird der Theologie der „Übergangszeit“ zugerechnet. Bei den sog. Übergangstheologen handelt es sich um eine lockere „Gruppe von Theologen […], die zu Beginn des 18. Jahrhunderts, unabhängig von dominanten Schul- oder Parteibindungen, den überkommenen Lehrbestand eklektisch reaktivieren und für die Fragen der Zeit fruchtbar zu machen suchten“ (vgl. Beutel 2009, 96–98 u. 101f.). 160  Sack, Vertheidigter Glaube II, 37. 161  AaO., 40.

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Was ich nun erfahre und fühle[162], das weiß ich gewiß, und lasse es mir nicht abdisputiren; denn wider mein eigenes Gefühl der Gewißheit hat kein vermeintlicher Vernunft-Schluß, keine Schwierigkeit und kein Einwurf die geringste Kraft, mich wankend zu machen. Und wann es ja, bey dieser Sache, auf Schlüsse ankommen soll; so kann ich daraus keinen ziehen, der richtiger wäre, und den meine nunmehr unterrichtete Vernunft mit mehr offenbahrer Gewißheit machen kann, als diesen: Die Schrift ist mit einer Beweisung des Geistes und der Kraft an die Seelen der Menschen begleitet; damit unser Glaube nicht bestehe auf Menschen Weisheit, sondern auf GOttes Kraft.[163] Dieß ist die höchste und stärkste Demonstration, die ich nur immer verlangen kann, und würkt mit weit mehr Nachdruck und Kraft auf meinen Verstand und auf mein Herz zugleich, als die strengsten Beweise oder Demonstrationen der blossen Vernunft. Ich weiß dieß aus Erfahrung. Ich kann auch wohl manche Wahrheiten aus denen ersten Gründen der menschlichen Erkänntniß demonstriren, oder die Demonstrationes anderer davon fassen. Allein mehrentheils, auch selbst in moralischen Dingen, hat solches bey mir eine ganz trockene Ueberzeugung gewürkt, die in meinem Verstande allein geblieben, und mein Herz von aller Empfindung leer gelassen. Hier aber geht etwas ganz anderes bey mir vor: Meine Vernunft wird zugleich erleuchtet; und mein Wille gerührt und gelenkt; und ich erfahre, daß GOttes Wort lebendig und kräftig sey, und schärfer, dann kein zweyschneidig Schwerdt, durchdringe, bis daß es scheidet Seel und Geist, auch Mark und Bein, und also wahrhaftig ein Richter sey der Gedanken und Sinne des Herzens [Hebr 4,12].164 Da also schon jetzt in Sachen Göttlichkeit der Heiligen Schrift der „höchste[] Grad der Gewißheit“ erreicht ist – auffallend dabei ist „der neologische Parallelismus von Kopf und Herz“165, d.i. die deutliche Aufwertung des Gefühls zu einer mindestens gleichrangigen (wenn nicht übergeordneten) Autorität neben der Vernunft –, sind alle noch folgenden Beweise allenfalls „gute Nebenbeweise“.166 Die ersten beiden „Nebenbeweise“ dienen noch einmal der Absicherung des Erfahrungsbeweises: Zum einen trage die hierdurch gewirkte Überzeugung keineswegs das Ge-

162   Die Gewissheit von der Göttlichkeit der Schrift empfindet nicht das Herz allein, sondern auch der Geist „fühlt es in einem klaren Lichte des Verstandes“ (aaO., 34). 163   Die Notwendigkeit des „Beweises des Geistes und der Kraft“ vermag Sack außerdem in zugleich gut reformatorischer und gut aufklärerischer, nämlich aller geistigen sowie geistlichen Autorität gegenüber skeptischen Manier zu begründen: „Es konnte auch nicht anders seyn. Die Ueberzeugung von dem göttlichen Ursprunge eines Buchs, das dem Knecht und dem Herrn, dem Ungelehrten und Gelehrten, dem Scharfsinnigen und dem Einfältigen den Weg der Seligkeit zeigen sollte, mußte weder von dem Zeugnisse der Kirche noch von schweren Beweisen abhangen; ein solches Buch mußte sich selbst an das Herz eines jeden Lesers das Zeugniß seines Ursprungs geben.“ Nur so wird auch „der Ungelehrte und Einfältige auf das allerinnerste überzeugt und seines Glaubens gewiß; läßt sich auch darinn durch nichts wankend machen, wenn er gleich auf die Zweifel, Einwürfe und Schwierigkeiten eines boßhaften Läugners, oder sonst gelehrten Hadderers, nicht ein Wort antworten könnte. Denn einmahl, nichts geht über die Gewißheit der Erfahrung und des Gefühls“ (aaO., 44–46; Hervorh. i. O.). 164  AaO., 35–37 (Hervorh. i. O.). 165   Kaiser 1961, 331. – Dort heißt es auch: „Religiöses Organ und Organ des Weltbegreifens überhaupt ist […] ein durch Vernunft geklärtes und gemäßigtes Gefühl, eine durch Gefühl belebte Vernunft“ (aaO., 324). 166  Sack, Vertheidigter Glaube II, 47.

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präge eines „Fanaticismus“; dieser Vorwurf könne vielmehr ohne weiteres an die „Freygeisterey“ zurückgegeben werden. Es zeuge nicht zuletzt auch die „Gesellschaft von gelehrten und vernünftig erleuchteten Männern […], die mit mir von der göttlichen Ueberzeugungs-Kraft der heiligen Schrift ganz gleiche Empfindungen haben“ – genannt werden u.a. Newton, Locke, Boyle, Clarke und Grotius, Männer also, die schwerlich für „Schwärmer“ könnten gehalten werden –, von der Vernünftigkeit dieser christlichen Überzeugung.167 Zum anderen könne keiner aus dem Ausbleiben des Erfahrungsbeweises den berechtigten Schluss ziehen, „daß, was er nicht weiß und erfahren hat, auch andere nicht wissen und erfahren; oder, daß, was er selbst bisher noch nicht empfunden, er nicht einmal noch empfinden könne“.168 Im dritten ‚Nebenbeweis‘ erörtert Sack noch einmal ausführlicher die Frage, ob es sich bei den Wahrheiten der natürlichen Religion nun um solche handelt, deren „klare Erkänntniß“ wir „unserer Vernunft“, oder doch um solche, die wir „einer Offenbahrung zu danken haben“.169 Erinnern wir uns an die frühere Bestimmung der Vernunft als eines „blosse[n] Vermögen[s]“ und die damit verbundene Notwendigkeit eines ‚höheren‘ Unterrichts, so steht in Anbetracht der ebenfalls gegründeten Gewissheit von der Göttlichkeit der Heiligen Schrift das Ergebnis der Erörterung eigentlich schon fest. Es verwundert also nicht, wenn Sack zu dem Ergebnis gelangt, dass die besseren und reinen Begriffe […], die heutiges Tages die natürliche Religion unserer angeblichen Religions-Philosophen ausmachen[170], gewiß nicht eine blosse Frucht des menschlichen Nachdenkens und der Vernunft allein sind, sondern ihren Ursprung ganz wo anders her haben müssen. Und ich kann nunmehr mit völliger Gewißheit behaupten, daß alle diese reineren Begriffe würklich aus der heiligen Schrift genommen sind, und folglich auch alles Lob, wormit man die vermeintliche natürliche Religion so sehr erhebt, in ihrer wahren Bedeutung auf jene zurückkommen.171 Bewiesen wird dies mittels eines Schnelldurchgangs durch die vorchristliche Philosophiegeschichte von Sokrates bis zur Stoa und die dabei zutage geförderte augenscheinliche Tatsache, dass auch die besten ihrer Vertreter nur unzulänglich, nämlich „die zur wahren Beruhigung eines jeden nachdenkenden Menschen unentbehrlich nöthigen Gründe von GOtt, von desselben Vorsehung und einem zukünftigen Leben“ nur „sehr dunkel und ungewiß erkannt haben“.172 Wenn dem aber so ist, dann ist die sogenannte natürliche Religion nicht länger als die ursprüngliche und allen vernünftigen Wesen gemeinsame, sprich: universale Menschheitsreligion anzusehen.173 Vielmehr haben wir es dann mit einer spezifisch christlichen Vernunftreligion zu tun: „Denn es ist klar, daß unsere heutige Vernunft eine durch die uns von Kindheit schon beygebrachte Begriffe der Schrift bereits unterrichtete und erweiterte Vernunft ist“ und folglich die natürliche Religion (als die Vernunftreli167

  Vgl. aaO., 50–55.  AaO., 55. – Sack unterfüttert auch dies wieder mit Beispielen (vgl. aaO., 55–62). 169  AaO., 72 (Hervorh. i. O.). 170   Hierzu gehört letztlich auch das Moralgesetz (vgl. aaO., 97–102). 171  AaO., 88f. 172   Vgl. aaO., 75–88. 173   Sack wendet sich also gegen jede grundsätzliche Unterscheidung von natürlicher Religion und Offenbarungsreligion, wie sie uns etwa in der Rede des Lessingschen Mohammedaners begegnet ist (s.o. Kap. II. 2.3), und damit zugleich auch gegen die über den Deismus hinaus verbreitete Annahme, dass die Grundsätze der natürlichen Religion „von allen Menschen jederzeit und überall entdeckt werden können“ (Byrne 2003, Sp. 118). 168

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gion des so Unterrichteten) nichts weiter darstellt als „nur bloß Folgerungen und Schlüsse aus Begriffen […], wie er [sc. der so Unterrichtete] bereits aus der Offenbahrung hatte“.174 – Die drei noch folgenden Nebenbeweise kennen wir bereits aus Lessings kritischem Cardan-Referat; neben dem Weissagungsbeweis175 sind das der Wunderbeweis176 sowie der Beweis vom „Ursprung des Christenthums und [von] desselben Ausbreitung unter den Heyden“ als eines „besonders bezeichnete[n] Werk[es] der göttlichen Vorsehung“.177

Das Geheimnis der göttlichen „Drey-Einheit“ Nachdem in den fundamentaltheologischen Darlegungen sowohl die Vernunft in ihrer Bedürftigkeit nach einem höheren Unterricht eingesehen als auch die christliche ‚Hypothese‘, dass es sich bei der Heiligen Schrift um eben diesen Unterricht handelt, in ihrer Gültigkeit bewiesen werden konnten, macht sich Sack „mit destomehr Vertrauen“ an die Untersuchung der christlichen „Haupt-Lehren“, wobei es ihm im Sinne einer ‚biblischen Aufklärung‘ lediglich darum zu tun ist, „was die heilige Schrift davon lehrt, und ich solchergestalt mit Ueberzeugung als wahr erkennen und annehmen kann“.178 Bevor wir uns dem 6. Stück und den dortigen Ausführungen zur Trinitätslehre zuwenden, sei noch ein Blick ins 3. Stück getan. In seiner Auseinandersetzung mit „denen Einwürfen wider die Göttlichkeit der H. Schrift und der Christlichen Religion überhaupt“ stellt Sack u.a. auch Überlegungen zu den „gar bedenckliche[n] Schwierigkeiten“ an, wie sie die „Geheimnisse“ des christlichen Glaubens – wenigstens auf den ersten Blick – zu bereiten scheinen.179 Dabei sucht er solchen Schwierigkeiten zunächst einmal dadurch zu begegnen, dass er auf die nötige Unterscheidung von Widervernünftigkeit und Übervernünftigkeit hinweist:

174

 Sack, Vertheidigter Glaube II, 73 Anm.   Vgl. aaO., 103–116. – Über den innerbiblischen Weissagungsbeweis hinaus verweist Sack auch auf die in außerbiblischen Quellen bezeugte Erfüllung biblisch überlieferter Prophetie sowie auf gegenwärtige Erfahrungen (so z.B. die Erhaltung Israels als eines „besondere[n], und zwar reine[n] und unvermischte[n] Volk[es]“ bis auf den heutigen Tag; vgl. aaO., 110–112). 176   Vgl. aaO., 116–120. – Wichtig ist, dass für Sack die Wunderwerke „an sich allein betrachtet, noch keine Lehre wahr oder göttlich machen können“; als eine „der allerhöchsten Weisheit würdige Sache“ erweisen sie sich vielmehr dadurch, dass „die erste Bekanntmachung einer göttlichen Offenbahrung, die schon an sich selbst ein Wunderwerk ist, auch mit sichtbaren und äusserlichen Wunderwerken begleitet, und dadurch der menschliche Verstand aufmerksamer gemacht wird. Ist nun die Lehre an sich selbst so beschaffen, daß die Vernunft dadurch zur gewissen und heilsamen Erkänntniß GOttes und seines Willens geführet wird, so werden dann auch die Wunderwerke und die Lehre, zusammen betrachtet, ein desto stärkerer und überwiegender Beweis zur Ueberzeugung der Menschen. Die Lehre giebt sodann denen Wunderwerken Zeugniß, daß es würkliche göttliche Wunderwerke sind, und diese geben denen Lehrern Zeugniß, daß sie GOtt gesandt habe“ (aaO., 117f.). 177   Vgl. aaO., 120–125. – Diesen letztgenannten Beweisen scheint bei Pfaff eine zentralere Bedeutung zuzukommen, wie etwa das folgende Zitat zeigt: Ein jeder setze „sich fest in dem Glauben an das Evangelium, so durch die Weissagungen, Wunder und Auferstehung des Heylands sich in ein vollkommenes Wahrheits-Licht gesezet hat“ (Pfaff, Academische Reden, 63). 178  Sack, Vertheidigter Glaube III, 128. – Die einzelnen dogmatischen Stücke (IV-VIII) behandeln denn auch jeweils „Die Lehre der heiligen Schrift von […]“. 179   Vgl. aaO., 78. 175

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Nun erkenne ich, bey einer mehr nachdenckenden Ueberlegung, gleich anfangs, daß die blosse Unbegreiflichkeit einer Sache noch lange kein hinlänglicher Grund sey dieselbe zu verwerfen, oder nicht zu glauben, zumal, da zwischen unbegreiflich seyn, und sich widersprechen, ein gar grosser Unterschied ist. Denn alles, was sich widerspricht, ist zwar auch unbegreiflich; aber alles, was unbegreiflich ist, ist deswegen nicht auch widersprechend.180 Nun ist es in Anbetracht der „Natur der menschlichen Vernunft“ gar nicht anders denkbar, als dass ihr im „gegenwärtigen Zustande ihrer anfangenden Erkänntniß […] nothwendig überall Geheimnisse und Unbegreiflichkeiten vorkommen“. Wenn indes, wie die Erfahrung zeigt, solches schon für die Betrachtung der Natur gilt181, um wie viel mehr muss dann auch dort, wo „das unendliche Wesen [sich] offenbaret“, nämlich in der Heiligen Schrift, unser begrenzter Verstand auf Geheimnisse stoßen – Geheimnisse, die ich in „Bescheidenheit und Demuth“ anzuerkennen habe, will „ich nicht klüger seyn […], als mich die Schrift macht, und ich nach meinem gegenwärtigen Zustande“ (dem dereinst der Zustand „eines grössern Lichts“ folgen wird) sein kann. Kurz: Die hartnäckige „Frage einer über ihre Kräfte stoltzen Vernunft“ nach dem Grund des Geheimnischarakters christlicher Mysterien kann nur auf eine Weise sinnvoll beantwortet werden, nämlich „weil es, nach der Natur der Sache, nicht anders seyn kann“.182 Wir kommen zum 6. Stück des Vertheidigten Glaubens, die „Lehre der heiligen Schrift von dem Glauben an GOTT, den allmächtigen Vater, und an JEsum Christum, seinen eingebohrnen Sohn, und an den Heiligen Geist“ betreffend. Auf die besondere Brisanz der Verteidigung gerade dieser Lehre weist Sack gleich zu Beginn seiner Ausführungen hin. So bilde die Trinitätslehre einerseits einen wesentlichen Bestandteil der christlichen Religion: Der aufrichtige Glaube an sie ist darum nicht weniger als die unabdingbare Voraussetzung dafür, sich legitimerweise einen Christen nennen zu können. Auf der anderen Seite aber ist es „eben diese Lehre“, an der „eine Vernunft, die sich über ihre Gräntzen weise dünckt“, Anstoß nimmt wie an keiner zweiten.183 Hinsichtlich des zu verteidigenden Gegenstands nun konzentriert sich Sack – ganz im Sinne seiner dezidiert biblischen Theologie – auf „den eigentlichen Lehr-Begrif der heiligen Schrift“; darüber hinausgehende terminologi180  AaO., 80f. – Das principium contradictionis hat freilich auch für Pfaff unbestritten Geltung. Insofern kommt der Vernunft also auch in Glaubensdingen eine gewisse Schiedsfunktion zu; gleichzeitig aber bleibt sie der Offenbarung klar untergeordnet. Ganz in diesem Sinne heißt es zur fundamentaltheologisch zentralen „Frage, ob die Vernunfft als eine Richtschnur anzusehen seye, nach welcher die Offenbahrung solle geprüffet werden“, bei Pfaff, dass „die Vernunfft niemahls der Offenbahrung widersprechen“ kann: „Woraus also fürs andere erhellet, daß, was in der Philosophie wahr ist, in der Theologie unmöglich falsch seyn, oder werden kan. Wahrheit muß eine Wahrheit bleiben, und impossibile est idem simul esse & non esse. […] Also, was Säze anlangt, da darff niemahls ein Widerspruch zwischen der Vernunfft und Offenbahrung seyn. Was Schlüsse und Folgen betrifft, da muß man die Logic gelten lassen, es ist aber ihr Judicium nur organicum und ministeriale. Sie ist nur Hagar, die der Sara dienet, eine Magd, die man aber in ihrem Werth, wie gemeldt, muß gelten lassen“ (Pfaff, Academische Reden, 67f.). 181   Sack nennt hier z.B. das Leib-Seele-Problem, aber auch Geheimnisse aus dem Tierund Pflanzenreich (vgl. Sack, Vertheidigter Glaube III, 82). 182   Vgl. aaO., 81–85. – Die Rede von der „Natur der Sache“ kann hier zweifach bezogen werden: zum einen auf die Begrenztheit der erkennenden Vernunft, zum anderen auf die Unendlichkeit des dieser sich offenbarenden Wesens. 183   Vgl. Sack, Vertheidigter Glaube VI, 6f.

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sche Festlegungen oder dogmatische Erklärungen – selbst in Gestalt eines Nicaeno-Con­ stantinopolitanum oder Athanasianum – haben für ihn als menschliche Bemühungen indes keinerlei bindende Kraft. Sollte also der Apologet in seinem Bemühen um eben diese Letzteren scheitern, so würden davon weder die christliche Religion noch die Lehre der Heiligen Schrift einigen Schaden nehmen: Treffen nun die Schwierigkeiten und Einwürfe bloß diese menschlichen Erklärungen, so kan man nicht sagen, daß dadurch der Glaube eines Christen, der sich allein auf die göttliche Offenbahrung gründet, geschwächt werde. Und können sothane menschliche Auslegungen und Erklärungen ohne Widerspruch gar nicht behauptet werden, so kan solche ein Christ, der aufrichtig nach der Wahrheit forscht, gantz getrost fahren lassen, und denen Ungläubigen ohne alle Bedencklichkeit Preiß geben. Diese gewinnen dadurch nichts, und der Christ verliehrt dadurch nichts.184 Die Lehre selbst hängt folglich nicht am dogmatischen Wortlaut. Es geschieht also gewissermaßen „zum Uberflusse“, wenn Sack gleichwohl die „Wissenschafts- oder KunstWorte“ der Gottesgelehrten in ihrem „eigentliche[n] Verstand[e]“ darzulegen sich anschickt.185 Und doch scheint eine entsprechende Erörterung gerade an dieser Stelle durchaus geboten, bedenkt man die gegen die Gottesgelehrten gerichtete „harte Beschuldigung“, als forderten sie es von den Christen „als eine zur Seligkeit nothwendige Bedingung […], an sich selbst widersprechende und wider alle Begriffe der gesunden Vernunft lauffende Lehrsätze zu glauben“.186 – Sacks Prüfung der traditionellen dogmatischen Terminologie bringt im Wesentlichen zweierlei zutage: Erstens erweist sich, pragmatisch gesprochen, die traditionelle Terminologie angesichts der ‚Dürftigkeit‘ menschlicher Sprache als die beste Lösung, indem sie sich wie keine andere dazu eignet, „die Lehre der heiligen Schrift von diesem hohen Glaubens-Artickel auf eine so bequeme Art und so kurtz zusammen gefaßt“ auszudrücken. Die Tatsache freilich, dass noch hier – allem sprachlichen Ringen zum Trotz – „sehr grosse Dunckelheiten, und allen menschlichen Verstand übersteigende Unbegreiflichkeiten übrig bleiben“, beweist desto mehr, dass „man diese gantze Lehre mit Recht das Geheimniß der Drey-Einheit“ nennt.187 Zweitens erweist sich die Lehre von der göttlichen Trinität – bei aller Übervernünftigkeit – weder als selbstwidersprüchlich noch „läuft [sie] wider alle Begriffe der gesunden Vernunft“. Denn Gott ist gerade nicht „in einem und eben demselben Sinne Drey und zugleich auch Eins“, sondern vielmehr „in einem andern Sinne Drey und in einem andern Sinne Eins […], nehmlich Drey in Personen und Eins im Wesen“. Freilich weiß auch Sack um die Problematik des Person-Begriffs; und doch rühren die Schwierigkeiten der Trinitätslehre nach seinem Dafürhalten „nicht sowohl von denen angenommenen Redens-Arten und Kunst-Worten, als vielmehr von der Dunckelheit der Sache selber, und denen engen Gräntzen des menschlichen Verstandes 184

 AaO., 15f. – Zum Problem insgesamt vgl. aaO., 8–16.   Vgl. aaO., 19. 186   Vgl. aaO., 9f. – Gegen diese Beschuldigung sucht sich Pfaff folgendermaßen zu erwehren: „Wie will der Deiste mich überführen, ich glaube was contradictorisches in einer Sache, die weder er, noch ich begreiffe? Wo eine Contradiction seyn solle, da müssen Begriffe auf beyden Seiten sich finden, so hier fehlet. Uno verbo. Unser Wissen in diesem Leben ist Stückwerck. So schriebe auch Paulus von sich I Cor. 13,9. Die Ewigkeit wird uns erst dieses Geheimniß aufschliessen. Biß dahin müssen wir unsere Curiosität zurück halten, und das Judicium contradictionis der Ewigkeit fürsparen“ (Pfaff, Academische Reden, 70). 187   Vgl. Sack, Vertheidigter Glaube VI, 19–25 (Hervorh. im wörtlichen Zitat i. O.). 185

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her“. Bedenkt man nun die Schwierigkeiten, welchen auch die theologischen Klärungsversuche notwendig unterliegen, und erwägt überhaupt den Geheimnischarakter dieser Lehre, so resultiert für den einzelnen hinsichtlich des Sprachgebrauchs „völlige Freyheit […], wenn er nur sonst, bey diesem Geheimnisse, nicht die Lehre der Schrift selbst verwirfft“.188 Von fundamentaltheologischem Interesse ist freilich noch die Frage nach der Rolle der Vernunft angesichts des Geheimnisses der göttlichen Trinität. Sack betont hier einmal mehr die vernehmende und in diesem Sinne nach-denkende Funktion der menschlichen Vernunft und markiert damit in aller Klarheit die Grenzen ihres Kompetenzbereiches: Ich kann mir auch gar nicht vorstellen, daß, wenn bey diesem Geheimnisse genauer bestimmte und klärere Begriffe nach der gegenwärtigen Beschaffenheit des menschlichen Verstandes möglich oder auch zur Seligkeit nöthig wären, der Heilige Geist solche auf die ausdrücklichste Weise nicht sollte gegeben haben. Die Geheimnisse des Glaubens sind, eben wie die Geheimnisse der Natur, überhaupt so beschaffen, daß sich davon schlechterdings nicht mehr erkennen läßt, als davon offenbahret ist, und aller menschliche Verstand da schweigen muß, wo die Schrift schweigt. Und alle Erklärungen, sie mögen auch beschaffen seyn, wie sie wollen, können nie die heilige Decke wegziehen, die ein Geheimniß vor den blöden Augen der Sterblichkeit verbirgt. Der gantze Nutzen, den man, auch von den besten Erklärungen, erwarten kann, besteht darin, daß man dadurch auf der einen Seite die Geheimnisse nur in so weit verständlich macht, als hinlänglich ist, um überhaupt zu verstehen, was man glaubt[189], auf der andern Seite aber zeige, daß eben diese Gleichnisse [eigtl. „Geheimnisse“?; D.Z.] weder mit andern klar ausgedruckten Sätzen der heiligen Schrift, noch mit sonst offenbahren Wahrheiten, in Widerspruche stehen. Das ist der gantze Dienst, den man bey dieser Sache von der Vernunft erwarten kann. Weiter aber erstreckt sich weder ihr Vermögen, noch ihr Recht.190 Eben diese Begrenztheit sowohl ihres Vermögens als auch ihrer legitimen Verwendung zwingt die Vernunft in göttlichen Dingen zu den Füßen des Lehrmeisters nieder, der ihr in der Heiligen Schrift als der Offenbarung Gottes entgegentritt: Ich sehe aber auch zugleich aus diesen Stellen [der Heiligen Schrift], daß hier meiner Vernunft ein hohes Geheimniß der unbegreiflichen Gottheit geoffenbaret wird, welches sie bey dem schwächern Lichte ihrer eigenen Kräfte und Schlüsse nicht entdecken, und auch nicht einmahl muthmassen konnte. […]   Es ist wahr: meine Vernunft geräth hierüber in ein tiefes Schweigen, und findet auch hier Unbegreiflichkeiten, die sie unerklärt muß stehen lassen. Allein es ist auch billig, daß sie da schweige, wo die Gräntzen ihrer hiesigen kindischen Anfangs-Erkenntniß aufhören[191]; wie sie dann auch in der That nie mehr wahre Vernunft ist, und den Menschen mehr weise macht, als wann sie diese ihre kleinen Gräntzen mit Bescheidenheit 188

  Vgl. aaO., 26–41.   In diesem Sinne begründet Sack beispielsweise die Notwendigkeit des trinitarischen Bekenntnisses über die natürliche Religion hinaus in dessen soteriologischer Erklärungskraft, indem „die Erlösung des Menschen zum ewigen Leben“ unmöglich recht verstanden und geglaubt werden kann, „ohne die Quelle davon, nehmlich das anbethungswürdige Geheimniß des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes, zu wissen und zu glauben“ (vgl. aaO., 65–68; Hervorh. im wörtlichen Zitat i. O.). 190  AaO., 43f. 191   Neben der „hiesigen kindischen Anfangs-Erkenntniß“ verweist Sack immer wieder 189

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erkennt, und nicht bestreitet, was sie nicht versteht. Die innere Natur der Dinge hat überhaupt ihre Verborgenheiten, dahin auch der schärfste Blick der menschlichen Vernunft nicht reicht. Und wann uns gleich die Natur von Zeit zu Zeit einige von diesen ihren Geheimnissen offenbahret, so, daß wir derselben Würcklichkeit nothwendig annehmen und glauben müssen, so behalten dieselben dennoch ihre unbegreiflichen und gäntzlich unzuerklärende Seiten. Da ich nun dergleichen in der Natur endlicher Dinge antreffe, und meine Vernunft auch schon hierinn ihre engen Gräntzen erkennen, und, ohne zu begreifen, glauben muß, sie mag wollen oder nicht; so sehe ich daraus klärlich ein, daß in dem unendlichen göttlichen Wesen noch viel mehr Geheimnisse und unergründliche Tiefen sich finden müssen, die mir nur durch eine Offenbahrung in so weit bekannt gemacht werden können, als hinlänglich ist, um sie zu glauben. Da ich nun endlich das hohe Geheimniß des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes in der Schrift würcklich offenbahrt finde, so ist das für meine Vernunft selbst der stärckste Grund, dieß Geheimniß mit anbethender Unterwerfung zu glauben, so unbegreiflich ihr auch das mehreste davon bleibt.192 Nachdem – zusammenfassend – sowohl die Vernunft in ihrer Bedürftigkeit nach einem höheren Unterricht eingesehen (I. Stück) als auch die christliche ‚Hypothese‘, dass es sich bei der Heiligen Schrift um eben diesen Unterricht handelt, in ihrer Gültigkeit bewiesen werden konnten (II. Stück), ist es nur konsequent, dass Sack – in Anbetracht der ebenfalls begründeten Notwendigkeit verstandesübersteigender Geheimnisse in Glaubensdingen (III. Stück) – sich auf den noch verbleibenden Seiten zur Erklärung der Trinitätslehre weitestgehend auf ein grob kommentierendes Referat der wichtigsten offenbarenden Aussagen der Heiligen Schrift beschränkt. Es soll und kann nämlich der Mensch in seiner „hiesigen kindischen Anfangs-Erkenntniß“ angesichts des Geheimnisses der göttlichen Dreieinigkeit nicht mehr tun, als aus der Offenbarung – gemeint ist freilich die Heilige Schrift – „stückweise [zu] erwege[n], was sie mir von einer jeden dieser göttlichen Personen insbesondere ausdrücklich sagt, um zu wissen, was ich eigentlich von einer jeden derselben erkennen und glauben könne und müsse“.193 – Demgegenüber kann Lessings von uns nun zu betrachtender Versuch, die Lehre von der göttlichen Trinität mit rein denkerischen Mitteln zu begründen, oder in den Worten Sacks: mich schon „jetzt mit meinem nicht weit reichenden Dencken in diese unergründlichen Tiefen der anbethungswürdigen Drey-Einheit [zu] wagen“, für den Hofprediger nichts weiter bedeuten als „eine höchst thörichte Vermessenheit“.194 auch auf die von „der gegenwärtigen Einschränckung“ dereinst befreite Erkenntnis „in jenem verklärtem Zustande“ des „zukünftigen vollkommenern Leben[s]“ (vgl. aaO., 155f.). 192  AaO., 62–65 (Hervorh. D.Z.). 193   AaO., 70. – In diesem Sinne widmet sich die fünfte Betrachtung des sechsten Stücks solchen „Stellen der Offenbahrung […], in welchen von dem Vater insbesondere geredet wird“ (aaO., 71), während die sechste Betrachtung sich mit der „blosse[n] Lehre der heiligen Schrift von dem Sohne GOttes“ (aaO., 101) und die siebente mit eben der vom Heiligen Geist befasst. 194   Vgl. aaO., 155f. – So kann man auch nach Pfaff von der Religion mathematische Beweisbarkeit nicht fordern, beruhe doch ihre „Wahrheit auf gewißen factis und Wundern […], die man ex principiis philosophicis nicht demonstriren kan. Die Religion ist altioris sphaerae, und deren Gewißheit muß bey historischen, doch aber auch nach dieser Art scharffen Beweisen durch eine göttliche Krafft eingeflößet werden.“ Auf dem Felde der „Religions-Geheimnisse“ genüge es deshalb, „wenn man nur die scientifische methode imitirt, so gut man kan“ (Pfaff, Academische Reden, 605).

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III. Versuch einer rationalen Apologetik – Lessings Fragment Das Christentum der Vernunft (1752/1753) 1. Text und Kontext oder Lessings ungeheurer Anspruch, als Endlicher das Unendliche zu begreifen Das Christentum der Vernunft 1 gehört zweifellos zu den eindrücklichsten Zeugnissen Lessingscher Gedankenschärfe. Und so würde die anfängliche Übereinkunft, das erst posthum erschienene Fragment2 in Lessings letzte Lebensjahre zu datieren, eigentlich nicht weiter verwundern – hätte nicht bereits Moses Mendelssohn in seinen Morgenstunden (1785) die Ausleger des Textes in die frühen 1750er-Jahre verwiesen.3 Es ist angesichts der Nichtbeachtung dieses Winks das Verdienst Alexander Freiherrn von der Goltz, dass wir das so kurze und zugleich denkwürdige Fragment als „eine Arbeit aus Lessing’s Jugend“ und folglich als ein „sehr merkwürdiges Zeugniß von der frühen Reife dieses außerordentlichen Geistes und nicht minder von der strengen Consequenz in seinem Denken“ begreifen dürfen.4 Dabei beruht von der Goltz’ gegenteilige Einschätzung schlicht auf einem bestimmten und klaren, bisher unbekannt gebliebenen Zeugnisse eines Zeitgenossen […], nämlich auf einem Briefe des in Lessing’s Leben zum öfteren genannten Literaten M. Christian Nicolaus Naumann [1719/20–1797] von Bautzen, welchen derselbe unterm 1. December [1753] an einen jungen Theologen, Theodor Arnold Müller [1732–1775] von Essen, schrieb.5 1

  G. E. Lessing, Das Christentum der Vernunft, in: B 2, 401–407.   Das Christentum der Vernunft erscheint erstmals als 12. Stück des von Karl Gotthelf Lessing herausgegebenen Theologischen Nachlaßes G. E. Lessings (Berlin 1784, 219–226). 3   Dort erwähnt Mendelssohn Das Christentum der Vernunft als einen „jugendlichen Aufsatz[]“ Lessings, „davon er mir das Wesentlichste, gleich zu Anfang unserer Bekanntschaft [d.h. im Jahre 1754; D.Z.], vorgelesen hatte“ (Moses Mendelssohn, Morgenstunden oder Vorlesungen über das Dasein Gottes [1785], 224). Dass man diesem Hinweis nicht folgen wollte, erklärt sich wohl nicht zuletzt auch durch die inhaltliche Nähe des Fragments zum Para­graphen 73 der Erziehung des Menschengeschlechts (1780), die freilich eine Spätdatierung nahe­legt. 4   v. d. Goltz 1857, 59 (Hervorh. i. O.). 5  AaO., 65 (Hervorh. i. O.). 2

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Den Inhalt des seinerzeit von Lessings ‚Stubengenossen‘ Naumann verfassten Briefes bilden die „besondern Grundsätze[] unsers Freundes [sc. Lessings], die er das Christenthum der Vernunft nennet“.6 Nun lässt Naumanns ‚vollständiges‘ und ‚präzises‘ Referat keinen Zweifel daran, dass Lessing „damals schon dieses Fragment geschrieben“ hat.7 Die genaue Datierung in das Jahr 1753 macht es von der Goltz zudem möglich, hinsichtlich des Kontextes des Fragments noch „zwei Andeutungen“ hinzuzufügen, „welche sich auf die Veranlassung beziehen, die Lessing haben mochte, das Fragment zu schreiben und ihm jenen Namen zu geben“. 8 Zum einen nennt von der Goltz hier die im Herbst 1751 erschienenen Gründe der Vernunft zur Erläuterung und zum Beweise des Geheimnisses der heiligen Dreieinigkeit / gesamlet und geurteilet von Johan Thomas Haupt (Rostock/Wismar 1752), die – vermutlich – Lessing am 28. Dezember 1751 in der Berlinischen Privilegierten Zeitung (BPZ) rezensiert hat.9 Wenn an dieser Stelle nun ein längeres Zitat aus „Des zweiten Abschnits Vierte[m] Hauptstük, worin die vornemsten strengen Beweise aus der Vernunft von der Dreieinigkeit angefüret und geprüft werden“, folgt, so geschieht dies v.a. deshalb, damit wir Lessings Kühnheit und auch seinen Anspruch besser verstehen können10: §. 135. Wer einen Saz aus deutlichen und unwidersprechlichen Gründen auf eine den strengen Regeln der Vernunftlere gemässe Art und Weise zu schliessen, herleitet, von dem saget man, daß er einen Saz beweiset. Nach dieser Erklärung werden zu einem richtigen Beweise notwendig zwei [sc. Dinge] erfodert. Man mus erstlich deutliche und unwidersprechliche Gründe haben, und zweitens aus denselben den zubeweisenden Saz auf eine rechtmäßige Art und Weise zu schliessen herleiten. Wer sich demnach unterstehet, den grossen und wichtigen Lersaz: es sind in dem einigen götlichen Wesen drei Personen, aus Gründen der Vernunft volständig zu beweisen, der wird eine gar genaue und tiefe Einsicht in das götliche Wesen, und in die innere Beschaffenheit desselben haben müssen. Diese Einsicht wird ihm hernachmals deutliche und unwidersprechliche Gründe an die Hand geben, woraus die Warheit der Dreieinigkeit hergeleitet werden kan. Und bei diesem Hauptbeweise wird er dartun müssen, daß die Dreieinigkeit in dem göt­ lichen Wesen absolut möglich sei, und daß sie den götlichen Volkommenheiten nicht nur nicht widerspreche, sondern auch volkommen mit denselben übereinstimme: er wird hiernächst deutlich zeigen müssen, daß und warum die erste Person der Vater,  6

  Naumann (Brief an Müller), zit. n. v. d. Goltz 1857, 70.  AaO., 68f. – Aufgrund seiner Gegnerschaft zur übrigen damaligen Forschung ist das Zitat bei von der Goltz gesperrt.  8  AaO., 73.  9   Vgl. G. E. Lessing, BPZ. 155. Stück. 28. 12. [1751], in: B 2, 288f. 10   Zitiert werden die beiden Paragraphen 135 („Was zu einem strengen Beweise aus der Vernunft von der Dreieinigkeit gehöret.“) und 136 („Vorläufige Beurteilung der strengen philosophischen Beweise von der Dreieinigkeit.“). – Auf die Bedeutung dieses Werkes Johan Thomas Haupts für die philosophische Debatte zur Mitte des 18. Jahrhunderts verweist Nisbet (vgl. Nisbet 1999, 66f.).  7

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die andere der Son, und die dritte der heilige Geist genant werde; endlich aber um seinem Beweise die Volständigkeit zu geben, so wird er auch beweisen müssen, daß der Son vom Vater gezeuget werde, daß der heilige Geist vom Vater und Sone ausgehe, und worin die ewige Zeugung so wol, als auch der Ausgang des heiligen Geistes eigentlich bestehe. Wer sich nun prüfet, ob er eine so grosse Einsicht in die unendliche Natur Gottes habe, um einen solchen Beweis gründlich zu füren; dem wird nach geschehener Prüfung gewis die Lust vergehen, sich an einen solchen Beweis zu wagen. Er wird sein Unvermögen zu einer so schweren und wichtigen Arbeit mehr denn zu deutlich empfinden, und wenn er demohngeachtet, indem er aus Eigenliebe seinen Kräften zu viel zutrauet, diesen Beweis zu füren, sich unterwindet; so ist es kein Wunder, wenn man Spreu vor Gold, erbettelte und unerwiesene Gründe stat unwidersprechlicher Warheiten, und stat einer rechtmäßigen Art zu schliessen, eine felerhafte in seinem Beweise warnimt; es ist kein Wunder, wenn ein solcher Demonstrirgeist zulezt sein übereiltes Verfaren bereuen und öffentlich gestehen mus, daß er ausgeschweifet, und an stat, daß er die Dreieinigkeit aus philosophischen Gründen bewiesen, auf mancherlei Irtümer verfallen. §. 136. Wir können hieraus zum voraus urteilen, wie wenig wir uns von den aus philosophischen Gründen gefürten Beweisen von der Dreieinigkeit zu versprechen haben. Und obgleich einige nur die Merheit der Personen in dem götlichen Wesen aus vernünftigen Gründen zu erweisen sich bemühet haben; so zeiget doch das vorhergehende Hauptstük zur Genüge, wie schlecht diese Beweise geraten. Wäre uns die innere Beschaffenheit des götlichen Wesens aus der Vernunft so weit bekant, daß wir daraus die Merheit der götlichen Personen unumstöslich beweisen könten; so glaube ich, daß wir auch die genauere Bestimmung, daß drei Personen in dem götlichen Wesen sind, finden würden. So lange nun aber der sich selbst gelassenen Vernunft die genaue Einsicht in die innere Beschaffenheit des götlichen Wesens mangelt; so lange wird eins so wol, als das andere zu bewerkstelligen derselben unmöglich sein, d. i. die sich selbst gelassene Vernunft wird aus den natürlich bekanten Warheiten weder die Merheit der Personen in dem götlichen Wesen, noch auch die Dreieinigkeit gründlich und überzeugend beweisen können. Got ist ein unendlicher Geist, und es mus die Dreieinigkeit eine der allereigentümlichsten Volkommenheiten der Gotheit sein, welche aus der unendlichen Natur Gottes fliesset. Hätten wir nun davon eine hinreichende Erkäntnis; so würden wir meinem Bedünken nach auch hinreichende Erkäntnisgründe haben, woraus die Dreieinigkeit könte hergeleitet werden. Wir würden folglich im Stande sein, die Dreieinigkeit aus der Vernunft zu beweisen. Wer unter den Menschen aber siehet das Unendliche ein? Wer kan ergründen, was ein unendlicher Geist vor Vorzüge und vor eigentümliche Volkommenheiten haben könne und müsse? Unser Verstand ist eingeschränkt, unsere Einsicht hat ihre Gränzen. Das Endliche begreift das Unendliche nicht, wir sind also nicht vermögend, das Geheimnis der heiligen Dreieinigkeit aus der Vernunft zu beweisen, und durch solchen Beweis zu machen, daß es in Ansehung unserer aufhöre ein Geheimnis zu sein.11 11   Johan Thomas Haupt, Gründe der Vernunft zur Erläuterung und zum Beweise des Geheimnisses der heiligen Dreieinigkeit gesamlet und geurteilet (1752), 273–276. – Ganz ähnlich beurteilt auch A. F. W. Sack die Absicht, mich schon „jetzt mit meinem nicht weit reichenden Dencken in diese unergründlichen Tiefen der anbethungswürdigen Drey-Einheit [zu] wagen“, als „eine höchst thörichte Vermessenheit“ (s. Exkurs 2, Zitat bei Anm. 194).

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Der angesichts solcher Vorhaltungen ungeheure Anspruch Lessings, im Christentum der Vernunft „das Geheimnis der Dreieinigkeit […] gar […] metaphysisch zu demonstrieren“12, unterstreicht noch einmal die treffende Bemerkung Alexander von der Goltz’, es könne kaum geleugnet werden, „daß es ganz in Lessing’s Art war, durch diese Schrift [Johan Th. Haupts] sich reizen zu lassen, jetzt auch seinerseits eine Lösung dieser Aufgabe zu versuchen“.13 Zum anderen nennt von der Goltz eine Schrift, „von der wir glauben, daß sie für Lessing eine noch nähere äußere Veranlassung geworden sey, sein Fragment ‚das Christenthum der Vernunft‘ zu schreiben und ihm gerade diesen Namen zu geben, wie wenig beide Aufsätze auch innerlich verwandt sind“.14 Gemeint ist die 1752 anonym erschienene Schrift Die Religion der Vernunft, deren Verfasser, Johann Wilhelm Hecker, seinerzeit „Hauslehrer in einem gräflichen Hause zu Berlin“ ist.15 In offensichtlichem Gefolge Leibniz-Wolffischer Schule führt Hecker zunächst einen kosmologischen Gottesbeweis und schließt hieran vernünftige Überlegungen zu den Eigenschaften Gottes sowie zur allerbesten Güte der Welt an, wobei die Erkenntnis der göttlichen Eigenschaften zugleich auch zur Erkenntnis dessen führt, ‚was gut ist‘, d.h. zur Begründung des Moralgesetzes.16 – Wie der Titel der kleinen Schrift bereits anzeigt, ist es dem Menschen nach Hecker möglich, allein aus seiner Vernunft zur gewissen Erkenntnis und Überzeugung all dieser Dinge zu gelangen: „Wir haben das Glück“, heißt es in den einleitenden Worten, „dahin mit offenen Augen zu kommen, wohin unsere Vorfahren mit verbundenem Angesichte durch eben so blinde Leiter sich höchst mislich haben führen lassen müssen.“17 Seine Motivation formuliert ­Hecker entsprechend so: „Ich wollte von meiner Bestimmung, von meiner Glückseligkeit und dem Grunde meiner Hofnung aus meiner Vernunft eine hinläng­liche Gewisheit und eine Ueberzeugung haben, die ich selbst keiner Vorurtheile beschuldigen könnte.“18 – Nun hat, wie Lessing in einem Brief vom 29. Mai 1753 gegenüber seinem Vater erwähnt, Heckers Schrift, die er demselben zur Lektüre beigelegt hat, „einiges Aufsehen gemacht, wie denn auch verschiednes darwider geschrieben worden“.19 Zu nennen ist hier v.a. die Kritik eines Zeitgenossen, wonach Hecker als „ein gar zu philosophischer Lehrer der Religion“ beurteilt 12   Dass sich Lessing dessen „öfters in jüngern Jahren schmeichelte“, erinnert sich Moses Mendelssohn in seinen Morgenstunden (vgl. Mendelssohn, Morgenstunden, 225f.). 13   v. d. Goltz 1857, 76; vgl. auch Vollhardt 2018, 87f. 14   v. d. Goltz 1857, 77. 15  Ebd. 16   So lautet Heckers Antwort auf die selbst gestellte Frage, was denn überhaupt gut sei: „Nichts kann mir gewissere Begriffe davon geben, als die Erkenntniß der Vollkommenheiten GOttes. Alles ist gut, was mit denselben überein kommt, und sich aus ihnen herleiten läst“ ([Johann Wilhelm Hecker], Die Religion der Vernunft [1752], 35). 17  AaO., 8. 18  AaO., 9. 19   Brief Nr. 51 (An Johann Gottfried Lessing; 29. Mai 1753), in: B 11/1, 50–53. Hier: 53,1f.

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wird: „Wie wohl würde er [sc. Hecker] gethan haben“, so jener Zeitgenosse weiter, „wenn er die Verbindung der Religion der Vernunft mit dem Christenthume wenigstens einigermaßen bewiesen, und unsern göttlichen Erlöser nicht aus seiner Schrift völlig weggelassen hätte“.20 Zwar ist auch in Lessings Christentum[!] der Vernunft vom „göttlichen Erlöser“ nirgends die Rede; und doch steht es außer Zweifel, dass Lessing die von Hecker versäumte „Aufgabe, unter Berücksichtigung jener Verbindung [nämlich der ‚Verbindung der Religion der Vernunft mit dem Christenthume‘], in seiner Weise zu lösen“ suchte.21 – Kurzum: Indem Lessing die Trinität (als das Zentrum der christlichen Gotteslehre) aus der Bestimmung Gottes als des ens perfectissimum ableiten zu können beansprucht, setzt er den beiden genannten Versuchen Heckers und Haupts „seine speculative Lösung der Aufgabe […] entgegen“. Mit dieser Lösung aber greift er nicht allein „dem wissenschaftlichen Standpuncte seiner Zeit weit vor[]“; vielmehr weist er – „ein Jüngling noch“, wie von der Goltz als ein Zeitgenosse des 19. Jahrhunderts anerkennend unterstreicht – „zuerst die Richtung […], welche nachmals die deutsche Speculation nahm“.22 Wir wollen diesen auch in der neueren Forschung aufgegriffenen „Andeutungen“ von der Goltz’23 zwei weitere, weniger unmittelbare als vielmehr grundsätzliche Motive hinzufügen, welche die Erprobung eines „Christentums der Vernunft“ für Lessing zur unausweichlichen Aufgabe werden ließen. An erster Stelle ist hier an seinen „Weg der Untersuchung“ zu erinnern, auf welchem er zu echter „Überzeugung“ von den „Grundsätze[n] der christl. Lehre“ zu gelan20   Von der Goltz gibt an, diese zeitgenössische Kritik aus der Spenerschen Zeitung vom 13. Juli 1752 zu zitieren (vgl. v. d. Goltz 1857, 78; Hervorh. ebd.). – Den „göttlichen Erlöser“ lässt Hecker sogar dort unerwähnt, wo er (wenigstens aus orthodoxer Perspektive) von keinem anderen als Christus handeln kann: „Dir [sc. Gott] ist nichts unmöglich, als was mit Deinen allerhöchsten Vollkommenheiten streitet. Ein Mittel zu erfinden, die nach Deiner Gnade hungrigen Menschen zu einer verlohrnen Glückseligkeit zurück zu bringen, sie mit Dir wieder auszusöhnen, Deinen Zorn zu stillen; ist etwas von diesen Stücken Deinen göttlichen Eigenschaften zuwider? Ist nicht vielmehr alles dieses Deinen anbetungswürdigsten Vollkommenheiten gemäß? Da Dir von dieser Seite nichts daran hinderlich ist, so kannst Du, so willst Du, so must Du uns dergleichen verschaffen. Deine mit unerforschlicher Weisheit verbundene allmächtige Kraft, Deine Gerechtigkeit selbst und die unüberwindliche Triebe Deiner väterlichen Liebe sind mir statt so vieler Bürgen dafür“ ([Hecker], Die Religion der Vernunft, 57). 21   v. d. Goltz 1857, 80. 22   Ebd. – Diese richtungsweisende Rolle Lessings betont auch Hugh B. Nisbet, wie bereits der Titel seines Aufsatzes (Nisbet 1999) zeigt: „The Rationalisation of the Holy Trinity from Lessing to Hegel“; an anderer Stelle schreibt er: „Von weiterreichender Bedeutung ist das Fragment auch insofern, als es der erste von einer Reihe von Versuchen von modernen deutschen Denkern ist, die christlichen Mysterien in rationaler Begrifflichkeit darzustellen – Versuchen, die im Denken der deutschen Idealisten und besonders in Hegels Religionsphilosophie auf umfassendere Weise Gestalt annehmen“ (Nisbet 2008, 181). 23   Vgl. Stenzel 1998, 995–999. – In neuester Zeit erwähnt auch Vollhardt die Schriften Haupts und Heckers als mögliche Inspirationen Lessings (vgl. Vollhardt 2018, 87ff.).

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gen strebt24 und welchen nachzuvollziehen wir uns zum Thema dieser Arbeit gemacht haben. Auf diesem Wege nun kommt Lessing nicht umhin, gerade die zentralen Dogmen des Christentums auf ihre Haltbarkeit (oder auch Unhaltbarkeit) hin kritisch zu überprüfen. Dass indes solche Überprüfung nur in Form eines rationalen Verfahrens vollzogen werden kann, konnte bereits als das notwendige Implikat von Lessings Apologetik-Kritik überzeugend herausgestellt werden.25 Das Christentum der Vernunft wäre in diesem Sinne also – zweitens – als positive Antwort zu verstehen, die Lessing nach der von ihm geübten Kritik der zeitgenössischen Apologetik noch zu geben schuldig geblieben ist.26 Wenn oben mit Blick auf die essayistische Gestalt der Lessingschen Rettungen – in Aufnahme Adornos – von einem ‚methodisch unmethodischen‘ Verfahren die Rede war27, so begegnet uns im Christentum der Vernunft als einer formstrengen, in Paragraphen gegliederten, deduktiv argumentierenden spekulativ-philosophischen Abhandlung gewissermaßen der formale Gegenentwurf zu den bislang betrachteten Texten.28 Lässt sich der Essay hervorragend in kritischer Absicht gebrauchen, so drückt sich bereits in der nun gewählten Form das Bestreben aus, einen positiven Beitrag, ein (im striktesten Sinne) inhaltliches Ergebnis zu liefern: Es geht Lessing hier um das Material der Wahrheit. – Bevor wir uns diesem Material (oder wenigstens einem Teil davon) im Rahmen einer Analyse widmen wollen, sei zunächst die notwendige Gliederung des Fragments vorgenommen: §§ 1.–4. §§ 5.–12. §§ 13.–21. §§ 22.–27.

Gott als das einzige vollkommenste Wesen Die göttliche Dreieinigkeit Die Erschaffung der Welt Das Moralgesetz(29)

24   Vgl. Brief Nr. 21 (An Johann Gottfried Lessing; 30. Mai 1749), in: B 11/1, 25–28. Hier: 26,9–26. – Ganz ähnlich heißt es auch im Cardan-Essay (s.o. Kap. II., bei Anm. 34): „Was ist nötiger, als sich von seinem Glauben zu überzeugen, und was ist unmöglicher als Überzeugung ohne vorhergegangene Prüfung?“ 25   S.o. Kap. II. 2.3. – Auch Nisbet spricht mit Blick auf Das Christentum der Vernunft von Lessings „rationale[m] Zugang zur Theologie“ (Nisbet 2008, 179). 26   Auch v. Lüpke stellt das Fragment in den Kontext von Lessings Kritik der zeitgenössischen Apologetik: „Indem er [sc. Lessing] die Beweisverfahren zeitgenössischer Theologie kritisiert, redet er keineswegs einer vernunftlosen Theologie das Wort. Im Gegenteil: Die vorgelegten Beweise sind nicht rational genug […] Demgegenüber versucht Lessing, Offenbarungswahrheiten dadurch als vernünftig auszuweisen, daß er sie aus allgemeinen Vernunftbegriffen herleitet“ (v. Lüpke 1989, 50). 27   S.o. Kap. I., Zitat bei Anm. 10. 28   Zur Methode, welcher Lessing in seiner Abhandlung folgt, s. v. Lüpke 1989, 47. 29   Dass Lessings Christentum der Vernunft keineswegs als ein Verstoß gegen den im Herrnhuter-Essay formulierten Grundsatz, der Mensch sei zum Tun und nicht zum Vernünfteln erschaffen (s.o. Kap. I., Zitat bei Anm. 51), betrachtet werden kann, sieht Allison in seiner Zielrichtung auf die Ethik hin begründet: Lessing „did not reject speculation per se, but only that irrelevant brand of speculation that is totally divorced from life, and hence it is

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Entsprechend unserem Interesse, Das Christentum der Vernunft als Lessings positiven Beitrag in seiner Auseinandersetzung mit der zeitgenössischen Apologetik zu betrachten, bleibt die nun folgende Analyse auf die ersten zwölf Paragraphen beschränkt. So ist es v.a. die Trinitätslehre, hinsichtlich derer Lessings Forderung nach einer rational verfahrenden Apologetik zu einer echten Herausforderung an ihn selbst wird – eine Herausforderung, die (so die zeitgenössische Sicht) im Versuch, das Unendliche im endlichen Verstande begreifen zu wollen, zur Überforderung gereichen muss.

2. Analyse und Interpretation Da es bislang noch niemandem gelungen ist, den philosophischen Horizont des jungen Lessing mit einiger Sicherheit zu bestimmen30 (und auch die vorliegende Arbeit eine solche Mammutaufgabe unmöglich in Angriff nehmen kann), soll es an dieser Stelle vermieden werden, die ohnehin bloß spekulativ zu führende Debatte um eine mögliche (oder auch tatsächliche) Abhängigkeit der Lessingschen Paragraphenfolge vom Denken dieses oder jenes Philosophen durch neue Spekulationen zu erweitern.31 Stattdessen sei der schlichte Versuch unternommen, die von Lessing seinerzeit als ‚metaphysische Demonstration‘ gerühmte Spekulation32 von zeitgenössisch schon als klassisch geltenden metaphysischen Voraussetzungen, sprich: von einer Art Normalphilosophie her aufzuklären.33 Wenn dabei der eine oder andere Name fallen wird, soll damit keineswegs eine direkte oder bewusste Abhängigkeit Lessings vom Denken eben dieser Person behauptet sein.

entirely fitting that Lessing’s own youthful attempt at speculative thought should culminate in an ethic“ (Allison 2018, 58); vgl. außerdem v. Lüpke 1989, 46f. 30   Auf ein solches Desiderat macht beispielsweise Stenzel aufmerksam (vgl. Stenzel 1998, 1006). Wie schwierig ein solches Unterfangen sein würde, geht auch aus Nisbets Einschätzung hervor, der gemäß Lessings „grundsätzliche philosophische Position während dieser ganzen Zeit eklektisch oder pluralistisch“ bleibe (Nisbet 2008, 182). 31   Dazu eine kritische Anmerkung Friedrich Vollhardts: „Auch die vielen Streifzüge durch die abendländische Geistesgeschichte, wie sie die Forschung seit mehr als einhundert Jahren unternimmt – als Ideengeber wurden u.a. Origenes, Giordano Bruno und wiederholt Spinoza genannt –, haben sich als wenig hilfreich erwiesen, um die in Paragraphenfolge und spekulativer Form vorgetragene Argumentation zu erschließen“ (Vollhardt 2018, 88f.). – Hinweise auf entsprechende Autoren finden sich u.a. bei Schilson 1974, 274 Anm. 30; Nisbet 1999, 86 Anm. 19 und Allison 2018, 55 Anm. 34. 32  S. (in diesem Kap.) obiges Zitat bei Anm. 12. 33   Hinsichtlich Lessings trinitätstheologischer Spekulation verweist auch Nisbet auf wesentliche Analogien zu solchen ‚spekulativen Erläuterungen‘ (die ihrerseits jedoch nicht als Demonstrationen der Trinitätslehre verstanden werden wollen), wie sie sich „wenig von der Zeit der Scholastik bis ins achtzehnte Jahrhundert“ geändert hätten (vgl. Nisbet 2008, 180).

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2.1 Gott als das einzige vollkommenste Wesen – Die Prämissen im Lichte der traditionellen Metaphysik In den ersten vier Paragraphen formuliert Lessing die Prämissen für die anschließende Deduktion der immanenten Trinität auf der einen und der Kosmogonie auf der anderen Seite. Dass er hierbei keineswegs ganz von vorn, etwa mit einem Beweis von der Existenz Gottes anfängt, entdeckt sein spezifisches Interesse, mit den nun folgenden Überlegungen nicht noch einen Beitrag zur Bestimmung der „Religion der Vernunft“ beisteuern zu wollen, sondern vielmehr das, was in zahllosen anderen Schriften schon zur Genüge erwiesen worden ist, in nun überbietender Weise – nämlich zur Begründung eines „Christentums der Vernunft“ – fortzuführen. Entsprechend unvermittelt setzt der erste Paragraph gleichsam medias in res ein: § 1. Das einzige vollkommenste Wesen hat sich von Ewigkeit her mit nichts als mit der Betrachtung des Vollkommensten beschäftigen können.34

Die Existenz Gottes als ‚des einzigen vollkommensten Wesens‘ wird also schlicht vorausgesetzt. – Noch wurde die klassische Metaphysik in ihren Grundfesten nicht ernsthaft erschüttert. Noch erscheint es der menschlichen Vernunft als ein ‚Leichtes‘, das Dasein Gottes zu beweisen.35 Noch hat Kant (1724–1804) seinen Zeitgenossen nicht die Augen geöffnet und sie auf den „Abgrund“ hingewiesen, an welchem der Metaphysiker (in unbewusster Waghalsigkeit) sich bewegt, wenn er den theistischen Gott aus dessen empirisch beschreibbaren Wirkungen oder aus den Prinzipien des menschlichen Denkens zu erweisen sucht.36 – Indem also Lessing die Prämissen seiner trinitätsphilosophischen Spekulation lediglich voraus-setzt, ohne sie ihrerseits argumentativ zu begründen, belässt er es (bewusst?) im Dunkeln, welchem Denker oder System sich diese seine Überlegungen anschließen oder – weniger stark und wohl zutreffender formuliert: wo er sich in bloß eklektischer Weise bedient.37 Wenn 34

  B 2, 403,1–4.   Vgl. beispielswiese Johann Wilhelm Heckers vielsagende Formulierung: „Nichts war mir leichter, als das Daseyn eines nothwendigen Grundwesens, einer unendlichen Urquelle alles dessen, was mir vorgekommen war, daraus herzuleiten“ ([Hecker], Die Religion der Vernunft, 10; Hervorh. D.Z.). Im weiteren Verlauf seiner eng an Leibniz/Wolff angelehnten Argumentation bestimmt Hecker dieses ‚notwendige Grundwesen‘ dann präziser als ein solches, in welchem „alle höchste und reine Güter vereiniget“ sind, wobei mit ‚Gütern‘ eben die „Vollkommenheiten“ gemeint sind (vgl. aaO., 33). 36   Zur Formulierung vom „wahre[n] Abgrund für die menschliche Vernunft“ s. Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft (11781, 21787), 685. – Vgl. insgesamt Kants Ausführungen „Von der Unmöglichkeit eines kosmologischen Beweises vom Dasein Gottes“, aaO., 677–686. 37   Anders v. Lüpke, dem gemäß die Definition Gottes als ‚des einzigen vollkommensten Wesens‘ „eine aus sich heraus evidente Wahrheit behauptet, die keiner weiteren Begründung fähig ist und die ihrerseits die folgenden Sätze begründet“ (v. Lüpke 1989, 47). Nach dieser Deutung fängt Lessing also gewissermaßen „bei Null“ an. – Demgegenüber ist für uns die 35

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im Folgenden dennoch auf einen bestimmten Denker – Thomas von Aquin (1224/25–1274) – und ein bestimmtes Werk – die Summa contra gentiles (um 1260) – verwiesen wird, so freilich nicht in der Absicht, eine Abhängigkeit der Lessingschen Prämissen und ihrer Ableitungen von genau diesem Denker und genau diesem System zu behaupten. Vielmehr haben wir es bei Thomas mit einem „Klassiker“ zu tun, der aufgrund seiner philosophie- wie theologiegeschichtlich herausragenden Stellung in der ihm nachfolgenden Tradition breit rezipiert wurde und so das metaphysische Denken (mindestens bis zur „alles zermalmenden“ Kritik Immanuel Kants38) maßgeblich beeinflusst hat.39 Obschon es also keine hinreichenden Gründe gibt, hinsichtlich des Christentums der Vernunft eine direkte Abhängigkeit des Lessingschen Denkens vom System des Aquinaten zu behaupten, so steht, wie das Folgende noch zeigen wird, sein philosophisch-theologisches Denken dennoch in der von Thomas maßgeblich (mit-)geprägten philosophisch-theologischen Tradition. Es sind demnach die unübersehbaren Analogien, die es sinnvoll erscheinen lassen, die von Lessing unvermittelt gesetzten Prämissen (und damit zugleich auch die aus ihnen gezogenen Schlussfolgerungen) von Thomas her zu vermitteln und so – wenigstens ansatzweise – zu erschließen. Unsere Bezugnahme auf Thomas ist somit „von der Sache her“ motiviert; ihn jedoch „als Lessings ‚eigentliche‘ Quelle namhaft machen zu wollen“, ist nicht unsere Absicht.40

Überlegung leitend, dass Lessing die philosophische Theologie (in einer Art von Normalform) voraussetzt, um aus ihren Grundsätzen nun auch die Trinität abzuleiten. 38   Dieses bis heute gebräuchliche Wort von Kant als dem ‚Alleszermalmer‘ hat seinen ursprünglichen Ort in den bereits zitierten Morgenstunden Moses Mendelssohns (vgl. Mendelssohn, Morgenstunden, 91). 39   In diesem Sinne würde Lessing hinsichtlich unseres Rekurses auf Thomas vielleicht dasselbe anmerken, was er in anderem Kontext genau zwei Jahrzehnte später über eine vermeintlich aristotelische Argumentation sagte: „Denn die Prämissen dieser Schlüsse sind nichts als Sätze des gesunden Menschenverstandes, und keinesweges dem Aristoteles eigentümliche Lehren“ (G. E. Lessing, Leibnitz von den ewigen Strafen [1772/73], in: B 7, 472–501. Hier: 479,33–480,3). 40   So bereits Ralph Häfner in seinen sehr gebildeten Ausführungen zu Lessings Christentum der Vernunft (vgl. Häfner 2011, 128). Allerdings akzentuiert Häfner die Nähe zwischen Lessings Vernunft-Christentum einerseits und der scholastischen Theologie Thomas von Aquins andererseits an einem bestimmten Aspekt des scholastischen Trinitätsdenkens (vgl. ebd.), während wir die Lessingschen Prämissen von Thomas her zu vermitteln suchen. – Bereits Hans W. Liepmann konstatiert „die oft auffallende Ähnlichkeit der Standpunkte“ der Lessingschen Trinitätskonstruktion mit derjenigen mittelalterlicher Werke (Liepmann 1931, 64), wobei er explizit auch die Ähnlichkeit zu Thomas von Aquin benennt (aaO., 66). Liepmann bilanziert: „Als Resultat werden wir also festzustellen haben: Es ist unmöglich, eine direkte Quelle für Lessings Trinitätskonstruktion aufzustellen. Viele Möglichkeiten der Anregung bestehen […] Daß ein Scholastiker für die Trinitätskonstruktion speziell in Frage käme, ist nicht nachzuweisen, trotz der in manchen Fällen auffallenden Ähnlichkeit der Standpunkte […]“ (aaO., 67). Demgemäß sollen auch die von uns gegebenen Hinweise auf unübersehbare Analogien zwischen der Lessingschen Trinitätskonstruktion einerseits und der

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Die vier von Thomas in der Summa contra gentiles aufgewiesenen Wege zum Erweis des Daseins Gottes gehen allesamt von der sinnlichen Erfahrung aus. Für Thomas ist dieser Ausgangspunkt deshalb sachgemäß, weil es – nach seinem Dafürhalten – dem Menschen schlechterdings unmöglich ist, auf unmittelbare Weise Einsicht in das göttliche Wesen zu erlangen: Es ist der „Schwäche unseres Verstandes“ geschuldet, dass wir Gott nicht „in ihm selbst“ (per seipsum), sondern nur „in seinen Wirkungen“ (ex effectibus eius) zu schauen vermögen. – Der einzige Weg, welchen der menschliche Verstand also zur Erkenntnis der Existenz Gottes geführt werden kann, ist derjenige des Schlussfolgerns (ratio­c inari).41 Diese Methode nun befolgt Thomas, wenn er im 13. Kapitel des ersten Buches verschiedene Gründe anführt, um zu beweisen, dass Gott ist. Für die Zwecke unserer Darstellung beschränken wir uns auf den ersten der vier von Thomas gewiesenen Wege, der – mit Aristoteles – von der Bewegung, d.h. genauer: von der sinnlich wahrnehmbaren Bewegung (z.B. der Sonne) ausgeht. Von den Prämissen, (i) dass alles, was bewegt ist, von einem anderen bewegt ist, und (ii) dass in dieser Reihe der Bewegenden und Bewegten man nicht ins Unendliche fortschreiten kann, schließt er auf die Existenz eines ‚ersten unbewegten Bewegenden‘ (primum movens immobile); dieses nennen wir „Gott“.42 – Für Thomas bildet diese Einsicht in die Notwendigkeit des Daseins Gottes den Ausgangspunkt, um – auf dem festen Grund logischen Schließens und vernünftigen Beweisens – fortschreiten zu können in der cognitio Dei. Auf diesem Erkenntnisweg sollen im Folgenden einzelne(!) Stationen herausgegriffen werden, die zur Erschließung der von Lessing lediglich gesetzten Prämissen beitragen können. Zunächst also schließt Thomas aus der (in I 13 bewiesenen) ‚Unbeweglichkeit‘ (immobilitas) oder ‚Unveränderlichkeit‘ (immutabilitas) Gottes auf dessen Ewigkeit (aeternitas): „Denn alles, was anfängt oder aufhört zu sein, erleidet dies durch Bewegung oder durch Veränderung. Es wurde aber gezeigt, daß Gott ganz und gar unveränderlich ist (I 13). Er ist also ewig, ohne Anfang und Ende.“ 43 – Da nun der ewige Gott „auf Grund seines Wesens [secundum se] nicht nicht sein kann“, so ist in ihm „im Verhältnis zum Sein [esse] keine Potenz [potentia]“. Denn es gilt: „Jedes Ding […], dessen Substanz [substantia] Potenz beigemischt ist, kann gemäß dem, was es an Potenz hat, auch nicht sein, da ja das, was sein kann, auch nicht sein kann.“ Positiv ausgedrückt, ist Gott, der „nichts von Potenz, nämlich von passiver Potenz, an sich“ hat, „reiner Akt“ (actus purus).44 – Das aber bedeutet, „daß in Gott keine Zusammensetzung [compositio] ist“. Denn: „In allem Zusammengesetzten muß […] Akt und Potenz sein. […] In Gott aber gibt es keine Potenz. Also gibt es in ihm keinerlei Zusammensetzung.“45 – Daraus folgt ferner, „daß Gott sein Wesen [essentia] ist“. Da es nämlich „in Gott keine Zusammensetzung“ und also „nichts außer seinem Wesen“ gibt, ist er selbst sein Wesen.46 – Ist aber in Gott keine Zusammensetzung, so folgt daraus weiter, dass in ihm sein Wesen „nichts anderes ist als sein Sein [esse]“. Wären nämlich Sein Thomasischen andererseits keineswegs im Sinne einer direkten Abhängigkeit des Aufklärers von dem Scholastiker verstanden werden. 41   Vgl. Thomas von Aquin, Summa contra gentiles (ca. 1260), 30–41 (I 10–12); die wörtlichen Zitate finden sich aaO., 36f. – Der Werktitel wird im Folgenden abgekürzt mit „ScG“ wiedergegeben. 42   Vgl. ScG, 42f. (I 13). 43  ScG, 60f. (I 15). 44  ScG, 64f. (I 16). 45  ScG, 68f. (I 18). 46  ScG, 90f. (I 21).

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und Wesen in ihm etwas Verschiedenes, d.h. „eines das Wesen […], ein anderes das Sein“, so wäre Gott „zusammengesetzt“. „Gott aber ist nicht zusammengesetzt […] Das Sein Gottes ist also sein Wesen“.47 Nun sind wir Thomas auf seinem Erkenntnisweg so weit gefolgt, dass wir auch die „Vollkommenheit Gottes“ (perfectio divina) einsehen können, nämlich folgenderweise: „Gott, der sein Sein ist“, hat „das Sein gemäß der ganzen Mächtigkeit des Seins selbst. Ihm kann also kein Vorzug [nobilitas] abgehen, der irgendeinem Ding zukäme“. Ebenso gilt: „Wie Gott aber ganz und gar [totaliter] das Sein hat, so bleibt das Nichtsein [non esse] ganz und gar von ihm fern […]. Von Gott bleibt also aller Mangel [defectus] fern. Er ist also in jeder Hinsicht vollkommen [universaliter perfectus].“ Und auch: „Ein jedes ist vollkommen, insofern es im Akt ist, unvollkommen aber, insofern es in Potenz ist und ihm der Akt fehlt. Das also, das auf keine Weise in Potenz, sondern reiner Akt ist, muß das Vollkommenste sein. Ein solches aber ist Gott. Er ist also der Vollkommenste [perfectissimus].“48 – Nun kann Gott als „der ganz und gar Vollkommene“ (omnino perfectus) aber nur Einer (unus) sein: Wenn es [nämlich] mehrere Götter gibt, muß es mehreres derartig Vollkommenes geben. Dies aber ist unmöglich. Denn wenn keinem von ihnen irgendwelche Vollkommenheit mangelt, noch eine Unvollkommenheit beigemischt ist […], dann gibt es nichts, worin sie sich voneinander unterscheiden. Also ist es unmöglich, mehrere Götter anzunehmen.49

Wir sind also so weit, Lessings Rede vom ‚einzigen vollkommensten Wesen‘ nachvollziehen zu können, und sehen, dass er hierin offenkundig an die Tradition anknüpft.50 Wenngleich es keinen Grund gibt, eine direkte Abhängigkeit seiner Überlegungen von denjenigen Thomas von Aquins zu behaupten, so sind gewisse Analogien, wie sich im Weiteren noch verstärkt zeigen wird, nicht zu übersehen. Lessing jedenfalls fährt fort: § 2. Das Vollkommenste ist er selbst; und also hat Gott von Ewigkeit her nur sich selbst denken können.51

Diese erste für den nachfolgenden Argumentationsgang weitreichende Bestimmung Gottes als eines „von Ewigkeit her nur sich selbst denken können[den]“ Wesens lässt sich in der Tradition bis auf einen der metaphysischen Urentwürfe, 47

  ScG, 92f. u. 97 (I 22).   ScG, 118–121 (I 28). 49   ScG, 154f. (I 42). 50   Auch Leibniz skizziert zu Beginn des Ersten Teils seiner Theodicée einen Kontingenzbeweis, also den Rückschluss von der Welt als des „Zusammenschluß[es] aller zufälligen Dinge“ auf einen ihre Existenz bedingenden Grund, d.i. eine „Substanz, die den Grund ihrer Existenz in sich selbst trägt und darum notwendig und ewig ist“. Dass es sich hierbei zugleich um das ens perfectissimum handeln muss, erklärt Leibniz damit, dass diese notwendige Substanz oder Ursache der Welt unter unendlich vielen möglichen Welten die uns erfahrbare wirkliche Welt hat erwählen müssen und zur Bewerkstelligung dieser Wahl nicht allein mit Verstand begabt, sondern „in jeder Weise unendlich sein“ muss(te): „ihre Macht, Weisheit und Güte müssen unbedingt vollkommen sein; denn sie umfaßt jede Möglichkeit“ (Leibniz, Theodicée, 95f.; Hervorh. i. O.). 51   B 2, 403,5ff. 48

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die Metaphysik des Aristoteles, zurückverfolgen.52 Da jedoch die Ausführungen zur νόησις νοήσεως νόησις53 bei Aristoteles dunkel bleiben54, stützen wir uns auch im Folgenden wieder auf einen seiner wirkmächtigsten Ausleger: Thomas von Aquin. Dass Gott ein denkendes, ‚erkennendes‘ (intelligens) Wesen ist, folgt für Thomas aus seiner (von uns bereits nachvollzogenen) Bestimmung Gottes als des ‚Vollkommensten‘. Doch der Reihe nach! – Jedes Seiende erstrebt seine Vollkommenheit (sua perfectio) als das ihm eigene Gut (proprium bonum). Da Gott vollkommen ist, kann aus dieser seiner Vollkommenheit also sein Gutsein (bonitas) erschlossen werden. Dies umso mehr, als Gott als das ‚erste unbewegte Bewegende‘ als ein solches bewegt, „das erstrebt wird“. Als ‚erstes unbewegtes Bewegendes‘ ist Gott also zugleich „das erste Erstrebte“ (primum desideratum). Nun wird, so Thomas weiter, „etwas auf zweierlei Weise [erstrebt]: entweder weil es gut ist, oder weil es gut scheint“. Durch sich selbst aber bewegt nur dasjenige, das wahrhaftig gut ist. Das gut Scheinende hingegen „bewegt nicht durch sich selbst, sondern insofern es irgendeinen Anschein des Guten hat“. „Das erste Erstrebte also, d.h. Gott“ – man ergänze: das als Erstes durch sich selbst bewegen können muss –, „ist in Wahrheit gut.“55 – Nun aber ist Gott nicht nur gut; er ist vielmehr „das Gutsein selbst“. Denn bei „allem Einfachen [simplex] ist das Sein und das, was ist, eines“. Wie nun aber bereits nachgewiesen wurde, ist in Gott keine Zusammensetzung: Er ist „ganz und gar einfach“ (omnino ­simplex). „Also ist sein Gutsein nicht etwas anderes als er selbst. Er ist also sein Gutsein.“56 – Weiter ist Gott nicht nur sein Gutsein, sondern (Thomas zitiert hier Augustinus) „das Gute alles Guten“ (omnis boni bonum). Wie nämlich bereits gesagt wurde, ist für ein jedes sein Gutsein seine Vollkommenheit. Da also Gott als der schlechthin Vollkommene „mit seiner Vollkommenheit alle Vollkommenheiten der Dinge“ umfasst, umfasst folglich auch sein Gutsein „alles Gutsein, und so ist er das Gute alles Guten“.57 – Da nun weiter „das allumfassende Gute“ (bonum universale) „jedes Teilgute“ (bonum particularis) überragt, Gott als „das Gute alles Guten“ sich aber in seinem Gutsein „zu allem anderen wie das allumfassende Gute zum Teilguten“ verhält, ist Gott „das höchste Gut“ (summum bonum).58 Als erstes unbewegtes Bewegendes also bewegt Gott durch seine Attraktivität: Er ist das erste Erstrebte. Erstrebt aber wird er nicht als irgendein Teilgutes, sondern als das allumfassende Gute, das höchste oder „schlechthin Gute“ (bonum simpliciter). Als dieses aber kann er nicht Ziel des ‚sinnlichen Strebens‘ (appetitus sensibilis) sein: „Denn das sinnliche Streben richtet sich nicht auf das schlechthin Gute, sondern auf ein bestimmtes Teil52   Präzise geht es um die dortigen Ausführungen in Buch Λ (= Buch XII), Kapitel 6–9 (vgl. Aristoteles, Metaphysik, 2. Halbbd., 248–269 u. 558–583 [Kommentar]). Auf Aristoteles verweist auch Allison 2018, 55. 53  Aristoteles, Metaphysik, 268 (Buch XII, Kap. 9). 54   Dazu Seidl: „Der Ausdruck νοήσεως νόησις besagt […], daß das göttliche Vernunftwesen als reine, vollendete Wirklichkeit zugleich Erkenntnistätigkeit und höchstes Erkenntnisobjekt ist“ (Seidl 1991, 579). D.h. in der reinen und höchsten Vernunfttätigkeit Gottes fallen „Objekt- und Selbsterkenntnis wie auch Objekt und Subjekt in eins zusammen[]“, ist die göttliche Vernunft also „mit ihrem Objekt, das sie ja selbst ist, erkenntnis- und seinsmäßig identisch“ (aaO., 581). 55  ScG, 142–145 (I 37; Hervorh. i. O.). 56  ScG, 146f. (I 38). 57  ScG, 150f. (I 40). 58  ScG, 152f. (I 41).

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gut, da auch das sinnliche Wahrnehmen [apprehensio sensus] sich nur auf einzelnes [particularis] richtet.“ Als das erste unbewegte Bewegende, als das höchste Gut also wird Gott – da nicht als ein sinnlich Erstrebbares – als „geistig Erkanntes“ (intellectum) erstrebt, und folglich muss auch das ihn Erstrebende erkennend (intelligens) sein. Da nun aber keine einzige Vollkommenheit, „die sich in irgendeiner Gattung des Seienden findet“, Gott als dem Vollkommensten fehlen kann; die „vorzüglichste“ (potissima) unter den Vollkommenheiten der Dinge jedoch gerade darin besteht, „erkenntnisfähig“ (intellectivum) zu sein, so muss auch Gott erkennend sein.59 – Thomas schreitet fort: „Daraus aber, daß Gott erkennend ist, folgt, daß sein Erkennen sein Wesen ist.“ Zur Begründung dieser These bestimmt Thomas das Erkennen zunächst als einen „Akt des Erkennenden, der in [Ortsangabe!] diesem [sc. dem Erkennenden] selbst besteht“. Nun aber ist alles, „was in Gott ist, […] das Wesen Gottes. Gottes Erkennen ist also das Wesen Gottes, das Sein Gottes, Gott selbst. Denn Gott ist sein Wesen und sein Sein.“ Da aber das Erkennen Gottes sein Sein ist, so gilt von jenem alles, was von diesem bewiesen wurde: Wie Gottes Sein so ist also auch „sein Erkennen notwendig einfach, ewig und unveränderlich und nur im Akt“. D.h. Gott ist „nicht in Potenz erkennend, und er fängt nicht an, etwas neu zu erkennen, noch ist sein Erkennen irgendwie veränderlich oder zusammengesetzt“. 60 Gott also ist seinem Wesen nach und somit von Ewigkeit her Erkennen oder „Erkenntnistätigkeit“ (operatio intellectualis). Nun ist aber der „Verstand“ (intellectus) als Erkenntnisorgan, ist die Erkenntnistätigkeit an sich nur eine Möglichkeit, die erst dadurch wirklich oder aktiviert wird, dass sie durch ein ihr adäquates Bild (species), das „geistige Erkenntnisbild“ (species intelligibilis), gleichsam affiziert wird: „Durch das geistige Erkenntnisbild wird der Verstand wirklich erkennend […] Es verhält sich also das geistige Erkenntnisbild zum Verstand wie die Wirklichkeit [actus] zur Möglichkeit [potentia].“ Die species intelligibilis ist somit gewissermaßen das Wodurch der Erkenntnistätigkeit (d.h. dasjenige, wodurch die Erkenntnistätigkeit allererst aktiviert oder der Verstand allererst tätig wird).61 Da nun aber die Erkenntnistätigkeit Gottes sein Wesen ist, muss auch die species intelligibilis als das Prinzip oder die Ursache seiner Erkenntnistätigkeit sein Wesen sein; andernfalls wäre Gott nicht das erste, was aber unmöglich ist: „Es wäre also etwas anderes Prinzip [principium] und Ursache [causa] des Wesens Gottes, wenn der Verstand Gottes mit einem anderen geistigen Erkenntnisbild als mit seinem Wesen erkennen würde. Das aber widerspricht dem oben Dargelegten“. Daraus aber folgt, dass Gott „durch nichts anderes als durch sein Wesen erkennt“, wie denn auch Thomas in I 46 zu begründen beabsichtigt. 62 – Hieraus geht ferner hervor, dass Gott „sich selbst vollkommen erkennt“. In der vollkommenen Erkenntnis Gottes sind nämlich intellectus, species intelligibilis und res intellecta (d.i. das erkannte Ding) Eines: „Das Wesen Gottes aber, das das Erkenntnisbild ist, mit dem der göttliche Verstand erkennt, ist ganz und gar dasselbe wie Gott selbst und völlig dasselbe wie sein Verstand. Also erkennt Gott sich selbst auf das vollkommenste.“ – Dass in der vollkommenen Erkenntnistätigkeit Gottes Erkennendes und Erkanntes, Subjekt und Objekt in eins fallen und also Gott sich selbst erkennt, lässt sich auch daraus erschließen, dass die Erkenntnistätigkeit in ihrer Güte oder Vollkommenheit jeweils abhängt von der Güte oder Vollkommenheit ihres Erkenntnisgegenstandes. Da nun die göttliche Er59

 ScG, 172–177 (I 44).  ScG, 178f. (I 45). 61   Zu Beginn von I 47 heißt es entsprechend, dass „der Verstand sich durch das Erkenntnisbild auf das erkannte Ding richtet“ (ScG, 182f.). 62  ScG, 180f. (I 46). 60

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kenntnistätigkeit nichts anderes ist als das göttliche Sein selbst, ist sie „die vorzüglichste“ (nobilissima); als diese aber muss sie sich auf das vollkommenste Erkennbare richten. „Das vollkommenste Erkennbare [perfectissimum intelligibile] aber ist das Wesen Gottes […] Gott erkennt also sich selbst.“63

Es ist uns bis hierher gelungen, Lessings Rede von Gott als dem ‚einzigen vollkommensten Wesen‘, das „sich von Ewigkeit her mit nichts als mit der Betrachtung des Vollkommensten [hat] beschäftigen können“ (§ 1.), sowie die weitergehende von Lessing als Prämisse gesetzte These, dass dieses Vollkommenste Gott selbst ist „und also […] Gott von Ewigkeit her nur sich selbst [hat] denken können“ (§ 2.), mit Thomas (und somit von der metaphysischen Tradition her) zu erschließen.64 Die zweite für den weiteren Argumentationsverlauf zentrale Bestimmung Gottes besteht in der Identität seines ‚Vorstellens‘ (oder ‚Denkens‘), ‚Wollens‘ und ‚Schaffens‘: § 3. Vorstellen, wollen und schaffen, ist bei Gott eines. Man kann also sagen, alles was sich Gott vorstellet, alles das schafft er auch. 65

Wer sich angesichts der hier vorausgesetzten Identität von Vorstellen (resp. Denken oder Erkennen), Wollen und Schaffen bei Gott die Frage stellt, warum Lessing ausgerechnet diese drei Fakultäten des ‚einzigen vollkommensten Wesens‘ hier – unvermittelt – ins Spiel bringt, dem wird sich auch diese Dunkelheit, wie wir sehen werden, im Lichte der traditionellen Metaphysik aufklären. Auf unserem mit Thomas von Aquin beschrittenen Erkenntnisweg münden die bereits skizzierten Darlegungen zur vollkommenen und von Ewigkeit her vollzogenen (Selbst-) Erkenntnis Gottes unmittelbar in die Überlegungen zum göttlichen Willen (voluntas Dei) ein: „Daraus nämlich, daß Gott erkennend ist, folgt, daß er wollend [volens] ist.“ Im ersten diese Schlussfolgerung begründenden Argument definiert Thomas „das erkannte Gute“ (bonum intellectum) als den „dem Willen eigene[n]“, sprich: spezifischen „Gegenstand“ (obiectum proprium voluntatis). D.h. „das erkannte Gute [muss] als solches gewollt werden“. Da es aber nur hinsichtlich des Erkennenden (intelligens) als „erkannt“ (intellectum) 63

 ScG, 182–185 (I 47).   Freilich würde Thomas Lessings absolute Formulierungen – „mit nichts als mit der Betrachtung des Vollkommensten“ (§ 1.) bzw. „nur sich selbst“ (§ 2.) – dahingehend präzisieren wollen, dass Gott (nicht überhaupt nur, sondern) „zuerst [primo] und an sich [per se] nur sich selbst [solum seipsum] erkennt“. – Zur Begründung dieses zuerst und an sich nur sei noch einmal an folgenden Zusammenhang erinnert: Der Verstand wird erst durch „das geistige Erkenntnisbild […] wirklich erkennend“, die Erkenntnistätigkeit also erst durch die species intelligibilis aktiviert. Da die species intelligibilis als das Prinzip der göttlichen Erkenntnistätigkeit nichts anderes sein kann als das göttliche Wesen selbst, der Verstand aber nur dasjenige „zuerst und an sich“ erkennt, „durch dessen Erkenntnisbild er erkennt“, ist folglich das „zuerst und an sich von ihm [sc. Gott] Erkannte […] nichts anderes als er selbst“ (ScG, 184f. [I 48; Hervorh. D.Z.]). 65   B 2, 403,8–11. 64

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bezeichnet werden kann, ist es „notwendig, daß der, der das Gute als solches erkennt, wollend ist“. In seiner vollkommenen Erkenntnis erkennt Gott aber das Gute. Also ist er wollend. 66 – Aus der vorgängigen Begründung, dass Gott wollend ist, insofern er erkennend ist, folgt ferner, dass der Wille Gottes sein Wesen ist. Ist nämlich, wie oben festgestellt werden konnte, das Erkennen Gottes sein Sein, sein Wesen, so muss auch sein Wille, der ist, insofern sein Erkennen ist, sein Sein, sein Wesen sein.67 – „Daraus aber wird ferner ersichtlich, daß das zuerst Gewollte [principale volitum] des göttlichen Willens sein Wesen ist.“ Denn gemäß obiger Definition ist ja „das erkannte Gute“ der (spezifische) Gegenstand des Willens; nun aber wurde bereits früher nachgewiesen, dass das, „was von Gott zuerst [principaliter] erkannt wird, […] das Wesen Gottes“ ist. „Das Wesen Gottes ist also das, auf das sich der Wille Gottes zuerst richtet.“ – Dies geht zudem daraus hervor, dass „das zuerst Gewollte“ für jeden Wollenden sein „letztes Ziel“ (ultimus finis) ist. Nun ist aber Gott selbst als „das höchste Gute“ das letzte Ziel und also er selbst „das zuerst Gewollte seines Willens“. 68 Gott will also sich selbst; „er will, daß er ist [vult se esse]“. 69 Bevor wir vom Erkennen und Wollen Gottes weiter auf sein Schaffen gelangen können, muss zuvor, da Schaffen in der traditionellen Terminologie ein Vermögen Gottes bezeichnet, welches sich ausschließlich auf die Welt als von ihm unterschiedene Wirklichkeit beschränkt, noch nachgetragen werden, inwiefern bzw. dass Gott, der ja „zuerst und an sich nur sich selbst“ erkennt, darin auch von ihm Verschiedenes erkennt, und folglich, indem er sich selbst will, zugleich auch das andere will. Doch der Reihe nach! – Nachdem Thomas in I 48 dargelegt hat, dass Gott „zuerst und an sich nur sich selbst“ erkennt70, sieht er darin die weitergehende ‚zwingende Behauptung‘ impliziert, dass Gott auch „das, was von ihm verschieden ist [alia a se], in sich selbst [in seipso] erkennt“. Es wird nämlich eine Wirkung durch die Erkenntnis ihrer Ursache ‚zureichend erkannt‘. „Gott selbst aber ist durch sein Wesen für die anderen Dinge Ursache des Seins [causa essendi aliis]. Da er nun sein Wesen [als die Seinsursache der anderen Dinge] in höchster Fülle erkennt, muß man also behaupten, daß er auch die anderen Dinge [als die Wirkungen seines Wesens] erkennt.“ Das Verhältnis von göttlicher Selbsterkenntnis und Erkenntnis des von ihm Verschiedenen kann also präzise so begriffen werden, „daß Gott sich selbst als zuerst und an sich bekannt erkennt, die anderen Dinge dagegen als in seinem Wesen geschaute“.71 – Das aber bedeutet, dass Gott „dadurch, dass er sich will, auch das andere will“. Denn: „Der Wille folgt aus dem Verstand. Gott aber erkennt mit seinem Verstand zuerst sich und in sich das andere. Ebenso will er also zuerst sich und dadurch, daß er sich will, alles andere.“72 66

 ScG, 276–279 (I 72).  ScG, 282f. (I 73). 68  ScG, 284f. (I 74). 69  ScG, 286f. (I 75). 70   S.o. Anm. 64. 71  ScG, 188f. (I 49). – Indem Gott in seinem Wesen auch das von ihm Verschiedene oder „die anderen Dinge“ schaut, erkennt er das einzelne (singularia, d.h. er erkennt „die Dinge, die von ihm verschieden sind, nicht nur im allgemeinen [in universali], sondern auch im einzelnen [in singulari]“; ScG, 236f. [I 65]), das Nichtseiende (und zwar sowohl das noch nicht Seiende [ea quae nondum sunt] als auch das überhaupt nicht und niemals Seiende [ea quae non sunt]; I 66), das Kontingente (d.i. „das zukünftige einzelne, das sein und nicht sein kann“ – wobei dieses auch dadurch nicht aufhört, Kontingentes zu sein, dass Gott von Ewigkeit her ein unfehlbares Wissen von ihm besitzt; ScG, 249 [I 67]), das Wertlose (vilia, I 70) und das Schlechte (mala, I 71). 72  ScG, 287–289 (I 75). – Es ist demnach nur ein einziger Willensakt (actus voluntatis), in 67

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Es will aber Gott sich selbst (bzw. sein Sein und sein Gutsein) in anderer Weise als das von ihm Verschiedene. So ist er selbst als ‚das höchste Gute‘ zugleich sein ‚letztes Ziel‘: Gott „will als letztes Ziel, daß er ist […] Also will er notwendig, daß er ist, und kann nicht wollen, daß er nicht ist“. D.h. sein Sein und sein Gutsein will Gott notwendig (de neces­ sitate).73 – Ganz anders verhält es sich mit ‚den anderen Dingen‘. Denn auf von ihm Verschiedenes richtet sich Gott „als auf etwas, das hingeordnet ist auf das Ziel seines Gutseins. Der Wille aber richtet sich nicht notwendig auf das, was auf ein Ziel hinführt, wenn das Ziel ohne dieses sein kann.“ Bezogen auf das Verhältnis Gottes zur Welt (als dem von ihm Verschiedenen oder ‚anderen‘) bedeutet dies: „Da nun das Gutsein Gottes ohne das andere [sc. die geschaffene Welt] sein kann, ja ihm sogar dadurch überhaupt kein Zuwachs entsteht, wohnt ihm deswegen, weil er sein Gutsein will, keine Notwendigkeit inne, das andere zu wollen.“ Kurz: „Gott will das, was von ihm verschieden ist, nicht mit Notwendigkeit.“74 Wir sind systematisch nun an dem Punkt angelangt, wo uns der Zusammenhang des göttlichen Erkennens (bzw. Vorstellens), Wollens und Schaffens bei Thomas ins helle Licht rückt. Neben Gott gibt es nichts, „das nicht von ihm ist“ (nihil praeter ipsum est nisi ab ipso). Denn: Alles, was sein und nicht sein kann, hat eine Ursache. Es verhält sich nämlich, in sich betrachtet, zu beidem. Daher muß es ein anderes geben, das es auf eines hin festlegt. Deshalb muß es, da man nicht ins unendliche weitergehen kann, ein notwendig Seiendes geben, das die Ursache alles dessen ist, was sein und nicht sein kann. Es gibt aber notwendig Seiendes, das eine Ursache seiner Notwendigkeit hat; und auch hierin kann man nicht ins unendliche weitergehen. Daher muß man zu etwas gelangen, das durch sich seinsnotwendig ist [aliquid quod est per se necesse esse]. Dies aber kann nur eines sein, wie im ersten Buch dargelegt wurde: Gott. Es muß also alles von ihm Verschiedene auf ihn als auf die Ursache des Seins zurückgeführt werden.75 Dies gilt auch hinsichtlich der Annahme einer ‚ersten Materie‘ (materia prima), welche gleichsam den Stoff für alles Geschaffene bildet. Auch sie ist eine Wirkung Gottes und kann also nicht gleichursächlich sein wie er. Schöpfung ist folglich creatio ex nihilo: „Erschaffen ist nämlich nichts anderes als etwas ohne eine schon vorliegende Materie ins Sein zu bringen.“76 – Schöpfung ist also exklusiv das Werk Gottes77 als des Allmächtigen. Dabei definiert Thomas die göttliche Allmacht so, dass sich die Wirkkraft Gottes als die ‚wesentliche Ursache des Seins‘ auf all das erstreckt, welchem Gott sowohl sich selbst als auch das andere will: „In jedem Akt also, in dem Gott sich will, will er auf unbedingte Weise sich und um seinetwillen das andere [vult se absolute et alia propter se]. Das von ihm Verschiedene aber will er nur insofern, als er sich will“ (ScG, 288–291 [I 76]). 73  ScG, 300f. (I 80). 74  ScG, 303 (I 81). 75  ScG, 30–35 (II 15). 76   Vgl. ScG, 34–43 (II 16). – Dabei widerspricht der Gedanke einer creatio ex nihilo für Thomas keineswegs in prinzipieller Weise dem Grundsatz, „daß aus nichts nichts wird“ (ex nihilo nihil fit). Dieser behält vielmehr seine Geltung, jedoch nur im Bereich der „begrenzten Wirkursachen“ (particulares agentes). Hinsichtlich „der allumfassenden Wirkursache [universalis agens] aber, die das gesamte Sein wirkt und die nichts in ihrem Wirken vorauszusetzen braucht“, gelten andere Gesetze (ScG, 40–43). 77   Vgl. ScG, 52–59 (II 21).

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was dem Sinn von ‚seiend‘ [ratio entis] nicht entgegensteht […] Dem Sinn von ‚seiend‘ steht aber der Gegensatz von ‚seiend‘, nämlich ‚nichtseiend‘ [non ens], entgegen. Gott vermag also alles, was in sich nicht den Sinn von ‚nichtseiend‘ enthält. Das aber ist der Fall bei dem, was Widerspruch [contradictio] in sich schließt. Allmacht bedeutet demnach für Thomas, „daß Gott alles vermag, was keinen Widerspruch in sich schließt“.78 An dieser Stelle nun kommt für Thomas das göttliche Wollen ins Spiel: „Auf Grund dessen aber läßt sich darlegen, daß im Bereich der Geschöpfe Gott nicht naturnotwendig [per necessitatem naturae], sondern durch Willensentscheidung [per arbitrium voluntatis] wirkt.“ Zur Begründung dieses Gedankens verweist Thomas zunächst auf die zuvor gegebene Definition göttlicher Allmacht: „Was keinen Widerspruch enthält, liegt im Bereich der Macht Gottes“, und fährt sodann mit folgenden Worten fort: Es existiert aber in den geschaffenen Dingen vieles nicht, was, wenn es existierte, keinen Widerspruch in sich enthielte […] Es liegt also vieles im Bereich der Kraft Gottes, was sich nicht in der Wirklichkeit findet. Jeder aber, der von dem, was er machen kann, einiges macht und einiges nicht macht, wirkt durch die Wahl des Willens, und nicht naturnotwendig. Gott wirkt also nicht naturnotwendig, sondern durch den Willen.79 Wer Thomas auf seinem Erkenntnisweg bis hierher gefolgt ist, weiß, dass der Wille Gottes keine ungegründete Größe ist: „Der Wille wird nämlich zum Wirken aus einer Erkenntnis heraus bewegt. Gegenstand des Willens ist nämlich das erkannte Gute.“ Daraus nun folgert Thomas, dass Gott alles nach seiner Weisheit (sapientia) wirkt: „Da nun in Gott nur geistige Erkenntnis ist und er nur erkennt, indem er sich selbst erkennt – und ihn erkennen ist weise sein –, ergibt sich, daß Gott alles nach seiner Weisheit wirkt.“ Dadurch aber sieht Thomas zugleich den „Irrtum derer aufgehoben, die behaupten, alles hinge allein vom Willen Gottes ab, ohne Grund in der Vernunft [ratio]“.80 Gott wirkt also „nicht naturnotwendig […], sondern durch Verstand und Willen“. Dabei ist noch einmal zu betonen, dass – mit Blick auf die (tatsächlich) geschaffene Welt – der Umfang dessen, was im Verstand Gottes (an möglichen, das heißt logisch nicht widersprüchlichen ‚anderen Dingen‘) ist, den Umfang dessen, worauf sich sein Wille richtet, übersteigt, liegt doch „vieles im Bereich der Kraft [und also auch des Wissens; D.Z.] Got-

78  ScG, 60f. (II 22). – In diesem Sinne kann Gott „also nicht bewirken, daß ein und dasselbe zugleich sei und nicht sei. Das würde nämlich bedeuten, daß kontradiktorisch Entgegengesetztes zugleich wäre“. Kurzum: Gott kann nicht bewirken, „daß Entgegengesetztes zugleich in ein und demselben in derselben Hinsicht ist“ (ScG, 74f. [II 25]). 79  ScG, 64f. (II 23). – Ganz ähnlich (und die Tradition gewissermaßen zusammenfassend) heißt es bei Leibniz: Als die erste Ursache aller Dinge muss Gott „mit Verstand begabt sein: denn die existierende Welt ist zufällig, und unendlich viele andere Welten sind ebenso möglich und streben sozusagen ebenso wie sie nach der Existenz. Daher muß die Ursache der Welt [= Gott] auf alle Welten Rücksicht oder Bezug genommen haben, will sie eine von ihnen zur Existenz bestimmen. Diese Rücksicht oder Beziehung einer existierenden Substanz auf bare Möglichkeiten kann nichts anderes als der sie vorstellende Verstand, und das Herausgreifen einer derselben nichts anderes als der sie erwählende Willensakt sein. Die Macht dieser Substanz gibt dem Willen Wirksamkeit. Die Macht geht auf das Sein, die Weisheit oder der Verstand auf das Wahre, der Wille auf das Gute“ (Leibniz, Theodicée, 96; Hervorh. i. O.). 80  ScG, 68–71 (II 24).

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tes, was sich nicht in der Wirklichkeit findet“. 81 Dass dies so sein muss, sieht Thomas wiederum im Wesen Gottes begründet, dem gemäß Gott – und nur Gott! – unendlich (infinitum) ist. Nun kann man aber dem Unendlichen – mag auch noch so viel Endliches zusammengefügt werden – nicht so nahe kommen, daß nicht doch das Unendliche über das Endliche, und sei es noch so viel, hinausginge, selbst wenn dieses der Zahl nach unendlich wäre. […] Wie viele und wie große Wirkungen Gottes also auch zusammengenommen werden, immer liegt es im Wesen Gottes, daß es sie überragt und daher Grund für noch mehr sein kann. Also übersteigt der Verstand Gottes, der das Wesen Gottes vollkommen erkennt, wie oben dargelegt wurde, alle Endlichkeit der Wirkungen.82

Lessing fährt fort: § 4. Gott kann sich nur auf zweierlei Art denken; entweder er denkt alle seine Vollkommenheiten auf einmal, und sich als den Inbegriff derselben; oder er denkt seine Vollkommenheiten zerteilt, eine von der andern abgesondert, und jede von sich selbst[83] nach Graden abgeteilt.84

Mit Blick auf die Struktur des Fragments nimmt Paragraph vier eine Schlüsselstellung ein: Unter Voraussetzung der Identität von Vorstellen, Wollen und Schaffen bei Gott versucht Lessing im weiteren Fortgang seiner Argumentation, aus den beiden hier genannten Gott möglichen Arten, sich zu denken, sowohl die innergöttliche (oder immanente) Trinität (§§ 5.–12.) als auch die Erschaffung der Welt, die Kosmogonie (§§ 13.–21.), abzuleiten.85 Trinität und Welt 81  S. obiges Zitat bei Anm. 79. – In diesen Zusammenhang gehört auch die folgende Frage samt ihrer Beantwortung, wie sie von Thomas in I 81 aufgeworfen bzw. gegeben wird: „Es ist also zu bedenken, warum Gott das von ihm Verschiedene notwendig weiß, nicht aber notwendig will, während er doch dadurch, daß er sich erkennt und will, das andere erkennt und will. Der Grund dafür ist aber folgender: Daß nämlich der Erkennende etwas erkennt, folgt aus einer bestimmten Seinsweise des Erkennenden, wie deswegen etwas aktuell erkannt wird, weil sein Bild im Erkennenden ist. Daß aber der Wollende etwas will, folgt aus einer bestimmten Seinsweise des Gewollten. Wir wollen nämlich etwas, weil es Ziel ist oder weil es auf ein Ziel hingeordnet ist. Daß aber alles in Gott sei, so daß es in ihm erkannt werden kann, das erfordert die Vollkommenheit Gottes notwendig. Das Gutsein Gottes aber erfordert nicht notwendig, daß das andere sei, was auf dieses [Gutsein] als Ziel hingeordnet ist. Deshalb ist notwendig, daß Gott das andere weiß, nicht aber, daß er es will. Deshalb will er auch nicht alles, was auf sein Gutsein hingeordnet sein könnte. Er weiß aber alles, was irgendwie auf sein Wesen, durch das er erkennt, hingeordnet ist“ (ScG, 305 [I 81]). 82   ScG 78–81 (II 26). 83   Im Stellenkommentar heißt es dazu: „von sich selbst] Unklar; man erwartet: von der benachbarten“ (Stenzel 1998, 1009). 84   B 2, 403,12–17. 85   Entsprechend knüpfen beide, sowohl § 5. als auch die §§ 13./14., unmittelbar an § 4. an. So beginnt der mit der Trinitätslehre befasste Abschnitt damit, dass „Gott […] sich von Ewigkeit her in aller seiner Vollkommenheit“ dachte (B 2, 403,19f.), während die Kosmogonie damit einsetzt, dass „Gott […] seine Vollkommenheiten zerteilt“ dachte, „das ist, er schaffte [sic!] Wesen, wovon jedes etwas von seinen Vollkommenheiten hat; denn, um es nochmals

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sind hiernach beide auf die selbstreflexiven Fähigkeiten Gottes zurückzuführen, die (aufgrund der Identität von Vorstellen, Wollen und Schaffen) zugleich etwas Äußeres konstituieren. – Freilich: Einer solcherart begründeten kosmogonischen Spekulation würden beide – ein Thomas ebenso wie auch ein Leibniz – in aller Schärfe und Grundsätzlichkeit widersprochen haben.86 Anders steht es indes mit Lessings (seinerzeit noch) unerhörtem Versuch, die christliche Trinitätslehre rational, nämlich im Rahmen einer philosophisch-spekulativen Argumentation zu begründen.

2.2 Inwiefern in Gott drei Eines sind Zu Beginn unserer Analyse von Lessings Deduktion der christlichen Trinitätslehre wollen wir diesen im engeren Sinne theologischen Abschnitt (§§ 5.–12.) noch einmal untergliedern in (a.) eine Folge zur Begründung der Existenz des ‚Sohnes Gott‘ (§§ 5.–8.) sowie (b.) eine Folge zur Begründung der Existenz des ‚Geistes, welcher vom Vater und Sohn ausgehet‘ (§§ 9.–12.). Zunächst also die Paragraphen fünf bis acht: § 5. Gott dachte sich von Ewigkeit her in aller seiner Vollkommenheit; das ist, Gott schuf sich von Ewigkeit her ein Wesen, welchem keine Vollkommenheit mangelte, die er selbst besaß. § 6. Dieses Wesen nennt die Schrift den Sohn Gottes, oder welches noch besser sein würde, den Sohn Gott. Einen Gott, weil ihm keine von den Eigenschaften fehlt, die Gott zukommen. Einen Sohn, weil unserm Begriffe nach dasjenige, was sich etwas vorstellt, vor der Vorstellung eine gewisse Priorität zu haben scheint. § 7. Dieses Wesen ist Gott selbst und von Gott nicht zu unterscheiden, weil man es denkt, so bald man Gott denkt, und es ohne Gott nicht denken kann; das ist, weil man Gott zu wiederholen, jeder Gedanke ist bei Gott eine Schöpfung. / Alle diese Wesen zusammen, heißen die Welt“ (B 2, 405,2–7). 86   Die von Lessing hier (in Bezug auf die Welt) vorausgesetzte Identität von Vorstellen und Schaffen bei Gott scheitert für Thomas schon allein an der Einsicht in die notwendige Begrenztheit alles von Gott Unterschiedenen: Als Weltenschöpfer wählt Gott aus der Summe seiner Vorstellungen gemäß seinem Willen. Daraus nun folgt: „Dadurch aber [dass Gott nicht naturnotwendig, sondern durch seinen Willen und nach seiner Weisheit wirkt] erledigt sich die These gewisser Philosophen [sc. z.B. des islamischen Philosophen und Universalgelehrten Avicenna; ca. 980–1037]: daraus, daß Gott sich selbst erkennt, fließe aus ihm mit Notwendigkeit eine so und so beschaffene Ordnung der Dinge; als ob er nicht durch seine Entscheidung das Einzelne begrenze und das Ganze ordne, wie es doch der katholische Glaube bekennt“ (ScG, 81 [II 26]). – Dass sich Lessing, indem er die Erschaffung der Welt als metaphysische Notwendigkeit qualifiziert, sowohl gegen die orthodoxe Theologie als auch gegen die Leibnizsche Metaphysik positioniert, akzentuieren auch Nisbet (vgl. Nisbet 1999, 69f.) und Allison (vgl. Allison 2018, 55f.).

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ohne Gott nicht denken kann, oder weil das kein Gott sein würde, dem man die Vorstellung seiner selbst nehmen wollte. § 8. Man kann dieses Wesen ein Bild Gottes nennen, aber ein identisches Bild. 87

Bedenken wir die von Lessing in Paragraph drei vorausgesetzte Identität von Vorstellen, Wollen und Schaffen bei Gott – nun nicht im Blick auf die Welt, sondern – bezogen auf das göttliche Selbstverhältnis! Da Gott seinem Wesen nach erkennend ist, aufgrund seiner Absolutheit aber zuerst und an sich nur sich selbst erkennt, erkennt sich Gott von Ewigkeit her in all seiner Vollkommenheit. D.h. Gott erkennt sich als das summum bonum. Da ferner das ‚erkannte Gute‘ den spezifischen Gegenstand alles Wollens bildet, Gott aber sich selbst als das höchste Gut erkennt, ist er zugleich – nämlich wesentlich und von Ewigkeit her – das letzte (und somit auch das erste, eigentliche) Ziel seines Wollens. Wie Gott sich selbst also in seinem ganzen Umfange von Ewigkeit her vorstellt, denkt und begreift, ebenso will er auch von Ewigkeit her sich selbst in seinem ganzen Umfange. Im Blick auf sein Selbstverhältnis sind Vorstellen und Wollen also Eines bei Gott oder, mit Thomas gesprochen: Indem Gott sich selbst als das höchste Gut erkennt, will er „notwendig, daß er ist“, und kann also gar „nicht wollen, daß er nicht ist“.88 – Da Gott ferner nach seinem Verstand und Willen wirkt, hinsichtlich seines Selbstverhältnisses aber der Gegenstand seines Erkennens mit dem seines Wollens identisch ist – Gott erkennt sich als das summum bonum und als eben dieses will er sich auch –, ist das von ihm Vorgestellte und als solches Gewollte zugleich auch das Ziel seiner Wirksamkeit, mithin Vorstellen, Wollen und Schaffen Eines bei Gott. In produktiver Aufnahme der traditionellen Metaphysik kann also durchaus formuliert werden, dass Gott, indem er „sich von Ewigkeit her in aller seiner Vollkommenheit [dachte]“, sich damit zugleich auch „ein Wesen [schuf], welchem keine Vollkommenheit mangelte, die er selbst besaß“ (§ 5.).89 87

  B 2, 403,18–404,9 (Hervorh. i. O.).  ScG, 301 (I 80). 89   In seinen Ausführungen zur Trinitätslehre weist bereits Thomas im vierten Buch der Summa contra gentiles in eben diese Richtung (vgl. insbes. ScG, 82–103 [IV 11]). „Zeugung im Bereich des Göttlichen“ meint demnach „die Bildung des intelligiblen Wortes“, d.h. „das Vermögen zu zeugen [muß] dem Vermögen des Selbsterkennens gleichkommen“ (ScG, 107 [IV 13]). – Hinsichtlich des zeitgenössischen Kontextes wäre insbesondere auf Siegmund J­ acob Baumgartens (1706–1757) Theologische Lehrsätze von den Grundwahrheiten der christlichen Lehre (1747) zu verweisen. – Im eingangs zitierten Brief an Th. A. Müller bekundet auch Ch. N. Naumann sein Interesse für die Erklärungen des Halleschen Theologen: „Wenn Sie mir die Liebe thun, und des Herrn D. Baumgartens wahrscheinliche Erklärung des Syst. de Trinitate aus Dero Heften geneigt mittheilen wollen. Ich bitte ergebenst, sich diese kleine Mühe nicht dauern zu laßen“; zit. n. v. d. Goltz 1857, 72. – Freilich versichert Baumgarten dort, die Trinitätslehre „aus den natürlich bekanten Warheiten“ bloß „einiger massen bestätigen“ und also keineswegs beweisen zu können (der „Beweis“ sei vielmehr „blos aus der nähern 88

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Mit dem Sohn Gott, wie jenes zweite, von Ewigkeit her ‚erschaffene‘ „Wesen“ nach Lessing näher zu bezeichnen wäre (§ 6.), ist also eine Mehrheit in Gott gesetzt. Dabei gelingt es Lessing – im Unterschied etwa zum wesentlich defensiveren Versuch eines Leibniz, das mysterium trinitatis durch analoge Verhältnisse lediglich illustrativ aufzuhellen90 –, nach Maßgabe der Tradition eine echte, gleichsam personale Differenz in Gott zu setzen: indem aufgrund der Identität von Vorstellen, Wollen und Schaffen bei Gott (§ 3.) mit der göttlichen Selbsterkenntnis zugleich ein Anderes außer Gott, kurz: der „Sohn Gott“ konstituiert wird (§ 5.). Denn als ein Geschaffenes ist der „Sohn Gott“ in seinem Verhältnis zum denkenden Gott keineswegs ein bloß Gedachtes91; vielmehr ist auch er, dem alle Eigenschaften und Vollkommenheiten des denkenden Gottes zukommen (§§ 5. und 6.), selbst wieder das Den­kende.92 Gleichzeitig vermeidet Offenbarung GOttes in der Schrift zu füren“); gegenüber Lessings ungeheurem Anspruch einer ‚metaphysischen Demonstrierbarkeit‘ des mysterium trinitatis heißt es entsprechend bescheiden: „Alles, was man zur Erleuterung dieser Lehre aus der Vernunft beibringen kan, bestehet darin, daß man erweise, theils daß in derselben nichts ungereimtes oder widersprechendes vorkomme, theils daß einige Gründe angegeben werden können, die sie sehr warscheinlich machen.“ Nun skizziert Baumgarten unter den „Gründe[n], die diese Lehre sehr warscheinlich machen“, an dritter Stelle einen Argumentationsgang, der (ganz in dem von uns rekonstruierten Sinne) „aus der volkommensten Vorstellung und Neigung GOttes von und zu sich selbst“ schließet: „Denn weil die völlige Neigung oder Bestimmung des götlichen Willens die vorgestelten Gegenstände wirklich macht, oder ihnen ihr Daseyn verschaft; GOtt aber notwendig eine Vorstellung von sich selbst hat, auch gegen sich selbst notwendig ganz geneigt ist: so folget daraus, daß diese Vorstellung und Neigung GOttes vor sich selbst zu bestehen scheinet, weil sie sonst ohne die Wirklichkeit beider Gegenstände, nicht die allervolkommenste seyn würde“ (D. Siegm. Jac. Baumgartens theologische Lehrsätze von den Grundwahrheiten der christlichen Lehre […] [1747], 80–82). Auch Nisbet weist darauf hin, dass der von Baumgarten hier aufgegriffene Grundgedanke bis in die Scholastik zurückreicht (vgl. Nisbet 1999, 68f.). 90   Vgl. G. E. Lessing, Des Andreas Wissowatius Einwürfe wider die Dreieinigkeit (1773), in: B 7, 548–581. Hier: 565,32–35. – M.E. leistet Leibniz mit der dort gemachten Unterscheidung von intelligens (Erkennendes), intellectum (Erkanntes) und intellectio (Erkenntnis) in Gott als Geist (mens) nicht mehr als eine Unterscheidung in drei Momente. Die Tripersonalität Gottes jedenfalls ist damit noch keineswegs begründet. 91   Dass wir es im „Sohn Gott“ keineswegs mit einem nur gedachten Moment, sondern vielmehr mit einem selbständigen „Wesen“ zu tun haben, wird durch den Begriff des ‚Schaffens‘ noch einmal unterstrichen. In diesem Sinne wäre es wohl unangemessen, Lessings nicht-traditionelle Verwendung sowohl des „Wesens“- als auch des ‚Schaffens‘-Begriffs im Sinne einer terminologischen Heterodoxie oder gar Anti-orthodoxie zu deuten. – Dass der Sohn gerade nicht „geschaffen“ ist, wird beispielsweise im Nicaeno-Constantinopolitanum durch die Wendung des genitum non factum betont (vgl. BSELK, 49,12f.). – Freilich hat Lessing andererseits keinerlei Skrupel, die traditionellen Begrifflichkeiten (bis hin zum biblischen Sprachgebrauch) zu präzisieren. Sein Anspruch, von den innertrinitarischen Verhältnissen (als dem göttlichen Geheimnis schlechthin) „noch besser“ als „die Schrift“ reden zu können (§ 6.), erscheint von orthodoxer Warte aus nachgerade als blasphemisch! 92   Lessing betont hier mit der Tradition die aequalitas und Konsubstantialität von Vater und Sohn bzw. Gott und „Sohn Gott“. ­– Da infolgedessen die Differenz zwischen Gott und „Sohn Gott“ keinesfalls ontologisch zu bestimmen ist, muss sie relational gefasst werden. In

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Lessing, dass dieser Gedanke von der notwendigen ‚Erschaffung‘ des „Sohnes Gott“ in einen Bitheismus und (von hier aus) in einen unendlichen Regress von Söhnen, Enkeln und Urenkeln (etc.) Gottes führt.93 Dies gelingt ihm durch Anwendung des Leibnizschen Identitätsprinzips.94 So wird zwar einerseits – qua göttlicher Selbsterkenntnis – mit dem „Sohn Gott“ von Ewigkeit her ein Anderes, Selbständiges außer Gott gesetzt (§§ 5. und 6.); andererseits aber sind Gott und „Sohn Gott“ in ihrer ‚Ununterscheidbarkeit‘ (§ 7.) – qua Identitätsprinzip – miteinander ‚identisch‘ (§ 8.).95 Kurzum: Es wird mit dem „Sohn Gott“ ein Unterschied gesetzt, der qua Identitätsprinzip sofort wieder zurückgenommen, diesem Sinne betont § 7., dass weder Gott noch der „Sohn Gott“ für sich allein oder isoliert betrachtet bzw. gedacht werden können (d.h. ihr Verhältnis ist wesentlich und als solches notwendigerweise auch ewig). So hat Gott – unter den genannten Prämissen (vgl. §§ 1.–4.) – sich den „Sohn Gott“ notwendigerweise „von Ewigkeit her“ ‚erschaffen‘ müssen und kann folglich nur in Verbindung mit ihm existieren, während der „Sohn Gott“ (als die Vorstellung Gottes von sich selbst) nur sein kann, insofern der ist, der diese Vorstellung von sich selbst besitzt, nämlich Gott. In den schlichten Worten des siebenten Paragraphen: der „Sohn Gott“ ist „von Gott nicht zu unterscheiden, weil man [ihn] denkt, so bald man Gott denkt, und [ihn] ohne Gott nicht denken kann“. Es wird hier also noch einmal die Gerichtetheit des Verhältnisses von Gott und „Sohn Gott“ unterstrichen, wie sie sich bereits in der Formulierung von der ‚gewissen Priorität‘ Gottes vor dem „Sohn Gott“ in § 6. ausdrückt: Es kann der „Sohn Gott“ nur von Gott her gedacht werden; und erst der Gottesgedanke führt auf den Gedanken vom „Sohn Gott“, doch tut er dies notwendigerweise, d.h. „so bald man Gott denkt“, denkt man auch den „Sohn Gott“ (§ 7.). Das ‚Vorgestellte‘ (= ‚Erschaffene‘) setzt den ‚Vorstellenden‘ (= ‚Erschaffenden‘) logisch ebenso voraus, wie in den traditionell geprägten Formeln (beispielsweise des Athanasianums) der Sohn als der ‚Geborne‘ (bzw. ‚Gezeugte‘) – ungeachtet seiner eigenen Ewigkeit – den Vater als seinen ‚Erzeuger‘ voraussetzt. – Dass der Unterschied zwischen Gott Vater und Sohn lediglich ein relationaler ist, betont auch Thomas (ScG, 107 [IV 13]). 93   Den Einwand eines unendlichen Regresses formuliert ein zeitgenössischer Rezensent in seiner Besprechung von Lessings Theologischem Nachlaß (1784) aus dem Jahre 1785. Dort heißt es: „und wer weiss, ob […] die Vernunft […] nicht sagen wird, wenn der Sohn Gott alles hat, was Gott hat, so denkt er sich auch von Ewigkeit her in aller seiner Vollkommenheit: so hat der Sohn Gott wieder einen Sohn, den wir vielleicht Enkel Gott nennen können u. s. w. – das Geheimniss bleibt – und die Vernunft will ja keine Geheimnisse“ (in: Allgemeine Literatur-Zeitung vom Jahre 1785 [Nr. 147: Sonnabends, den 25ten Junius 1785], 294). – Zu eben diesem Einwand und seiner Zurückweisung vgl. auch ScG, 105–107 (IV 13). 94   Gemeint ist das Principium identitatis indiscernibilium (= Prinzip der Identität des Ununterscheidbaren), dem gemäß ein Gegenstand x mit einem Gegenstand y genau dann identisch ist, wenn x exakt dieselben Eigenschaften wie y aufweist. 95   Freilich macht Lessing das Identitätsprinzip an dieser entscheidenden Stelle nicht explizit geltend. Gleichwohl muss (über die sachliche Gebotenheit seiner Anwendung hinaus) zur Bekräftigung unserer Interpretation darauf hingewiesen werden, dass Lessing in den Formulierungen „nicht zu unterscheiden“ (§ 7.) und „identisches Bild“ (§ 8.) nicht nur die beiden Zentralbegriffe des Identitätsprinzips (also ‚Ununterscheidbarkeit‘ und ‚Identität‘) aufgreift, sondern – aufgrund der (insgesamt) deduktiven Anlage des Fragments durch die unmittelbare Aufeinanderfolge der §§ 7. und 8. – aus der ‚Ununterscheidbarkeit‘ von Gott und „Sohn Gott“ (§ 7.) ihre ‚Identität‘ (§ 8.) gewissermaßen folgert und so das Identitätsprinzip wenigstens implizit artikuliert.

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Erster Teil: Wanderjahre

oder besser: aufgehoben wird. Immanente Trinität wäre mit Lessing demnach präzise als ein ewig-unaufhörlicher, dynamischer Prozess des stetigen Setzens und Aufhebens zu begreifen. Bislang konnte Gott also mindestens in seiner Binität erwiesen werden. Gelingt Lessing darüber hinaus auch die Begründung eines Dritten in Gott, mit einem Wort: ein Beweis seiner Trinität? § 9. Je mehr zwei Dinge mit einander gemein haben, desto größer ist die Harmonie zwischen ihnen. Die größte Harmonie muß also zwischen zwei Dingen sein, welche alles mit einander gemein haben, das ist, zwischen zwei Dingen, welche zusammen nur eines sind. § 10. Zwei solche Dinge sind Gott und der Sohn Gott, oder das identische Bild Gottes; und die Harmonie, welche zwischen ihnen ist, nennt die Schrift den Geist, welcher vom Vater und Sohn ausgehet. § 11. In dieser Harmonie ist alles, was in dem Vater ist, und also auch alles, was in dem Sohne ist; diese Harmonie ist also Gott. § 12. Diese Harmonie ist aber so Gott, daß sie nicht Gott sein würde, wenn der Vater nicht Gott und der Sohn nicht Gott wären, und daß beide nicht Gott sein könnten, wenn diese Harmonie nicht wäre, das ist: alle drei sind eines.96

Während es Lessing durchaus gelingt, die Rede vom „Sohn Gott“ als einem zwar anderen, gleichwohl von Gott nicht zu unterscheidenden und also mit ihm identischen „Wesen“ denkerisch zu plausibilisieren, erscheint sein Versuch, auch die dritte Person der göttlichen Dreifaltigkeit aus der Vernunft zu erweisen, nicht in gleichem Maße überzeugend. Zwar ist auch hier wieder sein aufrichtiges Bemühen um eine inhaltlich orthodoxe Rekonstruktion der Lehre evident – betont werden sowohl die Konsubstantialität des Geistes (bzw. der „Harmonie“) mit Gott und dem „Sohn Gott“ (§ 11.) als auch sein Ausgehen vom Vater und dem Sohn97 (§ 10.) sowie die damit gegebene Relationalität ihrer Beziehungen (§§ 10. und 12.) –; auch soll (wie der „Sohn Gott“ so) die „Harmonie“ als eigene Person, als ein eigenständiges „Wesen“ gedacht werden können (§§ 10. und 11.) – eine Eigenständigkeit, die dann freilich wieder in das eins zurückgenommen würde (§ 12.). Und doch stellt sich angesichts der §§ 9.–12. die unabweisbare Frage, ob mit der Einführung des „Harmonie“-Begriffs überhaupt ein substanzieller Fortschritt innerhalb der Argumentation erreicht wird: sprich über den oben (§§ 5.–8.) bereits entfalteten Gedanken von der Ununterscheid-

96

  B 2, 404,9–29 (Hervorh. i. O.).  Stichwort Filioque (vgl. Oberdorfer 2000).

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III. Versuch einer rationalen Apologetik

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barkeit Gottes und des ‚Sohnes Gott‘ hinaus. Jedenfalls ist weder einzusehen, inwiefern mit der „Harmonie“ ein Drittes neben Gott und „Sohn Gott“ gesetzt sein soll, noch erschließt sich die Frage, warum (unter Voraussetzung der Identität von Vorstellen, Wollen und Schaffen bei Gott) die so bestimmte „Harmonie“ noch einmal als ein eigenständiges, drittes „Wesen“ außer Gott und „Sohn Gott“ gedacht werden soll.98

3. Fazit Im Zuge seiner Auseinandersetzung mit der zeitgenössischen Apologetik wagt Lessing den kühnen Versuch, auf Grundlage allgemein anerkannter metaphysischer Voraussetzungen das mysterium trinitatis im Rahmen einer philosophisch-spekulativen Argumentation zu reformulieren. Fragt man nach dem Erfolg solchen Unterfangens, so fällt die Antwort gemäß obiger Analyse ambivalent aus. Demnach gelingt es Lessing zwar einerseits, mit dem „Sohn Gott“ eine echte Differenz in Gott zu setzen, ohne damit in einen Bitheismus zu verfallen; andererseits aber vermag er es nicht, vermittels des „Harmonie“-Begriffs über die Konstituierung einer Bipersonalität hinaus auch eine Tripersonalität Gottes zu begründen.99 – Indessen: Die Botschaft von Lessings Christentum der Vernunft ist ebenso klar wie im zeitgenössischen Kontext provokant: Johan Thomas Haupts Urteil – „Das Endliche begreift das Unendliche nicht, wir sind also nicht vermögend, das Geheimnis der heiligen Dreieinigkeit aus der Vernunft zu beweisen, und durch solchen Beweis zu machen, daß es in Ansehung unse98

  Wenn Allison am Schluss seiner Ausführungen zu Lessings trinitätsphilosophischen Spekulationen bilanziert: „Such a discussion of the Trinity certainly does not reveal any deep concern with Christian doctrine. There is absolutely no connection between Lessing’s Son of God and the Jesus Christ of the Christian faith. This identical image of God is a purely speculative construction, and not the savior of the human race“ (Allison 2018, 56), so ist dem nur bedingt zuzustimmen. Zwar stellt sich theologiegeschichtlich das Trinitätsproblem tatsächlich erst in seiner ‚ökonomischen‘ Gestalt (nämlich als Antwort auf die Personfrage Jesu Christi, die für Lessing im Christentum der Vernunft offenkundig keine Rolle spielt); mit Blick auf die immanente Trinität aber und die diesbezüglichen Vorgaben der christlich-theologischen Tradition scheint Lessing, wie in obiger Analyse mehrfach aufgewiesen, indes durchaus um eine orthodoxe Position bemüht zu sein. – Zur inhaltlichen Orthodoxie der Lessingschen Darlegungen vgl. auch Häfner 2011, 128ff. 99   Nun scheint Lessing selbst zur Einsicht dieser Problematik gelangt zu sein, wenn er – Jahrzehnte später – im 73. Paragraphen der Erziehung des Menschengeschlechts diese frühen trinitätsphilosophischen Spekulationen zwar aufgreift, sich dann aber darauf beschränkt, die Einheit Gottes als eine „transcendentale Einheit“ zu begreifen, „welche eine Art von Mehrheit nicht ausschließt“, wobei er in seinen Darlegungen nicht weiter geht als bis zur Feststellung einer „Verdopplung in Gott“ (= Binität), d.h. zur Rede vom ‚Sohn, den Gott von Ewigkeit zeugt‘ (= Bipersonalität). Der Geist als ein Drittes wird hingegen nicht mehr thematisiert (vgl. G. E. Lessing, Die Erziehung des Menschengeschlechts [1780], in: B 10, 73–99. Hier: 93,3–35).

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Erster Teil: Wanderjahre

rer aufhöre ein Geheimnis zu sein.“100 –, diesem Urteil also setzt Lessing den ungeheuren Anspruch entgegen, „das Geheimnis der Dreieinigkeit […] gar […] metaphysisch zu demonstrieren“.101 Mit einem Wort: Auch die Wahrheit der Religion ist eine Sache der Vernunft.

100

 S. obiges Zitat bei Anm. 11.  S. obiges Zitat bei Anm. 12.

101

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IV. Diskursivität vs. Subjektivierung – Lessings Feldzug gegen das Gefühlschristentum. Der 49. Literaturbrief (1759) 1. Text und Kontext oder Großer Dichterkrieg, Kleiner Dichterkrieg und Berliner Guerilleros Bereits im November des Jahres 1752 verlässt Lessing Wittenberg und die dortige Universitätsbibliothek, um erneut, dieses Mal für knapp drei Jahre, nach Berlin zurückzukehren. Es ist vor allem die Bekanntschaft mit dem jüdischen Philosophen Moses Mendelssohn (1729–1786), welche in diese zweite Berliner Periode fällt und die sich rasch zu einer engen Freundschaft entwickelt – eine Freundschaft freilich, die Lessings philosophisches Interesse in entscheidender Weise mitbefördern sollte. Wenn also Lessing – unstet – im Mai des Jahres 1758 abermals den Entschluss fasst, nach Berlin zurückzukehren, so wird dieser Schritt wohl am ehesten durch die dortige Nähe Moses Mendelssohns sowie des anderen Berliner Freundes, Christoph Friedrich Nicolai (1733–1811), zu erklären sein. Jedenfalls können die von uns hier näher zu betrachtenden Briefe, die neueste Litteratur betreffend1 als ein Produkt ihrer Freundschaft charakterisiert werden.2 Lessings Anstoß zur Gründung eines solchen Kritikerforums ist im Kontext des 18. Jahrhunderts zu sehen. Die Dynamik, wie sie der Aufschwung von Lesegesellschaften und Lesekabinetten auf der einen, die wachsende Flut an Büchern, Journalen, literarischen Wochenblättern und Musenalmanachen auf der anderen Seite erzeugten, bedurfte zunehmend der Kontrolle, und zwar in Form einer kritischen Sichtung und Sortierung. Es formierte sich die Literaturkritik, die sich – den gesellschaftlichen Entwicklungen im 18. Jahrhundert entsprechend – an eine allgemeine, d.h. die gelehrten Zirkel überschreitende literarische Öffentlichkeit wandte. In Abgrenzung zum eher referierenden Stil anderer Journale geben Lessing, Mendelssohn und Nicolai ihren Literaturbriefen ein eindeutig kritisches Profil. Dem entspricht die formale Entscheidung, das Ge1   G. E. Lessing, Briefe, die neueste Litteratur betreffend (1759–1765), in: B 4, 453–777. – Im Fokus dieses IV. Kapitels steht der 49. Literaturbrief (in: B4, 602–609). 2   Vgl. Fick 2016, 173; zu den einzelnen, hier lediglich erwähnten biographischen Stationen Lessings vgl. ausführlich: Nisbet 2008, 203–367.

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Erster Teil: Wanderjahre

schriebene in Briefform darzubieten: Die inszenierte Vertraulichkeit erlaubt es dem Kritiker, persönlichen Interessen nachzugehen3 und darüber hinaus einen individuellen und engagierten, besonders im Falle Lessings auch angriffslustigen Ton in die Besprechungen zu mischen.4 In diesem Sinne heißt es in einem rückblickenden Schreiben Friedrich Nicolais aus dem Jahre 1782: Im November 1758 war ich einmal mit Lessing zusammen, als auf eine damals neu heraus­gekommene Schrift eines noch lebenden Autors die Rede kam. Wir hatten mancherley daran auszusetzen. Ich weiß nicht mehr, wer von uns beyden zuerst wieder das zu schreibende Journal, von dem wir mehrmals gesprochen hatten, aufs Tapet brachte. Diesmal redeten wir doch ernstlicher davon […] Endlich fiel mir ein: Wir haben so oft gesagt, man sollte schreiben, was wir sagen. Wir wollen also in Briefen niederschreiben, was wir in unsern täglichen Unterredungen sagen, wollen uns keinen bestimmten Zweck vorstellen, wollen anfangen, wenn es uns gefällt, aufhören, wenn es uns gefällt, reden, wovon es uns gefällt; gerade so wie wir es machen, wenn wir zusammen ­plaudern.5

Zum fiktiven Adressaten ihrer Briefe bestimmen die Freunde einen im Siebenjährigen Krieg (1756–1763) verwundeten Offizier. Im Hintergrund dieser 3   Vollständigkeit liegt demnach nicht im Interesse der Literaturbriefe, wie bereits deren erstes Exemplar vom 4. Jenner 1759 gleich anfangs und unverhohlen zum Ausdruck bringt. Dort schreibt Lessing (unter dem Kürzel Fll.; s.u.) an den verwundeten Offizier N** (s.u.): „Etwas werden Sie freilich nachzuholen haben [sc. um, wie es in der Einleitung zu den Literaturbriefen heißt, „die Lücke, welche der Krieg in seine (sc. des Offiziers) Kenntnis der neuesten Litteratur gemacht, ausfüllen“ zu können]; aber nicht viel. Die zwei gefährlichen mühsamen Jahre, die Sie der Ehre, dem Könige und dem Vaterlande aufopfern müssen, sind reich genug an Wundern, nur nicht an gelehrten Wundern gewesen […]“ (B 4, 456,3–7 [1. Literaturbrief]; Hervorh. D.Z.). 4   Dass die Beiträge außerdem anonym publiziert werden, scheint die Angriffslust (gerade Lessings) noch weiter zu steigern – sollte doch eine eindeutige Zuordnung der mit Chiffren gezeichneten Briefe erst nach seinem Tod und nach Auflösung der jeweiligen Zeichen möglich sein. Die von Nicolai in einem Brief an Herder bereits 1768 Lessing zugeschriebenen Chiffren A. E. Fll. G. L. O. hat Hans Werner Seifert einleuchtend als Bestandteile der lat. Formel „flagello“ (ich peitsche, geißele) entschlüsselt (vgl. Grimm 1997, 1065). – Zur Diskussion um Funktion und Verhältnismäßigkeit der Lessingschen Polemik in den Literaturbriefen s. den Überblick und auch die Bewertung der Forschung bei Goldenbaum 2004, 655–662. Bedenkt man die Stagnation, in welcher die deutsche Literatur zur Jahrhundertmitte infolge der harten Auseinandersetzungen zwischen der Schweizerischen und der Gottschedschen Partei steckt (Näheres dazu wird noch ausgeführt werden), so wird aus dem selbstbewussten Anspruch, eben diese Stagnation zu überwinden, die Angriffslust und das Engagement der Literaturbriefe noch verständlicher. In diesem Sinne leisten die ‚Berliner‘ (als in dieser Fehde unparteiische Gruppe) durchaus ihren Beitrag, „die deutsche Literatur auf ihrem mühsamen Weg zur Eigenständigkeit zu fördern“, weshalb denn auch „die Auseinandersetzung mit den ‚Literaturbriefen‘, dieser anregendsten kritischen Publikation der Aufklärung, für die literarisch interessierten Zeitgenossen geradezu eine Pflicht“ darstellt (vgl. Grimm 1997, 1066 u. 1079; Fick 2016, 173). 5   Friedrich Nicolai, „Schreiben an den Hrn. Professor Lichtenberg in Göttingen“, in: Göttingisches Magazin der Wissenschaften und Literatur III, 1782, Nr. 1, 387–401, zit. n. Grimm 1997, 1086f.

IV. Diskursivität vs. Subjektivierung

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von Lessing eingebrachten Idee steht seine in Leipzig geschlossene Freundschaft mit dem Dichter und preußischen Offizier Ewald von Kleist (1715– 1759), „denn“ – so erinnert sich Nicolai in bereits zitiertem Schreiben – „sagte er [sc. Lessing], wie leicht kann Kleist verwundet werden, so sollen die Briefe an ihn gerichtet seyn“. 6 Was zu diesem Zeitpunkt freilich niemand wissen kann, ist, dass Kleist nur kurze Zeit später in der Schlacht bei Kunersdorf tatsächlich dem Kriege zum Opfer fallen würde.7 – Bis Lessing im November 1760 abermals „von heute auf morgen“ Berlin verlassen wird (dieses Mal, „um den Posten des Gouvernementsekretärs bei General Friedrich Bogislaw von Tauent­zien, dem Kommandanten der Stadt und Festung Breslau in Schlesien, anzutreten“8), stammen die Literaturbriefe zu einem Gutteil aus seiner Feder. Demnach können (wenigstens in dieser ersten Phase) ihr Plan und ihre Verwirklichung „als eigentliches Werk Lessings gelten“. Nimmt man indes das Ganze in den Blick – die Literaturbriefe werden vom 4.1.1759 bis zum 4.7.1765 zunächst wöchentlich (einzeln) ausgegeben, bevor sie in 24 Teilen auch in Buchform erscheinen –, so ist es Moses Mendelssohn, der den Löwenanteil an Rezensionen beisteuert.9 Die Vielfalt der von Lessing in den Literaturbriefen diskutierten Probleme und Gegenstände schreibt sich von dem weit gefassten Literaturbegriff her; im Falle der von uns zu betrachtenden Kontroverse um den Nordischen Aufseher sind dies eindeutig theologische Fragestellungen.10 Unter den hierbei unterscheidbaren Themen11 interessiert uns vorrangig die Frage nach der „besten Art über Gott zu denken“, d.h. – präziser formuliert – ihre Beantwortung durch  6

 AaO., 1087 (Hervorh. i. O.).   Vgl. aaO., 1051–1054; Fick 2016, 173. – „[J]enseits der historisch-biographischen Fakten“, welche die Wahl des fiktiven Adressaten und die damit gegebene „demonstrative“ Verknüpfung „mit dem zeitgenössischen Kriegsgeschehen“ motiviert haben mögen, meint Dirk Rose hierin „eine geradezu strategische Engführung von Kriegsgeschehen und Publikation der Litteraturbriefe“ erkennen zu können: „Dafür mag es ratsam erscheinen, daran zu erinnern, dass sich Polemik vom griechischen polemos ableitet, was ‚Krieg‘ bedeutet. Die gesuchte Nähe zum Kriegsgeschehen könnte sich also ebenso der Zeithistorie wie der Methodik innerhalb der Litteraturbriefe verdanken. Dabei kann selbstverständlich nicht von Kausalzusammenhängen die Rede sein, eher schon von atmosphärischen und metaphorisch codierten Analogien zwischen dem realweltlichen Kriegsgeschehen und den Auseinandersetzungen innerhalb der Gelehrtenrepublik, welche die Litteraturbriefe gleichermaßen provozierten wie dokumentierten“ (Rose 2015, 93ff.).  8   Nisbet 2008, 368.  9   Vgl. Grimm 1997, 1054f. 10   Vgl. Goldenbaum 2004, 661 Anm. 26. 11   Björn Spiekermann nennt dieser drei: 1. das „Problem eines kausalen Nexus von Religion und Moral“; 2. die „von Klopstock formulierte Antwort auf die Frage nach der ‚besten Art über Gott zu denken‘“; und 3. „die von Cramer vorgeschlagene propädeutische Vereinfachung der Christologie für einen kindgemäßen Religionsunterricht“ (Spiekermann 2012, 192).  7

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Erster Teil: Wanderjahre

Klopstock sowie Lessings kritische Reaktion darauf. Um beide in ihrer Tragweite erfassen zu können, gilt es zunächst – wie immer bei Lessing –, den Kontext zu beleuchten, innerhalb dessen die Auseinandersetzung zu verorten ist.12 Ernst Müller schlägt hierzu vor, die Debatte vor dem Hintergrund des zwischen Johann Christoph Gottsched (1700–1766) und den ‚Schweizern‘ ausgefochtenen Literaturstreits zu deuten, wobei er denselben weniger „als Gegensatz zwischen Regelpoetik und Genieästhetik“ als vielmehr – und zwar „wesentlich“ – als einen „Streit zwischen rationalistischer Aufklärungsphilosophie und den Anfängen einer religiösen Gefühlstheologie“ verstanden wissen will. Demnach handle es sich beim Literaturstreit primär um einen „Streit um das Verhältnis von Kunst und Religion“.13 Müllers überzeugender These folgend, ist bereits hier mit der sich formierenden religiösen Gefühlstheologie Lessings Gegner identifiziert.14 Doch der Reihe nach! – Zu Beginn unseres problemgeschichtlichen Abrisses steht die Beschäftigung mit den beiden Züricher Kunsttheoretikern Johann Jakob Bodmer (1698– 1783) und Johann Jakob Breitinger (1701–1776).15 Die philosophische wie auch theologische Dimension ihrer im ‚großen Dichterkrieg‘ gegenüber Gottsched vertretenen Position erklärt sich aus der Verbindung von Dichtungstheorie und subjektivistisch umgeformter Offenbarungstheologie. Solche Verbindung nun bedeutet eine Abgrenzung gleich nach zwei Seiten hin: gegen die ‚Freigeisterei‘ auf der einen und gegen die protestantische Orthodoxie auf der anderen Seite. Gegenüber der einen erheben sie nichts weniger als den Anspruch, die zuneh12   Im hier gewährten Rahmen versteht es sich von selbst, dass der problemgeschichtliche Hintergrund in seiner Komplexität lediglich grob skizziert werden kann. 13   Vgl. Müller 2004, 34. – Auch Ursula Goldenbaum betont, dass „die Auseinandersetzung zwischen den Zürichern und der Gottsched-Schule in Leipzig […] sehr zu Unrecht für eine bloß poetische oder ästhetische Diskussion gehalten wird, da sie ebenso das brisante Verhältnis von Vernunft und Glauben angeht“; und wie Müller so deutet auch sie Lessings Streit mit dem Kopenhagener Kreis „gewissermaßen“ als „Fortsetzung der andauernden theoretischen Auseinandersetzung über das umstrittene Verhältnis von Glauben und Vernunft“ (Goldenbaum 2004, 677f.). – Müller unterscheidet drei Phasen innerhalb des Literaturstreits: Auf den ‚großen Dichterkrieg‘ zwischen Gottsched und den Schweizern (1741–1745) folgt der ‚kleine Dichterkrieg‘ zwischen dem pietistischen Halle und dem rationalistischen Leipzig (1745–1754); die dritte Phase schließlich bildet die von uns zu behandelnde Auseinandersetzung zwischen den Lessingschen Literaturbriefen und dem Nordischen Aufseher (1759–1760; vgl. Müller 2004, 49). Als Rezensent freilich hat Lessing schon in der mittleren Phase in die Debatten eingegriffen (vgl. Vollhardt 2018, 60). 14   In Anlehnung an den Neologen Johann Joachim Spalding (1714–1804) bildet Goldenbaum in diesem Zusammenhang den Begriff des Gefühlschristentums (vgl. Goldenbaum 2004, 662 [dort auch Anm. 34]). – Unsere Positionierung Lessings aufseiten der rationalistischen Aufklärungsphilosophie dürfte eingedenk der bislang gewonnenen Ergebnisse nicht weiter überraschen. 15   Dass der Fehde zwischen Gottsched und den Schweizern „die große und über vier Jahre andauernde intensive öffentliche Debatte um die Wertheimer Bibel“ vorausgeht und inwiefern diese mit dem ‚großen Dichterkrieg‘ sachlich zusammenhängt, darauf geht Goldenbaum näher ein (vgl. aaO., 675ff.).

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mend kritisierte Offenbarungstheologie auch gegen die Rationalitätskriterien der Aufklärung behaupten zu können16; in Richtung der anderen relativieren sie die Zentralität des Dogmas, indem sie Poesie und Dichtung zum grundlegenden Mittel der allgemeinen theologisch-moralischen Erziehung funktionalisieren.17 Durch Unterminieren des aristotelischen Paradigmas der poetischen Naturnachahmung18 gelingt es Breitinger und Bodmer, der Offenbarungstheologie Eingang in ihre Dichtungstheorie zu verschaffen: Anders als in der aristotelisch geprägten, rationalistischen Poetik (Gottscheds) hat der Dichter ‚seine‘ poetische Welt nicht länger nach dem Vorbild der wirklichen, d.h. wissenschaftlich beschreibbaren Welt mit den sie bestimmenden Gesetzen zu gestalten; vielmehr gestehen ihm die Schweizer – im Anschluss an die Leibnizsche Idee möglicher Welten19 – das gottgleiche Vermögen zu, eine eigene, zweite Welt mit ihren eigenen Gesetzen zu erschaffen. Mit anderen Worten: Dichten wird zum schöpferischen Akt und das Gedicht (entsprechend) als „creatio einer ‚zweiten Natur‘ oder eines Heterokosmos“20 begriffen – eines Kosmos, der in seiner poetischen Schönheit wesentlich durch das (christlich) Wunderbare konstituiert wird. Indem die Züricher nun gleichwohl – wenn auch nicht im aristotelischen Sinne, so doch formal – am Nachahmungsbegriff festhalten und das Prinzip der Nachahmung auf unsichtbar-übersinnliche Welten beziehen, stellen sie im Rahmen 16

  Vgl. Müller 2004, 33.   Vgl. aaO., 37f. – Von solch doppelter Frontstellung her erklärt es sich auch, dass Vertreter der rationalistischen Aufklärungsphilosophie, wie u.a. Gottsched und Lessing, sich in den Debatten teilweise orthodox anmutender Argumente bedienen (vgl. aaO., 61f. u. 71; Goldenbaum 2004, 663f.) bzw. Lessing mit durchaus „fühlbarer Selbstgefälligkeit den Orthodoxen spiel[en]“ kann (Pons 1980, 395 Anm. 14). 18   Nach Aristoteles ist „der Dichter ein Nachahmer“, der „von drei Nachahmungsweisen, die es gibt, stets eine befolgen“ muss: „er stellt die Dinge entweder dar, wie sie waren oder sind, oder so, wie man sagt, daß sie seien, und wie sie zu sein scheinen, oder so, wie sie sein sollten“ (Aristoteles, Poetik [ca. 335 v. Chr.], 85 [25. Kap.]). Auch Lessing betont im 79. Stück der Hamburgischen Dramaturgie (1767–1769), dass die vom Dichter erschaffene poetische Wirklichkeit als „das Ganze“ eines „sterblichen Schöpfers […] ein Schattenriß von dem Ganzen des ewigen Schöpfers sein“ sollte (G. E. Lessing, Hamburgische Dramaturgie, in: B 6, 181–694. Hier: 577,34ff.). 19   Gleich zu Beginn seiner Theodicée (I. Teil, 7. u. 8. Abschnitt) spricht Leibniz von der ‚Zufälligkeit‘ der existierenden Welt und der damit gegebenen Möglichkeit „unendlich viele[r] andere[r] Welten“. Nun konnte Gott, diese „überlegene Weisheit […] in Verbindung mit einer nicht weniger unendlichen Güte einzig und allein das Beste erwählen. […] gäbe es nicht die beste (optimum) aller möglichen Welten, dann hätte Gott überhaupt keine erschaffen. Welt nenne ich hier die ganze Folge und das ganze Beieinander aller bestehenden Dinge, damit man nicht sagen kann, mehrere Welten könnten zu verschiedener Zeit und an verschiedenen Orten bestehen. Man muß sie insgesamt für eine Welt rechnen, oder, wie man will, für ein Universum. Erfüllte man jede Zeit und jeden Ort; es bleibt dennoch wahr, daß man sie auf unendlich viele Arten hätte erfüllen können und daß es unendlich viel mögliche Welten gibt, von denen Gott mit Notwendigkeit die beste erwählt hat, da er nichts ohne höchste Vernunft tut“ (Leibniz, Theodicée, 96f.; Hervorh. i. O.). 20   Müller 2004, 41. 17

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Erster Teil: Wanderjahre

ihrer Theorie sicher, dass das Poetisch-Wunderbare mehr als bloß Fiktion ist: Es ist „Aisthetisierung der unsichtbaren Welt der Götter und Geister“.21 Mit seiner genialen Einbildungskraft vermittelt der Dichter zwischen Unsichtbarem und Sichtbarem. Obwohl die durch ihn erschaffene poetische Welt lediglich Abbild des Unsichtbaren ist, macht sie als Abbild doch etwas sichtbar, versinnlicht – offenbart. Bodmer und Breitinger suchen so, „den christlichen Mysterien, Wundern und Offenbarungswahrheiten einen Raum neben der und gegen die Rationalität zu sichern“.22 Es ist eben diese Indienstnahme der fiktionalen Einbildungskraft „für rationalitätsresistente offenbarungstheologische Gehalte“, die den Verdacht der Kritiker auf sich zieht.23 In der zweiten Phase des Literaturstreits, dem sogenannten ‚kleinen Dichterkrieg‘ zwischen dem pietistischen Halle und dem rationalistischen Leipzig, rückt der Hallenser Baumgartenschüler Georg Friedrich Meier (1718–1777) in den Fokus unserer Aufmerksamkeit. Unmittelbar an Bodmer und Breitinger anknüpfend 24, versteht auch er das Gedicht als Versinnlichung des Übersinnlichen. Demnach kritisiert Meier, dass Gottsched „dem Dichter nur natürliche Dinge nachzuahmen“ erlaube, wo „sein Gebiet […] sich doch über göttliche, himlische und übernatürliche Dinge“ erstrecke: „Homer, Virgil, Horatz, Milton, und alle grossen Dichter besingen unzälige mal göttliche Dinge, und dadurch steigen sie eben, auf den Gipfel des erhabenen und wunderbaren.“25 Als Künder dieses ‚Wunderbaren‘ und ‚Erhabenen‘ leistet der Dichter zugleich auch einen wichtigen Dienst zur Befestigung der Religion. In diesem Sinne betont Meier das apologetische Potential der neuen Dichtung, wie sie etwa in Gestalt von Klopstocks Messias (1748) begegnet: Die gantze Stärcke der Poesie zeigt sich in demselben [sc. im Messias], auf die prächtigste Weise. Und da das aufmercksame Lesen desselben das Hertz mit den gottseligsten Empfindungen anfült, wenn man anders kein Ruchloser ist, so kan dieses Gedicht beydes den guten Geschmack und die Frömmigkeit befördern.[26] Das letzte komt in unsern Tagen recht zu gelegener Zeit. Man fängt an, es häufig für ein Zeichen der Dumheit oder des Betrugs zu halten, wenn man ein Christ ist. Solche Gedichte aber, als der Meßias, sind geschickt das Erhabene und Heroische in unserer Religion zur Beschä21

 AaO., 42.  Ebd. 23   Vgl. aaO., 43. Zum Abschnitt insgesamt vgl. aaO., 33 u. 39–43. 24   Meier kommt bereits Anfang der 1740er-Jahre mit den Schweizern in Verbindung. Dass er trotz seiner Baumgarten-Schülerschaft mit seinem publizistischen Wirken „eher der Popularisierung der Kunsttheorien Bodmers und Breitingers als der Ästhetik [Alexander Gottlieb] Baumgartens“ dient, betont Müller gegen den Tenor der Ästhetikgeschichten (vgl. aaO., 49). 25   Georg Friedrich Meier, Vertheidigung der Baumgartischen Erklärung eines Gedichts […] (1746), 38. 26   Im Hintergrund steht hier die Annahme der Schweizer, dass „dieselben Affekte“, wie sie durch die sprachlichen Zeugnisse der Heiligen Schrift oder genauer: durch ihre poetische Form ausgelöst werden – gemeint sind Leidenschaften und Glauben –, „auch durch dichterische Fiktionen hervorgerufen werden können“ (Müller 2004, 43). 22

IV. Diskursivität vs. Subjektivierung

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mung der Spötter fühlbar zu machen. Es ist zu bedauren, und es ist auch ungemein schädlich, daß viele Vertheidiger unserer Religion weder das Erhabene, noch das Reitzende in ihrem Vortrage der Religionswahrheiten erreichen können, welches man doch in den Schriften der Religionsspötter vielmals antrift. Unser Dichter [sc. Klopstock] thut mehr zur Befestigung der christlichen Religion, als mancher Gottesgelehrter, welcher auf die allerorthodoxeste Art seinen Glauben vertheidiget. Die heydnischen Poeten flochten ihre Religion in ihre Gedichte, warum haben bisher unsere Dichter nicht fleißiger diesem Muster nachgeahmt?27

Es sind Zitate wie dieses, die zeigen, dass die kämpferische Ästhetikdiskussion der 1740er- und 50er-Jahre mehr ist als bloß eine Kunstdebatte. Sie lässt sich wohl treffender beschreiben als „ein Streit zwischen rationaler Vernunftkultur und ästhetischer Apologie des Christentums“.28 Für Gottsched (wie für die rationalistische Aufklärungsphilosophie insgesamt) steht damit nicht weniger auf dem Spiel als eine diskursive Vernunftkultur. Wie stark diese bereits hier bedroht ist, lässt die bei Meier zu beobachtende Steigerung seines Sensualismus zum Skeptizismus in alarmierender Weise zutage treten: Wenn nämlich Gott allein und ausschließlich im Rahmen individueller Erkenntnis erkannt werden kann; und wenn folglich Religion nichts weiter als bloß ein „Spiegel des je Individuellen“ ist, so gibt sie damit ihren von jeher gehegten Anspruch auf Universalität im Sinne allgemeinverbindlicher Wahrheit auf. Es ist also der drohende Verlust von Diskursivität, von dem her Lessings Auseinandersetzung mit Klopstock verstanden werden muss.29 27   Georg Friedrich Meier, Beurtheilung des Heldengedichts, der Meßias (1749), 6f. – Im Neuesten aus dem Reiche des Witzes vom Mai 1751 betont auch Lessing (mit ganz ähnlichen Worten) das apologetische Potential des Messias, wenngleich sein Urteil – im Unterschied zu demjenigen Meiers – eine klare Ambivalenz erkennen lässt: „Wann der Verfasser des Meßias kein Dichter ist, so ist er doch ein Verteidiger unserer Religion. Und dieses ist er, mehr als alle Schriftsteller sogenannter geretteter Offenbarungen oder untrüglicher Beweise. Oft beweisen diese Herren durch ihre Beweise nichts, als daß sie das Beweisen hätten sollen bleiben lassen. Zu einer Zeit, da man das Christentum nur durch Spöttereien bestreitet, werden ernsthafte Schlüsse übel verschwendet. Den bündigsten Schluß kann man durch einen Einfall zwar nicht widerlegen, aber man kann ihm den Weg zur Überzeugung abschneiden. Man setze Witz dem Witze, Scharfsinnigkeit der Scharfsinnigkeit entgegen. Sucht man die Religion verächtlich zu machen, so suche man auf der andern Seite, sie in alle dem Glanze vorzustellen, wo sie unsre Ehrfurcht verdienet. Dieses hat der Dichter getan. Das erhabenste Geheimnis weiß er auf einer Seite zu schildern, wo man gern seine Unbegreiflichkeit vergißt, und sich in der Bewunderung verlieret. Er weiß in seinen Lesern den Wunsch zu erwecken, daß das Christentum wahr sein möchte; gesetzt auch, wir wären so unglücklich, daß es nicht wahr sei. Unser Urteil schlägt sich allezeit auf die Seite unsres Wunsches. Wann dieser die Einbildungskraft beschäftigt, so läßt er ihr keine Zeit auf spitzige Zweifel zu fallen; und alsdann wird den meisten ein unbestrittner Beweis eben das sein, was einem Weltweisen ein unzubestreitender ist“ (in: B 2, 93–109. Hier: 98,35–99,21; Hervorh. i. O.). 28   Müller 2004, 61. 29   Vgl. aaO., 53–66. – Auch Goldenbaum zieht eine direkte Linie von Bodmer und Breitinger bis zu Klopstock u. Co.: „In der Mitte der 50er Jahre aber sind die Vertreter des Kopenhagener Kreises neben Alexander Baumgarten, Bodmer und Breitinger die anerkannten

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Erster Teil: Wanderjahre

2. Analyse und Interpretation 2.1 Die Position Klopstocks30 Von seinen Zeitgenossen als bedeutendstes poetisches Genie deutscher Sprache verehrt, gelangt Friedrich Gottlieb Klopstock (1724–1803) unter größter öffentlicher Beachtung im Jahre 1751 nach Kopenhagen.31 Auf Einladung des dänischen Königs sowie Förderers deutscher Künstler und Wissenschaftler, Friedrich V., erhält Klopstock hier die Möglichkeit, bei Bezug einer Pension seinen Messias fertigzustellen. In der Folgezeit weiß der Dichter die ihm entgegengebrachte Hochschätzung geschickt einzusetzen und öffnet, unter Vermittlung des dänischen Ministers Bernstorff, vielen seiner Freunde und Verneuen Häupter der Partei des Gefühlschristentums, und der in Kopenhagen und Leipzig erscheinende Nordische Aufseher findet aufgrund dieser Autoren und der damit verbundenen geistigen Ausrichtung wachsende Anerkennung und gewinnt an Einfluß. Diese Zeitschrift ist daher […] ein von den Zeitgenossen als solches anerkanntes Parteiorgan“ (Goldenbaum 2004, 679). 30   Freilich kann hier lediglich die von Lessing explizit kritisierte Position Klopstocks und nicht der gesamte Komplex von Religion und Dichtung bei Klopstock dargelegt werden; zum Gesamtkomplex vgl. die umfängliche Studie: Kaiser 1963. – Es sei an dieser Stelle außerdem darauf hingewiesen, dass die von Lessing in den Literaturbriefen geführte Auseinandersetzung mit Christoph Martin Wieland (1733–1813) die von uns hier betrachtete Kontroverse mit Klopstock wenigstens in Teilen thematisch antizipiert (s. v.a. 8. und 11.–13. Literaturbrief; vgl. auch Goldenbaum 2004, 673). So lautet einer der Vorwürfe Lessings gegenüber Wieland, dass dieser „seine Religion ungemein zu ehren glaubt, wenn er ihre Geheimnisse zu Gegenständen des schönen Denkens macht. Gelingt es ihm nun hiermit, so wird er sich in seine verschönerte Geheimnisse verlieben, ein süßer Enthusiasmus wird sich seiner bemeistern, und der erhitzte Kopf wird in allem Ernste anfangen zu glauben, daß dieser Enthusiasmus das wahre Gefühl der Religion sei. […] So wie es tiefsinnige Geister gab, und noch giebt, welche uns die ganze Religion platterdings wegphilosophieren, weil sie ihr philosophisches System darein verweben wollen: so giebt es nun auch schöne Geister, die uns eben diese Religion wegwitzeln, damit ihre geistlichen Schriften auch zugleich amüsieren können“ (B 4, 470,15–21 u. 471,6–11 [8. Literaturbrief]; Hervorh. i. O.). – Zu Lessing und Wieland vgl. Albrecht 1993. 31   Die geradezu kulthafte Verehrung Klopstocks bringt Goethe in seinen Leiden des jungen Werther unvergleichlich zum Ausdruck. Dort heißt es am Ende des Briefes vom 16. Junius: „Wir [sc. Werther und Lotte] traten ans Fenster. Es donnerte abseitwärts, und der herrliche Regen säuselte auf das Land, und der erquickendste Wohlgeruch stieg in aller Fülle einer warmen Luft zu uns auf. Sie stand, auf ihren Ellenbogen gestützt, ihr Blick durchdrang die Gegend, sie sah gen Himmel und auf mich, ich sah ihr Auge tränenvoll, sie legte ihre Hand auf die meinige, und sagte – Klopstock! – Ich erinnerte mich sogleich der herrlichen Ode [sc. Klopstocks Die Frühlingsfeier], die ihr in Gedanken lag, und versank in dem Strome von Empfindungen, den sie in dieser Losung über mich ausgoss. Ich ertrug’s nicht, neigte mich auf ihre Hand und küsste sie unter den wonnevollsten Tränen. Und sah nach ihrem Auge wieder – Edler! hättest du deine Vergötterung in diesem Blicke gesehn, und möcht’ ich nun deinen so oft entweihten Namen nie wieder nennen hören!“ (Johann Wolfgang Goethe, Die Leiden des jungen Werther [1774], 30). – Ganz in diesem Sinne spricht Lessing von den Klopstockianern (vgl. G. E. Lessing, Das Neueste aus dem Reiche des Witzes. Monat September 1751, in: B 2, 208–222. Hier: 208,19ff.).

IV. Diskursivität vs. Subjektivierung

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wandten in Dänemark Tür und Tor. Unter ihnen befindet sich auch Johann Andreas Cramer (1723–1788), Herausgeber und Hauptbeiträger der zwischen 1758 und 1761 erscheinenden moralischen Wochenschrift Der nordische Aufseher. Seine Berufung in das Amt des Hofpredigers in Kopenhagen verdankt also auch er der Berühmtheit seines genialen Freundes.32 – Freilich erkennt auch Lessing des Dichters Klopstock ‚großes Genie‘ und ist zudem durchaus dazu bereit, es auch als Kritiker öffentlich anzuerkennen. „Aber“, so fragt er im 111. Literaturbrief, deswegen, weil ich ihn für ein großes Genie erkenne, muß er überall bei mir Recht haben? Mit nichten. Gerade vielmehr das Gegenteil: weil ich ihn für ein großes Genie erkenne, bin ich gegen ihn auf meiner Hut. Ich weiß, daß ein feuriges Pferd auf eben dem Steige, samt seinem Reiter den Hals brechen kann, über welchen der bedächtliche Esel, ohne zu straucheln, gehet. Wer heißt den Herrn Klopstock philosophieren? So gewogen bin ich ihm freilich nicht, daß ich ihn gern philosophieren hörte.33

Worüber hat der geniale Dichter nun zu philosophieren sich unterstanden? Lessings Kritik des Philosophen Klopstock bezieht sich auf das 25. Stück des Nordischen Aufsehers – nach Lessings Einschätzung ein theologisches Stück „von ganz sonderbarem Schlage“.34 Dort widmet Klopstock sich der Frage, ‚welche von allen Arten, über das erste Wesen zu denken, die beste sei‘.35 Indem er aber nach der ‚besten Art, über Gott zu denken‘ fragt, zeigt er an, dass es dieser Arten mehrere gibt. Und obschon „alles, was uns zu Gott führen kann, […] höchstwichtig“ ist, hält Klopstock es gleichwohl für „eine von unsern vornehmsten Pflichten […], uns an die beste Art, über Gott zu denken, so zu gewöhnen, daß wir die andern beynahe nicht nöthig haben“.36 Klopstock meint, im Wesentlichen drei solcher Arten beschreiben zu können. Zur ersten aber bemerkt er Folgendes: Es giebt eine kalte, metaphysische Art, die Gott beynahe nur als ein Objekt einer Wissenschaft ansieht, und eben so unbewegt über ihn philosophirt, als wenn sie die Begriffe der Zeit oder des Raums entwickelte. Eine von ihren besondern Unvollkommenheiten ist diese, daß sie in den Ketten irgend einer Methode einhergeht, welche ihr so lieb sind, daß sie jede freyere Erfindung einer über Gottes Größe entzückten Seele fast ohne Untersuchung verwirft. Ich verstehe hier durch Erfindungen neue, oder mindstens feiner bestimmte Gedanken über die Vollkommenheiten des Unendlichen.37 32

  Vgl. Goldenbaum 2004, 669–672; Grimm 1997, 1182.   B 4, 749,2–11 (111. Literaturbrief). 34   B 4, 606, 26f. (49. Literaturbrief). 35   Friedrich Gottlieb Klopstocks Beitrag Von der besten Art über Gott zu denken (1758) wird nach seiner Originalfassung als 25. Stück im ersten Band des Nordischen Aufsehers zitiert (Johann Andreas Cramer [Hg.], Der nordische Aufseher [1760]); im Folgenden abgekürzt durch: Klopstock, „Gott denken“. 36  Klopstock, „Gott denken“, 313. 37  AaO., 314. 33

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Erster Teil: Wanderjahre

Wer sich nun in seinem Denken allein auf diese erste, also „kalte, metaphysische“ und unbewegte Art beschränken wollte, liefe Gefahr, „gar zu selten, oder beynahe gar nicht, Gott, als den unendlich liebenswürdigen, als den über allen Ausdruck bewundernswürdigen, zu denken und zu empfinden“ – „denn“, so setzt Klopstock in Klammern hinzu (wir aber wollen es, ob seiner Brisanz, eigens betonen): „dieß Denken kann von der Empfindung nicht getrennt werden“.38 Da Klopstock überdies um die bindende Kraft der (Schul-)Methode weiß, verwandelt er seine abschließende Warnung nachgerade in einen Appell an den ‚wahren Philosophen‘: Weil wir […] durch diese Art von Gott zu denken, beynahe unfähig werden, uns zu der höhern, von der ich zuletzt reden werde, zu erheben; so müssen wir auf unsrer Hut seyn, uns nicht daran zu gewöhnen. Unterdeß wird sich ein wahrer Philosoph, ich meine einen, den sein Kopf, und nicht bloß die Methode dazu gemacht hat, bisweilen darauf einlassen, um sich, durch die Neuheit zu verfahren, aufzumuntern.39

Während also die erste Art, über Gott zu denken, sich primär durch methodische Strenge und folglich durch einen hohen Grad an Unfreiheit auszeichnet, verbindet die zweite Art „eine freyere Ordnung mit gewissen ruhigen Empfindungen“; Klopstock nennt diese zweite oder auch „mittlere“ Art Betrachtungen.40 Da aber die Betrachtungen – aufgrund der im Zitat angedeuteten gewissen Temperierung ihrer Empfindungen – „nur selten […] bis zu einiger Bewundrung Gottes“ sich erheben41, kommen auch sie als Kandidat für die gesuchte beste Art, über Gott zu denken, nicht infrage. Es ist nämlich das „Erstaunen über Gott, das Höchste, ausser der Liebe zu ihm, wozu ein endlicher Geist fähig ist“.42 Wir schreiten fort und erblicken mit Klopstock – drittens und bestens – die „oberste[] Stufe dieser Erhebung zu Gott“. Sich derselben wenigstens anzu­ nähern, und zwar, nach Möglichkeit, „oft und lange [anzu]nähern“, vermag der ‚Denkende‘ indes nur, wo er sich einer gleichsam ekstatisierenden Dynamik hingibt: Sich der obersten Stufe nähern, nenne ich, wenn die ganze Seele von dem, den sie denkt, (und wen denkt sie?) so erfüllt ist, daß alle ihre übrigen Kräfte von der Anstrengung ihres Denkens in eine solche Bewegung gebracht sind, daß sie zugleich und zu einem Endzwecke wirken; wenn alle Arten von Zweifeln und Unruhen über die unbegreiflichen Wege Gottes sich verlieren; wenn wir uns nicht enthalten können, unser Nachdenken durch irgend einige kurze Ausrufungen der Anbetung zu unterbrechen; wenn, wofern wir darauf kämen, das, was wir denken, durch Worte auszudrücken, die Sprache zu wenige und zu schwache Worte dazu haben würde; wenn wir endlich mit der allertiefsten 38

 AaO., 315 (Hervorh. D.Z.).  AaO., 315f. 40  AaO., 316. 41  Ebd. 42  AaO., 318. 39

IV. Diskursivität vs. Subjektivierung

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Unterwerfung eine Liebe verbinden, die mit völliger Zuversicht glaubt, daß wir Gott lieben können, und daß wir ihn lieben dürfen.43

Der Unterschied zur ersten, nämlich ‚kalten, metaphysischen‘ Art zu denken, ist offensichtlich: Der unbewegten Distanziertheit des Intellekts wird die Dynamik des Gefühls, das Affiziertwerden der ganzen Seele, die gemeinschaftliche Bewegung aller Vermögen „zu einem Endzwecke“ gegenübergestellt.44 Wer nun auf diese Weise richtig, nämlich auf die beste (und als solche Gott einzig würdige) Art über Gott denkt, der kapituliert nach Klopstock notwendig vor der Aufgabe, das so Gedachte in Sprache, zumal in (philosophische) Begriffe zu übersetzen. Nicht diskursive Gotteserkenntnis im engeren Sinne, sondern religiöse Leidenschaft ist das Ziel. Denn erst die Begeisterung für Gott fördert neue Wahrheiten zutage: Wofern man im Stande wäre, aus der Reihe, und daß ich so sage, aus dem Gedränge dieser schnellfortgesetzten Gedanken, dieser Gedanken von so genauen Bestimmungen, einige mit Kaltsinn herauszunehmen, und sie in kurze Sätze zu bringen; was für neue Wahrheiten von Gott würden oft darunter seyn!45

Der dritten Art, über Gott zu denken, eignet demnach offenbarende Qualität, wobei es Klopstock, indem er die „Intensität der seelischen Wirkung“ zum Wahrheitskriterium in der Gotteserkenntnis erhebt, weniger „auf den Gedankeninhalt als auf die Kraft und Bewegung der Seele“ ankommt.46 – Hier nun treten Dichtung und Poesie auf den Plan. Da nämlich das, was bei Erreichung dieser obersten Stufe in der Seele vorgeht – wo also „in ihr so viele Gedanken und Empfindungen auf Einmal und mit einer solchen Stärke wirken“ –, „durch jede Beschreibung [bloß, und zwar notwendig!] verlieren würde“47, sollen die Empfindungen nun, statt dass sie ihrerseits zum Gegenstand der Beschreibung werden, selbst die sprachliche Gestaltung formen, und so das Unsagbare poetisch zum Ausdruck bringen.48 In diesem Sinne beschließt Klopstock seinen Aufsatz mit einem Selbstzitat aus dem Messias, das nach seinem Dafürhalten „etwas davon aus[zudrücken]“ vermag: „Henoch redet [etc.]“.49 – So weit also Klopstock.

43

 AaO., 318f. (Hervorh. D.Z.).   Vgl. Fick 2016, 183. 45  Klopstock, „Gott denken“, 319 (Hervorh. D.Z.). 46   Fick 2016, 183. 47  Klopstock, „Gott denken“, 319. 48   Vgl. Fick 2016, 183f. 49  Klopstock, „Gott denken“, 319. 44

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Erster Teil: Wanderjahre

2.2 Denken und Empfinden oder Diskursivität und Subjektivität im Streit Ihren Einsatzpunkt findet Lessings Kritik in der Klopstockschen Verwendung von denken und empfinden. Genauer gesagt stößt sich Lessing daran, dass Klopstock das denken nennt, was andere ehrliche Leute empfinden heißen. Seine dritte Art über Gott zu denken, ist ein Stand der Empfindung; mit welchem nichts als undeutliche Vorstellungen verbunden sind, die den Namen des Denkens nicht verdienen.50

In seinen begriffsgeschichtlich orientierten Ausführungen leistet Gerhard Kaiser den Nachweis, „daß Klopstocks Sprachgebrauch auf eine eigentümliche Weise traditionell und revolutionär zugleich ist“.51 Traditionell insofern, als „die enge Verschränkung von ‚denken‘ und […] ‚empfinden‘ […] weit hinter Klopstock zurückreicht und eine erzrationalistische Wurzel hat“.52 Kaiser weist in diesem Zusammenhang sowohl auf Descartes’ Tractat von den Leidenschaften der Seele53 als auch auf eine Definition Christian Wolffs hin, wonach alle Bewusstseinsinhalte als ‚Gedanken‘ zu fassen und folglich auch die Empfindungen ihnen zuzurechnen sind. Freilich behält Wolff die Erkenntnis der denknotwendigen Vernunftwahrheiten (und damit auch die Erkenntnis Gottes) der streng logisch verfahrenden Vernunfttätigkeit vor54; und während diese an der Spitze der bewussten Seelenvermögen rangiert, nehmen die Empfindungen als lediglich undeutliche und verworrene ‚Gedanken‘ ihre Position an der Basis derselben ein. Die bei Wolff feststellbare Verengung des Empfindungsbegriffs auf die sinnliche Wahrnehmung bleibt indes ein Proprium, zu dessen Übernahme noch nicht einmal seine Parteigänger sich willens erzeigen: Für Gottsched etwa bezeichnet der Empfindungs- (resp. Gefühls-) Begriff ein eindeutig emotionales Geschehen.55 Zur Aufwertung des Emotionalen kommt es dann in der Aufklärungstheologie.56 Wie Gefühl und Erkenntnis hier miteinander vermittelt werden, sei an wenigen, von uns bereits zitierten Worten A. F. W. Sacks noch einmal – exemplarisch – aufgewiesen.57 Dort heißt es beispielsweise zur Begründung der Göttlichkeit der Heiligen Schrift:

50

  B 4, 607,30–35 (49. Literaturbrief; Hervorh. i. O.).   Kaiser 1961, 321. 52  Ebd. 53   So der Titel in der 1723 erschienenen Übersetzung Balthasar Heinrich Tilesius’, die sich nachweislich in Klopstocks Besitz befand (vgl. ebd.). 54   Vgl. auch den Titel von Wolffs Schrift Vernünfftige Gedancken von Gott… 55   Vgl. Kaiser 1961, 321ff. 56   Vgl. aaO., 323ff. 57   S.o. Exkurs 2. 51

IV. Diskursivität vs. Subjektivierung

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Was ich nun erfahre und fühle, das weiß ich gewiß, und lasse es mir nicht abdisputiren; denn wider mein eigenes Gefühl der Gewißheit hat kein vermeintlicher Vernunft-Schluß, keine Schwierigkeit und kein Einwurf die geringste Kraft, mich wankend zu machen. […] Ja; die Richtigkeit und Stärke dieses Schlusses fühlt beydes meine Vernunft und mein Herz[.]58

Freilich geht Klopstock über eine derart vernünftige Temperierung des Gefühls59 oder, wie Kaiser sich ausdrückt: über den „neologischen Parallelismus von Kopf und Herz“ weit hinaus. In diesem Sinne ist die Neologie eines Spaldings (1714–1804), Sacks oder Jerusalems (1709–1789) „wohltemperierte Frömmigkeit“ und als solche wohl am ehesten mit der zweiten der von Klopstock beschriebenen drei Arten, über Gott zu denken, zu vergleichen60, während Klopstocks dritte Art eine viel radikalere „Gefühlserhitzung des Denkens“, ja „eine ganz andere, gesteigerte Atmosphäre des Gefühls“ fordert und zum Ausdruck bringt. Bei der besten Art, von Gott zu denken, geht es ihm um das Ergriffensein der ‚ganzen Seele‘. Kurz: Anders als für die theologischen Aufklärer ist Enthusiasmus ihm ein Wert. – Hier also begegnet uns das Revolutionäre in Klopstocks Sprachgebrauch.61 Mitnichten nun zeigt Lessing sich willens, sich solcher Revolution anzuschließen. „Denn überlegen Sie nur“, schreibt er unter der Chiffre G. an den verwundeten Offizier von N.**, „was bei einem solchen Stande“ – gemeint ist der Zustand, wie Klopstock ihn für die beste Art, von Gott zu denken, beschrieben hat – „in unserer Seele vorgeht, so werden Sie finden, daß diese Art über Gott zu denken, notwendig die schlechteste Art zu denken sein muß. Als diese ist sie von gar keinem Werte“.62 Zweierlei wird hieran deutlich: Zum einen wehrt sich Lessing gegen die Klopstocksche Umkehrung der einzelnen Seelenvermögen innerhalb des Wolffischen Denkbegriffs.63 Zum anderen aber zeigt seine klare begriffliche Distinktion von denken und empfinden64, dass er das Denken überhaupt auf die intellektuelle Bewusstseinstätigkeit allein eingegrenzt haben will. Wenn nun aber in diesem Sinne ‚Empfindung‘ nicht länger – wie noch bei Wolff 58

 Sack, Vertheidigter Glaube II, 35 u. 40 (Hervorh. i. O.).   Mit Blick auf die Neologen heißt es bei Kaiser treffend: „Religiöses Organ und Organ des Weltbegreifens überhaupt ist […] ein durch Vernunft geklärtes und gemäßigtes Gefühl, eine durch Gefühl belebte Vernunft“ (Kaiser 1961, 324). 60   „Völlig zutreffend und geistesgeschichtlich sehr bemerkenswert“ findet sich ein solcher Vergleich übrigens bei Herder (vgl. aaO., 329). 61  Vgl. aaO., 329ff.; dort finden sich auch die in diesem Abschnitt gemachten wörtlichen Zitate. – Demgegenüber trifft „jeder Gefühlsüberschwang, der die Vernunftkontrolle durchbricht“, bei den genannten neologischen Vertretern auf scharfe Ablehnung. „Das Wort ‚Enthusiasmus‘ erscheint fast immer nur in negativer Bedeutung für Schwärmerei und Exaltiertheit“ (aaO., 329). 62   B 4, 607,35–608,1 (49. Literaturbrief; Hervorh. i. O.). 63   Vgl. Kaiser 1961, 330f. 64  S. explizit in obigem Zitat bei Anm. 50. 59

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Erster Teil: Wanderjahre

– als eine Unterart des Denkens begriffen werden kann, so ist hiernach das Denken als streng logischer Vernunftgebrauch von aller Emotion rein zu erhalten.65 Dieser scharfen Differenzierung ungeachtet, schließt Lessing es keineswegs aus, dass auch der Philosoph Gott empfinden dürfe; ganz im Gegenteil: Zwar weigert er sich, Klopstocks dritter Art, über Gott zu denken, gerade als einer Art des Denkens auch nur irgendeinen Wert beizulegen; „als das aber, was sie wirklich ist“ – nämlich „ein Stand der Empfindung“66 –, ist sie ihm von „desto größer[m]“ Werte.67 In diesem Sinne vermag die Empfindung auch dem philosophischen Kopfe etwas zu verschaffen, was seine eigentliche Tätigkeit, das reine Denken, ihm niemals bereiten könnte – Vergnügen: Bei der kalten Speculation gehet die Seele von einem deutlichen Begriffe zu dem andern fort; alle Empfindung die damit verbunden ist, ist die Empfindung ihrer Mühe, ihrer Anstrengung; eine Empfindung, die ihr nur dadurch nicht ganz unangenehm ist, weil sie die Wirksamkeit ihrer Kräfte dabei fühlet. Die Speculation ist also das Mittel gar nicht, aus dem Gegenstande selbst, Vergnügen zu schöpfen. Will ich dieses, so müssen alle deutliche Begriffe, die ich mir durch die Speculation von den verschiedenen Teilen meines Gegenstandes gemacht habe, in eine gewisse Entfernung zurückweichen, in welcher sie deutlich zu sein aufhören, und ich mich bloß ihre gemeinschaftliche Beziehung auf das Ganze zu fassen, bestrebe. Je mehr diese Teile alsdenn sind, je genauer sie harmonieren; je vollkommner der Gegenstand ist: desto größer wird auch mein Vergnügen darüber sein; und der vollkommenste Gegenstand wird notwendig auch das größte Vergnügen in mir wirken. Und das ist der Fall, wenn ich meine Gedanken von Gott in Empfindungen übergehen lasse.68

Es lässt sich leicht zeigen, dass Lessing solche Ausführungen im Anschluss an Moses Mendelssohns Briefe über die Empfindungen (1755) entwickelt.69 Um also das Zitierte besser verstehen und in seiner Konsequenz gerade auch für das Selbstverständnis des Dichters Klopstock adäquat entwickeln zu können, wollen wir uns hier, wenigstens kurz, jenen anderen Briefen zuwenden. Mendelssohns Briefe über die Empfindungen geben den Briefwechsel zweier Freunde – Euphranor und Palemon – „über die Natur des Vergnügens“ wieder. Dem Herausgeber „durch einen seltnen Zufall in die Hände gerathen“, konnte dieser sich „nicht enthalten, die kleine Verrätherey zu begehen“, und machte sie kurzerhand „der Welt bekannt“.70 Die für unseren Zusammenhang entscheidende These der Briefe nun könnte man so formu65

  Vgl. Kaiser 1961, 327f.  S. obiges Zitat bei Anm. 50. 67   B 4, 608,1f. 68   B 4, 608,2–20 (Hervorh. i. O.). 69   Den Hinweis auf Mendelssohns Briefe über die Empfindungen gibt Ursula Goldenbaum; allerdings belässt sie es bei einem bloßen Hinweis (vgl. Goldenbaum 2004, 665). – Es sei an dieser Stelle besonders auf Mendelssohns Beispiel des ‚tiefsinnigen Mathematikers‘ verwiesen (vgl. [Moses Mendelssohn], Briefe über die Empfindungen [1755], 130ff. [12. Brief]), zu welchem die im Zitat gegebenen Lessingschen Darlegungen mindestens eine auffällige Analogie aufweisen. 70  Mendelssohn, Briefe, 5f. (Vorbericht). 66

IV. Diskursivität vs. Subjektivierung

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lieren, dass das höchste Vergnügen allererst dem vernünftig-denkenden Menschen zuteil werden kann. Doch der Reihe nach! – Wie Palemon im Verlauf ihrer brieflichen Konversation sowohl sich selbst als auch seinem Freunde einsichtig zu machen versteht, gibt es drei Quellen des Vergnügens: sinnliche Schönheit, Vollkommenheit und sinnliche Lust71, wobei zum Zwecke unserer Betrachtung v.a. die Unterscheidung von sinnlicher Schönheit einerseits und Vollkommenheit andererseits in den Blick zu nehmen ist.72 Als grundlegend erweist sich dabei die Einsicht Palemons, dass sowohl die sinnliche Schönheit wie auch die Vollkommenheit es beide mit einer Mannigfaltigkeit zu tun haben, das Mannigfaltige aber im Blick auf seine inneren Verhältnisse je unterschiedlich beschaffen ist. So zeichnet sich die Schönheit durch eine sinnenfällige „Einheit im Mannigfaltigen“73 aus: Die Gleichheit, das Einerley im Mannigfaltigen ist ein Eigenthum der schönen Gegenstände. Sie müssen eine Ordnung […] darbieten, die in die Sinne fällt, und zwar ohne Mühe in die Sinne fällt. Wenn wir eine Schönheit fühlen wollen, so wünscht unsere Seele gleichsam, sie mit Musse zu geniessen.74 Zur Illustration dieses Gedankens bemüht Palemon das Beispiel klassizistischer Architektur, deren Schönheit gerade in der mühelosen Fasslichkeit sowohl ihres ‚Ebenmaßes‘ als auch ihrer „Abwechslungen“ gründe – im Gegensatz etwa zur ‚Verwerflichkeit‘ gotischer Zeugnisse mit ihrer „allzuverwickelten Ordnung“.75 – Anders nun als die Schönheit, die „Einheit im Mannigfaltigen“ gewährt, erfordert die Vollkommenheit in demselben „Ueber­einstimmung“ und „Einhelligkeit“: Aus dem gemeinschaftlichen Endzwecke eines Wesens, soll sich begreifen lassen, warum das Mannigfaltige so und nicht anders neben einander ist. Du [sc. die Vollkommenheit] gewährst nicht nur Vorstellungen, sondern auch verknüpfte und in einander gegründete Vorstellungen. Nichts muß [= darf] überflüßig, nichts mißhellig, nichts mangelhaft in deinen Mannigfaltigkeiten seyn.76 Als ‚vollkommen‘ in diesem Sinne erachtet Palemon beispielsweise die Schöpfung, deren „kleinsten Theile […] in gegenseitiger Uebereinstimmung, so viel zum allgemeinen Endzwecke bey[]tragen, als sie vermögen“. Kurz: „Alles in der Natur zielet nach seinem Zwecke; alles ist in allem gegründet, alles ist vollkommen.“77 Die Differenz zwischen 71   Vgl. aaO., 114f. (11. Brief). – Zur Musik als einziger unter den Künsten, die aus allen drei Quellen „mit vollem Maase schöpft, und in einer angenehmen Mischung über uns ausgießt“, und also „uns mit allen Arten von Vergnügen“ überrascht, vgl. aaO., 115f. – Der Betrachtung der sinnlichen Lust widmet sich Palemon im 10. Brief. Da es sich bei der uns interessierenden Gotteserkenntnis jedoch um ein „in der verständlichen [also nicht-sinnlichen] Vorstellung einer Vollkommenheit“ liegendes Vergnügen handelt, belassen wir es bei diesem Hinweis. 72   Vgl. aaO., 39f. (5. Brief). 73  AaO., 43. 74  AaO., 40. 75   Vgl. aaO., 41. 76  AaO., 44. 77  AaO., 48. – Die Vollkommenheit der Welt als Schöpfung des ‚allervollkommensten Wesens‘ wird im 7. Brief – im Anschluss an Leibniz’ Theodicée – gegen mögliche Einwände verteidigt (vgl. aaO., 63–74): „[…] daß diese Welt, diese Verknüpfung zufälliger Dinge, die allervollkommenste sey; daß vielleicht nicht die geringste Verbesserung darinn vorgenommen, nicht das kleinste Uebel aus der Verknüpfung gerissen werden könnte, ohne nach dem Laufe der Natur in dem Gantzen weit grössere Uebel anzurichten“ (aaO., 65).

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Erster Teil: Wanderjahre

Schönheit und Vollkommenheit ist demnach die zwischen ‚sinnlichen Verhältnissen‘78 einerseits und einem komplexen Beziehungsgefüge andererseits. Und während erstere in die Sinnen fällt, bedarf letztere der eingehenden, vernünftig-denkenden Betrachtung. – Nun haben wir es bei Gott weder mit einer „Schönheit“ noch etwa mit irgendeiner „Vollkommenheit“ zu tun, sondern mit der „Urquelle“79 und damit dem Inbegriff aller Vollkommenheiten. Wenn also Lessing gerade im Bereich der Gotteserkenntnis – zunächst – auf der „kalten Speculation“ beharrt; wenn er – vorerst – methodisch keinen anderen Weg akzeptiert als den, bei welchem „die Seele von einem deutlichen Begriffe zu dem andern fort[gehet]“, um sodann ihre „gemeinschaftliche Beziehung auf das Ganze“ zu erfassen80, so ergibt sich dies ebenso notwendig aus der Komplexität des Erkenntnis-„Gegenstandes“, wie es diese Komplexität – zweitens – auch erfordert, über die „kalte Speculation“, d.h. über die vernünftig-denkende Betrachtung hinaus zu gehen oder besser: von dieser wieder einen Schritt zurückzutreten und so das (in seinen Teilen scharf erkannte) Ganze wieder in die Undeutlichkeit zu entlassen, will man aus dem so weit erkannten Gott nun auch Vergnügen schöpfen können. Dabei setzt dieses zweite Erfordernis jene erkenntnistheoretische Beschränkung alles Irdischen voraus, wie sie Palemon in seiner Beschreibung des Übergangs vom Denken zum Genießen (Lessingsch: Empfinden 81) reflektiert: Ueberdenke: stelle dir alle eintzelne Theile deutlich vor, und erwege ihre Verhältnisse und Beziehungen auf das Gantze. Alsdenn geniesse: richte deine Aufmerksamkeit auf den Gegenstand selbst. Hüte dich, in diesem Augenblicke an die Beschaffenheit einzelner Theile zu gedenken. Laß die Fähigkeiten deiner Seele walten. Durch das Anschauen des Gantzen, werden die Theile ihre hellen Farben verlieren, sie werden aber Spuren hinter sich lassen, die den Begriff des Gantzen aufklähren, und dem Vergnügen, das daraus entstehet, eine grössere Lebhaftigkeit verschaffen. Aber deutlich müssen [= dürfen] die besondern Begriffe in dem Augenblicke des Genusses nicht bleiben; so lange wir uns noch mit dem Irrdischen schleppen, so lange unsere Seele noch zu eingeschränckt ist, eine Mannigfaltigkeit auf einmal deutlich zu fassen.82 Zweierlei soll an dieser Stelle festgehalten werden: Obwohl es dem Denken in seiner geschöpflich-irdischen Beschränkung nicht gelingt, ein Mannigfaltiges als ein Ganzes deutlich zu erfassen, so ist es doch das Denken – und zwar ausschließlich das Denken –, welches „den Begriff des Gantzen auf[zu]klähren“ vermag. Auch ist es, zweitens, wiederum das Denken, von dem die Empfindung in ihrer Intensität oder anders ausgedrückt: das Vergnügen abhängt83: 78

  Vgl. aaO., 43.  AaO., 59 (6. Brief). 80  S. obiges Zitat bei Anm. 68. 81  S. ebd. 82  Mendelssohn, Briefe, 29f. (4. Brief). 83   Unter Verweis auf die Reziprozität der Ursache-Wirkungs-Verhältnisse in der organischen Natur erklärt Palemon darüber hinaus die Entstehung des ‚angenehmen Affects‘: Wenn, wie im 10. Brief dargelegt, „eine jede sinnliche Wollust, ein jeder verbesserter Zustand unsrer Leibesbeschaffenheit, die Seele mit der undeutlichen Vorstellung einer Vollkommenheit anfüllt; so muß auch umgekehrt eine jede undeutliche Vorstellung einer Vollkommenheit, ein Wohlseyn des Körpers, eine Art von sinnlicher Wollust, nach sich ziehen. // Und so entsteht der angenehme Affect“ (aaO., 127f.; 12. Brief). In diesem Sinne ordnet auch die „Vorstellung einer geistigen Vollkommenheit“ – also beispielsweise auch die Vorstellung Gottes – 79

IV. Diskursivität vs. Subjektivierung

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[J]e klärer die Vorstellung des schönen Gegenstandes, desto lebhafter die Empfindung, desto feueriger das Vergnügen, das daraus entspringt. Eine klärere Vorstellung läßt uns eine grössere Mannigfaltigkeit, mehrere Verhältnisse des Mannigfaltigen gegen einander wahrnehmen. Lauter Quellen der Lust!84 Wenn also Klopstock meint, gerade in der dunklen, begrifflich nicht (mehr) artikulierbaren Empfindung die beste Art, über Gott zu denken, gefunden zu haben, würde auch Mendelssohn-Palemon ihm in aller Deutlichkeit widersprechen: [N]ur unsre Blindheit macht die dunkle Empfindung zu einem nothwendigen Gefährten der Fröhlichkeit. In so weit es ein dunkeles Gefühl ist, führet es nichts annehmliches bey sich. Und Wesen, die eine grössere Mannigfaltigkeit deutlich fassen können [Palemon spricht unmittelbar zuvor z.B. von den Engeln], sind glücklicher, weil die Gegenstände mit mächtigerm Reitze auf sie würcken. 85 Als Einschränkung der Seelenkräfte handelt es sich bei der von Klopstock so hochgeschätzten dunklen Empfindung lediglich um ein „Unvermögen“. 86 Demgegenüber ist im Denken als einer Betätigung der Vernunft „eine positive Kraft unserer Seele“ am Werk, nämlich das allen „vernünftigen Wesen eigenthümlich[e]“ Streben nach „in einander gegründeten Vorstellungen“.87

Zurück zu Lessing! – Durch den kleinen Exkurs über Mendelssohns Ausführungen zur Natur des Vergnügens konnte im Wesentlichen zweierlei erhellt werden: Zum einen, was mit Lessing präzise unter Denken zu verstehen ist, nämlich eine sowohl analytische als auch synthetische, intellektuelle Fähigkeit88, aufgrund derer komplexe (d.h. nicht bloß ‚sinnliche‘) Verhältnisse erfasst oder wenigstens der Begriff eines (Mendelssohnsch gesprochen) ‚vollkommenen‘ Ganzen aufgeklärt werden können. Zum anderen tritt die Ambivalenz des Lessingschen Empfindungsbegriffs nun deutlicher zutage: So ist der Empfindung einerseits – und zwar gerade in ihrem Verhältnis zum Denken – ein ge„die Fasern des Gehirns in den gehörigen Ton“ (d.i. die „harmonische Spannung“ der vielfach untereinander verknüpften Nerven, vgl. aaO., 107f.) und beschäftigt „sie, ohne zu ermüden; das Gehirn theilt diese harmonische Spannung den Nerven der übrigen Gliedmassen mit; der Körper geräth in den Zustand der Behaglichkeit: der Mensch geräth in einen angenehmen Affect“ (aaO., 128f.). – Insofern kann der mystisch empfindende Henoch, welchem Klopstock – im Selbstzitat – am Schlusse seines Aufsatzes das Wort überlässt, die körperlichen Symptome seiner ekstatischen Gotteserkenntnis (der bebende Atem etc.) nicht exklusiv für sich beanspruchen; vielmehr lassen sie sich ganz natürlich erklären. 84  AaO., 21 (3. Brief). 85  AaO., 34 (4. Brief). 86   Vgl. aaO., 35. – Eben weil es sich hier um ein „Unvermögen“ handelt, hat Gott, der pures Vermögen ist, „kein Gefallen an dem Schönen“, denn: „Er, der alles Mögliche mit einmal übersiehet, muß die Einheit im Mannigfaltigen [= das Schöne] verwerfen“ (aaO., 42; 5. Brief). 87   Vgl. aaO., 35 (4. Brief) sowie auch 45ff. (5. Brief). 88   Bei Mendelssohn ist von einer deutlichen Vorstellung der „eintzelne[n] Theile“ (Analyse) und vom Erwägen „ihre[r] Verhältnisse und Beziehungen auf das Gantze“ die Rede (Synthese; s. obiges Zitat bei Anm. 82); nach Lessing „gehet die Seele von einem deutlichen Begriffe zu dem andern fort“ (Analyse), bevor „ich mich bloß ihre gemeinschaftliche Beziehung auf das Ganze zu fassen, bestrebe“ (Synthese; s. obiges Zitat bei Anm. 68).

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Erster Teil: Wanderjahre

wisser Eigenwert beizumessen; andererseits aber wird sie als die von Klopstock beschworene dunkle Empfindung – im Gegensatz zur Vernunftbetätigung – als eine geschöpflich-irdische Beschränkung, ja als Unvermögen (ab)qualifiziert. Es liegt demnach in der Konsequenz der Sache, wenn die von Klopstock behauptete offenbarende Qualität seiner dritten Art, über Gott zu denken, von Lessing schlechthin bestritten werden muss: „Die Wahrheit läßt sich nicht so in dem Taumel unsrer Empfindungen haschen! Ich verdenke es dem Verfasser sehr, daß Er [89] sich bloß gegeben, so etwas auch nur vermuten zu können.“90 – Gerade mit Blick auf Gott als den Vollkommensten – nicht Schönen – muss dem Empfinden die ‚kalte Speculation‘ vorausgehen. Und gerade mit Blick auf Gott als schlechthinniger Komplexität – es geht nicht um ‚sinnliche Verhältnisse‘ – vermag nur das ‚kalte, metaphysische‘ Denken, das ‚mühevolle‘ Fortschreiten von einem deutlichen Begriff auf den andern, das nicht fassbare Ganze aufzuklären. Offenbarend wirkt demnach nicht die dunkle Empfindung, nicht das mystische Erlebnis, nicht die Ekstase. Vielmehr ist es die göttlich erleuchtete Vernunft91, und nur die Vernunft, die im reinen, gefühllosen Denken Offenbarung gewährt.92 Kurz: Die Wahrheit der Religion ist keine Frage der subjektiven Empfindung oder des intuitiven Gefühls, sondern muss, wie Lessing es im Christentum der Vernunft bereits erprobt hat93, mittels rationaler Kriterien festgestellt werden. Von hier aus nun erscheint Klopstocks apologetischer Versuch, der rationalen Philosophie und ihrer Orthodoxiekritik die radikale Aufwertung des Gefühls entgegenzusetzen und so, vermöge einer Ästhetisierung des Christentums, „das Festhalten an der christlichen Religion jenseits rationaler Begründung und zugleich jenseits der Dogmatik“ zu rechtfertigen94, nicht nur als illegitim, sondern nachgerade als gefährlich: 89

  Mit dem hervorgehobenen Er zeigt Lessing an, dass er durchaus Klopstock hinter dem mit K. angegebenen Verfasser des 25. Stücks des Nordischen Aufsehers erkennt: „Hatte ich [wie sein Gegner Johann Bernhard Basedow (1724–1790) unterstellt] wirklich das Klop­ stockische Siegel auf dem gedachten Stücke nicht gesehen? O nur allzudeutlich; und ich dächte, ich hätte es auch nur allzudeutlich zu verstehen gegeben. Ich schrieb nemlich [sc. im 49. Literaturbrief]: ‚Ich verdenke es dem Verfasser sehr, daß Er […]‘ Dieses Er war nicht umsonst in dem Manuscripte unterstrichen, ward nicht umsonst mit Schwabacher gedruckt. Dieses Er war Herr Klopstock“ (B 4, 749,37–750,8; 111. Literaturbrief). 90   B 4, 609,2–5 (49. Literaturbrief; Hervorh. i. O.). 91   Zur Konzeption der erleuchteten Vernunft s.o. die entsprechenden Ausführungen in Kap. I. 2.2.2 u. Exkurs 1. 92   Die Göttlichkeit der Vernunft wird bei Mendelssohn mit den folgenden Worten pointiert: „Die dreymahl heilige Vernunft“ vertritt für die Philosophen „die Stelle einer Offenbahrung […] Sie [sc. die Weltweisen] müssen vor allen Vernunftschlüßen […] ihr Knie mit Ehrfurcht beugen. Von ihnen hängt ihre Glückseligkeit ab“ (Mendelssohn, Briefe, 171f. [15. Brief]). 93   S.o. Kap. III. 94   Goldenbaum 2004, 675. – Die apologetische Intention Klopstocks (sowie auch Cramers) wird auch bei Andre Rudolph betont (vgl. Rudolph 2008). Auch in der von uns hier ausgeklammerten Debatte um die besonders von Cramer vollzogene autoritative Bindung

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Er [sc. Klopstock] steht an der wahren Quelle, aus welcher alle fanatische und enthu­ siastische Begriffe von Gott geflossen sind. Mit wenig deutlichen Ideen von Gott und den göttlichen Vollkommenheiten, setzt sich der Schwärmer hin, überläßt sich ganz seinen Empfindungen, nimmt die Lebhaftigkeit derselben für Deutlichkeit der Begriffe, wagt es, sie in Worte zu kleiden, und wird, – ein Böhme, ein Pordage.95

Während die von Lessing allein akzeptierte, im Denken vermittelte Gotteserkenntnis aufgrund ihrer reflexiven Struktur die Unterscheidung von Betrachter (ich) und „Gegenstand“ (Gott) notwendig aufrecht erhält, kommt es in der Vereinigungsmystik Klopstockscher Gottesempfindung zu einer regelrechten Verschmelzung von Betrachter und Gegenstand.96 Der Betrachter gerät in einen rauschhaften ‚Taumel von Empfindungen‘, wobei sein Empfinden ihm desto wahrer erscheint, je intensiver er fühlt. Völlig zurecht konstatiert Lessing hier die Gefahr der Verwechslung von lebhafter Empfindung und deutlichem Begriff: Denn die Möglichkeit, den Rausch des Betrachters von einer wahrhaft-wirklichen Gottesempfindung, d.h. seinem Affiziertwerden durch den Gegenstand zu unterscheiden, ist nicht mehr gegeben. – Gegen solche Verabsolutierung der Empfindung in der totalen Hingabe an sie hält Lessing nun am Primat des Denkens fest und fordert, durch dieses die Empfindung vernünftig aufzuklären:

von Moralität an Religion (s. 49., 106., 107. u. 110. Literaturbrief) kommt diese Intention sowie Lessings Unzufriedenheit mit der zeitgenössischen Apologetik zum Ausdruck, handelt es sich hierbei doch um ein beliebtes und weit verbreitetes Argument für die Wahrheit der christlichen Religion (vgl. Pons 1980, 398f.; Spiekermann 2012, 197; Vollhardt 2015, 304ff.). Ebenfalls in den Problemkreis Apologetik gehört „die von Cramer vorgeschlagene propädeutische Vereinfachung der Christologie für einen kindgemäßen Religionsunterricht“, welche Björn Spiekermann als drittes zwischen Lessing und dem Nordischen Aufseher diskutiertes Thema nennt (s.o. in Anm. 11 sowie 48. und 108. Literaturbrief): „Daß der literarische Streit keineswegs nur theologisch-intellektuelle Gegensätze bezeichnete, sondern praktische Konsequenzen intendierte, zeigen die Kontroversen um die christliche Kindererziehung: Cramer wollte den Kindern das Christentum zunächst nur gefühlsmäßig […] nahebringen, um es anschließend in den Glauben an sein göttliches Wesen zu überführen“ (Müller 2004, 73; vgl. auch Goldenbaum 2004, 663). Nach Klaus Bohnen sieht Lessing darin gar eine „Manipulation des Kindes, die nur das eine Ziel kenne, den christlichen Gott und seine Lehre umso unangreifbarer zu machen“ (Bohnen 2006, 191). 95   B 4, 609,5–12 (49. Literaturbrief; Hervorh. i. O.). – Zu Böhme und Pordage s. Anm. 96. 96   Dass der Enthusiast hier durch den von ihm betrachteten Gegenstand regelrecht aufgesaugt und in ihn aufgenommen wird, zeigen Formulierungen, wie etwa die Rede vom totalen Affiziertsein der ganzen Seele „von dem, den sie denkt“ (s. obiges Zitat bei Anm. 43), wobei solche Rede freilich im Sinne einer Negation der zuvor kritisierten ‚kalten‘ Distanz verstanden werden muss, die der Metaphysiker im Gegensatz zum Mystiker gegenüber seinem Gegenstand wahrt. Der Vorwurf des Mystizismus artikuliert sich auch in den Namen Jakob Böhmes (mystischer Philosoph, 1575–1624) und John Pordages (ebenfalls Mystiker, 1607–1681).

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Jene erste kalte metaphysische Art über Gott zu denken, von welcher der Verfasser [sc. Klopstock] so verächtlich urteilet, […] muß gleichsam der Probierstein der dritten, ich meine aller unsrer Empfindungen von Gott sein. Sie allein kann uns versichern, ob wir wahre, anständige Empfindungen von Gott haben[.]97

Wahr ist die Gottesempfindung nur dort, wo Wahres (d.h. wahrhaftig Gott) empfunden wird; der Probierstein des Wahren aber ist die Vernunft. Solche Priorisierung des Denkens vor der Empfindung nötigt Lessing abschließend noch zu einem weiteren Einspruch gegen Klopstock. Gemeint ist dessen positiv konnotierte Diagnose einer Sprachunfähigkeit theologischen Denkens. Dem also setzt Lessing die Sprachfähigkeit und Diskursivität desselben entgegen, kann doch die „Sprache […] alles ausdrücken, was wir deutlich denken“.98 Welche Konsequenzen sich hieraus nun für Klopstocks Selbstverständnis als eines Dichters ergeben, soll, soweit es für uns von Interesse ist, abschließend und in aller Kürze dargelegt werden. – Für Klopstock ist Dichtung Wahrheitsverkündung. Sie versetzt die Seele in jenen gesteigerten Zustand, in dem dieselbe „zu den größten und wahrsten Gedanken befeuert wird“.99 Der Dichter als der exemplarisch Fühlende und Erlebende wird gleichsam zum Propheten: Er, der „mit rhetorischer Distanz noch mitten auf der Woge der Empfindungen sprachlich schalten kann“100, vermag sein Erleben, auch sein Gotteserleben und -empfinden, so zu kommunizieren, so darzustellen, dass er auch seine Zuhörer dorthin mitreißt.101 Kurzum: Dichtung dient sowohl als Vehikel wie auch als  97

  B 4, 609,13f.19–22.   B 4, 608,29.  99   Kaiser 1961, 333. 100  AaO., 342. 101   Vgl. die ähnlich lautende Formulierung in Klopstocks Traktat Von der Darstellung: „Der Zweck der Darstellung ist Täuschung. Zu dieser muß der Dichter den Zuhörer, sooft er kann, hinreißen, und nicht hinleiten“ (Friedrich Gottlieb Klopstock, Von der Darstellung, 1033; Hervorh. D.Z.). – Zur Frage, wie „Klopstock Dichtung einerseits als Wahrheitsverkündigung, andererseits als Täuschung verstehen“ kann, vgl. Kaiser 1961, 332f. sowie Steigerwald 2000 (dort v.a. 111–115). Steigerwald schreibt prägnant: „Die künstlerische Form der ‚Darstellung‘ bewirkt durch die aktive Erregung der Gemütsbewegung den Zuhörer sich ‚hinreißen‘ zu lassen, so daß seine Täuschung vollständig ist und er ‚Vorstellungen‘ für ‚Darstellungen‘, d.h. ‚fastwirkliche Dinge‘ ansieht. Eben dies ist die Aufgabe des Dichters nach Klopstock und daher gelte es die hierfür nötigen Mittel zu finden und anzuwenden“ (aaO., 111f.). – Zur Unterscheidung von ‚wirklichen Dingen‘, ‚fastwirklichen Dingen‘ und ‚bloßen Vorstellungen‘ s. Klopstocks Traktat Von der Darstellung, 1032f. – Umfassenden Erfolg in der ‚hinreißenden‘ Kommunikation seiner Empfindungen zu attestieren, ist Lessing gegenüber Klopstock indes nicht bereit, wobei im Hintergrund seiner Kritik der von Mendelssohn explizierte Zusammenhang von deutlichen Gedanken und intensivem Empfinden, von ‚Überdenken‘ und ‚Genießen‘ anklingt: „Es kann wahr sein, dachte ich, daß Herr Klopstock, als er seine Lieder machte, in dem Stande sehr lebhafter Empfindungen gewesen ist. Weil er aber bloß diese seine Empfindungen auszudrücken suchte, und den Reichtum von deutlichen Gedanken und Vor 98

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Katalysator, um jene von Klopstock propagierte und von Lessing so scharf kritisierte höchste Stufe des Denkens zu erreichen. Diese Auffassung des Dichters als Propheten, „der im Medium seines begeisternden Wortes Wahrheit vermittelt“ und als der „vorbildlich Fühlende“ zugleich der über alles Vernunftgesetz Erhabene ist102, bringt Klopstock auch im 44. Stück des Nordischen Aufsehers zum Ausdruck, wenn er einleitend zu seiner Ode über die Allgegenwart Gottes schreibt: Es giebt Gedanken, die beynahe nicht anders als poetisch ausgedrückt werden können; oder vielmehr, es ist der Natur gewisser Gegenstände so gemäß, sie poetisch zu denken und zu sagen, daß sie zu viel verlieren würden, wenn es auf eine andere Art geschähe. Betrachtungen über die Allgegenwart Gottes gehören, wie mich deucht, vornehmlich hierher.103

Dass sich hierin nicht zuletzt auch eine apologetische Absicht artikuliert, dürfte von den oben gegebenen, problemgeschichtlichen Ausführungen her klar sein.104 Freilich muss Lessing diese aufklärende, offenbarende Wirkung des Gedichts ebenso bestreiten, wie er die Klopstocksche Verwischung von Philosophie (bzw. Theologie) und Dichtung durch eine klare Grenzziehung überhaupt zu überwinden sucht105: [W]enn ich Ihnen [sc. dem Offizier von N.** als fiktivem Adressaten der Literaturbriefe] sagen sollte, was ich denn nun aus dem Folgenden [sc. der Klopstockschen Ode], von der Allgegenwart Gottes mehr gelernt, als ich vorher nicht gewußt; welche von meinen dahin gehörigen Begriffen, der Dichter mir mehr aufgeklärt; in welcher Überzeugung er mich mehr bestärket: so weiß ich freilich nichts darauf zu antworten. Eigentlich ist das auch des Dichters Werk nicht. Genug, daß mich eine schöne, prächtige Tirade, über die andere, angenehm unterhalten hat; genug, daß ich mir, während dem Lesen, seine Begeisterung mit ihm zu teilen, geschienen habe: muß uns denn alles etwas zu denken geben?106

stellungen, der die Empfindungen bei ihm veranlaßt hatte, verschwieg und uns nicht mitteilen wollte: so ist es unmöglich, daß sich seine Leser zu eben den Empfindungen, die er dabei gehabt hat, erheben können“ (B 4, 751,3–12; 111. Literaturbrief). Vgl. hierzu die von Palemon dargelegte Methode, wie er sich „zu dem Genusse eines Vergnügens vorbereite“ (Mendelssohn, Briefe, 21f.; 3. Brief). 102   Kaiser 1961, 342. 103   Johann Andreas Cramer (Hg.), Der nordische Aufseher (1760), 44. St., 564. 104   In diesem Sinne erklärt Andre Rudolph Klopstocks Verehrung des englischen Dichters Edward Young (1683–1765) u.a. „aus dem Anspruch Youngs, in seinem Gedicht Elemente christlicher Dogmatik poetisch im Sinne einer höheren Vernunft zu verarbeiten“ (Rudolph 2008, 35). 105   Zum hier problematisierten Verhältnis von Dichtung und Theologie vgl. ausführlicher Kohl 2011; Müller 2004, 70ff.; Fick 2016, 184f. 106   B 4, 618,36–619,9 (51. Literaturbrief; Hervorh. i. O.).

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3. Fazit Während Klopstock versucht, durch eine revolutionäre Neubestimmung der Poesie (im Sinne ihrer Erhabenheit über die Vernunft) und der damit einhergehenden Ästhetisierung der Religion das diskursive durch ein intuitives Denken zu besiegen107, hält Lessing auch und gerade in theologischen wie religionsphilosophischen Fragen am Prinzip der Diskursivität fest. Da nämlich nach seinem Dafürhalten allein das intellektualistisch zu begreifende Denken die Kompetenz zur Wahrheitsfindung besitzt, die Sprache aber all das auszudrücken vermag, „was wir deutlich denken“, können auch unsere Gedanken über Gott sowohl begrifflich artikuliert wie auch – als artikulierte – diskutiert und kritisiert werden.108 Im Gefolge einer rationalen Philosophie kann Lessing den Versuch, die offenbar gewordenen Begründungsaporien der zeitgenössischen christlichen Apologetik durch eine Flucht in die Subjektivität zu überwinden, nicht kritiklos hinnehmen; vielmehr glaubt der Verfasser des Christentums der Vernunft auch hier an die allgemeine Vernünftigkeit der (wahren) Religion und ihrer Lehren. Indem Religion aber dergestalt als eine vernünftige Angelegenheit des Menschen verfochten wird, drängt sich angesichts der Wirklichkeit zugleich die Frage auf, warum die wesentlich vernünftige Religion in ihrer Geschichte sich immer schon in einer Vielzahl unterschiedlicher – mehr oder weniger vernünftiger – Religionen realisiert hat.109

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  Vgl. Kaiser 1961, 342f.   Auch Müller begründet Lessings Widerspruch gegen Klopstocks Gefühlschristentum darin, „daß eine in privater oder geniehafter Subjektivität begründete Religion […] sich […] jedem Kriterium der Kritik entzieht und damit der Intoleranz den Boden bereitet“ (Müller 2004, 72). Zu den Konsequenzen, die sich aus einer Begründung der Religion im Gefühl für die Toleranzproblematik ergeben, s. aaO., 75 sowie Goldenbaum 2004, 667. 109   Lessing hält ja nach wie vor am aufklärerischen „Glauben an die Einheit und die Unwandelbarkeit der Vernunft“ fest (zu dieser Wesensbestimmung von Vernunft vgl. Cassirer 2007 [1932], 4f.). 108

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V. Zur soziologischen Notwendigkeit der positiven Religionen – Das Fragment Über die Entstehung der geoffenbarten Religion (1763/64) Obschon für die Datierung des posthum veröffentlichten Fragments Über die Entstehung der geoffenbarten Religion1 „keine eindeutigen äußeren Indizien“ vorliegen und insofern jeder Datierungsversuch notwendig mit gewissen Unsicher­heiten belastet bleibt 2, kommt die neuere Forschung darin überein, den Text in die Jahre 1763/64 zu datieren.3 Verwiesen wird dabei auf inhaltliche Gründe, insbesondere auf die offenkundige, „enge Nachbarschaft zur genauer datierbaren Abhandlung Von der Art und Weise der Fortpflanzung und Ausbreitung der christlichen Religion“.4 Wie sich noch zeigen wird, legt auch die von uns unternommene Rekonstruktion des Lessingschen Denkweges eine Entstehung des Textes in den 1760er-Jahren nahe. So werden einerseits die bislang auf Lessings Denkweg gewonnenen Erkenntnisse systematisch reflektiert und in kritischer Weise weitergeführt, während andererseits ein Verständnis von Vernunft und Offenbarungsreligion zum Ausdruck kommt, welches der späte Lessing der 1770er-Jahre nicht mehr würde vertreten können.5

1   G. E. Lessing, Über die Entstehung der geoffenbarten Religion, in: B 5/1, 423–425 (im Folgenden mit dem Kurztitel Entstehungs-Fragment wiedergegeben). – Erstmals veröffentlicht findet sich das Fragment unter o. g. Titel in: Karl Gotthelf Lessing (Hg.), Gotthold Ephraim Leßings theologischer Nachlaß (1784). 2   Vgl. Barner 1990, 830; Nisbet 2008, 396f. 3   So verfahren sowohl Barner und Nisbet (aaO.) als auch beispielsweise Vollhardt, der die Datierungsfrage zunächst zwar noch anreißt (vgl. Vollhardt 2002, 43), das Fragment dann aber in einer neueren Publikation (ohne dies etwa zu problematisieren) in den Kontext von Lessings Breslauer theologischen und kirchengeschichtlichen Studien einordnet (vgl. Vollhardt 2018, 181ff.). 4   Barner 1990, 830; vgl. auch Nisbet 2008, 396; Vollhardt 2018, 181. 5   Dass Lessing das Verhältnis von natürlicher Religion und Offenbarungsreligion im Fragmentenstreit (und namentlich in der Erziehung des Menschengeschlechts) ganz anders begreift, wird an gegebener Stelle noch zu zeigen sein. – Ohne Zentrales vorwegnehmen zu wollen, sei Ernst Kretzschmars pointierte Formulierung zur Abgrenzung des Entstehungs-Fragments vom Spätwerk Lessings zitiert: „Noch [sc. im Entstehungs-Fragment] fehlt die Idee des Fortschreitens in den Offenbarungen und der durch die positiven Religionen bewirkten Weiterentwicklung der Menschheit“ (Kretzschmar 1905, 46; Hervorh. i. O.). – Für die Verortung des Entstehungs-Fragments innerhalb des Gesamtwerks aber bedeutet dies, dass gegenüber

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1. Text und Kontext oder Gelehrsamkeit zwischen Depression und Spielsucht Am 7. November 1760 verlässt Lessing „von heute auf morgen“ Berlin, um sich als Gouvernementssekretär in den Dienst des preußischen Generals Friedrich Bogislaw von Tauentzien (1710–1791), des Kommandanten der Stadt und Festung Breslau, zu begeben. Die genauen Gründe für diese abermals plötzliche und unangekündigte Veränderung lassen sich heute ebenso wenig ermitteln, wie sie seinerzeit auch seinen engsten Freunden einsichtig gewesen sein mochten.6 Ja es scheint sogar, als würde Lessing selbst letzte Klarheit über seinen Entschluss vermissen. In einem Brief an den Dichter und Freund Karl Wilhelm Ramler (1725–1798), welchen er am 6. Dezember, also gut einen Monat nach seiner überraschenden Abreise, aus Breslau nach Berlin schreibt, heißt es in bezeichnender Weise: Sie [sc. K. W. Ramler] werden sich vielleicht über meinen Entschluß wundern. Die Wahrheit zu gestehen, ich habe jeden Tag wenigstens eine Viertelstunde, wo ich mich selbst darüber wundere. Aber wollen Sie wissen, liebster Freund, was ich alsdann zu mir selbst sage? „Narr!“ sage ich, und schlage mich an die Stirn: „wann wirst du anfangen, mit dir selbst zufrieden zu sein? Freilich ist es wahr, daß dich eigentlich nichts aus Berlin trieb; daß du die Freunde hier nicht findest, die du da verlassen; daß du wenig Zeit haben wirst, zu studieren. Aber war nicht alles dein freier Wille? Warest du nicht Berlins satt? Glaubtest du nicht, daß deine Freunde deiner satt sein müßten? daß es bald wieder einmal Zeit sei, mehr unter Menschen als unter Büchern zu leben? daß man nicht bloß den Kopf, sondern, nach dem dreißigsten Jahre, auch den Beutel zu füllen bedacht sein müsse? Geduld! dieser ist geschwinder gefüllt, als jener. Und alsdann; alsdann bist du wieder in Berlin, bist du wieder bei deinen Freunden, und studierst wieder. O wenn dieses alsdann schon morgen wäre!“ – – Und so, liebster Freund, macht mich die Hoffnung allgemach wieder ruhig; macht, daß ich meinen getanen Schritt billige; macht, daß ich mir schmeichle, auch meine Freunde werden ihn billigen.7

Vom ersten Moment an bereut Lessing seinen Entschluss und gibt sich bald seinen deprimierten, ja depressiven Stimmungen hin, wie etwa ein Brief vom 30. März 1761 an Moses Mendelssohn belegt:

einer möglichen Spätdatierung eine Datierung in die 1760er-Jahre weit höhere Plausibilität besitzt (gegen v. Lüpkes darauf bezogene Anfrage in v. Lüpke 1989, 137 Anm. 8). 6   Nisbet deutet die vielen plötzlichen Veränderungen in Lessings Leben als Fluchten vor Routine und (drohender) Langeweile (vgl. Nisbet 2008, 379ff.). Freilich widerspricht Lessings Lebenslauf damit dem Bildungsideal der Goethezeit: „Bei Lessing bedeutete dieser Rhythmus entgegengesetzter Impulse, daß jeder Lebensabschnitt, jede neue Anstellung nicht so sehr ein notwendiges Stadium der zu größerer Reife führenden Persönlichkeitsbildung war als vielmehr ein zeitweiliges Zwischenspiel, dem eine neue und ebenso provisorische Phase in unvorhersehbarer Weise folgen würde“ (aaO., 380). 7   Brief Nr. 265 (An Karl Wilhelm Ramler; 6. Dec. 1760), in: B 11/1, 353–356. Hier: 354,6– 27 (Hervorh. i. O.).

V. Zur soziologischen Notwendigkeit der positiven Religionen

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Ach, liebster Freund […]! Ihnen gestehe ich es am allerungernsten, daß ich bisher nichts weniger als zufrieden gewesen bin. Ich muß es Ihnen aber gestehen, weil es die einzige Ursache ist, warum ich so lange nicht an Sie geschrieben habe. Nicht wahr, nur ein einzigesmal habe ich von hier aus an Sie geschrieben? Wetten Sie kühnlich darauf, daß ich also auch nur ein einzigesmal recht zu mir selbst gekommen bin. […] Ach, bester Freund, Ihr Lessing ist verloren! In Jahr und Tag werden Sie ihn nicht mehr kennen. Er sich selbst nicht mehr. O meine Zeit, meine Zeit, mein Alles, was ich habe – sie so, ich weiß nicht was für Absichten aufzuopfern! Hundertmal habe ich schon den Einfall gehabt, mich mit Gewalt aus dieser Verbindung zu reißen. Doch kann man einen unbesonnenen Streich mit dem andern wieder gut machen?8

Und noch einmal ein gutes Jahr später ist Lessing seiner „jetzigen Situation so überdrüssig, als ich noch einer in der Welt gewesen bin. Nur bald Friede, oder ich halte es nicht länger aus!“9 Seine eintönigen Amtsgeschäfte10 erledigt Lessing meist schon am Vormittag. Die freien Nachmittage verbringt er in den Breslauer Buchhandlungen sowie in den örtlichen Bibliotheken, zu welchen gelehrte Freunde wie Samuel Benjamin Klose und Johann Kaspar Arletius ihm Zugang verschaffen. Die Abende gehören dem Theater und dem Kartenspiel.11 – Zu einer merklichen Verbesserung seiner persönlichen Situation kommt es erst mit Beendigung des Siebenjährigen Krieges zu Beginn des Jahres 1763. Nun, in den beiden letzten Breslauer Jahren (1763–65), intensiviert er auch wieder seine wissenschaftlich-gelehrten und literarischen Studien. Neben den Entwürfen zu Laokoon und Minna von Barnhelm sind hier v.a. philosophische sowie theologiekritische Fragmente und Skizzen zu nennen, die sich teils mit Spinoza und dessen monistischer Philosophie, teils mit der Geschichte des frühen Christentums und der für uns relevanten Frage nach dem Verhältnis von natürlicher Religion und Offenbarungsreligion auseinandersetzen.12 Die Geschichte des frühen Christentums also bildet das Thema der benachbarten und ebenfalls Fragment gebliebenen Abhandlung Von der Art und Weise der Fortpflanzung und Ausbreitung der christlichen Religion. Präziser formuliert, geht es Lessing hier um die Überprüfung eines für die zeitgenössische Apologetik zentralen Arguments zum Erweis der Wahrheit der christlichen Religion, nämlich desjenigen Arguments, das „von der Art und Weise ihrer [sc. der

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  Brief Nr. 276 (An Moses Mendelssohn; 30. Mrz. 1761), in: B 11/1, 367f. Hier: 367,25– 368,15.  9   Brief Nr. 287 (An Karl Wilhelm Ramler; 30. Mai 1762), in: B 11/1, 376ff. Hier: 377,31ff. 10   Im Brief an Mendelssohn spricht Lessing von „unbedeutenden Beschäftigungen“, die „mehr ermüden […] als das anstrengendste Studieren“ (Brief Nr. 276 [An Moses Mendelssohn; 30. Mrz. 1761], in: B 11/1, 367f. Hier: 368,3f.). 11  Zu Lessings Spielsucht und deren „psycho-physische kathartische Wirkung“ vgl. ­Nisbet 2008, 377–382. 12   Vgl. aaO., 368–391; Vollhardt 2018, 177–180.

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Erster Teil: Wanderjahre

christlichen Religion] Fortpflanzung und Ausbreitung hergenommen wird“.13 Das zu gewärtigende Ergebnis, das Christentum sei „durch ganz natürliche Mittel“ – und also nicht durch Wunder über Wunder – „fortgepflanzt und ausgebreitet worden“, streite indes nicht „wider die [christliche] Religion selbst“14: Nicht die Frage nach ihrer Wahrheit stellt Lessing in den Fokus seiner Betrachtung15; sein ‚Entmythologisierungsversuch‘ ist vielmehr gegen die Praxis der zeitgenössisch-christlichen Apologetik gerichtet. Wir tun also gut daran, diesen Kontext auch bei unserer Analyse des Fragments Über die Entstehung der geoffenbarten Religion stets mit zu bedenken.16 Nachdem wir uns den Kontext des nun zu untersuchenden Fragments genugsam vergegenwärtigt haben, sei zum Text selber lediglich so viel angemerkt, dass es sich bei ihm – wie schon beim Christentum der Vernunft 17 – um einen streng systematisch verfahrenden, in Paragraphen klar untergliederten Text handelt, der – von einer Minimaldefinition ausgehend – deduktiv argumentiert. Wie dort so ist es Lessing auch hier wieder um einen positiven Beitrag, um ein inhaltliches Ergebnis zu tun.18 Mit anderen Worten: Wir haben es mit einem Text zu tun, der trotz seiner bloß fragmentarischen Gestalt für sich selber betrachtet und analysiert werden kann.19

13   G. E. Lessing, Von der Art und Weise der Fortpflanzung und Ausbreitung der christlichen Religion, in: B 5/1, 426–445. Hier: 426,5–8 (Hervorh. i. O.). 14   B 5/1, 445,15–19. 15   Entsprechend schreibt er gleich zu Beginn der Abhandlung, er setze die „anderweits erwiesene Richtigkeit“ der christlichen Religion im Rahmen dieser Untersuchung „bei Seite“ (B 5/1, 426,13ff.). 16   V.a. Vollhardt fordert eine „anti-apologetische und nicht, wie sonst üblich, […] reli­ gionskritische“ Lesart der beiden hier genannten Fragmente (Vollhardt 2002, 42; vgl. ferner Vollhardt 2018, bes. 190). Auch Nisbet spricht hinsichtlich der Breslauer Fragmente von einer „Reaktion auf die schrillen, aber oft unplausiblen ‚Beweise‘ der christlichen Lehre, die die zeitgenössische Apologetik vorlegte“ (Nisbet 2008, 397). 17   S.o. Kap. III. 18   Gewissermaßen als Motto könnte man dem Text also die folgenden Worte aus dem benachbarten Fragment Von der Art und Weise der Fortpflanzung und Ausbreitung der christlichen Religion voranstellen: „Und dieser Untersuchung, sage ich zu mir selbst, unterziehe dich als ein ehrlicher Mann. Sieh überall mit deinen eigenen Augen. Verunstalte nichts: beschönige nichts. Wie die Folgerungen fließen, so laß sie fließen. Hemme ihren Strom nicht; lenke ihn nicht“ (B 5/1, 427,7–11). 19  Die ohnehin bloß spekulativ zu beantwortende Frage, ob es sich beim Entstehungs-Fragment um „ein ‚systematisch‘ gehaltenes Seitenprodukt von Lessings Breslauer Beschäftigung mit Religionskritik und alter Kirchengeschichte“ oder aber um „eine Art theoretische[n] ­Exkurs“ zum Fragment Von der Art und Weise etc. oder doch um einen eigenständigen, „unmittelbar danach entstanden[en]“ Text handelt, lassen wir dahingestellt (vgl. Barner 1990, 830f.).

V. Zur soziologischen Notwendigkeit der positiven Religionen

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2. Analyse und Interpretation oder Erste Irritation am gemeinaufklärerischen Standpunkt Nach Nummerierung der einzelnen Paragraphen schlage ich folgende Gliederung des kurzen Fragments vor: §§ [1–2]: §§ [3–6]: §§ [7–11]:

Die natürliche Religion Die positive Religion Die Vielheit der positiven Religionen und die Wesentlichkeit der natürlichen Religion

Die beiden ersten Paragraphen lauten so: §. [1] Einen Gott erkennen, sich die würdigsten Begriffe von ihm zu machen suchen, auf diese würdigsten Begriffe bei allen unsern Handlungen und Gedanken Rücksicht nehmen: ist der vollständigste Inbegriff aller natürlichen Religion. §. [2] Zu dieser natürlichen Religion ist ein jeder Mensch, nach dem Maße seiner Kräfte, aufgelegt und verbunden.20

Wer uns von Beginn an auf Lessings „Weg der Untersuchung“ folgt, der weiß, dass diese rein formale Bestimmung der natürlichen Religion auf früheren – und allerältesten – Erkenntnissen Lessings fußt.21 Signifikant sind (a.) die unauflösliche Einheit von Theorie und Praxis, (b.) die ganzheitliche, den Menschen als Erkennenden, Denkenden und Handelnden erfassende Perspektive sowie (c.) deren schöpfungstheologische Begründung.22 Kurzum: Die Religion will auch hier als eine wesentliche und vernünftige Angelegenheit des Menschen begriffen sein. – Andererseits lassen bereits diese ersten Sätze erahnen, dass Lessing noch lange nicht am Ziel seines Weges angelangt ist. In diesem Sinne dokumentiert das Entstehungs-Fragment die ersten, noch tastenden Schritte hin zu einem grundlegend neuen Vernunftverständnis: Wurde die Vernunft bislang in ihrer abstrakten Einheit begriffen, so wird solche Einheit nun durch den Faktor der Individualität graduell gebrochen: Denn zur „natürlichen Religion ist ein jeder Mensch, nach dem Maße seiner Kräfte, aufgelegt und verbunden“. Was dies für die Möglichkeit einer universal-einheitlichen Realisierung der natürlichen Religion bedeutet, wird im dritten Paragraphen in aller Klarheit formuliert:

20

  B 5/1, 423,3–10.   S.o. die entsprechenden Ausführungen in Kap. I. 2.2.2. 22   Entsprechend könnte man im zweiten Paragraphen explizieren: „Zu dieser natürlichen Religion ist ein jeder Mensch als zum Tun bestimmtes vernünftiges Wesen aufgelegt (= dis­ poniert) und qua seiner Geschöpflichkeit verbunden (= verpflichtet).“ – Vgl. hierzu auch die Hauptthese des Herrnhuter-Essays (s.o. Kap. I. 2.1, Zitat bei Anm. 51). 21

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Erster Teil: Wanderjahre

§. [3] Da aber dieses Maß bei jedem Menschen verschieden, und sonach auch eines jeden Menschen natürliche Religion verschieden sein würde: so hat man dem Nachteile, welchen diese Verschiedenheit, nicht in dem Stande der natürlichen Freiheit des Menschen, sondern in dem Stande seiner bürgerlichen Verbindung mit andern, hervorbringen konnte, vorbauen zu müssen geglaubt.23

Die im Herrnhuter-Essay noch leitende Utopie einer natürlichen, d.h. Raum und Zeit gewissermaßen transzendierenden universalen Menschheitsreligion findet in diesen Worten ihre systematische Überwindung.24 Bildete dort – im Rahmen einer dualistischen Konzeption von geschichtsloser Vernunft und vernunftloser Geschichte – die ‚wahre‘, d.h. ‚einfache‘, ‚leichte‘ und ‚lebendige‘ „Religion des Adams“ noch einen utopischen Gegenentwurf zur Depravation der positiven Religionsgeschichte25, so wird sie hier ganz in die Sphäre der Idealität oder präziser: in die Sphäre des Begriffs gehoben und eingeschlossen. Damit aber ist zugleich auch der Antagonismus von natürlicher Religion und positiver Religionsgeschichte aufgehoben: Als Idee (bzw. Ideal) und individuelle Wirklichkeit verhalten sich beide wie Transzendenz und Immanenz zueinander. – Eine universal-einheitliche Realisierung des eingangs definierten „vollständigste[n] Inbegriff[s] aller natürlichen Religion“ scheint – angesichts der faktisch gegebenen Heterogenität menschlicher Geistesvermögen – jedenfalls nicht mehr sinnvoll gedacht werden zu können. Mit anderen Worten: Den problematischen Versuch, von der Geschichte loskommen und sich unmittelbar auf die Natur des Menschen beziehen zu wollen, verfolgt Lessing nicht weiter; stattdessen nimmt er den Menschen in seiner Geschichtlichkeit ernst26: Nicht mehr im „Stande der natürlichen Freiheit“ kommt der Mensch in den Blick, „sondern in dem Stande seiner bürgerlichen Verbindung mit andern“. – Bevor wir mit der Analyse der noch folgenden Paragraphen fortfahren wollen, gilt es zunächst, Lessings abgeleitete Hypothese von der notwendigen Individualität aller je und je realisierten natürlichen Religion 27 näher zu betrachten, zumal sich ähnlich lautende Formulierungen bei dem Hallenser Philosophen Georg Friedrich Meier und damit auf der Gegenseite finden. Hat Lessing etwa die Fronten gewechselt?28 – Vor diesem Hintergrund

23

  B 5/1, 423,11–18.   Pons spricht von einer Abschwächung des „Mythos der Urreligion“ (Pons 1980, 397). 25   Dass und inwiefern dies im Herrnhuter-Essay auch für die Religion Christi gilt, haben wir gezeigt (s.o. Kap. I. 3. sowie dort auch Anm. 225). 26   Einen ersten Schritt in diese Richtung hat Lessing schon in seiner Cardan-Rettung vollzogen (s.o. Kap. II. 2.3). 27   „Da aber dieses Maß [sc. der Vernunftkräfte] bei jedem Menschen verschieden, und sonach auch eines jeden Menschen natürliche Religion verschieden sein würde […]“ (§ 3). Die Formulierung im Konjunktiv deutet darauf hin, dass es sich hier um ein bloß vorgestelltes, nicht aber tatsächliches Szenario handelt. 28   Zu Lessings in den Literaturbriefen gegen Klopstock und die Kopenhagener (in deren Dunstkreis auch Meier zu rechnen ist) bezogener Frontstellung s.o. Kap. IV. 24

V. Zur soziologischen Notwendigkeit der positiven Religionen

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also soll in aller Kürze geklärt werden, ob und gegebenenfalls wie Lessings Rede von der Individualität aller natürlichen Religion vom subjektivistisch motivierten Skeptizismus eines Georg Friedrich Meier zu unterscheiden ist.29 In dessen Betrachtungen über die würk­ liche Religion des menschlichen Geschlechts von 1774 heißt es – zu Beginn des dritten Para­ graphen – jedenfalls ganz ähnlich: So viele einzelne Menschen es […] giebt, welche eine Religion haben, so viele von einander verschiedene würkliche[30] Religionen giebt es in dem menschlichen Geschlechte. Es ist ganz unmöglich, daß zwey Menschen von einer Sache vollkommen einerley Erkenntniß haben solten.31 Für Meier nun besteht die Unmöglichkeit allgemeiner Erkenntnis darin, dass ein jeder Mensch bloß über „seine eigenen Begriffe“ zu philosophieren vermag und somit auch sein Urteil allein „nach Maaßgebung seiner individuellen Erkenntniß“ fällen kann: „Wer also über eine Religion philosophirt, der philosophirt in der That über seine individuellen Begriffe, die er sich von demselben [sic!] macht.“ Das philosophische Urteil, die philosophische Erkenntnis des einzelnen bleiben dabei bloß individuell und rein subjektiv. So „übereilt sich“, nach Meiers Einschätzung, der Philosoph „offenbar, wenn er sich einbildet, daß alle seine Betrachtungen dem Gegenstande selbst dergestalt angemessen sind, daß sie sich auch auf denselben völlig passen, in so ferne er von einem andern denkenden Kopfe gedacht wird“.32 – Als Trugschluss offenbart sich solche ‚Einbildung‘ immer dort, wo „die gesunde Vernunft des einen Weltweisen […] der gesunden Vernunft des andern“ widerspricht – und das, obwohl ein jeder Philosoph „seine würkliche Weltweisheit“ doch „aus der gesunden Vernunft, und aus den Naturen der Dinge, über welche er philosophirt“, zu schöpfen meint.33 Verstärkt wird das Gefängnis der individuellen Subjektivität außerdem durch die unaufhebbare Uneindeutigkeit der sprachlichen Zeichen. So weiß zwar der einzelne „vielleicht sehr wohl, was er bey diesen Worten [sc. mit welchen er eine gewisse Erkenntnis bestimmt auszudrücken meint] denkt. Er schmeichelt sich aber zu viel, wenn er glaubt, daß die andern eben dasselbe bey diesen Worten denken.“34 – Kurzum: Für Meier kann es objektive Erkenntnis und folglich einen realen Begriff von Gott schlichtweg nicht geben. – Während hier also die Vernunft als das Organ individuell-subjektiver, aus ‚eigenen Begriffen‘ gewonnener Erkenntnis erscheint, bleibt sie für Lessing, wie wir im Weiteren sehen werden, in ihrer universalen, d.h. überindividuell-objektiven Geltung bestehen: nämlich als die eine und einzige, universale, Raum und Zeit übergreifende Vernunft.35 Nur so kann die begrifflich fassbare natürliche Religion ihre kritische Funktion üben. Und nur so bleibt

29   Meiers Skeptizismus fungiert hier lediglich als Kontrastfolie. Eine Abhängigkeit im Sinne einer bewussten oder expliziten Auseinandersetzung mit der jeweils anderen Position soll hingegen in keine Richtung behauptet werden. (Dies verbietet sich schon daher, dass Meiers Betrachtungen erst 1774 und Lessings Entstehungs-Fragment noch später, nämlich posthum im Jahre 1784 erscheinen sollten.) 30   Mit dem Terminus ‚wirkliche Religion‘ bezeichnet Meier die Religion, „wie sie in den Menschen in der That würklich ist“ (Georg Friedrich Meier, Betrachtungen über die würk­ liche Religion des menschlichen Geschlechts [1774], 8). 31  AaO., 9f. 32  AaO., 3f. (Vorrede). 33  AaO., 13. 34  AaO., 10. 35   Für Lessing verbietet sich also die Rede von „Vernünften“ im Plural!

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die Kritik der positiven Religionen diskursiv.36 – Gleichzeitig aber gibt auch Lessing die Vorstellung einer abstrakten, von der Geschichte ‚abgezogenen‘ Vernunft preis. Gerade als vernünftiges (nämlich zur natürlichen Religion ‚aufgelegtes‘ und ‚verbundenes‘) Wesen wird der Mensch in seiner Geschichtlichkeit und Individualität ernstgenommen. Indem aber der einzelne in ganz spezifischem, seinen individuellen Fähigkeiten entsprechendem Maße an der einen und einzigen Vernunft partizipiert, wird diese auf die Geschichte hin bezogen und so in ihrer abstrakten Einheit relativiert. –

Zurück zum Text! – Die zentrale Erkenntnis des Entstehungs-Fragments besteht darin, dass der einzelne in seiner Individualität mehr ist als die bloße Verkörperung einer allgemeinen, geschichtslosen Natur.37 Mit Schilson gesprochen, wird das „abstrakt-ungeschichtliche[] Denken“ (des frühen Lessing) „relativiert und durchbrochen von der konkreten Wirklichkeit und Erfahrung der Geschichte“.38 Hat Lessing einst die Religionsgeschichte schlicht als eine Verfallserscheinung qualifiziert39, dokumentieren die noch folgenden Paragraphen sein Bemühen um ein rationales Verstehen derselben im Sinne eines allgemeinen (und als solchen irgendwie notwendigen) historischen Phänomens. Seine Denkbewegung zielt nicht mehr darauf, das faktisch Vorfindliche in seiner Defizität auf ein Ideal hin zu transzendieren, sondern vielmehr umgekehrt: Eben weil es sich bei dem eingangs definierten „Inbegriff aller natürlichen Religion“ um ein nicht realisierbares Ideal handelt (§ 3), gilt es nun, die vorfindliche Wirklichkeit von dieser Voraussetzung (nämlich der Nicht-Realisierbarkeit des Idealen) her zu deuten und zu erklären: §. [4] Das ist: so bald man auch die Religion gemeinschaftlich zu machen, für gut erkannte; mußte man sich über gewisse Dinge und Begriffe vereinigen, und diesen conventionellen Dingen und Begriffen eben die Wichtigkeit und Notwendigkeit beilegen, welche die natürlich erkannten Religions-Wahrheiten durch sich selber hatten.

36   Zur kritischen Funktion des Begriffs der natürlichen Religion sowie zur Diskursivität der damit verknüpften Religionskritik s.u. die Ausführungen zu § 11 des Entstehungs-Fragments. – Für Meier ist demgegenüber eine Aussage über wahre und falsche Religion nicht (mehr) möglich (vgl. Müller 2004, 65). 37   Deshalb also würde „eines jeden Menschen natürliche Religion verschieden sein“ (§ 3). – In der Fabel-Abhandlung schreibt Lessing ganz entsprechend: „Die Wirklichkeit kömmt nur dem Einzeln, dem Individuo zu; und es läßt sich keine Wirklichkeit ohne die Individualität gedenken. […] Das Allgemeine existieret nur in dem Besondern […]“ (G. E. Lessing, Fabeln. Drei Bücher. Nebst Abhandlungen mit dieser Dichtungsart verwandten Inhalts, in: B 4, 295–411. Hier: 371,12ff. u. 372,32 [Abhandlungen zur Fabel, I. Von dem Wesen der Fabel]). 38   Schilson 1974, 69. – Auch Schilson sieht hierin den „bedeutende[n] Fortschritt dieses kleinen Fragments“ (ebd.). 39  S. obige Ausführungen zu Lessings Herrnhuter-Essay sowie die dort aufgezeigten Strukturanalogien zur deistischen Religionsphilosophie (Kap. I. 2.2.2).

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§. [5] Das ist: man mußte aus der Religion der Natur, welche einer allgemeinen gleichartigen Ausübung unter Menschen nicht fähig war[40], eine positive Religion bauen: so wie man aus dem Rechte der Natur, aus der nemlichen Ursache, ein positives Recht gebauet hatte.41

Die faktischen – und als solche kontingenten – Gegebenheiten zwingen den Menschen dazu, mit dem Natürlichen – als wesentlich zu ihm Gehörigen – gleichsam gestalterisch umzugehen. Da also, wie Lessing im dritten Paragraphen dargelegt hat, nicht alle Menschen gleichermaßen auf ihre Natur und die damit – sprich: schöpfungsmäßig – gegebenen natürlich-notwendigen Verhältnisse zu reflektieren vermögen42, obliegt es einer jeden menschlichen Gemeinschaft, im Zuge ihres Zusammenschlusses über eben diese Verhältnisse Einigkeit zu erzielen. Auf horizontaler Ebene bedeutet dies die Schaffung eines positiven, d.h. durch die Gemeinschaft gesetzten Rechts; auf vertikaler, den Menschen in seiner Geschöpflichkeit betreffenden Ebene aber: „aus der Re-

40   Spätestens hier bricht Lessing mit einer der Grundvoraussetzungen deistischer Religionsphilosophie, die Matthew Tindal folgendermaßen formuliert: „IN short, True Religion can’t but be plain, simple, and natural, as design’d for all Mankind, adapted to every Capacity, and suited to every Condition and Circumstance of Life […]“ (Tindal, Christianity as Old as the Creation, 217). 41   B 5/1, 423,19–424,3 (Hervorh. i. O.). – Auch für Meier ist erst mit dem Vollzug eines gesellschaftlichen Zusammenschlusses der Menschen die Voraussetzung für das Vorhandensein der positiven Religionen gegeben. So heißt es im sechsten Paragraphen seiner Betrachtungen: „Wenn die Menschen, ausser aller gesellschaftlichen Verbinduug [sic!] mit einander, lebten: so würde entweder gar keine Religion unter ihnen würklich seyn, oder ein jeder würde dergestalt seine eigene Religion haben, daß es ihm nicht einmal einfallen könnte zu unter­ suchen, ob dieselbe mit der Religion seines Nachbars übereinstimmte, oder von derselben verschieden wäre.“ Nun würden in einem solchen Zustand keine zwei Personen „auf den Einfall gerathen, sich in Absicht der Religion in eine ihrem Bedünken nach gänzliche Uebereinstimmung zu versetzen, so lange sie nicht Willens würden, in einen gesellschaftlichen Zustand zu treten. Folglich ist es nur in den gesellschaftlichen Zuständen der Menschen möglich, daß sich mehrere Menschen zu einer und eben derselben Religion bekennen.“ Eingedenk des erkenntnistheoretischen Individualismus oder Subjektivismus, wie wir ihn aufgrund der Meierschen Aussagen bereits beschreiben konnten, liegt es auf der Hand, dass selbst im Falle des Zusammenschlusses zu einer konkreten religiösen Bekenntnisgemeinschaft die Übereinstimmung zwischen ihren einzelnen Anhängern „[v]ornemlich in äusserlichen Dingen“ bestehen kann: „Sie werden einerley Worte und Formeln gebrauchen, wenn sie von GOtt und göttlichen Dingen reden. […] Allein folgt wohl daraus, daß alle Menschen, die auf diese Art eine Religion äusserlich bekennen, würklich einerley Religion haben?“ Die Antwort auf diese Frage kann letztlich nur lauten, dass „ihre würklichen Religionen, nicht vollkommen mit einander übereinstimmen“ können; ja „die einfältigern und schwächern Köpfe, und die machen doch allemal den grösten Haufen aus, werden, aller äusserlichen Gleichförmigkeit ohnerachtet, in ihren würklichen Religionen himmelweit von einander unterschieden seyn“ (Meier, Betrachtungen über die würkliche Religion, 16–19). 42   Man denke beispielsweise an den bloß mäßig gelehrten „Muselmann“ in Lessings Cardan-Essay (vgl. B 3, 214,20f.; s.o. Kap. II. 2.3).

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Erster Teil: Wanderjahre

ligion der Natur […] eine positive Religion [zu] bauen“.43 – Wir stellen fest: Während in den Ausführungen zum Cardan-Essay die Identifikation von natürlicher Religion und geschichtlichem Islam (noch) lediglich konstatiert werden konnte44, gelingt es Lessing hier, die Transformation der natürlichen zur positiven Religion unter Aufweis ihrer soziologischen Notwendigkeit argumentativ zu begründen.45 – Freilich ist damit noch nicht geklärt, wie der Geltungsanspruch einer solchermaßen auf ‚Konvention‘ beruhenden Religion (dem Interesse einer sich konstituierenden Gemeinschaft gemäß) legitimiert werden kann. Denn gerade als in menschlicher, d.h. zu einer bestimmten Zeit, an einem bestimmten Ort und unter bestimmten Bedingungen erzielter Übereinkunft gesetzte Religion sieht sie sich mit einem – theologisch gesprochen – fundamentalen Problem konfrontiert: dem der Evidenz. Sind „die natürlich erkannten Religions-Wahrheiten“ als Vernunftwahrheiten selbstevident, so kann den bloß „conventionellen“ (und als solchen: kontingenten) Wahrheiten der positiven Religion vermeintliche Evidenz lediglich – und das heißt: künstlich – ‚beigelegt‘ werden. An dieser Stelle kommt die Autorität der Religionsstifter ins Spiel: §. [6] Diese positive Religion erhielt ihre Sanktion durch das Ansehen ihres Stifters, welcher vorgab, daß das Conventionelle derselben eben so gewiß von Gott komme, nur mittelbar durch ihn, als das Wesentliche derselben unmittelbar durch eines jeden Vernunft.46

43   Dass die Menschen im Zuge ihrer Vergemeinschaftung die religiöse Dimension nicht ausblenden oder zur Privatangelegenheit degradieren können, ist schöpfungstheologisch begründet: eben indem einem jeden Menschen – als dem Geschöpf Gottes, das er ist – die Disposition und Verpflichtung zur Religion wesentlich ist (vgl. § 2). – Schilson weist an dieser Stelle außerdem darauf hin, dass die positive Religion nicht nur an die Seite der natürlichen tritt, sondern diese vielmehr ‚in sich aufnimmt‘. Wenn er hierzu ferner bemerkt, dass sich die „gleiche Auffassung“ auch 1777 im ersten der Lessingschen Gegensätze zu Reimarus’ Religionskritik findet (vgl. Schilson 1974, 68, bes. Anm. 46), so wird diese Aussage an entsprechender Stelle einer Präzisierung unsererseits bedürfen. 44   Vgl. o. Kap. II. 2.3. 45   Zwar werden auch hier – wie bereits im Herrnhuter-Essay – die spezifischen Lehren und Gebräuche der positiven Religionen als menschliche Setzungen gedeutet; doch verbietet es die soziologische Begründung, bei solcher (menschlich vollzogenen) Transformation auch weiterhin von einem willkürlichen Prozess zu sprechen. Die Religionsgeschichte ist nicht mehr Ausdruck menschlicher Unvernunft, nicht mehr bloßer Verfall, sondern wird – aufgrund ihrer soziologischen Notwendigkeit – auf ihren vernünftigen Kern hin transparent (vgl. auch – insbesondere zum Begriff der ‚soziologischen Notwendigkeit‘ – Pons 1980, 397; vgl. ferner Schilson 1974, 67ff.). 46   B 5/1, 424,4–9. – In den Worten, „daß […] das Wesentliche derselben“ – ergänze (aufgrund der parallelen Satzkonstruktion): von Gott komme – „unmittelbar durch eines jeden Vernunft“, artikuliert sich noch einmal das aufklärerische Offenbarungsverständnis: Es kommt zur Identifikation der göttlichen Offenbarung mit dem einfachen Spruch der natürlichen Vernunft (vgl. obige Ausführungen in Kap. I. 2.2.2 sowie Exkurs 1). Dabei ist die absolute Aussage, im einfachen Spruch der natürlichen Vernunft tue das Göttliche sich kund, den

V. Zur soziologischen Notwendigkeit der positiven Religionen

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Obgleich der sechste Paragraph die Wirklichkeit einer ‚höheren Offenbarung‘ bestreitet47 – die Rede von der „geoffenbarten“ Religion (so in der Überschrift sowie in den §§ 8 und 11) also bloß in uneigentlichem Sinne verstanden werden kann48 –; obgleich Religionsstifter wie Mose, Christus und Mohammed die Göttlichkeit oder Wesentlichkeit ihrer Verkündigung lediglich ‚vorgeben‘ können, erlaubt es die Logik des Prozesses nicht, sie deshalb Lügen zu strafen.49 Im Gegenteil nötigt gerade die argumentativ begründete soziologische Notwendigkeit der positiven Religion(en) dazu, hinsichtlich dieser Religionen – wenigstens gewissermaßen – von „Wahrheit“ zu sprechen50: §. [7] Die Unentbehrlichkeit einer positiven Religion, vermöge welcher die natürliche Religion in jedem Staate nach dessen natürlicher und zufälliger Beschaffenheit modificiert wird, nenne ich die innere Wahrheit derselben, und diese innere Wahrheit derselben ist bei einer so groß als bei der andern.51

Überall, wo Menschen sich zu einer Gemeinschaft zusammenschließen, fordert solcher Zusammenschluss die ‚Vereinigung‘ über rechtliche und religiöse Vorgaben. Und überall, wo Menschen sich hierüber verständigen, geschieht dies unter dem Einfluss je verschiedener „natürlicher und zufälliger“ Gegebenheiten. Dass es also überhaupt zu solchen Vereinigungen kommt, liegt ebenso in der Natur der Sache, wie dass die rechtlichen und religiösen Konventionen von Gemeinveränderten Voraussetzungen entsprechend zu relativieren: in einem jeden Menschen „nach dem Maße seiner Kräfte“. 47   Auch Schilson notiert ein Wegfallen des „übernatürlich-offenbarungsmäßige[n] Element[s]“ (Schilson 1974, 67). – Zum Begriff der ‚höheren Offenbarung‘ und zu Lessings sachlicher Kritik derselben s. obige Ausführungen zur ‚Mahometaner‘-Rede in Lessings Cardan-Essay (Kap. II. 2.3). Anders als dort wird die Berufung auf ‚höhere Offenbarungen‘ hier – im Sinne der soziologischen Notwendigkeit – jedoch sanktioniert. 48  Prägnant formuliert Carl Hebler: „Das Positive ist also sogar noch um eine Stufe weiter, als das Natürliche, von Gott entfernt (im geraden Gegensatz zur alten [sc. traditionell-theologischen] Meinung), oder, was dasselbe heißt, es ist noch entschiedener, als dieses, ein Menschliches“ (Hebler 1862, 37). Und ähnlich pointiert lesen wir bei Manfred Durzak: „Die Offenbarung wird zur Attrappe des geschichtlich notwendigen Umwandlungsprozesses der natürlichen Religion in die positive und erstreckt sich mehr auf das Konventionelle, das Akzidentelle, als auf das Wesentliche, das Substantielle“ (Durzak 1970, 118). 49   Gegen Pons 1980, 397. – Dass die eigentliche Intention der ‚Religionsstifter‘ vielmehr darin besteht, mit ihrem ‚Vorgeben‘ dem Allgemeinwohl (nämlich der Stabilität ihrer jeweiligen, auf Konvention gegründeten Gemeinschaft) zu dienen, sollte aus der von Lessing gegebenen (und von uns explizierten) Begründung und Erklärung des religionsgeschichtlichen Prozesses hinlänglich klar geworden sein. Und dass sie dabei nicht ganz bei der Wahrheit bleiben können, muss letztlich wohl als „tragisch“ verstanden werden (s.u. die Ausführungen zu den §§ 8–10). 50   Insofern wird hier, anders als in der ‚Mahometaner‘-Rede des Cardan-Essays, die Berufung auf ‚höhere Offenbarungen‘ (wenigstens in einer gewissen Hinsicht) gerechtfertigt, ohne jedoch die tatsächliche Möglichkeit, geschweige denn Wirklichkeit solcher Offenbarungen zu behaupten. 51   B 5/1, 424,10–16.

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schaft zu Gemeinschaft oder: von Staat zu Staat variieren. Unter rein formalen Gesichtspunkten besitzt damit keine Religion auch nur irgendeinen Vorzug vor einer anderen; sie sind vielmehr alle gleich, wie es die folgenden drei Paragraphen pointiert zum Ausdruck bringen: §. [8] Alle positiven und geoffenbarten Religionen sind folglich gleich wahr und gleich falsch. §. [9] Gleich wahr: in sofern es überall gleicht notwendig gewesen ist, sich über verschiedene Dinge zu vergleichen, um Übereinstimmung und Einigkeit in der öffentlichen Religion hervorzubringen. §. [10] Gleich falsch: indem nicht sowohl das, worüber man sich verglichen, neben dem Wesentlichen besteht, sondern das Wesentliche schwächt und verdrängt.52

Während Paragraph neun noch einmal die soziologische Notwendigkeit aller positiven Religion betont und damit die Rede von der ‚inneren Wahrheit‘ derselben (§ 7) bekräftigt, deckt Paragraph zehn gewissermaßen die Kehrseite des in seiner Notwendigkeit als vernünftig zu begreifenden religionsgeschichtlichen Prozesses auf: nämlich die Unwahrheit aller positiven Religion. Es kommt hier, in ihrer ambivalenten Deutung als eines gleichsam notwendigen Übels, die ganze „Tragik“ der Religionsgeschichte zum Ausdruck 53: Denn obschon die Konstituierung ‚bürgerlicher‘ Gemeinschaften eine Verständigung gerade auch in Religionsangelegenheiten voraussetzt und ferner die Stabilität solcher Gemeinschaften von der Verbindlichkeit ihrer ‚Konventionen‘ (und d.h. auch, von der Verbindlichkeit ihrer kontingenten, in Übereinkunft gesetzten religiösen Lehren und Gebräuche) in entscheidendem Maße abhängt, ist die ‚Falschheit‘ aller positiven Religion gleichwohl im (seinerseits zwar notwendigen!) Begründungsakt eben dieses ‚Konventionellen‘ zu suchen: nämlich insofern gerade ihm – als dem eigentlich Unwesentlichen – der Anschein von Wesentlichkeit gegeben wird. – Es klingen in diesen Gedanken noch einmal allerälteste Einsichten Lessings an: Indem den je spezifischen, (und in ihrer Spezifität) kontingenten Lehren und Gebräuchen der positiven Religionen „eben die Wichtigkeit und 52   B 5/1, 424,17–28. – Die Rede von einer ‚Verdrängung‘ des Wesentlichen in der positiven Religion erinnert stark an die Formulierung im Herrnhuter-Essay, wonach im Laufe der religionsgeschichtlichen Entwicklung das „Wesentliche […] in einer Sündflut von willkürlichen Sätzen versenkt“ worden sei (vgl. B 1, 939,1f.; s.o. Kap. I. 2.2.2). 53   „Tragik“ hier freilich in ganz unspezifischem Sinne (etwa in der Bedeutung von Unausweichlichkeit oder Unlösbarkeit). Solche „Tragik“ nun scheint auch Schneider zu spüren, wenn er schreibt, dass Lessing „die Offenbarungsreligion für eine Depravation“ der natürlichen Religion hält, solchen Verfall allerdings nicht (wie etwa die Deisten) in menschlicher Willkür oder betrügerischer Bosheit begründet sieht, sondern vielmehr „in den Dingen selbst“ (Schneider 1953, 151). Auch steckt eine Ahnung derselben in Bernd Bothes Rede von „mancherlei Widersprüche[n]“ (Bothe 1972, 30).

V. Zur soziologischen Notwendigkeit der positiven Religionen

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Notwendigkeit“ künstlich ‚beigelegt‘ wird, welche die Vernunftwahrheiten der natürlichen Religion „durch sich selber“ haben (§ 4); indem also die sensible Ökonomie der natürlichen Religion – gemeint ist die Religion in ihrer ‚Einfachheit‘, ‚Leichtigkeit‘ und ‚Lebendigkeit‘54 – durch kultische wie dogmatische Überformung auf empfindliche Weise gestört wird; ja indem das Wesentliche überall dort, wo die philosophische Wahrheit für zu komplex befunden wird, einer unterkomplexen und als solcher Gott ‚unwürdigen‘ (§ 1) Vorstellung weichen muss – kurz: indem die natürliche zu einer positiven Religion transformiert wird, wird das Wesentliche ‚geschwächt‘ und ‚verdrängt‘. – So weit also sind alle positiven Religionen „gleich wahr und gleich falsch“.55 Allerdings nur so weit! Dass es nämlich im Wettbewerb der Religionen in formaler Hinsicht zu einer Pattsituation kommt, bedeutet für Lessing keineswegs, hieraus nun die Konsequenz einer relativistischen oder skeptizistischen Religionskritik ziehen zu müssen: §. [11] Die beste geoffenbarte oder positive Religion ist die, welche die wenigsten conventionellen Zusätze zur natürlichen Religion enthält, die guten Wirkungen der natürlichen Religion am wenigsten einschränkt. – – – – – 56

Unter inhaltlichen Gesichtspunkten, so fordert es die Formulierung von der besten positiven Religion, kann durchaus zwischen ‚wahreren‘ und ‚falscheren‘ Religionen unterschieden werden.57 Als Maßstab und Kriterium fungiert auch hier wieder der – inhaltlich noch zu qualifizierende58 – ideale Begriff „aller natürlichen Religion“ (vgl. § 1). Für die theologische Apologetik bedeutet dies, die Wahrheiten ihrer Religion als vernünftige, d.h. wesentliche – und eben nicht

54  Vgl. obige Ausführungen zu Lessings dreifacher Bestimmung der „Religion des Adams“ im Herrnhuter-Essay (Kap. I. 2.2.2 u. I. 2.3). 55   Lessing bezieht damit einen Standpunkt zwischen solchen „Aufklärern, die die positiven Zusätze einfachhin für Schein und Trug erklärten“, und „den Orthodoxen, die starr an dem absoluten Wahrheitsanspruch der Offenbarungswahrheiten festhielten“ (Bothe 1972, 31). 56   B 5/1, 424,29–425,3 (Hervorh. i. O.). 57   Vgl. auch Landmesser 2011, 208. – Gegen Erich Schmidt, nach dessen Interpretation im Entstehungs-Fragment „alle positiven, geoffenbarten Religionen echt rationalistisch für gleich wahr und gleich falsch angesehn [sic!]“ werden (Schmidt 1909 [Bd. 1], 459), und auch gegen Pons, für den die Rede von der Gleichheit aller positiven Religionen einerseits (§§ 8–10) und der besten positiven Religion andererseits (§ 11) eine „Inkonsequenz“ bedeutet, die nach seinem Dafürhalten einmal mehr offenbart, „wie sehr Lessing zwischen unvereinbaren Thesen schwankt“ (Pons 1980, 397). Diese vermeintliche Inkonsequenz kann, wie wir gezeigt haben, ganz einfach behoben werden, indem hinsichtlich der positiven Religionen zwischen einer formalen und einer inhaltlichen Seite unterschieden wird. 58   Wie oben mit Blick auf die beiden ersten Paragraphen bereits festgestellt wurde, handelt es sich bei der dort gegebenen Definition um eine rein formale Bestimmung der natürlichen Religion. Einen Versuch, solchen Begriff auch inhaltlich zu füllen, hat Lessing im Christentum der Vernunft unternommen (s.o. Kap. III.).

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Erster Teil: Wanderjahre

bloß konventionelle – Wahrheiten erweisen zu müssen.59 Ihre Aufgabe kann also weder darin bestehen, das Christentum als die einzig wahre Religion darzulegen – dies verbietet schon die formale Gleichwertigkeit aller Religionen –, noch (und zwar noch weniger!) darin, die christliche Religion gegenüber der natürlichen als die bessere Religion zu erweisen.60 Positiv gewendet, sollte die Apologetik lediglich darauf zielen, das Christentum als „die beste positive Religion“, sprich: als diejenige Religion zu demonstrieren, welche das Idealbild der natürlichen Religion am wenigsten verzeichnet. Dass solcher Erweis niemals eindimensional, vermöge eines bloß theoretischen Verfahrens erfolgen kann, liegt dabei in der unauflöslichen Einheit von Theorie und Praxis in der idealen Religion begründet. Denn: Je weniger ‚konventionelle Zusätze‘ (gerade auch theoretischer Art) eine positive Religion zur natürlichen besitzt, d.h. je ‚einfacher‘ und ‚leichter‘ sie ist, desto weniger werden (in praktischer Hinsicht) „die guten Wirkungen der natürlichen Religion“, man könnte auch sagen: ihre ‚Lebendigkeit‘, eingeschränkt.61

3. Fazit Wie anhand der Analyse dieser wenigen Paragraphen gezeigt werden konnte, verlässt Lessing bereits hier, gut sieben Jahre vor seiner Ankunft in Wolfenbüttel, die Heerstraße ‚aufgeklärter‘ Religionsphilosophie, um sich fortan seinen eigenen Weg hin zu einem präziseren Verständnis des Wesens der Religion(en) zu bahnen. Als Kompass dient ihm dabei nicht mehr bloß die rein apriorische Erkenntnis der denkenden Vernunft; vielmehr wird – um noch einmal die präg59   Vgl. hierzu Lessings in der ‚Mahometaner‘-Rede geäußerte (oder besser: implizierte) Kritik der zeitgenössischen Apologetik (s.o. Kap. II. 2.3) sowie seinen eigenen Versuch einer rational verfahrenden Apologie des Christentums im (ebenfalls Fragment gebliebenen) Christentum der Vernunft (s.o. Kap. III.). 60   Wir sehen deutlich: Hinsichtlich der natürlichen Religion hält Lessing noch hier an der (deistischen) Suffizienzthese fest (vgl. auch Pons 1980, 400). – Alle Bemühungen der christlichen Apologetik, die dogmatische (d.h. theoretische) oder moralische Überlegenheit des Christentums gegenüber der natürlichen Religion zu beweisen, müssen also nachgerade als absurd erscheinen. So ist es nach Lessing ja allein die Tatsache, dass die an sich genügende natürliche Religion nicht für alle Menschen gleichermaßen zugänglich ist, welche die positiven Religionen in ihrem Dasein rechtfertigt. – Zu Lessings Polemik gegen jedwede, besonders die Moral betreffende christliche Überlegenheitskonstruktion gerade auch in der Aufklärungstheologie s. exemplarisch seine Auseinandersetzung mit Johann Andreas Cramer (v.a. 49. Literaturbrief, in: B 4, 602–609) sowie die beiden frühen Lustspiele Die Juden (in: B1, 447–488) und Der Freigeist (in: B 1, 361–445), wo in einem frühen Entwurf (aus dem Jahre 1748?) über die Rolle des Adrast zu lesen ist: „Adrast. ohne Religion, aber voller tugendhafter Gesinnungen“ (B1, 348,3f.). 61   Zur Begriffstrias „einfach, leicht und lebendig“ s. unsere Ausführungen zum Herrnhuter-Essay (Kap. I. 2.2.2).

V. Zur soziologischen Notwendigkeit der positiven Religionen

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nante Formulierung Arno Schilsons aufzunehmen62 – das (die Aufklärungsphilosophie insgesamt bestimmende) „abstrakt-ungeschichtliche[] Denken unter der Vorherrschaft reiner Rationalität […] relativiert und durchbrochen von der konkreten Wirklichkeit und Erfahrung der Geschichte“. Vom Ausgangspunkt unseres Weges aus betrachtet, scheint sich der entscheidende Fortschritt des Entstehungs-Fragments also in der Erkenntnis zu verdichten, dass der einzelne in seiner Individualität mehr ist als die bloße Verkörperung einer allgemeinen, ungeschichtlichen Natur – wobei solche Akzentuierung freilich auch Konsequenzen für Lessings ‚aufgeklärte‘ Vernunftkonzeption impliziert. In diesem Sinne wird die Raum und Zeit transzendierende, universale und objektive Vernunft in ihrer abstrakten Einheit und Einzigkeit durch historische Kontingenz und Individualität wenigstens graduell gebrochen.63 Mit Blick auf die Religion als eine dem Menschen wesentliche und zudem vernünftige Angelegenheit64 bedeutet dies primär, die im Frühwerk noch leitende Utopie einer geschichtslosen Realisierung der natürlichen Religion im Sinne einer universalen Menschheitsreligion aufzugeben. Damit stellt sich dann allerdings zugleich die Aufgabe, die Vielgestaltigkeit von Religion nun auch in ihrer historischen Notwendigkeit (und eben nicht mehr bloß als einen in Willkür und Unvernunft gründenden, degenerativen Prozess) zu erklären.65 Lessing löst diese Aufgabe, indem er die natürliche Religion (oder besser: ihren Begriff) in die Idealität versetzt, um sodann die historisch beschreibbare Ausbildung einer Vielzahl an positiven Religionen vermittels des Aufweises ihrer soziologischen Notwendigkeit zu begründen.66 Kurzum: Es gelingt Lessing, die faktische Vielgestaltigkeit der Religion im Rahmen einer deduktiven Argumentation rational zu begründen und so den religionsgeschichtlichen Prozess auf die ihm inhärente Vernünftigkeit hin transparent zu machen.67 – Allein es bleibt die positive Religion in ihrer 62

 S. obiges Zitat bei Anm. 38.   Der Vergleich mit Georg Friedrich Meiers Betrachtungen hat indes gezeigt, dass solche Relativierung nicht im Sinne einer (radikalen) Subjektivierung oder Individualisierung der Vernunft begriffen werden darf. Vielmehr bleibt für Lessing die Vernunft in ihrer universalen, über-individuellen Geltung bestehen. Indem die Menschen als individuelle Vernunftwesen aber in je unterschiedlichem Maße an ihr partizipieren und die eine Vernunft so auf die Geschichte hin bezogen wird, wird sie in ihrer abstrakten Einheit zugleich relativiert. 64   Verwiesen sei hier noch einmal auf die schöpfungstheologische Begründung menschlicher Religiosität zu Beginn des Fragments. 65   Vgl. in unseren Ausführungen zum Herrnhuter-Essay gerade auch die dort aufgewiesenen Strukturanalogien zwischen Lessings früher Religionsauffassung und der im englischen Deismus (s.o. Kap. I. 2.2.2 u. Exkurs 1). 66   Anstatt die religiöse Wirklichkeit zu verurteilen, sucht Lessing sie nun zu erklären (vgl. Pons 1980, 397). 67   Insofern muss solchen Deutungen, wonach Lessings Religionskritik erst im Entstehungs-Fragment bzw. in der Breslauer Zeit ihren radikalsten Ausdruck erreicht haben soll, widersprochen werden. – Im kritisierten Sinne verfahren etwa Hebler 1862, 36f.; Schmidt 1909 (Bd. 1), 459; Nisbet 2008, 397. – Wirklich radikale Religionskritik (zumindest der positiven Religionen) übt Lessing vielmehr in seinem religionsphilosophischen Erstlingswerk, 63

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Erster Teil: Wanderjahre

Beurteilung ambivalent. Wenn nämlich, wie das Verhältnis von natürlicher und positiver Religion, von Ideal und historischer Wirklichkeit zeigt, „die Verwirklichung des Idealbildes in der Geschichte prinzipiell nur gebrochen möglich erscheint“68, hinsichtlich der Religionsgeschichte also die positiven Religionen sich als bloße Schatten des einen, allein wahren (außergeschichtlichen) Ideals der natürlichen Religion darstellen, so bleibt die Geschichte – ihrer rationalen Erklärbarkeit zum Trotz – eine letztlich defizitäre Erscheinung. Dies kann freilich das letzte Wort nicht sein bei einem Denker, der schon bald damit beginnen wird, „Geschichte im hermeneutischen Horizont der Vorsehung und ihres weisen und guten Geschichtsplanes in seinen notwendigen Zusammenhängen“ zu betrachten.69 – Wir ahnen bereits hier: Es muss die Religion als eine der fundamentalen geschichtlichen Erscheinungen im Rahmen dieses „weisen und guten Geschichtsplanes“ eine rühmlichere Rolle spielen können als die eines Schattens im Lichte einer Idee.

dem Herrnhuter-Essay. Kommen dort die positiven Religionen ausschließlich unter dem Aspekt des Verfalls bzw. der (vernunftlosen) Willkür in den Blick, kann Lessing hier, und zwar in begründeter, reflektierter Weise, von einer ‚inneren Wahrheit‘ derselben sprechen (gegen Hebler, der hinsichtlich Lessings eine Entwicklung vom „Herrnhuterfreund“ über den „speculativen Theologen“ zum „Freidenker“ meint feststellen zu können; vgl. Hebler 1862, 36). 68   Schilson 1974, 68. 69   Vgl. hierzu Schilsons luzide Ausführungen zu Lessings Geschichtsauffassung in der Hamburgischen Dramaturgie (1767–1769) (aaO., 72–82; das Zitat findet sich aaO., 79).

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Zweiter Teil:

Kurskorrektur

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Doch ich besorge es nicht erst seit gestern, daß, indem ich gewisse Vorurteile weggeworfen, ich ein wenig zu viel mit weggeworfen habe, was ich werde wiederholen müssen. Daß ich es zum Teil nicht schon getan, daran hat mich nur die Furcht verhindert, nach und nach den ganzen Unrat wieder in das Haus zu schleppen. Es ist unendlich schwer, zu wissen, wenn und wo man bleiben soll, und Tausenden für einen ist das Ziel ihres Nachdenkens die Stelle, wo sie des Nachdenkens müde geworden. (G. E. Lessing an Moses Mendelssohn, 1771)

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VI. Die Suffizienzthese in der Krise Nach Jahren v.a. der ästhetischen Beschäftigung1 sowie dem ambitionierten (indes erfolglosen) Versuch, gegen die kulturelle französische Dominanz in Hamburg ein bürgerliches, deutsches Nationaltheater zu etablieren 2, erhält Lessing – infolge eines gescheiterten Verlagsprojekts hoch verschuldet 3 – im Oktober 1769 ein Angebot, das mindestens sein berufliches Vagabundendasein zu beenden verspricht: die Leitung der europaweit bekannten und mit zahlreichen Bücherschätzen fürstlich bestückten Herzog August Bibliothek in Wolfenbüttel zu übernehmen. Einst hatte kein Geringerer als Gottfried Wilhelm Leibniz dieses 1   Hier ist insbesondere Lessings kunsttheoretisches Hauptwerk Laokoon: oder über die Grenzen der Malerei und Poesie aus dem Jahre 1766 zu nennen (in: B 5/2, 9–206). 2   Dokumentiert findet sich dieses Projekt in Lessings Hamburgischer Dramaturgie aus den Jahren 1767–1769 (in: B 6, 181–694). Im Rahmen seiner abschließenden Rezensionen heißt es dort (entsprechend resigniert): „Über den gutherzigen Einfall, den Deutschen ein Nationaltheater zu verschaffen, da wir Deutsche noch keine Nation sind! Ich rede nicht von der politischen Verfassung, sondern bloß von dem sittlichen Charakter. Fast sollte man sagen, dieser sei: keinen eigenen haben zu wollen. Wir sind noch immer die geschwornen Nachahmer alles Ausländischen, besonders noch immer die untertänigen Bewunderer der nie genug bewunderten Franzosen; alles was uns von jenseits dem Rheine kömmt, ist schön, reizend, allerliebst, göttlich; lieber verleugnen wir Gesicht und Gehör, als daß wir es anders finden sollten; lieber wollen wir Plumpheit für Ungezwungenheit, Frechheit für Grazie, Grimasse für Ausdruck, ein Geklingle von Reimen für Poesie, Geheule für Musik, uns einreden lassen, als im geringsten an der Superiorität zweifeln, welche dieses liebenswürdige Volk, dieses erste Volk in der Welt, wie es sich selbst sehr bescheiden zu nennen pflegt, in allem, was gut und schön und erhaben und anständig ist, von dem gerechten Schicksale zu seinem Anteile erhalten hat. – / Doch dieser Locus communis ist so abgedroschen, und die nähere Anwendung desselben könnte leicht so bitter werden, daß ich lieber davon abbreche“ (B 6, 684,26–685,11). 3   Bei ihrem gemeinschaftlich ins Auge gefassten Hamburger Unternehmen, in Personal­ union sowohl Druck als auch Verlag literarischer Werke zu organisieren, ging es Johann Joachim Christoph Bode (1731–1793) und Lessing darum, „die besten und angesehensten deutschen Schriftsteller zu gewinnen und ihre Werke in einer Deutsches Museum betitelten Buchreihe zu veröffentlichen, in der jedes Jahr mehrere Bände erscheinen sollten“. Lessing, der dadurch finanzielle Unabhängigkeit zu erlangen hoffte, investierte sein ganzes Vermögen in das Projekt. Obwohl Autoren wie Klopstock, Herder und Goethe dem Unternehmen einzelne ihrer Werke zur Veröffentlichung überließen, sollte es Bode und Lessing (wohl nicht zuletzt aufgrund mangelnden Geschäftssinns und fehlender Ausdauer) nicht gelingen, ihr Unternehmen zum Erfolg zu führen – „und weit davon entfernt, finanziell unabhängig zu werden, sah Lessing sich tief verschuldet, so daß er Geld leihen und den Rest seiner Bibliothek verkaufen mußte, um sich über Wasser zu halten“ (Nisbet 2008, 500; zum Unternehmen insgesamt sowie den komplizierten Gründen seines Misserfolgs vgl. aaO., 497–505).

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Zweiter Teil: Kurskorrektur

Amt inne; und nun ist es Lessing, der am 7. Mai 1770 offiziell darin eingeführt wird.4 Freilich: Die Veränderung von Hamburg in die Wolfenbüttelsche Einsamkeit ist gewaltig5, doch genießt Lessing als Bibliothekar die privilegierte Freiheit, seinen eigenen gelehrten Interessen nachzugehen. Entsprechend euphorisch heißt es in einem Brief vom 27. Juli 1770 – Lessings letztem Brief an seinen Vater: Die Stelle selbst ist so, als ob sie von je her für mich gemacht wäre […] Das allerbeste aber dabei ist die Bibliothek, die Ihnen schon dem Ruhme nach bekannt sein muß, die ich aber noch weit vortrefflicher gefunden habe, als ich mir sie jemals eingebildet hätte. […] Eigentliche Amtsgeschäfte habe ich dabei keine andere, als die ich mir selbst machen will. Ich darf mich rühmen, daß der Erbprinz mehr darauf gesehen, daß ich die Biblio­thek, als daß die Bibliothek mich nutzen soll. Gewiß werde ich beides zu verbinden suchen: oder eigentlich zu reden, folget schon eines aus dem andern. 6 4   Zur ausführlichen biographischen Beschreibung vgl. die entsprechenden Kapitel X, XII und XIV in Nisbet 2008, 399–440.472–510.555–599; vgl. ferner Vollhardt 2018, 267f. 5   An Friedrich Nicolai schreibt Lessing in einem Brief vom 17. Mai 1770: „Ich wohne in einem großen verlassenen Schlosse ganz allein: und der Abfall von dem Zirkel, in welchem ich in Hamburg herumschwärmte, auf meine gegenwärtige Einsamkeit ist groß, und würde jedem unerträglich sein, der nicht alle Veränderung von Schwarz in Weiß so sehr liebt als ich“ (Brief Nr. 551 [An Friedrich Nicolai; 17. Mai 1770], in: B 11/2, 11ff. Hier: 12,9–13). 6   Brief Nr. 568 (An Johann Gottfried Lessing; 27. Jul. 1770), in: B 11/2, 31ff. Hier: 32,1– 22. – Zu Lessings besonderer Eignung für das Amt des Bibliothekars sowie zu seinen grundlegenden Verdiensten in diesem Amt vgl. Nisbet 2008, 603–609. Dass freilich auch die im Briefzitat angeklungene Euphorie episodisch bleiben muss; dass Lessing „fortschreitend desillusioniert und bitter über die Lage [wird], in die er sich begeben hat“ (Bohnen 2000, 585), ist angesichts seiner depressiven Disposition sowie der ihn in Wolfenbüttel haltenden „Zwänge“ (vgl. aaO., 585f.) nicht weiter verwunderlich. Wie sehr er unter der Situation leidet, zeigt etwa ein Brief seiner Verlobten Eva König vom 23. 12. 1773; dort heißt es (Brief Nr. 951 [Von Eva König; 23. Dec. 1773], in: B 11/2, 605ff. Hier: 606,1–10): „Sie können nicht glauben, wie nahe es mir geht, daß ich mir Sie nicht anders, als in einer so traurigen Gemütsverfassung vorstellen kann, die mich fast zweifeln macht, daß Sie so gesund sind, als Sie es sich einbilden. Es ist unartig, daß ich Ihnen dieses sage; allein die Furcht, Sie möchten sich verwahrlosen, bringt mich dazu. Unmöglich können Sie gesund sein, sonst würden Sie Lust und Kräfte haben, dem aufgebrachten Wesen (das in jeder Zeile Ihres Briefes sich äußert) zu widerstehen.“ – Die von Lessing einerseits so geschätzte Freiheit von ‚eigentlichen Amtsgeschäften‘, die (negativ ausgedrückt) ja eine „recht unbestimmte Abgrenzung seiner Arbeitsaufgaben“ bedeutet, könnte nach Bohnen mit dafür verantwortlich zeichnen, dass auch die tägliche Arbeit in der Bibliothek Lessing „fortschreitend zu ermüden“ scheint (vgl. Bohnen 2000, 589). In einem Brief vom 6. 6. 1771 beklagt Lessing seine zunehmende Abstumpfung (Brief Nr. 694 [An Johann Wilhelm Ludwig Gleim; 6. Jun. 1771], in: B 11/2, 209f. Hier: 210,3–13): „Elise [sc. Gleims Alexis und Elise. Drey Gesänge] hat mir sehr wohl gefallen; und würde mir ohne Zweifel noch mehr gefallen haben, wenn meine Empfindungen itzt nicht so selten mit dem Tone solcher Gedichte gleich gestimmet wären. Der Bücherstaub fällt immer mehr und mehr auf meine Nerven, und bald werden sie gewisser feinen Schwingungen ganz und gar nicht mehr fähig sein. Aber was ich nicht mehr fühle, werde ich, ehemals gefühlt zu haben, doch nie vergessen. Ich werde, weil ich stumpf geworden, nie gegen diejenigen ungerecht werden, die es noch nicht sind: ich werde keinen Sinn verachten, weil ich ihn unglücklicher Weise verloren habe.“ – Zu Lessings ambivalentem Verhältnis zu seinen Bibliothekarsauf-

VI. Die Suffizienzthese in der Krise

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1. Berengarius Turonensis (1770) oder Lessings (vermeintliche?) Wendung zur Orthodoxie Kaum an seiner neuen Wirkungsstätte angelangt, macht Lessing gleich zu Beginn einen sensationellen Fund, wobei er sich darum bemüht, die Zufälligkeit desselben zu betonen: Aber Sie [sc. Konrad Arnold Schmid (s.u.) als fingierter Adressat des Berengarius Turonensis] wollen wissen, wie ich zu dieser Entdeckung gekommen? und wie es möglich gewesen, daß sie mir aufbehalten bleiben können? Auf den ersten Punkt antworte ich Ihnen, daß es, genau zu reden, keine Entdeckung, sondern, wie ich es schon genannt habe, ein Fund ist. Man entdeckt, was man sucht: man findet, woran man nicht denkt.[7] Ich war dabei, mir, meiner itzigen Bestimmung gemäß, die Manuscripte der Bibliothek näher bekannt zu machen, als es aus den bloßen Verzeichnissen geschehen kann. Ich hatte meine Ursachen, warum ich mit den sogenannten Weissenburgischen[8] […] anfangen wollte. In dem festen Vorsatze, Stück nach Stück vor die Hand zu nehmen, und keines eher wieder wegzulegen, als bis ich mir eine hinlängliche Idee davon gemacht, traf ich gleich Anfangs auf einen Band, der von außen „Tractatus de Coena Domini et Transsubstantiatione“ neuerlich beschrieben gaben vgl. Brief Nr. 906 (An Karl Lessing; 8. Apr. 1773), in: B 11/2, 538ff. – Hinsichtlich der Jahre 1770 bis 1773 resümiert Bohnen: „Die Lebenslage Lessings in dieser frühen Wolfenbütteler Zeit gleicht einer Krankengeschichte, die ihm selbst ‚unerklärlich‘ bleibt, die aber vor allem deutlich macht, daß die von ihm gepriesene ‚Veränderung‘ als Lebensstimulans diesmal seiner psychischen Verfassung nicht förderlich gewesen ist“ (Bohnen 2000, 591). Noch einmal – abschließend – Lessing: „Mir aber ist itzt nicht selten das ganze Leben so ekel – so ekel! Ich verträume meine Tage mehr, als daß ich sie verlebe. Eine anhaltende Arbeit, die mich abmattet, ohne mich zu vergnügen; ein Aufenthalt, der mir durch den gänzlichen Mangel alles Umganges – (denn den Umgang, welchen ich haben könnte, den mag ich nicht haben) – unerträglich wird; eine Aussicht in das ewige, liebe Einerlei – das alles sind Dinge, die einen so nachteiligen Einfluß auf meine Seele, und von der auf meinen Körper haben, daß ich nicht weiß, ob ich krank oder gesund bin. Wer mich sieht, der macht mir ein Kompliment wegen meines gesunden Aussehens: und ich möchte dieses Kompliment lieber immer mit einer Ohrfeige beantworten. Denn was hilft es, daß ich noch so gesund aussehe, wenn ich mich zu allen Verrichtungen eines gesunden Menschen unfähig fühle? Kaum, daß ich noch die Feder führen kann; wie Sie wohl selbst aus dem unleserlichen Briefe sehen werden, den ich mehr wie fünfmal abbrechen müssen“ (Brief Nr. 849 [An Eva König; 27. Jun. 1772], in: B 11/2, 436–441. Hier: 437,19–36). Ja: Wäre Lessing „noch der alte Sperling auf dem Dache […], ich wäre schon hundertmal wieder fort“ (Brief Nr. 885 [An Eva König; 8. Jan. 1773], in: B 11/2, 494–497. Hier: 495,10ff.). 7   Hierzu merkt Hans Liepmann treffend an, dass zum ‚Finden‘ als einem „zufällige[n] in die Hand Bekommen […] dann allerdings noch, was Lessing bescheiden verschweigt, das Erkennen kommen muß, um den Fund perfekt zu machen“ (Liepmann 1931, 89). Nisbet sieht denn auch in der Bekanntmachung und Interpretation verborgen gebliebener oder vergessener Werke die „eigentliche[] Leistung“ Lessings in seiner Funktion als Bibliothekar (vgl. Nisbet 2008, 609). 8   Im Stellenkommentar heißt es hierzu: „Aus dem Kloster Weißenburg im Elsaß in die Herzog August Bibliothek von Wolfenbüttel gelangte Handschriften-Sammlung mit bedeutenden Werken vornehmlich aus dem frühen Mittelalter“ (Bohnen 2000, 653).

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Zweiter Teil: Kurskorrektur

war. Ungefehr die nemliche Aufschrift, „de Coena Domini praesertim de Transsub­ stantiatione“, hatte eine andere etwas ältere Hand innerhalb, auf den untersten Rand des ersten Blattes gesetzt.9

Freilich ist die Zufälligkeit dieses Fundes mindestens eine bedingte Zufälligkeit, angeregt durch den Austausch mit Konrad Arnold Schmid (1716–1789), Professor der Theologie und römischen Literatur am Braunschweiger Collegium Carolinum; von ihm jedenfalls erhielt Lessings Neugierde – so das eigene Bekunden – „ihre erste Richtung“.10 Kurzum: Lessings erste Tat im neuen Amte war die „Ankündigung eines wichtigen Werkes“ Berengars von Tours (ca. 1000– 1088)11, „wovon in der Herzoglichen Bibliothek zu Wolfenbüttel ein Manuscript befindlich, welches bisher völlig unerkannt geblieben“ (so der Untertitel des 1770 erschienenen Berengarius Turonensis).12 Mit seiner in Briefform13 abgefassten Berengariusschrift unternimmt Lessing – wieder einmal – die Rettung eines zu Unrecht verketzerten Gelehrten.14 Am Anfang dieser Geschichte stehen die Einwendungen Berengars gegen eine Abendmahlsauffassung, die sich erst im Zuge (sowie in der Folge) des zwischen ihm und Lanfranc (ca. 1010–1089) ausgefochtenen Abendmahlsstreits zu der Vorstellung einer Transsubstantiation verdichtete.15 Ohne auf die Einzelheiten des Textes näher eingehen zu wollen, sei wenigstens so viel verraten, dass Lessing den seit Jahrhunderten verfemten Ketzer Berengar von Tours unter den Verkrustungen einer Geschichtsschreibung herauszupräparieren sucht, die bis dato v.a. durch die Perspektive seines prominenten Gegners Lanfranc (ab 1070 Erzbischof von Canterbury) und somit sehr einseitig dominiert wurde. Solcher

 9

  B 7, 26,20–27,17 (Hervorh. i. O.).   Vgl. B 7, 11,2–14 („Vorrede“). 11   Berengar von Tours (ca. 1000–1088), Studium bei Fulbert in Chartres; später Leiter und Kanzler der Schule von Tours, Ratgeber des Grafen von Anjou und Archidiakon von Angers. Kirchengeschichtlich bedeutsam aufgrund seines Abendmahlstreits mit Lanfranc (vgl. Rieger 1998). 12   G. E. Lessing, Berengarius Turonensis: oder Ankündigung eines wichtigen Werkes desselben, wovon in der Herzoglichen Bibliothek zu Wolfenbüttel ein Manuscript befindlich, welches bisher völlig unerkannt geblieben (1770), in: B 7, 9–126. – Vgl. Bohnen 2000, 600f. 13   Zur (augenzwinkernden) Begründung dieser Form s. B 7, 11,15–12,20 („Vorrede“). 14   Eine Einordnung des Berengarius im Horizont der Rettungen findet sich bereits bei Danzel/Guhrauer 1881, 277 und gleichfalls – in neuester Zeit – z.B. bei Volker Leppin (vgl. Leppin 2011, 89); vgl. ferner die ebd. Anm. 6 gegebenen Literaturhinweise. – Zu den Rettungen überhaupt (zu ihrer Strategie und Intention sowie zur Gattungsfrage) s. die entsprechenden Ausführungen o. in Kap. I. 1.1. 15   Bei dem Abendmahlsstreit zwischen Berengar und Lanfranc handelt es sich um „den zweiten Abendmahlsstreit des 11. Jahrhunderts, der wiederum auf den ersten Abendmahlsstreit des 9. Jahrhunderts zurückgriff“ (Leppin 2011, 89). Zum sog. ersten Abendmahlsstreit zwischen Paschasius Radbertus (ca. 790–859) und Ratramnus (gest. um 870) vgl. aaO., 91f. – Die Dogmatisierung der Transsubstantiationslehre wurde allerdings erst im Jahre 1215 durch das vierte Laterankonzil vollzogen (vgl. aaO., 92). 10

VI. Die Suffizienzthese in der Krise

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geschichtsverbildenden Tyrannei16 also trachtet Lessing seinen Berengar zu entreißen, indem er ihn selbst (und eben nicht mehr nur seine Verurteiler) zu Wort kommen lässt. Denn was viele nicht einmal für existent gehalten, hält er, der Finder, siegesgewiss in Händen. In inszenierter Atemlosigkeit schreibt er: Was meinen Sie [sc. K. A. Schmid, s.o.], wenn ich Ihnen sage, daß ein Werk des Berengarius, ein umständliches, ausführliches Werk, welches allem Ansehen nach sein wichtigstes Werk gewesen ist; daß so ein Werk, dessen kein Mensch gedenket, von dessen Wirklichkeit sich niemand träumen lassen; daß so ein Werk, von dem solcher Dinge sonst sehr kundige Männer so gar behaupten, daß es nie existieret habe, auf dessen Nichtsein eben diese Männer ganze Gebäude von frommen Vermutungen und Lügen aufführen: was meinen Sie, wenn ich Ihnen sage, daß ein solches Werk noch vorhanden, daß es hier bei Uns, unter den ungedruckten Schätzen der hiesigen Fürstlichen Bibliothek vorhanden?17

Bei dem vermeintlich inexistenten Werk handelt es sich um nichts Geringeres als die wider Lanfranc gerichtete Gegenschrift Berengars von Tours.18 Dank dieses Fundes sowie Lessings Versiertheit auf philologischem und historischem Gebiet gelingt es ihm im weiteren Verfolg seiner Abhandlung, die Geschichte des vermeintlichen Ketzers noch einmal neu zu erzählen: 16

  Lessing selbst spricht von ‚parteiischer Verkleidung der historischen Wahrheit‘ (B 7, 33,21). 17   B 7, 24,3–14. – Die Dynamik von Lessings „Anregungsbereitschaft“ weiß Liepmann in schönem Stil zu schildern: „Mit dem Augenblick der Gewißheit, daß er es [im gefundenen Manuskript] mit einem Briefe Berengars zu tun habe, wird der Entschluß zusammengefallen sein, den Fund selbst ankündigen zu wollen. Der Geist war durch das Dunkel der Überlieferung, das Temperament durch die Möglichkeit der Ketzerrettung ebenso wie durch die plötzliche Folge der Anregungen und die Entdeckerfreude gefesselt“ (Liepmann 1931, 100f.). 18   „Aber haben Sie [K. A. Schmid, s.o.] wohl jemals gehöret, oder irgendwo gelesen, daß Berengarius gleichwohl auf dieses niederdonnernde, triumphierende Werk [des Lanfranc] geantwortet hat? / Gewiß das haben Sie nicht. Vielmehr werden Sie sich erinnern, gerade das Gegenteil davon gelesen zu haben. Insbesondere behaupten die Benediktiner [= die Mauriner, s.u.], welche die Gelehrtengeschichte von Frankreich schreiben, ausdrücklich, daß Berengarius die Widerlegung des Lanfrancus ohne Antwort gelassen; ja sie nehmen an, daß die Vorsehung sich eben dieser Widerlegung bedient habe, dem unglücklichen Scholastiker die Augen zu öffnen und das Herz zu rühren; kurz, sie schreiben dem Buche des Lanfrancus die Bekehrung des Berengarius ganz sicherlich zu. / […] eben das Manuscript, welches ich Ihnen ankündige, ist die Antwort des Berengarius auf jene unwiderlegte und unwiderlegliche Schrift seines Lanfrancus! – Und nun wird es Ihnen doch bald wahrscheinlich werden, daß ich nicht zu viel Aufhebens davon gemacht habe?“ (B 7, 25,16–26,19; Hervorh. i. O.). Die Benediktiner in ihrer eigentlich ungegründeten, ja erlogenen ‚Zuversicht‘ „unwiederbringlich abzuweisen“, ist demnach mindestens eine Absicht, die Lessing mit seiner „Ankündigung“ verfolgt (vgl. B 7, 33,13–22): „Er [sc. der Benediktiner] wird schwerlich noch behaupten wollen, daß Beren­ garius die Schrift des Lanfrancus ohne Antwort gelassen: denn hier ist die Antwort. Er wird schwerlich uns noch bereden wollen, daß Berengarius durch die Schrift des Lanfrancus bekehret worden: denn die Antwort des Berengarius enthält so wenig eine Billigung seines Gegners, daß dieser Gegner vielmehr darin so eingetrieben wird, daß allem Ansehen nach nicht Lanfrancus, sondern Berengarius das letzte Wort behalten. Doch, das letzte Wort! Als ob nur der immer Recht hätte, der das letzte Wort behält“ (B 7, 50,34–51,6).

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Zweiter Teil: Kurskorrektur

Aus der Geschichte vom hartnäckigen Ketzer Berengar und seinem aufrechten Gegner Lanfrank wird die Erzählung vom aufrechten Wahrheitssucher Berengar und dem charakterlosen Papst [sc. Gregor VII] samt einem Lanfrank, der am Ende die Geschichte zu seinen Gunsten zurechtbiegt und dadurch als Heuchler und Lügner erscheint.19

Freilich zielt auch diese Rettung nicht allein darauf ab, das Unwesen Lanfrancs (bzw. die Integrität Berengars) ans Licht zu bringen. Es ist Lessing vielmehr auch – und zugleich und vor allem – darum zu tun, die Philologie der Mauriner, jener auf dem Felde der Kirchengeschichte so eifrigen benediktinischen Reformkongregation 20, als durchaus interessegeleitet aufzuzeigen: In ‚philologisch-kühler‘ Manier legt er bloß, wie gerade sie „einer Hagiographisierungstendenz zugunsten Lanfranks“ unterliegt, „zu deren Opfer neuerlich Berengar wird“.21 Lessings Sensationsfund schlägt also – wieder einmal – „in die Theologische Gelehrsamkeit“ ein 22 und führt seinen Finder in die noch unergründeten Tiefen des zwischen Lanfranc und Berengar ausgefochtenen Abendmahlsstreits hinein. Angesichts des im Herrnhuter-Essay einst so scharf formulierten Scheltwortes, es sei im reformatorischen Abendmahlsstreit zwischen Luther und Zwingli lediglich um „Worte“, um „ein Nichts“ gegangen 23, lässt es durchaus aufmerken, dass Lessings Neugierde nun – zwanzig Jahre später – ausgerechnet in diese Richtung getrieben wird.24 Entsprechend kontrovers fallen denn auch die Reaktionen seiner Zeitgenossen aus.25 Auf der einen Seite werden Unverständnis und Befremden über das Sujet seiner Abhandlung26 sowie die Sorge 19

  Leppin 2011, 99.   Vgl. Faust 2002. 21   Leppin 2011, 95f. – D.h. in seinem philologischen Feldzug gegen die Mauriner geht es Lessing „nicht nur um das Rechthaben, sondern auch um den Aufweis, wo, inwiefern und vor allem: warum die Gegner geirrt beziehungsweise gefälscht haben“ (aaO., 96). – Zum Abschnitt insgesamt vgl. aaO., 89–99. 22   Brief Nr. 568 (An Johann Gottfried Lessing; 27. Jul. 1770), in: B 11/2, 31ff. Hier: 32,25f. – Dazu Bohnen: „Nach antiquarischen, poetischen und dramaturgischen ‚Abschweifungen‘ sieht sich Lessing zu Beginn seiner Wolfenbütteler Zeit wieder auf einen Pfad zurückgeführt, den er nur wenige Jahre zuvor verlassen hat. Der Bibliothekar verbindet sich in scheinbar zufälligem Spiel mit dem ‚Liebhaber der Theologie‘ […]“. So bildet der Berengarius gewissermaßen die Ouvertüre zu Lessings letztem Lebensjahrzehnt, welches tief geprägt ist von seinen theologischen Streitschriften (vgl. Bohnen 2000, 605f.). 23   B 1, 941,11 (Gedanken über die Herrnhuter, vgl. o. Kap. I. 2.2.2). 24   Dieser Hinweis findet sich auch bei Leppin 2011, 88. – Erich Schmidts Erklärung, Lessings „persönliche[r] Reiz“, sich der Abendmahlsfrage zu widmen, bestehe darin, „dem armen absterbenden Alten in Kamenz, der des Sohnes früheren Schriften nur mit geringem Interesse hatte folgen können, eine willkommene dogmengeschichtliche Bescherung zu machen“ (Schmidt 1909 [Bd. 2], 181), scheint, wie wir im Verfolg dieses Kapitels noch zeigen werden, indes deutlich zu kurz zu greifen. 25   Einen Überblick zur Rezeption des Berengarius Turonensis bietet Bohnen 2000, 618– 641. Die folgenden Ausführungen sind hieran orientiert. 26   Vgl. Brief Nr. 597 (Von Karl Lessing; 15. Oct. 1770), in: B 11/2, 73f.; Brief Nr. 654 (Von Friedrich Nicolai; 12. Febr. 1771), in: B11/2, 158f. 20

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laut, Lessing verschwende sein schriftstellerisches, auf dem Feld der Ästhetik und Dramatik so glückliches Genie an Gegenstände, die demselben unwürdig (oder wenigstens nicht angemessen) seien 27, ja er provoziere gar ein Gefecht mit Gegnern, die er besser meiden sollte.28 Dem widerspricht auf der anderen Seite die unverhohlene Freude darüber, dass Lessing „so für die Wahrheit gestritten“ und nun also – offenkundig – „doch für die Religion arbeiten“ würde – „(selten bei einem solchen Genie!)“.29 Ja gerade dass es Lessing ist, dieser bewunderungswürdig ‚fleißige‘ und ‚sorgfältige‘ Mann, der es wie kaum ein anderer verstehe, selbst „trokene Materien“ auf so „angenehme und unterhaltende Art“ zu behandeln – dass also er es ist, der sich eben dieses Gegenstandes angenommen, gerade dies wird als „Glük“ empfunden.30 Kurzum: Während auf orthodoxer (oder auch gemäßigt orthodoxer) Seite die Hoffnung aufflackert, man könne Lessing nun als einen der Seinen begrüßen, befürchten „die Berlinischen Theologen, die keine Orthodoxen sind“, sie müssten Lessings Berengarius als Zeichen seines Abfalls deuten: „Sie wollen gesunde Vernunft in ihr System hinein haben; und nun kömmst Du, Schadenfroh, und verdirbst ihnen eine Arbeit von so vielen Jahren.“31 Und Lessing selbst? Was weiß er davon zu sagen? – Seine Äußerungen bleiben auffallend ungreifbar.32 Er kann beides: seine Arbeit am Berengarius als eine ‚törichte‘33, (mehr oder weniger lästige) bibliothekarische Pflichtübung he27   Vgl. Brief Nr. 600 (Von Karl Lessing; – Oct. 1770), in: B 11/2, 77f. – Bei aller Bewunderung für Lessings Schreibstil („Mit dem größesten Vergnügen, mein teuerster Freund, hab’ ich Ihren Berengarius aus den Händen unsers weisen Mendelsohns [sic!] empfangen, gelesen, bewundert! Leßing, und schrieb’ er von der venerischen Krankheit, würde Leßing sein!“) drückt sich diese Sorge auch in Gleims Brief an Lessing aus (vgl. Brief Nr. 609 [Von Johann Wilhelm Ludwig Gleim; 10. Nov. 1770], in: B 11/2, 87f.); vgl. außerdem Brief Nr. 693 (Von Karl Lessing; 4. Jun. 1771), in: B 11/2, 207ff.; Brief Nr. 608 (Von Friedrich Nicolai; 10. Nov. 1770), in: B 11/2, 85ff. 28   Vgl. Brief Nr. 608 (Von Friedrich Nicolai; 10. Nov. 1770), in: B 11/2, 85ff. 29   Brief Nr. 621 (Von Johann Albert Heinrich Reimarus; Nov./Dec. 1770), in: B 11/2, 103– 106. Hier: 103,9f. 30   Vgl. die Berengarius-Rezension Christian Wilhelm Franz Walchs in den Göttingischen Anzeigen von Gelehrten Sachen (1770, Bd. 1, 150. Stück). – Walch (1726–1784), seit 1757 o. Professor der Theologie in Göttingen, betont gleich zu Beginn seiner Rezension den Wert der Lessingschen Publikation nicht allein für die Kirchengeschichte, sondern auch für „die dogmatische und polemische Theologie“ (aaO., 1313). – Auch der Leipziger Theologieprofessor Johann August Ernesti (1707–1781) findet in Lessings Berengarius „die größten theologischen Kenntnisse, und hat öffentlich erklärt, Dich [sc. Lessing] zum Doctor Theologiä machen zu wollen, wenn Du nach Leipzig kommst“ (Brief Nr. 693 [Von Karl Lessing; 4. Jun. 1771], in: B 11/2, 207ff. Hier: 208,9–12). 31  Brief Nr. 693 (Von Karl Lessing; 4. Jun. 1771), in: B 11/2, 207ff. Hier: 208,29–34. – Scherzhaft (und doch nicht ohne jeden Ernst) spricht selbst Nicolai Lessing als „orthodoxes sächsisches Priesterkind“ an (Brief Nr. 665 [Von Friedrich Nicolai; 8. Mrz. 1771], in: B 11/2, 172ff. Hier: 172,23f.). 32   Vgl. Bohnen 2000, 603f.; Nisbet 2008, 612. 33   Brief Nr. 605 (An Karl Lessing; 29. Oct. 1770), in: B 11/2, 84. Hier: 84,11.

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runterspielen34, bei deren Erfüllung nicht zuletzt finanzielle Erwägungen eine Rolle gespielt hätten35; und das unvergleichliche „Vergnügen“ betonen, das ihm eben diese Arbeit bereitet habe.36 Auch kann er ebenso vom „schale[n] Lob der Theologen“37 sprechen, wie es ihm an anderer Stelle gerade um dieses Lob zu tun zu sein scheint.38 – Spielt Lessing etwa nur ein Spiel? „Sie glauben nicht“, heißt es in einem Brief an seine spätere Gemahlin Eva König (1736–1778), in was für einen lieblichen Geruch von Rechtgläubigkeit ich mich dagegen bei unsern lutherischen Theologen gesetzt habe. Machen Sie sich nur gefaßt, mich für nichts geringeres, als für eine Stütze unserer Kirche ausgeschrieen zu hören. Ob mich das aber so recht kleiden möchte, und ob ich das gute Lob nicht bald wieder verlieren dürfte, das wird die Zeit lehren.39

Was will Lessing mit seinem Berengarius? 40 – Sein unverhoffter Fund fasziniert ihn wohl v.a. als ein Stück ‚Aufklärung im Mittelalter‘. Er entdeckt Aspekte41, die ihm „eine über die Geschichte hinweg greifende Gemeinsamkeit zwischen dem mittelalterlichen Wahrheitssucher und dem Aufklärer“42 konstruieren ­helfen: 34

  Vgl. Brief Nr. 594 (An Johann Jakob Reiske; 13. Oct. 1770), in: B 11/2, 68ff.   Vgl. Brief Nr. 605 (An Karl Lessing; 29. Oct. 1770), in: B 11/2, 84; Brief Nr. 610 (An Karl Lessing; 11. Nov. 1770), in: B 11/2, 88ff. 36   Brief Nr. 657 (An Friedrich Nicolai; 16. Feb. 1771), in: B 11/2, 162ff. Hier: 163,33–37. 37   Brief Nr. 699 (An Karl Lessing; 4. Jul. 1771), in: B 11/2, 218ff. Hier: 218,31. 38  So, wenn er seinem Vater gegenüber das Berengar-Manuskript anpreist als einen klaren Beweis, „daß Berengarius vollkommen den nachherigen Lehrbegriff Lutheri von dem Abendmahle gehabt hat, und keines Wegs einer Meinung davon gewesen, die der Reformierten ihrer beikäme“ (Brief Nr. 568 [An Johann Gottfried Lessing; 27. Jul. 1770], in: B 11/2, 31ff. Hier: 32,34–37). – Freilich wird es ihm hier auch um das Lob des Vaters gegangen sein (vgl. etwa Schmidt [s. obiges Zitat in Anm. 24] sowie Schneider 1953, 174f.). 39   Brief Nr. 602 (An Eva König; 25. Okt. 1770), in: B 11/2, 78–82. Hier: 81,7–14. – Für die Deutung des Lessingschen Eifers als eines Spiels scheint denn auch die amüsiert-interessierte Reaktion Eva Königs zu sprechen: „[…] vergnügt müssen Sie sein, da Sie eine Arbeit vollbracht, die, nach Ihrem Vorhergehenden, eben nicht die angenehmste Beschäftigung für Sie gewesen, und für die Sie doch jetzo mit Beifall belohnt werden, und noch dazu mit dem Beifall der Theologen. / Hätten Sie doch Ihren zwei bewunderungswürdigen Grafen ein Exemplar für mich mit gegeben! Niemals hätten Sie eine größere Neugierde gestillt; denn der Sie kennt, sollte der nicht neugierig sein, etwas Geistliches von Ihnen zu lesen?“ (Brief Nr. 611 [Von Eva König; 17. Nov. 1770], in: B 11/2, 90–93. Hier: 90,22–32). Vgl. auch die Einschätzung ­Christian Gottlob Heynes, Leiter der Göttinger Universitätsbibliothek, es müsse Lessing „sehr kirr däuchten, sich von Orthodoxen gesegnet zu sehen“ (Brief Nr. 624 [Von Christian Gottlob Heyne; 9. Dec. 1770], in: B 11/2, 116f. Hier: 116,12f.). 40   Zu den teilweise wilden Spekulationen, die Beantwortung dieser Frage in der älteren Forschung betreffend, vgl. die zu Beginn der 1930er-Jahre geführte Auseinandersetzung bei Liepmann 1931, 90–99. 41   Hier muss wohl auch im Lessingschen Sinne von einer ‚Entdeckung‘ gesprochen werden, da er solche Aspekte nicht einfach findet, sondern gezielt danach sucht. – Zur Unterscheidung von ‚finden‘ und ‚entdecken‘ s. obiges Zitat bei Anm. 9. 42   Leppin 2011, 100. – Bereits Schmidt spricht von der Suche nach einem „Ahnherrn“ „in dem unbotmäßigen Berengar“ (Schmidt 1909 [Bd. 2], 182), Liepmann von einer ‚Rückpro35

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Das Ding, was man Ketzer nennt, hat eine sehr gute Seite. Es ist ein Mensch, der mit seinen eigenen Augen wenigstens sehen wollen. Die Frage ist nur, ob es gute Augen gewesen, mit welchen er selbst sehen wollen. Ja, in gewissen Jahrhunderten ist der Name Ketzer die größte Empfehlung, die von einem Gelehrten auf die Nachwelt gebracht werden können […] Daß Berengarius in einem solchen Jahrhunderte gelebt, das ist wohl unstreitig.43

Im Sinne solcher Umdeutung also bedeutet Verketzerung gleichsam eine Auszeichnung des Beschuldigten vor den ganz gemeinen Leuten, die mit halb offnen Augen, wie im Traume, ihren Weg so fortschlendern. Entweder weil sie nicht selbst denken können, oder aus Kleinmut nicht selbst denken zu dürfen vermeinen, oder aus Gemächlichkeit nicht wollen, halten sie fest an dem, was sie in ihrer Kindheit gelernt haben[.]44

Lessing entdeckt in Berengar einen Menschen, der – wie er – nach Wahrheit sucht und gegen das Vorurteil (besonders das der eigenen Kindheit) ganz im Sinne des Sapere aude! ankämpft – kompromisslos und ohne Rücksicht auf Verluste: Ich weiß nicht, ob es Pflicht ist, Glück und Leben der Wahrheit aufzuopfern; wenigstens sind Mut und Entschlossenheit, welche dazu gehören, keine Gaben, die wir uns selbst geben können. Aber das, weiß ich, ist Pflicht, wenn man Wahrheit lehren will, sie ganz, oder gar nicht, zu lehren; sie klar und rund, ohne Rätsel, ohne Zurückhaltung, ohne Mißtrauen in ihre Kraft und Nützlichkeit, zu lehren: und die Gaben, welche dazu erfordert werden, stehen in unserer Gewalt. Wer die nicht erwerben, oder, wenn er sie erworben, nicht brauchen will, der macht sich um den menschlichen Verstand nur schlecht verdient, wenn er grobe Irrtümer uns benimmt, die volle Wahrheit aber vorenthält, und mit einem Mitteldinge von Wahrheit und Lüge uns befriedigen will. Denn je gröber der Irrtum, desto kürzer und gerader der Weg zur Wahrheit: dahingegen der verfeinerte Irrtum uns auf ewig von der Wahrheit entfernt halten kann, je schwerer uns einleuchtet, daß er Irrtum ist.45

Es sind dieses Ethos und das leuchtturmartige Vorbild Berengars von Tours, die es Lessing regelrecht verbieten, jene von Lanfranc und den Benediktinern behauptete endliche und endgültige Bekehrung des ‚Ketzers‘ als Faktum hinzunehmen: jektion‘ des „Aufklärungsprinzip[s] […] in das Mittelalter“ (Liepmann 1931, 106), Schneider von Berengar als einem „Gesinnungsgenossen“ Lessings (Schneider 1953, 176); ähnlich auch Bohnen 2000, 606ff. 43   B 7, 15,9–19 (Hervorh. i. O.). 44   B 7, 14,28–15,2. 45   B 7, 23,1–17. – Die auffallend inklusive („wir“) und allgemeine („man“) Formulierung lässt die Grenzen zwischen den Epochen verschwimmen. – In diesem Sinne werten auch Danzel und Guhrauer das folgende von uns angeführte längere Zitat (bei Anm. 46) als „ein kostbares Selbstbekenntniß Lessings“ (Danzel/Guhrauer 1881, 281). Schmidts Urteil, Lessing spreche „hier nicht für einen Fall im Leben einer fernen historischen Persönlichkeit, sondern ganz allgemein und zugleich vernehmlich genug im eigenen Namen“ (Schmidt 1909 [Bd. 2], 183), scheint indes etwas zu ausschließlich formuliert.

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Die so genannte Bekehrung des Berengarius beruhet auf so unerheblichen Zeugnissen, und sie ist an und für sich selbst so unwahrscheinlich, so unbegreiflich, daß wenn sie auch auf ungleich gültigern Zeugnissen beruhte, ich mir dennoch die Freiheit nehmen würde, daran zu zweifeln. Ja, ein großer Teil meiner Beruhigung würde von diesem Zweifel abhangen. – Ein Mann, wie Berengarius, hätte die Wahrheit gesucht; hätte die gesuchte Wahrheit in einem Alter, in welchem sein Verstand alle ihm mögliche Reife haben mußte, zu finden geglaubt; hätte die gefundene Wahrheit mutig bekannt, und mit Gründen andere [sc. anderen Menschen] gelehret; wäre bei der bekannten und gelehrten Wahrheit, Trotz allen Gefahren, Trotz seiner eignen Furchtsamkeit vor diesen Gefahren, dreißig, vierzig Jahre beharret: und auf einmal, in eben dem Augenblicke, da unter allen erworbenen Schätzen, dem Menschen keine werter sein müssen, als die Schätze der Wahrheit, die einzigen, die er mit sich zu nehmen Hoffnung hat, – eben da, auf einmal, hätte seine ganze Seele so umgekehret werden können, daß Wahrheit für ihn Wahrheit zu sein aufhörte? – Wer mich dieses bereden könnte, der hätte mich zugleich beredet, allen Untersuchungen der Wahrheit von nun an zu entsagen. Denn wozu diese fruchtlosen Untersuchungen, wenn sich über die Vorurteile unserer ersten Erziehung doch kein dauerhafter Sieg erhalten läßt? wenn diese nie auszurotten, sondern höchstens nur in eine kürzere oder längere Flucht zu bringen sind, aus welcher sie wiederum auf uns zurück stürzen, eben wenn uns ein andrer Feind die Waffen entrissen oder unbrauchbar gemacht hat, deren wir uns ehedem gegen sie bedienten? Nein, nein; einen so grausamen Spott treibet der Schöpfer mit uns nicht. Wer daher in Bestreitung aller Arten von Vorurteilen niemals schüchtern, niemals laß zu werden wünschet, der besiege ja dieses Vorurteil zuerst, daß die Eindrücke unserer Kindheit nicht zu vernichten wären. Die Begriffe, die uns von Wahrheit und Unwahrheit in unsrer Kindheit beigebracht werden, sind gerade die allerflachsten, die sich am allerleichtesten durch selbst erworbene Begriffe auf ewig überstreichen lassen […] Ein Berengarius stirbt sicherlich, wie er lehrte; und so sterben sie alle, die eben so aufrichtig, eben so ernstlich lehren, als er.46

Berengar als „Aufklärer avant la lettre“ vs. Lanfranc als „Repräsentant [einer] autoritätsfixierten Normalgläubigkeit“47 – in seiner Rettung entwirft Lessing ein Historienbild, hinter dessen Detailtreue die Konturen seiner eigenen Zeit zum Vorschein kommen.48 46

  B 7, 33,23–35,1 (Hervorh. i. O.).   Leppin 2011, 99f. – Ähnlich Liepmann: „Hier [sc. in Lessings Berengarius] wird zum ersten Male mit aller Schärfe das Gegensatzpaar Autorität-Aufklärung gesehen“ (Liepmann 1931, 105); vgl. auch Bohnen 2000, 610f. sowie Nisbet 2008, 610f. 48   Dass Lessing in aufklärerischer Absicht seinen Berengarius primär an die eigene Zeit adressiert, wird in der Rezension in der Allgemeinen Deutschen Bibliothek feinfühlig wahrgenommen: „Anschwärzen kann man den Forscher der Wahrheit, ihn in den Ketzerkatalogus setzen, und bey des Weltlaufs unkundigen Leuten seinen Ruhm zerstöhren; aber ganz kann man seine Sache nie unterdrücken. Zuletzt wird alles offenbar. Seinem Andenken wird der Tribut gebracht, den seine unwissenden, undankbaren Zeitgenossen ihm schuldig geblieben. Der Nahme der Unterdrücker der Wahrheit perennirt zu ihrer Schande; denn man schaut in ihr Herz, lernt ihre Schliche kennen und sie verabscheuen. Daß alle Lanfrancus unserer Zeit sich diesen Erfahrungssatz merken mögen! daß Leßings Fund sie zu ihrer Besserung ­schrecke! Warlich ein wichtiger Fund; denn er betrift nicht bloße Namen und Jahrzahlen: die Geschichte des menschlichen Herzens betrift er, den Geist der Ketzermacherey, die Ge47

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Dass aber – seines aufgeklärten Subtextes unerachtet – Lessings Traktat gleichwohl mit einigem Befremden von den Zeitgenossen aufgenommen wurde, ist mit seiner Vielschichtigkeit zu erklären. Besonders die stark konfessionelle Ausrichtung des Textes sperrt sich gegen jeden Versuch, ihn in seinem Aussagegehalt zu vereindeutigen. So streitet Lessing nicht allein gegen die Hagiographisierungstendenz einer katholisch-benediktinischen Kirchengeschichtsschreibung; vielmehr bezieht er auch innerprotestantisch Stellung gegen die sakramentstheologische Vereinnahmung Berengars vonseiten der Reformierten: Ist nun aber dieses; hat Berengarius die wirkliche Gegenwart Christi in dem Abendmahle geglaubt und bekannt, hat er seine Waffen einzig und allein gegen eine Lehre [sc. die Transsubstantiationslehre] gerichtet, welche auch von unserer [sc. lutherischen] Kirche bestritten wird: so ist klar, daß, wenn er darum schon nicht ein Genosse unseres Glaubens muß gewesen sein, er doch ganz gewiß auch der Mann nicht sein kann, den die Reformierten zu ihrem Vorgänger annehmen dürfen.49

schichte einer Lehre, über die man Jahrhunderte durch so gelehrt und so unvernünftig gestritten, über die mancher unaufgeklärte Kopf dem Menschenverstande und gesunden Grundsätzen zu Trotz itzt noch, noch im Jahr 1772 ganze zahlreiche Gemeinden verketzert, verdammt, dem Teufel zuerkennt“ (Rezension des Berengarius, in: ADB 1773, Bd. 18, 2. Stück, 393f.; Hervorh. i. O.). – Mit dieser (kaum bezweifelbaren) Stoßrichtung dürfte deutlich sein, dass es Lessing nicht nur (und wohl auch nicht primär) um einen Beitrag zur Berengar-Forschung zu tun ist. Gleichwohl resümiert Friedrich Niewöhner im Vorwort zur Dokumentation eines von ihm mitgeleiteten wissenschaftlichen Arbeitsgesprächs, zu welchem anlässlich des 900. Todestages Berengars von Tours im Oktober 1988 in die Herzog August Bibliothek zu Wolfenbüttel geladen wurde, es wolle ihm scheinen, dass Lessings Berengarius „trotz der neuesten Forschungen“ (auf deren Ergebnisse etwa Leppin in seinem bereits mehrfach genannten Aufsatz vereinzelt hinweist) „nicht überholt, sondern erst durch sie in seiner Genialität gänzlich verständlich wird. Wenn irgendein Buch, so ist Lessings Ankündigung im Geiste Berengars geschrieben“ (Niewöhner 1990, 2). 49   B 7, 20,17–24 (Hervorh. i. O.). – In bereits zitiertem Brief an seinen Vater schreibt Lessing noch deutlicher, das von ihm aufgefundene Berengar-Manuskript enthalte „die unwidersprechlichsten Beweise, daß Berengarius vollkommen den nachherigen Lehrbegriff Lutheri von dem Abendmahle gehabt hat, und keines Wegs einer Meinung davon gewesen, die der Reformierten ihrer beikäme“ (Brief Nr. 568 [An Johann Gottfried Lessing; 27. Jul. 1770], in: B 11/2, 31ff. Hier: 32,34–37). Oder „unter allgemeinen Benennungen davon zu sprechen“, d.h. „die Namen von Lutheranern und Reformierten ganz aus dem Spiele zu lassen“, schreibt Lessing gegen Ende seines Berengarius: „wenn es eine Kirche, oder Gemeinden einer Kirche giebt, welche die sichtbaren Stücke des Abendmahls für bloße Zeichen erkennen, welche keinen andern Genuß darin zugeben, als einen geistlichen, welchen dieser geistliche Genuß weiter nichts, als eine Zurechnung im Glauben ist: so können diese Kirche, diese Gemeinden, keinen Anspruch auf die Beistimmung des Berengarius machen. Denn Berengarius lehrte und bekannte eine wahre, wesentliche Gegenwart des Leibes und Blutes […]“ (B 7, 118,5ff.17–25; Hervorh. i. O.). In diesem Sinne streite Berengar „nur wider die Transsubstantiation, und keinesweges gegen die wirkliche Gegenwart überhaupt […] Er ist weit entfernt, seinen Gegnern im geringsten streitig zu machen, daß in Kraft der Consecration eine wunderbare Veränderung mit dem Brote und dem Weine vorgehe; wovon die, so viel ich verstehe, doch wohl nichts zu sagen haben können, welche Brot und Wein für bloße Zeichen erkennen. Er streitet einzig und allein über die Art und Weise dieser Veränderung […]“ (B 7, 122,24–32).

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Nahezu perfekt wird die Verwirrung indes dort, wo Lessing nach geglückter Rettung (und also rein ‚intrinsischen‘ Motiven folgend) am Schluss seiner Abhandlung noch auf „einige Fragen“ zu sprechen kommt, „die mir einmal über das andere beigefallen, so oft ich mir von den Sakramentarischen Streitigkeiten überhaupt einen Begriff machen wollen“.50 Es handelt sich hierbei um eigene, in Frageform51 entwickelte dogmengeschichtliche Spekulationen, die als ein klares Plädoyer für die Ursprünglichkeit der spezifisch lutherischen Abendmahlslehre verstanden werden müssen.52 – Freilich betont Lessing, es handle sich dabei um dezidiert ‚undogmatische‘, rein historisch interessierte Fragen.53 Und doch macht es der theologiegeschichtliche Kontext den Zeitgenossen nahezu unmöglich, infolge dieser Spekulationen den Berengarius nicht auch als ein „implizites Plädoyer für das Pochen auf lutherische Positionen“ zu lesen.54 Denn im Hintergrund steht nicht allein die von der Aufklärungstheologie grundsätzlich verfolgte Tendenz, die reformationstheologischen Differenzen einander anzugleichen55, sondern auch und v.a. die akademisch-theologische Diskussion, innerhalb derer „die Frage der lutherischen Abendmahlslehre“ erst neuerdings wieder aufgekommen und seitdem „höchst akut“ war.56 Regt es sich also doch: das ‚orthodoxe sächsische Priesterkind‘ in Lessing?57 – Dass auch der Wolfenbütteler Bibliothekar unmöglich zu einem echten Orthodoxen taugt, sollte auf seinem bislang von uns rekonstruierten „Weg der Untersuchung“ mehr als deutlich geworden sein.58 Lessings Parteinahme für die 50

  B 7, 124,24ff.   Innerhalb des fingierten Briefwechsels eröffnen diese Fragen die Aussicht auf einen ferneren Austausch der Korrespondierenden: „[…] ich weiß, daß daraus wenigstens ein Gespräch unter uns werden kann, und daß ich mich auf jedes Gespräch mit Ihnen freue. Leben Sie wohl“ (B 7, 126,2ff.). 52   Gemeint sind Lessings Spekulationen zur Ursprünglichkeit der „Lehre von den prägnanten Zeichen, wie ich sie der Kürze wegen nennen will“ (vgl. B 7, 124,24–126,4; Hervorh. i. O.). 53   In diesem Sinne formuliert er beschwichtigend: „Nur fürchten Sie nicht, daß diese Fragen dogmatischen Inhalts sein werden. Ich mag kein unheiliges Feuer auf den Altar bringen; […] Meine Fragen betreffen einzig die Geschichte des Dogma; höchstens ein Vorurteil, welches aus dieser Geschichte sich für die eine oder die andere Meinung ergeben dürfte“ (B 7, 124,27–34). – Man sollte allerdings auch diese Versicherung nicht absolut nehmen (so etwa Schmidt 1909 [Bd. 2], 184f.). 54   Leppin 2011, 102. 55   Vgl. aaO., 88. 56  AaO., 101. – Gemeint ist der Heumannsche Streit (vgl. hierzu aaO., 101f.). 57   Zur Formulierung s. obiges Briefzitat Friedrich Nicolais in Anm. 31. – Auch Nisbet betont die ‚grundsätzliche Ambivalenz‘ von Lessings Berengarschrift und artikuliert den Eindruck, dass die „Uneindeutigkeit seines Standpunkts“ Lessing „sichtlich Spaß“ mache (vgl. Nisbet 2008, 611f.). 58   Vgl. auch Schneider 1953, 191. – Hierzu schickt sich auch Lessings scharfe Kritik an Martin Luthers unkritischem, vorurteilsbehaftetem Berengar-Urteil: „Luther hatte hier kein Arges; er nahm das, was für die wahre Meinung des Berengarius von den Widersachern desselben ausgegeben ward, dafür an; und da er immer noch der Transsubstantiation geneigter 51

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Orthodoxie ist demnach weniger im Sinne einer Parteizugehörigkeit denn vielmehr als Kritik ebenjener (anti-orthodoxen) Aufklärungstheologie zu verstehen, die nichts als „gesunde Vernunft in ihr System hinein haben“ will.59 Sein Bruder Karl bemerkt diese Stoßrichtung ebenso wie auch Friedrich Nicolai, Lessings weit vernetzter Intimus aus Berliner Zeiten. Als Begründer der Allgemeinen deutschen Bibliothek60 , die – nach Einschätzung Nicolais – mit ihren theologischen Artikeln „eine so merkwürdige Revolution in deutschen Köpfen verursacht“ und „vielen Leuten Zweifel erregt, und dadurch die Untersuchung rege gemacht“ habe, formuliert er Lessings eigentliche Absicht im Berengarius mit den folgenden Worten: Gut! werden Sie sagen; ich will der Zweifel noch mehr machen, wenn ich die Orthodoxie gegen die neuern Heterodoxen [sc. die Neologen] verteidige; diese werden sich alsdann verantworten und deutlicher erklären müssen. 61

Anders als noch im Herrnhuter-Essay, wo Lessings Theologiekritik primär formal orientiert war62, bekommt sie nun mit ihrem „Pochen auf lutherische Positionen“ ein stärker inhaltliches Profil.63 Die Reduktion der wahren Religion auf blieb, als dem bloßen Tropus, da er sich überführt hatte, daß diese Auslegung mehr mit dem Wesentlichen des Glaubens streite, als jene: so bezeigte er seinen ganzen Unwillen gegen den Berengarius, und erkannte nicht allein die von dem Pabst gegen ihn gebrauchte Gewalt für Recht, sondern billigte auch die Ausdrücke des ihm aufgedrungenen Widerrufs sogar mehr, als sie selbst von manchen Katholiken waren gebilliget worden. Berengar ward in seinen Augen das Schlimmste, was er sein konnte, ein Vorläufer der ihm so verhaßten Sacramentierer, dessen Irrtum Carlstadt und Zwinglius bloß erneuerten: und was Berengarius in Luthers Augen war, das blieb er in den Augen seiner orthodoxen Nachfolger […], die ihn mit aller Strenge behandelten“ (B 7, 17,1–17; Hervorh. i. O.). Dazu treffend Leppin: „So kann man lutherisch sein, muss sich aber jedenfalls im historischen Einzelurteil gegen den autoritativen Anspruch Luthers selbst und der Vertreter der Orthodoxie wenden. Sollten denn tatsächlich die Orthodoxen, wie Heyne es vermutete, Lessing gesegnet haben – so haben sie mit ihm eine Wahrheitssuche gesegnet, die sich, wie stets, der einfachen Festlegung entzog“ (Leppin 2011, 103). 59  S. obiges Briefzitat bei Anm. 31. – Diese Stoßrichtung gilt es m.E. viel stärker zu betonen als die mögliche Intention Lessings, „den Lutheranern – nicht an letzter Stelle: seinem eigenen Vater [zu] zeigen, dass er nicht, wie die Orthodoxen nach den Rettungen des Lemnius und des Cochläus argwöhnten, ein verlorener, sondern eben ein sehr getreuer Sohn der lutherischen Kirche ist“ (Schneider 1953, 185). 60   Die 1765 von Friedrich Nicolai gegründete Allgemeine deutsche Bibliothek (ADB) erfasste „einen beachtlichen Teil der wissenschaftlichen, insbesondere der theologischen, aber auch der schöngeistigen Literatur und wurde zum wichtigsten Organ der sog. Berliner Aufklärung“ (Kiesel 1988, 870). 61   Brief Nr. 665 (Von Friedrich Nicolai; 8. Mrz. 1771), in: B 11/2, 172ff. Hier: 172,36–173,7. 62   Mit Blick auf die Aufklärungstheologie kritisiert Lessing dort die ach „so vortreffliche Zusammensetzung von Gottesgelahrtheit und Weltweisheit“ (B 1, 941,32ff.). 63   Entsprechend ist Bohnens Urteil, es werde deutlich, dass Lessing „mit seinem Berengarius gerade nicht einen Streit über die ‚wahre‘ Lehre unter den Theologen entfachen möchte, […] sondern daß es ihm allein auf das Recht ankommt, auch in Fragen theologischer Dogmatik pro et contra mit Vernunftgründen gegeneinander abzuwägen“ (Bohnen 2000, 609; vgl. auch aaO., 610), zu einseitig. Zutreffender hingegen Bernd Meyer: Lessing „weigert sich, mit

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die Erkenntnis der ‚gesunden‘ oder auch ‚natürlichen‘ Vernunft, wie sie Lessing bis in die Breslauer Jahre – namentlich im Fragment Über die Entstehung der geoffenbarten Religion (1763/64) – in Gestalt der Suffizienzthese noch selbst vertreten hat64, scheint ihm spätestens seit Beginn der 1770er-Jahre zweifelhaft geworden zu sein.65 Spürbar wird dies nicht allein in seiner (wie auch immer gearteten) Wiederentdeckung orthodoxer Theologie. Noch einschlägiger erscheint ein an Moses Mendelssohn andressierter Brief vom 9. Januar 1771. Dort schreibt Lessing in bezeichnender Weise: Doch ich besorge es nicht erst seit gestern, daß, indem ich gewisse Vorurteile weggeworfen, ich ein wenig zu viel mit weggeworfen habe, was ich werde wiederholen müssen.[66] Daß ich es zum Teil nicht schon getan, daran hat mich nur die Furcht verhindert, nach und nach den ganzen Unrat wieder in das Haus zu schleppen.[67] Es ist unendlich schwer, zu wissen, wenn und wo man bleiben soll, und Tausenden für einen ist das Ziel ihres Nachdenkens die Stelle, wo sie des Nachdenkens müde geworden. 68

Wähnt sich, wer die religiöse Wahrheit in ihrer natürlich-vernünftigen Form für unüberbietbar und also schlechthin gegeben hält, etwa allzu schnell, d.h. voreilig am Ziel?69 dem Deismus den Schutt der Tradition pauschal zu verwerfen, weil er unter ihm manches erkennt, was bewahrt zu werden verdient“ (Meyer 1967, 100). 64   Vgl. o. Kap. V. 65   Besonders Allison hebt die Radikalität von Lessings Standpunktwechsel und dessen Erklärungsbedürftigkeit hervor: „The determination of the reasons behind this changed attitude toward Christianity and the evaluation of the standpoint assumed in the theological controversies of this period [sc. ab 1770] are the major problems confronting any interpretation of Lessing’s mature philosophy of religion. Accordingly, it is to these questions that I shall devote the balance of this study“ (Allison 2018, 76; vgl. zur Problematik insgesamt aaO., 73–78). – Zu den gleichsam äußeren Gründen dieser Denkkrise s.u. Kap. VII. 2. 66   „Was Lessing hier unter den – mit gewissen Vorurteilen zu viel weggeworfenen – ‚Wahrheiten‘ meint und was ihm jetzt als zum Teil zurückzuholen nötig erscheinen will, ist die christlich-lutherische Religion oder Glaubenslehre“ (Strohschneider-Kohrs 1991, 131; vgl. auch Allison 2018, 77). 67   Hierzu merkt Allison treffend an: Lessing „obviously did not wish to become an orthodox Christian” (Allison 2018, 77). 68   Brief Nr. 645 (An Moses Mendelssohn; 9. Jan. 1771), in: B 11/2, 144–147. Hier: 144,32– 145,4. – Darin ist Bernd Bothe also recht zu geben: Dass Lessing zu diesem Zeitpunkt „seiner selbst nicht sicher ist“ und „auf dem Wege der üblichen Aufklärung nicht weiter kam“ (Bothe 1972, 38). Drastischer formuliert Schilson: „Der Brief zeigt […], daß er [sc. Lessing] sich offenbar in tiefen Selbstzweifeln über seine bisherige negative Einschätzung der christlichen Religion und ihrer Wahrheit befindet und eine fundamentale Neuorientierung für unumgänglich hält“ (Schilson 1989, 848). 69   Vgl. hierzu, zusammenfassend, Nisbet: „Es herrscht Übereinstimmung darüber, daß diese Bemerkung sich auf einige der christlichen Lehren beziehen muß, die er [sc. Lessing] – etwa in den Breslauer theologischen Fragmenten – in früheren Jahren abgelehnt hatte.“ Demnach leuchte es ein, „daß er jetzt bereit ist, auf die Frage zurückzukommen, ob die christliche Offenbarung nicht doch Einsichten enthalten könne, die nicht kurzerhand zu verwerfen seien“ (Nisbet 2008, 670). Pointiert fasst auch Allison die von uns konstatierte Krise der Suffizienzthese im Denken Lessings zusammen: „The whole tenor of his early writings reveals

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2. Des Andreas Wissowatius Einwürfe wider die Dreieinigkeit (1773) oder Lessing und die Leibnizsche Apologetik Der erbprinzlichen Ordre folgend, dass er die Bibliothek (und nicht etwa umgekehrt: die Bibliothek ihn) nutzen solle70, begibt sich Lessing weiter auf die Suche nach noch verborgenen papiernen Kostbarkeiten. Was er von seinen Funden und Entdeckungen der gelehrten Welt für mitteilungswürdig erachtet, findet Eingang in sein eigens dafür gegründetes Publikationsorgan Zur Geschichte und Litteratur. Aus den Schätzen der Herzoglichen Bibliothek zu Wolfenbüttel.71 Der Zufall will es, dass er dabei auch auf „einen Aufsatz unsers Leibnitz“ a basic agreement with deism regarding revealed religion […]. But, as the passage seems to suggest, by early 1771 Lessing had become dissatisfied with the naive naturalism that characterizes deism. Since he was afraid of dragging back ‚all the rubbish‘, he obviously did not wish to become an orthodox Christian, but, as he now apparently saw some philosophical and religious significance in traditional Christian thought, he could no longer accept the deistic position” (Allison 2018, 77). 70   Vgl. obiges Zitat bei Anm. 6 aus Lessings letztem Brief an seinen Vater. 71   Vgl. hierzu auch Lessings „Vorrede“ zur ersten Ausgabe desselben in: B 7, 379–382. – Mit der Herausgabe dieses Periodikums, das freilich ein viel breiteres Themenspektrum abdeckt, als es sein Titel etwa vermuten lässt, zielt Lessing darauf ab, „die Schätze seiner Bibliothek einem breiteren Publikum vorzustellen und die Gelehrtenwelt zur Mitarbeit an der Erschließung neuen Wissens aufzufordern“ (Bohnen 2000, 589); nach Nisbet handelt es sich sogar um die erste gelehrte Zeitschrift einer deutschen Bibliothek (vgl. Nisbet 2008, 609). Lessings Motivation für dieses Projekt speist sich sowohl aus pragmatischen (d.h. finanziellen) wie auch aus fachlichen Gründen (vgl. etwa die Briefe an seinen Bruder Karl vom 8. 4. 1773 und vom 5. 12. 1772 [Brief Nr. 906 u. Nr. 874, in: B 11/2, 538ff. u. 482–485]). Die ersten vier der insgesamt sechs Bände (die ursprüngliche Planung sah die Herausgabe von 12 Bänden vor) erscheinen in den Jahren 1773, 1774 und 1777 und haben Lessing selbst zum Herausgeber, wobei seit dem „Dritten Beitrag“ auch weitere Gelehrte an der Arbeit beteiligt sind. Wichtig scheint hier noch die Erwähnung, dass Lessing persönlich sich beim Herzog Zensurfreiheit für seine Zeitschrift ausbittet, wozu dieser sich denn auch sogleich bereit erklärt, allerdings in der Erwartung, „daß er [sc. Lessing] nichts werde drucken lassen, was die Religion und guten Sitten beleidigen könne“ (Brief Nr. 797 [Von Herzog Karl von Braunschweig; 13. Feb. 1772], in: B 11/2, 354. Hier 354,17ff.). Letztendlich (so viel sei als Ausblick gegeben) werden die späteren theologischen Debatten Lessing „die Zensurfreiheit und damit die Aufgabe seiner Publikationsserie“ kosten (vgl. Bohnen 2000, 971ff.). – Zur Hochschätzung der Lessingschen Zeitschrift in der gelehrten Welt s. etwa die Rezension des „Ersten Beitrags“ in den Göttingischen Anzeigen von Gelehrten Sachen (1773, Bd. 1, 14. Stück, 114): „Schätze der Wolfenbüttelschen Bibliothek, und mitgetheilt von einem Gelehrten wie Herr Leßing, und als Bibliothekar, und bey der glücklichen Muße, die ihm gegönnt ist, jede Spur, auf die er geräth, so lange zu verfolgen als er gut findet: wir wüßten nicht, was mehr Aufmerksamkeit verdienen könnte!“ Selbige Hochschätzung drückt sich auch in einer Rezension in den Neuen Hallischen Gelehrten Zeitungen aus (1773, 8. Teil, 11. Stück, 81.86): „Das Publicum ist schon gewohnt, von einem Lessing in jeder Art von Arbeiten, die er unternimt, etwas vortrefliches zu erwarten, und seine Erwartung übertroffen zu finden. In der That läßt Hr. Lessing eben so viele Biblio­thkare [sic!] hinter sich zurück, als die Bibliothek, die das Glück hat, seiner Aufsicht anvertrauet zu seyn, andre öffentliche Büchersammlungen übertrift […] Noch merken wir an, daß Hr. L. den

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stößt, „welchen die Welt zwar hat, aber auch so gut wie nicht hat. Ich meine seine ‚Defensio Trinitatis per nova Reperta Logica‘.“72 Lessing veröffentlicht seine diesbezügliche Dokumentation und Kommentierung im Jahre 1773 unter dem Titel Des Andreas Wissowatius Einwürfe wider die Dreieinigkeit als Nummer XII. in seiner Bibliothekszeitschrift.73 Nun aber hat die Welt – wie er sich ausdrückt – diesen Leibnizschen Aufsatz zwar einerseits, wie sie ihn andererseits auch nicht hat, da man bisher nur die Antwort des Leibniz kennt: die Antwort auf Einwürfe, die ihrerseits ungedruckt geblieben. Indem also dasjenige verborgen blieb, worauf die Leibnizsche Defensio sich unmittelbar bezieht – so hat Leibniz, „ohne die Einwürfe seines Gegners zu wiederholen, sich mit bloßen Buchstaben darauf bezogen“ –, ist dieselbe bislang „völlig unverständlich, völlig unbrauchbar“ gewesen.74 Mit einem Wort: Durch ihren isolierten Abdruck wurde die Leibnizsche Defensio regelrecht „in ein Rätsel verwandelt“.75 Wenn also Lessing nun, im Besitz einer Handschrift, welche „die Einwürfe des Wissowatius“ ebenso wie „auch die Antwort des Leibnitz enthält“76, eine Neuedition dieser Verteidigungsschrift besorgt und es dabei für gut erachtet, „Einwürfe und Antwort nicht ein jedes besonders in einem fortlaufen zu lassen, sondern so zu zerteilen und in einander zu schlingen, als es die einzelnen Stücke derselben erfodern“77, so geschieht dies in der festen Absicht, „einer so wohlgemeinten und scharfsinnigen Arbeit unsers Philosophen alle den Nutzen wiederzugeben, den sie haben kann“.78 – trockensten Sachen durch seinen Vortrag eine Anmuth gegeben hat, die sie für jeden Leser unterhaltend macht.“ – Und, weil sie ganz in unserem Sinne lautet, noch die Rezension aus den Frankfurter gelehrten Anzeigen (1773, Nr. 15, 117): „Herr Leßing ist Mikrolog. Er liebt die Paradoxa. Er wagt sich oft in fremdes Terrain. – Dennoch seine Beredsamkeit ist allenthalben hinreissend, seine Genauigkeit im Forschen und Beobachten so enthusiastisch, sein Raisonement so philosophisch und lichtvoll, und sein Ausdruck so energisch, daß wir keinen Schriftsteller zu nennen wüsten, den wir mit mehr Paßion läsen, als ihn.“ 72   B 7, 548,5–8 (Hervorh. i. O.). 73   G. E. Lessing, Des Andreas Wissowatius Einwürfe wider die Dreieinigkeit (in: ders., Zur Geschichte und Litteratur. Zweiter Beitrag), in: B 7, 548–581. 74   B 7, 552,31ff. 75   B 7, 553,3f. 76   B 7, 553,26ff. (Hervorh. i. O.). 77   B 7, 554,1–5. 78   B 7, 553,5ff. – Dass Lessing diese Begründung primär als Vorwand dient, vermutet Nisbet. Denn eigentlich gehe es Lessing vielmehr darum, „Leibniz zu feiern und sich gegen die Neologen zu wenden“ (Nisbet 2008, 675f.) – eine Deutung, die sich auch mit unseren noch folgenden Ausführungen deckt. Gleichwohl kommt in der zitierten Äußerung sehr deutlich Lessings Selbstverständnis als Bibliothekar zum Ausdruck, der sein Amt keineswegs „im Sinne einer bloßen Verwaltung, Systematisierung und Katalogisierung von Bücherwissen versteht […], sondern als Forscher, der der gelehrten Welt das in der Bibliothek bereitliegende, aber noch nicht ausgeschöpfte Wissen zur Verfügung stellt und so zur Weiterarbeit auffordert. Bibliotheken sind für Lessing immer ‚Quellen‘ und ‚Schaltstellen‘ des Wissens gewesen; sie aktiv zu nutzen und das daraus Gewonnene öffentlich bekanntzumachen, ist für ihn ein Akt der Aufklärung“ (Bohnen 2000, 974).

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Wie Lessing, so können auch wir es hier „überhoben sein, über die Streitigkeit selbst, welche dieser Leibnitzische Aufsatz betrifft, etwas zu sagen“. Stattdessen richten wir unser Augenmerk auf die von Lessing beigefügten „Anmerkungen über die Art, wie sich Leibnitz damals, und ferner, sein ganzes Leben hindurch, dabei genommen“.79 Die von Leibniz verfolgte apologetische Strategie fasst Lessing nun folgendermaßen zusammen: Leibnitz hatte nicht im geringsten die Absicht, die Lehre der Dreieinigkeit mit neuen ihm eignen philosophischen Gründen zu unterstützen. Er wollte sie bloß gegen den Vorwurf des Widerspruchs, mit sich selbst, und mit unleugbaren Wahrheiten der Vernunft, retten.80

Um präzise verstehen zu können, worauf es Lessing im Blick auf die Leibnizsche Apologetik ankommt, sei an dieser Stelle ein Abschnitt eingeschaltet, der die Verhältnisbestimmung von Glaube und Vernunft bei Leibniz näher be­ leuchtet.

Exkurs 3: Das Verhältnis von Glaube und Vernunft bei G. W. Leibniz oder Die Übervernünftigkeit der Mysterien Zu Beginn seiner Einleitenden Abhandlung über die Übereinstimmung des Glaubens mit der Vernunft 81 benennt Leibniz in einem ersten Schritt diejenigen Voraussetzungen und Annahmen, welche zur Verhältnisbestimmung von Glaube und Vernunft unabdingbar sind. Gleichsam als Grundvoraussetzung fungiert hierbei der Satz vom zu vermeidenden Widerspruch: dass nämlich „zwei Wahrheiten sich nicht widersprechen können“. 82 Daran schließt sich eine Definition von Glaube und Vernunft an. Der Glaube wird über seinen Gegenstandsbereich bestimmt, indem er sich auf die Wahrheit richtet, „welche Gott auf außergewöhnliche Weise [manière extraordinaire] offenbart hat“. 83 Demgegenüber wird die „rechte[] und wahrhafte[]“ Vernunft84 begriffen als „die Verkettung der Wahrheiten“ 79   B 7, 570,29f.33f. (Hervorh. i. O.). – Klaus Bohnen hält diese „Anmerkungen“ sogar für „das eigentliche Motiv“ Lessings für die Veröffentlichung seiner Wissowatius-Schrift (vgl. Bohnen 2000, 1126); ähnlich Pons, der explizit auf den Kontext „der apologetischen Streitigkeiten“ verweist (vgl. Pons 1980, 403). 80   B 7, 570,36–571,4 (Hervorh. i. O.). – Ganz in diesem Sinne heißt es in einer der Leibnizschen Responsiones: „verum non est meum argumentari, sed respondere“ (B 7, 558,23f.; Deutsch: „Aber ich habe nicht zu beweisen, sondern zu entgegnen“, Übers. bei Bohnen 2000, 1138). Und Lessing selbst spricht vom Unterschied eines „directe[n] Beweise[s] für eine Sache, von bloßen Prüfungen vorgeblicher Beweise wider diese Sache“ (B 7, 552,5ff.; Hervorh. i. O.). 81   Die „Einleitende Abhandlung“ findet sich in: Leibniz, Theodicée, 33–90. – Alle in diesem Exkurs gemachten Seiten- und Paragraphenangaben beziehen sich auf diese Ausgabe. Der teilweise in (eckigen) Klammern hinzugefügte französische Originalwortlaut ist zitiert nach der Ausgabe der WBG Darmstadt 1985. – Im Zusammenhang von Lessings Auseinandersetzung mit der Leibnizschen Apologetik verweisen auch Pons und Meyer auf die „Einleitende Abhandlung“ (vgl. Pons 1980, 403; Meyer 1967, 123–127). Im Wissowatius zitiert Lessing gar selbst daraus, nämlich einen Abschnitt aus § 27 (vgl. B 7, 571,29–572,9). 82  Leibniz, „Einleitende Abhandlung“, 33 (§ 1). 83  Ebd. 84   Leibniz grenzt sich hier ab von einem Vernunft- bzw. Philosophieverständnis, wie er es

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(enchaînement des vérités), „besonders jedoch (verglichen mit dem Glauben) derjenigen, zu denen der menschliche Geist auf natürliche Weise [naturellement] gelangen kann, ohne vom Licht des Glaubens erleuchtet zu werden“. 85 ‚Auf natürliche Weise‘ meint hier indes nicht ‚durch (sinnliche) Erfahrung‘. 86 Denn „die reine und bloße Vernunft, die von der Erfahrung [expérience] deutlich unterschieden ist, hat es nur mit den Wahrheiten zu tun, die von den Sinnen unabhängig sind“. 87 Aus dieser letztgegebenen Bestimmung der ‚reinen und bloßen‘ Vernunft ergibt sich ein weiteres Differenzkriterium zum Glauben: Der Glaube nämlich gründet sich auf die Erfahrungen derer, welche die zur Bestätigung der Offenbarung geschehenen Wunder mit eigenen Augen gesehen haben. Dabei erweist sich Leibniz insofern als orthodox, dass er die Wahrheit solchen Glaubens sowohl in der „glaubwürdigen Tradition“ als auch in der „inneren Bewegung des Heiligen Geistes“ begründet sieht, „welcher sich der Seelen bemächtigt, sie überzeugt und sie zum Guten treibt, d.h. zum Glauben und zur Nächstenliebe“. 88 In diesen ersten Zeilen lassen sich also, ihrer jeweiligen Begründung entsprechend, zwei Arten von Wahrheiten unterscheiden, nämlich solche, welche der menschliche Geist von sich aus zu erkennen und zu entwickeln vermag – sogenannte Vernunftwahrheiten89 –, und solche, die ihm nur von Gott geoffenbart werden können – sogenannte Glaubenswahrheiten. Um die oben gemachte Grundvoraussetzung, dass zwei Wahrheiten einander nicht widersprechen können, nun auch auf das Verhältnis von Glaubens- und Vernunftwahrheiten ausnahmslos beziehen zu können, bedarf es nach Leibniz indes noch einer weiteren Präzisierung. So ist es nötig, innerhalb der Vernunftwahrheiten zwei Klassen zu differenzieren. Es handelt sich hierbei um ewige Wahrheiten (vérités éternelles) auf der einen und Tatsachenwahrheiten (vérités positives) auf der anderen Seite. Zu den ewigen Wahrheiten werden solche gezählt, „deren Notwendigkeit logischer, metaphysischer oder geometrischer Natur ist“90, Wahrheiten also, die absolut notwendig sind, deren Leugnung in einen logischen Widerspruch führt. Demgegenüber eignet den Tatsachenwahrheiten keine absolute Notwendigkeit. Indem sie jene Gesetze darstellen, „welche es Gott gefiel der Natur zu z.B. bei Luther und den Reformatoren vorzufinden meint und welches er aufgrund seiner Unzulänglichkeit für Luthers Philosophiekritik verantwortlich macht (vgl. § 12). In diesem Sinne betont er in § 23, „daß unter der Vernunft nicht die Meinungen und das Gerede der Menschen oder die Angewohnheit, über alles nach dem gewöhnlichen Naturlauf zu urteilen, sondern die unverletzliche Verkettung der Wahrheiten zu verstehen ist“ (aaO., 50f.; Hervorh. i. O.). 85  AaO., 33 (§ 1). 86   Zwar räumt Leibniz der „in der Verkettung der Wahrheiten bestehende[n] Vernunft“ durchaus das „Recht“ ein, „auch die Wahrheiten zu verknüpfen, welche ihr die Erfahrung geliefert hat, um daraus gemischte Schlüsse zu ziehen“. Jedoch gilt solches nicht für „die reine und bloße Vernunft“ (ebd.). 87   Ebd. – Vernunft meint demnach das Vermögen zu schließen. 88  AaO., 33f. (§ 1). – Leibniz hält diese Gründe für so stark, dass sie „ein für allemal die Autorität der Heiligen Schrift vor dem Richterstuhl der Vernunft [zu] rechtfertigen“ (aaO., 54; § 29) vermögen. Und weiter heißt es an dieser Stelle, dass „der göttliche Glaube, wenn er einmal die Seele entzündet hat, mehr als eine bloße Meinung“ ist und „nicht mehr von den Meinungen und Motiven ab[hängt], die ihn erweckten; er geht über den Verstand hinaus, bemächtigt sich des Willens und des Herzens, und wir tun mit Wärme und Freude, was uns das göttliche Gesetz befiehlt, ohne an besondere Gründe zu denken oder uns mit logischen Schwierigkeiten, die der Geist sich vor Augen stellen kann, aufzuhalten“ (ebd.). 89   Insofern ist die Vernunft also auch eine Quelle der Wahrheit. 90  AaO., 34 (§ 2).

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geben“91, bzw. indem sie von diesen abhängen, kommt den Tatsachenwahrheiten, so z.B. den Bewegungsgesetzen, die unsere Naturordnung bestimmen, lediglich eine physische Notwendigkeit zu: Zwar hat Gott das Passendste, d.i. die vollkommenste aller möglichen Welten nicht grundlos oder willkürlich ausgewählt – seine Wahl ist vielmehr seiner Weisheit angemessen, d.h. sie beruht auf einer moralischen Notwendigkeit –; sollten aber gewisse „Gründe einer höheren Ordnung“92 stärker wiegen als diejenigen Vernunftgründe, die Gott zur Wahl und Realisierung unserer Naturordnung und ihrer Gesetzmäßigkeiten bewogen haben, so steht es ihm frei, sie (zumindest zeitweise und wieder aus ‚moralischen‘ Gründen) durch Gesetze höherer Ordnung zu ersetzen. „So kann man sagen, daß die physische Notwendigkeit auf der moralischen Notwendigkeit beruht […] und daß die eine wie die andere von der geometrischen Notwendigkeit unterschieden werden muß.“93 Aus dieser Unterscheidung der Vernunftwahrheiten in ewige Wahrheiten, denen absolute Notwendigkeit eignet, und Tatsachenwahrheiten, die bloß physisch notwendig sind, folgt nun für die Anwendung der Grundvoraussetzung (dass zwei Wahrheiten einander nicht widersprechen können) auf das Verhältnis von Glaubens- und Vernunftwahrheiten, dass ein Widerspruch allein zwischen Glaubenswahrheit und ewiger Vernunftwahrheit als unmöglich ausgeschlossen werden muss.94 Dabei ergibt sich nach Leibniz die Unmöglichkeit eines solchen Widerspruchs schon allein daraus, dass beide, Glaube und Vernunft, eine „Gottesgabe“ sind und somit „ihr Zwiespalt Gott mit sich selbst in Zwiespalt setzen“95 würde. Sehr wohl denkbar und möglich ist es hingegen, dass eine Glaubenswahrheit einer Tatsachenwahrheit widerspricht, so etwa im Falle eines von Gott gewirkten Wunders96: indessen bleibt es immer noch wahr, daß die Naturgesetze der Aufhebung durch den Gesetzgeber unterworfen sind, während die ewigen Wahrheiten wie die der Geometrie ganz unaufhebbar sind, und der Glaube ihnen darum nicht widersprechen darf. Aus diesem Grunde gibt es auch keinen triftigen Einwand gegen die Wahrheit.97 Die hinsichtlich der Vernunftwahrheiten gemachte Unterscheidung von absolut (d.h. logisch, metaphysisch oder geometrisch) notwendigen ewigen Wahrheiten einerseits und bloß physisch bzw. moralisch notwendigen Tatsachenwahrheiten andererseits dient zudem zur Begründung einer weiteren zentralen Differenzierung, nämlich der klaren Trennung von Widervernünftigem und Übervernünftigem: Die gewöhnliche Unterscheidung zwischen dem, was über die Vernunft hinausgeht [au-dessus de la raison] und dem, was gegen die Vernunft [contre la raison] gerichtet ist, deckt sich ungefähr mit der oben beigebrachten Unterscheidung der zwei Arten von Notwendigkeit. Denn was gegen die Vernunft gerichtet ist, ist auch gegen die abso91

 Ebd.  Ebd. 93   Ebd. (Hervorh. i. O.). 94   „Man soll sich überhaupt hüten, die notwendigen und ewigen Wahrheiten den Mysterien zuliebe preiszugeben, da man sonst befürchten muß, daß die Feinde der Religion daraus ein Recht herleiten, Religion und Mysterien überhaupt in Mißkredit zu bringen“ (aaO., 50; § 22). 95  AaO., 60 (§ 39). 96   „Daraus ergibt sich, daß Gott die Kreaturen von den Gesetzen, welche er ihnen vorgeschrieben, entbinden und in ihnen etwas erzeugen kann, was ihrer Natur nicht entspricht, indem er ein Wunder tut“ (aaO., 34f.; § 3; Hervorh. i. O.). 97  AaO., 35 (§ 3). 92

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lut gewissen und unaufhebbaren Wahrheiten gerichtet, was jedoch über die Vernunft hinaus­geht, widerstreitet nur der gewöhnlichen Erfahrung und der üblichen Auffassung.98 Über die Vernunft hinaus gehen nach Leibniz die Mysterien. Als Beispiel hierfür dienen ihm u.a. das Mysterium der Trinität 99 sowie auch das ‚übernatürliche Geheimnis‘ der „Teilnahme Jesu Christi am Abendmahl“ gemäß der lutherischen Abendmahlslehre.100 Die menschliche Vernunft vermag es zwar, die Mysterien so weit zu erklären (expliquer), wie es zum Glauben an sie nötig ist, also so weit, dass sie „nicht sine mente soni, leere Worte“101 sind. In diesem Sinne mag „[e]ine Wahrheit […] unfaßbar sein; sie wird es jedoch niemals in dem Maße sein zu behaupten, daß man gar nichts davon versteht“.102 Doch ist es eines, (bis zu einem gewissen Punkt) zu erklären, und ein anderes, zu begreifen (comprendre) oder gar „a priori oder aus reiner Vernunft“ zu beweisen (prouver)103: So verhält es sich auch mit den anderen Mysterien, welche sich für gemäßigte Geister immer so weit entwickeln lassen werden, wie es zum Glauben notwendig ist [une explication suffisante pour croire], und niemals so weit, wie es zum völligen Verständnis not täte [et jamais autant qu’il en faut pour comprendre]. Es genügt uns ein so ist es (τί ἐστί), aber das wie (πῶς) übersteigt unseren Verstand und ist für uns auch nicht notwendig. […] Noch weniger haben wir es nötig (wie schon erwähnt), die Mysterien a priori zu beweisen oder Rechenschaft davon abzulegen; uns genügt es, daß die Sache sich so verhält (τὸ ὅτι), ohne das Warum (τὸ διότι) angeben zu können, das Gott sich vorbehalten hat.104 Nun vermag die menschliche Vernunft die Mysterien deshalb nicht zu begreifen oder gar aus sich selbst heraus zu schließen (d.h. a priori zu beweisen), da sie Wahrheiten enthalten, die in „die Verkettung“ der durch das lumen naturale erkannten Wahrheiten „nicht einbegriffen sind“105; im Lichte der Natur also bleiben die Mysterien dunkel. Ganz anders hingegen würde sich die Situation im „Himmelslicht“106 darstellen: Da nämlich „unsere Mysterien mit der höchsten und umfassenden Vernunft des göttlichen Verstandes; d.h. mit der Vernunft im allgemeinen im Einklang stehen“107, würde Gott (im Unterschied zum Menschen!) eine vernunftgemäße Begründung der Mysterien durchaus leisten können.108 Übervernünftig, so viel können wir hier gewissermaßen als Fazit festhalten, sind die Mysterien nach Leibniz also bloß beziehentlich der menschlichen, und als solcher notwendig begrenzten Vernunft:

 98

 AaO., 50 (§ 23; Hervorh. i. O.).  AaO., passim. 100  AaO., 46 (§ 18). – Zum innerprotestantischen Abendmahlsstreit insgesamt sowie zu Leibniz’ Hinweis auf die Debatte um die „unmittelbare Fernwirkung“ eines Körpers „auf mehrere weit von ihm entfernte Körper zugleich“ vgl. aaO., 46–49 (§§ 18–21). 101  AaO., 76 (§ 66; Hervorh. i. O.). 102  AaO., 84 (§ 76). 103   Vgl. aaO., 36 (§ 5). 104  AaO., 69 (§ 56; Hervorh. i. O.). 105  AaO., 74 (§ 63). 106  AaO., 90 (§ 87). 107  AaO., 72 (§ 61). 108   Vgl. aaO., 72 (§ 60).  99

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[…] so entspricht dieser Teil [sc. unsere begrenzte, menschliche „Teilvernunft“] dem Ganzen und unterscheidet sich von dem in Gott befindlichen Teile nur wie ein Tropfen vom Ozean oder besser wie das Endliche vom Unendlichen. Daher können die Mysterien unsere begrenzte Vernunft wohl überschreiten, aber ihr nicht widersprechen.109 Kurzum: Da die Mysterien in ihrer Übervernünftigkeit die Grenzen der menschlichen Vernunft übersteigen110 und infolgedessen bloß unvollkommen ‚erklärt‘, jedoch niemals ‚begriffen‘ oder gar a priori (d.h. aus der menschlichen Vernunft) ‚bewiesen‘ werden können, ist es keineswegs „Sache des Verteidigers, Gründe zum Beleg heranzuziehen, es ist genug für ihn, wenn er auf die seines Gegners antwortet“.111 Anstatt einen direkten Beweis für die Wahrheit der Mysterien zu liefern112 – anstatt sie also zu „entschleiern“113 –, wird die Aufgabe des Apologeten darin bestimmt, in einem lediglich indirekten Verfahren ihre Widerspruchslosigkeit zu demonstrieren, sprich die Mysterien gegen alle ihnen entgegengebrachten, vorgeblich vernünftigen und also zwingenden Einwände zu verteidigen.114 109

 AaO., 72 (§ 61).   Nach Leibniz geht eine Wahrheit „über die Vernunft hinaus, wenn unser Geist (oder der geschaffene Geist überhaupt) sie nicht begreifen kann“ (aaO., 50; § 23). 111  AaO., 85 (§ 78). – Dass es „immer möglich“ ist, „einen Einwand gegen eine Wahrheit gebührend zu beantworten“ (d.h. diesen Einwand in seiner bloß vermeintlichen Gültigkeit erfolgreich zurückzuweisen), dessen ist sich Leibniz gewiss (aaO., 52; § 26). Kurzum: Es gibt keine „unwiderleglichen Einwürfe[]“ wider die Wahrheit: „denn was ist ein Einwurf anderes als ein Argument, dessen Schlußsatz unserer Behauptung widerspricht? Und was ist ein unwiderlegliches Argument anderes als ein Beweis? Wie kann man die Gewißheit der Beweise erkennen, unterwirft man nicht das Argument einer genauen Unterscheidung auf Form und Inhalt, um zu sehen, ob die Form gut ist und ob jeder Vordersatz anerkannt und durch ein anderes, gleich starkes Argument bewiesen ist, bis man endlich nur noch allgemein anerkannte Vordersätze hat? Gibt es nun einen solchen Einwand gegen unsere Behauptung, so ist die Irrigkeit dieser Behauptung aufgezeigt, und wir haben keine genügenden Gründe mehr, um sie zu beweisen; somit nämlich müßten zwei entgegengesetzte Wahrheiten zugleich wahr sein. Den Beweisen muß man immer weichen […]“ (aaO., 51f.; § 25; Hervorh. i. O.). 112   Für Leibniz scheint die Möglichkeit, die Mysterien schon im lumen naturale aus der Vernunft, sprich a priori zu beweisen, für das menschliche Erkenntnisvermögen definitiv nicht gegeben. Neben zahlreichen Belegstellen im Text (vgl. z.B. §§ 23, 59, 60, 61, 62, 63, 66 etc.) unterstreichen dies noch einmal die Schlussparagraphen seiner Einleitenden Abhandlung (§§ 85–87), in welchen er gegen Bayle, Augustinus u.a. und gemeinsam mit Luther hinsichtlich unseres Erkenntnisvermögens eine für den Menschen unüberbrückbare Differenz zwischen dem lumen naturale auf der einen und dem „Himmelslicht, das uns hier auf Erden fehlt“ (aaO., 90; § 87), auf der anderen Seite annimmt. D.h. erst im Lichte der Ewigkeit werden sich die Mysterien für uns lösen. – Dass Leibniz sich Luthers Lichterlehre tatsächlich zu eigen macht, geht auch aus § 82 (aaO., 87f.) hervor. 113  AaO., 82 (§ 73). 114   Wo immer es dem Apologeten gelingt, „den angeblichen Gegensatz“ zwischen Glaube und Vernunft zu beheben, kommt es nach Leibniz gleichsam zur „Versöhnung“ oder auch „Vereinigung von Glaube und Vernunft“ (aaO., 74; § 63). – Aber: Gesetzt den Fall, es wäre (dem Apologeten) nicht möglich, die Mysterien gegenüber den Einwänden des Gegners zu behaupten, so „hätten wir keinen Grund, an sie zu glauben: da ja alles, was auf sichere und zwingende Art widerlegt werden kann, falsch sein muß, und den Wahrheitsbeweisen der Religion, welche uns nur eine moralische Gewißheit geben können, wird die Waage gehalten, ja sie werden überboten durch Einwürfe, welche uns eine absolute Gewißheit geben, wenn sie wirklich überzeugend und zwingend sind“ (aaO., 36f.; § 5; Hervorh. i. O.). Als Beispiel 110

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Apologetisches Interesse fordern demnach bloß solche Einwände, die den Anspruch erheben, „sich auf Prinzipien oder auf unbestreitbare Tatsachen“ zu stützen sowie „durch eine Verkettung ewiger Wahrheiten gestaltet“115 zu sein. Einwände, „die nur bis zur Wahrscheinlichkeit führen“, d.h. vom gewöhnlichen Naturverlauf her schließen, sind hingegen zu vernachlässigen, „da doch jeder zugibt, daß die Mysterien den Schein gegen sich haben und vom Standpunkt der Vernunft aus betrachtet nicht wahrscheinlich sind“.116 Wer sich nun als Verteidiger einem solchen apologetischen Unterfangen hingibt, wird feststellen: „Nicht die Vernunft, nicht das lumen naturale, nicht die Verkettung der Wahrheiten steht im Widerspruch zu den Mysterien, sondern die Verderbnis, der Irrtum oder das Vorurteil, die Finsternis.“117 Zusammenfassend lässt sich hinsichtlich der Verhältnisbestimmung von Glaube und Vernunft bei Leibniz sagen, dass sie erstens einander nicht feindlich gegenüberstehen können, „denn im Grunde genommen kann keine Wahrheit einer anderen widersprechen und das Licht der Vernunft ist ebenso ein Geschenk Gottes wie das Licht der Offenbarung“.118 Zweitens gibt es Glaubenswahrheiten, sogenannte Mysterien, die über unsere Vernunft hinausgehen (ohne indes widervernünftig zu sein). Diese können mithilfe der menschlichen Vernunft zwar unvollkommen erklärt, jedoch niemals begriffen oder gar a priori bewiesen werden. Trotzdem, d.h. trotz der Übervernünftigkeit geoffenbarter Wahrheiten, ist es die Vernunft, die einer Richterin gleich die Glaubwürdigkeit dessen prüft, was Offenbarungsgeltung für sich beansprucht. Sind in Betreff einer Glaubenswahrheit keine Widersprüche gegen die Vernunft aufzuweisen und gibt es, wie im Falle der Heiligen Schrift, hinreichende Gründe119 für die Glaubwürdigkeit einer Offenbarung, so ist es an der Vernunft, dass sie „von da an ihr wie einem neuen Lichte weiche und ihr alle Wahrscheinlichkeitsgründe aufopfert. Das ist ungefähr so, wie wenn ein neuer vom Fürsten beauftragter Vorsteher der Versammlung, deren Präsident er werden soll, erst einmal sein Anstellungsdekret unterbreitet.“120 für einen bloß „vorgeblichen“, tatsächlich aber ‚falschen‘ und als solchen zu verwerfenden Glaubensartikel (d.i. ein Glaubensartikel, welcher der Offenbarung unmöglich entstammen kann) nennt Leibniz die „Lehre von der Verdammung der ungetauften Kinder“ (aaO., 60; § 39). – Pointiert formuliert Bernd Meyer: „Leibniz verlangt keine Unterwerfung der Vernunft unter den Glauben […] Vielmehr kann eine Wahrheit niemals gegen die Vernunft sein. Ein Glaubenssatz, der von der Vernunft widerlegt worden ist, kann von den Theologen nicht für unbegreiflich erklärt werden. […] Hat Leibniz auf diese Weise den Glauben gegenüber den von der menschlichen Vernunft erkannten notwendigen Wahrheiten in seine Schranken zurückgewiesen, so zieht er doch auch den Ansprüchen dieser Vernunft Grenzen. Denn dieser steht nur die Ablehnung dessen zu, was ihr widerspricht, nicht aber dessen, was ihr Fassungsvermögen übersteigt“ (Meyer 1967, 124). 115  AaO., 35 (§ 3). 116  AaO., 53 (§ 28). – Für das Leibnizsche System stellt die Übervernünftigkeit der Mysterien (freilich bloß, insofern ihre Widervernünftigkeit ausgeschlossen werden kann) deshalb keine Schwierigkeit dar, weil man „den Mysterien über die Wahrheitsbeweise [preuves de la vérité] der Religion (was man als Motive der Glaubwürdigkeit bezeichnet) Glauben geschenkt“ hat (aaO., 36; § 5; Hervorh. i. O.). Gemeint sind die Glaubwürdigkeit des Überlieferungszusammenhangs sowie das testimonium spiritus sancti internum (s.o.). 117  AaO., 72 (§ 61). 118  AaO., 53f. (§ 29). 119   Gemeint sind wieder die Glaubwürdigkeit des Überlieferungszusammenhangs sowie das testimonium spiritus sancti internum (s.o.). 120  AaO., 54 (§ 29).

VI. Die Suffizienzthese in der Krise

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Achten wir nun ferner darauf, wogegen Lessing gerade diesen Leibniz ins Feld führt, so sehen wir, dass es ihm auch hier wieder – wie schon im Berengarius – darum geht, ‚der Zweifel noch mehr zu machen‘: Anders als die Neologen, die das Christentum – auf leider ganz unphilosophische und schlechterdings einfältige Weise121 – als (natürliche) Religion der gesunden Vernunft darzulegen sich bemühen, betont Leibniz die Übervernünftigkeit der Mysterien und damit die Unmöglichkeit, gerade den Kern der christlichen Lehre mit der ‚gesunden‘ Vernunft erfassen zu können. Wer also im Geiste der weltweisen Gottesgelehrtheit (oder auch der gottesgelehrten Weltweisheit) meint, die orthodoxen Wahrheiten entweder als unwesentlich an den Rand drängen oder gar als unvernünftig aus dem Lehrgebäude des wahren Christentums verbannen zu können122, dem hält Lessing Leibniz als einen Mann entgegen, welcher nicht bloß als Jüngling „der orthodoxen Meinung“ gewesen, sondern vielmehr zeitlebens eine „strenge Rechtgläubigkeit“ sich bewahrt habe.123 121   Mit Blick auf die Leibnizsche Defensio Trinitatis schreibt Lessing in einem Brief vom 1. Mai 1774 an Mendelssohn: „Denn es ist unstreitig besser, [wie Leibniz] eine unphilosophische Sache sehr philosophisch verteidigen, als [wie etwa die neueren Aufklärungstheologen] unphilosophisch verwerfen und reformieren wollen“ (Brief Nr. 970 [An Moses Mendelssohn; 1. Mai 1774], in: B 11/2, 643f. Hier: 643,14ff.). Wenn Lessing (der zeitlebens um ein vernunftgemäßes Verständnis der Trinitätslehre gerungen hat) hier die Trinitätslehre als „eine unphilosophische Sache“ und (im selben Brief) gar als „komplette[n] Nonsens“ bezeichnet (aaO., 643,10); und wenn er ferner im Blick auf sein frühes Fragment Das Christentum der Vernunft scheinbar abwertend von „ehemaligen Grillen“ spricht (aaO., 643,16f.), so ist dies (insbesondere wenn man an § 73 der Erziehung des Menschengeschlechts denkt) wohl als ein Zugeständnis an seinen jüdischen (und also anti-trinitarischen) Gesprächspartner zu verstehen. – Zum Gedanken Lessingscher Rücksichtnahme gegenüber Mendelssohns Judentum vgl. Nisbet 2008, 181 sowie zur Relativierung der eben zitierten brieflichen Aussage Vollhardt 2018, 87 u. Nisbet 2008, 676f. 122   Gegen diese Strategie wendet sich Lessing auch in den beiden Nachlass-Fragmenten Vom Arianismus, zufolge einer Abhandlung des Hrn. D. Töllners nemlichen Inhalts und Über den Arianismus von Philalethes dem mittlern. Zufolge Herrn D. Tellers Antithesen, beide wohl um das Jahr 1773/74 entstanden (vgl. B 8, 613–615). 123   B 7, 573,11.18f. – Wie bereits in Leibnitz von den ewigen Strafen (als Nummer VII. im ersten Beitrag seiner Bibliothekszeitschrift erschienen; in: B 7, 472–501) so ‚rettet‘ Lessing auch hier Leibniz gegen den Vorwurf einer bloß geheuchelten Orthodoxie. – Zu besagtem Vorwurf vgl. in Leibnitz von den ewigen Strafen: B 7, 481,34–482,15; sowie in Andreas Wissowatius: B 7, 573,29–574,9. Dass in Leibnitz von den ewigen Strafen „die für eine Rettung typische Konstellation erreicht“ wird, findet sich dargestellt bei Vollhardt 2018, 297–302. – Zentral für Lessings Argumentation ist dabei die Unterscheidung von exoterischer und esoterischer Ausdrucksweise, wobei man hierin „nur nicht […] etwas mehr als Verschiedenheit der Lehrart zu sehen“ glauben dürfe. In diesem Sinne, so Lessing, lasse sich Leibniz beispielsweise „nur darum die gemeine Lehre von der Verdammung, nach allen ihren exoterischen Gründen, gefallen […]: weil er erkannte, daß sie mit einer großen Wahrheit seiner esoterischen Philosophie mehr übereinstimme, als die gegenseitige Lehre. Freilich nahm er sie nicht in dem rohen und wüsten Begriffe, in dem sie so mancher Theologe nimmt. Aber er fand, daß selbst in diesem rohen und wüsten Begriffe noch mehr wahres liege, als in den eben so rohen und wüsten Begriffen der schwärmerischen Verteidiger der Wiederbringung: und nur das bewog ihn, mit den Orthodoxen lieber der Sache ein wenig zuviel zu tun, als mit den letztern zu

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Lessing also bringt Leibniz gegen eine Theologie in Stellung, welche „die christliche Religion auf bloß natürliche Beweise zu gründen“ sucht.124 In unnachahmlicher Weise problematisiert er gerade deren Glaubensbegriff, indem er den Vorwurf, Leibniz habe von all dem, „was er die Welt überreden wollte, daß sie glauben müsse“, selbst nichts geglaubt125 – in diesem Falle also die orthodoxe Trinitätslehre –, mit den folgenden Worten pariert: Er [sc. Leibniz] glaubte! Wenn ich doch nur wüßte, was man mit diesem Worte sagen wollte. In dem Munde so mancher neuern Theologen, muß ich bekennen, ist es mir wenigstens ein wahres Rätsel. Diese Männer haben seit zwanzig, dreißig Jahren in der Erkenntnis der Religion so große Schritte getan, daß, wenn ich einen ältern Dogmatiker gegen sie aufschlage, ich mich in einem ganz fremden Lande zu sein vermeine. Sie haben so viel dringende Gründe des Glaubens, so viel unumstößliche Beweise für die Wahrheit der christlichen Religion an der Hand[126], daß ich mich nicht genug wundern kann, wie man jemals so kurzsichtig sein können, den Glauben an diese Wahrheit für eine übernatürliche Gnadenwirkung zu halten. Alles, was ich in jenen alten Dogmatikern bloß als wahrscheinliche Vermutungen, als „praeiudicia“, als „praescriptiones“, angeführt finde, welche einen Nichtchristen bewegen können, die christliche Religion nicht so schlechtweg zu verwerfen, sondern sich einer ernstlichen Prüfung derselben zu unterziehen; alles, womit man ehedem bloß die Einwürfe der Ungläubigen und Abgötter ablaufen lassen; kurz, alles, wovon aufrichtig allda bekannt wird, daß es, weder einzeln noch zusammengenommen, eine beruhigende Überzeugung wirken könne: alles dieses haben so viele unserer neuerern Gottesgelehrten, zusammen so in einander gekettet, und einzeln so ausgefeilt und zugespitzt, daß nur die mutwilligste Blindheit, nur die vorsetzlichste Hartnäckigkeit sich nicht überführt bekennen kann. Was der Heilige Geist nun noch dabei tun will, oder kann, das steht freilich bei ihm: aber wahrlich, wenn er auch nichts dabei tun will, so ist es eben das. Sie haben bewiesen, und so scharf bewiesen, daß kein billiges Gemüt an der Gründlichkeit ihrer Beweise etwas wird auszusetzen finden.

wenig“ (B 7, 486,15–487,4 [Leibnitz von den ewigen Strafen]). In gleicher Weise habe er den antitrinitarischen Sozinianismus keineswegs nur deshalb abgelehnt, „um den Orthodoxen zu heucheln. Nein: sondern seine ganze ihm eigene Philosophie war es, die sich gegen den abergläubischen Unsinn empörte […]“ (B 7, 575,28ff. [Andreas Wissowatius]). – Zur pädagogischen Begründung der exoterischen Vortragsweise vgl. B 7, 483,9–21 (Leibnitz von den ewigen Strafen). Vgl. hierzu auch den Abschnitt bei Meyer 1967, 133–141. 124   B 7, 579,10f. (Andreas Wissowatius). – Diese gegen die Neologie gerichtete Stoßrichtung Lessings betont auch Allison: Lessing „merely uses the example of Leibniz’s procedure against the Socinians as a vehicle for his own attack on neology. Because of the basic affinity between the Socinian and the neological rationalisms, Lessing saw in Leibniz’s polemic the perfect complement to his own. Although neither can be considered Christian in the orthodox sense, both Lessing and Leibniz saw fit to defend the orthodox doctrines against the pretensions of their shallow, rationalistic opponents“ (Allison 2018, 85); vgl. auch Bohnen 2000, 1127f. sowie Pons 1980, 403f.; Bothe 1972, 43; Vollhardt 2018, 88.301. Dass sich Lessing in dieser Sache zurecht auf Leibniz beruft, betont Meyer 1967, 111–154 (s. v.a. 152 Anm. 3). 125   B 7, 574,7ff. 126  S. beispielsweise den vielsagenden Titel von Johann Gottlieb Töllners Versuch eines Beweises der Christlichen Religion für Jederman (1772).

VI. Die Suffizienzthese in der Krise

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[…] Sie also freilich, die in diesen letzten Tagen ganz anders gelernt haben, die Vernunft zum Glauben zu zwingen, werden schon Leibnitzen mit der Zeit, in welcher er lebte, entschuldigen müssen, wenn ich von ihm versichere, daß er freilich nicht, weder die Dreieinigkeit, noch sonst eine geoffenbarte Lehre der Religion geglaubt hat; wenn glauben so viel heißt, als aus natürlichen Gründen für wahr halten.127

Ein Glaubensbegriff, der keinen Raum mehr lässt für die Übervernünftigkeit der Mysterien, muss Lessing ‚rätselhaft‘ erscheinen, ja, er gereicht ihm selbst zum Mysterium. Indem ‚glauben‘ nunmehr das bezeichnet, was jeder denkende Mensch tut – nämlich etwas „aus natürlichen Gründen für wahr halten“ –, widerspricht dieser Glaubensbegriff nicht nur der orthodoxen Vorstellung vom Glauben als einer ‚übernatürlichen Gnadenwirkung‘; vielmehr stellt sich auch und grundsätzlich die Frage, was das überhaupt sein soll: ein Glaube, der nichts mehr glaubet? Oder, wie es Lessing – wieder mit Blick auf Leibniz – ironisch formuliert: Er mußte, leider, aus Vorurteilen seiner Jugend sogar dafür halten, daß die christliche Religion, bloß vermöge eines, oder mehrerer, oder auch aller erklärbaren Gründe, glauben, sie eigentlich nicht glauben heiße; und daß das einzige Buch, welches, im eigentlichen Verstande, für die Wahrheit der Bibel, jemals geschrieben worden, und geschrieben werden könne, kein anderes als die Bibel selbst sei.128

Freilich vermag das zeitgenössische Aufklärertum auch solche Äußerungen nicht unkommentiert stehen zu lassen. Trocken und die nötige Distanz betonend, formulieren etwa die Göttingischen Anzeigen von Gelehrten Sachen: „Hr. L. vertheidigt auch hier die Orthodoxie und den Glauben des Philosophen [sc. Leibniz], und hält den ältern Dogmatikern eine merkwürdige Lobrede.“129 Dabei sei nochmals betont, dass Lessing weder die Seiten gewechselt noch auch das Lob der Orthodoxen hat erschleichen wollen. Aufschlussreich heißt es in

127   B 7, 578,7–579,7 (Hervorh. i. O.). – Die moralische Gewissheit von der Wahrheit der philosophisch unbeweisbaren Mysterien gründet für Leibniz in eben dem testimonium spiritus sancti internum sowie in der Glaubwürdigkeit des historischen Überlieferungszusammenhanges der biblischen Lehren (s. Exkurs 3). 128   B 7, 579,34–580,4 (Hervorh. i. O.). – Allerdings sollte man Lessing nicht vorschnell mit dem anti-neologisch akzentuierten Leibniz identifizieren. Anders ausgedrückt, bedeutet seine Kritik des neologischen Glaubensbegriffs noch keineswegs eine ‚bewusste Wiederaufnahme der orthodox-christlichen Tradition‘ im Sinne einer „scharf formulierte[n] Unterscheidung zwischen Vernunft und Religion, Erkennen und Glauben“ (im kritisierten Sinne verfährt Bothe 1972, 48). 129   Göttingische Anzeigen von Gelehrten Sachen (1773), Bd. 1, 140. Stück, 1191. – Doch soll auch die (wenigstens teilweise) positive Resonanz aus Lessings Umfeld nicht verschwiegen werden: „Übrigens, mein teuerster Freund, dank ich Ihnen für ihren Zwoten Beitrag etc. Ich habe mit großem Vergnügen ihn gelesen, und überall meinen Leßing gefunden am meisten aber in diesem vortrefflichen Articul, in welchem Er unsern stolzen Socinianern, Ihnen zur Demütigung, so heilsame Wahrheiten sagt“ (Brief Nr. 958 [Von Johann Wilhelm Ludwig Gleim; 4. Febr. 1774], in: B 11/2, 617f. Hier: 617,32–618,2).

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einem Brief an seinen Bruder Karl, den ersten seiner beiden Leibniz-Aufsätze betreffend: Von dem Theater auf die Kanzel zu kommen. […] So habe ich wirklich, meinst Du, mit meinen Gedanken über die ewigen Strafen den Orthodoxen die Cour machen wollen?[130] […] Was gehen mich die Orthodoxen an? Ich verachte sie eben so sehr, als Du; nur verachte ich unsere neumodischen Geistlichen noch mehr, die Theologen viel zu wenig, und Philosophen lange nicht genug sind. Ich bin von solchen schalen Köpfen auch sehr überzeugt, daß, wenn man sie aufkommen läßt, sie mit der Zeit mehr tyrannisieren werden, als es die Orthodoxen jemals getan haben.131

Exkurs 4: Die ‚neuere Theologie‘ der 1770er-Jahre Um Lessings Polemik gegen die „neuerern Gottesgelehrten“ präzise einordnen zu können, sei ein Blick in Friedrich Germanus Lüdkes Schrift Ueber Toleranz und Gewissensfreiheit aus dem Jahre 1774 getan132 – ein Buch, das gemäß dem kundigen Urteil Karl Aners „wie kaum ein anderes Werk jener Zeit auf so geringem Raum die Stellung der Neologie zu Bibel, Dogma, Kirchenrecht usw. widerspiegelt“.133 In unserer freilich sehr knappen Darstellung dieses Werkes sollen v.a. zwei Aspekte herausgestellt werden: zum einen das Selbstverständnis der ‚neueren Theologie‘, das Christentum jedenfalls in seinem Wesen keineswegs reformieren zu wollen; und zum anderen die argumentativen Voraussetzungen, vermittels derer die tatsächlich vorgenommenen (und gegenüber der orthodoxen Lehre doch sehr weitreichenden) Neuerungen in ihrer vermeintlichen Unwesentlichkeit begründet werden sollen. Bereits in der „Vorrede“ zu seinem Werk verwahrt sich Lüdke gegen jede Verketzerung vonseiten der Orthodoxie, indem er die wesentliche Einigkeit der Neologie mit der christlichen Tradition betont:

130   Auch Nicolai spricht Lessing (mit mindestens unterschwelliger Bitterkeit) als einen „orthodoxen Theologen“ an (Brief Nr. 910 [Von Friedrich Nicolai; 26. Apr. 1773], in: B 11/2, 546f. Hier: 546,14f.) und unterstellt ihm an anderer Stelle, es sei ihm „eigentlich doch nur“ um „den theologischen Doktortitel“ zu tun (vgl. Brief Nr. 956 [Von Moses Mendelssohn und Friedrich Nicolai; 1. Feb. 1774], in: B 11/2, 611ff. Hier: 613,16–27). 131   Brief Nr. 906 (An Karl Lessing; 8. Apr. 1773), in: B 11/2, 538ff. Hier: 540,4–17. – Deutliche Kritik an Lessings in Leibnitz von den ewigen Strafen geäußerte Eberhard-Kritik (gemeint ist Lessings Kritik am Umgang mit Leibniz, wie er ihm in der 1772 erschienenen Neuen Apologie des Sokrates oder Untersuchung der Lehre von der Seligkeit der Heiden des Hallenser Philosophen und Theologen Johann August Eberhard [1738–1809] begegnet ist) übt Nicolai (vgl. Brief Nr. 926 [Von Friedrich Nicolai; 13. Aug. 1773], in: B 11/2, 573–576. Hier insbes.: 575f.). – Angesichts Lessings betonter Gleichgültigkeit gegenüber der Orthodoxie als theologischer Partei oder Schule hätte es Schneider dabei belassen sollen, Lessing einen „antineologischen Standpunkt“ zuzuweisen, ohne aber die weitergehende These zu wagen, dass Lessing dabei auch „deutlich Stellung für die alte Orthodoxie“ beziehen würde (vgl. Schneider 1953, 217). 132  Friedrich Germanus Lüdke, Ueber Toleranz und Gewissensfreiheit, insofern der rechtmäßige Religionseifer sie befördert, und der unrechtmäßige sie verhindert (1774). – F. G. Lüdke (1730–1792) wirkte v.a. in Berlin, wo er von 1765 bis zu seinem Tode ein Pfarramt an St. Nicolai versah; er gilt als „wichtige[r] Multiplikator der Neologie“ (vgl. Beutel 2009, 123f.). 133   Aner 1929, 124.

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Wir haben eine Taufe, ein Nachtmahl, und einen öffentlichen Gottesdienst. Noch keiner Christenseele ist es eingefallen, etwas davon abzuschaffen, oder in dem auf das neue Testament gegründeten Glauben an das Evangelium das geringste zu ändern. – Man verlangt itzo mehr, als sonst, in den öffentlichen Vorträgen der Religion nicht so ins weite hinein von eitel transcendentalischen Dingen zu reden, die kein Mensch verstehen, fassen, anwenden, nutzen kann – Man treibt vielleicht gewisse abstruse Dogmen, die weder zur Aufweckung, noch zur Beruhigung der menschlichen Gemüther etwas beitragen, itzo nicht mehr so häufig auf der Kanzel, als vormals, sondern man sucht den Zuhörern die eigentliche simple Lehre Jesu Christi vorzutragen, die das Herz heilsam verändert und der thätigen Gottseligkeit aufhilft – Man maßt sich nicht mehr das Recht an, über diese und jene, allen menschlichen Seelen bis itzt verborgene Dinge, welche Gottes Wort in der Dunkelheit und unerklärt gelassen hat, gewisse Hypothesen und Erklärungsarten, als die einzigen, allein ausgemacht wahren, festzusetzen, und sie dann einemjeden für Glaubensartikel aufzudringen; sondern hält sich mehr bei den Sachen auf, die alle Christen zu ihrer wahren Glückseligkeit mit Ueberzeugung glauben, und redlich ausüben müssen. – Man sucht die Begriffe der Menschen in Religionssachen mehr aufzuklären. Man bindet sich nicht mehr so sklavisch an manche räthselhafte, den gemeinen Christen völlig unverständliche Formeln. Man fängt an, eine gesundere Auslegungsart der heiligen Schrift einzuführen, als diejenige seyn kann, da einjeder Gottesgelehrte nur immer den Sinn ihrer Worte nach dem Lehrbegriff seiner Kirchenpartei modelt – Man verbessert die Gesangbücher, die Andachtsbücher, die öffentlichen Liturgien nach den Bedürfnissen unserer Zeiten – Will man das Neuerungen in der christlichen Kirche nennen, so thue man es. Wenn sie nur gut und nöthig, nicht furchtbar und gefährlich, sondern ersprieslich sind; und das sind sie nach der itzigen Lage der Welt, und dem Verhältniß, in welchem die Religionserkenntniß allemal mit den übrigen Wissenschaften steht, gewiß. Wozu jägt man also dem christlichen Publicum ein Schrecken ein, das gar keinen Grund hat?[134] Soviel unserer rechtschaffene Christen sind, soviel sind wir auch noch immer, mit Paulo zu reden, ein Leib und ein Geist, zu einerlei himmlischer Hoffnung berufen; soviel haben wir auch noch immer einen Herrn, einen Glauben, eine Taufe, einen Gott und Vater unsers Herrn Jesu Christi, und werden ihn bis an der Welt Ende behalten.135 Mit der Gegenüberstellung ‚gewisser Abstrusitäten‘ oder ‚Rätselhaftigkeiten‘ auf der einen und der „eigentliche[n] simple[n] Lehre Jesu Christi“ auf der anderen Seite klingen schon hier charakteristische Differenzierungen an, die auf die noch folgenden Unterscheidungen bereits vorausdeuten. Diese nun betreffen zunächst die Religion als Ganzes, nämlich in ihrer Differenzierung in einen „theoretischen“, „sämtliche[] Glaubenslehren“ umfassenden und einen „praktischen“, „die gesamten Sittenlehren oder Lebenspflichten“ umgreifenden „Theil“. Dabei ist das Verhältnis von religiöser Theorie und Praxis näherhin als ein Begründungsverhältnis zu fassen: „weil in den Glaubenslehren die Motive zu den Lebenspflichten enthalten sind“.136 – Nun kann es angesichts der moralisierenden Tendenz des 18. Jahrhunderts kaum verwundern, dass hinsichtlich der Glaubens- und Sittenlehren allein die letzteren als aus-

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  Gemeint sind alle Arten von Verketzerung dieser Neuerungen.  Lüdke, Ueber Toleranz und Gewissensfreiheit, XIII–XV (Vorrede). 136  AaO., 5. 135

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nahmslos verbindlich erachtet werden137, während innerhalb der Glaubenslehren durchaus zwischen solchen von „größere[r]“ und solchen von „geringere[r] Wichtigkeit“ unterschieden wird: „Einige haben einen nahen unmittelbaren Einfluß auf die Gesinnungen und das Verhalten der Menschen; andere einen entfernteren, noch andere gar keinen.“138 Die letztgenannten haben die Menschen „zu wichtigen Glaubensartikeln gemacht“ – nicht Gott! Entsprechend klar sind sie zu klassifizieren: z.B. als ‚philosophische Spekulationen und ganz unfruchtbare Theorien‘, als ‚hinzugekommene Menschenlehren‘ oder ‚beigemischter Menschentand‘, als ‚außerwesentliche Artikel‘, als „Theoreme und Probleme der gelehrten theologischen Schulwissenschaft“, als „eitel theologische Hypothesen“, kurzum: als „speculative Theologie, welche bloß [den] Kopf“ – d.h. den Menschen als Vernünftelnden, und nicht als moralisch Handelnden – „in gewissen Stunden beschäftiget“.139 Dieser spekulativen und unfruchtbaren Theologie als einer Menschenlehre steht nun „die reine göttliche Wahrheit des Evangeliums“140 gegenüber. Angesprochen sind solche Lehren, „die zum Wesen des Christenthums gehören“ und auf welchen „eigentlich unsere Seligkeit be­ ruhe[t]“.141 Diese sind ‚einfach‘, ‚simpel‘ und ‚lichtvoll‘.142 Selbst der ‚gemeine evangelische Christ‘ hat von ihnen „eine klare anschauende Erkenntniß, ein lebendiges unmittelbares Gefühl in seiner Seele“.143 Das eine aber vom andern zu unterscheiden, d.h. im Zuge einer „schärferen Sichtung“ des „christlichen oder vielmehr theologischen Glauben[s]“, wie er über die Jahrhunderte „aufgehäufet“ und überliefert worden und wie ihn „unsre Vorfahren ohne Unterschied für gute körnigte Wahrheit gehalten haben“, zu überprüfen, und so „leichte Spreu und taubes Korn[] aus der Masse des guten Weizens“ herauszutrennen – darin also erblickt Lüdke die eigentliche Aufgabe aufgeklärter Theologie.144 Es geht ihm folglich um nichts Geringeres als die Wiederherstellung „der wahren Religion des Evangeliums“.145 Als zuverlässig erscheinen ihm dabei die beiden folgenden Kriterien: Erstlich, ob sie [sc. die zu prüfenden Religionslehren] dem Verstande und Gewissen einesjeden überlegenden Menschen, ohne vieles Grübeln und Speculiren dabei nöthig zu haben, alsobald als Wahrheit einleuchten; oder ob es erst eines langen Nachforschens und gelehrter, zum Theil spitzfindiger Untersuchungen bedürfe, um sie mit Sicherheit dafür anzunehmen. Zweitens, ob aufrichtige Rechtschaffenheit des Herzens und standhafte Tugend im Leben, ob gegründete dauerhafte Gemüthsruhe, ob zuverläßige Hofnung der Glückseligkeit auf die Zukunft, ohne dieselbe gar nicht möglich sey, oder gar wohl ohne sie bestehen könne. 137   Vgl. aaO., 8: Die „praktischen Lehren der Religion […] stehen mit unserm zeitlichen und ewigen Wohl in der unmittelbarsten Verbindung. Ich kann ohne Nachtheil für mich oder das gemeine Wesen nicht eine einzige ungeglaubt und unbefolgt lassen. Alle berühren die Sitten und das Leben der Menschen.“ 138  AaO., 6. 139  Die beispielhaft zitierten Klassifizierungen finden sich aaO., 7.60.62.XIX (Vorrede).64.66.78. 140  AaO., 60. 141  AaO., XIX (Vorrede). 142  AaO., 60.63.XX (Vorrede). 143  AaO., 74. 144  AaO., 61 (Hervorh. D.Z.). 145  AaO., 62.

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In den beiden ersten Fällen gehört eine Lehre wesentlich zur Religion, in den letzten aber zu den theologischen oder philosophischen Problemen und Hypothesen, die ihren grössern oder geringern Werth haben, mit mehr oder weniger Scharfsinn von gelehrten Männern erfunden, durchgedacht, in ein System gebracht sind, über welche man für oder wider disputiren kann, die man aber nicht jedermann als nothwendige Glaubensartikel aufdringen darf.146 Die unbestreitbare Geltung der genannten Kriterien meint Lüdke „mit wenigen Worten“ nun dadurch begründen zu können, dass „eine wesentliche Religionslehre das Herz und das Leben aller Menschen interessiren, und um einen gewissenhaften Gebrauch davon zu machen, verstanden werden muß“. Denn nur eine Lehre, die ich verstehe, kann „meinem Herzen und Gewissen […] wichtig und anschauend gemacht werden […], daß ich daraus unmittelbare Bewegungsgründe zu moralischen Gesinnungen und Handlungen her­ nehme“.147 Anders ausgedrückt: „theologische Hypothesen […] sind kein unentbehrliches Principium der Tugend“.148 Freilich: Wenn in der Durchführung solcher Kritik explizit auch die christologisch zentrale Trinitäts- und Zweinaturenlehre149, das Erbsündendogma150 sowie Fragen des Sakramentsverständnisses151 in den Status ‚theologischer Hypothesen‘ versetzt (oder besser: herabgewürdigt) werden, so bedeutet dies – allen gegenteiligen Versicherungen zum Trotz (und wenigstens aus orthodoxer Perspektive) – durchaus einen Angriff auf das Wesen des Christentums.152 In diesem Sinne rückt Lüdke – gewissermaßen gegen das athanasianische 146

 AaO., 69.  AaO., 72. 148  AaO., 46. – Mit diesen Kriterien weist Lüdke zugleich (und gut aufklärerisch) jedes Autoritätsargument zurück. Um eine Lehre als wesentliche Religionswahrheit begründen zu können, genügt es demnach keineswegs, auf die Kirchenväter („Wer waren denn die Kirchenväter? mag man wohl fragen – Die angesehensten Lehrer, die Gelehrtesten ihrer Zeit. Aber doch nicht alle von gleichem Gehalt; einige mehr, andere weniger erleuchtet“; aaO., 95) oder die Konzile („Und was bedeuten bischöfliche Concilien und deren Aussprüche? Gerade soviel als Richtersprüche bedeuten können, an denen Parteiligkeit und Kabale größtentheils mehr Antheil haben, als die ruhige und freie Untersuchung der Wahrheit“; aaO., 95f.) zu verweisen; auch die symbolischen Bücher, die Bekenntnisschriften, haben keine wahrheitsbegründende Kraft („Wer waren ferner die Verfasser unserer symbolischen Bücher, die man wider ihre Absicht, zu immerwährenden Glaubensvorschriften auf ewige Zeiten gemacht hat? Ebenfalls Gelehrte und zum Theil vortrefliche Männer, deren Asche noch verehrungswürdig ist. […] Aber […] so frage ich: War es denn schlechterdings unmöglich, daß diese Männer von späteren Gelehrten, die in ruhigern und aufgeklärtern Zeiten lebten, und alles noch genauer prüften, übertroffen wurden?“; aaO., 96f.), ebenso wenig theologische Fakultäten oder „Doctoren der Gottesgelahrheit“ (auch sie sind keine „untrügliche[n] Richter in Glaubenssachen“; aaO., 97). – Wer nun (wie mancher Orthodoxe) gleichwohl eine Lehre allein danach beurteilen will, ob sie „symbolisch oder nicht symbolisch sey“ (d.h. ob sie mit den Aussagen der Bekenntnisschriften vereinbar ist oder nicht), folgt einer durchaus „papistisch“ zu bezeichnenden „Procedur“: „denn die römische Kirche beruft sich mit gleichem Rechte auf päpstliche Decrete und Concilien, wie wir Protestanten auf symbolische Bücher“ (aaO., 99; zu Lüdkes Kritik der Symbola und ihres Gebrauchs in der orthodoxen Theologie vgl. auch aaO., 375f.). 149   Vgl. aaO., 65f.74. 150   Vgl. aaO., 66f. 151   Vgl. aaO., 67f. 152   Zu einem ähnlich unorthodoxen Ergebnis könnte man auch im Anschluss an Johann Gottlieb Töllners Versuch eines Beweises der Christlichen Religion für Jederman (1772) gelan147

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Haec est fides catholica153 – die „einfachern und faßlichern Principien“ ins Zentrum der christlichen Religion, so etwa die Ehrfurcht gegen den allgegenwärtigen Gott; die „herz­ liche Liebe“ zu und der unbedingte Gehorsam gegen unseren „Erlöser“ Jesus Christus (der v.a. als „das große Exempel“ angesprochen wird); das menschliche, zur Tugend reizende und vor der Sünde warnende Gewissen sowie „die Ewigkeit“ und unsere „künftige Rechenschaft in derselben“.154 Dieses ‚geläuterte‘ – und moralisierende – Christentum, auf welchem „die Heiligung, der Trost und die Hofnung unserer unsterblichen Seele beruhet“, diese ‚simple‘ und ‚wahre‘ Religion freilich leuchtet „mit der überzeugendsten Klarheit und Gewißheit“ ein, „die nur möglich ist“.155 Eben weil „alle Lehren Jesu […] mit der aufgeklärten reinsten Vernunft in der besten Harmonie stehen“156 und uns „die beste praktische Philosophie“ an die Hand geben, durch deren Befolgung „das menschliche Geschlecht“ an kein geringeres Ziel als zu „seiner wahren Bestimmung“ gelangt, wird jeder, der „mit ganz freiem offenen Verstande und Wahrheit liebendem Gemüthe“ sich dieser Lehre widmet, schlechthin „sich gedrungen sehen, ihr Beifall zu geben“.157 Kurzum: Dieses ‚geläuterte‘ Christentum, diese wiederhergestellte ‚wahre‘ Religion ist zugleich und in Einem „die Religion des vernünftigen Menschen, und des erleuchteten Christen“.158 – Mit gen (wobei diese Schrift freilich schon allein ob ihres Titels allen Argwohn der Lessingschen Kritik verdiente; vgl. o. Anm. 126). Nachdem Töllner (1724–1774, seit 1760 o. Prof. der Philosophie und Theologie in Frankfurt/O.) mittels eines ‚historischen Beweises‘ (vgl. aaO., 181f.; § 120) sein vorgestecktes Ziel, die vier Evangelien als „wahre und glaubwürdige Geschichtsbücher“ zu beweisen, erreicht zu haben meint – „Denn sind sie [sc. die vier Evangelien] das [sc. wahre und glaubwürdige Geschichtsbücher]: so hat […] Jesus“, wie es uns in den Evangelien ja als Historie überliefert wird, „seine ganze Lehre unmittelbar von Gott zu haben behauptet, und Gott zur Bestätigung dessen durch ihn und mit ihm eine grosse Menge von Wundern gethan. Und war seine ganze Lehre von Gott: so ist der ganze in der Schrift verfaßte Religionsunterricht ein göttlicher, und mithin auch durchgängig wahrer Religionsunterricht. Denn er ist aus lauter von ihm selbst vorgetragenen oder doch von ihm für göttlich erklärten Lehren zusammengesetzt“ (aaO., 20; § 23) –, mahnt er hinsichtlich der „Lehren von der Dreieinigkeit, von der Menschwerdung des Sohnes Gottes, und von der künftigen Auferstehung des Fleisches“ eine ‚sorgfältige‘ Prüfung an: dergestalt, „ob die Lehren, welche uns so unbegreiflich und unverständlich scheinen, auch sämtlich wirkliche Lehren der Schrift sind“. So sei nämlich „manche sehr einfältige und an sich sehr faßliche Wahrheit durch menschliche Einkleidungen und Zusätze ihrer ursprünglichen Einfalt und Faßlichkeit beraubt worden. Also müssen wir uns nicht übereilen, und gleich alles für eine Lehre der Schrift und christlichen Religion halten.“ Demnach sei es „vorzüglich nöthig, daß ein jeder Christ angewiesen werde, den Lehrbegrif der christlichen Religion nach keinem menschlichen Lehrgebäude darüber, sondern lediglich nach der heiligen Schrift, zu beurtheilen“ (aaO., 169ff.; § 113 m. Anm.; Hervorh. D.Z.). 153   Im altkirchlichen Athanasianum heißt es am Schluss der Ausführungen zur Trinitäts- und Zweinaturenlehre: „Haec est fides catholica, quam nisi quisque fideliter firmiterque credi­derit, salvus esse non poterit“ (Deutsch: „Das ist der rechte christliche Glaube; wer denselben nicht fest und treulich gleubt, der kann nicht selig werden“, BSELK, 60,25–28). 154   Vgl. Lüdke, Ueber Toleranz und Gewissensfreiheit, 74f. 155  AaO., 7. 156  AaO., 39. 157  AaO., 339. 158  AaO., 83 Anm. (Hervorh. D.Z. – Da sich die mit einem Einwand des „Herr[n] Past. Goeze“ befasste Anm. über mehrere Seiten erstreckt, finden sich die zitierten Worte erst auf S. 86). – Wie sehr sich dieses ‚geläuterte‘ Christentum vom traditionellen, orthodoxen Christentum unterscheidet, veranschaulicht Lessing meisterhaft in einer seiner Fabeln: „XVII. Die

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Lessing gesprochen zwingt Lüdkes Auslegung des Christentums die Vernunft regelrecht zum Glauben. Hier nun stellt sich die Frage nach dem Verhältnis von Vernunft und Glauben, wie sie im siebenten und zugleich letzten Kapitel von Lüdkes Buch eingehender besprochen wird.159 Wer dort freilich eine in systematischer Hinsicht befriedigende Antwort erwartet, wird sich durch die Lektüre der entsprechenden Passagen enttäuscht sehen: Zwar ist Lüdke – im Vergleich zu seinen neologischen Parteigenossen – durchaus „zu einer bewußt rationalistischen Fassung des Offenbarungsinhalts“, sprich zu einer inhaltlichen Identifikation von Vernunft und Offenbarung fortgeschritten160; und doch finden sich auch „bei ihm noch die vertrauten dualistischen Formeln der Neologie“; gemeint sind solche Formeln, die eine Wechselwirkung zwischen Vernunft und Offenbarung konstatieren: die Vernunft komme der Offenbarung auslegend und vor falschen Deutungen schützend, zu Hilfe; die Offenbarung wieder stärke die Schwachheit der menschlichen Geisteskräfte, sie ergänze die natürliche Erkenntnis […].161 Obgleich also die erkenntnistheoretischen Voraussetzungen von Lüdkes Toleranz-Programm, mindestens auf den ersten Blick, unscharf erscheinen, kann mit Lessing gleichwohl ein klares und eindeutiges Urteil gefällt werden. Wenn nämlich „die Lehre Christi, abgesondert von allem Menschentand, [sich] an dem gesunden Verstande und natürlichem Gewissen des Menschen rechtfertige[t]“162, weil sie selbst – wie die biblische Lehre insgesamt – nichts als „die einfachste, reinste Philosophie des gesunden Verstandes“ ist163; und Sperlinge. Eine alte Kirche, welche den Sperlingen unzähliche [sic!] Nester gab, ward ausgebessert. Als sie nun in ihrem neuen Glanze da stand, kamen die Sperlinge wieder, ihre alten Wohnungen zu suchen. Allein sie fanden sie alle vermauert. Zu was, schrieen [sic!] sie, taugt denn nun das große Gebäude? Kommt, verlaßt den unbrauchbaren Steinhaufen!“ (G. E. Lessing, Fabeln. Drei Bücher. Nebst Abhandlungen mit dieser Dichtungsart verwandten Inhalts, in: B 4, 295–411. Hier: 309,15–21 [Fabeln, Erstes Buch]). 159   Das Kapitel ist mit den Worten „Rechte der Vernunft in Glaubenssachen“ überschrieben und umfasst nicht weniger als 60 Seiten. 160   Dies zeigen nicht zuletzt die im Folgenden noch zitierten Aussagen von der biblischen Lehre als ‚der reinsten Philosophie des gesunden Verstandes‘ etc. 161   Aner 1929, 354. – Zur Wechselwirkung zwischen einer die natürliche Erkenntnis ergänzenden Offenbarung und einer das rechte Verständnis dieser Offenbarung allererst ermöglichenden und garantierenden vernünftigen Bibelauslegung vgl. Lüdke, Ueber Toleranz und Gewissensfreiheit, 332–335. – Eine Anleitung zur vernünftigen Bibellektüre findet sich aaO., 338–340. – Die Beschränktheit der Vernunft und (damit zusammenhängend) ein (wenigstens etwas) „härterer“ Offenbarungsbegriff scheinen thematisiert zu werden aaO., 361. – Als unklar erscheint die Systematik hingegen dort, wo zunächst davon die Rede ist, biblisch geoffenbarte und natürlich erkannte Lehren könnten unmöglich einander „ganz entgegenstehend[]“ sein, sie müssten vielmehr „zusammenstimmen“; um dann die biblischen „Lehren mit allen ausgemachten Wahrheiten der Vernunft in Uebereinstimmung“ zu denken (vgl. aaO., 367; Hervorh. D.Z.). 162  AaO., 340. 163  AaO., 353. – Ein aufschlussreiches Beispiel neologischer Exegese findet sich auf den Seiten 340–348. Hier wird die vermeintliche Vernunftkritik des Paulus als tatsächliche Kritik vernünftelnder Sophistereien verstanden. Das Ergebnis lautet entsprechend: „Es fehlt also soviel, daß die obigen Stellen aus des Paulus Briefen der gesunden menschlichen Vernunft ihr natürliches Recht in Glaubenssachen zu urtheilen, schmälern sollten, daß sie solches vielmehr derselben kräftig bestätigen“ (aaO., 348).

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Zweiter Teil: Kurskorrektur

wenn – noch mehr – die Vernunft selbst „ein lebendiger Funke der Gottheit in meiner Seele“ ist, nämlich „die erste und die allgemeinste Offenbarung Gottes“, deren Licht „auf gleiche Weise aus der reinen, ewigen Quelle“ des unendlichen göttlichen Verstandes „in meine Seele ausgeflossen ist“ wie auch schon dasjenige, welches aus den biblischen Schriften hervorleuchtet164; ja wenn die Notwendigkeit einer positiven Religion und eines „göttlich autorisirten Buch[es], das ihre Lehren enthält“, allein dadurch gerechtfertigt werden kann, dass die Menschheit in ihrer „Totalität unmöglich durch bloßes Raisonnement der Vernunft zur Gottseligkeit und Tugend geleitet werden“ kann165, die Bibel als ein ‚klarer und populärer Unterricht‘166 sich also primär und eigentlich an die weniger verstandesbegabten Menschen (und eben nicht an die Philosophen) richtet167; so heißt dem schlichten philosophischen Gemüte glauben tatsächlich so viel, „als aus natürlichen Gründen für wahr halten“. Lessings Kritik trifft also auch hier wieder voll ins Schwarze.

3. Fazit Halten wir fest: Das Sapere aude! gilt für Lessing auch gegenüber den aufklärerischen Bemühungen im Bereich der Theologie. Als ihm die Suffizienz der natürlichen Religion selbst zweifelhaft wird, kommuniziert er diesen Zweifel in die Öffentlichkeit, indem er die ‚neuere Theologie‘ genau dort zu greifen sucht, wo sie – im Geiste der Aufklärung zwar, doch auf philosophisch (und theologisch) ganz und gar unbefriedigende Weise168 – nichts als „gesunde Vernunft in ihr System hinein haben“ will. Im Rekurs auf Leibniz, jenen herausragenden Philosophen169, plädiert er dafür, die übervernünftigen Mysterien nicht vorschnell und allzu einfältig als widervernünftig abzutun170 – besteht doch im164

  Die zitierten Qualifizierungen finden sich aaO., 331.332.333.  AaO., 361 (Hervorh. D.Z.). 166  AaO., 352. 167   Demnach findet sich in den biblischen Schriften „die einfachste, reinste Philosophie des gesunden Verstandes, so vorgetragen, daß einjeder auch von den geringsten Fähigkeiten ihre Lehren fassen kann“ (aaO., 353). 168  S. obiges Briefzitat an Mendelssohn in Anm. 121 sowie an Karl Lessing bei Anm. 131. – Pointiert bei Schneider: „Die religionsphilosophischen Ansichten seiner aufgeklärten Zeitgenossen sind für Lessing nichts anderes als ein fader Absud des radikalen Deismus“ (Schneider 1953, 192). 169   Vgl. Lessings Loblied auf Leibnizens Hellsichtigkeit: „Man erkennet zu wohl, daß Leibnitz aus der Klasse der alltäglichen Philosophen nicht ist, in deren Kopfe es so hell und zugleich so finster sein kann, so viel Sinn neben so viel Unsinn so nachbarlich und friedlich hausen kann, daß sie bald englische Scharfsinnigkeit zeigen, und bald kindischen Blödsinn verraten. Man hat zu viele Beweise, daß das Licht seines Verstandes überall gleich verbreitet war“ (B 7, 573,21–27). 170   Auch für Schneider zeichnen Lessings wiederaufgenommene Leibnizstudien dafür verantwortlich, dass sich ihm „die Frage nach dem Wahrheitsgehalt der Dogmen“ von neuem stellt (vgl. Schneider 1953, 201; vgl. außerdem aaO., 212); vgl. außerdem Meyer 1967, 150. Nisbet weist der erneuten Leibnizbeschäftigung eine ‚kritische Bedeutung‘ für Lessings philosophisches und theologisches Denken zu (vgl. Nisbet 2008, 670ff.). – Allerdings sollte man vor165

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merhin die Möglichkeit, dass man sich dort bereits am ‚Ziel seines Nachdenkens‘ wähnt, wo man „des Nachdenkens“ bloß „müde geworden“171, ja dass – einer gewissen „Seichtigkeit des Geistes“ erliegend – man „auf halbem Wege stehen bleibt“.172

sichtig damit sein, Lessing vorschnell auf die Leibnizsche Position festzulegen, wie es Meyer (wenigstens teilweise) zu tun scheint (vgl. etwa Meyer 1967, 151f.). 171  S. obiges Briefzitat an Mendelssohn bei Anm. 68. 172   B 7, 577,35ff. – Dass es auch im Berengarius letztlich um „das Problem der Haltung gegenüber dem Supranaturalen“ geht, wobei Lessing dort mit seiner Ketzer-Definition unbestreitbar einen ‚philosophischeren‘ Geist als den einer bloß ‚seichten‘ Aufklärung heraufbeschwört, betont Liepmann 1931, 106. – Was es für Lessing bedeutet, den Weg des Nachdenkens bis zu seinem tatsächlichen Ende zu gehen, wird sich im weiteren Verlauf der Arbeit noch zeigen. Jedenfalls scheint das von Schneider konstatierte Ergebnis, Lessing stimme mit Leibniz mindestens darin überein, „dass die Religionswahrheiten zwar nicht vernunftmässig bewiesen, aber auch nicht durch die Vernunft vernichtet werden können“ (Schneider 1953, 217), übereilt gefolgert zu sein.

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Das Wort Zufall ist Gotteslästerung. Nichts unter der Sonne ist Zufall. (G. E. Lessing, Emilia Galotti, 1772)

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VII. Geschichtliche Vernunft – vernünftige Geschichte oder Lessings Theodizee der Religionen1 1. Nicht orthodox, nicht Neologe – Ein Briefzitat Es sei noch einmal und mit Nachdruck betont: Auch der späte, der Wolfenbütteler Lessing taugt zum Orthodoxen nicht.2 Allerdings – und gerade das ist es, was auch den Wohlgesonneneren unter seinen Zeitgenossen ‚schlechterdings in den Kopf nicht will‘3 – ist Lessing noch weniger dazu geneigt, Partei für die antiorthodoxe, aufgeklärte und von ihm als ‚neumodisch‘ gekennzeichnete Geistlichkeit zu ergreifen.4 Stattdessen übt er scharfe Kritik an der Blutarmut ihrer Theologie und beklagt, dass sie auch in philosophischer Hinsicht eine bloß blasse Erscheinung abgeben würde.5 An seinen Bruder schreibt er am 2. Februar 1774: Ich sollte es der Welt mißgönnen, daß man sie mehr aufzuklären suche? Ich sollte es nicht von Herzen wünschen, daß ein jeder über die Religion vernünftig denken möge? Ich würde mich verabscheuen, wenn ich selbst bei meinen Sudeleien einen andern Zweck hätte, als jene große Absichten befördern zu helfen. Laß mir aber doch nur meine eigne Art, wie ich dieses tun zu können glaube. Und was ist simpler als diese Art? Nicht das unreine Wasser, welches längst nicht mehr zu brauchen, will ich beibehalten wissen: ich will es nur nicht eher weggegossen wissen, als bis man weiß, woher reineres zu nehmen; ich will nur nicht, daß man es ohne Bedenken weggieße, und sollte man auch das Kind 1   Aufgrund der erschwerten Arbeitsbedingungen infolge der Maßnahmen zur Eindämmung der Covid-19-Pandemie (u.a. Bibliotheksschließungen und Kontaktbeschränkungen) konnten in diesem letzten inhaltlichen Kapitel lediglich die einschlägigen Sekundärtitel zum Thema berücksichtigt werden. 2  Desgleichen scheint auch Otto Manns Charakterisierung Lessings als eines ‚guten Lutheraners‘ reichlich übertrieben (vgl. Mann 1965, 303 u. 335). 3   Vgl. Brief Nr. 939 (Von Karl Lessing; 21. Okt. 1773), in: B 11/2, 590–593. Hier: 593,13–19. 4   In diesem Sinne bemerkt auch Nisbet, dass Lessing „sich notfalls der Orthodoxie denn doch näher sah als allen anderen Tendenzen innerhalb der lutherischen Kirche seiner Zeit“ (Nisbet 2008, 681). – Wenn wir den Neologie-Begriff hier (wie im Folgenden) recht undifferenziert und gleich einem Kampfbegriff verwenden, so folgen wir darin Lessings zeitgenössischer Sicht sowie seinem (gewiss pauschalisierenden) Sprachgebrauch. Ob und inwiefern indes Lessings Neologie-Kritik diese (durchaus in sich differente) theologische Bewegung insgesamt betrifft, steht auf einem anderen Blatt und soll nicht Gegenstand dieser Untersuchung sein. 5   Vgl. etwa Brief Nr. 906 (An Karl Lessing; 8. Apr. 1773), in: B 11/2, 538ff. Hier: 540,12ff.

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hernach in Mistjauche baden. Und was ist sie anders, unsere neumodische Theologie, gegen die Orthodoxie, als Mistjauche gegen unreines Wasser? Mit der Orthodoxie war man, Gott sei Dank, ziemlich zu Rande; man hatte zwischen ihr und der Philosophie eine Scheidewand gezogen, hinter welcher eine jede ihren Weg fortgehen konnte, ohne die andere zu hindern. Aber was tut man nun? Man reißt diese Scheidewand nieder, und macht uns unter dem Vorwande, uns zu vernünftigen Christen zu machen, zu höchst unvernünftigen Philosophen.[6] Ich bitte Dich, lieber Bruder, erkundige Dich doch nur nach diesem Punkte genauer, und siehe etwas weniger auf das, was unsere neuen Theologen verwerfen [sc. die Orthodoxie], als auf das, was sie dafür in die Stelle setzen wollen. Darin sind wir einig, daß unser altes Religionssystem falsch ist: aber das möchte ich nicht mit Dir sagen, daß es ein Flickwerk von Stümpern und Halbphilosophen sei. Ich weiß kein Ding in der Welt, an welchem sich der menschliche Scharfsinn mehr gezeigt und geübt hätte, als an ihm. Flickwerk von Stümpern und Halbphilosophen ist das Religionssystem, welches man jetzt an die Stelle des alten setzen will; und mit weit mehr Einfluß auf Vernunft und Philosophie, als sich das alte anmaßt. Und doch verdenkst Du es mir, daß ich dieses alte verteidige? Meines Nachbars Haus drohet ihm den Einsturz. Wenn es mein Nachbar abtragen will, so will ich ihm redlich helfen. Aber er will es nicht abtragen, sondern er will es, mit gänzlichem Ruin meines Hauses, stützen und unterbauen. Das soll er bleiben lassen, oder ich werde mich seines einstürzenden Hauses so annehmen, als meines eigenen.7

2. Fragmente eines Ungenannten – Text und Kontext Wie bereits gezeigt werden konnte, gerät Lessings Denken spätestens zu Beginn der 1770er-Jahre richtiggehend in die Krise. Problematisch wird ihm dabei die dem Aufklärungsdenken so selbstverständlich gewordene Idee von der Idealität und Unüberbietbarkeit der natürlichen Religion. Ihren Kulminationspunkt erreicht seine Denkkrise in der tiefgreifenden Befürchtung, er selbst habe, indem er „gewisse Vorurteile weggeworfen, […] ein wenig zu viel mit weggeworfen“: „Wahrheiten“ nämlich, die er nun würde „wiederholen müssen“.8 – Freilich: Wer sich mit uns auf den Weg begeben und die Entwicklung von Lessings religionsphilosophischem Denken von seinen ersten angriffslustigen Schritten bis hierher mit bedacht hat, der wird sich hierüber kaum verwundern. Denn dass 6   Gleichsam zur Bestätigung obiger Ausführungen zu Lessings Denkkrise (Kap. VI.) heißt es bei Panajotis Kondylis: „In den vergangenen zwanzig Jahren war Lessing freilich für die Trennung von Theologie und Philosophie darum eingetreten, weil er sich daraus die Autonomisierung der Vernunft versprach. Wenn er aber gerade jetzt die Vermischung beider ablehnt, so deswegen, weil er in erster Linie die Unterwerfung der Theologie unter eine seichte bzw. verstandesmäßige Philosophie befürchtet, die das in der Religion verborgene metaphysische und erzieherische Mysterium nur beiseiteschieben und vergessen – aber weder erklären noch respektieren könnte“ (Kondylis 2002, 603). 7   Brief Nr. 957 (An Karl Lessing; 2. Febr. 1774), in: B 11/2, 614–617. Hier: 615,2–616,7. 8   Brief Nr. 645 (An Moses Mendelssohn; 9. Jan. 1771), in: B 11/2, 144–147. Hier: 144,33ff. – S. ausführlicher o. Kap. VI.

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Lessing – seiner ebenda begründeten Relativierung eines deistisch inspirierten, abstrakt-ungeschichtlichen Denkens zum Trotz – in Breslau noch lange nicht am Ziel seiner Überlegungen angelangt sein konnte, wurde an entsprechender Stelle bereits kritisch vermerkt.9 – Nun aber würde, dieser inneren Logik unerachtet, jeder Versuch, Lessings Denkentwicklung rein immanent (oder auch nur vorrangig von ihren inneren Gründen her) zu erklären, das Wesen dieses Denkens in seiner essentiellen Bezogenheit, seinem Dialogcharakter verfehlen.10 Es gilt also auch hier wieder, den Kontext als gleichsam äußeren Bedingungsrahmen für Lessings Denkkrise in den Blick zu nehmen. Konkret geht es um seine intensive Beschäftigung mit der radikalen Christentumskritik des Hamburger Gelehrten und Pädagogen Hermann Samuel Reimarus. Geboren 1694 in Hamburg (gestorben ebenda im Jahre 1768), studierte Reimarus ab 1714 zunächst in Jena und später in Wittenberg Theologie, Philosophie und Philologie. Zu Beginn der 1720er-Jahre führte ihn eine mehrjährige Studienreise nach Holland und England, wo er erstmalig (und offenkundig prägend) mit dem englischen Deismus in Berührung kam. Seit 1728 Professor für Hebräisch und orientalische Sprachen am Akademischen Gymnasium in Hamburg, genoss er zeitlebens ein hohes gesellschaftliches Ansehen. – Nun: Was heute jeder, der Reimarus kennt, von Reimarus weiß, blieb seinen Zeitgenossen als ein gut gehütetes Geheimnis tief verborgen.11 Und das aus gutem Grunde – hatten doch diejenigen, die wie Reimarus „gar keine Offenbarung erkennen und bloß vernünftig denken und leben“ wollten, sich „in der ganzen Christenheit […] nirgend einer bürgerlichen Toleranz zu getrösten“, sondern wurden – die ‚Ketzergeschichte‘ kennt Beispiele genug – „allenthalben ausgestoßen, verbannet, gehasset und verfolgt“.12 – In seinen religionsphilosophischen Publikationen enthielt sich Reimarus also stets und geflissentlich jeglicher Bibel- und Christentumskritik. In diesem Sinne unverdächtig, wurden  9

  S.o. Kap. V. 3.   Mit Schilson gesprochen handelt es sich bei Lessings Werken ja gerade nicht um „isolierte, in sich abgeschlossene, vom konkreten Kontext des Lebens, der Beschäftigung und der Auseinandersetzungen […] abgeschottete Schriften“ (Schilson 1999, 99). 11   Im „Vorbericht“ der Apologie findet sich entsprechend die folgende Verfügung: „Die Schrifft mag im Verborgenen, zum Gebrauch verständiger Freunde liegen bleiben; mit meinem Willen soll sie nicht durch den Druck gemein gemacht werden, bevor sich die Zeiten mehr aufklären. Lieber mag der gemeine Hauffe noch eine Weile irren, als daß ich ihn, (obwohl es ohne meine Schuld geschehen würde) mit Wahrheiten ärgern, und in einen wütenden Religions-Eiffer setzen sollte. Lieber mag der Weise sich, des Friedens halber, unter den herrschenden Meynungen und Gebräuchen schmiegen, dulden und schweigen, als daß er sich und andere, durch gar zu frühzeitige Äusserung, unglücklich machen sollte“ (Hermann Samuel Reimarus, Apologie oder Schutzschrift für die vernünftigen Verehrer Gottes [entst. 1736–1768, 1. vollst. Ausg. 1972!], Teil I, 41). 12   So Reimarus im 1774 von Lessing veröffentlichten Auszug Von Duldung der Deisten: Fragment eines Ungenannten (als Nr. XVIII im Dritten Beitrag seines Periodikums Zur Geschichte und Litteratur erschienen), in: B 8, 115–134. Hier: 122,30–34. 10

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Dritter Teil: Gipfelschau

z.B. seine bis ins 19. Jahrhundert hineinwirkenden Abhandlungen über Die vornehmsten Wahrheiten der natürlichen Religion (1754, 61791) von seinen Zeitgenossen schlicht als Prolegomena einer Offenbarungstheologie verstanden. Was dabei niemand ahnte: Dass Reimarus hier tatsächlich alles, was es nach seinem Dafürhalten überhaupt zur wahren Religion zu sagen gibt, auch gesagt zu haben vermeinte. Dies freilich erschließt sich erst retrospektiv und – das darf man wohl sagen: dank Lessing!13 Wie es dazu kam, sei mit wenigen Strichen skizziert14: Seine freundschaft­ liche Verbindung zum Hause Reimarus spielte Lessing gegen Ende seiner Hamburger Zeit (1769/70) eine frühe, um 1750 abgeschlossene Version der Apologie des Reimarus in die Hände. Trotz ihres beträchtlich geringeren Umfanges kommt diese frühe Fassung der Endfassung inhaltlich sehr nahe.15 In der Absicht, den Text möglichst bald zu veröffentlichen16 , übergibt Lessing das Manuskript bereits 1770 Moses Mendelssohn zur Begutachtung.17 Infolge der Vorbehalte und Warnungen sowohl Moses Mendelssohns wie auch weiterer ihm nahestehender Personen – darunter der andere Berliner Freund Friedrich Nicolai18 sowie auch die Tochter des Verfassers, Elise Reimarus (1735–1805)19 – fasst Lessing drei Jahre später schließlich „auf eigene Faust“ den Entschluss, ein erstes Fragment aus dem Manuskript in seiner Bibliothekszeitschrift zu veröffent-

13   Vgl. Schilson 1989, 842–845; Beutel 2004; Nisbet 2008, 703ff. – Zu Reimarus’ Verhältnis zum englischen Deismus vgl. Gawlick 1989. Nach Hermann Timm baut Reimarus „zwar auf den Ergebnissen der englischen Deisten auf, besitzt aber eine überlegene Methodik. Die Deisten sind Dogmatiker, Reimarus ist ein wissenschaftlicher Kritiker“ (Timm 1974, 23). 14   Vgl. zum Folgenden Nisbet 2008, 705; Schilson 1989, 841f. u. 846ff. 15   Näheres bei Alexander 1972a; außerdem Alexander 1972b, v.a. 20–33. – Eine vollständige Publikation der Apologie erfolgte erst im Jahre 1972 (in genannter Ausgabe, s.u. Literaturverzeichnis). 16   Vgl. die entsprechenden Aussagen Karl Lessings (zit. in: Schilson 1989, 854f. [Dokumente zu Entstehung und Quellen, Nr. 3 u. 4]). 17   Wie später noch Lessing (s.u.) so konnte auch Mendelssohn sich keineswegs mit der Radikalität des Reimarus gemein machen: „Ihr Manuscript, mein lieber Freund, schicke ich Ihnen noch nicht zurück, ich habe noch die Zeit nicht gehabt, es mit kritischen Augen durchzulesen. Es scheint mir, als wenn der Verf. [= Reimarus] zuweilen unbillig wäre. Er ist eben so sehr wider gewisse Charaktere eingenommen, als andre für dieselben eingenommen sind. […] Wir sollten uns der Neigung nicht überlassen, gewisse Dinge zu sehr herunter zu setzen, weil sie andre zu sehr erhoben haben; denn dadurch bringen wir nur die Schalen in ein beständiges Schwanken, und niemals ins Gleichgewicht.“ Was Mendelssohn vorschwebt, ist eine gesunde Mittelposition, die etwa darin bestünde, „weder Vorurteile [zu] haben, noch sich aus Abscheu gegen Vorurteile zur Unbilligkeit verleiten [zu] lassen“ (Brief Nr. 619 [Von Moses Mendelssohn; 29. Nov. 1770], in: B 11/2, 99f. Hier: 99,20–26.35–100,4.16f.). 18   Vgl. die entsprechenden Aufzeichnungen Friedrich Nicolais in: Schilson 1989, 856 (Dokumente zu Entstehung und Quellen, Nr. 6). 19   Anders Schilson: „Nicht bekannt ist hingegen ihre [sc. Johann Albert Heinrich und Elise Reimarus] Haltung gegenüber Lessings früheren Publikationsabsichten, über die sie möglicherweise gar nicht unterrichtet waren“ (Schilson 1989, 847).

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lichen, erschienen als XVIII. Stück unter dem Titel Von Duldung der Deisten: Fragment eines Ungenannten (1774).20 Um sowohl die Familie des Verfassers als auch dessen Andenken zu schützen, fingiert Lessing den Fund „eines sehr merkwürdigen Werks unter den allerneuesten Handschriften unserer Bibliothek“.21 Genauer handle es sich um „Fragmente eines Werks“, hinsichtlich dessen jedoch nicht entschieden werden könne, „ob eines wirklich einmal vollendet gewesenen und zerstörten, oder eines niemals zu Stande gekommenen Werks“: Denn sie [sc. die Fragmente] haben keine allgemeine Aufschrift; ihr Urheber wird nirgends angegeben; auch habe ich auf keine Weise erfahren können, wie und wenn sie in unsere Bibliothek gekommen. Ja sogar, daß es Fragmente Eines Werks sind, weiß ich nicht mit Gewißheit, sondern schließe es nur daher, weil sie alle Einen Zweck haben, alle sich auf die geoffenbarte Religion beziehen, und vornehmlich die biblische Geschichte prüfen.22

Lessing versucht, den Blick kundiger Zeitgenossen noch weiter von Reimarus wegzulenken, indem er hinter den Fragmenten den evangelischen Theologen Johann Lorenz Schmidt (1702–1749) vermutet, jenen Mann also, welcher um besagte Zeit [„ohngefähr vor dreißig Jahren“] hier in Wolfenbüttel lebte, und hier, unter dem Schutze eines einsichtsvollen und gütigen Fürsten, die Duldung fand, welche ihn die wilde Orthodoxie lieber in ganz Europa nicht hätte finden lassen[.]23

Wenn zu Beginn dieses Abschnitts die Beschäftigung mit Reimarus als der äußere Bedingungsrahmen für Lessings Denkkrise bezeichnet wurde, so lässt sich von hieraus – rückblickend – auch seine scheinbare Hinwendung zu konfessionellem, gar orthodoxem Denken in den frühen Wolfenbütteler Publikationen erklären 24: In seinem letzten Lebensjahrzehnt nimmt Lessing, herausgefordert durch die Radikalität des Reimarus, den Problemkomplex Offenbarungsreligion noch einmal neu und umfassend in den Blick.25 Dass dabei vor allem eine: 20   B 8, 115–134. – Zu Lessings Periodikum Zur Geschichte und Litteratur s. die entsprechenden Ausführungen o. in Kap. VI. 2. 21   Nisbet weist außerdem darauf hin, dass die Behauptung, es handle sich bei dem Manuskript um einen Fund aus der Herzoglichen Bibliothek, es Lessing ermöglichte, die Zensur zu umgehen (vgl. Nisbet 2008, 705). 22   B 8, 115,7f.12–22 (Hervorh. i. O.). 23   B 8, 116,5–9. – Unerachtet der frühen Mitwisserschaft einiger weniger (darunter Johann Georg Hamann [1730–1788] und Johann Gottfried Herder [1744–1803]) sollte die wahre Verfasserschaft der Fragmente erst im Jahre 1814 endgültig geklärt werden (vgl. Schilson 1989, 842; s. auch die entsprechende Entdeckung J. A. H. Reimarus an die Göttinger Universitätsbibliothek aaO., 853f. [Dokumente zu Entstehung und Quellen, Nr. 2]). 24   S.o. Kap. VI. 25   In diesem Sinne auch Schilson: „Seinen eigenen Standpunkt sowohl gegenüber der Offenbarungsreligion als auch gegenüber Reimarus hat Lessing wohl erst im Laufe einer längeren Beschäftigung mit dessen Apologie gefunden“ (Schilson 1989, 848).

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Dritter Teil: Gipfelschau

die neologische ‚Partei‘ in den Fokus seiner Kritik gerät, ist bereits im vorigen Kapitel dargelegt worden 26 und bestätigt sich auch dort wieder, wo Lessing neben der Erosion zentraler Inhalte27 zudem auf die klare Gefahr einer neuen Intoleranz hinweist, die gerade für die Anhänger „einer bloß natürlichen Religion“ (wie etwa seinen ‚Fragmentisten‘) nichts Gutes verheißt.28 Inhaltlich wie strukturell an seine Kritik des neologischen Glaubensbegriffs29 anknüpfend, greift er auch hier wieder zu unverkennbar ironischer Gegenwehr: Dieser [sc. der gegenüber dem Deismus intoleranten Neologen] ihr vernünftiges Christentum ist allerdings noch weit mehr, als natürliche Religion: Schade nur, daß man so eigentlich nicht weiß, weder wo ihm die Vernunft, noch wo ihm das Christentum sitzt.30

Wie aber ist „vernünftiges Christentum“ dann zu fassen? Und wie das Verhältnis von Vernunft und Offenbarung, wenn – ganz zu schweigen von der Neologie – weder der Deismus in seiner abstrakten Geschichtsvergessenheit noch die Orthodoxie mit ihrem autoritativen Offenbarungspositivismus befriedigende Lösungen bieten? Und was bedeutet dies alles für die Erklärung der positiven Religion?

26   S.o. Kap. VI. – S. außerdem obiges Briefzitat bei Anm. 7 sowie Friedrich Nicolais zeitgenössischen Kommentar, wonach Lessings schließliche „Händel mit der orthodoxen theo­ logischen Parthey […] gar nicht“ in seiner ursprünglichen, eigentlichen Absicht gelegen hätten: „denn, man mag es mir glauben oder nicht, seine Absicht war, der orthodoxen Parthey durch die Herausgabe einen Dienst zu erzeigen“ (Aufzeichnungen Friedrich Nicolais zit. n. Schilson 1989, 856 [Dokumente zu Entstehung und Quellen, Nr. 6]). Darüber hinaus verweist Nisbet (2008, 677–680) auf vier weitere Lessingsche Fragmente von 1773 oder 1774, „die sich alle gegen die Neologie oder ihre führenden Vertreter wenden“, im Einzelnen: Hilkias, Vom Arianismus (B 8, 613f.), Über den Arianismus, von Philalethes dem mittlern (B 8, 614f.) sowie Herkules und Omphale (B 8, 616). 27   Vgl. B 8, 133,32ff.: „[…] daß sie von dem ganzen Christentume nichts übrig lassen, und nichts übrig lassen wollen, als den Namen“. – Lessing greift hier einen Gedanken des Reimarus auf (vgl. B 8, 117,28ff.) und aktualisiert ihn (vgl. Schilson 1989, 859f.). 28   Vgl. B 8, 133,34–134,4. – Die Brisanz der im Fragment geforderten (und von Lessing nachdrücklich unterstützten) Toleranz gerade auch gegen solche, die „sich bloß an die gesunde Vernunft in der Erkenntnis und Verehrung Gottes halten“ (B 8, 116,19f.), betont Schilson: „Damit rührte es [sc. das Fragment] an die Grundfesten damaliger staatlicher Ordnung, die ohne grundsätzliche Anerkennung des Christentums undenkbar war“ (Schilson 1989, 858; vgl. hierzu auch Gawlick 1998). – Zu Lessings Kritik neologischer Intoleranz s. auch seinen Brief an Karl Lessing vom 8. Apr. 1773: „Ich bin von solchen schalen Köpfen auch sehr überzeugt, daß, wenn man sie aufkommen läßt, sie mit der Zeit mehr tyrannisieren werden, als es die Orthodoxen jemals getan haben“ (Brief Nr. 906 [An Karl Lessing; 8. Apr. 1773], 538ff. Hier: 540,14–17). – Auf die angesprochene Problematik wird an späterer Stelle noch einmal ausführlicher einzugehen sein (s.u.). 29   S.o. Kap. VI. 2. 30   B 8, 134,4–8 (Hervorh. i. O.).

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3. Kritische Fragmente und noch kritischere Gegensätze Zu Beginn des Jahres 1777 präsentiert Lessing – als XX. Stück seines (von der Zensur befreiten!) Periodikums Zur Geschichte und Litteratur – „Ein Mehreres aus den Papieren des Ungenannten, die Offenbarung betreffend“.31 Diese zweite, weit umfänglichere Veröffentlichung aus der Schutzschrift des Reimarus soll beides: deren Inhalt und Wesen wie auch ihre Argumentationsweise zur Anschauung bringen.32 – Freilich: Uns soll es in dieser Sache weniger um die Fragmente selbst als vielmehr um die Intention ihres Herausgebers zu tun sein. Das Hauptaugenmerk liegt also auf Lessings ureigenstem Interesse, wie es sich hinter seiner Herausgeberschaft (wenigstens dem aufmerksamen Leser) in genügender Deutlichkeit bekundet: Die einzelnen Fragmente sprechen jedes in die aktuelle theologische Debatte hinein und bieten so die – durch Lessing freilich reflexartig ergriffene – Gelegenheit, in aller Beiläufigkeit etwas ganz Grundsätzliches, ja Grundstürzendes zu bemerken.33 Dies geschieht in den Gegensätzen des Herausgebers.34 Dabei sei bereits an dieser Stelle, und zwar mit Nachdruck betont, dass Lessing in seinen Gegensätzen keineswegs etwa kurzerhand, leichtfertig oder spielerisch einen nicht ganz ernst gemeinten Standpunkt bezieht. Ganz im Gegenteil stellen die hier von ihm „vertretenen Positionen sicherlich das Ergebnis einer langjährigen Auseinandersetzung mit den Thesen des Reimarus“ dar.35 In ihrer Solidität und Eigenständigkeit bilden sie gleichsam die Ouvertüre zu einer „der weitestreichenden Auseinandersetzungen in der Geschichte des lutherischen Christentums“.36 Und wie in der Musik 31   G. E. Lessing, Ein Mehreres aus den Papieren des Ungenannten, die Offenbarung betreffend (in: ders., Zur Geschichte und Litteratur. Vierter Beitrag), in: B 8, 171–350. – Der Vierte Beitrag enthält ausschließlich dieses XX. Stück. – Im Folgenden soll hinsichtlich dieser Publikation abkürzend von Fragmenten (sofern es sich um die veröffentlichten Auszüge aus dem Manuskript des Reimarus handelt) bzw. von Gegensätzen (sofern Lessings – als des ­Herausgebers – abschließende Anmerkungen gemeint sind) die Rede sein. 32   Dass Lessing dies als Herausgeber der Fragmente in beeindruckender Weise gelingt, betont Schilson: „Lessings Auswahl aus dem Werk des Reimarus hat es jedem aufmerksamen Leser leichtgemacht, die Brisanz dieser Schrift in ihrer weitreichenden Kritik an der Offenbarungsreligion und deren biblischer Begründung zu erkennen. So betrachtet, hat Lessing seine Aufgabe als Herausgeber glänzend erfüllt“ (Schilson 1989, 905). 33   Vgl. hierzu u.a. Nisbet 2008, 709. 34   In seinem Kommentar weist Arno Schilson darauf hin, dass Lessings abschließende Anmerkungen „[n]ur im Inhaltsverzeichnis, nicht aber im fortlaufenden Text […] eigens als ‚Gegensätze des Herausgebers‘ genannt“ werden (Schilson 1989, 886). 35  AaO., 889; zum Absatz insgesamt vgl. aaO., 888ff. 36   Nisbet 2008, 702f. – Auch Hermann Timm spricht vom Fragmentenstreit als dem „grundstürzende[n] Ereignis in der Theologiegeschichte des 18. Jahrhunderts“ (Timm 1974, 22). Und an späterer Stelle wagt er gar die Aussage, der Fragmentenstreit habe „jene sprunghafte Verschärfung der Frage Glauben oder Wissen herbeigeführt, die zu sagen erlaubt, daß die ‚Neuzeit‘ für die Religionsphilosophie in Deutschland nicht vor 1780 begonnen habe“ (aaO., 28). Von „eine[m] der größten Medienereignisse“ des 18. Jahrhunderts und dem „Höhe­

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so klingen auch hier, in der Ouvertüre, die wesentlichen Motive und Argumente schon einmal an, die Lessings Denken auch im weiteren Verfolg der Streitigkeiten noch bestimmen werden und die er zu entfalten sich alsbald wird genötigt sehen.37 Damit wir uns im Folgenden auf die Analyse einschlägiger Texte konzentrieren können, sei vorab noch in wenigen Sätzen etwas zu Rezeption und Wirkung von Lessings Fragmentenpublikation angemerkt. Wie bereits die Rede von einer „der weitestreichenden Auseinandersetzungen in der Geschichte des lutherischen Christentums“38 zeigt, findet Lessings Vierter Beitrag Zur Geschichte und Litteratur „breite und vielfältige Resonanz […], die der nachfolgende Fragmentenstreit eindrucksvoll dokumentiert“ – und zwar sowohl in einer „Flut z. T. ausladender Gegenschriften“ wie auch in einer „Fülle einschlägiger Rezensionen“.39 „Wer weiß nicht“, schreibt etwa F. G. Lüdke als theologischer Hauptrezensent der Allgemeinen deutschen Bibliothek40 im Jahre 1779, wie begierig dies Mehrere [aus den Papieren des Ungenannten] überall gelesen worden, da man von einem Lessing, er schreibe selbst, oder gebe Fremder Schriften heraus, nichts anders zu lesen gewohnt ist, als was Litteratur und Wissenschaften äußerst interessirt? Wem sind aber auch die Bewegungen, so sie Hr. L. gemacht hat, und die bösen Gerüchte, durch welche Hr. L. schon deshalb hat gehen müssen, unbekannt?41

An späterer Stelle bedauert er die Hitze des dann aufflammenden Fragmentenstreits: „Wäre dieses“ – gemeint ist, den „spitzigsten Einwürfen“ des Reimarus „ihren Stachel“ durch schlagkräftige Argumente (wie beispielsweise die zuvor von Lüdke selbst skizzierten) zu nehmen – von einem und dem andern bewährten Gottesgelehrten mit ganz ruhigem kühlem Untersuchungsgeist geschehen; hätten die dabey interessirten Partheyen mit Würde und Anständigkeit darüber pro und contra geschrieben; wie viel reelle Vortheile zur Bepunkt der Aufklärung in den deutschen Territorien“ sprechen Christoph Bultmann und Friedrich Vollhardt (vgl. Bultmann/Vollhardt 2011, 1). 37   So lässt sich auch nach Schilson in den Gegensätzen „Lessings eigenständige Position gegenüber den Fragmenten und im späteren Fragmentenstreit bereits umrißhaft erkennen“ (Schilson 1989, 903). 38  S. obiges Zitat bei Anm. 36. 39   Schilson 1989, 890f. – Dort (aaO., 894–902) wird außerdem eine Auswahl von Dokumenten zu Rezeption und Wirkung präsentiert; ihre Einordnung leistet Schilson aaO., 890– 894. – Eine umfassende Dokumentation der Wirkungsgeschichte Lessings findet sich bei: Braun 1884–1897; Daunicht 1971; Dvoretzky 1971/72. – Zur weiterreichenden Rezeptionsgeschichte s. auch Vollhardt 2006b. 40   Die 1765 von Friedrich Nicolai gegründete Allgemeine deutsche Bibliothek (ADB) erfasste „einen beachtlichen Teil der wissenschaftlichen, insbesondere der theologischen, aber auch der schöngeistigen Literatur und wurde zum wichtigsten Organ der sog. Berliner Aufklärung“ (Kiesel 1988, 870). 41  [Friedrich Germanus Lüdke] in: Allgemeine deutsche Bibliothek (1779), 1. Stück (Bd. 39), 36 (Hervorh. i. O.).

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förderung der Wahrheit, hätten dadurch können gewonnen werden! / Aber wie es immer bey solchen Gelegenheiten gegangen ist, so gieng es auch diesmal. Man machte bald einen gewaltigen Lerm darüber, schalt mit heftigen Verdammungen auf den Verf. und Herausgeber der Fragmente, als ob dieser ein Bubenstück mit ihrer Bekanntmachung begangen hätte, und schreckte die deutsche Kirche durch Vorstellung einer überschwenglichen Gefahr, worinn ihr christlicher Glaube schwebte. Nun kam natürlicher Weise alles in Bewegung; nun lasen Creti und Plethi ein Buch, das sonst von tausenden, denen es auch nicht zu lesen dienet, ungelesen geblieben, binnen kurzer Zeit vielleicht in Vergessenheit gerathen wäre, da vernünftige Christen, die die Sache beurtheilen können, es sonder allen Nachtheil für ihren Glauben zwar nicht gleichgültig, aber doch ruhiger würden aus den Händen gelegt haben. Jedermann weiß, wie viel Federn, der stumpfen noch mehr als der geschärften, durch die Fragmente in Thätigkeit gesetzt worden. Bald werden die Streit- und Widerlegungsschriften, welche dagegen zum Vorschein gekommen sind, eine kleine Bibliothek ausmachen.42

Während ein Großteil der Rezensionen sich primär auf die Fragmente selbst bezieht – wohl in der undeutlichen Ahnung, dass die wissenschaftlich-theologische Diskussion noch für Jahrhunderte durch die Kritik des Fragmentisten mindestens mitbestimmt sein würde43 –, hat vor allem Einer die Auseinan42

 AaO., 52f.   In den Göttingischen Anzeigen von gelehrten Sachen etwa zeigt sich die Größe der nun gestellten Aufgabe in folgenden Worten zum fünften Fragment „Über die Auferstehungsgeschichte“: Besonders hier schreibe der ungenannte Verfasser „mit vieler Kenntniß, Prüfung und Tiefsinn. Es sind nicht Spöttereien, was er sagt, sondern Gründe, und zwar in dem genannten [fünften] Fragmente so ausfürlich, daß vor ihm niemand die Auferstehungsgeschichte so vollständig und mit so durchgedachten und scheinbahren Gründen bestritten hat. Schwerlich läßt sich etwas Erhebliches gegen sie sagen, das nicht schon in diesem Werke steht. Aber es ist auch nicht zu leugnen, daß er nicht mit küler Untersuchung schreibt, sondern mit Hize und einer sichtbahren Begierde, die Religion falsch zu finden.“ Das fünfte Fragment jedenfalls enthalte „eine solche Menge durchgedachter, aus der evangelischen Geschichte selbst hergenommener, in so viel Scharfsinn gekleideter, und aus einer Menge von Schwierigkeiten zusammengeflochtener, Einwürfe; daß man es nie gründlich und einleuchtend widerlegen kan, ohne eine zusammenhangende Vorstellung der ganzen Geschichte aus den vier Evangelisten voranzuschicken. Alle bloß polemische Schriften dagegen machen die Sache immer noch verworrener, und füren den Leser von Einer Hypothese zur andern, aus Einem Labyrinth ins andere“ (Rezension zu Lessings ‚Viertem Beitrag‘ Zur Geschichte und Litteratur, in: Göttingische Anzeigen von gelehrten Sachen [1778], Bd. 1., 129. und 130. Stück, 1042–1045; Hervorh. i. O.). Auch der Rezensent der Hallischen Neuen Gelehrten Zeitungen sieht in aller Deutlichkeit die zerstörerische Kraft der mit den Fragmenten veröffentlichten fundamentalen Bibelkritik hinsichtlich der Möglichkeit einer unkritischen Bibellektüre: „Zuerst scheint mir also der, welcher die Erzählungen der Evangelisten angreift, schon in der Natur der Sache selbst einen Vortheil zu haben, der seinen Einwürfen bey Lesern, die nicht recht auf ihrer Hut sind, einen grossen Eindruck geben muß. Es ist unmöglich daß mehrere, die Eine Begebenheit mit ihren Umständen erzählen, wenn jeder vor sich erzählt und nicht alles sagen will was er von den Umständen weiß, oder wenn er gar manche Umstände nicht weiß die der andre kennt, durchaus mit einander im Erzählen übereinstimmen können. Solche Verschiedenheiten werden für den Leser, der sie nicht zu vergleichen weiß, bald Widersprüche; und denn komme einer, und häufe sie auf einander, wird nicht der Verdacht, es möchten wohl die Erzählungen so gar glaublich nicht seyn, immer viel Eindruck machen? Gesetzt auch, ein andrer wirret 43

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dersetzung mit ihrem Herausgeber und dessen Gegensätzen, mit Lessing selbst gesucht: der Hamburger Hauptpastor Johann Melchior Goeze (1717–1786).44 Während sich der Fragmentenstreit also wesentlich mit seinem Namen verbindet, hält sich die spezifischere Aufklärungstheologie in Form der Neologie weitgehend bedeckt.45

3.1 Fragmente eines Ungenannten In seinem Ersten Fragment handelt Lessings ‚Ungenannter‘ „Von Verschreiung der Vernunft auf den Kanzeln“.46 Seine Kritik richtet sich dabei gegen ein doppeltes (aus seiner Sicht ebenso perfides wie gefährliches) Versäumnis kirchlicher Praxis: So würde erstens – durch Katechese – im noch „kindischen Alter“ wieder die Umstände auseinander und zeigt daß sie sich gar wohl reimen liessen, so werden seine Auflösungen immer schwächer scheinen, wenn er weiter nichts als blosse Möglichkeit zeigen kan ohne gewisse kleine Umstände zu wissen, die auf einmahl Harmonie unter die verschiednen Erzählungen bringen würden; ja, wenn er auch diesen letzten Vortheil haben sollte, so kan doch die Zerstückelung des Ganzen bey weiten nicht so frappant werden als der anscheinende Widerspruch durch die Zusammensetzung mehrerer Verschiedenheiten wird, die mit vereinigter Kraft wirken“ (in: Hallische Neue Gelehrte Zeitungen [1778], 13. Teil, 33. und 34. Stück, 259f.; Hervorh. i. O.). – In der Retrospektive des Historikers betont auch Ulrich Wilckens im dritten Band seiner Theologie des Neuen Testaments die „grundlegende[] Bedeutung“ H. S. Reimarus’ als eines radikalen Bibel- und Dogmenkritikers „für die historisch-kritische Schriftauslegung des 19. und 20. Jahrhunderts“ (Wilckens 2017, 64). 44   Dabei gilt es zu bedenken, dass sich Goeze – wie alle lutherischen Pastoren seiner Zeit – „durch einen Eid auf die Bekenntnisschriften der lutherischen Kirche gegenüber der Obrigkeit [seines] Territoriums dazu verpflichtet [hat], über den wahren Glauben zu wachen“. Demgemäß folgen seine gegen Lessing gerichteten Schriften „den Regeln des Elenchus, des geistlichen Strafverfahrens gegen Irrlehrer“, und zwar des Elenchus „in seiner älteren, radikalen Form […], die im Zweifel die Kaltstellung des Angeklagten billigt“ (vgl. Wieckenberg 2011, 266f.). – Zur Lessing-Goeze-Kontroverse aus theologischer Sicht vgl. v.a. Freund 1989. Im Unterschied zum Gros der Lessing-Forschung geht es Freund um „ein angemessenes Verständnis beider Opponenten“, d.h. auch und gerade des Hamburger Hauptpastors Johann Melchior Goeze, den es endlich „an seinem theologischen und publizistischen Selbstverständnis zu messen“ gelte, anstatt etwa jenen „Grundkonsensus“ fortzuschreiben, „wonach Goeze als politischer Denunziant und Apologet eines antiquierten Christentums ein schlechter Sachwalter seiner Sache im Fragmentenstreit“ gewesen sei (aaO., 37f.; Hervorh. i. O.). 45   Was sein Berliner Freund Friedrich Nicolai bereits im Kontext von Lessings Berengarius-Veröffentlichung (s.o. Kap. VI. 1.) prophezeit hat, trifft nun also ein: Anstatt (angesichts der Lessingschen Provokationen) sich zu „verantworten und deutlicher [zu] erklären“, schweigen die Neologen „stille“ und verbergen „sich hinter das Schild der Orthodoxie“ (vgl. Brief Nr. 665 [Von Friedrich Nicolai; 8. Mrz. 1771], in: B 11/2, 172ff. Hier v.a.: 172,32–173,26). 46   So die Überschrift über dem Ersten Fragment (B 8, 175,2; Hervorh. i. O.). – Unserem fundamentaltheologischen und religionsphilosophischen Interesse entsprechend werden wir uns im Folgenden auf eine Darstellung des Ersten, Zweiten und Vierten Fragments beschränken. Das Dritte und das Fünfte Fragment formulieren jeweils eine Wunderkritik, wobei im ersteren Falle die „wahre Unmöglichkeit“ (B 8, 245,37) des Wunders vom Durchgang der Israeliten durchs rote Meer (so die Überschrift des Fragments) im Detail demonstriert werden soll, während Letzteres mehr die Unstimmigkeiten und Widersprüche in den neutestamentlichen Bezeugungen des Auferstehungswunders in den Blick nimmt.

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die Religion „mit bloßen Vorurteilen“ und „fürchterlichen Drohungen“ grundgelegt (anstatt dieselbe auf „vernünftige Einsicht göttlicher Wahrheiten“ zu bauen); und es würden zweitens – in den „Canzel-Reden für die Erwachsenen“ – all diejenigen vom „Gebrauche ihrer edelsten Natur-Gabe, der Vernunft“, abgeschreckt, „welche nun [sc. in mündigerem Alter] Lust bekommen mögten nachzudenken und auf den Grund ihres bisherigen blinden Glaubens zu forschen“. Kurzum: Es käme von den Kanzeln zu einer „Verschreiung der Vernunft“: als einer „schwache[n], blinde[n], verdorbene[n] und verführerische[n] Leiterin“ in allen geistlichen Belangen.47 Die beiden zentralen Voraussetzungen für solche Verunglimpfung identifiziert Reimarus folgendergestalt: [a.] was der Mensch durch eigene Kräfte von Gott erkenne, das helfe ihm nichts zur Seligkeit, alles was nicht aus dem Glauben kommt, sei Sünde; [b.] der natürliche Mensch fasse die Dinge nicht, die des Geistes Gottes sind, sie sein ihm eine Torheit und er könne sie nicht erkennen, dieweil sie geistlich geurteilt werden müßten.48

Daraus würde ferner die folgende Konsequenz gezogen: Darum vermahnen sie [sc. die „Herren Prediger“], als mit des Apostels Pauli Worten, daß wir unsre Vernunft gefangen nehmen sollen unter den Gehorsam des Glaubens. Diese Vorstellung kann in den christgläubigen Seelen, bei aller übrigen Anwendung ihrer gesunden Vernunft in weltlichen Dingen, nichts anders wirken, als daß sie sich demnach in der Erkenntnis Gottes sorgfältig hüten, nicht vernunftmäßig zu denken, und sich nur befleißigen fein gehorsamlich zu glauben.49

Hinter dem Erfolg solcher ‚Kanzel-Praxis‘ argwöhnt Reimarus – wie vordem schon namhafte Vertreter des englischen Deismus – ein gefährliches Zusammenspiel von Heimtücke und Bequemlichkeit. Denn wie der blinde, auf Einfalt und Gehorsam gegründete ‚Catechismus-Glaube‘ die Hierarchie auf den Thron setzt, und den geistlichen Orden zu der Macht erhebt, über die Gewissen [der Laien] zu herrschen[50]: so sind auch die Laien und weltlichen gerne damit zufrieden, daß sie nun ohne vieles Kopfbrechen in den Himmel kommen, und mittlerweile ihr zeitlich Glück auf Erden desto embsiger suchen, oder wohl gar ihren Lüsten desto sicherer nachhängen können. Sobald die Geringeren ihr Glaubens-Bekenntnis erlernet, und nach Ablegung desselben zum Abendmahle gelassen sind: geht 47

  B 8, 175,5ff.9f.12f. u. 176,23f.28–32.   B 8, 176,36–41. 49   B 8, 176,41–177,7. 50   Diesen Vorwurf der heimtückischen Selbstermächtigung wiederholt Reimarus noch einmal am Schluss des Ersten Fragments – dort allerdings mit empfindlicher Spitze gegen seine protestantischen Adressaten! Demnach diene die von ihnen praktizierte „Verschreiung der Vernunft auf den Kanzeln“ allein dazu, „dem gemeinen Manne, d. i. allen die keine Lehrer der Christenheit sind, ihren Gebrauch zu nehmen, und einen blinden Glauben sowohl in jeder Secte, als in dem ganzen Christentume einzuführen[.] Es ist eben derselbe hierarchische Kunstgriff, als da die Pfaffen bei den Catholiken den Laien die Lesung der Bibel verbieten, die sie für sich allein behalten, und nach ihrem Gefallen deuten wollen“ (B 8, 188,34–40; Hervorh. D.Z.). 48

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ein jeder mit dem sechszehnten Jahre, wohl früher, an sein Handwerk und Gewerbe, oder zur See, oder in Dienste der Reichen, oder wo er sonst sein Brot am besten gewinnen kann, und weiter hat er für seine Seele nicht zu sorgen, als nur das bis an sein seliges Ende zu glauben, was er aus seinem Catechismo behalten hat. Andere bemühen sich, durch die Kaufmannschaft, Künste, Wissenschaften, Kriegs-Übungen, oder auch ­Civil- und Hofbedienungen, aus dem Staube mehr empor zu steigen, oder sie setzen sich auf ihre Güter, treiben das Landwesen, verzehren ihren geerbten Überfluß in Wohlleben. Bei allen solchen Lebensarten werden die Menschen entweder in das geschäftige Gewühle nach zeitlicher Ehre und Reichtümern so vertieft, oder in dem müßi­gen Genusse abwechselnder Ergötzungen so ersoffen, daß sie sich gern einer weitern Forschung nach Wahrheit überhoben sehen, und ihre Seelsorger für sich denken lassen. Ein großer Teil schweift gar aus in sinnlichen Lüsten, Leichtsinn, Lastern und Geringschätzung der Religion, da entweder das gläubige Vertrauen auf ein fremdes Verdienst die Regungen ihres Gewissens stillen muß, oder doch zum äußersten Trost in der letzten Stunde verspart wird.51

Unter Aufgebot seiner philologischen Mittel sucht Reimarus die biblische Legitimation dieser ‚Kanzel-Praxis‘ durch eine alternative Exegese von 1 Kor 2,1452 und 2 Kor 10,4 f.53 sowie der mosaischen Erzählung vom Sündenfall der ersten Menschen (Gen 3) zu unterminieren.54 51

  B 8, 177,32–178,18.   „Der natürliche Mensch aber nimmt nicht an, was vom Geist Gottes ist; es ist ihm eine Torheit und er kann es nicht erkennen; denn es muss geistlich beurteilt werden.“ 53   „Denn die Waffen unsres Kampfes sind nicht fleischlich, sondern mächtig im Dienste Gottes, Festungen zu zerstören. Absichten zerstören wir und alles Hohe, das sich erhebt gegen die Erkenntnis Gottes, und nehmen gefangen alles Denken in den Gehorsam gegen Christus.“ 54   Da Lessing in seinen Gegensätzen sowohl auf 2 Kor 10,4f. als auch auf Gen 3 Bezug nimmt, soll hier die jeweilige Deutung des Reimarus in prägnanten Zitaten kurz skizziert werden. Zunächst also seine zusammenfassende Auslegung von 2 Kor 10,4f.: „Zum bessern Verstande der Ausdrücke muß man nur merken, daß Paulus figürliche und eigentliche Redensarten unter einander mischt, die sich denn einander erklären. Vielleicht hatte die Nachrede, daß er die Corinther durch Arglist gefangen genommen, zu den Sinnbildern Anlaß gegeben. Er stellt sich unter dem Bilde eines Kriegers vor, der mit Waffen zu Felde zieht, um eine Festung einzunehmen, sodann alle hohe Festungswerke, die ihm entgegen gesetzt sind, über den Haufen wirft, und die nunmehr wehrlosen Einwohner gefangen nimmt. Dies macht alles verständlich. Der Kriegszug ist sein Bekehrungswerk; die geistlichen Waffen sind seine Beweisgründe; die Festungswerke, die hohen Mauren und Türme, […] die er umzustoßen hatte, waren die Vernunftschlüsse und Einwendungen, […] welche ihm die Corinther anfangs machten; die Wegräumung solcher Bollwerke bedeutet die gründliche Beantwortung aller Zweifel gegen die Erkenntnis Gottes; die Gefangennehmung zielt auf die völlige Überführung der Corinther von der Wahrheit des Evangelii, nachdem ihnen alle Ausflüchte benommen worden; und endlich ist die Folge der Eroberung der Überwundenen, welcher hier durch den Gehorsam Christi erklärt wird. Ich hoffe, daß hierin alles so klar ist, als man irgend etwas verlangen kann“ (B 8, 182,15–36). Paulus geht es also nicht um eine ‚Gefangennahme der Vernunft unter dem Gehorsam des Glaubens‘, wie es etwa von den Kanzeln aus verkündet und gefordert würde – „als ob der Glaube, oder der Vorsatz dem Glauben zu gehorchen, schon vorher da wäre, und eine Ursache des Beifalls der Vernunft sein müßte: ich glaube es, also muß es wahr sein, meine Vernunft mag sagen was sie will. Das ist ja wohl eine verkehrte Ordnung“ –, 52

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Befragen wir nun all dieses auf seine religionsphilosophischen Implikationen, so lässt sich die durch Reimarus vertretene Position wohl am ehesten durch den Begriff einer (deistisch geprägten) Anti-Orthodoxie fassen. Um solcher Gegnerschaft aber schärfere Konturen verleihen zu können, sei an dieser Stelle – in einem Exkurs – ihr orthodoxer Hintergrund beleuchtet.55

Exkurs 5: Erkenntnistheoretische Grundsätze der altprotestantischen Orthodoxie. Eine Skizze Rechtgläubige Theologie – so lautet gewissermaßen das Credo orthodoxer Dogmatiker – kennt nur ein einziges Erkenntnisprinzip: die in der Heiligen Schrift niedergelegte Offenbarung.56 Daraus aber erhellt ferner, dass die biblisch bezeugte Offenbarung weder (etwa sondern: „nicht […] unter dem Gehorsam, sondern zum Gehorsam Christi oder des Glaubens. Nämlich Paulus rühmt sich, er habe die Corinther, da sie noch Heiden waren, auf solche Art zum Christentum bekehrt, daß er zuvor alle ihre Vernunftschlüsse und Einwendungen gegen dasselbe überführend widerlegt, so daß sie weiter keine Ausflüchte mehr gehabt, und also alle ihre Gedanken wären gefangen genommen worden zum Gehorsam Christi. Also ist der Gehorsam Christi eine Wirkung und Erfolg der überzeuglichen Predigt Pauli gewesen: die Corinther sind durch unwidersprechliche Gründe und durch völlige Benehmung aller Zweifel endlich dahin gebracht worden, daß sie sich entschlossen Christo zu gehorsamen“ (B 8, 183,20–37; Hervorh. i. O.). – Gewissermaßen das Superargument der „Herren Prediger“, „den Gehorsam eines blinden Glaubens, zum Nachteil der gesunden Vernunft, zu autorisieren“, ist die Verderbnis der Vernunft durch den „Sündenfall der ersten Eltern“, kurz: die Erbsündenlehre. So habe der Mensch durch den Sündenfall alle praelapsarischen „Vorzüge verscherzt, und alles leib- und geistliche Verderben auf die Nachkommen fortgepflanzet. Jetzt herrscht von Natur lauter Unwissenheit, Finsternis und Blindheit im Verstande, und der Wille ist von Kindesbeinen an zum Bösen geneigt, und zu allem Guten erstorben. So wäre denn, nach diesem System eine gewaltige Veränderung in der Natur des menschlichen Geschlechts vorgegangen, und auch unsre edelste Naturkraft, die Vernunft, wenigstens in geistlichen Dingen, sehr verdorben.“ Diese Zentrallehre protestantischer Theologie bestreitet Reimarus: Er könne, „wenn ich die mosaische Geschichte von dem ersten Menschen im Paradiese, an sich und ohne Vorurteile betrachte, […] im geringsten nicht sehen, daß sie [sc. die ersten Eltern in ihrem praelapsarischen Zustand] eine vorzügliche Seelen-Vollkommenheit vor uns [postlapsarisch verderbten Menschen] voraus gehabt hätten“, und meint (in seiner rationalistischen Lesart), den „Sündenfall der ersten Eltern“ vielmehr darin zu erkennen, dass sie – infolge der Einflüsterungen der Schlange – eben „keine Vernunft brauchen und den trieglichen Sinnen und falschen Überredungen in großer Übereilung folgen“. Das aber beweist doch: „Die Herren Prediger wären […], als wahre Seelsorger, schuldig, allen und jeden Zuhörern die gesunde Vernunft und ihren Gebrauch, als eine untriegliche Richtschnur der göttlichen Erkenntnis und eines frommen Wandels zu empfehlen, und ihnen vielmehr zu sagen, daß unsre ersten Eltern eben darum gefallen wären, und sich den Versuchungen des Satans bloß gestellet hätten, weil sie keine Vernunft gebraucht“ (B 8, 184,38ff. 185,4–16.22ff.37–186,2). Die Stichworte ‚göttliche Erkenntnis‘ und ‚frommer Wandel‘ zeigen deutlich, dass für Reimarus gerade die Religion der (natürlichen) Vernunft zur Seligkeit gereicht. 55   Nachstehende Ausführungen folgen Schmid 1893, 7–17 (Prolegomena, Kap. III, §§ 4. u. 5.). Vgl. außerdem Hirsch 1964, 308–311; einen anderen Schwerpunkt hinsichtlich der Auswahl der Autoren wählt Ratschow 1966, 18–28. 56   So schreibt der orthodoxe Dogmatiker Johann Andreas Quenstedt (1617–1688) in seiner Theologia didactico-polemica sive Systema theologicum (Wittenberg 1685, hier im Wortlaut

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durch neuartige, sie irgend komplettierende Offenbarungen) überbietbar ist noch (sei es durch die kirchliche Tradition, sei es durch philosophische Spekulation) einer wie auch immer gearteten Ergänzung bedarf: Alle dogmatische Wahrheit ist aus ihr – und nur aus ihr – als dem einen und einzigen (Erkenntnis-)Prinzip ableitbar.57 Für unser religionsphilosophisches Interesse pointiert ausgedrückt bedeutet dies: „Non ratio humana seu naturalis theologiae et rerum supernaturalium principium est.“58 Die Vernunft ist also weder Erkenntnisprinzip noch Erkenntnisquelle der Heilswahrheiten.59 – Wie aber ist das Verhältnis von Vernunft und Offenbarung dann im Sinne der altprotestantischen Orthodoxie zu fassen? Handelt man von der Vernunft an sich (d.i. die Vernunft in ihrem ursprünglichen, schöpfungsgemäßen oder praelapsarischen Zustand), so kann von einem Widerder Ausgabe von 1691; zit. n. Schmid 1893, 9; Hervorh. i. O.): „Theologiae totiusque religionis christianae unicum, proprium, adaequatum et ordinarium cognoscendi principium est divina revelatio, sacris literis comprehensa; sive quod idem est, sola s. scriptura canonica est principium theologiae incomplexum, utpote ex qua sola dogmata fidei probanda et deducenda.“ / Deutsch: „Der Theologie sowie der ganzen christlichen Religion einziges, eigentümliches, angemessenes und (ordnungs-)gemäßes Erkenntnisprinzip ist die göttliche Offenbarung, gefasst in die Heilige Schrift; oder was dasselbe ist: Einzig die kanonische Heilige Schrift ist das einfache Prinzip der Theologie, nämlich das, von dem allein aus die Glaubenslehren zu beurteilen und abzuleiten sind“ (Übers. D.Z.). – Passend hierzu zitiert Hirsch aus Georg Calixts (1586–1656) Epitome theologiae (1619, hier übers. nach dem Wortlaut der Ausgabe von 1661) die folgende Bemerkung (Hirsch 1964, 310): „In den theologischen Disziplinen und in den Dogmen, die die ewige Seligkeit betreffen, schreiten wir nicht weniger, als es in den übrigen Disziplinen zu geschehen pflegt, von einem zum andern fort, und beweisen und leiten ab das eine aus dem andern, wie bekannt ist. Wenn solche Beweise und Ableitungen nicht im Kreis umgehen oder ins Unendliche sich verlieren sollen (beides aber kann nicht sein), dann muß man irgendwo bei irgendeinem Ersten Halt machen, das selber nicht mehr anderswoher bewiesen oder abgeleitet wird. Ein Erstes aber nennen wir es in der Ordnung, die auf die Erkenntnis des Christenmenschen geht, denn wir fordern hier nicht, daß die Prinzipien der Erkenntnis mit den Prinzipien des Seins zusammenfallen oder die gleichen seien […].“ Dieses Erste (in der Erkenntnisordnung) aber ist in der Theologie die göttliche Offenbarung, wie sie in der Heiligen Schrift zusammengefasst ist. 57   Vgl. Quenstedt, Theologia didactico-polemica, zit. n. Schmid 1893, 9: „Principium cognoscendi, ex quo conclusiones theologicae deducuntur, unicum est verbum Dei, sive hoc: Dominus dixit. Conclusiones theologicae nihil aliud sunt, quam veritates fidei, quae eliciuntur et deducuntur e verbo Dei“. / Deutsch: „Das Erkenntnisprinzip, aus dem die theologischen Schlüsse abgeleitet werden, ist einzig das Wort Gottes oder dieses: Der Herr hat gesagt/gesprochen. Theologische Schlüsse sind [demnach] nichts anderes als Glaubenswahrheiten, die zutage gebracht und abgeleitet werden aus dem Wort Gottes“ (Übers. D.Z.). 58   Ebd. – Deutsch: „Nicht die menschliche oder natürliche Vernunft ist das Prinzip der Theologie und der übernatürlichen Dinge“ (Übers. D.Z.). – Da die Theologie demzufolge alle Heilswahrheit allein aus der Heiligen Schrift als ihrem einzigen Erkenntnisprinzip gewinnt, resultiert daraus der Satz: „quidquid s. scriptura docet, infallibiliter certum est“ / Deutsch: „was auch immer die Heilige Schrift lehrt, ist unfehlbar gewiss“ (Übers. D.Z.). 59   Siehe etwa David Hollaz (1648–1713) in seinem Examen theologicum acroamaticum (1707, hier im Wortlaut der Teller-Ausgabe von 1750; zit. n. Schmid 1893, 13): „Interim tamen ratio humana non est fons aut primordiale elementum, ex quo propria et proxima fidei principia deriventur.“ / Deutsch: „Unterdessen ist die menschliche Vernunft gleichwohl weder die Quelle noch der uranfängliche [sc. faktisch wie auch sachlich unhintergehbare] Anfangsgrund, aus dem die eigentümlichen und vorzüglichsten Glaubensprinzipien abgeleitet werden“ (Übers. D.Z.).

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spruch gegen die Offenbarung keine Rede sein. 60 Die Vernunft vor dem Fall kennt ihre Grenzen und weiß darum auch um das Vorhandensein solcher Wahrheiten, die zwar nicht im Widerspruch zu ihr stehen, die aber ihren Erkenntnisbereich transzendieren und also über sie hinausgehen. 61 Anders hingegen verhält es sich mit der menschlichen Vernunft 60

  Dazu Abraham Calov (1612–1686) in seinem Systema locorum theologicorum (1655– 1677; zit. n. Schmid 1893, 13): „Quod philosophia non contrarietur theologiae, nedum ceu animalis, terrena, impura, diabolica rejicienda, hisce docemus: 1. quia verum vero consonat, non autem repugnat. Verum autem est non minus, quod naturae lumine cognoscitur, quam quod in scriptura revelatur; 2. quia naturalis et philosophica notitia originem habet a Deo; 3. quia philosophia ducit nos ad cognitionem Dei.“ / Deutsch: „Dass die Philosophie der Theologie nicht widerspricht, und noch viel weniger etwa als tierisch, irdisch, unrein oder teuflisch zu verwerfen ist, lehren wir aus folgenden Gründen: 1. weil Wahres mit Wahrem in Einklang steht, nicht aber dagegen streitet. Es ist aber nicht weniger wahr, was durch das Licht der Natur erkannt wird, als was in der Schrift geoffenbart wird; 2. weil das natürliche und philosophische Wissen seinen Ursprung von Gott hat; 3. weil die Philosophie uns zur Gotteserkenntnis führt“ (Übers. D.Z.). Wo dennoch ein solcher Widerspruch unterstellt wird, entgegnet Calov (ebd.): „Distinguendum inter contradictionem veram et apparentem. Non enim vere contradicunt sibi maximae philosophicae et conclusiones theologicae, sed tantum apparenter; quia vel non loquuntur de eodem subjecto vel non eundem statum aut modum et respectum concernunt: ut cum philosophus dicit, multiplicatis personis multiplicari essentiam, de personis finitis et creatis id pronuntiat, non de personis divinis quas ignorat: de his enim verum id non esse, docet theologus. Cum philosophus dicit, ex nihilo nihil fieri, sc. per modum generationis, non contradicit theologo, qui per modum creationis aliquid fieri ex nihilo docet. Maneat philosophia intra terminos objecti sui, ita theologiae non contradicet, quippe quae de alio objecto agit. Qui vero confundunt philosophiam cum theologia, eos non mirum est contradictiones parere, quia utramque corrumpunt.“ / Deutsch: „Es ist zu unterscheiden zwischen wirklichem und scheinbarem Widerspruch. Denn es widersprechen sich die bedeutendsten philosophischen und theologischen Schlussfolgerungen nicht wirklich, sondern nur scheinbar; da sie entweder nicht denselben Gegenstand verhandeln oder nicht denselben Zustand oder Modus und Gesichtspunkt betreffen: wie z.B. wenn der Philosoph sagt, dass eine Mehrzahl von Personen auch eine Vervielfältigung des Wesens voraussetzt, dieses von endlichen und erschaffenen Personen aussagt, nicht aber von göttlichen Personen, deren Fall er [gar] nicht beachtet: dass von diesen [drei Personen eines göttlichen Wesens] nämlich eine andere Wahrheit gilt, lehrt der Theologe. [Oder] wenn der Philosoph sagt, aus nichts entsteht nichts, nämlich im Modus der Erzeugung, so widerspricht er dem Theologen nicht, der lehrt, dass im Modus der Schöpfung [durchaus] etwas aus nichts entsteht. Es soll die Philosophie innerhalb der Grenzen ihres Objektbereichs bleiben, so wird sie der Theologie nicht widersprechen, die freilich von einem anderen Gegenstand handelt. Die aber die Philosophie mit der Theologie vermengen, sollten sich nicht wundern, dass sich ihnen Widersprüche auftun, weil sie [dadurch] beide verderben“ (Übers. D.Z.). 61   Es sei an dieser Stelle beispielhaft ein Auszug aus Johann Gerhards (1582–1637) Loci theologici (1610–1625, hier im Wortlaut der Cotta-Ausgabe von 1762–1781; zit. n. Schmid 1893, 15) angeführt: „Articuli fidei in se ac per se non sunt contra rationem, sed duntaxat supra rationem. Per accidens vero contingit, ut sint etiam contra rationem, quando scilicet ratio judicium sibi de illis sumit ex suis principiis, nec sequitur lucem verbi, sed eosdem negat et impugnat. Deinde articuli fidei non sunt contra, sed tantum supra rationem, quatenus ratio ante lapsum nondum fuit corrupta et depravata, sed post lapsum sunt non tantum supra, sed etiam contra rationem corruptam, quippe quae, quatenus talis, non potest sibi temperare, quo minus de illis ex suis principiis velit judicare.“ / Deutsch: „Die Glaubensartikel sind in sich und an sich nicht wider die Vernunft, sondern lediglich über die Vernunft. Umstandsweise [per accidens als Gegenbegriff zu per se] aber trifft es sich [durchaus], dass sie auch wider die

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nach dem Fall: „Distinguendum inter rationem in homine ante lapsum et post lapsum. Illa, quatenus talis, nunquam adversata fuisset divinae revelationi; haec vitio corruptionis adversatur saepissime.“62 Solcher Unterscheidung gemäß erfordert die natürliche Vernunft nach dem Fall eine entsprechend differente Beurteilung: Vernunft sind, wenn nämlich die Vernunft sich über jene ein Urteil anmaßt aus ihren eigenen Prinzipien, und eben nicht dem Licht des Wortes folgt, sondern dieselben verneint und bestreitet. Ferner sind die Glaubensartikel nicht wider, sondern nur über die Vernunft, insofern die Vernunft vor dem Fall noch nicht verderbt und verkehrt gewesen ist, aber nach dem Fall sind sie nicht nur über, sondern auch wider die verderbte Vernunft, die freilich, insofern sie so beschaffen ist, sich nicht zurückhalten kann, über jene aus ihren eigenen Prinzipien urteilen zu wollen“ (Übers. D.Z.). – Das Problem der verderbten Vernunft liegt also in der Missachtung der ihr gesetzten Grenzen. In diesem Sinne beantwortet Gerhard den Satz „nullo modo verum esse potest, cui ratio repugnat“ / Deutsch: „es kann in keiner Weise wahr sein, wozu die Vernunft in Widerspruch steht“ folgenderweise (aaO., 13f.): „non humana ratio, sed divina revelatio est fidei principium, nec ex dictamine rationis de fidei articulis judicandum, alias non amplius habebimus articulos fidei, sed placita rationis. Rationis cogitata et effata intra sphaeram earum rerum, quae rationis judicio sunt subjectae, coercenda et restringenda, non autem extendenda ad sphaeram earum rerum, quae sunt ultra omnem rationis captum positae, alias si accipiuntur tanquam absolute universalia et mysteriis fidei opponuntur, pariunt ἀντιθέσεις ψευδωνύμου γνώσεως.“ / Deutsch: „nicht die menschliche Vernunft, sondern die göttliche Offenbarung ist das Prinzip des Glaubens, und es ist nicht aus dem Spruch der Vernunft über die Glaubensartikel zu urteilen, andernfalls würden wir keine Glaubensartikel mehr haben, sondern Lehrsätze der Vernunft. Die Gedanken und Sätze der Vernunft sind innerhalb der Sphäre der Dinge, die dem Vernunfturteil unterworfen sind, einzuschließen und zu beschränken, nicht aber auszudehnen auf die Sphäre der Dinge, die jenseits aller Fassungskraft der Vernunft liegen; andernfalls – wenn sie vollkommen so aufgefasst werden wie Allgemeinbegriffe und den Mysterien des Glaubens gegenübergestellt werden – erzeugen sie Gezänk der fälschlich so genannten Erkenntnis [1 Tim 6,20].“ Kurzum (aaO., 14): „per se nulla hic contrarietas, sed per accidens. Ratio intra sphaeram suam sese continens non est scripturae contraria, sed quando sphaeram suam vult μεταβαίνειν καὶ ὑπερβαίνειν et de summis fidei mysteriis ex suorum principiorum dictamine judicare, tunc per accidens scripturae, de fidei mysteriis nos informanti, adversatur.“ / Deutsch: „an sich gibt es hier keinen Gegensatz, sondern nur umstandsweise [sc. unter den Bedingungen des Falls: per accidens als Gegenbegriff zu per se]. Die Vernunft, die sich innerhalb ihrer Sphäre hält, ist der Schrift nicht entgegen; aber wenn sie ihre Sphäre überschreiten bzw. aus ihr ausbrechen will und über die höchsten Geheimnisse des Glaubens aus dem Gebot ihrer eigenen Prinzipien heraus urteilen will, dann setzt sie sich umstandsweise zur Schrift in Widerspruch, die uns über die Mysterien des Glaubens unterrichtet.“ Nur der Missbrauch der Philosophie setzt diese also in Widerspruch zur Theologie (ebd.): „Quando vero philosophaster aliquis sua axiomata et effata vult esse tam generalia, ut ex illis etiam de summis fidei mysteriis sit judicandum et sic fines alienos invadit; tunc ex accidenti contingit, ut verum theologice falsum dicatur philosophice, respectu scilicet habito non ad verum sanioris philosophiae usum, sed ad turpissimum ejusdem abusum.“ / Deutsch: „Wenn aber irgendein Philosophaster seine Axiomata und Sätze so verallgemeinern will, dass aus jenen auch über die höchsten Glaubensmysterien geurteilt werden muss und er so in fremde Gebiete eindringt; dann trifft es sich unter diesen Umständen, dass, was theologisch wahr, philosophisch falsch heißt, nämlich in Bezug nicht auf den rechten Gebrauch der gesünderen Philosophie, sondern auf den schändlichsten Missbrauch derselben“ (Übers. D.Z.). 62   Aus: Gerhard, Loci theologici, zit. n. Schmid 1893, 15 (Hervorh. i. O.). – Deutsch: „Es ist zu unterscheiden zwischen der Vernunft im Menschen vor dem Fall und nach dem Fall. Jene, insofern sie so beschaffen ist, hat sich niemals der göttlichen Offenbarung widersetzt;

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Ratio humana naturalis post lapsum 1. est coeca, errorum caligine obfuscata, ignorantiae tenebris implicita, vanitati et errori obnoxia. (Rom. I, 21. 1 Cor. III, 1. Gal. IV, 8. Eph. IV, 17.) 2. ad percipientia divina mysteria, eademque dijudicanda inepta. (Matth. XI, 27. XVI, 17. 1. Cor. II, 14 sq.) 3. iisdem est adversa. (Rom. VIII, 6. 1 Cor. II, 11 sq. III, 18 sq.) proinde sub obsequium Christi captivanda (2 Cor. X, 4. 5.) 4. et ab ejus seductione jubemur cavere. (Col. II, 8.) Ergo ratio humana naturalis non potest esse norma judicii in rebus fidei, et pronuntians juxta illius dictamen non potest esse judex controversiarum theologicarum.63 Freilich: Die so beschaffene, gefallene Vernunft kann unmöglich den Weg zur Seligkeit weisen. Ihre ursprünglich positive Funktion kann sie nur dadurch wiedererlangen, dass sie als wiedergeborene und erleuchtete Vernunft sich der Offenbarung bereit- und hörwillig unterwirft und damit die ihr gesetzten Grenzen (wieder) respektiert: Distinguendum inter rationem hominis nondum renati et rationem hominis regeniti. Illa fidei mysteria judicat stultitiam, haec vero, quatenus talis, iisdem non obluctatur. Tunc vero et tamdiu talis est, quando et quamdiu verbi lucem sequitur, et de fidei mysteriis non ex suis principiis sed ex sacrisliteris judicat. – Non rejicimus rationem renatam, renovatam, verbo Dei illustratam, restrictam et sub obsequium Christi captivatam, verum haec non sumit sibi judicium de rebus fidei ex sese, sed ex scriptura depromit, haec non impugnat articulos fidei sicut ratio corrupta, sibi relicta etc. etc. 64 Dabei ist zu beachten, dass – wie der wiedergeborene Mensch in diesem Leben nimmermehr vollkommen sündlos sein und werden kann, so auch – die wiedergeborene und erleuchtete Vernunft vor ihrer eschatologischen Vollendung niemals ganz und vollständig ihren praelapsarischen Zustand wiederzuerlangen vermag: diese, mit dem Fehler der Verderbtheit [behaftet], widersetzt sich ihr sehr häufig“ (Übers. D.Z.). 63   Ebd. (Hervorh. i. O.; zur Beförderung einer besseren Lesbarkeit wurden die biblischen Belegstellen in Klammern gesetzt). – Deutsch: „Die menschliche natürliche Vernunft nach dem Fall 1. ist blind, durch die Finsternis der Irrtümer verdunkelt, umschlossen von finsterer Unkenntnis, der Vergeblichkeit und dem Irrtum verfallen. (Röm 1,21; 1 Cor 3,1; Gal 4,8; Eph. 4,17) 2. untauglich zum Empfang der göttlichen Mysterien und zur Beurteilung derselben. (Mt 11,27; 16,17; 1 Kor 2,14ff.) 3. mit denselben im Widerspruch. (Röm 8,6; 1 Kor 2,11f.; 3,18ff.) daher unter den Gehorsam Christi gefangen zu nehmen. (2 Kor 10,4f.) 4. und es ist uns geboten, uns vor ihrer Verführung vorzusehen. (Kol 2,8) Also kann die menschliche natürliche Vernunft nicht Richtschnur zur Beurteilung in Glaubensdingen sein, und weil sie nach ihrem Spruch ihr Urteil fällt, so kann sie unmöglich Richterin sein in theologischen Kontroversen“ (Übers. D.Z.). 64   Ebd. (Hervorh. i. O.). – Deutsch: „Es ist zu unterscheiden zwischen der Vernunft des noch nicht wiedergeborenen Menschen und der Vernunft des wiedergezeugten [oder „wiederhergestellten“] Menschen. Jene beurteilt die Mysterien des Glaubens in ihrer Torheit, diese aber, insofern sie so beschaffen ist, widerstrebt denselben gerade nicht. Dann gewisslich [nicht] und eben nur solange sie so beschaffen ist, dass und insofern sie dem Licht des Wortes folgt und über die Mysterien des Glaubens nicht aus ihren eigenen Prinzipien, sondern aus der Heiligen Schrift urteilt. – Wir verwerfen nicht die wiedergeborene, erneuerte, vom Wort Gottes erleuchtete, bescheidene und unter den Gehorsam Christi gefangengenommene Vernunft; diese freilich maßt sich kein Urteil in Glaubensdingen aus sich heraus an, sondern holt sie aus der Schrift hervor; sie ficht die Glaubensartikel nicht an wie die verderbte, sich selbst überlassene Vernunft etc. etc.“ (Übers. D.Z.).

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Dist. porro inter rationem rectificari in hac vita coeptam et plene rectificatam in vita altera. Illa nondum ita plene renovata, illustrata et rectificata, ut ἀδύνατον sit, eam fidei articulis adversari eosque impugnare, si suum sequatur ductum. Quemadmodum enim in renatis manet lucta carnis et spiritus, per quam sollicitantur ad peccatum : sic manet in illis lucta fidei et rationis, quatenus ea nondum plene est renovata; haec vero omnem repugnantiam fidei et rationis excludit. 65 Sind der Vernunft an sich, d.h. in ihrem praelapsarischen Zustand bereits Grenzen gesetzt, so gilt dies also umso mehr für die wiedergeborene und erleuchtete, als solche aber immer noch im Ringen begriffene Vernunft. Kurzum: Die Vernunft kann in Glaubensdingen kein normatives Ansehen für sich beanspruchen. Stattdessen steht sie lediglich in einem dienenden Verhältnis zur Theologie: „Est ratio non dux theologiae sed pedissequa. Serviat ancilla Hagar dominae, non imperet: imperium affectans aede sacra eliminetur.“66 In diesem Sinne gilt ganz grundsätzlich, dass der Mensch allein mit seiner Vernunft Glaubenswahrheiten zu „vernehmen“ und sich geistig anzueignen vermag. 67 Sodann dient die Vernunft – dem Theologen im engeren Sinne – auch zur Bewältigung der exegetischen und dogmatischen Aufgabe sowie zur Widerlegung gegnerischer Einwendungen und – zumindest innerhalb der ihr gesetzten Grenzen – zum apologetischen Beweis der göttlichen Wahrheiten: Disting. inter rationis ejusque principiorum usum organicum seu instrumentalem, quando ut instrumenta adhibentur in interpretenda et explicanda s. scriptura, in refutandis adversariorum argumentis ex natura et ratione petitis, in vocum significatio65

  Ebd. (Hervorh. i. O.). – Deutsch: „Es ist ferner zu unterscheiden zwischen der Vernunft, mit deren Zurechtbringung in diesem Leben [erst] begonnen worden ist, und der völlig zurechtgebrachten [Vernunft] im anderen Leben. Jene ist noch nicht so vollständig erneuert, erleuchtet und zurechtgebracht, als dass es unmöglich wäre, dass sie sich den Glaubensartikeln widersetzte und sie anföchte, wenn sie ihrer eigenen Leitung folgt. Wie nämlich in den Wiedergeborenen das Ringen von Fleisch und Geist fortbesteht, durch das sie gereizt werden zur Sünde: so besteht in ihnen auch das Ringen von Glauben und Vernunft fort, insofern diese [sc. die Vernunft] noch nicht vollständig erneuert ist; dies schließt allerdings jeden Widerspruch von Glauben und Vernunft aus“ (Übers. D.Z.). 66   Aus: Hollaz, Examen theologicum acroamaticum, zit. n. Schmid 1893, 16. – Deutsch: „Es ist die Vernunft keine Führerin der Theologie, sondern eine Dienerin. Es soll die Magd Hagar ihrer Herrin dienen [vgl. Gen 16 u. 21,8–21], nicht befehlen: maßt sie sich Befehlsgewalt an, wird sie aus dem Gotteshaus hinausgesetzt“ (Übers. D.Z.). 67   Nochmals Hollaz (aaO., 12; Hervorh. i. O.): „Sine usu rationis dogmata theologica neque percipere, neque confirmare, neque a strophis adversariorum vindicare possumus. Certe non brutis, sed hominibus, sana ratione utentibus, Deus aeternae salutis sapientiam in verbo suo revelavit, et serio iis injunxit mandato, ut verbum suum legerent, audirent, meditarentur. Requiritur itaque intellectus, ut subjectum recipiens, aut instrumentum apprehendens. Sicut enim sine oculis nihil videmus, sine auribus nihil audimus, ita sine ratione nihil intelligimus.“ / Deutsch: „Ohne den Gebrauch der Vernunft können wir die theologischen Lehren weder vernehmen noch bestätigen noch angesichts der Kunstgriffe [ihrer] Gegner sicherstellen. [Denn] Gott hat gewiss nicht den unvernünftigen [Wesen], sondern den Menschen, die sich ihrer gesunden Vernunft bedienen, die Weisheit ewigen Heils in seinem Wort geoffenbart, und hat ihnen ernstlich aufgetragen, dass sie sein Wort lesen, hören und darüber nachdenken sollen. Erfordert wird daher ein Erkenntnisvermögen, um einen Begriff zu vernehmen oder wenigstens [geeignete] Mittel [dafür] zu ergreifen. Wie wir nämlich ohne Augen nichts sehen, ohne Ohren nichts hören, so verstehen wir auch ohne die Vernunft nichts“ (Übers. D.Z.).

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nibus et constructionibus, itemque figuris modisque loquendi rhetoricis expendendis, et usum principiorum philosophicorum normalem, quando pro principiis, unde dogmata supernaturalia probanda sint, habentur. Illum admittimus, hunc repudiamus. 68 Quenstedt präzisiert weiter: Aliud est, principia et axiomata philosophica in theologia adhibere illustrationis, declarationis et secundariae probationis gratia, ubi res e scriptura definita est; et aliud, adhibere eadem decisionis et demonstrationis causa, vel principia philosophica et ratiocinationes, ex illis factas, pro principio in theologia agnoscere, aut ex illis de rebus fidei judicium ferre. Illud etiam nostrates faciunt, non hoc. – Disting. inter consequentias, rationis beneficio ex s. scriptura deductas, et inter conclusiones ex naturae et rationis principiis collectas. Illae cum his non sunt confundendae. Aliud enim est, uti consequentiis (legitimis, necessariis) et aliud, uti principiis rationis. Aliud est, ex scripturae dictis, juxta regulas logicas, conclusionem inferre et consequentias nectere, et aliud, conclusiones ex naturalibus principiis colligere. – Illustratio quaedam rerum coelestium peti potest e rebus, quas ratio suppeditat, sed demonstratio inde desumi nequit, quia eam oportet procedere non ἐξ ἀλλοτρίων sed ἐξ οἰκείων. 69 Nun gilt es – abschließend –, eine letzte Unterscheidung der orthodoxen Dogmatik in den Blick zu nehmen. Genauer geht es um die Lehre von den articulis puris et mixtis. Hierzu heißt es bei Hollaz: „Ex principiis philosophicis articuli fidei mixti quadantenus innotescunt. Articuli autem fidei puri unice ex s. scriptura, tanquam ex domestico, fundamentali 68

 Aus: Quenstedt, Theologia didactico-polemica, zit. n. Schmid 1893, 16 (Hervorh. i. O.). – Deutsch: „Es ist zu unterscheiden zwischen dem organischen oder instrumentalen Gebrauch der Vernunft und ihrer Prinzipien – wenn sie als Mittel herangezogen werden zur Deutung und Auslegung der Heiligen Schrift, zur Zurückweisung gegnerischer Argumente, die aus der Natur und der Vernunft hergenommen sind, zur Bezeichnung und Verbindung der Wörter, und auch zur Abwägung rhetorischer Figuren und Sprechweisen – und dem normativen Gebrauch philosophischer Prinzipien – wenn sie als Prinzipien angesehen werden, woraus die übernatürlichen Lehren zu prüfen sind. Jenen [Gebrauch] gestatten wir, diesen weisen wir zurück“ (Übers. D.Z.). 69   Ebd. – Deutsch: „Ein anderes ist es, philosophische Prinzipien und Axiomata in der Theologie anzuwenden zur Veranschaulichung, zur Erklärung und zum nachträglichen [sc. weder normativen noch notwendigen, sondern sekundären, nachgeordneten] Beweis, wo die Sache aus der Schrift definiert ist; und ein anderes ist es, dieselben um der [Wahrheits-] Entscheidung und des Beweises willen anzuwenden, oder gar philosophische Prinzipien und aus diesen gezogene Vernunftschlüsse als Prinzip in der Theologie anzuerkennen, oder aus jenen über Glaubensdinge ein Urteil beizubringen. Jenes tun auch die Unsrigen, dieses nicht. – Es ist zu unterscheiden zwischen Folgerungen, die vermittels der Vernunft aus der Heiligen Schrift deduziert werden, und Schlüssen, die aus den Prinzipien der Natur und der Vernunft gezogen werden. Jene sind mit diesen nicht durcheinanderzuwerfen. Denn es ist ein anderes, sich (legitime und notwendige) Folgerungen zunutze zu machen, und ein anderes, die Prinzipien der Vernunft anzuwenden. Ein anderes ist es, aus den Äußerungen der Schrift, gemäß den logischen Regeln, Schlüsse zu ziehen und Folgerungen zu knüpfen, und ein anderes, Schlüsse aus natürlichen Prinzipien zu ziehen. – Eine gewisse Veranschaulichung der himmlischen Dinge kann von den Dingen, welche die Vernunft an die Hand gibt, her erstrebt werden, aber ein Beweis kann von dort aus unmöglich geführt werden, denn es gebührt sich für sie [sc. die Theologie?], nicht aus fremden [Prinzipien], sondern aus dem Eigenen heraus voranzuschreiten“ (Übers. D.Z.).

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et primordiali principio demonstrantur et cognoscuntur.“70 Selbstredend weiß der Dogmatiker auch im ersteren Falle jedweden Anspruch der Vernunft auf normative Autorität zurückzuweisen: „In articulis mixtis principia philosophica specialia non quidem deci­ sionis et demonstrationis, sed tantum illustrationis aut secundariae probationis causa, ubi e scriptura res definita est, adhiberi posse concedimus.“71 Es sind also vor allem die formalen Prinzipien der Vernunft, auf welche die orthodoxe Theologie zurückgreift; materialiter aber kann die Vernunft dieser Theologie nichts geben: Ratio ut instrumentum non autem ut norma et judex admittitur: principia rationis formalia nemo rejicit, materialia, quae sint mysteriorum norma, nemo sanus recipit. Nullum principium materiale rationis ut sic, sed ut simul revelationis pars est, fidem probat theologice; Deum esse, ex natura scimus, ex sola scriptura credimus. Non sequitur: pars revelationis nonnunquam sunt axiomata natura nota, ergo ratio est controversiarum theologicarum norma.72 Gewissermaßen als Fazit vorstehender Ausführungen sei unser Exkurs zu den erkenntnistheoretischen Grundsätzen der altprotestantischen Orthodoxie mit den folgenden Worten Johann Andreas Quenstedts beschlossen: „Theologia non damnat rationis usum sed ­abusum et affectationem directorii sive usum magisterialem, normativum et decisivum rerum divinarum.“73

Zurück zu Reimarus und seiner anti-orthodoxen Positionierung im Ersten Fragment. – Während die Orthodoxie, in Entsprechung zu ihren unaufgebbaren Voraussetzungen, jedwedes Gebilde einer rein auf Vernunfterkenntnis beruhenden Religion als das Resultat sündhaft-menschlicher Selbstüberhebung zurückweisen muss, bestreitet Reimarus die Erbsündenlehre und hält die „Herren Prediger“ als „wahre Seelsorger“ dazu an, in ihren Kanzelreden „allen und 70   Aus: Hollaz, Examen theologicum acroamaticum, zit. n. Schmid 1893, 17. – Deutsch: „Aus philosophischen Prinzipien können die articuli fidei mixti [wörtl.: die vermischten Glaubensartikel] bis zu einem gewissen Grade gewusst werden. Die articuli fidei puri aber [wörtl.: die reinen Glaubensartikel] werden allein aus der Heiligen Schrift als aus ihrem eigenen, fundamentalen und unhintergehbaren Prinzip erwiesen und erkannt“ (Übers. D.Z.). 71   Aus: Quenstedt, Theologia didactico-polemica, zit. n. Schmid 1893, 17. – Deutsch: „In den articulis mixtis gestehen wir es zu, dass die spezifisch philosophischen Prinzipien angewandt werden können; freilich nicht zur [Wahrheits-] Entscheidung und zum Beweis, sondern bloß zur Veranschaulichung oder zum nachträglichen [sc. weder normativen noch notwendigen, sondern sekundären, nachgeordneten] Beweis, wo eine Sache von der Schrift her definiert ist“ (Übers. D.Z.). 72  AaO., 15f. – Deutsch: „Die Vernunft wird als Hilfsmittel, nicht aber als Richtschnur und Richterin hinzugezogen: Die formalen Prinzipien der Vernunft weist niemand zurück, [ihre] materialen [Prinzipien aber], welche die Richtschnur der Mysterien sein wollen, nimmt kein gesunder [Mensch] an. Kein materiales Prinzip der Vernunft als solches, sondern nur insofern es zugleich auch Teil der Offenbarung ist, beweist auf theologische Art den Glauben; dass Gott ist, wissen wir aus der Natur, [aber] aus der Schrift allein glauben wir es. Es folgt [also] nicht: Die aus der Natur bekannten Axiomata sind zuweilen [auch] Teil der Offenbarung, also ist die Vernunft Richtschnur in theologischen Kontroversen“ (Übers. D.Z.). 73  AaO., 16. – Deutsch: „Die Theologie verdammt nicht den Gebrauch der Vernunft, sondern [ihren] Missbrauch und [ihre] Herrschsucht oder [ihren] leitenden, normativen und ausschlaggebenden Gebrauch in göttlichen Dingen“ (Übers. D.Z.).

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jeden Zuhörern die gesunde Vernunft und ihren Gebrauch, als eine untriegliche Richtschnur der göttlichen Erkenntnis und eines frommen Wandels zu empfehlen“.74 Freilich artikuliert sich in, mit und unter solcher Kritik orthodox-kirchlicher Kanzelpraxis noch grundlegender und wesentlich eine religionsphilosophisch motivierte Fundamentalkritik des positiven, d.h. historisch oder kirchlich tradierten und – wenigstens seinem Selbstverständnis nach – geoffenbarten Christentums überhaupt. Durch die Kontrastierung von vernünftiger Einsicht, von ‚Nachdenken‘, ‚Grübeln‘ und ‚Philosophieren‘ auf der einen und vorurteilsbehaftetem, ‚blindem‘, ‚fein gehorsamlichem‘ oder ‚einfältigem Glauben‘ auf der anderen Seite; von natürlicher Erkenntnis und Wahrheitserforschung hier und „unverstandenen Gedächtnis-Formeln“, „Catechismus-Glauben“ und ‚angeerbter Religion‘ dort macht Reimarus es seinen Lesern mehr als deutlich, dass er die vernünftige Religion von der – sogenannten – Offenbarung klar geschieden wissen will.75 Die Suffizienz der natürlichen Vernunftreligion ist ihm dabei ebenso gewiss76 wie die Wahrheit des geoffenbarten Christentums fraglich. Ja, was im Ersten Fragment noch als fraglich erscheint, wird im Zweiten Fragment schon in seiner Möglichkeit, und das heißt: mit aller nur vorstellbaren Radikalität bestritten. Das Zweite Fragment handelt von der „Unmöglichkeit einer Offenbarung, die alle Menschen auf eine gegründete Art glauben könnten“.77 Freilich erfordert 74   B 8, 185,37–40. – Die weitverbreiteten Skrupel, „in der Erkenntnis Gottes […] vernunftmäßig zu denken“ (anstatt etwa „fein gehorsamlich zu glauben“ [B 8, 177,5ff.]), fordert Reimarus durch einen Selbstversuch auszuräumen: „Mögte doch ein jeder sich so viel ermannen, daß er mit seiner jetzigen Vernunft einen Versuch machte, ob er nicht, nach der bloß natürlichen Erkenntnis, viel richtiger von Gott, und seinem Verbot im Paradiese, zu urteilen vermögend sei, als die ersten Eltern sollen geurteilet haben. Wir sind ja durch die bloße Vernunft von Gottes Wahrheit, Weisheit, Güte und Macht genugsam überführt, daß wenn er unmittelbar seinen Willen zu erkennen gäbe, wir sollten nur von dem einen Fruchtbaume mitten im Garten nicht essen, alle die übrigen wären uns zur Nahrung erschaffen, so würden wir nimmer auf den Gedanken fallen, Gott habe das nicht gesagt, oder so gemeint […] Wenn wir auch die Ursache des Verbots nicht erraten könnten, so würden wir doch in Ewigkeit nicht argwöhnen, daß es aus Neid oder Mißgunst gegeben sei, damit wir Gott nicht gleich werden sollten; sondern sicherlich glauben, daß uns der Genuß gewiß schaden würde, und also zu unserm eigenen Besten untersagt sei. […] Daraus könnte also ein jeder, der natürlichen Verstand hatte und brauchen wollte, überzeugt werden, daß seine angeborne Vernunft jetzt in der Einsicht der Vollkommenheiten Gottes nicht verkürzter, noch in der Herrschaft über die sinnliche Begierden schwächer und ohnmächtiger sei, als wir beides in der Geschichte der ersten Menschen [sc. in ihrem praelapsarischen und also noch unverderbten Zustand] finden“ (B 8, 186,11–40). 75   Die einzelnen Schlagworte finden sich jeweils in den ersten beiden Paragraphen des Ersten Fragments. – Seine Kritik „der catechetischen Lehrbücher“ richtet Reimarus denn auch folgerichtig gegen den dortigen „Mangel […] an einer vernünftigen Religion und an einem vernünftigen Übergange von derselben zur Offenbarung“ (B 8, 175,3ff.). 76   So auch Schilson 1989, 904: Reimarus trete „mit größtem Nachdruck für die legitime Beschränkung auf eine Religion ein, deren Erkenntnisse und Wahrheiten sich allein auf die Vernunft gründen“. 77   So die Überschrift des Zweiten Fragments (B 8, 189,2f.; Hervorh. i. O.).

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solch prinzipielle Kritik aller positiven Offenbarungsreligion „einen umständlichern Beweis“, ergeben sich doch zunächst einmal zwei Denkmöglichkeiten, aus denen dann eine Vielzahl weiterer Alternativen abgeleitet werden können: Es würde nemlich eine solche Offenbarung [sc. die alle Menschen auf eine gegründete Art glauben könnten] entweder [i.] unmittelbar allen und jeden Menschen, oder [ii.] nur etlichen geschehen müssen. In dem letzteren Falle würde sie entweder [ii.1] etlichen Menschen bei allen Völkern, oder [ii.2] bei etlichen Völkern, oder [ii.3] wohl gar nur bei einem offenbaret: und jedes von diesen geschähe entweder zu allen Zeiten [ii.(…) a], oder zu gewissen Zeiten [ii.(…) b], oder wohl gar nur zu einer Zeit [ii.(…) c]. Die Art aber, wie es von den etlichen Menschen denen übrigen bekannt gemacht würde, geschähe entweder mündlich [ii.(…) (…) m] oder schriftlich [ii.(…) (…) s].78

Obgleich Reimarus in seinem spezifischen Kontext genaugenommen bloß „diesen Fall“ betrachten müsste, „da gesagt wird, daß Gott bei einem Volke zu gewisser Zeit etlichen Personen unmittelbare Offenbarungen gegeben, von welchen es alle übrige Menschen, teils mündlich, teils schriftlich empfangen und annehmen sollten“ [ii.3 b m/s], will er gleichwohl – in seiner prinzipiellen Behandlung der Frage – „die übrigen Fälle nicht ganz weglassen“.79 Es sollen im Folgenden die jeweils schlagenden Argumente kurz skizziert werden: Ad [i.]: Diese Möglichkeit scheidet bereits aus ökonomischen Gründen aus: Sie wäre verbunden mit der Annahme, „daß alle Augenblicke und allenthalben bei allen Menschen Wunder geschähen“ – eine Annahme, die der göttlichen Weisheit „zuwider“ ist: Beständige Wunder stören die Ordnung und den Lauf der Natur beständig, welche doch Gott selbst weislich und gütig gesetzt hatte. Gott würde also sich selbst widersprechen und die Ordnung der Natur gewollt haben und noch beständig wollen; und doch beständig nicht wollen.80

Ad [ii.1 a/b m/s]: Zunächst führt Reimarus auch hier wieder das ganz grundsätzliche Argument ins Feld, dass – vorausgesetzt, „alle und jede Menschen [sollen] das Erkenntnis bekommen“ – solches doch besser „durch die Natur“ als „durch häufige Wun78

  B 8, 189,5–15.   B 8, 189,18–23. 80   B 8, 189,30f.33–38. – Freilich resultiert aus der Notwendigkeit einer für alle Menschen „auf eine gegründete Art“ annehmbaren seligmachenden Religion und der offenbaren Unmöglichkeit einer universalen übernatürlichen Offenbarung für Reimarus die Notwendigkeit der Suffizienz der natürlichen Religion: „Wäre es ja nötig, daß alle Menschen solche Erkenntnis hätten, so würde er [sc. Gott] es mit in die Ordnung der Natur befasset, und dem menschlichen Verstande ein natürliches Vermögen zu solchem Erkenntnisse erteilet haben“ (B 8, 189,38–190,3). 79

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der“ geschehe. Soll nun aber, wie es das Selbstverständnis einer jeden Religion notwendigerweise erfordert, diese Erkenntnis universal sein, so sieht Reimarus „die Ungereimtheit“ im hier zu betrachtenden Falle dadurch noch vergrößert, dass die Wunder (indem die Offenbarung „nur etlichen“, nicht aber allen „Personen bei jedem Volke […] widerführe“) „alsdenn [ihren] Zweck [sc. die Universalität der Erkenntnis] nicht einmal erhielten“. Denn als evident göttliches Ereignis kann eine Offenbarung nur dort gelten, wo sie ihrem Adressaten in unmittelbarer Weise widerfährt. Wo hingegen einige (wenige) Offenbarungsempfänger „andern Menschen [bezeugen], was ihnen offenbaret ist: so bekommen die andern Menschen diese Nachricht von Menschen. Es ist also nicht mehr eine göttliche Offenbarung, sondern ein menschlich Zeugnis von einer göttlichen Offenbarung.“ Kurzum: Je weiter der Tradierungsprozess fortschreitet, desto problematischer wird die Offenbarung in ihrer göttlichen Urheberschaft: „Da wird aus der allergrößten Glaubwürdigkeit eine Wahrscheinlichkeit, dann eine Sage, und zuletzt ein Märlein“ – ganz zu schweigen von der Möglichkeit einer fälschlich vorgegebenen Offenbarung, „welche von andern Offenbarungen ganz verschieden, und jenen widersprechend, und dennoch auf einerlei Weise bestätiget ist“.81 Ad [ii.3 b m/s]: Diesen letzten möglichen Fall sieht Reimarus mit der jüdisch-christlichen Religionsgeschichte als „wirklich geschehen […] gesetzet“ – und damit zugleich auch die Behauptung, es handle sich hierbei um den „allen Menschen nötige[n] Weg zur Seligkeit“. Die uns schon bekannten Schwierigkeiten einer übernatürlich gewirkten Offenbarung mit eingeschränktem Empfängerkreis (bei gleichzeitiger Universalität des Geoffenbarten) – Stichwort menschliche Bezeugung und Tradierungsprozess sowie Vervielfältigung des „Vortrag[s] durch mehrerer Menschen Mund und Feder“ – werden in diesem spezifischen Falle indes noch weiter verschärft, indem die geoffenbarte Wahrheit in ihrem Kern übervernünftig, d.h. „dunkel und unbegreiflich“ ist und also nicht zuletzt auch darum „nicht allgemein kann angenommen werden: dem einen ist es zu hoch, er kann nichts davon verstehen: dem andern ein Ärgerniß und Torheit“. Kurzum: „Wenn man denn nun weiter gehet“ (wie es Reimarus übrigens in den darauffolgenden fünfzehn Paragraphen mit kleinen Schritten wirklich tut) und bedenket, wie diese Offenbarung von einem Volke zu allen übrigen auf dem ganzen Erdboden kommen soll, so, daß alle Menschen eine gegründete Überführung davon haben könnten: so häuft sich die Schwierigkeit dermaßen, daß es, nach der Natur und Beschaffenheit der Menschen, eine wahre Unmöglichkeit ist, daß alle Menschen auf dem Erdboden eine solche Offenbarung zu wissen bekommen, glauben, und also durch dieselbe selig werden könnten. Es wird sich bei gemachtem Überschlage finden, 81

  B 8, 191,36–192,2.7–12 u. 193,7f.11ff.

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daß unter einer Million Menschen kaum einer mit Grund von einer solchen Offenbarung urteilen und überführt sein kann.82

Diese Erwägungen nun münden in den folgenden Schluss: Da nun Gott nach seiner Weisheit und Güte, wenn er alle Menschen selig haben will, dasjenige nicht zum notwendigen und einzigen Mittel der Seligkeit machen kann, welches denen allermeisten schlechterdings unmöglich fällt, zu bekommen, anzunehmen und zu gebrauchen: so muß gewiß die Offenbarung nicht nötig, und der Mensch für keine Offenbarung gemacht sein. Es bleibt der einzige Weg, dadurch etwas allgemein werden kann, die Sprache und das Buch der Natur, die Geschöpfe Gottes, und die Spuren der göttlichen Vollkommenheiten, welche darin als in einem Spiegel allen Menschen, so gelehrten als ungelehrten, so Barbaren als Griechen, Juden und Christen, aller Orten und zu allen Zeiten, sich deutlich darstellen.83

Es liegt also ganz in der Konsequenz des Zweiten Fragments, die positiven Religionen in ihrer Offenbarungsmächtigkeit schlechthin zu bestreiten und – als Ergebnis solcher Bestreitung – die Suffizienz und Exklusivität der natürlichen Religion hervorzukehren. Entsprechend liefert das Vierte Fragment Argumente dafür, „Daß die B ­ ücher A. T. nicht geschrieben worden, eine Religion zu offenbaren“.84 Die grundlegende Voraussetzung dieser provozierenden These besteht darin, dass überhaupt nur diejenige Religion als ‚übernatürlich‘ und ‚seligmachend‘ qualifiziert werden kann, welche vor allen Dingen ein Erkenntnis von der Unsterblichkeit der Seelen, von der Belohnung und Bestrafung unserer Handlungen in einem zukünftigen ewigen Leben; von der Vereinigung frommer Seelen mit Gott zu einer immer größern Verherrlichung und Seligkeit, erfordert und zum Grunde leg[t]. 85

Negativ formuliert kann es sich also gerade dort unmöglich um ein göttliches Offenbarungsgeschehen handeln, wo „nicht zugleich das Erkenntnis von der Unsterblichkeit der Seelen und ihrem Zustande nach diesem Leben als eine[r] der wichtigsten Punkte sorgfältig“ dargetan wird.86 Unter dieser Voraussetzung aber, so die klare Diagnose, zu welcher Reimarus im Zuge seiner alttestamentlichen Studien gelangt, vermag das genuin biblische Judentum den Ansprüchen einer seligmachenden Religion keineswegs zu genügen: So werde der „Bewegungs-Grund“, „das Volk von dem abgöttischen Dienste zum Levitischen zu bringen“87, überall „bloß von leiblichen Strafen und Belohnungen dieses Lebens hergenommen“88, wie in der hebräischen Bibel überhaupt, besonders in den 82

  B 8, 194,31ff. u. 195,4.7ff.19f.22–32.   B 8, 235,21–32. 84   So die Überschrift über dem Vierten Fragment (B 8, 246,33f.; Hervorh. i. O.). 85   B 8, 246,35–247,3. 86   B 8, 247,34–37. 87   B 8, 249,29f. 88   B 8, 248,41–249,1 (Hervorh. D.Z.). 83

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Weisheitlichen Büchern, „die ganze Comödie der menschlichen Begebenheiten in diesem Leben beschlossen“89 werde. Kurzum: Da nun die Schreiber des alten Testaments bei keiner auch noch so dringenden Gelegenheit, diesen wichtigen Lehr-Punct der Religion [sc. die Lehre von der Unsterblichkeit der Seele] erwehnen: so folget erstlich, daß sie ihn selbst nicht müssen gewußt haben: und ferner folgt daraus, daß, was man ihnen auch für einen Zweck beilegt, derselbe doch keine göttliche Offenbarung einer seligmachenden Religion könne gewesen sein.90

Das alttestamentliche Zeugnis erreicht demnach noch nicht einmal den Umfang der natürlichen Religion. Dass sich in späteren Zeiten, in den Lehren der Pharisäer und Essener, nun gleichwohl auch im Judentum die Unsterblichkeitslehre findet, ist nach Reimarus nicht etwa durch das Studium der alttestamentlichen Schriften, sondern lediglich durch den zwischenzeitlichen Kontakt und den Austausch mit anderen, weiseren Völkern – namentlich im babylonischen Exil – zu erklären.91 Unter obiger Voraussetzung gelingt es also erst den Pharisäern, „eine Religion daraus zu machen, was bisher noch keiner Religion ähnlich gesehen“.92 89

  B 8, 253,8ff. (Hervorh. D.Z.).   B 8, 254,34–39. – Reimarus sucht überdies in seinen Ausführungen zu demonstrieren, „daß die Schreiber des alten Testaments die Unsterblichkeit [nicht nur] nicht lehren und erwehnen“, sondern sie vielmehr auch leugnen und sogar „das Gegenteil“ behaupten würden: „daß der Mensch nichts sei als Erde und Staub“ etc. (vgl. B 8, ab 254,40). Auffällig ist hierbei seine entschieden platonisch gefärbte Anthropologie. Darüber hinaus versäumt er es nicht, auch „die Stellen des alten Testaments kürzlich durchzugehen“ (und eine entsprechende Deutung zurückzuweisen), „welche auf solche Art einen Schein geben, daß auch die alten Hebräer von einer geistigen, unsterblichen Seele, welche nach diesem Leben bestraft oder belohnet würde, ja von der Auferstehung, etwas gewußt haben“ (vgl. B 8, ab 259,31). 91   „Nach der babylonischen Gefängnis kommen erst die Zeiten, da die Juden solche Begriffe von der Seele und deren künftigen Zustande hatten und äußerten, als wir im neuen Testamente lesen: gleichwie sie überhaupt von der Zeit an in ihrem ganzen Wesen, Religion und Sitten viel Veränderung spüren ließen. […] Alle diese Veränderungen können wir keiner andern Ursache zuschreiben, als daß die Juden durch ihre Gefangenschaft und Zerstreuung mehreren Umgang mit andern Völkern, und insonderheit mit den vernünftigsten von ganz Asien, Africa und Europa bekamen; bei ihnen eine bessere Policei sahen, Künste und Wissenschaften lerneten, Umgang mit den Weltweisen hatten, und ihre Bücher lasen“ (B 8, 272,1– 5.25–31). Namentlich genannt werden die Babylonier und Perser, die Ägypter, Griechen und Römer. „Da nun die Juden vor ihrer Gefangenschaft und Zerstreuung von der Seelen Unsterblichkeit nichts wußten, noch aus ihren Schriften wissen konnten, sondern daraus vielmehr das Gegenteil zu glauben Ursache hatten; nun aber, nachdem sie unter die Völker geraten waren, welche der Seelen Unsterblichkeit glaubten, gleichfalls dieselbe zu glauben anfingen: so ist offenbar, daß sie diese Meinung von den fremden Nationen und deren Weltweisen erlernet, und um so viel williger angenommen haben, je mehr sie dieselbe einer vernünftigen Religion und der natürlichen Neigung des Menschen gemäß erkannten, und je weniger sie damals Bedenken trugen, zu den Lehren ihrer Schriftsteller unterschiedliche Zusätze zu machen, oder von deren buchstäblichem Verstande abzuweichen“ (273,23–35). 92   B 8, 274,41–275,2. – Freilich kann Reimarus in seiner religionskritischen Perspektive nicht umhin, diese würdigende Formulierung sogleich wieder zu relativieren: „wenn sie nur 90

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Zusammenfassend lässt sich sagen: In den von Lessing herausgegebenen Fragmenten werden in drei Schritten zunächst die Notwendigkeit, dann die Möglichkeit und schließlich – folgerichtig – die Wirklichkeit jedweden übernatürlichen Offenbarungsgeschehens bestritten. Ersteres geschieht durch Leugnung der Erbsündenlehre sowie einer darin begründeten Korrumpierung der menschlichen Vernunft nach dem Fall (Erstes Fragment); zweites unter Aufweis seiner Widersprüchlichkeit zur allweisen Einrichtung und Regierung der Welt (Zweites Fragment); letzteres in Gestalt einer Fundamentalkritik sowohl der jüdischen (als einer seligmachenden Offenbarungs-) Religion im Allgemeinen (Viertes Fragment) als auch zentraler alt- und neutestamentlicher Überlieferungen im Besonderen (Drittes und Fünftes Fragment).

3.2 Die Gegensätze des Herausgebers Freilich: Bei Lessings Gegensätzen des Herausgebers handelt es sich um weit mehr als nur die angekündigten „Winke“ – zumal wenn er damit (augenzwinkernd) ein bloß skizzenhaftes Referat der gängigen Argumentationsstrategien bezeichnet haben will, vermittels derer die zeitgenössische Apologetik „alles das [sc. die einzelnen Aspekte der durch Reimarus geäußerten Kritik] abzuweisen und nichtig zu machen gewußt hat“.93 Denn erstens ist Lessing – wie wir auf unserem bislang zurückgelegten Weg bereits mehrfach gesehen haben – weit davon entfernt, sich mit dem apologetischen Diskurs seiner Zeit auch nur halbwegs zufrieden zu zeigen. Und zweitens verschafft er mit Reimarus einer Bibelund Religionskritik Gehör, wie sie bislang noch nicht – oder mindestens noch nicht in solcher Schärfe und Stringenz – vernommen wurde. Hier aber kommen wir unversehens Lessings eigentlicher Absicht bei Herausgabe der Fragmente und damit auch dem Selbstverständnis seiner beigefügten Gegensätze auf die Spur: Damit der christliche Theologe sich selbst sowie allen anderen Rechenschaft darüber ablegen kann, ob er sich wahrhaft dazu in der Lage sieht, im „Geiste seines angenommenen Systems“ allen – und so auch den stärksten – Einwendungen gegen das Christentum etwas Befriedigendes entgegenzusetzen, gilt es, „alle Arten von Einwürfen frei und trocken herauszusagen“: Es ist falsch, daß schon alle Einwürfe gesagt sind. Noch falscher ist es, daß sie alle schon beantwortet wären. Ein großer Teil wenigstens ist eben so elend beantwortet, als elend gemacht worden. Seichtigkeit und Spötterei der einen Seite, hat man nicht selten mit Stolz und Naserümpfen auf der andern erwidert. Man hat sich sehr beleidiget gefunden, wenn der eine Teil Religion und Aberglauben für eins genommen: aber man hat sich kein Gewissen gemacht, Zweifel für Unglauben, Begnügsamkeit mit dem, was die Vernunft sagt, für Ruchlosigkeit auszuschreien. Dort hat man jeden Gottesgelehrten nicht durch andere törichte Zusätze alles wieder verdorben, und die ganze Religion zu einer scheinheiligen Heuchelei gemacht hätten“ (B 8, 275,2ff.). 93   Vgl. Lessings Ankündigung am Schluss der kurzen Vorrede (B 8, 174,1–6).

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zum Pfaffen, hier jeden Weltweisen zum Gottesleugner herabgewürdiget. So hat der eine und der andere seinen Gegner zu einem Ungeheuer umgeschaffen, um ihn, wenn er ihn nicht besiegen kann, wenigstens vogelfrei erklären zu dürfen. Wahrlich, er soll noch erscheinen, auf beiden Seiten soll er noch erscheinen, der Mann, welcher die Religion so bestreitet, und der, welcher die Religion so verteidiget, als es die Wichtigkeit und Würde des Gegenstandes erfodert. Mit alle den Kenntnissen, aller Wahrheitsliebe, alle dem Ernste!94

Hier kommt es wieder zum Vorschein, jenes ureigenste kritische Interesse95, welchem Lessing einst – mit jugendlichem Elan – zu folgen sich entschloss. Er hat sich auf den Weg gemacht und nun, in seinem letzten Lebensjahrzehnt, in Hermann Samuel Reimarus eine Geistigkeit entdeckt, die noch einmal alles ins Wanken brachte. Das Bekenntnis seiner Krise ist uns noch deutlich im Ohr.96 – Indessen blieb er dort nicht stecken: Es beschlich ihn – die Gegensätze beweisen es – eine äußerst produktive Unruhe. Wie könnte es da anders sein, als dass er, der Aufklärer, nun auch andere in diesen Erkenntnisprozess mit hineinnehmen will. Allerdings sollen die nicht orientierungslos der beißenden Kritik ausgesetzt werden, sondern von seiner jahrelangen Beschäftigung mit dem Manuskript und den darin fixierten Gedanken profitieren können. Deshalb also die Gegensätze, die als „Gegen-Sätze“ ja alles andere als sein Einverständnis mit den Fragmenten bekunden sollen: Wie nahe unser Verfasser dem Ideale eines echten Bestreiters der Religion gekommen, läßt sich aus diesen Fragmenten zwar einigermaßen schließen, aber nicht hinlänglich erkennen. Raum genug scheinet er mit seinen Laufgräben eingenommen zu haben, und mit Ernst gehet er zu Werke. – Möchte er bald einen Mann erwecken, der dem Ideale eines echten Verteidigers der Religion nur eben so nahe käme! Und nicht diesem Manne vorzugreifen, sondern bloß urteilen zu lassen, wie vieles nun Er erst zu sagen haben würde, und hiernächst dem ersten Panischen Schrecken zu steuren, das einen kleinmütigen Leser befallen könnte, eile ich, jedem Fragmente insbesondere einige Gedanken beizufügen, die sich mir aufgedrungen haben.97

Nachdem also bislang die christliche Apologetik (namentlich in ihrer zeitgenössischen Gestalt) v.a. Gegenstand seiner Kritik gewesen ist, versucht Lessing nun – freilich nicht, ohne auch hier wieder sein Gift gegen die provozierende Inkompetenz der Apologeten zu verspritzen98 – sich selbst auf diesem 94

  B 8, 313,20–314,9 (Gegensätze).   Gemeint ist, statt die christliche Religion „von seinen Eltern auf Treue und Glaube an[zu]nehmen“, „einmal klüglich“ zu zweifeln „und durch den Weg der Untersuchung zur Überzeugung“ zu gelangen (vgl. Brief Nr. 21 [An Johann Gottfried Lessing; 30. Mai 1749], in: B 11/1, 25–28. Hier: 26,9–26). 96   Vgl. Brief Nr. 645 (An Moses Mendelssohn; 9. Jan. 1771), in: B 11/2, 144–147. Hier: 144,31–145,4. 97   B 8, 314,35–315,10 (Gegensätze). 98   Seine Kritik der zeitgenössischen Apologetik unterstreicht Lessing noch einmal in seinen „wider den Herrn Pastor Goeze“ gerichteten Axiomata (1778): „Ich habe es gesagt, und 95

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Gebiet, ja „Wichtigkeit und Würde“99 der Religion scheinen ihn regelrecht dazu zu drängen: Wenn ich aber damit [sc. mit eben zitiertem Vorhaben] mehr tue, als ich gleich anfangs [sc. in oben erwähnter Vorrede] tun zu dürfen um Erlaubnis bat, so geschieht es, weil ich den Ton der Verhöhnung verabscheue, in den ich leicht fallen könnte, wenn ich nur jenes [sc. die gängigen apologetischen Argumente referieren] tun wollte. Freilich giebt es der Männer genug, welche itzt die Religion so verteidigen, als ob sie von ihren Feinden ausdrücklich bestochen wären, sie zu untergraben. Allein es wäre Verleumdung der Religion, wenn ich zu verstehen geben wollte, daß gleichwohl diese Männer nur noch allein vor dem Riß stünden.100

Es ist also diese ‚beste Absicht‘101 der Verteidigung des Christentums – wie der positiven Religion überhaupt –, die Lessing als einen „Liebhaber der Theologie“102 zur Publikation der Fragmente samt beigefügter Gegensätze bewogen hat.103 Dabei weist er der zeitgenössischen Religionsphilosophie einen neuen Weg: nicht nur in Überwindung deistischer Voraussetzungen, sondern auch und v.a. jenseits der Alternative von Orthodoxie und Neologie.104 sage es nochmals: auch an und für sich selbst, sind die bisherigen Verteidigungen der christlichen Religion, bei weitem nicht mit allen den Kenntnissen, mit aller der Wahrheitsliebe, mit allem dem Ernste geschrieben, den die Wichtigkeit und Würde des Gegenstandes erfodern!“ Und er bekräftigt, dass es sich bei diesem seinem Urteil keineswegs um die bloße Meinung eines Unkundigen handelt: „Und allerdings ist diese meine allgemeine Äußerung aus Induction entstanden; und zwar aus einer so vollständigen, so genau erwogenen Induction, als ich in meiner Verfassung zu machen, nur im Stande gewesen“ (G. E. Lessing, Axiomata, wenn es deren in dergleichen Dingen giebt, in: B 9, 53–89. Hier: 56,9–18).  99  S. obiges Zitat bei Anm. 94. 100   B 8, 315,10–19 (Gegensätze; Hervorh. i. O.). 101   Vgl. B 8, 315,20. – Wie das vorausgehende Zitat zeigt, impliziert diese apologetische Intention Lessings zugleich die massive Kritik der neologischen Halbheiten (welche nach seinem Dafürhalten viel eher dazu dienen, die Religion zu „untergraben“, als sie zu „verteidigen“). 102   Gegenüber Goeze betont Lessing in den Axiomata: „Ich bin ein Liebhaber der Theologie, und nicht Theolog. Ich habe auf kein gewisses System schwören müssen. Mich verbindet nichts, eine andre Sprache, als die meinige, zu reden“ (B 9, 57,32–35). Es scheint gerade diese Freiheit zu sein, die es Lessing ermöglicht, neue, unkonventionelle Wege zu gehen. – Wenn Lessing nun in anderem Kontext (so etwa in brieflichen Äußerungen) die Theologie schlechterdings zum „Feind“ erklärt und damit höchstselbst – so könnte man meinen – „die Ernsthaftigkeit jeglicher ‚Liebeserklärung‘“ zu widerlegen scheint, ist mit Johannes von Lüpke darauf hinzuweisen, dass dies „nur als Konsequenz einer kompromißlosen Parteinahme für die Vernunft“ verständlich ist: „Die Theologie wird für Lessing zum Gegner, sofern sie schädliche Wirkungen auf die Vernunft ausübt. Und das geschieht insbesondere dann, wenn sie sich der Vernunft in einer Weise bemächtigt, die diese zugleich mißbraucht“ (v. Lüpke 1989, 13). 103   Es liegt Lessing viel daran, klarzustellen, dass, obgleich er „gewisse Beweise“ für das Christentum bezweifelt, er gleichwohl „die Sache selbst“ keineswegs bezweifelt (vgl. B 9, 57,15–32 [Axiomata; Hervorh. i. O.]). 104   Demnach trägt Lessings „theologische Polemik […] in ihrer Absicht keinen destruktiven Charakter, sondern ist konstruktiv auf die Zukunft ausgerichtet“ (Durzak 1970, 115). – Freilich ist es wichtig, an dieser Stelle auch auf den thesenhaften und hypothetischen Cha-

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Was aber weiß Lessing konkret auf die Fragmente zu erwidern? – Bevor er sich den einzelnen Kritikpunkten gesondert zuwendet, führt er zunächst ein apologetisches Super-Argument ins Feld, das die religionskritische Relevanz der spezifisch bibelkritischen Argumente von vornherein, also prinzipiell und grundsätzlich bestreitet. Denn setzt man auch den – keineswegs zu gewärtigenden – Fall, es ließe sich „auf alle diese Einwürfe und Schwierigkeiten […] schlechterdings nichts […] antworten“, so geriete zwar (mutmaßlich) der „gelehrte Theolog“ durchaus in einige Verlegenheit; „der Christ“ aber hätte davon wahrlich nichts zu befürchten. Denn was gehen ihn – in seinem schlichten Glauben – des Theologen ‚erschüttertes‘ System, dessen ‚niedergerissene‘ „Hypothesen, und Erklärungen und Beweise“ an, wo es ihm „doch einmal da [ist], das Christentum, welches er so wahr, in welchem er sich so selig fühlet“.105 – Bedenken wir die Vehemenz, mit welcher Lessing einst, gegen Klopstock, gerade in epistemologischer Hinsicht auf die klare (begriffliche) Distinktion von Denken und Empfinden gedrungen hat106, so muss die hier begegnende Verwendung des Gefühls-Begriffs gewissermaßen irritieren. Dabei gilt es, präzise zu erfassen, wie Lessing diesen Begriff weiter expliziert: Kurz: der Buchstabe ist nicht der Geist; und die Bibel ist nicht die Religion. Folglich sind Einwürfe gegen den Buchstaben, und gegen die Bibel, nicht eben auch Einwürfe gegen den Geist und gegen die Religion.107

Lessing unterscheidet also zwischen einem Außen und einem Innen, zwischen geschichtlich-konkretem Ausdruck und „darunterliegender“ Substanz, zwischen Form und Inhalt. Kurzum: Als einer positiven Religion eignet dem Christentum eine „innere Wahrheit“108, die von seiner geschichtlich-konkreten Artikulation – seiner Form – strikt zu trennen und darum von Einwürfen wider die Letztere – den Buchstaben, die Bibel – nicht mitbetroffen ist. Diese innere Wahrheit also wird vom theologisch ungebildeten, einfachen (Laien-) Christen gleichsam intuitiv (d.h. präreflexiv oder ‚gefühlsmäßig‘) erfasst. Da es sich bei

rakter der Gegensätze hinzuweisen (vgl. Fick 2016, 390). Und doch bilden gerade diese Thesen und Hypothesen das hinreichend feste Fundament für Lessings epochale Vernunftkritik und die daraus entwickelte Theodizee der Religionen. 105   Vgl. B 8, 312, 8–20 (Gegensätze; Hervorh. i. O.). – Schilson spricht von „der ‚Selbst­ evidenz‘ der christlichen Wahrheit in der Erfahrung des einfachen Christen“ (Schilson 1989, 907). 106   S.o. Kap. IV. 107   B 8, 312,24–27. – Wieckenberg weist in diesem Zusammenhang hin auf die „In­stru­ mentalisierung der Paulinischen Entgegensetzung von Buchstabe und Geist (2 Kor 3,6; Röm 2,29; 7,6), von Gesetz und Evangelium, für eine Untergrabung der Lehre von der Theopneustie“ (Wieckenberg 2011, 269). 108   Vgl. B 8, 313,12–17. – Dabei ist der hier verwendete Begriff einer inneren Wahrheit inhaltlich ganz anders gefüllt als der gleichlautende Begriff im Fragment Über die Entstehung der geoffenbarten Religion (s.o. Kap. V.; vgl. außerdem Nisbet 2008, 711f.).

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ihr aber um ein eminent Vernünftiges handelt109, muss entsprechend auch das ‚gefühlsmäßige‘ Erfassen aufseiten des Gläubigen (wenigstens gewissermaßen) als ein rational bestimmter Vorgang begriffen werden.110 Die Vernunftmäßigkeit der „innern Wahrheit“ ist Gegenstand des von Lessing fingierten ‚Kanzeldialogs‘111 mit dem Hamburger Hauptpastor Johann Melchior Goeze im X. seiner Axiomata.112 Dabei kann hinsichtlich der „innern Wahrheit“ Folgendes konstatiert werden: Als „die innere Wahrheit eines geoffenbarten Satzes“ kann sie im Sinne einer „richtige[n] und gegründete[n] Vorstellung“ begriffen und „erklärt“, d.h. intersubjektiv kommuniziert werden113; sie ist damit keineswegs in willkürlichem oder (bloß) subjektivem Sinne wahr, sondern vielmehr auch in objektiver Hinsicht (und folglich nicht beliebig formbar)114; als innere Wahrheit besitzt sie eine gewisse Selbstevidenz, „die keiner Beglaubigung von außen bedarf“115; in ihrer Objektivität kann sie (neben ihrer unmittelbaren Fasslichkeit) auch auf den Begriff (gemeint ist ein „vollständiger untrüglicher Lehrbegriff“) gebracht werden116; dabei kann die „Vernunftmäßigkeit“ dieses ‚Lehrbegriffs‘ nicht nur darin bestehen, „daß [er] nicht unvernünftig ist“117; vielmehr ist die innere Wahrheit auch der geoffenbarten Sätze allein dadurch zu erweisen, dass ihre „Verbindung […] mit andern anerkannten und ungezweifelten Wahrheiten“ dargetan wird.118 Im Blick auf diesen in seiner Vernunftmäßigkeit beweisbaren Lehrbegriff nun heißt es von dem „ehrlichen Laien“ (der solchen Beweises wohl kaum fähig sein dürfte), dass er ihn „für wahr hält, […] weil er einsieht, daß er Gott anständiger, und dem menschlichen Geschlechte er109   Vgl. auch Fick 2016, 390; Kondylis 2002, 603f.; Allison 2018, 113–154; Scattola 2011, 235–239. 110   Demnach meint Lessings ‚Wahrheitsgefühl‘ weder ein ‚Erhaschen‘ der Wahrheit im „Taumel unsrer Empfindungen“ noch die sowohl analytische als auch synthetische, intellektuelle Fähigkeit diskursiven Denkens (s.o. Kap. IV.), sondern eine Art rationaler Intuition. Obgleich hier also gegenüber der Klopstock-Kontroverse (wenigstens in gewisser Hinsicht) eine Revision der Verhältnisbestimmung von Denken und Empfinden konstatiert werden muss (vgl. auch die entsprechende Andeutung bei Schilson 1989, 945), ist mit Lessings Rede vom ‚Wahrheitsgefühl‘ gleichwohl keine grundsätzliche Kehrtwende bezeichnet. – Die von uns betonte Rationalität des Gefühls scheint Nisbet indes zu übersehen (vgl. Nisbet 2008, 711). 111   Da – so Lessing – der ‚Herr Pastor‘ sich keineswegs „für unterbrochen“ hält, wo er ihn unterbricht; da jener also immer weiterredet, „ohne sich zu bekümmern, ob unsere Worte zusammen klappen, oder nicht“ – denn er „ist aufgezogen, und muß ablaufen“ –, ist der „Kanzeldialog“ ein „Dialog und kein Dialog“ (B 9, 78,33–79,4 [Axiomata; Hervorh. i. O.]). 112   Die Überschrift des X. ‚Axioms‘ lautet: „Aus ihrer [sc. der christlichen Religion] innern Wahrheit müssen die schriftlichen Überlieferungen erkläret werden, und alle schriftliche Überlieferungen können ihr keine innere Wahrheit geben, wenn sie keine hat“ (vgl. B 9, 78,12–89,23). 113   Vgl. B 9, 79,5–14. 114   Vgl. B 9, 79,15–21. 115   Vgl. B 9, 79,22–26 (Hervorh. D.Z.). 116   Vgl. B 9, 79,27–81,6. – Gegen Durzak 1970, 122f. 117   Vgl. B 9, 81,12–22 (Hervorh. i. O.). 118   Vgl. B 9, 82,20–83,3. – In aller Deutlichkeit formuliert Schultze: „Die innere Wahrheit des Glaubens hat […] in ihrer Vernünftigkeit und in ihrer strengen Evidenz eine gewisse Nähe zur natürlichen Religion. Sie gilt apriorisch und kann in ihrer axiomatischen Einsichtigkeit mit geometrischen Wahrheiten verglichen werden“ (Schultze 1969, 92).

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sprießlicher ist, als die Lehrbegriffe aller andern Religionen; weil er fühlt, daß ihn dieser christliche Lehrbegriff beruhiget“.119 Darin also, in diesem „innere[n] Gefühl des Christentums“ sieht Lessing das Super-Argument des einfachen Christen gegen alle (historisch begründete) Religionskritik – oder bildlich ausgedrückt: „das unersteiglichste Bollwerk des Christentums“.120

Der Logik seines Super-Arguments entsprechend, ist es Lessing in den Gegensätzen weit weniger um die Bibel und den Buchstaben als vielmehr um den Geist und die Religion des Christentums zu tun. Wenn also, wie Schilson bilanziert, Lessings Erwiderungen auf die Wunderkritik des Dritten und Fünften Fragments „ziemlich enttäuschend“ ausfallen121, so wird dies kaum verwun119

  Vgl. B 9, 83,19–29 (Hervorh. i. O.).   Vgl. B 9, 85,27–87,4. – Es scheint, als handle es sich bei Lessings (den schlichten Glauben charakterisierendem) „innere[n] Gefühl des Christentums“ um ein Analogon zu Hegels unterster Weise des ‚Zeugnisses des Geistes‘, der Sympathie (wenngleich Hegel in diesem Zusammenhang von „Gefühl“ freilich nicht sprechen würde): Vorausgesetzt ist, „daß das Geistige nicht äußerlich [sc. durch Wunder bzw. historisch] beglaubigt werden kann. Denn das Geistige ist höher als das Äußerliche; es kann nur durch sich und in sich beglaubigt werden, nur innerlich durch sich und an sich selbst sich bewähren. Das ist das, was das Zeugnis des Geistes genannt wird.“ Dieses Zeugnis nun besteht in dreierlei Weise: „Das Zeugnis des Geistes ist das wahrhafte. Dies kann mannigfach sein; es kann unbestimmt, allgemeiner das sein, was dem Geiste überhaupt zusagt, was einen tieferen Anklang in ihm erregt, in seinem Inneren hervorbringt. In der Geschichte spricht das Edle, Hohe, Göttliche uns innerlich an; ihm gibt unser Geist Zeugnis. Dies Zeugnis nun kann dieser allgemeine Anklang bleiben, dies Zustimmen des Inneren, diese Mitempfindung, Sympathie. Ferner aber kann dies Zeugnis des Geistes auch mit Einsicht, Denken verbunden sein. […] Das Zeugnis des Geistes in seiner höchsten Weise ist die Weise der Philosophie, daß der Begriff rein als solcher aus sich ohne Voraussetzungen die Wahrheit entwickelt und entwickelnd erkennt und in und durch diese Entwicklung die Notwendigkeit der Wahrheit einsieht“ (G. W. F. Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Religion. Band 3: Die vollendete Religion [1827], 182f.). Noch deutlicher tritt diese Analogie dadurch zutage, dass man „Lessings Anliegen“ (mit Schultze) darin pointiert, „die Einheit des Glaubens für Gelehrte und Laien zu sichern“. Demnach sei die Lessingsche Vernunft als „eine anthropologisch-theologische Kategorie“ zu bestimmen, „die die faktische Einsicht des Verstandes nur als einen Teilaspekt umfaßt. So kann die innere Wahrheit der Religion, die mit dem Vernunftgehalt identisch ist, als Gegenstand der Gefühlsgewißheit bezeichnet werden“ (Schultze 1969, 91; an anderer Stelle bezeichnet Schultze die Gefühlserfahrung der inneren Wahrheit als subjektives Korrelat der „objektive[n] Erfassung der Vernunftswahrheit“ [vgl. Schultze 1977, 182f.]). Obgleich Lessing dieserart die Gefahr eines rational gefassten Glaubensbegriffs – „daß nur die geschulte Vernunft des Gelehrten oder des Theologen zu einer vollen Gottesgewißheit zu gelangen vermag“ – zu bannen scheint (ebd.), erweist sich die ‚Gefühlsgewissheit‘ des Glaubens (oder – hegelianisch – die unterste Weise des Geistzeugnisses) im Letzten dann doch nicht (mehr) als suffizient (ist doch für Lessing, wie wir noch sehen werden, „die Ausbildung geoffenbarter Wahrheiten in Vernunftswahrheiten“, also die philosophische Explikation des hier bloß ‚Mitempfundenen‘ „schlechterdings notwendig, wenn dem menschlichen Geschlechte damit geholfen sein soll“; § 76 der Erziehung des Menschengeschlechts, s.u.). 121   Vgl. Schilson 1989, 909. – Die mangelnde Inspiriertheit Lessings in dieser Sache ist wohl damit zu erklären, dass er „in beiden Fällen zu der Überzeugung gelangt [war], man müsse der hier geäußerten Kritik an der Wahrheit der historischen Überlieferung beipflichten und könne dem nichts Entscheidendes entgegensetzen“ (ebd.). 120

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dern. Von einiger Bedeutung für unsere Zwecke erscheint hier lediglich Lessings (kaum mehr verhohlene) Neologie-Kritik, wie sie sich in seinem „Gegensatz“ zum Dritten Fragment impliziert findet. So könne man dem Orthodoxen nicht beikommen, solange er „nur auf seinem Posten“122 bliebe und also – etwa mit Blick auf den wundersamen Durchgang der Israeliten durchs Rote Meer – schlicht auf dem Wunder als einem Wunder beharre: Man kann die Achseln zucken über seine Antwort, so viel man will; aber stehen muß man ihn doch lassen, wo er steht. Das ist der Vorteil, den ein Mann hat, der seinen Grundsätzen treu bleibt, und lieber nicht so ausgemachten Grundsätzen folgen, als ihnen nicht consequent reden und handeln will. Diese Consequenz, vermöge welcher man voraussagen kann, wie ein Mensch in einem gegebnen Falle reden und handeln werde, ist es, was den Mann zum Manne macht, ihm Charakter und Stetigkeit giebt; diese großen Vorzüge eines denkenden Menschen. Character und Stetigkeit berichtigen sogar mit der Zeit die Grundsätze; denn es ist unmöglich, daß ein Mensch lange nach Grundsätzen handeln kann, ohne es wahrzunehmen, wenn sie falsch sind. Wer viel rechnet, wird es bald merken, ob ihm ein richtiges Einmaleins beiwohnet, oder nicht.123

Es ist demnach keinesfalls die Orthodoxie, sondern vielmehr die Neologie in ihrer Lauheit und mit ihren Halbheiten – die Neologie als eine „schielende, hinkende, sich selber ungleiche Orthodoxie“ –, die allen ‚Ekel‘ des neutralen Betrachters verdient.124 Von weitaus größerer Relevanz sind also die „weitsichtigen, ebenso religionsphilosophischen wie vernunftkritischen Einwände[] Lessings an den drei [übrigen] Fragmenten des Reimarus“.125 Hier gelingt es Lessing, als Antwort auf Reimarus – und in kritischer Korrektur des ungeschichtlichen Vernunftoptimismus der Aufklärung insgesamt – Notwendigkeit, Möglichkeit und Wirklichkeit einer göttlich veranstalteten Offenbarung in der Geschichte zu begründen.126 Ihre philosophiehistorische Brisanz besteht dabei in der „fundamentale[n] Kritik der aufklärerischen Vernunft und ihres mangelnden Verständnisses für die Positivität geschichtlich gewachsener Gestaltungen“.127 Mit einem Wort: Wir

122

  B 8, 326,33 (Gegensätze).   B 8, 328,10–24 (Hervorh. i. O.). 124   B 8, 328,25ff. 125   Schilson 1989, 908f. 126   Mit dieser Interpretation freilich setzen wir uns in offenen Widerspruch zur (radikal) rationalistischen Deutung Aners – wonach Lessing zwar „beide, die Orthodoxie wie die Neologie, bekriegt; aber […] beide Gegner in einerlei Front“ gesehen habe: „Er sah sie assoziiert durch die gemeinsame Idee der Offenbarung.“ Der Offenbarungsbegriff aber sei „für Lessing der Stein des Anstoßes“ gewesen (vgl. Aner 1929, 343; Hervorh. i. O.) – sowie in Opposition zu all jenen Auslegungen, die (wie bspw. Allison 2018, 113–154; Fick 2011 oder Nisbet 2008, 752) Lessings „Offenbarungs“-Verständnis rein immanent zu begründen suchen: im Sinne noch dunkler Empfindungen bzw. sinnlicher oder undeutlicher menschlicher Erkenntnis. 127   Schilson 1989, 906. 123

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sind nun an jenem Punkt angelangt, an welchem wir gut daran tun, unsere Ohren zu spitzen und uns dem Meister zu Füßen zu setzen.128 Das Thema des I. [Gegensatzes] bildet die Frage nach dem Verhältnis von (natürlicher) Vernunft- und geschichtlicher Offenbarungsreligion. Im Hintergrund steht dabei der unvereinbare Gegensatz von Deismus und Neologie auf der einen und altprotestantischer Orthodoxie auf der anderen Seite. Denn während sowohl die Deisten als auch die Neologen den Bereich einer übervernünftigen und im Glauben als heilsrelevant anzunehmenden Offenbarungswahrheit regelrecht abrasieren – erstere, indem sie (wie Reimarus) die Möglichkeit eines geschichtlichen Offenbarungsgeschehens schlechthin, nämlich von ihren denkerischen Voraussetzungen her, bestreiten; letztere, indem sie (auf Basis einer entsprechenden Schriftauslegung) das ‚wahre‘ und (dogmatisch) unverfälschte, biblisch-jesuanische Christentum bloßzulegen und kurzerhand mit der „einfachste[n], reinste[n] Philosophie des gesunden Verstandes“ identifizieren zu können vermeinen, wobei die biblische Offenbarung gewissermaßen zu einem ‚klaren und populären Unterricht‘ für die philosophisch ungebildeten Massen heruntererklärt wird129 –, stehen sich nach orthodoxer Auffassung natürliche Religion und supranaturale Offenbarung nach dem Fall unvermittelbar gegenüber. Lessing nun sucht die Wahrheit „zwischen beiden Extremen“130 und nimmt dabei v.a. die Neologie als vermeintlich aufgeklärte, zwischen Deismus und Orthodoxie vermittelnde Position ins Visier.131 Unter Rekurs auf die im

128   „Spätestens hier entsteht ein denkgeschichtliches Experiment, das noch zwanzig Jahre später die Diskussionslage im Tübinger Stift mitbestimmen wird […]. Lessings Kritik wird konstruktiv, ja spekulativ im Blick auf die Offenbarungen Gottes in der Geschichte“ (Vollhardt 2006a, 388). 129   Vgl. Exkurs 4. 130   B 8, 316,20. 131   Dass Lessing mit der Fragmentenpublikation und seinen Gegensätzen tatsächlich die Neologie (und nicht die Orthodoxie) herauszufordern sucht, artikuliert sich auch in seinem irritierten Fragen angesichts der Tatsache, dass sich in Johann Melchior Goeze ausgerechnet die orthodoxe (und eben nicht die neologische) Partei zum Widerspruch gegen seine Gegensätze herausgefordert sieht (vgl. B 9, 57,15–58,4; Axiomata). – Pointiert formuliert Hermann Timm: „Die [innerhalb der Neologie] für integriert erklärten Antipoden der Orthodoxie und des antichristlichen Deismus wurden freigesetzt, um vereint die liberale Mittelposition [sc. der Neologie] zu unterminieren. Nach dieser Strategie hat Lessing seinen Fragmentenstreit inszeniert. Unter der Polarisierung von Goeze und Reimarus sollte der Exitus des aufklärerischen Protestantismus herbeigeführt werden. Alles, was er über den Anonymus wissen ließ, war dieses, daß er ‚durchgängig aus Wolffischen Grundsätzen philosophiert‘, also jenen, woraus die Neologie ihr positives Vernunftchristentum rechtfertigen zu können vorgab“ (Timm 1974, 23f.). Auch nach Walter Sparn bedeuten die Fragmente v.a. eine Aufforderung an die Neologie: nämlich klarzustellen, „dass und warum ihre ‚Aufklärung‘ der Theologie nicht wie im Deismus den völligen Abschied von der biblischen Offenbarung und ihren Mysterien bedeutete“ (Sparn 2018, 49).

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Ersten Fragment kritisierte „Verschreiung der Vernunft auf den Kanzeln“ konstatiert Lessing mit Blick auf die eigene Zeit: […] allerdings hat es dergleichen Theologen [sc. Vertreter einer vernunftfeindlichen Orthodoxie] gegeben: allein wo giebt es deren denn noch? Hat man den Mantel nicht längst auf die andere Schulter genommen? Die Kanzeln, anstatt von Gefangennehmung der Vernunft unter den Gehorsam des Glaubens zu ertönen, ertönen nun von nichts, als von dem innigen Bande zwischen Vernunft und Glauben. Glaube ist durch Wunder und Zeichen bekräftigte Vernunft, und Vernunft raisonnierender Glaube geworden. Die ganze geoffenbarte Religion ist nichts, als eine erneuerte Sanction der Religion der Vernunft. Geheimnisse giebt es entweder darin gar nicht; oder wenn es welche giebt, so ist es doch gleichviel, ob der Christ diesen oder jenen oder gar keinen Begriff damit verbindet.132

Die Prägnanz dieser Formulierungen gibt dazu Gelegenheit, Lessings Neologie-Kritik hier, an dieser Stelle, noch einmal gezielt zu pointieren. Dabei lassen sich grundsätzlich eine theologiekritische und eine aufklärerisch-humanitäre Dimension unterscheiden, die freilich nicht unverbunden nebeneinanderstehen. Zunächst also zur Theologiekritik: Ob eine Offenbarung sein kann, und sein muß, und welche von so vielen, die darauf Anspruch machen, es wahrscheinlich sei, kann nur die Vernunft entscheiden. Aber wenn eine sein kann, und eine sein muß, und die rechte einmal ausfündig gemacht worden: so muß es der Vernunft eher noch ein Beweis mehr für die Wahrheit derselben, als ein Einwurf darwider sein, wenn sie Dinge darin findet, die ihren Begriff übersteigen. Wer dergleichen aus seiner Religion auspolieret, hätte eben so gut gar keine. Denn was ist eine Offenbarung, die nichts offenbaret? Ist es genug, wenn man nur den Namen beibehält, ob man schon die Sache verwirft? Und sind das allein die Ungläubigen, welche den Namen mit der Sache aufgeben?133

Es ist also jenes schon öfter gescholtene unphilosophische134 Verfahren einer neologischerseits proklamierten (antidogmatischen) Läuterung des orthodoxen Christentums sowie die damit verbundene Reduktion desselben auf „die einfachste, reinste Philosophie des gesunden Verstandes“135, die Lessing – als einen „Liebhaber der Theologie“ – regelrecht in Harnisch bringen. Seine kritische 132   B 8, 315,32–316,8. – Es sei daran erinnert, dass uns eine ganz ähnlich lautende Kritik der Aufklärungstheologie bereits im frühen Herrnhuter-Essay begegnet ist (s.o. Kap. I. 2.2.2): „Und jetzo, da unsre Zeiten – soll ich sagen so glücklich? oder so unglücklich? – sind, daß man eine so vortreffliche Zusammensetzung von Gottesgelahrtheit und Weltweisheit gemacht hat, worinne man mit Mühe und Not eine von der andern unterscheiden kann, worinne eine die andere schwächt, indem diese den Glauben durch Beweise erzwingen, und jene die Beweise durch den Glauben unterstützen soll […]“ (B 1, 941,31–942,1). – Als wenig plausibel erscheint es, die hier aus den Gegensätzen zitierte Passage in ihrer kritischen Intention (statt auf die Neologie) auf die Orthodoxie zu beziehen (vgl. Durzak 1970, 112f.). 133   B 8, 316,20–33 (Gegensätze). 134   Vgl. Brief Nr. 970 (An Moses Mendelssohn; 1. Mai 1774), in: B 11/2, 643f. Hier: 643,14ff. 135   Vgl. Exkurs 4.

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Anfrage aber lautet dahingehend, inwiefern eine solche Theologie sich noch zurecht als christliche Theologie136 und folglich als Anwältin einer geoffenbarten Religion bezeichnet: „Denn was ist eine Offenbarung, die nichts offenbaret?“ – In Analogie zu seiner Kritik des neologischen Glaubensbegriffs137 also entlarvt Lessing auch hier, im Kontext der Offenbarungsfrage, die neologische Position als eine solche, die am Offenbarungsbegriff als einer leeren Worthülse zwar weiter festhält, obgleich sie die damit bezeichnete Sache längst verworfen hat. Diese Theologie aber – so Lessings Kritik – vollzieht mit ihrem ‚Lippenbekenntnis‘ nicht weniger als die Entsubstantialisierung des Christentums. Die aufklärerisch-humanitäre Dimension seiner Neologie-Kritik drückt sich in der Furcht vor einer künftig drohenden Tyrannis neologischer Intoleranz aus.138 Um verstehen zu können, worin diese schwerwiegende Befürchtung gründet, sei noch einmal auf den obigen Exkurs zur ‚neueren Theologie‘ der 1770er-Jahre verwiesen.139 Mit Lessingschen Adleraugen betrachtet, dient etwa das dort skizzierte (und als ein Beitrag zur Toleranzdebatte vermeinte)140 fundamentaltheologische Programm F. G. Lüdkes – paradoxerweise – zur Grundlegung einer neuen religiösen Intoleranz gegen alle (dezidiert) un- bzw. nicht(oder außer-) christlichen Gruppen und Individuen innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft – sprich: zur Beförderung ebenjener ‚stolzen‘ und ‚bitteren‘ Haltung, wie sie Lessing schon jetzt aufseiten aufgeklärter Kirchenvertreter „gegen die Verteidiger einer bloß natürlichen Religion“ wahrzunehmen imstande ist.141 Des Pudels Kern zeigt sich demnach in der Gleichzeitigkeit einer inhaltlichen Reduktion des Christentums auf den Umfang der natürlichen Religion auf der einen und des Festhaltens am Geoffenbartsein eben dieser Religion auf der anderen Seite oder – präziser ausgedrückt: in einer darin begründeten und fortgesetzt propagierten Kausalität von spezifisch christlicher Religion und (bürgerlicher) Moral. So sind etwa nach Lüdke die eigentlichen oder wesentlichen christlichen Wahrheiten (im Unterschied zu den bloß theologischen ‚Hypothesen‘) als ein „unentbehrliches Principium der Tugend“ anzusehen: Da nämlich „das menschliche Geschlecht“ in seiner „Totalität unmöglich durch bloßes Raisonnement der Vernunft zur Gottseligkeit und Tugend geleitet werden“ kann, wird

136   So bereits in seiner oben zitierten polemischen Klage darüber, dass man mit Blick auf das ‚vernünftige Christentum‘ der Neologie „eigentlich nicht weiß, weder wo ihm die Vernunft, noch wo ihm das Christentum sitzt“ (B 8, 134,4–8 [Von Duldung der Deisten; Hervorh. D.Z.]). 137   S.o. Kap. VI. 2. – Dort haben wir den neologischen Glaubensbegriff aus Perspektive der Lessingschen Kritik paraphrasiert als ‚einen Glauben, der nichts mehr glaubet‘. 138   Vgl. obiges Brief-Zitat in Anm. 28 (An Karl Lessing; 8. Apr. 1773) sowie B 8, 133,35– 134,4 (Von Duldung der Deisten). 139  S. Exkurs 4. 140   Vgl. bereits den Titel von Lüdkes Werk: Ueber Toleranz und Gewissensfreiheit. 141   Vgl. B 8, 133,35–134,4 (Von Duldung der Deisten).

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ihm das Christentum regelrecht zur conditio sine qua non für das Erreichen „seiner wahren Bestimmung“. Mit anderen Worten: Eben weil das Christentum (in seiner eigentlichen, geläuterten Gestalt) nicht allein die Religion „des erleuchteten Christen“, sondern zugleich und in Einem die Religion „des vernünftigen Menschen“ überhaupt – und als solche der Grund aller Moralität und Sittlichkeit – darstellt, ist bürgerliche Existenz in ihrem Vollsinne außerhalb des christlichen „Glaubens“ – etwa in einer allgemeinen und glaubensunabhängigen, jedem Menschen als Menschen möglichen Vernunftexistenz – schlechterdings nicht denkbar.142 In diesem Sinne aber scheint es neologischerseits geboten, zur Durchsetzung auch eines rein politischen Interesses das Christentum im Staate zu befördern143 und – so die hierin implizierte und von Lessing kritisierte Kehrseite – alle un-, nicht- und außerchristlichen Tendenzen zu hemmen oder gar zu unterdrücken. Kurzum: Klarer als das Gros seiner Zeitgenossen erkennt Lessing, „daß diese rein innertheologisch angesiedelte ‚gesunde Vernunft‘ jedem Anspruch auf Vernunft und Vernünftigkeit außerhalb dieses Bereichs von vornherein den Boden entziehen“ muss.144 Die durch die Neologie vollzogene (und von Lessing gleichermaßen als christentumsfeindlich wie humanitätsgefährdend kritisierte) Identifikation von christlichem Glauben und natürlicher Vernunft lässt sich demnach in folgender Doppelaussage pointieren: Der ‚wahre‘ und eigentliche Christ ist in seinem Glauben nur vernünftig; und: Nur der Christ ist in seinem Glauben wahrhaft und eigentlich vernünftig.145 Item: Die Neologie reklamiert für sich und ihr 142

  Die wörtlichen Zitate finden sich alle o. in Exkurs 4.   Es sei an dieser Stelle exemplarisch Johann Friedrich Wilhelm Jerusalems Appell an die ‚Großen der Erde‘ in seinen Betrachtungen über die vornehmsten Wahrheiten der Religion (s.u. Exkurs 6) zitiert. Den Kontext dieses Appells bildet die These von der (christlichen) Religion als der „große[n] Lehre für den Menschen, die Vernunft und das Herz zugleich zu bilden“, wobei nach Jerusalem freilich „nirgend […] bey der reinsten Tugend mehr gesunde, reine, aufgeklärte, von allem Aberglauben, von aller finstern Schwärmerey gereinigte Vernunft seyn [dürfte], als im Christenthum“ (II. Teil, Bd. 2, 748): „Aber, Große der Erde! Hier streckt die Menschheit zu Euch, als ihren ihr von der Vorsehung gegebenen Vormündern, die Hände aus, daß ihr diesen Bemühungen [zur Verbreitung der Wahrheit und Tugend, zur Schaffung einer „allgemeine[n] Cultur der Vernunft“; vgl. aaO., 749ff.] mit eurem Ansehn und Vermögen zu Hülfe kommt, damit sie ihre allgemeine Wirksamkeit erreichen, und sie, die Menschheit, aus der niedrigen Sinnlichkeit worein sie versunken ist, und bey allen noch so glücklichen einzelnen Versuchen, ohne eure ernstliche Hülfe noch immer tiefer versinken muß, zu der Würde, wozu Gott sie schuf, sich nach und nach endlich erhebe; daß zuförderst die Religion des Erlösers, die so ganz hierauf eingerichtet ist, ihre göttliche Kraft und Fruchtbarkeit immer mehr verbreiten könne“ (aaO., 751f.; Hervorh. D.Z.). Mit einem Wort: Um ihre „eigne Staaten blühender machen“ zu können (aaO., 755), verfügen die Mächtigen über kein geeigneteres Mittel „zur gemeinen Volkserziehung“ als den christlichen Religionsunterricht (aaO., 753). 144   Schilson 1989, 850. 145   Ähnlich bilanziert auch Ursula Goldenbaum im Blick auf Johann Salomo Semlers (1725–1791) neologischen Moralitätsbegriff: „Sobald ich moralisch bin, bin ich ein Christ.“ Auch sie gewahrt hierin eine „Auffassung von atemberaubender Intoleranz, weil sie mit ihrer 143

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dogmatisch geläutertes Christentum exakt das, was Reimarus (und mit ihm das Gros der philosophischen Aufklärung) für „die vernünftigen Verehrer Gottes“ insgesamt (und somit für jeden zu denken wagenden Menschen) in Anspruch nimmt. Beiden setzt Lessing in seinen Gegensätzen eine religionsphilosophische Konzeption entgegen, die sowohl den ungeschichtlich begründeten Exklusivismus eines Reimarus als auch – und zwar gleichermaßen – die neologischerseits postulierte Unüberbietbarkeit einer dezidiert christlichen Vernunft sowie deren bedenkenlose Identifikation mit dem ‚gesunden Menschenverstand‘ bestreitet. Dabei scheint für Lessing, im Blick auf die Neologie, das wesentliche und grundsätzliche Problem in einer unzulänglichen Bestimmung des Verhältnisses von Vernunft und Offenbarung zu liegen – ein Problem, das er hier, in seinem I. [Gegensatz], noch ganz auf den Offenbarungsbegriff hin bezogen artikuliert: „so muß es der Vernunft eher noch ein Beweis mehr für die Wahrheit [einer Offenbarung], als ein Einwurf darwider sein, wenn sie Dinge darin findet, die ihren Begriff übersteigen“. „Denn“, so sei noch einmal zu bedenken gegeben, „was ist eine Offenbarung, die nichts offenbaret?“ Die Unfähigkeit führender Neologen, „echte Kritik an der Position des Fragmentisten oder Lessings selbst zu üben“ spiegelt für Schilson „die ganze Verlegenheit wider, in die Lessings Fragmentenpublikation die unentschiedene, zwischen Offenbarung und Vernunft kaum wirklich vermittelnde Neologie gebracht hat“.146 Exemplarisch kann auch hier wieder die bereits oben zitierte Rezension F. G. Lüdkes in der Allgemeinen deutschen Bibliothek aus dem Jahre 1779 angeführt werden: Ich wäre sehr begierig, von einem Lessing, dessen Winke ich nicht gern mißdeuten möchte, diese hingeworfenen Gedanken mehr bestimmt und ausgeführt zu lesen. Offenbarung, dächte ich, wäre seinem wesentlichen Begriffe nach, von Gott veranstalteter Religionsunterricht für Menschen, durch andere von ihm selbst mit vorzüglicher Weisheit begabte und erleuchtete Menschen. Dieser wird vermöge der natürlichen Schranken der menschlichen Vernunft, die dadurch belehrt werden soll, immer manche Dinge in sich fassen, welche menschliche Begriffe übersteigen, wie z.B. alle Eigenschaften, ja das ganze Wesen Gottes. Aber das werden denn doch nimmermehr solche Widersinnigkeiten, das wird kein solcher Mysterienkram seyn, als man von Zeit zu Zeit in die Bibel hineingetragen, und den Bekennern des Christenthums, unter dem geweihten Namen geoffenbarter Geheimnisse, die bloß geglaubt, aber nicht beraisonnirt werden dürften, zu glauben aufgedrungen hat. Wenn jener von der göttlichen Fürsehung veranstaltete Unterricht heilsame Religionserkenntniß unter ein Volk brachte, zu der es sonst, wenigstens nicht so früh, gelangt seyn würde; wenn ihm wichtige moralische Wahrheiten dadurch bekannt gemacht würden, die ihm sonst, wenigstens noch lange, unbekannt geblieben wären: so, sollte ich meynen, wäre damit immer genug, immer sehr viel geoffenbaret; die Dinge, worüber die Belehrung ertheilt worden, hörten nun eben auf, Geheimnisse für dies Volk zu seyn, weil sie ihm nicht mehr verborgen wären; und wenn sie der nachdenkenden Vernunft selbst, als klare Wahrheit einleuchteten, Identifizierung von reinem Christentum mit reiner Moralität notwendig allen anderen Religionen Moralität absprechen muss und tatsächlich abspricht“ (Goldenbaum 2012, 244). 146   Schilson 1989, 892.

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so würde die Ueberzeugung davon um so viel gegründeter und wirksamer werden, als ohne dies, durch bloßes nicht räsonnirendes Glauben. Mich dünkt, es lassen sich ohne alle Rücksicht auf sogenannte Mysterien, aus der Beschaffenheit der Lehre Christi selbst, (wie er sie vorgetragen hat, nicht wie Menschen sie verdunkelt, verwirrt, entstellet haben) Beweis führen, daß sie von Gott sey […] Der Beweis für das göttliche Ansehen der Bibel, als eines übernatürlich geoffenbarten Buchs, aus den darinn befindlich seyn sollenden Geheimnissen, ist vielen, die ihn versucht haben, mißgeglückt. Aber von Hrn. Lessing, dessen scharfsinniger Kopf alle noch so verworrene dunkle Ideen auseinander wickeln und aufhellen kann, wenn irgends Licht hineinzubringen möglich ist, von Hrn. L. der bey seiner großen Gelehrsamkeit, mit den seltensten Talenten vereinigt, nur seine Feder in die Hand nehmen darf, um alles, was er will, zu unternehmen, von dem wünschte ich, diesen Beweis zu lesen.147

Wird aber Offenbarung wesentlich durch ihre Offenbarungsmächtigkeit charakterisiert, so beruht die orthodoxe Formel von der captivatio rationis (wenigstens in einem gewissen Verstande) „gar nicht auf dieser oder jenen [sic!] Schriftstelle: sondern auf dem wesentlichen Begriffe einer Offenbarung“.148 „Oder vielmehr“, wie es Lessing einige Zeilen später weiter präzisiert,

147  [Friedrich Germanus Lüdke] in: Allgemeine deutsche Bibliothek (1779), Bd. 39, 1. Stück, 45f. (Hervorh. i. O.). 148   B 8, 316,34–37. – Die Notwendigkeit einer ‚gewissen Gefangennehmung der Vernunft unter den Gehorsam des Glaubens‘ ist für Lessing (im Unterschied zur Orthodoxie) also keineswegs etwa hamartiologisch (oder überhaupt irgend biblisch) zu begründen, sondern liegt (als gleichsam analytische Wahrheit) bereits im Begriff der Offenbarung beschlossen. – Nun kritisiert Lessing ohnedies die Erbsündenlehre in ihrer orthodoxen Gestalt; auch weist er ferner (wie vordem schon Reimarus) den exegetischen Versuch ihrer urgeschichtlichen Begründung zurück. Dabei fällt allerdings auf, dass auch Reimarus nicht ungeschoren davonkommt: „[W]ie es nicht wahr ist, daß daraus [sc. Gen 3] ein nachheriges Verderben der menschlichen Vernunft zu folgern: so scheinet mir doch auch Er [sc. Reimarus] nicht völlig eingesehen zu haben, was darin liegt.“ Eine Exegese, die in dieser ‚Mosaischen Geschichte‘ nicht mehr als die bloße Ermahnung zum Vernunftgebrauch zu erkennen vermag, „erschöpft […] die Sache nur zur Hälfte. Denn über dieses wird auch noch die Ursache darin angedeutet, wie und warum ihre [sc. der ersten Eltern] Vernunft unwirksam geblieben. Mit einem Worte; die Macht unsrer sinnlichen Begierden, unsrer dunkeln Vorstellungen über alle noch so deutliche Erkenntnis ist es, welche zur kräftigsten Anschauung darin gebracht wird. Von dieser Macht berichtet die Mosaische Erzählung entweder die erste traurige Erfahrung, oder erteilet das schicklichste Beispiel. Factum oder Allegorie: in dieser Macht allein liegt die Quelle aller unserer Vergehungen, die dem Adam, des göttlichen Ebenbildes unbeschadet, eben sowohl anerschaffen war, als sie uns angeboren wird. Wir haben in Adam alle gesündiget, weil wir alle sündigen müssen: und Ebenbild Gottes noch genug, daß wir doch nicht eben nichts anders tun, als sündigen; daß wir es in uns haben, jene Macht zu schwächen, und wir uns ihrer eben sowohl zu guten als zu bösen Handlungen bedienen können. Dieser lehrreichen Auslegung wenigstens ist das so oft verhöhnte Märchen Mosis sehr fähig, wenn wir die Accomodationen, welche ein späteres System davon machte [sc. die orthodoxe Erbsündenlehre], nur nicht mit hinein tragen, und Accomodationen Accomodationen sein lassen“ (B 8, 317,8–11.18–318,2; Hervorh. i. O.).

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– denn das Wort Gefangennehmung scheinet Gewaltsamkeit auf der einen, und Widerstreben auf der andern Seite anzuzeigen, – die Vernunft giebt sich gefangen, ihre Ergebung ist nichts, als das Bekenntnis ihrer Grenzen, sobald sie von der Wirklichkeit der Offenbarung versichert ist.149

Was lässt sich hieraus nun für das Verhältnis von Vernunft und Offenbarung, von vernünftiger und geoffenbarter Religion ableiten? – Sollte die Vernunft zu der begründeten Einsicht gelangen, es könne und müsse eine Offenbarung (in der Geschichte) sein150, so würde die hierin von der Vernunft sanktionierte Offenbarungsreligion „im geringsten nicht“ (wie etwa Reimarus es noch im Ersten Fragment zu postulieren scheint) „eine vernünftige Religion“151 (als außerhalb ihrer befindliche, kritisch zu ihr sich verhaltende Größe) voraussetzen, sondern dieselbe vielmehr „in sich“ schließen.152 – Freilich: Obschon Lessing dieserart (wie später auch Kant im berühmten Bild der beiden ‚konzentrischen Kreise‘) das Verhältnis von geoffenbarter und vernünftiger Religion als ein inklusives bestimmt, meint er damit gleichwohl etwas grundsätzlich anderes als der Königsberger Philosoph. Denn aller scheinbaren Affinität zum Trotz – auch Kant geht davon aus, dass „Offenbarung […] reine Vernunftreligion in sich wenigstens begreifen kann, aber nicht umgekehrt diese das Historische der ersteren“; dass also die christliche, sich auf Offenbarung berufende Religion („als eine weitere Sphäre des Glaubens“) die Vernunftreligion („als eine engere“) „in sich beschließt“: „nicht als zwei außer einander befindliche, sondern als konzentrische Kreise“153 –, solch vermeintlicher Affinität also zum Trotz zielt Kants Unterfangen, von der christlichen als „einer dafür gehaltenen Offenbarung auszugehen“ und (unter Abstraktion „von der reinen Vernunftreligion“) „die Offenbarung, als historisches System, an moralische Begriffe bloß fragmentarisch[154] [zu] halten“, auf die alles entscheidende Frage, ob die Offenbarung „nicht zu demselben reinen Vernunftsystem der Religion zurück führe“ – sprich zur ‚eigentlichen‘, a priori, mithin vor und außer aller geschichtlicher Offenbarung gegebenen Religion. Als Religion, die solche Bezeichnung mit Recht für sich 149

  B 8, 318,5–10 (Hervorh. i. O.).  S. obiges Zitat bei Anm. 133. – Der von uns gemachte Zusatz „in der Geschichte“ ist der Tatsache geschuldet, dass ja auch der Deismus von einer bestimmten (wenngleich ungeschichtlichen) Form der Offenbarung ausgeht (s. Exkurs 1). 151   Dass hier – insbesondere im Blick auf den dreigestuften Religionsbegriff in der Erziehung des Menschengeschlechts (s.u. Anm. 335) – im Kontext des Ersten Fragments mit ‚vernünftiger‘ Religion die ‚natürliche‘ gemeint sein muss, sollte klar sein. 152   B 8, 319,4f. 153   Immanuel Kant, Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft (11793, 2 1794), 14 („Vorrede zur zweiten Auflage“; Hervorh. i. O.). 154   Hierzu merkt Eberhard Jüngel (im Rekurs auf Ernst ­Troeltsch) an: „Kant will keineswegs alle theologischen Loci mustern, sondern nur die ihm – nicht zuletzt durch seine eigene religiöse Sozialisation – ponderabel erscheinenden ‚Zentraldogmen des lutherischen Pietismus…, während die trinitarisch – christologisch – kosmologischen Dogmen der alten Kirche ganz zurücktreten‘“ (Jüngel 2011, 40). 150

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Dritter Teil: Gipfelschau

beanspruchen könnte, ließe sich nach Kant das Christentum also nur dadurch (und insofern) erweisen, dass (bzw. als) „zwischen Vernunft und Schrift nicht bloß Verträglichkeit, sondern auch Einigkeit anzutreffen sei“. Andernfalls aber wären absurde Konsequenzen zu gewärtigen.155 – Ganz anders Lessing: Für ihn kann die Offenbarung als Offenbarung gerade nicht „zu demselben reinen Vernunftsystem der Religion“ wieder zurückführen. Denn was wäre das für „eine Offenbarung, die nichts offenbaret“? Wenn wir bis hierher bilanzierend festhalten können, dass die geoffenbarte Religion in ihrer Übervernünftigkeit (die – von der Vernunft sanktioniert – nicht vorschnell als widervernünftig abgetan werden darf) gegenüber der vernünftigen (d.h. natürlichen) Religion inhaltlich einen Mehrwert besitzt, so befindet sie sich gleichwohl, und zwar gerade im Blick auf diesen inhaltlichen Vorteil, formal gesehen im Nachteil: Wenigstens ist es gewiß, daß der Übergang von bloßen Vernunftswahrheiten zu geoffenbarten, äußerst mißlich ist, wenn man sich durch die eben so scharfen als faßlichen Beweise der erstern verwöhnt hat. Man erwartet und fodert sodann bei den Beweisen der andern ebendieselbe Schärfe und Faßlichkeit, und hält, was nicht eben so erwiesen ist, für gar nicht erwiesen.156

Nun aber erklärt sich das formale Defizit der Offenbarungswahrheiten gegenüber den Vernunftwahrheiten daher, dass sich erstere auf „Zeugnisse und Erfahrungssätze“ gründen, während letztere „aus der Natur der Dinge fließen“. Angesichts der Evidenz solchen Unterschieds in ihrer jeweiligen Begründbarkeit steht für Lessing fest, „daß alle Kunst, dieses Auffallende zu vermindern, dieses Abstechende durch allerlei Schattierungen sanfter zu machen, vergebens ist“.157 In Anbetracht der im I. [Gegensatz] gegebenen Charakterisierung des Verhältnisses von Vernunft und Offenbarung stellt sich die Frage, ob Lessings Standpunkt ‚zwischen den Extremen‘ nicht weitgehend diejenige Position reproduziert, die er bereits 1773 als Leibnizsche Gesinnung gegen die Halbheiten der Neologie in Stellung zu bringen wusste.158 In diesem Sinne wären zu nennen: Lessings (analog zur 1773 in Leibniz begründeten Problematisierung der ‚neueren‘ Glaubensauffassung gestaltete) Kritik des neologischen Offenbarungsbegriffs; sein Festhalten an einer (durch Vernunft sanktionierten und folglich nicht widervernünftigen) Übervernünftigkeit der Offenbarung; das 155

 Kant, Religion, 14f. (Hervorh. i. O.); vgl. hierzu insgesamt auch Jüngel 2011, 38–41. – Ein Briefzitat Kants aus dem Jahre 1793 aufnehmend, pointiert Jüngel die Intention der Religionsschrift mit den folgenden Worten: „Es geht […] in der Religionsschrift um ‚die mögliche Vereinigung‘ der geoffenbarten Religion ‚mit der reinsten praktischen Vernunft‘“ (aaO., 32). 156   B 8, 319,16–22 (Hervorh. i. O.). 157   B 8, 320,17–22. 158   Vgl. o. Kap. VI. 2. sowie Exkurs 3.

VII. Geschichtliche Vernunft – vernünftige Geschichte

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daraus resultierende inklusive Verhältnis von Offenbarung und Vernunft159; das Konstatieren eines formalen Defizits der Offenbarungswahrheiten gegenüber den Vernunftwahrheiten160; die Spannung zwischen einer gewissen Souveränität der Vernunft einerseits – etwa in der Entscheidung darüber, ob „eine Offenbarung sein kann, und sein muß, und welche von so vielen, die darauf Anspruch machen, es wahrscheinlich sei“ – und ihrer freiwilligen „Ergebung“ in „den Gehorsam des Glaubens“ andererseits – „sobald sie von der Wirklichkeit der Offenbarung versichert ist“.161 – Kurzum: Hat Lessing schon zu Beginn der 1770er-Jahre in seiner Wiederentdeckung jenes bedeutenden Philosophen und einstigen Vorgängers in Wolfenbüttel – Gottfried Wilhelm Leibniz – das Ziel seines Weges erreicht? Nachdem Lessing im I. [Gegensatz] dargelegt hat, wie das Verhältnis von Vernunft und Offenbarung, von vernünftiger (d.h. natürlicher) und geoffenbarter Religion grundsätzlich zu bestimmen wäre – freilich unter der Voraussetzung, es könne und müsse nach vernünftig begründeter Einsicht überhaupt eine Offenbarung in der Geschichte sein –, führt er nun, in seinem II. [Gegensatz], eben die Begründung der Möglichkeit einer solchen an. In seiner unvergleichlichen Art erkennt er dabei die Stringenz der im Zweiten Fragment von Reimarus beigebrachten Argumentation zur Begründung der „Unmöglichkeit einer Offenbarung, die alle Menschen auf eine gegründete Art glauben könnten“, zwar uneingeschränkt an, verweigert ihm aber gleichwohl seinen Beifall in dieser Sache: 159   So übersteigen nach Leibniz die Mysterien lediglich unsere begrenzte Vernunft; „mit der höchsten und umfassenden Vernunft des göttlichen Verstandes“ aber, „d.h. mit der Vernunft im allgemeinen“ stehen sie durchaus „im Einklang“. Kurzum: Es „entspricht dieser Teil [sc. unsere begrenzte, menschliche „Teilvernunft“] dem Ganzen und unterscheidet sich von dem in Gott befindlichen Teile nur wie ein Tropfen vom Ozean oder besser wie das Endliche vom Unendlichen. Daher können die Mysterien unsere begrenzte Vernunft wohl überschreiten, aber ihr nicht widersprechen“ (s. in obigem Exkurs 3 die entsprechenden Zitate bei Anm. 107 u. Anm. 109). 160   In diesem Sinne betont auch Leibniz, dass die „Wahrheitsbeweise der Religion […] nur eine moralische Gewißheit“ für sich beanspruchen können, während den Vernunftwahrheiten „absolute Gewißheit“ zukommt (s. aaO. die entsprechenden Zitate in Anm. 114). 161  S. hierzu unseren Hinweis am Schluss von Exkurs 3 (inkl. Zitat bei Anm. 120), dass auch im Leibnizschen System die Vernunft, einer Richterin gleich, die Glaubwürdigkeit dessen prüft, was Offenbarungsgeltung für sich beansprucht – bevor sie dann der (als widerspruchsfrei erachteten) Offenbarung „wie einem neuen Lichte weiche und ihr alle Wahrscheinlichkeitsgründe [nicht aber die Vernunftwahrheiten!] aufopfert“. Sodann sei noch einmal die pointierte Zusammenfassung Bernd Meyers zitiert: „Leibniz verlangt keine Unterwerfung der Vernunft unter den Glauben […] Vielmehr kann eine Wahrheit niemals gegen die Vernunft sein. Ein Glaubenssatz, der von der Vernunft widerlegt worden ist, kann von den Theologen nicht für unbegreiflich erklärt werden. […] Hat Leibniz auf diese Weise den Glauben gegenüber den von der menschlichen Vernunft erkannten notwendigen Wahrheiten in seine Schranken zurückgewiesen, so zieht er doch auch den Ansprüchen dieser Vernunft Grenzen. Denn dieser steht nur die Ablehnung dessen zu, was ihr widerspricht, nicht aber dessen, was ihr Fassungsvermögen übersteigt“ (Meyer 1967, 124).

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Dritter Teil: Gipfelschau

Führt er [sc. der Beweis, wie ihn Reimarus im Zweiten Fragment erbringt] aber seine Beantwortung nicht gleich mit sich? Wenn eine solche Offenbarung unmöglich ist, – nun freilich: so hat sie auch Gott nicht möglich machen können. Allein, wenn nun gleichwohl eine Offenbarung nützlich und nötig ist: sollte Gott dem ohngeachtet lieber gar keine erteilen, weil er keine solche erteilen konnte? Sollte Gott dem ganzen menschlichen Geschlechte diese Wohltat vorenthalten, weil er nicht alle Menschen zu gleicher Zeit, in gleichem Grade daran Teil nehmen lassen konnte? Wer hat das Herz, hierauf mit Ja zu antworten?162

Es entspricht also durchaus ‚der höchsten Weisheit und Güte‘, – ist „eine solche Offenbarung unmöglich“ – „nur denjenigen Weg“ zu wählen, „auf welchem in der kürzesten Zeit die meisten Menschen des Genusses derselben fähig“ werden.163 Ebendies aber sieht Lessing in der jüdisch-christlichen Offenbarungsbzw. Religionsgeschichte als gegeben. So würde „das anvertraute Pfund der Offenbarung“ doch „wahrscheinlicher Weise“ nirgends „mehr gewuchert haben […] als in den Händen“ dieses ‚unendlich mehr verachteten als verächtlichen‘ jüdischen Volkes – ein Eifer, welcher hernach auch die „christlichen Völker“ überkam, „in so fern sie auf den Stamm des Judentums gepfropft waren“.164 Mit einem Wort: Der mit Gründen erwiesenen Unmöglichkeit einer allgemeinen und universalen Offenbarung in der Geschichte unerachtet, ist der biblisch bezeugte Offenbarungsmodus, wonach – mit Reimarus gesprochen – „Gott bei einem Volke zu gewisser Zeit etlichen Personen unmittelbare Offenbarungen gegeben, von welchen es alle übrige Menschen, teils mündlich, teils schriftlich empfangen und annehmen sollten“165, nun durchaus möglich und, in seiner äußersten Effizienz gerade in Gestalt der jüdisch-christlichen Religionsgeschichte, zudem auch der höchsten Weisheit und Güte gänzlich angemessen. Die eigentliche religionsphilosophische Pointe liegt indes im IV. [Gegensatz], und zwar in Lessings kühnem Unterfangen, gegen die Bestreitung der „Göttlichkeit“ der alttestamentlichen Bücher im Vierten Fragment „die Wege Gottes mit ihm [sc. dem alten Israelitischen Volke] zu rechtfertigen“.166 Solches aber meint Lessing sich ‚getrauen‘ zu können, weil er den für das 18. Jahrhundert universalen Glauben „an die Einheit und die Unwandelbarkeit der Vernunft“ seinerseits überwunden hat167: den Glauben an jene Vernunft, die „für alle denkenden Subjekte, für alle Nationen, alle Epochen, alle Kulturen“ dieselbe ist.168 Gemeint ist exakt dieses ungeschichtliche Vernunftverständnis, welches in Rei162

  B 8, 320,30–321,3 (Hervorh. i. O.).   B 8, 321,3–8 (Hervorh. i. O.). 164   B 8, 321,15–19.28–31. 165  S. obiges Zitat bei Anm. 79. 166   Vgl. B 8, 330,27–33. 167   Vgl. Dörr 2010, 7. 168  So die treffende Vernunftdefinition für das 18. Jahrhundert nach Cassirer 2007 (1932), 4. 163

VII. Geschichtliche Vernunft – vernünftige Geschichte

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marus’ Methode, „die Göttlichkeit der Bücher des A. T. […] aus den darin vorkommenden Wahrheiten der natürlichen Religion“ erweisen zu wollen169, zum Tragen kommt, wie aus den folgenden Worten Ernst Cassirers weiter erhellt: Aus dem Wechsel der religiösen Glaubenssätze, der sittlichen Maximen und Überzeugungen, der theoretischen Meinungen und Urteile läßt sich ein fester und bleibender Bestand herauslösen, der in sich selbst beharrt und der in dieser Identität und Beharrlichkeit das eigentliche Wesen der Vernunft zum Ausdruck bringt.170

Dem also setzt Lessing ein geschichtlich-dynamisches Vernunftverständnis entgegen, ein religionsphilosophisches „System“ – oder wenigstens einen „Fingerzeig“171 in diese Richtung –, innerhalb dessen eine konkrete, positive, geschichtliche Religion genau dadurch als göttlich resp. als Offenbarung gerechtfertigt werden kann, dass sie die geschichtliche, in Entwicklung begriffene Vernunft auf dem Wege ihrer allmählichen Aufklärung hin zu absoluter Autonomie leitet. Was Immanuel Kant noch 1784 in seiner kanonisch gewordenen Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? von einer wesentlich als autonom verstandenen Vernunft selbst zu leisten fordert, nämlich im Zuge ihrer Selbstaufklärung ‚aus ihrer selbstverschuldeten Unmündigkeit auszugehen‘172, ebendies kann in der noch kritischeren Perspektive Lessings unmöglich von der wesentlich als geschichtlich zu verstehenden Vernunft (bzw. vom Menschen) gefordert werden: Anstatt sich an die eigene Hand zu nehmen und sich „ohne Leitung“, lediglich dem inneren Kompass folgend, auf den Weg zu begeben, bedarf die noch un­voll­ endete Vernunft vielmehr der Lenkung von außen. Diese Lenkung aber wird ihr durch Offenbarung zuteil. In diesem Sinne dokumentiert die Religionsgeschichte den Weg, welchen Gott die menschliche Vernunft bis hierher geführt hat – oder in anderen, ebenfalls klassisch gewordenen Worten: Es manifestiert sich in ihr die Erziehung des Menschengeschlechts.173 169

  B 8, 330,32–35.   Cassirer 2007 (1932), 4f. 171   S.u. – Zu Lessings metakritischem Bewusstsein und seiner Skepsis gegenüber philosophischen Systemen s. Nisbet 2008, 752–757. 172   Im Ganzen lautet der bis heute für das Verständnis der Aufklärungsepoche prägend gebliebene Passus bei Kant folgendermaßen: „Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines andern zu bedienen. Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! ist also der Wahlspruch der Aufklärung“ (Immanuel Kant, Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? [1784], 9; Hervorh. i. O.). 173   Der so funktionalisierte Hinweis auf Kant findet sich bei Schilson 1980, 40f. – Dass hier also die eigentliche religionsphilosophische Pointe des späten Lessingschen Denkens liegt, scheint auch Friedrich Germanus Lüdke in seiner bereits mehrfach zitierten Rezension in der Allgemeinen deutschen Bibliothek aus dem Jahre 1779 zu erahnen: „Daß Hr. L. den Anfang eines kleinen Aufsatzes, der unter einem gewissen Zirkel von Freunden in der Handschrift herumgegangen war, die Erziehung des Menschengeschlechts überschrieben, 170

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Dritter Teil: Gipfelschau

Bevor wir all dieses im Rahmen unserer Analyse der Erziehungsschrift als Lessings religionsphilosophischen Hauptwerks präzise darlegen werden, sollen an dieser Stelle zunächst einige Überlegungen dazu folgen, wie Lessing seine epochale Einsicht in die Geschichtlichkeit der Vernunft überhaupt gewinnen konnte.

4. Lessings ‚abgründige‘ Einsicht in die Geschichtlichkeit der Vernunft Um verstehen zu können, wie Lessing in dieser reifen Phase seiner Religionsphilosophie zu einer dynamischen (in ihrem zeitgenössischen Kontext wahrhaft revolutionären) Auffassung des Verhältnisses von Vernunft und Offenbarung gelangen konnte – eine Auffassung, wonach beide, Vernunft und Offenbarung, einander einen wechselseitigen Dienst leisten –, ist es nötig, unseren Blick noch einmal zurückzuwenden: in die Breslauer Jahre und in die Zeit seiner Denkkrise. Gewissermaßen am Anfang seiner denkerischen Umwälzungen steht die Durchbrechung und Relativierung des für die Aufklärungsepoche so charakteristischen abstrakt-ungeschichtlichen Denkens durch die Erfahrung der Geschichte im Fragment Über die Entstehung der geoffenbarten Religion.174 Kommen hier bereits gewisse Irritationen am gemeinaufklärerischen Vernunftverständnis175 zum Vorschein, so gerät dieses Verständnis zu Beginn der 1770erJahre noch tiefergehend in die Krise, wie Lessings (bereits mehrfach zitierter) Brief an Moses Mendelssohn eindrucksvoll dokumentiert. Wenn dort von der ‚unendlichen Schwierigkeit‘ die Rede ist, ‚das Ziel unseres menschlichen Nachdenkens‘ präzise zu bestimmen – insbesondere im Blick auf die stete Gefahr, dieses Ziel gerade dort zu gewärtigen, wo man „des Nachdenkens [bloß] müde geworden“176 –, so kommt darin die deutliche Ahnung zum Ausdruck, dass eine Vernunft, die nicht einmal ihr eigenes Territorium mit genügender Sicherheit zu definieren vermag, so souverän nicht herrschen kann. Ist hier also der (kantische) Glaube an eine (der Vernunft wesentliche) absolute Souveränität und Autonomie bereits grundlegend erschüttert, so wird dieser wankende Glaube bey Gelegenheit seiner Anmerkungen über das vierte Fragment hat mittheilen wollen, dafür dankt ihm der Rec. ungemein“ ([Friedrich Germanus Lüdke] in: Allgemeine deutsche Bibliothek [1779], Bd. 39, 1. Stück, 48f.; Hervorh. i. O.). Dazu Schilson: „Offenbar weist ihm [sc. F. G. Lüdke] die hier gebotene geschichtliche Vermittlung zwischen Offenbarung und Vernunft neue Wege, die dem eher ungeschichtlichen neologischen Denken verschlossen blieben“ (Schilson 1989, 892). 174   Vgl. o. Kap. V. 175  S. obige Vernunftdefinition Ernst Cassirers (Kap. I, Zitat bei Anm. 89). 176   Vgl. Brief Nr. 645 (An Moses Mendelssohn; 9. Jan. 1771), in: B 11/2, 144–147. Hier: 145,1–4.

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spätestens in der Auseinandersetzung mit der Leibnizschen Apologetik vollends zum Einsturz gebracht.177 Vergegenwärtigen wir uns noch einmal deren Strategie178: Da die Mysterien in ihrer Übervernünftigkeit die Grenzen der menschlichen Vernunft übersteigen179 und infolgedessen bloß unvollkommen ‚erklärt‘, jedoch niemals ‚begriffen‘ oder gar a priori (d.h. aus der menschlichen Vernunft) ‚bewiesen‘ werden können, ist es nach Leibniz keineswegs etwa „Sache des Verteidigers, Gründe zum Beleg [ihrer Wahrheit] heranzuziehen“; vielmehr reicht es nach seinem Dafürhalten hin, „wenn er auf die seines Gegners antwortet“.180 Anstatt einen direkten Beweis für die Wahrheit der Mysterien zu führen – anstatt sie also zu „entschleiern“181 –, wird die Aufgabe des Apologeten darin bestimmt, in einem lediglich indirekten Verfahren ihre Widerspruchslosigkeit zu demonstrieren, sprich die Mysterien gegen alle ihnen entgegengebrachten, vorgeblich vernünftigen und also zwingenden Einwände zu verteidigen. – Da nun Leibniz, als ein Meister des Syllogismus, in dieser Hinsicht auf bemerkenswerte Weise reüssiert182 , befürchtet Lessing nicht nur für sich selbst, er habe, „indem [er] gewisse Vorurteile weggeworfen, […] ein wenig zu viel mit weggeworfen“ (Wahrheiten nämlich, die er nun würde „wiederholen müssen“)183; vielmehr hält er auch die (zunehmend entdogmatisierte) Aufklärungstheologie dazu an, die übervernünftigen Mysterien nicht vorschnell und allzu einfältig als widervernünftig abzutun.184 Nun aber sieht sich Lessing in Anbetracht der Übervernünftigkeit der Mysterien gleichwohl mit einer Schwierigkeit konfrontiert, wie sie für Leibniz schlichtweg (noch) nicht bestand: Gilt für Leibniz (in seiner aufrichtigen Orthodoxie) „die Autorität der Heiligen Schrift“ durch die ‚glaubwürdige Tradition‘ und das innere Zeugnis des Heiligen Geistes genugsam und „ein für alle177

  Während also nach unserer Lesart der Beginn von Lessings Denkkrise bis in die Breslauer Jahre hinein zurückdatiert werden muss und seine vernunftkritische Leibnizrezeption so auf bereits präparierten Boden fällt, beschreibt Allison den Übergang dramatischer: Für ihn bedeutet Lessings Beschäftigung mit der Leibnizschen Erkenntnismetaphysik in den Nouveaux Essais (erstmals 1765 in der Ausgabe von Rudolf Erich Raspe publiziert) gleichsam den Urknall seiner Denkrevolution. 178   Vgl. ausführlicher Exkurs 3. 179   Nach Leibniz geht eine Wahrheit „über die Vernunft hinaus, wenn unser Geist (oder der geschaffene Geist überhaupt) sie nicht begreifen kann“ (Leibniz, „Einleitende Abhandlung“, 50; § 23). 180  AaO., 85 (§ 78). 181  AaO., 82 (§ 73). 182   Man denke nur an seine Defensio gegen die antitrinitarischen Einwürfe des polnischen Unitariers Andreas Wissowatius (s.o. Kap. VI. 2.). 183   Brief Nr. 645 (An Moses Mendelssohn; 9. Jan. 1771), in: B 11/2, 144–147. Hier: 144,33ff. 184   Gegenüber Mendelssohn klagt Lessing, die „neuern Theologen“ würden auf ‚unphilosophische‘ Art und Weise die Kernlehren des Christentums „verwerfen und reformieren wollen“ (Brief Nr. 970 [An Moses Mendelssohn; 1. Mai 1774], in: B 11/2, 643f. Hier: 643,14ff.).

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Dritter Teil: Gipfelschau

mal […] vor dem Richterstuhl der Vernunft“ als gerechtfertigt185; und ist es ihm noch möglich, aufgrund der dadurch bewirkten moralischen Gewissheit186 die Glaubensmysterien als wahr anzunehmen, obgleich er sich selbst außerstande wähnt, den Erweis solcher Wahrheit in einem rationalen Verfahren gleichsam ‚eigenhändig‘ zu erbringen, so ist gerade diese Gewissheit Lessing abhandengekommen.187 – Es liegt auf der Hand, dass nicht zuletzt die Bibelkritik des ‚Fragmentisten‘ hier ihre Wirkung zeigt. Wie wir an gegebener Stelle ausgeführt haben, stellt Lessing bereits in seinen Gegensätzen hinsichtlich des inhaltlichen Mehrwerts der geoffenbarten Religion ein formales Defizit fest: nämlich dass sie sich auf „Zeugnisse und Erfahrungssätze“ gründet (während die Vernunftwahrheiten „aus der Natur der Dinge fließen“).188 Anders als Leibniz, der diesen Unterschied zwar durchaus auch reflektiert189, sieht Lessing darin nun einen hinreichenden Grund, das Fundament des (die Vernunft übersteigenden) Glaubens in seiner Tragfähigkeit prinzipiell infrage zu stellen. Theologiegeschichtliche Bedeutung kommt dabei zweifellos seiner kleinen Schrift Über den Beweis des Geistes und der Kraft aus dem Jahre 1777 zu190 , die er zu Beginn des Fragmentenstreits als Antwort auf Johann Daniel Schumanns (1714–1787) Über die Evidenz der Beweise für die Wahrheit der christlichen Religion formuliert.191 In der Beweis-Schrift unterscheidet Lessing zunächst, was „doch wohl unstreitig“ ist und wogegen es „doch nichts einzuwenden“192 gibt, zwischen eigenem Erleben, Wahrnehmen und Erfahren auf der einen und bloß historischem Wissen auf der anderen Seite: Ein andres sind erfüllte Weissagungen, die ich selbst erlebe: ein andres, erfüllte Weissagungen, von denen ich nur historisch weiß, daß sie andre wollen erlebt haben. Ein andres sind Wunder, die ich mit meinen Augen sehe, und selbst zu prüfen Gelegenheit habe: ein andres sind Wunder, von denen ich nur historisch weiß, daß sie andre wollen gesehn und geprüft haben.193 185

  Vgl. Leibniz, „Einleitende Abhandlung“, 33f. (§ 1) und 54 (§ 29).  AaO., 37 (§ 5). 187   Auch Ernst Cassirer hält es für das Verständnis von Lessings reifer Religionsphilosophie für unabdingbar, „unser Augenmerk […] auf das Problem“ zu richten, „das aus dieser Leibnizschen Fundamentalbestimmung [sc. der Grundunterscheidung zwischen vérités de raison und vérités de fait] nunmehr für die Religion und für die religiöse Gewißheit entstehen mußte“ (Cassirer 1929, 25; Hervorh. i. O.). 188  S.o. 189   Man denke etwa an seine Abgrenzung von moralischer und absoluter Gewissheit (vgl. Leibniz, „Einleitende Abhandlung“, 37; § 5). 190   G. E. Lessing, Über den Beweis des Geistes und der Kraft (1777), in: B 8, 437–445 (im Folgenden mit dem Kurztitel Beweis-Schrift wiedergegeben). 191   Die Kontroverse mit J. D. Schumann findet sich in B 8, 353–471. 192   B 8, 439,17f. 193   B 8, 439,10–16. 186

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Dabei zweifelt Lessing nicht daran, dass auch er, hätte er zu Christi Zeiten gelebt und selbst erfahren, wie sowohl in Christus die Weissagungen erfüllt als auch durch Christus „wahre“ Wunder gewirkt wurden, „so viel Vertrauen“ zu ihm würde „gewonnen haben, daß ich willig meinen Verstand dem Seinigen unterworfen hätte“.194 Dasselbe gilt übrigens auch für den Fall, in welchem sich Origenes noch befand, dass nämlich auch Lessing in der eigenen Gegenwart noch solchen Beweis des Geistes und der Kraft erleben könnte.195 Nun aber findet sich der Mensch des 18. Jahrhunderts gegenüber den Zeitgenossen Jesu und der alten Kirche in der unvergleichlichen Lage, „daß dieser Beweis des Geistes und der Kraft itzt weder Geist noch Kraft mehr hat; sondern zu menschlichen Zeugnissen von Geist und Kraft herabgesunken ist“.196 Während also Origenes die Wahrheit der Wunder, welche „bei der Grundlegung des Christentums“ zu dessen Bestätigung geschehen waren, ihrerseits durch gegenwärtig noch geschehene Wunder zu beweisen vermochte, fällt „dieser Beweis des Beweises itzt gänzlich“ weg.197 In diesem Sinne erscheint es Lessing nachgerade als ‚Zumutung‘, die „unbegreiflichen Wahrheiten“ der christlichen Lehre aufgrund der einstmals sie bestätigenden, heute jedoch nicht mehr demonstrierbaren historischen Wahrheiten glauben zu sollen, denn: Wenn keine historische Wahrheit demonstrieret werden kann: so kann auch nichts durch historische Wahrheiten demonstrieret werden. Das ist: zufällige [198] Geschichtswahrheiten können der Beweis von notwendigen Vernunftswahrheiten nie werden.199 194

  Vgl. B 8, 439,19–26.   Vgl. B 8, 439,30–440,14. 196   B 8, 440,21–24. – Ähnlich differenziert bereits Reimarus im Zweiten Fragment: „Wenn aber nur einige im Volke eine Offenbarung unmittelbar bekommen, und sie bezeugen andern Menschen, was ihnen offenbaret ist: so bekommen die andern Menschen diese Nachricht von Menschen. Es ist also nicht mehr eine göttliche Offenbarung, sondern ein menschlich Zeugnis von einer göttlichen Offenbarung“ (B 8, 192,7–12). 197   B 8, 441,1f.6. – Das Problem der zeitlichen Distanz Lessings zu den durch Christus gewirkten Wundern besteht also darin, dass diese weder selbst (also unmittelbar) noch aufgrund von Analogie bewiesen werden können. 198   „Zufällig“ sind die Geschichtswahrheiten insofern, als historische Ereignisse prinzipiell kontingent sind, d.h. sich weder notwendigerweise ereignen noch notwendigerweise nicht ereignen. Damit ist indes keineswegs impliziert, „daß alles Geschichtliche grundlos, das Produkt des blinden Zufalls sei. Daß es in der Erkenntnisordnung keinen Übergang vom Zufälligen zum Notwendigen gibt, bedeutet eben nicht die Zusammenhanglosigkeit in der Seinsordnung. Lessings Antithese ist daher offen für eine metaphysische Konzeption, wie sie im Glauben an die göttliche Vorsehung wahrgenommen wird: Auch das historisch Zufällige steht im Zusammenhang der Schöpfung und Regierung Gottes, durch die es ontologisch und teleologisch begründet ist. Die logisch-erkenntnistheoretische Distinktion zwischen zufälligen und notwendigen Wahrheiten widerspricht also keineswegs der metaphysisch zu denkenden Einheit von zufälligem und notwendigem Sein, die durch Verstand und Willen Gottes vermittelt ist“ (v. Lüpke 1989, 82). 199   B 8, 441,9f.34–38 (Hervorh. i. O.). – Die Unterscheidung zwischen ‚zufälligen Geschichtswahrheiten‘ und ‚notwendigen Vernunftwahrheiten‘ entspricht jener Differenzie195

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Dritter Teil: Gipfelschau

D.h. Lessing leugnet nicht, wie er eigens betont200, dass in Christus einst Weissagungen erfüllt und durch ihn Wunder getan wurden. Was er allerdings leugnet, ist die Möglichkeit, „Christi anderweitige Lehren“201 (sprich: die dogmatischen Sätze des Christentums) aufgrund der bloß historischen Gewissheit dieser Wunder glauben zu können oder zu dürfen. Dass nämlich zufällige Geschichtswahrheiten nicht zum Beweis von notwendigen Vernunftwahrheiten dienen können, zeigt Lessing u.a. an dem folgenden Beispiel: Wenn ich folglich historisch nichts darwider einzuwenden habe, daß Christus einen Toten erweckt: muß ich darum für wahr halten, daß Gott einen Sohn habe, der mit ihm gleiches Wesens sei? In welcher Verbindung steht mein Unvermögen, gegen die Zeugnisse von jenem etwas erhebliches einzuwenden, mit meiner Verbindlichkeit etwas zu glauben, wogegen sich meine Vernunft sträubet?202

Das in vorstehendem Beispiel angedeutete Verfahren, aus einer zufälligen Geschichtswahrheit eine notwendige Vernunftwahrheit ableiten (bzw. letztere durch erstere begründen) zu wollen, ist für Lessing deshalb unzulässig, weil hier aus einer „Klasse von Wahrheiten“203 in eine andere gesprungen wird, d.h. zwei kategorial streng zu differenzierende Ebenen miteinander verbunden werden. Dabei sind selbst die in der Heiligen Schrift überlieferten offenbarenden Selbstzeugnisse Christi sowie die Inspiration der biblischen Geschichtsschreiber nur historisch gewiss. – Das, das ist der garstige breite Graben, über den ich nicht kommen kann, so oft und ernstlich ich auch den Sprung versucht habe. Kann mir jemand hinüber helfen, der tu es; ich bitte ihn, ich beschwöre ihn. Er verdienet ein Gotteslohn an mir.204 rung, die Leibniz bereits in seiner Monadologie vorgenommen hat. Dort heißt es in § 33: „So gibt es auch zwei Sorten von Wahrheiten: diejenigen der Überlegung, welche notwendig sind und deren Entgegengesetztes unmöglich ist [= verités de Raisonnement], und diejenigen der Tatsache, die kontingent sind und deren Entgegengesetztes möglich ist [verités de Fait]. Falls eine Wahrheit notwendig ist, kann man den Grund dafür durch Analyse finden, indem man sie in einfachere Ideen und Wahrheiten auflöst, bis man zu den anfänglichen gelangt“ (Gottfried Wilhelm Leibniz, La monadologie/Monadologie [1714], 124f.; Hervorh. i. O.). – Lessings Satz von den ‚zufälligen Geschichtswahrheiten‘ und den ‚notwendigen Vernunftwahrheiten‘ kommentiert Ulrich Schneider dahingehend, dass darin „das ganze Gewicht des aufklärerischen Anspruchs auf eine Wirklichkeit der reinen Vernunft“ liege: „die historische Legitimation einer Autorität hat kein Recht auf unmittelbare Einsicht und Anerkennung des freien Denkens“ (Schneider 1986, 116). – Die an ebenjene Unterscheidung sich anschließenden Überlegungen Klaus Bohnens scheinen Lessings Gedankenwege indes zu verlassen (vgl. Bohnen 1974, v.a. 165ff.). 200   Auch darin hebt er sich deutlich von Reimarus ab. – S. auch Anm. 206. 201   B 8, 442,9. 202   B 8, 442,33–443,2. 203   B 8, 443,14. 204   B 8, 443,35–444,2. – D.h. hinsichtlich des logischen Status besitzen historische Urteile aufgrund ihrer Vermitteltheit bloß Approximationswert: „Sie können nur wahrscheinlich gemacht werden, und das ist […] zu wenig, um eine metaphysische Überzeugung darauf gründen, das sogenannte Seelenheil für oder gegen sie wagen zu können“ (Timm 1974, 70).

VII. Geschichtliche Vernunft – vernünftige Geschichte

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Wenn es nun aber weder die Erfüllung der Weissagungen noch die gewirkten Wunder als bloß überlieferte historische Wahrheiten vermögen, unseren Glauben an die Lehren Christi zu begründen, was ist es dann? – Hierauf erwidert Lessing schlicht: „Nichts, als diese Lehren selbst“.205 Diese so einfache wie eindeutige Antwort bestreitet jedoch nicht, dass der Beweis des Geistes und der Kraft in Form von erfüllten Weissagungen und gewirkten Wundern einstmals erforderlich war, um auf die ganz neuen und fremden Lehren allgemein aufmerksam zu machen: „Die Menge aber auf etwas aufmerksam machen, heißt,

Dabei liegt die Anstößigkeit solcher Aussage für das orthodoxe Schriftverständnis offen zutage: „Waren die biblischen Texte bis dahin das durch Verbalinspiration übermittelte, immer gültige Wort Gottes, so sind sie hier nur noch historische Nachrichten über eine weit zurückliegende Vergangenheit, zu der die auf Beweise ausgerichtete Vernunft keine Brücke mehr zu schlagen vermag“ (Wieckenberg 2011, 272; vgl. außerdem Jacobs 1998, 171). 205   B 8, 444,14f. – Indem also „nicht von den historischen Zeugnissen aus auf die notwendige Wahrheit“ geschlossen werden kann, es „umgekehrt“ aber „sehr wohl möglich“ ist, „von der eingesehenen Vernunftwahrheit aus auf die Wahrheit der Überlieferung zu schließen“, kehrt Lessing „die Beweisführung herkömmlicher Theologie“ regelrecht um: „Nicht an der Person Jesu hängt die Heilsbedeutung des Christentums, sondern die Bedeutung der Person Jesu hängt an derjenigen der ihm zugeschriebenen Lehre“ (Jacobs 1998, 172). In diesem Sinne heißt es im sogenannten Kanzeldialog in Lessings Axiomata: Die innere Wahrheit der christlichen Religion aus den Schriften der Evangelisten und Apostel zu nehmen, „wäre eben so seltsam, als wenn ich ein geometrisches Theorem nicht wegen seiner Demonstration, sondern deswegen für wahr halten müßte, weil es im Euclides steht. Daß es im Euclides steht, kann gegründetes Vorurteil für seine Wahrheit sein; so viel man will. Aber ein anders ist die Wahrheit aus Vorurteil glauben; und ein anders, sie um ihrer selbst willen glauben“ (B 9, 79,31–37; Axiomata). – Um die Aporie, in welche jeder auf Geschichtswahrheiten basierende Wahrheitserweis einer Religion zwangsweise führt, mit Lessing noch einmal zu verdeutlichen, sei an dieser Stelle aus seinem 1779 verfassten dramatischen Gedicht Nathan der Weise zitiert. Dort findet sich, im Kontext der berühmten Ringparabel, im Dialog zwischen Nathan und Saladin der Hinweis des Titelhelden, dass im Blick auf die historische Begründung der Religionen keiner der Vorzug vor der anderen gegeben werden kann: „Nathan: […] Geschrieben oder überliefert! – Und / Geschichte muß doch wohl allein auf Treu / Und Glauben angenommen werden? – Nicht? – / Nun wessen Treu und Glauben zieht man denn / Am wenigsten in Zweifel? Doch der Seinen? / Doch deren Blut wir sind? doch deren, die / Von Kindheit an uns Proben ihrer Liebe / Gegeben? die uns nie getäuscht, als wo / Getäuscht zu werden uns heilsamer war? – / Wie kann ich meinen Vätern weniger, / Als du den deinen glauben? Oder umgekehrt. – / Kann ich von dir verlangen, daß du deine / Vorfahren Lügen strafst, um meinen nicht / Zu widersprechen? Oder umgekehrt. / Das nemliche gilt von den Christen. Nicht? – // Saladin: (Bei dem Lebendigen! Der Mann hat Recht. / Ich muß verstummen.)“ (G. E. Lessing, Nathan der Weise. Ein dramatisches Gedicht, in fünf Aufzügen, in: B 9, 483–627. Hier: 557f. [III 7, V. 460–476]). Dazu heißt es bei Schultze: „Das, was eine positive Religion zu der einmaligen macht, als die sie von allen anderen wie von der natürlichen unterschieden ist, gehört der Kategorie des Geschichtlichen an. Es gehört aber wesentlich zur Kontingenz geschichtlichen Geschehens, daß es in seiner Einmaligkeit unwiederholbar und nicht deduzierbar ist. Ein ‚Geschichtsbeweis‘ ist also, wenn das Wort im strengen Sinn verstanden werden soll, eine contradictio in adiecto“ (Schultze 1969, 74). Und: „In dem völligen Verzicht auf die konstitutive Bedeutung des Geschichtsbezuges des Glaubens steht Lessing in einem nicht mehr überbrückbaren Gegensatz zu aller Orthodoxie“ (aaO., 90).

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Dritter Teil: Gipfelschau

den gesunden Menschenverstand auf die Spur helfen. / Auf die kam er; auf der ist er“.206 Jetzt aber, auf die Spur gekommen, bedarf der gesunde Menschenverstand eines solchen Beweises nicht mehr.207 Halten wir fest: Indem die Kompetenz des Philosophen (und somit das Vermögen der menschlichen Vernunft überhaupt) nach Leibniz lediglich dahin reicht, das Glaubensmysterium in seiner Übervernünftigkeit als ein logisch Mögliches zu verteidigen 208 – wobei seine Wahrheit notwendigerweise eine Frage der moralischen Gewissheit bleibt –, leistet die Vernunft (strebt man wie Lessing nach gesicherter „Überzeugung“)209 angesichts des ‚garstigen breiten Grabens‘ damit schlichtweg zu wenig. Denn es vermag ja nur sie allein (und nicht etwa die Bibel als bloß überliefertes, primär historisches Zeugnis)210 die Frage nach der Wirklichkeit und Wahrheit des bislang nur in seiner Möglichkeit erwiesenen übervernünftigen Mysteriums zu entscheiden.211 Das heißt: Sie allein könnte es – und kann es doch nicht! Oder präziser ausgedrückt: 206   B 8, 444,20ff. – Hierzu formuliert Vollhardt treffend: Aus der Prämisse, dass die „Glaubenssätze […] nicht im Rekurs auf historisches Wissen begründet werden können, […] zieht Lessing einen unerwarteten Schluss, der es ihm erlaubt, den von Jesus gewirkten und von seinen Zeitgenossen historisch beglaubigten Wundern doch eine Funktion im Offenbarungsgeschehen zuzusprechen. Die Behauptungen der Augenzeugen haben für uns zwar ihre Beweiskraft verloren, dennoch müsse man annehmen, dass ‚nichts geringers als Wunder und erfüllte Weissagungen erfordert wurden, um erst die Menge aufmerksam darauf zu machen‘ und so die Lehre Jesu zu verbreiten. […] Damit behalten die Wunder ihre Bedeutung für die allmählich fortschreitende Erziehung des Menschengeschlechts, sofern sie diese einmal besessen haben“ (Vollhardt 2018, 335). 207   Zu Lessings Kritik der zeitgenössischen Apologetik vgl. in diesem Zusammenhang Vollhardt 2018, 314–319. 208   So bescheidet sich Leibniz im Rahmen seines indirekt operierenden apologetischen Verfahrens ja bekanntlich damit, die Mysterien gegen den Vorwurf der (Selbst-) Widersprüchlichkeit zu verteidigen; d.h. er demonstriert nicht mehr (und nicht weniger!), als dass sie möglicherweise wahr (nämlich nicht notwendigerweise falsch) sind. 209   Vgl. Brief Nr. 21 (An Johann Gottfried Lessing; 30. Mai 1749), in: B 11/1, 25–28. Hier: 26,16–21. – Ingrid Strohschneider-Kohrs bezeichnet die „Lessing immer erneut bewegende[] Frage nach der Möglichkeit einer Wahrheits-Vergewisserung – auch und gerade im Erfahrungs- und Gedankenbereich der Religionen“ als die „das gesamte Spätwerk Lessings bestimmende[] Thematik“ (Strohschneider-Kohrs 2011, 178). 210   Leibniz’ (den „neuern Theologen“ im Wissowatius-Aufsatz entgegengehaltener) verblüffend orthodoxer Glaube, „daß das einzige Buch, welches, im eigentlichen Verstande, für die Wahrheit der Bibel, jemals geschrieben worden, und geschrieben werden könne, kein anderes als die Bibel selbst sei“ (B 7, 579,37–580,4), wird hier also von Lessing selbst als nicht (mehr) hinreichend zurückgewiesen. 211  Die geistesgeschichtlichen Konsequenzen dieser Denkbewegung fasst Hermann Timm in die folgenden Worte: „Leibniz hatte noch davon ausgehen können, daß die christliche Tradition sich selbst trägt. Ihre Wahrheit bedarf keiner Rechtfertigung. Die Beweislast liegt auf Seiten des Gegners. Er hat sich zu legitimieren. Der Apologet braucht, um erfolgreich zu sein, nur die vermeinten Vernunftgründe wider die Offenbarung zu entkräften. Durch den Fragmentenstreit ist die Beweislast auf die Gegenseite verlegt worden. Das vorgängige Ver-

VII. Geschichtliche Vernunft – vernünftige Geschichte

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Wenn sie es auch in Gestalt eines Leibniz – jenes unvergleichlichen Lichtes seiner Zeit212 – noch nicht konnte, so wird sie es doch (denn anders kann es sich der Vernunftoptimist nicht denken) dereinst einmal können – oder vielmehr: können müssen. – Oder: Wenn prinzipiell gilt, dass allein die Vernunft (eine über die moralische Gewissheit hinausreichende) absolute Wahrheitsgewissheit überhaupt erzeugen kann, solche absolute Gewissheit aber (aufgrund des Verlusts der moralischen Gewissheit) für die Annahme geoffenbarter Glaubenswahrheiten schlechterdings notwendig ist – faktisch aber gleichermaßen gilt, dass die Vernunft die christlichen Mysterien in ihrer Übervernünftigkeit lediglich als logisch Mögliche erweisen (und so keineswegs in irgend hinreichendem Sinne erweisen) kann, sprich: das möglicherweise Vernünftige (mit Gewissheit) weder als das Ihre noch als das nicht zu ihr Gehörige (also Widervernünftige) erkennen kann 213, so nötigt die solcherweis explizierte Aporie (jedenfalls den Anhänger eines in unerschütterlicher Hoffnung gegründeten Vernunftoptimismus214) regelrecht zu dem Schluss, dass die Vernunft – eingedenk ihres Unvermögens, diese an sich notwendige Aufgabe zu erfüllen – noch nicht vollkommen bei sich selbst, sondern vielmehr noch in Entwicklung begriffen und also keineswegs absolut, souverän und autonom ist.215 Wer dies verkennt, wer dies in seinem naiven Vernunftoptimismus leugnet, läuft Gefahr, „auf halbem Wege“ stehen zu bleiben 216 und damit den Fortgang der Vernunftentwicklung wie das Aufklärungsprojekt insgesamt zu gefährden.217 trauen in die Überlieferung erlischt. Der Glaube der Väter trifft nunmehr auf das gegenteilige Vorurteil, daß Historie nicht selig machen könne. Ihre Unmittelbarkeit ist dahin […]. Man konnte nicht länger aus der Tradition heraus denken […] Wer an sie anknüpfen wollte, mußte sie aus apriorischer Einsicht rekonstruieren“ (Timm 1974, 26). 212   Vgl. Lessings Loblied auf Leibniz’ Hellsichtigkeit im Wissowatius-Aufsatz: „Man erkennet zu wohl, daß Leibnitz aus der Klasse der alltäglichen Philosophen nicht ist, in deren Kopfe es so hell und zugleich so finster sein kann, so viel Sinn neben so viel Unsinn so nachbarlich und friedlich hausen kann, daß sie bald englische Scharfsinnigkeit zeigen, und bald kindischen Blödsinn verraten. Man hat zu viele Beweise, daß das Licht seines Verstandes überall gleich verbreitet war“ (B 7, 573,21–27). 213   In diesem Sinne bilanziert Erich Schmidt, dass das „Hauptergebnis“ von Lessings Wissowatius-Aufsatz „in dem zweischneidigen Satze zu suchen“ sei, „daß Religionswahrheiten nicht vernunftmäßig bewiesen, aber auch nicht durch Gegenbeweise zerstört werden können“ (Schmidt 1909 [Bd. 2], 218f.). 214   In den Paragraphen 81 und 82 seiner Erziehung des Menschengeschlechts (s.u.) kommt es emphatisch zum Ausdruck, dass ein diesbezüglicher Zweifel Lessing schlechterdings als Gotteslästerung erscheint. 215   Zum Unterschied der beiden Vernunftkonzeptionen Lessings und Mendelssohns gerade im Spannungsfeld der vérités de raison und der vérités de fait vgl. Cassirer 1929. Dort heißt es, dass die „echte Wahrheit“ für Lessing – in seiner Überwindung des ‚statischen Wahrheitsbegriffs‘ – „die werdende“ sein muss (aaO., 34). 216   B 7, 577,36f. (Wissowatius-Aufsatz). 217   In diesem Sinne versperrt die ‚Gegenwartsseligkeit‘ der Neologie „in scheinbarer

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Dritter Teil: Gipfelschau

Da nun also die Vernunft in ihrer Geschichtlichkeit noch unvollendet ist218; da sie sich als ratio viatorum noch auf dem Weg hin zu ihrer vollkommenen Aufklärung befindet, deshalb vermag sie es nicht selbst, sich diesen Weg zu weisen. Deshalb bedarf sie eines anderen Lichtes, das sie führt. Deshalb sieht sie ein: Es muss eine Offenbarung sein.219

5. Lessings Theodizee der Religionen oder Die Erziehung des Menschengeschlechts (1777/80) Schon früh weigerte sich Lessing (im Brief an seinen lutherisch-orthodoxen Vater), die christliche Religion – einem ‚Erbe‘ gleich – „von seinen Eltern auf Treue und Glaube“ anzunehmen. Stattdessen schien es ihm geboten, ‚einmal klüglich zu zweifeln‘ und – in stetem Streben nach „Überzeugung“ – sich auf „den Weg der Untersuchung“ zu begeben.220 Diesen Weg in seinen Hauptetappen zu rekonstruieren und in seinem Verlauf systematisch nachzuzeichnen, haben wir uns zur Aufgabe vorliegender Studie gemacht. Nun – mit der gleichermaßen geschichts- wie religionsphilosophischen Konzeption einer Erziehung des Men-

Aufklärung der wahren Aufklärung den Weg“ (Schilson 1974, 159). – Vgl. auch die poin­ tierten und (trotz ihrer Kürze doch) sehr grundlegenden Ausführungen bei Schilson 1989, 907f. – Zur Erkenntnis von der Geschichtlichkeit der Vernunft (als einer ratio viatorum) könnte Lessing zudem durch die Lektüre von Adam Fergusons (1723–1816) Essay on the History of Civil Society (1767) inspiriert worden sein. – Zur Begründung, dass es sich bei den Nennungen Fergusons (v.a. Brief Nr. 645 [An Moses Mendelssohn, 9. 1. 1771], in: B 11/2, 144–147) mit ziemlicher Sicherheit wohl um diesen Titel handeln muss, s. Schneider 1953, 248 Anm. 62; heute ist man sich über die Richtigkeit dieser Einschätzung einig (vgl. Nisbet 2008, 682). – Dort, in besagtem Essay nämlich, vertritt Ferguson die mit Lessings religionsphilosophischem Ansatz kompatible These, dass im Falle des Menschen nicht „allein das Individuum […] von der Kindheit zum Erwachsenenalter fort[schreitet], sondern auch die Gattung selbst vom Zustand der Rohheit zur Zivilisation“ (Adam Ferguson, Versuch über die Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft [1767], 97). Für Ferguson gibt es keinen ‚natürlichen‘ Zustand des Menschen jenseits oder außerhalb der Geschichte. Der Mensch wird als viator bestimmt, als ein ‚wanderndes Wesen‘, das unfähig ist, „in irgendeinem Zustand zu verharren“, für das vielmehr jedes Verhältnis nur ein ‚Durchgangsstadium‘ bildet (vgl. aaO. 103–106). Kurzum: Des Menschen „eigentlicher Naturzustand“ ist nach Ferguson nicht etwa ein Zustand, „von dem sich die Menschheit für immer entfernt hat, sondern einer, den sie jetzt erreichen kann; nicht ein Zustand, der vor aller Anwendung ihrer Fähigkeiten existiert hätte, sondern einer, der durch ihre richtige Anwendung gerade erreicht wird“ (aaO., 107). 218   Hermann Timm spricht davon, „daß der Vernunftbegriff sich um die genetische Dimension erweitern muß“ (Timm 1974, 44). 219   D.h.: Anders als für die Orthodoxie liegt für Lessing die Notwendigkeit der Offenbarung nicht in der Erbsündenlehre begründet, sondern in der Geschichtlichkeit der Vernunft. 220   Vgl. Brief Nr. 21 (An Johann Gottfried Lessing; 30. Mai 1749), in: B 11/1, 25–28. Hier: 26,16–21.

VII. Geschichtliche Vernunft – vernünftige Geschichte

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schengeschlechts 221 – am Ziel unserer Wanderschaft angelangt 222, hat uns dieser Weg „auf einen Hügel“ geführt, von welchem Lessing – als anonymer „Verfas221   G. E. Lessing, Die Erziehung des Menschengeschlechts, in: B 10, 73–99 (im Folgenden durch den Kurztitel Erziehungsschrift wiedergegeben). – Die ersten 53 Paragraphen der Erziehungsschrift hat Lessing bereits im Rahmen seines IV. [Gegensatzes] gleichsam vorab veröffentlicht; in: B 8, 333–346. Vollständig und eingeleitet durch einen „Vorbericht des Heraus­gebers“ erscheint die Erziehungsschrift erstmals im Jahre 1780. – Im Blick auf die bis heute unabgeschlossene Debatte über den eigentlichen Charakter der Erziehungsschrift – „whether the work’s basic character is poetic, philosophical, rhetorical, or a combination of these elements“ (vgl. Nisbet 2011, 71) – entscheiden wir uns (bestärkt u.a. durch Schilson 1999, 102) für eine dezidiert (geschichts- bzw. religions-) philosophische Lesart derselben, und zwar in der festen Überzeugung, dass Lessing, aller ‚Geistesgymnastik‘ unerachtet, in seinen vielfältigen Auseinandersetzungen durchaus auch streng systematische Interessen verfolgt und seine dabei gewonnenen, zu einem konsistenten Standpunkt (vgl. Allison 2018, 113) geronnenen Einsichten mit klaren Geltungsansprüchen belegt: „Dieser systematische Anspruch gilt in besonderem Maße für das […] Verhältnis zwischen Glauben und Wissen, Theologie und Philosophie, und damit positiver Religion und rationaler (nicht empirischer) Vernunft.“ Gegenüber entsprechenden Tendenzen innerhalb der Lessingforschung und gleichsam als hermeneutische Grundannahme unserer eigenen Überlegungen sei also mit Gideon ­Stiening betont: „Lessing als ‚Gymnastiker des Geistes‘ – das ließe viel Raum zum Denken, aber s­ icher auch zu viel Raum für Beliebigkeit. Bei aller Lust an der erkenntnisfördernden Kontroverse, allem Interesse an Innovation, Aufnahme neuer Impulse und eklektischer Methode hat Lessing doch zeitlebens streng systematische Interessen verfolgt, die er allerdings in unterschiedlichen Darstellungsformen realisierte“ (Stiening 2012, 221f.; Hervorh. i. O.; freilich wird unsere theistische Lesart in inhaltlicher Hinsicht ganz andere Ergebnisse zeitigen als die Analyse Stienings mit ihrer Verabschiedung einer ‚transzendenten Gottesinstanz‘). In ähnlichem Sinne unterstreicht auch Ingrid Strohschneider-Kohrs hinsichtlich des der Erziehungsschrift vorangestellten Augustin-Mottos, dass dieses keineswegs etwa im Sinne eines „‚spielerischen‘ oder ‚rhetorischen‘ Relativismus Lessings oder einer fast willkürlichen Beliebigkeit“ zu deuten sei (vgl. Strohschneider-Kohrs 2011, 176f.). Ganz anders bspw. Albrecht Beutel: Er betont in aller Entschiedenheit, dass Lessing zeitlebens – „zumal in religiösen und theologischen Fragen“ – darauf bedacht gewesen sei, sich „stets gymnasticos zu artikulieren“ (vgl. Beutel 2013, 163f.). – Die Notwendigkeit zu solcher Anmerkung scheint uns darin gegeben, dass „kaum ein anderes Werk“ in Lessings gesamtem Œuvre „so viele Thesen und Deutungskontroversen hervorgerufen und so viel Anlaß zu immer neu aufflammenden Disputen gegeben [hat] wie die Schrift über Die Erziehung des Menschengeschlechts“ (Strohschneider-Kohrs 2011, 155). 222   Obgleich Ingrid Strohschneider-Kohrs zurecht und mit Nachdruck darauf hinweist, dass es sich bei der Erziehungsschrift keineswegs, „wie oft genug angedeutet oder behauptet worden ist“, um „Lessings ‚letztes‘, dem ‚Nathan‘ erst nachfolgendes Werk“ handelt (ihres späteren Publikationsdatums zum Trotz, stelle die Erziehungsschrift vielmehr „– mit Sicherheit in der gedanklichen Konzeption und mit hoher Wahrscheinlichkeit in der vollen Explikationsform – das vor dem ‚Nathan‘ entstandene Werk“ dar [vgl. Strohschneider-Kohrs 1991, 154ff.]), beschließen wir unsere systematische Rekonstruktion des Lessingschen Denkweges gleichwohl mit einer Analyse dieser seiner systematischsten Schrift. – Es ließe sich wohl ohnehin mit Kondylis zeigen, dass der Nathan in seiner religionsphilosophischen Aussage keineswegs etwa der Erziehungsschrift entgegensteht, sondern lediglich von einer anderen Perspektive getragen ist (vgl. Kondylis 2002, 609f.); s. hierzu auch Thielickes Darlegungen zum doppelten Standpunkt des Menschen, der „um den Sinn von Offenbarung weiß“ (vgl. Thielicke 1967, 128f.).

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Dritter Teil: Gipfelschau

ser“ der Erziehungsschrift – „etwas mehr, als den vorgeschriebenen Weg seines heutigen Tages zu übersehen glaubt“: Aber er [sc. der anonyme Verfasser der Erziehungsschrift] ruft keinen eilfertigen Wanderer, der nur das Nachtlager bald zu erreichen wünscht, von seinem Pfade. Er verlangt nicht, daß die Aussicht, die ihn entzücket, auch jedes andere Auge entzücken müsse. Und so, dächte ich [sc. Lessing, der ja offiziell bloß als „Herausgeber“ der Erziehungsschrift firmiert], könnte man ihn ja wohl stehen und staunen lassen, wo er steht und staunt! Wenn er aus der unermeßlichen Ferne, die ein sanftes Abendrot seinem Blicke weder ganz verhüllt noch ganz entdeckt, nun gar einen Fingerzeig[223] mitbrächte, um den ich oft verlegen gewesen!224

Die Erziehungsschrift als ein prophetischer225, wenngleich unscharfer Blick in eine ‚unermessliche Ferne‘, ein „Fingerzeig“, dem zu folgen sich gewiss verlohnt, wollen Philosophie und Theologie, will die Aufklärung als Menschheitsbewegung an ihr Ziel gelangen. Indes: Worin besteht dieser Fingerzeig? –

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  Zu Lessings Verständnis von „Fingerzeig“ s.u.   B 10, 74,5–17 („Vorbericht des Herausgebers“). – In diesem von Lessing als dem He­ rausgeber(!) der Erziehungsschrift gezeichneten Bild artikuliert sich einmal mehr sein (durchaus auch ironisch konnotiertes) Understatement: Die Szene zeigt einen „Hügel“ (nicht einen Berg); das dämmerige Licht – „ein sanftes Abendrot“ (und nicht die aufgehende Sonne) – gewährt keine vollkommen klare Sicht; und schließlich die Herausgeberfiktion, die von Anfang an darauf hinweist, dass hier lediglich etwas zur Debatte gestellt werden soll, ein „Fingerzeig“ (und eben kein stringentes System) etc. etc. (vgl. Thaidigsmann 2016, 261f.). – Dieser merklichen Ironie ungeachtet scheint gleichwohl auch Hans Leisegangs Beobachtung keineswegs falsch zu sein, es bekunde sich „unter äußerer Bescheidenheit“ das „deutlich spürbare[] Bewußtsein von seiner Stellung auf einsamer, dem prophetischen Blick weiteste Sicht gewährenden Höhe“ (Leisegang 1931, 181). – Ingrid Strohschneider-Kohrs merkt zur Rede vom „Abendrot“ als einer besonderen Lichtmetapher an: Lessings „Bild nennt etwas dem Auge sichtbar Erscheinendes, das den Blick auf ein ‚Unermeßliches‘ freigibt und verwehrt, – das die ‚Wahrheit selbst‘ nicht voll erkennbar macht, aber auch nicht ins gänzlich Unsichtbare verbirgt: eine ‚Lichtmetapher‘, die der Problematik des Erkennens, dem noetischen Problem gilt“ (Strohschneider-Kohrs 1991, 234; Hervorh. i. O.; aaO., 218–237 findet sich eine eingehende Untersuchung der „kunstvollen sprachlichen Besonderheiten“ und des „merklich eigenwilligen Stil- und Gesamtgestus dieses Textes“; zum „Vorbericht“ insgesamt und seinem Verhältnis besonders zu den Schlussparagraphen vgl. auch Göbel 1998). – Zur Möglichkeit auch einer psychologischen Deutung von Lessings Stillschweigen hinsichtlich seiner Autorschaft vgl. Nisbet 2011,77. 225   Da Lessing in der Erziehungsschrift nicht weniger als den Sinn der Religionsgeschichte zu erfassen sucht – etwas aber nur dadurch in ‚seinem‘ Sinn begriffen werden kann, dass es als Ganzes sowie als Zweckzusammenhang vorausgesetzt wird –, muss Lessing, wie besonders die Schlussparagraphen zeigen, in prophetischer Weise von der Zukunft reden: „Nun hat die Weltgeschichte, wie alle Geschichten, die die Gegenwart einschließen, eine Besonderheit: Sie ist noch nicht zu Ende. Die Zukunft ist noch Teil ihrer Vollendung. Wenn man also den Sinn der Gegenwart begreifen will, muss man von der Zukunft reden. In welcher Redeweise tut man das? In der Gattung Prophetie“ (Schmidt-Biggemann 2011, 138). 224

VII. Geschichtliche Vernunft – vernünftige Geschichte

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Ich meine diesen. – Warum wollen wir in allen positiven Religionen nicht lieber weiter nichts, als den Gang erblicken, nach welchem sich der menschliche Verstand jedes Orts einzig und allein entwickeln können, und noch ferner entwickeln soll; als über eine derselben entweder lächeln, oder zürnen? Diesen unsern Hohn, diesen unsern Unwillen, verdiente in der besten Welt nichts: und nur die Religionen sollten ihn verdienen? Gott hätte seine Hand bei allem im Spiele: nur bei unsern Irrtümern nicht?226

Mit anderen Worten: Anstatt sich von der Geschichte abzuwenden und ihr die gedankliche Spekulation einer lauteren und vernünftigen Wirklichkeit entgegenzusetzen; anstatt die Vernunft zur absoluten und über aller Kontingenz schwebenden Richterin über die Geschichte zu erheben; anstatt die Religionen zu lächerlichen oder gar ärgerlichen Veranstaltungen menschlicher Willkür und Unvernunft herabzuwürdigen, nimmt Lessing die Welt gerade in ihrer Geschichtlichkeit als die ‚beste‘, als göttliche Schöpfung ernst (verbunden mit der schlichten Forderung, Welt- und Menschheitsgeschichte nun auch „im Horizont der Vorsehung“227 zu betrachten); erkennt er die Religionen als geschichtliche Hauptakteure in ihrer Göttlichkeit an; kritisiert er den Absolutheitsanspruch der Vernunft, indem er sie in ihrer Unvollkommenheit entlarvt. – Wir wollen uns am Ende unseres Weges mit Lessing auf jenen Hügel stellen und auch unseren Blick schweifen lassen in diese ‚unermessliche Ferne‘. Dabei soll es uns nicht um Lessings Verhältnis zum Juden- oder Christentum 228 und also nicht um die konkrete Gestalt seiner Theodizee dieser beiden geschichtlichen Religionen zu tun sein. Unser Augenmerk liegt vielmehr auf dem blanken Grundgerüst seiner religionsphilosophischen Konzeption, greifbar in der Bestimmung des Verhältnisses von Vernunft und Offenbarung.

5.1 Grundlegung Die ersten fünf Paragraphen dienen Lessing zur Grundlegung seiner Konzeption von der Offenbarung als einer „Erziehung des Menschengeschlechts“229: 226

  B 10, 74,18–26 („Vorbericht des Herausgebers“).   Vgl. den gleichlautenden Titel der Dissertation Arno Schilsons. – Schmidt-Biggemann spricht entsprechend von „Geschichtstheologie“ (resp. von einer deutlich erkennbaren Abhängigkeit der Geschichtsphilosophie von der Theologie) sowie vom „religiös heilsgeschichtliche[n] Rahmen“ der Erziehungsschrift: die der Theodizee wesentliche Intentionalität, dass es „die Absicht des guten Gottes ist, es mit der Welt gut ausgehen zu lassen“ (vgl. Schmidt-Biggemann 2011, 138f.). 228   Eine gut verständliche Einführung in den Fragekomplex um Lessings Christentum bietet Schilson 1980; zu Lessings Verständnis des Judentums vgl. u.a. Dane 2012 (hier v.a. 172–176); einen profunden Überblick zu Lessings Verhältnis zur jüdischen Aufklärung bietet Fick 2016, 490–518. 229   Zur einfach zu ermittelnden dreiteiligen Gliederung der Erziehungsschrift insgesamt vgl. Schilson/Schmitt 2001, 843f. – Mit Ingrid Strohschneider-Kohrs ordnen wir die Erziehungsschrift der Gattung des theoretisch-philosophischen Traktats zu (vgl. Strohschneider-Kohrs 1991, 154). 227

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Dritter Teil: Gipfelschau

§. 1. Was die Erziehung bei dem einzeln Menschen ist, ist die Offenbarung bei dem ganzen Menschengeschlechte. §. 2. Erziehung ist Offenbarung, die dem einzeln Menschen geschieht: und Offenbarung ist Erziehung, die dem Menschengeschlechte geschehen ist, und noch geschieht. §. 3. Ob die Erziehung aus diesem Gesichtspunkte zu betrachten, in der Pädagogik Nutzen haben kann, will ich hier nicht untersuchen. Aber in der Theologie kann es gewiß sehr großen Nutzen haben, und viele Schwierigkeiten heben, wenn man sich die Offenbarung als eine Erziehung des Menschengeschlechts vorstellet. §. 4. Erziehung giebt dem Menschen nichts, was er nicht auch aus sich selbst haben könnte: sie giebt ihm das, was er aus sich selber haben könnte, nur geschwinder und leichter. Also giebt auch die Offenbarung dem Menschengeschlechte nichts, worauf die menschliche Vernunft, sich selbst überlassen, nicht auch kommen würde: sondern sie gab und giebt ihm die wichtigsten dieser Dinge nur früher. §. 5. Und so wie es der Erziehung nicht gleichgültig ist, in welcher Ordnung sie die Kräfte des Menschen entwickelt; wie sie dem Menschen nicht alles auf einmal beibringen kann: eben so hat auch Gott bei seiner Offenbarung eine gewisse Ordnung, ein gewisses Maß halten müssen.230

Zu dieser Grundlegung sei dreierlei angemerkt: Erstens unterstreicht Lessing mit seiner Formulierung „und noch geschieht“ (§ 2)231, dass die offenbarungsgeleitete Erziehung des Menschengeschlechts auch im 18. Jahrhundert noch keineswegs abgeschlossen ist: Noch befindet sich die Vernunft auf dem Weg; noch bedarf sie der externen, göttlichen Führung232; noch ist sie nicht am Ziel, nicht autonom, nicht absolut.233

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  B 10, 75,3–76,2.   Parallel hierzu finden sich im „Vorbericht des Herausgebers“ die Worte „noch ferner“ (B 10, 74,21). 232   Wir entscheiden uns also für einen theistischen Deutungsrahmen der Erziehungsschrift. – Zur Notwendigkeit einer Entscheidung vgl. Nisbet 2011, 72. – Wenn Nisbet die alternative Deutung der „Erziehung“ als eines natürlich sich entfaltenden Prozesses v.a. durch die Ersetzung des Gottesbegriffs durch den Naturbegriff (s. Erziehungsschrift §§ 84 u. 90) bestätigt sieht, so sei mit Johannes von Lüpke und Arno Schilson auf die dortige theolo­ gische Qualifizierung des Naturbegriffs hingewiesen (vgl. v. Lüpke 1989, 167 u. 234 Anm. 19; ­Schilson 1998, 103). 233   Dazu Fick: „‚Neologiekritisch‘ grenzt er das Christentum in seiner damaligen Gestalt (Katechismus, Dogmen etc.) von der Transparenz einer ‚Vernunftreligion‘ ab: Der verborgene Gehalt der christlichen Religion ist für ihn durch die Vernunft noch nicht erschöpft, seine ‚innere Wahrheit‘ noch nicht vollständig formuliert“ (Fick 2016, 392). 231

VII. Geschichtliche Vernunft – vernünftige Geschichte

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Zweitens scheint unsere These von der Notwendigkeit einer Offenbarung für die Vernunft 234 in § 4 schlechthin widerlegt zu werden. In diesem Sinne verwundert es kaum, dass die Erziehungsschrift gerade an diesem Punkt – und zwar seit ihrem Erscheinen – zu denken gibt. Im Widerspruch zu unserer These von der Notwendigkeit einer Offenbarung für die Vernunft befindet sich etwa die bereits zeitgenössische Deutung des vierten Paragraphen im anonym verfassten Dialog über die von G. E. Leßing herausgegebene Erziehung des Menschengeschlechts aus dem Jahre 1781. Getreu der aufklärerischen Prämisse von der Autonomie der menschlichen Vernunft hören wir dort den (wohl fingierten) Gesprächspartner des Dialog-Verfassers die folgenden Worte sagen: „Denn darum, weil Gott diese erste Erziehung oder Offenbarung, wie Sie es nennen wollen, gab, werden Sie doch nicht die Möglichkeit leugnen, daß wir ohne sie aus uns selbst nach und nach haben könnten, was sie uns nun geben.“235 In diesem Sinne bestehe die göttliche Gnade gerade darin, dass Gott der Menschheit den „langsamern Weg“236 ersparte, sie also vor mühseligem Umherirren bewahrte: „Es gieng ihm [sc. Gott] wie dem Vater, der nicht damit zufrieden ist, daß sein Sohn erst nach vielen Irrwegen den rechten Weg findet, sondern der ihn lieber gleich dahin führt.“237

Dass indes die scheinbar evidenteste Lesart hier keineswegs auch die plausibelste ist, wird im Folgenden noch zu zeigen sein; bis dahin freilich gilt es, das Verständnis des vierten Paragraphen offenzulassen. Drittens schließlich konstatiert Lessing im Blick auf die göttlich gelenkte Offenbarungsgeschichte (und analog zum bloß profanen Erziehungsgeschehen) eine von Gott zu haltende „gewisse Ordnung, ein gewisses Maß“ (§ 5). Was sich für ihn – im Kontext des Vierten Fragments 238 – in den einzelnen Schritten der jüdisch-christlichen Offenbarungsgeschichte konkretisiert239, meint abstrakter 234   So lautet ja gewissermaßen das Fazit unserer Analyse der Gegensätze, dass – angesichts der Geschichtlichkeit der Vernunft – eine Offenbarung nicht nur sein kann, sondern vielmehr auch sein muss (s.o. Anm. 219). 235   [Anonymer Verf.], Dialog über die von G. E. Leßing herausgegebene Erziehung des Menschengeschlechts (1781), 11. 236  AaO., 10. 237  AaO., 14. 238   Vgl. hierzu insbesondere §§ 22f. (B 10, 79,26–80,26). 239   Es sei in diesem Zusammenhang (nämlich das Auftreten Christi betreffend) auf die frappierende Ähnlichkeit der hiesigen Formulierung mit der weit früheren des Herrn­huterEssays hingewiesen. Hieß es dort: „Wer konnte die Welt aus ihrer Dunkelheit reißen? Wer konnte der Wahrheit den Aberglauben besiegen helfen? Kein Sterblicher. Θεος ἀπο μηχανης. / Christus kam also. Man vergönne mir, daß ich ihn hier nur als einen von Gott erleuchteten Lehrer ansehen darf. […]“ (B 1, 939,13–17), so lesen wir hier: „Ein beßrer Pädagog muß kommen, und dem Kinde das erschöpfte Elementarbuch aus den Händen reißen. – Christus kam. […] Und so ward Christus der erste zuverlässige, praktische Lehrer der Unsterblichkeit der Seele. […]“ (B 10, 88,29ff. u. 89,28f.; Hervorh. i. O.). – Dabei ist für Lessing (als einen Menschen des 18. Jahrhunderts und also jenseits des ‚garstigen breiten Grabens‘) die Frage nach der Person Jesu Christi v.a. deshalb (weitgehend) irrelevant (geworden), da im Rekurs auf den historischen Christus (als einer lediglich kontingenten Erscheinung) ohnehin nichts bewiesen werden könnte (vgl. § 59). – Schmidt-Biggemann spricht davon, dass Lessing „die

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Dritter Teil: Gipfelschau

ausgedrückt ein konkretes, nämlich geschichtlich 240 – man denke etwa an das alttestamentlich überlieferte Exodusgeschehen (§§ 9–12) – sowie durch schriftliche Zeugnisse vermitteltes offenbarendes (Sprach-)Handeln Gottes als des Erziehers des Menschengeschlechts241, wobei Gott – wie wir noch sehen werden – sich in solchem Handeln zuweilen auch ganz natürlicher Mittel zu bedienen weiß.242 – Hinsichtlich der schriftlichen Zeugnisse zur Vermittlung göttlicher Offenbarungswahrheiten fällt insbesondere Lessings Deutung der Bücher Alten und Neuen Testaments als Elementarbücher ins Auge.243 Nun bestehen aber die Güte und didaktische Qualität eines solchen ‚Elementarbuchs‘ darin, dass es seine Zielgruppe und deren Entwicklungsstand stets in Rechnung stellt und folglich, dem jeweiligen Erkenntnisgrad entsprechend, „dieses oder jenes wichtige Stück“ – im Falle des antiken Judentums etwa die Unsterblichkeitslehre – durchaus auch „mit Stillschweigen übergehen“ kann. Andererseits aber darf es „schlechterdings nichts enthalten, was den Kindern den Weg zu den zurückbehaltnen wichtigen Stücken versperre oder verlege. Vielmehr müssen ihnen alle Zugänge zu denselben sorgfältig offen gelassen werden“.244 Letzteres geschieht – und darin „besteht die positive Vollkommenheit eines Elementarbuchs“245 – durch Vorübungen (§ 44)246 , Anspielungen (§ 45)247 und Fingerzeige (§ 46).248 orthodoxe Christologie von Inkarnation und Kreuzesopfer“ ignoriert und stattdessen „die Moral als Kern des Christentums“ bestimmt (Schmidt-Biggemann 2011, 139). Hierzu passt auch die Mutmaßung Walter Sparns, es handle sich bei den ‚weniger einleuchtenden‘, dem NT „beigemischten Lehren“ der Jünger Jesu (§ 63) wohl um christologische Lehren (vgl. Sparn 2018, 98). – Zur Christologie Lessings allgemein s. den aufschlussreichen Exkurs bei Schilson 1974, 270–276. 240   Dass es sich bei der Offenbarung um ein geschichtliches Geschehen handelt, sieht Strohschneider-Kohrs in der Formulierung des 2. Paragraphen: „die […] geschehen ist, und noch geschieht“, angezeigt (vgl. Strohschneider-Kohrs 2009, 32f.). 241   Auch Sparn weist darauf hin, dass „Lessing im Rahmen des traditionellen Begriffs der Offenbarung als einer göttlichen oder von Gott inspirierten sprachlichen Mitteilung“ bleibe (Sparn 2018, 80). Indem er ferner „den Terminus ‚Offenbarung‘ der Geschichte Israels“ reservieren würde (vgl. §§ 8–15), stelle er sich „in eine theologische Perspektive“ (aaO., 82). 242   B 10, 84,18 (§ 34). 243   Vgl. etwa §§ 38, 47, 50f., 53, 64, 66–69, 86. 244   B 10, 81,20ff.24–28 (§ 26). 245   B 10, 87,21f. (§ 47; Hervorh. i. O.). – Demnach besteht die „negative Vollkommenheit desselben“ in der „oben erwähnte[n] Eigenschaft, daß es den Weg zu den noch zurückgehaltenen Wahrheiten nicht erschwere, oder versperre“ (B 10, 87,23ff.; Hervorh. i. O.). 246  „Eine Vorübung auf die Lehre von der Unsterblichkeit der Seele, nenne ich z. E. die göttliche Androhung, die Missetat des Vaters an seinen Kindern bis ins dritte und vierte Glied zu strafen. Dies gewöhnte die Väter in Gedanken mit ihren spätesten Nachkommen zu leben, und das Unglück, welches sie über diese Unschuldige gebracht hatten, voraus zu fühlen“ (B 10, 87,2–8; Hervorh. i. O.). 247  „Eine Anspielung nenne ich, was bloß die Neugierde reizen und eine Frage veranlassen sollte. Als die oft vorkommende Redensart, zu seinen Vätern versammlet werden, für sterben“ (B 10, 87,10ff.; Hervorh. i. O.). 248  „Einen Fingerzeig nenne ich, was schon irgend einen Keim enthält, aus welchem sich die noch zurückgehaltne Wahrheit entwickeln läßt. Dergleichen war Christi Schluß aus der

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§. 48. Setzt hierzu noch die Einkleidung und den Stil – 1) die Einkleidung der nicht wohl zu übergehenden abstrakten Wahrheiten in Allegorien und lehrreiche einzelne Fälle, die als wirklich geschehen erzählet werden. […] §. 49. 2) den Stil – bald plan und einfältig, bald poetisch, durchaus voll Tavtologien [sic!], aber solchen, die den Scharfsinn üben […] §. 50. Und ihr habt alle gute Eigenschaften eines Elementarbuchs sowohl für Kinder, als für ein kindisches Volk.249

Indem sich also das Alte und das Neue Testament sowohl durch die ‚positive‘ wie durch die ‚negative Vollkommenheit‘ eines Elementarbuchs auszeichnen und außerdem im Blick auf ihre „Einkleidung und den Stil“ als vorbildlich sich erweisen, zeigt sich Gott als der ideale Erzieher, der – im Gegensatz zum „eiteln Pädagogen“ – „sein Kind lieber […] gründlich unterrichten“, als es „übereilen und mit ihm prahlen“ will.250 Dabei gilt es, neben dem „Fehler des eiteln Pädago­gen“251 zudem noch einen ganz anderen pädagogischen Lapsus zu vermeiden: Da nämlich „jedes Elementarbuch […] nur für ein gewisses Alter“ ist, wirkt es regelrechten ‚Schaden‘, das „ihm entwachsene Kind länger, als die Meinung gewesen, dabei zu verweilen“: Denn um dieses auf eine nur einigermaßen nützliche Art tun zu können, muß man mehr hineinlegen, als darin liegt; mehr hineintragen, als es fassen kann. Man muß der Anspielungen und Fingerzeige zu viel suchen und machen, die Allegorien zu genau ausschütteln, die Beispiele zu umständlich deuten, die Worte zu stark pressen. Das giebt dem Kinde einen kleinlichen, schiefen, spitzfindigen Verstand; das macht es geheimnisreich, abergläubisch, voll Verachtung gegen alles Faßliche und Leichte.252

Deshalb ist es wichtig, beizeiten „dem Kinde das erschöpfte Elementarbuch aus den Händen [zu] reißen“ – wie etwa Christus es (als der ‚beßre Pädagog‘) in Bezug auf die alttestamentlichen Schriften getan habe253 –, wobei im Blick auf das noch unabgeschlossene Erziehungsgeschehen freilich gilt, dass „die Neutestamentlichen Schriften“ als „das zweite beßre Elementarbuch für das Menschengeschlecht“ im 18. Jahrhundert noch keineswegs bereits erschöpft sind.254

Benennung Gott Abrahams, Isaacs und Jacobs. Dieser Fingerzeig scheint mir allerdings in einen strengen Beweis ausgebildet werden zu können“ (B 10, 87,14–19; Hervorh. i. O.). 249   B 10, 87,27–30 u. 88,2f.9f. 250   B 10, 78,20ff. (§ 17). 251  Ebd. 252   B 10, 88,12–23 (§ 51). 253   B 10, 88,29ff. (§ 53). 254   Vgl. B 10, 91,7–11 (§ 64). – S. hierzu auch Lessings Ermahnung an das ‚fähigere Individuum‘ (§§ 68f.).

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Dritter Teil: Gipfelschau

Dass Lessing mit seiner Qualifizierung der Bibel als „Elementarbuch“ die Orthodoxie in Harnisch bringt, sollte angesichts obiger Ausführungen nicht weiter verwundern. 255 Insbesondere Lessings Rede von den „historischen Worte[n]“ der Bibel als bloßem „Vehi­ culum des prophetischen Wortes“256, seine Unterscheidung von Buchstabe und Geist, von Bibel und Religion257 sind mit der unverlierbaren Autorität und bleibenden Bedeutung der Bibel, wie sie die orthodoxen Dogmatiker der Heiligen Schrift (als gleichermaßen unersetzlicher wie uneinholbarer exklusiver Offenbarung für die – gefallene – Vernunft) zuschreiben, unvereinbar. Lessing will hinter die Bibel, hinter den Buchstaben zurück. Sein Augenmerk gilt ihrem eigentlichen In-halt 258, d.i. der Offenbarung, wie sie von der Bibel „bloß gelegentlich“ – und dazu noch rein ‚zufällig‘259 –, „bald mehr bald weniger“260, gefasst wird, wie sie der Bibel (als ihrem Zeugnis) lediglich zugrunde liegt bzw. ihr zeitlich (und sachlich!) vorausgeht 261; und auch diese Offenbarung interessiert ihn bloß hin255

  S. Exkurs 5. – Zu Lessings ‚komplexer Sicht‘ der Bibel als „Urkunde des Christentums“ vgl. Landmesser 2011. – Freilich erweist sich Landmessers argumentativer Rückgriff auf jenen – vom „Wolfenbütteler“ Lessing in seiner Unzulänglichkeit bereits überwundenen – „Breslauer“ Religionsbegriff (vgl. aaO., 207f.) im Rahmen unserer genetischen Deutungsperspektive mindestens als problematisch: Indem nämlich Lessing (wie Kant) in seinen Breslauer Fragmenten noch an der These von der Suffizienz und Unüberbietbarkeit der natürlichen Religion festhält (s.o. Kap. V.), sich also (unter Voraussetzung dieses Religionsbegriffs) auch die christliche Religion – „in einem letzten Sinn“ – auf die natürliche Religion zurückführen lässt (vgl. aaO., 212 u. passim), wird Lessings reifer Religionsphilosophie (wie wir sie hier rekonstruieren) und ihrer Neubewertung der Offenbarungsreligionen gleichsam die Pointe abgebrochen. 256   Vgl. B 9, 62,33–63,1 (Axiomata; Hervorh. i. O.). 257  S. Lessings III. ‚Axiom‘ (B 9, 63,11–64,4) und die daraus abgeleiteten bzw. es begründenden ‚Axiomata‘ IV.–VIII., im Einzelnen: IV. Folglich sind die Einwürfe gegen den Buchstaben und gegen die Bibel, nicht eben auch Einwürfe gegen den Geist und gegen die Religion (B 9, 64,5–65,26); V. Auch war die Religion, ehe eine Bibel war (B 9, 65,27–66,5); VI. Das Christentum war, ehe Evangelisten und Apostel geschrieben hatten. Es verlief eine geraume Zeit, ehe der erste von ihnen schrieb; und eine sehr beträchtliche, ehe der ganze Kanon zu Stande kam (B 9, 66,6–67,26); VII. Es mag also von diesen Schriften noch so viel abhangen: so kann doch unmöglich die ganze Wahrheit der christlichen Religion auf ihnen beruhen (B 9, 67,27–71,8); VIII. War ein Zeitraum, in welchem sie (die christliche Religion) bereits so ausgebreitet war, in welchem sie sich bereits so vieler Seelen bemächtiget hatte, und in welchem gleichwohl noch kein Buchstabe aus dem von ihr aufgezeichnet war, was bis auf uns gekommen ist: so muß es auch möglich sein, daß alles, was die Evangelisten und Apostel geschrieben haben, wiederum verloren gienge, und die von ihnen gelehrte Religion doch bestünde (B 9, 71,9–77,12). 258   Vgl. B 9, 67,31–68,17. 259   Rein zufällig deshalb, weil man „auf die Heilige Schrift als Produkt historischer Überlieferung“ durchaus auch verzichten könnte (Scattola 2011, 238). Die Bibel ist nicht identisch mit der Offenbarung, sondern eben bloß faktisch (und also ‚zufällig‘) dasjenige Dokument, aus dem wir „unsere erste historische Kenntnis“ der ‚inneren Wahrheit‘ nehmen (B 9, 79,29ff.). 260   B 9, 68,13 (Hervorh. i. O.). 261   Wenn Goeze Lessings V. ‚Axiom‘, es sei die Religion gewesen, „ehe eine Bibel war“, mit seinem Einwurf – „Aber doch nicht ehe eine Offenbarung war.“ – meint bestreiten zu können, so kontert Lessing diese ‚Unbegreiflichkeit‘ folgendermaßen: „Freilich kann eine geoffenbarte Religion nicht eher sein, als sie geoffenbaret worden. Aber sie kann doch eher sein, als sie niedergeschrieben worden. Davon ist ja nur die Rede. Ich will ja nur sagen: die Religion war, ehe das geringste von ihr schriftlich verfaßt wurde. Sie war, ehe es noch ein einziges Buch

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sichtlich ihres (von aller geschichtlichen Bedingtheit abstrahierbaren) ‚inneren‘ Wahrheitsgehalts. 262 Kurzum: Es gibt für Lessing – im Unterschied zu Goeze – einen „aus diesen Schriften“ ermittelbaren „zuverlässigen Lehrbegriff“, der aufgrund seiner ‚inneren‘ Wahrheit seine ‚Zuverlässigkeit‘ auch dort noch behielte, wo er den Bezug zu seiner bloß zufälligen, nämlich historischen Quelle, der Bibel, verlöre (bzw. – angesichts ihres gedachten und also möglichen Verlustes263 – nicht mehr einsichtig machen könnte).264 Und während für Goeze die Bibel gerade als historisches Zeugnis der geschichtlichen Offenbarung Heilige Schrift ist 265, geht es Lessing um die Herauslösung eines inneren Wahrheitsgehaltes aus von der Bibel gab, die itzt sie selbst sein soll“ (B 9, 65,27–66,3; Hervorh. i. O.). – Zur ‚Vorgängigkeit‘ der „inneren Wahrheit“ und einer „wesentliche[n] Abweichung [Lessings] von der herkömmlichen hermeneutica sacra“ vgl. Danneberg 2015, v.a. 264. – Sehr richtig pointiert Landmesser: „Es ist von großer Bedeutung, dass der zweite große Schritt der Erziehung mit Christus, nicht mit dem Neuen Testament beginnt“ (vgl. Landmesser 2011, 216). 262   In neuerer Zeit hat von lutherischer Seite etwa Oswald Bayer gegen solche Abstraktionsbewegungen rebelliert (vgl. Bayer 1991). – Gemäß Lessings patristischen Nachforschungen – „[…] und ich bin im Stande, mich mit dem gelehrtesten Patristiker darüber in die schärfste Prüfung einzulassen“ – geht den neutestamentlichen Schriften (wie der Konstituierung der Kirche überhaupt) die Regula fidei als der „Inbegriff“ aller frühchristlichen Glaubensbekenntnisse (zeitlich und sachlich) voraus: Sie ist der Inbegriff der christlichen Religion; und als solche ist sie „der Fels, auf welchen die Kirche Christi erbauet worden, und nicht die Schrift […]; nicht Petrus und dessen Nachfolger“. Insofern erschöpft sich der „wahre Wert der Apostolischen Schriften“ (zumindest im Blick auf die „Glaubenslehren“) darin, „daß sie unter den Schriften der Christlichen Lehrer obenan stehen; und so fern sie mit der Regula fidei übereinstimmen, die ältesten Beläge derselben, aber nicht die Quellen derselben, sind“ (G. E. Lessing, Nötige Antwort auf eine sehr unnötige Frage des Hrn. Hauptpastor Goeze in Hamburg [1778], in: B 9, 427–434. Hier: 434,6f.; 430,36f.6ff.; 431,19–23 u. 433,24–29; Hervorh. i. O.). – Landmesser spricht hier also völlig zurecht von einer „enorme[n] Aufwertung der Tradition [gegenüber dem lutherisch-orthodoxen Schriftprinzip]“ (vgl. Landmesser 2011, 212; vgl. hierzu auch B 9, 79,29–80,16 [Axiomata]). 263  S. Lessings eingestreute Erzählung von der Fortpflanzung eines lutherischen Christentums auf „einer kleinen unbewohnten Bermudischen Insel“ (B 9, 73,35–75,2). 264   Vgl. B 9, 73,5–34. 265   Es seien an dieser Stelle die luziden Ausführungen Ernst Cassirers zitiert: „Die theologische Dogmatik schlägt die Brücke zwischen dem Zeitlichen und Ewigen dadurch, daß sie, durch einen Machtspruch des Glaubens, einem zeitlichen Phänomen eine ewige Bedeutsamkeit und Gültigkeit verleiht. Sie geht von einem einzelnen, von einem zeitlich-bestimmten und zeitlich-begrenzten Ereignis aus – aber sie hebt zugleich dieses Ereignis über alle zeitlichen Grenzen und alle zeitliche Bedingtheit hinaus. Die Inkarnation Christi z.B.: das ist der Punkt, an dem die Ewigkeit selbst in die Zeitlichkeit einbricht, und an dem sie die Natur dieser Zeitlichkeit, an dem sie alle ihre Formen, ihre Gesetze, ihre Bedingungen durchbricht. Aber die Gewißheit von diesem Durchbruch darf nun freilich, wenn sie wahrhaft gegründet sein soll, nicht der Unzuverlässigkeit bloß menschlicher Zeugnisse anvertraut bleiben. Allerdings kann sie der Natur der Sache nach, als Gewißheit von einem geschichtlichen Vorgang, auf keinem anderen, als einem historischen Beweise beruhen: aber diesem Beweis selbst muß das Siegel der Unveränderlichkeit und Unzerstörbarkeit aufgeprägt sein. Dies ist nur dadurch möglich, daß aus dem Strome des Werdens ein Wandelloses herausgehoben wird, von dessen Dauer und Unerschütterlichkeit, von dessen ewig gleichem Fortbestand uns nicht die Vernunft, sondern allein die Offenbarung versichern kann. Im katholischen Lehrsystem ist es die Kirche, im orthodoxen protestantischen System ist es die Bibel, der dieser Wert der Unvergänglichkeit zukommt. Sie sind die notwendigen Vermittlungen, kraft deren allein Zeitliches

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Dritter Teil: Gipfelschau

seiner kontingenten Form. Mit anderen Worten: Für Lessing „steht und fällt“ die christliche Religion keineswegs mit der Bibel.266 Ihre „innere Wahrheit […] und die Überlieferungen, oder deutlicher, die heilige Schrift“ könnten „itzt [ebenso gut] von einander ganz unabhängig sein“.267

So viel also zu Lessings Grundlegung seiner Konzeption von der Offenbarung als einer „Erziehung des Menschengeschlechts“.

5.2 Auf Augenhöhe oder Der „wechselseitige Dienst“ von Vernunft und Offenbarung Wir kommen nun zum Herzstück, zum eigentlichen Kern, zur Pointe der Erziehungsschrift und damit zu Lessings religionsphilosophischer Leitidee: dem Gedanken eines wechselseitigen Dienstes von Vernunft und Offenbarung.268 Lessing formuliert diesen Gedanken im Kontext seiner Ausführungen zur babylonischen Gefangenschaft des alten Israels: auf Ewiges sich beziehen und Ewiges im Zeitlichen sichtbar, sinnfällig, gegenwärtig werden kann. Die Wirklichkeit der Kirche im katholischen System, die unverbrüchliche und unantastbare Wahrheit des Bibelwortes im protestantischen System: das sind die beiden einzigen Medien, kraft deren das Göttliche sich der Menschenwelt bekundet und hingibt. Sie sind der Fels, an dem die Flut der Zeiten sich bricht; an denen das Werden und die Veränderung ihre Kraft verlieren“ (Cassirer 1929, 28). 266   B 9, 88, 2f. – Seine Überlegungen in den Axiomata zielen also darauf, den (orthodoxen) „Anspruch der Bibel, alleiniger objektiver Glaubensgrund zu sein“, aufzuheben. Damit bestreitet er zugleich jede unmittelbare Identifizierung von Bibel und Offenbarung (vgl. Durzak 1970, 121f.). 267   B 9, 83,4ff.10. – Es sei noch einmal an die ursprünglich apologetische Intention dieser Lessingschen Unterscheidungen erinnert: „Die Gegenüberstellung von Geist und Buchstaben […] will den ersteren von den historisch-philologischen Angriffen gegen den letzteren unabhängig machen; die Verteidigung des Buchstabens (durch Goeze) soll im Hinblick auf die Sache ebenso irrelevant sein wie seine Widerlegung (durch Reimarus)“ (Kondylis 2002, 604f.). 268   Auch Ingrid Strohschneider-Kohrs spricht im Blick auf den 37. Paragraphen vom „Leitgedanken“ und ‚systematischen Begründungszusammenhang‘ der Erziehungsschrift: „Man möchte es erstaunlich genug nennen, daß dieser – zudem durch andere Paragraphen bestätigte und ergänzte – Problemhinweis im 37. Paragraphen der Erziehungs-Schrift, der a limine geeignet erscheint, die Rede von Über- oder Unterordnung, von Vor- oder Nacheinander im Verhältnis von Vernunft und Offenbarung zu korrigieren oder zu widerlegen, nur selten zur Klärung gravierender Fragen in der Lessing-Deutung herangezogen wird. Das Problem, das Lessing darin zu annoncieren weiß, […] ist deshalb von besonderem Gewicht, weil es den bewußt differenzierenden Leitgedanken kenntlich macht, der Lessings Intention für die Erziehungs-Schrift bestimmt und der gleichsam als deren systematischer, innertheologischer Ansatz oder Begründungszusammenhang zu verstehen ist“ (Strohschneider-Kohrs 1991, 141). Auch an späterer Stelle ist von „diesem höchst gewichtigen Problem der Korrelativität oder Interferenz der den Erziehungsweg des Menschengeschlechts ermöglichenden Konstituentien“ die Rede (vgl. aaO., 223; vgl. außerdem Strohschneider-Kohrs 2009, 37f. sowie Strohschneider-Kohrs 2011, 165ff.; Schilson 1998, 101f.). Demgegenüber meint Volker Dörr den „Ausfluchtcharakter“ dieser Formulierungen aufweisen zu können (vgl. Dörr 2010, 13f.).

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§. 34. Noch hatte das Jüdische Volk in seinem Jehova mehr den Mächtigsten, als den Weisesten aller Götter verehrt; noch hatte es ihn als einen eifrigen Gott mehr gefürchtet, als geliebt: auch dieses zum Beweise, daß die Begriffe, die es von seinem höchsten einigen Gott hatte, nicht eben die rechten Begriffe waren, die wir von Gott haben müssen. Doch nun war die Zeit da, daß diese seine Begriffe erweitert, veredelt, berichtiget werden sollten, wozu sich Gott eines ganz natürlichen Mittels bediente; eines bessern richtigern Maßstabes, nach welchem es ihn zu schätzen Gelegenheit bekam. §. 35. Anstatt daß es ihn bisher nur gegen die armseligen Götzen der kleinen benachbarten rohen Völkerschaften geschätzt hatte, mit welchen es in beständiger Eifersucht lebte: fing es in der Gefangenschaft unter dem weisen Perser an, ihn gegen das Wesen aller Wesen zu messen, wie das eine geübtere Vernunft erkannte und verehrte.[269] §. 36. Die Offenbarung hatte seine Vernunft geleitet, und nun erhellte die Vernunft auf einmal seine Offenbarung. §. 37. Das war der erste wechselseitige Dienst[270], den beide einander leisteten; und dem Urheber beider ist ein solcher gegenseitiger Einfluß so wenig unanständig, daß ohne ihm eines von beiden überflüssig sein würde.271

Auch hier vermag ein Blick auf den zeitgenössischen Kontext die Konturen dieser Spezifik zu schärfen.

Exkurs 6: Vernunft und Offenbarung in J. F. W. Jerusalems Betrachtungen über die vornehmsten Wahrheiten der Religion (1768–1779)272 Wir wenden uns kurz einem anderen Protagonisten im Wolfenbüttel der 1770er-Jahre zu: Johann Friedrich Wilhelm Jerusalem (1709–1789), seines Zeichens Prinzenerzieher am Hofe Herzog Karls I. von Braunschweig und Hofprediger in Wolfenbüttel sowie – wo­ 269   Wenn es für Dörr so scheinen mag, als sei die Offenbarung durch den Erziehungsbeitrag der „weisen Perser“ als „alleiniges Subjekt der Erziehung“ entthront (Dörr 1994, 36), so sei darauf hingewiesen, dass die Offenbarung nirgends in der Erziehungsschrift Subjekt der Erziehung ist, sondern lediglich (wie auch die Weisheit der Perser in § 35) ihr Mittel. Subjekt der Erziehung ist Gott allein – und das auch hier: „[…] wozu sich Gott eines ganz natürlichen Mittels bediente“ (§ 34). 270   Freilich meint Lessings „Dienst“-Begriff hier etwas grundsätzlich anderes als die orthodoxe Dogmatik, wo sie vom ergebenen Dienst (= servire) der Vernunft (= ancilla Hagar) an ihrer ‚Herrin Theologie‘ spricht (s.o. Exkurs 5). Demgegenüber kann nach §§ 36f. die Offenbarung der Vernunft – und umgekehrt: die Vernunft der Offenbarung – nur darin einen „Dienst“ erweisen, worin sie derselben überlegen ist. In diesem Sinne ist es also kein knechtisches, ergebenes, sondern vielmehr ein souveränes, freigebiges Dienen. 271   B 10, 84,9–85,2. 272   Auch Sparn verweist in seinen „Erläuterungen“ zur Erziehungsschrift auf Jerusalems Betrachtungen (vgl. Sparn 2018, 52f.).

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Dritter Teil: Gipfelschau

rauf sich vorzugsweise unser Interesse richtet – „einer der fruchtbarsten Ideenspender der Neologie und neben J. J. Spalding wohl deren einflußreichster kirchlich-praktischer Repräsentant“.273 Genauer geht es uns um die Verhältnisbestimmung von Vernunft und Offenbarung in seinem unvollendet gebliebenen theologischen Hauptwerk, den Betrachtungen über die vornehmsten Wahrheiten der Religion, mehrbändig erschienen in den Jahren 1768–1779. Nachdem Jerusalem sich im Ersten Teil seiner Betrachtungen (11768) den Wahrheiten der natürlichen Religion gewidmet hat und dort „an den Grenzen der geoffenbarten Religion stehen geblieben“ ist 274, sucht er nun, im zweiten und dritten Teil seines umfänglichen Werkes, die Wahrheit sowohl der ‚mosaischen‘ als auch der christlichen Religion (freilich nicht in ihrer orthodoxen, sondern in ihrer eigentlichen, d.h. ‚simplen‘ Gestalt) gegen die Religionskritik zu verteidigen.275 Solchen Bestrebungen gemäß beginnt der zweite Teil mit einer „Betrachtung“ der Frage: „Ob überhaupt ein ausserordentlicher göttlicher Unterricht von der Religion, oder eine Offenbarung mit der Weisheit Gottes bestehen könne.“276 Da nach Jerusalem die Beantwortung dieser Frage nun keineswegs Gegenstand philosophischer Spekulation oder ungebundener Vernunfttätigkeit sein kann – kennt doch die Vernunft „sich selbst viel zu wenig, als daß sie das Maaß ihrer Kräfte mit Sicherheit bestimmen könnte“ –, beschreitet er stattdessen (und folgerichtig) den Weg historischer Rekonstruktion: „Die Geschichte der Menschheit, die auch ihre [sc. der Vernunft] Geschichte ist, kann uns allein die Anleitung geben, und hierinn müssen wir bis auf ihre erste Kindheit zurück gehen, und dann Acht geben, wie ihre Kräfte sich nach und nach haben entwickeln können.“277 – Auf Grundlage der just „in unserm Zeitpunkt“ entdeckten „Originalurkunden“ rekonstruiert Jerusalem eine dreiteilige Offenbarungsgeschichte, an deren Anfang – noch vor aller „Abgötterey“ – bei ausnahmslos „allen den ältesten und größten Völkern“ „die Erkenntniß eines einigen allerhöchsten Wesens“ steht.278 Dabei lässt sich die 273   Beutel 2009, 119. – Beutel gibt dort einen gerafften Überblick über Leben und Werk Jerusalems (vgl. aaO., 118ff.). 274   Johann Friedrich Wilhelm Jerusalem, Betrachtungen über die vornehmsten Wahrheiten der Religion, an Se. Durchlaucht den Erbprinzen von Braunschweig und Lüneburg, II. Teil (Bd. 1), 1774, VII („Vorbericht“). 275   Hierzu heißt es bei Beutel: „Die Ausführungen brechen mit der Darstellung der ‚Religion Mosis‘ ab, doch lassen sich die Umrisse seiner neologisch temperierten, jede metaphysisch-ontologische Fundierung verabschiedenden Christologie und Soteriologie aus den ‚Nachgelassene[n] Schriften‘ (2 Bde., 1792/93) erkennen. So deutete er Jesus als den größten göttlichen Gesandten, der als Vorbild und Lehrer eines Gott entsprechenden und durch dessen verzeihende Zuwendung begnadeten Lebens in seiner Auferstehung von Gott bestätigt worden sei. Die Selbstaufopferung Jesu erschien demgemäß als der höchste Ausdruck seiner moralischen Vollkommenheit und mithin soteriologisch depotenziert. Dadurch waren neben der Erbsünden- auch die herkömmliche Zweinaturen- und Trinitätslehre in Abgang geraten und die Gottessohnschaft Jesu Christi adoptianisch sowie die Vorstellung eines heiligen Geistes modalistisch entschärft. Mit seiner populartheologischen Apologie wollte Jerusalem die Grundwahrheiten der von akademischer Theologie kategorial unterschiedenen, aus platonisch-spekulativer Überwucherung in ihre ursprüngliche, praktische ‚Simplicität‘ zurückgeführten christlichen Religion als vernünftig nachvollziehbar und deren tröstliches und handlungsleitendes Potential als erfahrbar erweisen“ (Beutel 2009, 120). 276   Vgl. Jerusalem, Betrachtungen (II. Teil, Bd. 1), 1–86. 277  AaO., 4. 278  AaO., 30f. – Dies betont Jerusalem gegen David Hume (1711–1776) und dessen Natural History of Religion (1757).

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unausweichliche Frage, „woher diese reine Erkenntniß so früh gekommen sey?“, unmöglich mit Verweis auf die Vernunft in ihrer damaligen „Kindheit“ beantworten: Denn da die Vernunft nur „stuffenweise von dem Niedern zum Höhern“ steigt, sich hier aber von Beginn an auf dem Höhepunkt der Gotteserkenntnis befindet, kann ein solcher „Sprung“ nicht anders gedacht werden als durch „eine unmittelbare Offenbarung“ veranlasst. 279 Zumal es sich durchaus als „der Weisheit und Güte Gottes […] anständig“ erweist, dass er den Menschen „gleich anfangs“, sprich im „ersten Ursprung des menschlichen Geschlechts“, „mit den ersten Begriffen, die zu seiner [sc. des Menschen] Moralität so wesentlich nöthig waren, bekannt gemacht, und sich ihm als den Schöpfer und Regenten der Welt, und als Seinen Schöpfer, unter dessen moralischen Regierung er, der Mensch, besonders stehe, offenbaret“ hat. 280 Kurzum: Am Anfang aller Geschichte steht die Uroffenbarung einer ‚reinen‘ Gotteserkenntnis an die ersten Menschen, worauf dann – „als eine Ausartung dieser ursprünglichen reinen und erhabnen Idee“ – im Zuge eines degenerativen Prozesses die Entwicklung der „Vielgötterey“ folgt.281 Für Jerusalem liegt die Erklärung hierfür in der menschlichen Natur: [Da nämlich] alle Menschen von Natur wegen ihrer Sinnlichkeit eine Trägheit und Abneigung gegen alle Wahrheiten haben, die nur mit einer reinen Vernunft gefasset werden können, und noch besonders gegen die, welche ihre sinnlichen Neigungen einschränken, so sind die Wahrheiten der Religion diesem Verfall noch am meisten unterworfen.282 279

 Jerusalem, Betrachtungen (II. Teil, Bd. 1), 33f.; s. auch das Fazit aaO., 44f.  AaO., 49. – Analog zu dieser moralischen Befähigung des Menschen habe Gott – so Jerusalem – gleich anfangs auch „in Absicht auf dessen leibliche Erhaltung […] eine besondre unmittelbare Anweisung und Hülfe“ geben müssen (ebd.): So habe zwar der erste Mensch, „wie er aus der Hand des Schöpfers gekommen, mit reifen Sinnen und festen Gliedern vollkommen erwachsen“ sein müssen – „denn als ein Kind, läßt er sich gar nicht denken“; und doch sei er selbst als dieses ‚vollkommen erwachsene‘ „noch das armseeligste Geschöpf [gewesen], von einem neu gebohrnen Kinde, durch nichts als durch die Festigkeit seiner Glieder unterschieden; zwar schon mit deutlichem Bewußtseyn, mit reifen Sinnen, wodurch auf einmal tausend Empfindungen in ihn strömen, aber wobey er noch nichts denken kann; die ihn jahrelang betäuben, ehe er sie nach und nach unterscheiden lernt; nur mit der Fähigkeit vernünftig zu seyn; noch ohne alle würkliche Begriffe, noch ohne Vermögen seine Empfindungen sich im Gedächtniß zu bezeichnen; ohne alle Erfahrung; der alle Dinge erst einzeln, ohne dabey nachdenken zu können, empfindet; noch aus keiner Aehnlichkeit einen Schluß machen kann; noch keine Ursache kennet, noch keine andere Werkzeuge als seine Glieder hat; Das dürftigste Geschöpf, unendlich dürftiger als das Thier.“ Dieser ‚mannigfaltigen Bedürfnisse‘ eingedenk – „Ein mißlicher Versuch, er treffe ihn selbst oder seine Gattinn, macht der ganzen Schöpfung ein Ende.“ –, müssen wir also „annehmen, daß Gott den ersten Menschen seinen bloßen Fähigkeiten nicht habe überlassen können, sondern daß er […] seiner ersten Erhaltung durch eine unmittelbare Anweisung nothwendig habe zu Hülfe kommen müssen“ (aaO., 4–7). 281  AaO., 33. – Zur Entstehung des Polytheismus und entsprechender, auch über politische Macht verfügender kultischer Institutionen vgl. Jerusalems knappen religionsgeschichtlichen Abriss (aaO., 11–21). 282  AaO., 54; vgl. auch aaO., 59f. – Wie Lessing, so sieht auch Jerusalem die Notwendigkeit einer Offenbarung keineswegs in einer (wie auch immer gearteten) Erbsündenlehre begründet. Stattdessen betont er die geschöpfliche Beschränktheit und Sinnlichkeit der menschlichen Natur. Die „Verwirrung“ der Erbsündenlehre besteht nach Jerusalem also schlicht darin, dass man „offenbar sinnliche Natur und verderbte Natur; Nothwendigkeit von Erziehung und 280

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Dritter Teil: Gipfelschau

Eingedenk ihrer so gearteten Natur hätte die Menschheit wohl auf ewig im Götzendienst verharrt 283, hätte nicht „Gott in diesem Laufe der Fürsehung, nach der jedesmaligen Lage der Welt, wie es seine ewige Weisheit am besten erkennet, solche Veranstaltungen geordnet“, wodurch die „wichtige Erkenntniß“ der Religionswahrheiten „von Zeit zu Zeit unterhalten, oder dergestalt gegen ihren gänzlichen Verfall gesichert“ wurde, „daß die Menschen, wo sie sie auch verloren, sie in ihrer Lauterkeit doch immer wieder finden“ konnten.284 Gemeint ist – als zweite und dritte „Veranstaltung“ innerhalb der göttlichen Offenbarungsgeschichte – die Bekanntmachung zunächst der ‚mosaischen‘ und schließlich der christlichen Religion bzw. der „Religion Jesu“. In Jerusalems geschichtlicher Perspektive zeichnet sich der göttlich veranstaltete „Unterricht“ nun durch ein spezifisch pädagogisches Vorgehen aus: Es ist eine ganz irrige Vorstellung, daß, wenn Gott den Menschen eine Offenbarung giebt, dieselbe gleich auf einmal alle Lehren in ihrer vollen Klarheit bekannt machen müsse, die der Menschheit je zu ihrer vollkommnern Rechtschaffenheit und Beruhigung wichtig werden können. Die ganze Regierung der Welt ist ein beständig fortgehendes System, wo aber alles sehr langsam zu der größern Vollkommenheit fortgeht. Unterricht mit angebohrner Verblendung, und herrschende unordentliche Neigungen und Leidenschaften mit angebohrner allgemeiner Neigung zum Bösen“ vermengt (Jerusalem, Betrachtungen [II. Teil, Bd. 2], 1779, 702). – Vgl. hierzu insgesamt die Ausführungen des Vierten Abschnitts zur Lehre von der moralischen Regierung Gottes über die Welt, oder (zur) Geschichte vom Falle (aaO., 627–755). Dabei sei an dieser Stelle noch angemerkt, dass die geschöpfliche Beschränktheit des Menschen (im Sinne des Leibnizschen malum metaphysicum) an sich freilich für Jerusalem noch keine Unvollkommenheit darstellt. Es ist also keineswegs die ‚sinnliche Natur‘ an sich das Problem des Menschen und die Ursache seiner Schwäche; vielmehr wird sie erst dann zum Grund derselben, „wenn sie von Vernunft und Religion nicht geleitet wird“ (vgl. aaO., 716ff.). 283   Demnach ist die Ausbildung des Polytheismus „der natürliche Gang, den die Menschheit in der Religion nehmen würde. Götter genug; aber nie wahre Religion“ (Jerusalem, Betrachtungen [II. Teil, Bd. 1], 21). – Hier zeigt sich, dass selbst die sogenannte „natürliche Religion“ ohne göttliche Offenbarung nicht denkbar wäre (vgl. hierzu auch aaO., 2ff.), was Jerusalem auch philosophiehistorisch durch den Aufweis untermauert, dass die „wahre Philosophie von Gott […] erst vor achtzehn hundert Jahren“, also mit dem Auftreten Christi, ihren Anfang nimmt (aaO., 25; zur Kritik der antiken, vorchristlichen Philosophie vgl. aaO., 25–30). – Albrecht Beutel merkt hierzu an: „Die aufklärungstheologische Pointe dieser […] Konstruktion lag darin, daß Jerusalem die Unterscheidung von natürlicher und offenbarter Religion in den Versuch aufhob, alle Religion [präziser: alle wahre Religion; D.Z.] als Ausdruck der aus heilspädagogischen Gründen sukzessive erfolgten göttlichen Offenbarung zu verstehen“ (Beutel 2009, 120; Hervorh. i. O.). 284  Jerusalem, Betrachtungen (II. Teil, Bd. 1), 55. – Eigentlich lautet das Zitat wie folgt: Da die „Sinnlichkeit […] das Eigenthum der Menschheit bleiben wird; würde es nun hier nicht eine große Wohlthat seyn, […] wenn Gott in diesem Laufe der Fürsehung, nach der jedesmaligen Lage der Welt, wie es seine ewige Weisheit am besten erkennet, solche Veranstaltungen geordnet hätte, wodurch diese wichtige Erkenntniß von Zeit zu Zeit unterhalten, oder dergestalt gegen ihren gänzlichen Verfall gesichert würde, daß die Menschen, wo sie sie auch verloren, sie in ihrer Lauterkeit doch immer wieder finden könnten?“ Wenn wir in unserer Zitation jeweils im Indikativ wiedergeben, was bei Jerusalem im Konjunktiv steht, so geschieht dies im Vorgriff auf den im weiteren Verfolg der Betrachtungen noch erbrachten Erweis, dass es sich bei den hier bloß postulierten „Veranstaltungen“ tatsächlich um die biblisch bezeugte und durch Mose und Christus bereits geschehene Offenbarungsgeschichte handelt.

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Dieser langsame Gang ist der ganzen Oekonomie der Vorsehung gemäß […] Für uns Menschen, die wir nur einen Augenblick zu leben haben, und von allem die Wirkung schon sehen wollen, geht alles zu langsam; und daher so viele verkehrte Vorurtheile. Aber was uns hierinn Unvollkommenheit scheint, das ist nach dem ganzen System der Vorsehung größte Weisheit. Denn sie geht immer auf das Ganze […] Nichts wirket für sich allein; nichts läuft ganz ab, ein Rad fasset wieder ein anderes und wird Mittel zu neuen Zwecken. / Die Religion hat in diesem weisen und grossen System keinen besondern Gang für sich allein; sie geht, wie die andern Wissenschaften und Entdeckungen in der Natur, immer in Verbindung mit der Menschheit, nach deren Lage und in Verhältniß mit der allgemeinen Aufklärung der Vernunft fort; verbreitet immer so viel Licht und Kenntniß, als die Menschheit zu jeder Zeit fassen und annehmen kann, und geht in ihrer Erleuchtung fort, nach dem die Vernunft die höhern Lehren zu fassen bereitet ist. Ist Moses nun noch kein göttlicher Prophet, weil er die Lehre von der Unsterblichkeit der Seele in seinem Gesetze nicht gebraucht hat?285 Welche Vernunft also könnte derart „verblendet oder kühn genug“ sein, solche göttliche „Veranstaltung“, wodurch die religiöse Erkenntnis allgemein werden kann (und also „nicht mehr eine spekulativische Theorie bliebe“), als „die unschätzbare Wohlthätigkeit […] nicht erkennen zu wollen“?286 Vermag der Mensch aber allein durch die (wahre) Religion „zu seiner moralischen Bestimmung“ zu gelangen 287; führt allein sie „den Menschen zur Ueberwindung seiner unordentlichen Leidenschaften, zur Rechtschaffenheit und wahren Tugend“288, so müssen angesichts der Sinnlichkeit der menschlichen Natur gegen „die Tindals und die Voltären“ und „alle die leeren Köpfe […] auch in dem Laufe der Natur noch neue Offenbarungen – stehende [geschichtliche!] Offenbarungen“ – angenommen werden 289: Denn wo kein allerhöchstes und von der Welt unterschiednes moralisches Wesen, wo keine Schöpfung, wo keine weise Absicht bey dem Baue der Welt, keine alles beherrschende weise Vorsehung, und keine, über dieß Leben hinausgehende, höhere Bestimmung des Menschen bekannt ist, da ist auch unmöglich wahre Religion. Vielgötterey kann zu keiner moralischen Vollkommenheit führen, sie führt vielmehr immer weiter davon ab, und es ist kein Laster, was darin nicht seinen besondern Schutz, und noch neue Nahrung und Triebe fünde [sic!].290 Zusammenfassend lässt sich das Verhältnis von Vernunft und Offenbarung also dergestalt bestimmen, dass die Vernunft zwar „unveränderlich das Mittel“ bleibt, „wodurch die Menschen, zu ihrer moralischen Vollkommenheit kommen sollen“, dass solches aber unmöglich durch die Vernunft selbst geschehen kann. Vielmehr hat sie, unerachtet ihres Stolzes, „die größten Entdeckungen, denen die Welt ihre vorzüglichste Erleuchtung schuldig ist, nicht sich [selbst], sondern ganz unerwarteten zufälligen Veranlassungen zu danken“ – Veranlassungen, mit denen die Vernunft angesichts ihrer Kontingenz nicht rechnen 285  Jerusalem, Betrachtungen (II. Teil, Bd. 2), 839f. – Dass hier offenkundig Analogien zu Lessings Offenbarungskonzeption vorliegen, braucht wohl kaum eigens betont zu werden. 286   Vgl. Jerusalem, Betrachtungen (II. Teil, Bd. 1), 61ff. 287  AaO., 1. 288  AaO., 21. 289  AaO., 55f. – Zu Jerusalems Zurückweisung der deistischen Kritik einer mangelnden Universalität der geschichtlichen Offenbarung s. aaO., 64–73. 290  AaO., 21f.

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Dritter Teil: Gipfelschau

konnte, „ehe sie sich ihr in dem Laufe der Vorsehung darboten“.291 Solche „Veranlassung“ aber ist im Bereich der religiösen Erkenntnis die göttliche Offenbarung: „Eine Offenbarung ist überhaupt eine von Gott mitgetheilte Erkenntniß solcher Wahrheiten, worauf der Mensch durch seine eigene Einsicht entweder gar nicht, oder eben nicht zu der Zeit gekommen wäre, oder die er in dem Grade von Lichte nicht erhalten hätte.“292 In diesem Sinne resümiert Karl Aner: So stellte sich die Gesamtheit der religiösen Wahrheiten historisch betrachtet als Offenbarung dar, philosophisch betrachtet als Gegenstand der Vernunft. Die gesamte Religion ist offenbart und ist zugleich vernünftig. Jerusalems erleuchtete Vernunft steht nicht bloß schiedlich-friedlich neben der Offenbarung, sie umfaßt auch den Inhalt der Offenbarung. Aber nur die von der Offenbarung erleuchtete Vernunft.293 Die Frage der ersten Betrachtung –­ „Ob überhaupt ein ausserordentlicher göttlicher Unterricht von der Religion, oder eine Offenbarung mit der Weisheit Gottes bestehen könne“ – lässt sich demnach mit folgendem Fazit abschließend beantworten: Da also Gott aus höherer Absicht uns vorjetzt nur dieses geringere Maaß vernünftiger Fähigkeiten gegeben, und auch deren ihren Verfall zugelassen, so kommt es allein nur hierauf an, ob uns in diesem Zustande zu unsrer gegenwärtigen Moralität und Glückseligkeit eine Erkenntniß gewisser Wahrheiten wichtig seyn könne, die entweder jetzt noch ganz ausser der Sphäre unsrer Fähigkeiten liegen, oder die wir wenigstens mit der Deutlichkeit und Zuverläßigkeit nicht einsehen könnten, als wir es nach ihrer Wichtigkeit zu wünschen Ursache hätten. Es ist doch wohl nicht zu vermuthen, daß ein Mensch von einiger vernünftigen Empfindung dieses leugnen werde. So viel ist also unwidersprechlich, daß eine Offenbarung der Weisheit Gottes nicht entgegen sey. Dieß ist aber auch der Punkt, wo wir stehen bleiben müssen, wenn wir die Grenzen der Ehrerbietung, die wir einer unendlichen Weisheit schuldig sind, nicht überschreiten wollen.294 Mit anderen Worten: Die Betrachtung der jüdisch-christlichen, biblisch bezeugten Offenbarungsgeschichte eröffnet die Möglichkeit, „den eigentlichen“, in seiner Kontingenz aber unvorhersehbaren „Gang des Lichts zu bemerken, den die Vorsehung, bey dieser Erleuchtung der Welt, von dessen ersten Morgenröthe an, bis auf den Punkt wo es jetzo steht, gewählet hat“.295

Die Analogien zwischen Jerusalems – hier grob skizzierter – Konzeption und Lessings Deutung der Offenbarungsgeschichte als eines göttlich verantworteten Erziehungsgeschehens liegen unübersehbar zutage. Dabei ist an erster Stelle die beiderseitige Einsicht in die Geschichtlichkeit der Vernunft so291

 AaO., 75f.  AaO., 76f. – Zu Jerusalems Begründung der göttlichen Urheberschaft sowohl der Offenbarung als einer „unmittelbare[n] Würkung Gottes“ wie auch solcher „Veranlassungen“ „zu der fernern Erleuchtung der Vernunft“, die „in dem einmal geordneten Laufe der Natur“ liegen, s. aaO., 77ff. – Dass für uns die Bibel das Medium „diese[r] göttliche[n] Offenbarung“ ist, klingt hypothetisch am Schluss der ersten Betrachtung an (aaO., 86) und soll in den nachfolgenden Betrachtungen erwiesen werden. 293   Aner 1929, 193f. (Hervorh. i. O.). 294  Jerusalem, Betrachtungen (II. Teil, Bd. 1), 82f. 295  AaO., XI („Vorbericht“; vgl. hierzu insgesamt VIII–XII). 292

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wie – dadurch begründet – die Notwendigkeit geschichtlicher, sukzessive und nach einer bestimmten, pädagogischen Ordnung erfolgter Offenbarungen zu nennen; darüber hinaus (und en détail) die Annahme einer monotheistischen Uroffenbarung an die ersten Menschen sowie einer daraufhin eingetretenen Degeneration dieser ursprünglich reinen Idee zur Vielgötterei; schließlich die Deutung der jüdisch-christlichen Religions- bzw. Offenbarungsgeschichte als ‚heils­pädagogischer‘, göttlicher Veranstaltung zur allmählichen Aufklärung der menschlichen Vernunft.296 Angesichts der Evidenz genannter Analogien stellt sich freilich die naheliegende Frage, worin denn nun eigentlich der Unterschied zwischen der Lessingschen und der Jerusalemschen Konzeption präzise zu setzen sei? Oder anders gefragt: Ob Lessing – rechtbesehen – am Ende nicht selbst zur Zielscheibe seiner eigenen Neologie-Kritik wird? – Die Pointe (so sagten wir) von Lessings religionsphilosophischer Skizze besteht in der Wechselseitigkeit des Verhältnisses von Vernunft und Offenbarung. Entsprechend wichtig ist der abschließende Nebensatz des bereits zitierten Paragraphen 37: Das war der erste wechselseitige Dienst, den beide [sc. Vernunft und Offenbarung] einander leisteten; und dem Urheber beider ist ein solcher gegenseitiger Einfluß so wenig unanständig, daß ohne ihm [sc. den gegenseitigen Einfluss] eines von beiden überflüssig sein würde.

Lessing – gleichermaßen Vorkämpfer der Vernunft wie auch ihr entschiedener Kritiker297 – scheint also insbesondere eines verhindern zu wollen: eine Marginalisierung der Vernunft zugunsten der Offenbarung.298 Ließe sich das Verhältnis der beiden nicht als ein ‚wechselseitiges‘ erweisen; wäre eine von beiden der anderen in irgendeiner Form unterlegen und befände sich desfalls in irgend ge296   Vgl. zu den Stichworten monotheistische Uroffenbarung, polytheistische Abirrung und Offenbarung als heilspädagogische, göttliche Veranstaltung allein schon die §§ 6 und 7 der Erziehungsschrift: „§. 6. Wenn auch der erste Mensch mit einem Begriffe von einem Einigen Gotte sofort ausgestattet wurde: so konnte doch dieser mitgeteilte, und nicht erworbene Begriff, unmöglich lange in seiner Lauterkeit bestehen. Sobald ihn die sich selbst überlassene menschliche Vernunft zu bearbeiten anfing, zerlegte sie den Einzigen Unermeßlichen in mehrere Ermeßlichere, und gab jedem dieser Teile ein Merkzeichen. / §. 7. So entstand natürlicher Weise Vielgötterei und Abgötterei. Und wer weiß, wie viele Millionen Jahre sich die menschliche Vernunft noch in diesen Irrwegen würde herumgetrieben haben; ohngeachtet überall und zu allen Zeiten einzelne Menschen erkannten, daß es Irrwege waren: wenn es Gott nicht gefallen hätte, ihr durch einen neuen Stoß eine bessere Richtung zu geben“ (B 10, 76,3–18). 297   Bei Schilson drückt sich solche Ambivalenz in der Rede von „Ermächtigung und Entmächtigung der Vernunft“ aus (Schilson 1980, 35). 298   Diese Pointe mag angesichts der Lessingschen Neologie-Kritik in den Gegensätzen überraschen („Denn was ist eine Offenbarung, die nichts offenbaret?“ usf.). Indem die erleuchtete Vernunft eines Jerusalem aber in konstitutiver Weise auf die (noch in Zukunft) sie erleuchtende Offenbarung bezogen bleibt, ist es Lessing insbesondere um Aufklärung gerade dieses ungeklärten Verhältnisses (also nicht allein der Offenbarung zur Vernunft, sondern auch und gerade) der Vernunft zur Offenbarung zu tun.

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arteter, bleibender Abhängigkeit, so würde – nichts anderes besagt § 37 – „eines von beiden [sc. das Unterlegene, Abhängige] überflüssig sein“.299 Nun scheint aber gerade die von Jerusalem in seinen Betrachtungen entwickelte Konzeption ein derart einseitiges Abhängigkeitsverhältnis vorauszusetzen: Wenn nämlich die Menschheit aufgrund ihrer sinnlichen Natur noch jetzt und in Zukunft eine gewisse Abneigung gegen alle reine Vernunft- (und darin vornehmlich inbegriffen: alle Religions-) Wahrheit verspüren wird, so ist sie (eingedenk dieser spezifischen Konstitution) bleibend auf Offenbarung angewiesen; bleibend auch aufgrund der allzeit gegebenen Möglichkeit des Vergessens: Der Mensch kann vergessen; er muß in gewisser [sic!] Maaße vergessen können. Die lebhaftesten Empfindungen, die deutlichsten, die wichtigsten Wahrheiten können, wo sie nicht beständig unterhalten werden, sich verlieren, sich stuffenweise so verlieren, daß es so gut ist, als wenn die Vernunft diese Wahrheiten nie gekannt hätte. Und dieser allmälige Verfall ist bey ganzen Völkern so möglich, als bey einzelnen Menschen.300

Gerade hier also kommt dann die geschichtliche Offenbarung als eine solche (dauerhaft notwendige) göttliche ‚Veranstaltung‘ ins Spiel, wodurch die wichtige [Religions-] Erkenntniß von Zeit zu Zeit unterhalten, oder dergestalt gegen ihren gänzlichen Verfall gesichert würde, daß die Menschen, wo sie sie auch verloren, sie in ihrer Lauterkeit doch immer wieder finden könnten.301

Behalten wir uns dieses im Hinterkopf, wenn wir nun in der Analyse der Erziehungsschrift fortfahren. Für Lessing lässt sich die Dynamik im Verhältnis von Vernunft und Offenbarung bildlich ausdrücken: Die Offenbarungswahrheiten sind, so heißt es in § 76 seiner Erziehungsschrift, gleichsam das Facit, welches der Rechenmeister seinen Schülern voraus sagt, damit sie sich im Rechnen einigermaßen darnach richten können. Wollten sich die Schüler an dem voraus gesagten Facit begnügen: so würden sie nie rechnen lernen, und die Absicht, in welcher der gute Meister ihnen bei ihrer Arbeit einen Leitfaden gab, schlecht erfüllen.302 299   Präzise beschreibt Ingrid Strohschneider-Kohrs das hier thematisierte Verhältnis von Vernunft und Offenbarung: „Die hier genannten Begriffe: ‚wechselseitiger Dienst‘ und ‚gegenseitiger Einfluss‘ lassen die Vorstellung einer intern sich vollziehenden Zuordnung entstehen, in der beide: Vernunft und Offenbarung, notwendig aufeinander angewiesen, gleichsam in actu miteinander wirksam werden. Und zwar in einer Weise der Zuordnung, in der beide als konstitutive Elemente von gleichem Anteil und Wirkungsgrad zu denken sind, – ohne dass ihre Differenz aufgehoben, geschmälert oder negiert wäre. Sie sind, wie ich es nennen möchte, als eine – oder in einer diese Differenz bewahrend-einschließenden Synthese zu denken“ (Strohschneider-Kohrs 2009, 37; Hervorh. i. O.). 300  Jerusalem, Betrachtungen (II. Teil, Bd. 1), 54. 301  AaO., 55. 302   B 10, 94,29–35. – Die Offenbarung wird also „immer auf das Denken bezogen, nirgends auf den ‚Glauben‘“ (Fick 2016, 392; vgl. außerdem Jacobs 1998, 172). Statt ihrer „funktionale[n] Subordination“ unter die Vernunft (vgl. Dörr 1994, 33) ist es uns im Folgenden aber

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Wenn Gott – als „der gute Meister“303 – hier der Vernunft etwas voraussagt, so geschieht dies nicht etwa in der Meinung: Vogel, friss oder stirb! (Orthodoxie); auch geht es ihm nicht darum, der Vernunft lediglich etwas mitzuteilen, was sie dann – als bloß Gewusstes – früher oder später wieder vergessen wird (so etwa die Neologie in Gestalt Jerusalems); sondern: Die Vernunft soll selber rechnen lernen. Sie soll das vorausgesagte „Facit“, sie soll die geoffenbarte Wahrheit nicht nur – gleich einer Verordnung – annehmen, nicht nur – als ein Mitgeteiltes – wissen: Sie soll diese Wahrheit aus sich selbst heraus generieren und damit unverlierbar besitzen können304: Man wende nicht ein, daß dergleichen Vernünfteleien über die Geheimnisse der Religion untersagt sind. – Das Wort Geheimnis bedeutete, in den ersten Zeiten des Christentums, ganz etwas anders, als wir itzt darunter verstehn[305]; und die Ausbildung geoffenbarter Wahrheiten in Vernunftswahrheiten [sic!] ist schlechterdings notwendig, wenn dem menschlichen Geschlechte damit geholfen sein soll. Als sie geoffenbaret wurden, waren sie freilich noch keine Vernunftswahrheiten; aber sie wurden geoffenbaret, um es zu werden.306

Das gleichsam paradoxe Ziel der Offenbarung besteht also darin, sich selbst entbehrlich zu machen.307 Dies geschieht durch „die Ausbildung geoffenbarter Wahrheiten in Vernunftswahrheiten“, sprich – wie Lessing es in § 72 formuliert –, indem die Vernunft auch die geoffenbarten Wahrheiten „aus ihren andern ausgemachten Wahrheiten herleiten und mit ihnen verbinden“ lernt.308 Kurzum: um ihre (funktionale) Hinordnung auf die Vernunft zu tun. – Obwohl hier also durchaus ein „Dualismus der Erkenntnisquellen“ vorliegt, erscheint Thielickes Rede von der Konkurrenz zwischen Vernunft und Offenbarung gleichwohl als problematisch (vgl. Thielicke 1967, 64f.). – In unserem Sinne bspw. Schilson: „Vernunft und Offenbarung sind in ihrem Ursprung gleicherweise von Gott geschaffen, jedoch nicht gegeneinander, sondern füreinander; wo beide nicht mehr im Dienste wechselseitiger Erhellung und so eines allmählichen Fortschreitens zu völliger Aufklärung gesehen werden, wird ihre Doppelheit absurd (Schilson 1974, 120). 303   Die Rede vom ‚guten Meister‘ ist an dieser Stelle gewiss nicht zufällig gewählt (vgl. Mk 10,17 par Lk 18,18). 304   Hier zeigt sich wieder Lessings Verständnis der Offenbarung als einer Illumination (vs. autoritative Manifestation). S. hierzu die entsprechenden Ausführungen o. in Kap. I. 2.2.2 u. Exkurs 1. Freilich hat Lessing seine damals noch ungeschichtliche Perspektive zwischenzeitlich revidiert. 305   Lessing scheint hier – allerdings im Rahmen seiner spezifisch geschichtlichen Konzeption – an Überlegungen anzuknüpfen, wie sie sich klassisch bei John Toland (1670–1722) ausgeführt finden. Vgl. etwa dessen Ausführungen zu Geschichte und Bedeutung des Myste­ rienbegriffs in den Schriften der paganen Antike in: John Toland, Christianity not myster­ ious/Christentum ohne Geheimnis (1696), 95–98 (III. 1. §§ 2–7). 306   B 10, 94,20–29 (§ 76). 307   Im Bilde gesprochen ist das „Erziehungsverhältnis zwischen Lehrer und Schüler“ also „dazu bestimmt, sich aufzulösen. Der Pädagoge setzt eine transitorische Abhängigkeit. Er wirkt in der Absicht, den Zögling daraus zu erheben […] Er ist nur erfolgreich, wenn er zu nichts mehr gut ist“ (Timm 1974, 90; vgl. außerdem Dörr 1994, 48). 308   B 10, 93,1f. – Damit folgt Lessing im Blick auf die geoffenbarten Wahrheiten (resp. Glaubensmysterien) exakt dem Leibnizschen Verständnis von Vernunft und Übervernünftig-

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Die Erziehung des Menschengeschlechts hat erst dort ihr Ziel erreicht, wo alle Wahrheit offenbarungsunabhängige Vernunftwahrheit (geworden) ist. Dabei unterscheidet Lessing – und hierin drückt sich wieder die Wechselseitigkeit des Verhältnisses von Vernunft und Offenbarung aus – im Blick auf diese Zielvision zweierlei Arten von Vernunftwahrheit: Die eine Klasse wird durch „bloße Vernunftswahrheiten“309 gebildet. Gemeint sind solche Wahrheiten, welche die Vernunft auch ohne vorausgehende Offenbarung, d.h. von selbst aus ihren ausgemachten Wahrheiten herleiten kann (bzw. herleiten hätte können). Nach § 70 ist hierunter etwa die „Lehre von der Einheit Gottes“ zu rechnen, die – ihrer ‚bloßen‘ Vernünftigkeit ungeachtet – Gott gleichwohl dem ‚Israelitischen Volke‘ „unmittelbar [ge]offenbaret“ hat (§§ 8–15). – Die andere Klasse wird durch die notwendig geoffenbarten Vernunftwahrheiten konstituiert. Hierbei handelt es sich um solche Wahrheiten, welche die Vernunft – sobald sie ihr Ziel, nämlich ihre ‚völlige Aufklärung‘310, (dereinst einmal) erreicht haben wird – zwar „aus ihren andern ausgemachten Wahrheiten herleiten und mit ihnen verbinden“, d.i. aus sich selbst heraus generieren kann, auf die sie aber gleichwohl „von selbst nimmermehr gekommen wäre“.311 In diesem Zusammenhang nennt Lessing die von der Aufklärungstheologie weithin preisgegebenen Lehren „von der Dreieinigkeit“ (§ 73), „von der Erbsünde“ (§ 74) und „von der Genugtuung des Sohnes“ (§ 75)312 – Wahrheiten also, durch welche der Mensch „auf nähere und bessere keit: Wenn man nämlich – so Leibniz – „unter Vernunft hier die Verkettung der Wahrheiten zu verstehen hat, die wir durch das lumen naturale erkennen“, so übersteigen die Mysterien unsere Vernunft gerade darin, dass sie „Wahrheiten [enthalten], die in diese Verkettung nicht einbegriffen sind“ (Leibniz, „Einleitende Abhandlung“, 74 [§ 63; Hervorh. i. O.]). Anders als für Leibniz ist für Lessing das Verhältnis von Vernünftigkeit und Übervernünftigkeit freilich ein dynamisches. 309   B 10, 92,15ff. – Dabei wird das Adjektiv ‚bloß‘ durch die Partikel „auch“ noch zusätzlich akzentuiert: „[…] daß Gott auch bloße Vernunftswahrheiten unmittelbar offenbaret […]“. 310   B 10, 95,28f. (§ 80). 311   B 10, 95,7f. (§ 77). – Paragraph 77 handelt also „in aller Klarheit von einer Limitation, von der Grenze des Vernunftvermögens […]. Und es muß kaum noch betont werden, daß dieser Gedanke von den der Vernunft gesetzten Grenzen – generell zumindest in den Spätschriften – zu den Gravamina in Lessings Verständnis und Deutung der Religionsproblematik, zu seinen religionsphilosophisch essentiellen Intentionen gehört“ (Strohschneider-Kohrs 2011, 170). 312   Freilich belässt es Lessing nicht bei einer bloßen Erwähnung dieser Beispiele, vielmehr versucht er sich an Ort und Stelle selbst an ihrer ‚Ausbildung in Vernunftwahrheiten‘. In diesem Zusammenhang weist Strohschneider-Kohrs auf die „konjunktivisch-hypothetische[] Frageform“ der Lessingschen Transformierungsversuche hin („Wie, wenn […]?“) und setzt dazu folgende Kommentierung: „Das sind ganz offenkundig Möglichkeits-Erwägungen; und es ist unverkennbar, dass sie einem noch anhaltenden, zur Zeit noch unabgeschlossenen Prozess möglichen Erlernens und begreifend-vernünftigen Verstehens gelten“ (Strohschneider-Kohrs 2009, 40). – Zur philosophischen Reformulierung der Trinitätslehre s. auch obiges Kap. III. zu Lessings Christentum der Vernunft. – Lessings „spekulative Deutung der christlichen Lehre von der Dreieinigkeit Gottes“ jedoch so zu akzentuieren, dass sie „auf

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Begriffe vom göttlichen Wesen, von unserer Natur, von unsern Verhältnissen zu Gott, geleitet“ wird.313 Der an dieser Stelle hin und wieder unternommene Versuch, das „nimmermehr“ in § 77 im Blick auf seine Endgültigkeit zu bestreiten 314, vermag angesichts korrespondierender Aussagen in § 21 nicht recht zu überzeugen: §. 20. Während daß Gott sein erwähltes Volk durch alle Staffeln einer kindischen Erziehung führte: waren die andern Völker des Erdbodens bei dem Lichte der Vernunft ihren Weg fortgegangen. Die meisten derselben waren weit hinter dem erwählten Volke zurückgeblieben: nur einige waren ihm zuvorgekommen. Und auch das geschieht bei Kindern, die man für sich aufwachsen läßt; viele bleiben ganz roh; einige bilden sich zum Erstaunen selbst. §. 21. Wie aber diese glücklichern Einige nichts gegen den Nutzen und die Notwendigkeit der Erziehung beweisen: so beweisen die wenigen heidnischen, die selbst in der Erkenntnis Gottes vor dem erwählten Volke noch bis itzt einen Vorsprung zu haben schienen, nichts gegen die Offenbarung. Das Kind der Erziehung fängt mit langsamen aber sichern Schritten an; es holt manches glücklicher organisierte Kind der Natur spät ein; aber es holt es doch ein, und ist alsdann nie wieder von ihm einzuholen.315 eine pantheistische Umdeutung des Christentums hinausläuft“ (vgl. Hofmann 2010, 109f.), erscheint indes fraglich und mutet eher als Eisegese denn als Exegese an (kritisch hierzu auch Sparn 2018, 102f.). Überhaupt betrifft der 73er-Paragraph doch eigentlich das immanente Gottesverhältnis (vgl. v. Lüpke 1989, 167), und eben nicht Gottes nach außen gerichtetes Wirken, wie bspw. die Erschaffung der Welt. Letzteres gilt umso mehr, als im Christentum der Vernunft der „Sohn Gott“ und die Welt ja keineswegs miteinander identifiziert werden oder Eines sind! – Auch Sparn scheint mit seinem Hinweis, Lessing habe „seine Trinitätsvorstellung nicht mit seinem leitenden Begriff der Vorsehung des göttlichen Erziehers verbunden“ (Sparn 2018, 103), § 73 auf das immanente Gottesverhältnis hin zu deuten. Hierzu passt auch die Feststellung, dass Lessing bei Übernahme der joachitischen „These der drei Weltalter“ (§§ 87–90) nicht zugleich auch deren „Benennungen (Zeitalter des Vaters, des Sohnes, des Geistes)“ übernimmt (aaO., 110). – Freilich hat die spinozistische Interpretation des § 73 eine lange Tradition, die bis ins 18. Jahrhundert zu Jacobi zurückreicht – was allein ihre Plausibilität indes noch nicht erhöht (vgl. Friedrich Heinrich Jacobi, Über die Lehre des Spinoza in Briefen an den Herrn Moses Mendelssohn [1785], 45f.). – Zur These einer „doppelseitige[n] Haltung Lessings“ hinsichtlich der Frage nach Persönlichkeit oder Entpersonalisierung Gottes vgl. Kondylis 2002, 612f. 313   B 10, 95,4ff. (§ 77). – In einer gewissen (wenngleich sehr begrenzten) Weise ergeben sich hier also Analogien zur orthodoxen Unterscheidung von den articulis puris et mixtis (s. Exkurs 5). 314   Vgl. u.a. Eibl 1984; Dörr 1994, 40; Dörr 2010, 17f.; Vollhardt 2006a, 391f. – Im Gegensatz hierzu schlägt Ingrid Strohschneider-Kohrs vor, das Wort „nimmermehr“ schlicht im Sinne von „gewiss nicht“ zu verstehen (vgl. Strohschneider-Kohrs 2011, 171). 315   B 10, 79,7–25 (Hervorh. D.Z.). – Im Blick auf Allisons (wie auch Nisbets und Ficks) immanentes Offenbarungsverständnis (s.u. Anm. 345) wäre freilich zu fragen, ob (und wenn ja, inwiefern) sich Lessings explizite Unterscheidung vom „Kind der Erziehung“ und vom „Kind der Natur“ überhaupt darin integrieren ließe (s. hierzu auch die entsprechende Kritik bei Wessell 1977, 186f.).

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Obgleich das philosophische System der bloßen Vernunftwahrheiten weit entwickelt werden kann – und zwar so weit, dass manch „glücklicher organisierte Kind der Natur“ erst spät einzuholen ist –, so gilt das „Kind der Erziehung“ gleichwohl ab einem gewissen Punkt als uneinholbar: Es erreicht mithilfe der Offenbarung Höhen, die auch dem ‚glücklicher organisierten Kinde der Natur‘ für alle Zeit (und Ewigkeit)316 unerreichbar blieben.317 Während also die Offenbarung im Blick auf die bloßen Vernunftwahrheiten lediglich als Katalysator wirkt – so bedeutet etwa die alttestamentlich bezeugte Offenbarung von der Einzigkeit Gottes an die Juden einen ‚Richtungsstoß‘, der („wer weiß, wie viele Millionen Jahre“ eher) die menschliche Vernunft von ihren polytheistischen und abergläubischen Abirrungen wieder auf Kurs zu bringen vermochte (§ 7)318 –, fungiert sie hinsichtlich des Ziels der Erziehung – das Erreichen der „völligen Aufklärung“ der Vernunft – als conditio sine qua non.319

Ist die Unverzichtbarkeit320 der Offenbarung für die Vernunftentwicklung damit erwiesen, so gilt es nun noch die Rolle der Vernunft in diesem ‚wechselseitigen‘ Verhältnis genauer zu beleuchten. Wir haben gesehen, dass es Lessing von Anfang an um Überzeugung zu tun ist, um das Erlangen echter: absoluter Wahrheitsgewissheit. Und wir haben ferner gesehen, dass für Lessing der Verweis auf die Glaubwürdigkeit des biblischen Traditionszusammenhangs und das innere Zeugnis des Heiligen Geistes nicht (mehr) hinreicht, um solche Gewissheit zu begründen. Kurzum: Was der Gläubige in seiner Glaubensüberzeu316

  Stichwort: „nie wieder“.   Hierzu heißt es bei Thielicke treffend: „Damit ist also eine entscheidende obere Grenze angedeutet, die von der natürlich sich entfaltenden Vernunft grundsätzlich nicht überschritten werden kann, während sie von den transzendenten Offenbarungsakten ebenso grundsätzlich überwunden wird. Darin aber tritt der jenseitige, dem natürlichen Vermögen prinzipiell entrückte Bereich göttlicher Erziehung besonders eindringlich hervor“ (Thielicke 1967, 91; Hervorh. i. O.). 318  § 21 spricht hier von „Nutzen“. 319  § 21 spricht hier von „Notwendigkeit“. – Angesichts dessen vermag Nisbets Deutung, für Lessing gehe „die Offenbarung auf natürliche Weise aus den noch dunklen Empfindungen außergewöhnlicher Menschen“ hervor, nicht recht zu überzeugen (vgl. Nisbet 2008, 751f.; s.  auch den Einwand Strohschneider-Kohrs’ gegen Fick [Strohschneider-Kohrs 2011, 168 Anm. 48] sowie grundlegend Thielicke 1967, 90f.) – zumal Nisbet seine Interpretation mit einem Textausschnitt aus den Gegensätzen belegen zu können vermeint, der sich auf die Wahrheiten des Alten Testaments und also auf zwar unmittelbar geoffenbarte, indes aber bloße Vernunftwahrheiten bezieht (s. zu dieser unserer Kritik ausführlicher die untenstehenden Darlegungen in Anm. 345). 320   Schon in Novalis’ Fragmenten und Studien findet sich hinsichtlich des Verhältnisses von Vernunft und Offenbarung in Lessings Erziehungsschrift die Rede von „gegenseitige[r] Necessitation“ (vgl. Novalis, Schriften. Die Werke Friedrich von Hardenbergs, Bd. 3, 669); dieser Hinweis findet sich bei Strohschneider-Kohrs 2009, 58 Anm. 54. – Dabei kann mithilfe der von Thielicke eingebrachten Differenzierung zwischen Aktvollzug und Aktinhalt mancher Missverstand vermieden werden. Demnach kommt der Offenbarung im Sinne eines transzendent vollzogenen Aktes für die Vernunftentwicklung (hin zu ihrer „völligen Aufklärung“) absolute Notwendigkeit zu, während ihr Inhalt – die Offenbarungswahrheit – im Rahmen der Akkomodationsvorstellung lediglich relative Wahrheit besitzt (vgl. Thielicke 1967, 59f.). 317

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gung gleichsam intuitiv, nämlich ‚gefühlsmäßig‘ erfasst – die „innere Wahrheit“ der Religion –, muss nun auch expliziert werden können, indem der vernünftige Kern des geschichtlich Geoffenbarten herausgeschält und die darin enthaltene Wahrheit philosophisch deduziert wird. Hier also kommt die Vernunft ins Spiel: Während für all die Lüdkes und Jerusalems die christliche Religion – in ihrer lauteren, von dogmatischer Überformung gereinigten Gestalt – selber in höchstem Maße vernünftig ist oder, polemisch gesprochen, neuerdings „Glaube […] durch Wunder und Zeichen bekräftigte Vernunft, und Vernunft raisonnierender Glaube geworden“, ja die „ganze geoffenbarte Religion […] nichts, als eine erneuerte Sanction der Religion der Vernunft“ ist, stellt für Lessing die geoffenbarte Wahrheit – eingedenk ihrer Geschichtlichkeit – an sich noch kein Vernünftiges dar; ist sie – als historisch gesprochenes Wort – bloß „Vehiculum des prophetischen Wortes“321; gilt es – um ihrer ‚inneren Wahrheit‘ willen – sie allererst als Vernunftwahrheit zu generieren. Das heißt: Die Vernunft ‚erhellt‘ die Offenbarung (oder präziser: die geoffenbarte Wahrheit), indem sie deren „auf Zeugnisse und Erfahrungssätze“ gegründeten Beweise aus sich selbst heraus durch solche ersetzt, „die aus der Natur der Dinge fließen“322, und dadurch die „innere Wahrheit“ des Geoffenbarten in seiner unverdeckten Leuchtkraft freilegt. Indem sie solches tut, indem sie diesen „Dienst“ an der Offenbarung leistet, werden nun nicht allein die geoffenbarten Lehren um ihrer selbst willen annehmbar; es werden auch die teilweise noch ungenügenden Begriffe der positiven Religion „erweitert, veredelt, berichtiget“ (§ 34).323 Der „wechselseitige Dienst“, den Vernunft und Offenbarung einander leisten, ist in komprimierter Form also folgenderweise zu beschreiben: Die Offenbarung ‚leitet‘ die Vernunft und teilt ihr dabei auch solche Begriffe mit, „auf welche die menschliche Vernunft von selbst nimmermehr gekommen wäre“.324 Die Vernunft wiederum befreit die ihr mitgeteilten Begriffe und Wahrheiten aus deren ‚Zufälligkeit‘ und Kontingenz, in welche die Offenbarungsgeschehen 321

 S. obiges Zitat bei Anm. 256.  S. obiges Zitat bei Anm. 157 sowie die Explikation dieses Arguments in Lessings Über den Beweis des Geistes und der Kraft (Kap. VII. 4.). 323   Entsprechend lesen wir in § 14, dass der mitgeteilte ‚Begriff des Einigen‘ noch weit „unter dem wahren transcendentalen Begriffe des Einigen“ war, „welchen die Vernunft so spät erst aus dem Begriffe des Unendlichen mit Sicherheit schließen lernen“ (B 10, 77,23–26). – Dabei bleibt auch hier, in solcher vom Menschen (bzw. seiner Vernunft) scheinbar in Eigenregie vollzogenen Veredelung seiner Begriffe, Gott Regisseur des Geschehens: „Doch nun war die Zeit da, daß diese seine Begriffe erweitert, veredelt, berichtiget werden sollten, wozu sich Gott eines ganz natürlichen Mittels bediente […]“ (§ 34). 324   „Damit ist die Dynamik der geschichtlichen Bewegung paradoxerweise in jenem Element verankert, das für einen breiten Strom besonders der französischen und englischen Aufklärung den Fortschritt der Geschichte zu hemmen schien: in der christlichen Offenbarung oder Religion. Diese wird von Lessing als Motor geschichtlichen Fortschritts gedeutet“ (Schilson 1974, 159). 322

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Dritter Teil: Gipfelschau

als bloß historische Ereignisse notwendig gefangen sind, und verleiht ihnen so allererst Gewissheit 325 , bringt sie so allererst zum Leuchten.326

5.3 Nicht orthodox, nicht Neologe oder Die Aufhebung des (positiven) Christentums im ‚dritten Zeitalter‘ Wir sind nun in der Lage, Lessings religionsphilosophische Position präzise – und das heißt: in ihrem Unterschied zu Orthodoxie, Neologie und Deismus – bestimmen zu können. Gegenüber der Orthodoxie bestreitet Lessing den Primat der als bleibend übervernünftig geglaubten geschichtlich-kontingenten, biblischen Offenbarung und dessen systematische – nach seinem Dafürhalten noch von Leibniz geteilte327 – erkenntnistheoretische Voraus­ setzung: „daß das einzige Buch, welches, im eigentlichen Verstande, für die Wahrheit der Bibel, jemals geschrieben worden, und geschrieben werden könne, kein anderes als die Bibel selbst sei“.328 – Im Blick auf den Deis325

 Anders, doch u.E. nicht überzeugend Thielicke 1967, 114–118.  Demnach ist im Blick auf den Religionsbegriff des Entstehungs-Fragments (s.o. Kap. V.) zu konstatieren, dass die dort „noch implizierte Opposition von Vernunft und Offenbarung“ in der Erziehungsschrift definitiv überwunden ist (vgl. Sparn 2018, 73f.). – Die Wechselseitigkeit des Verhältnisses von Vernunft und Offenbarung scheint auch der Schlüssel für das Verständnis der §§ 64f. zu sein (B 10, 91,6–16). Dort heißt es hinsichtlich der „Neutestamentlichen Schriften“ als des „zweite[n] beßre[n] Elementarbuch[s] für das Menschengeschlecht“: „Sie haben seit siebzehnhundert Jahren den menschlichen Verstand mehr als alle andere Bücher beschäftiget; mehr als alle andere Bücher erleuchtet, sollte es auch nur das Licht sein, welches der menschliche Verstand selbst hineintrug.“ Gemeint ist freilich nicht, dass die menschliche Vernunft lediglich ihre eigenen, vorgängigen Erkenntnisse und Wahrheiten in die Bibel hineingedeutet (sie also gleichsam eisegesiert) hätte. Und doch vermag nur die Vernunft, die biblisch geoffenbarte Wahrheit zum Leuchten zu bringen: Erst die Transformation in eine Vernunftwahrheit enthebt den Offenbarungsgehalt seiner geschichtlichen Kontingenz; und erst als Vernunftwahrheiten besitzen die zunächst nur ‚mitgeteilten‘ Begriffe auch das Potenzial, wahrhaft handlungsbestimmend zu werden (vgl. §§ 76–80). – In diese Richtung deutet auch Sparn 2018, 99f.; s. hierzu außerdem die von Bultmann aus den Axiomata abgeleitete „Regel“ für „die exegetische […] Praxis […], dass die ‚innere Wahrheit‘ ‚die Probe der hermeneutischen‘ sein müsse“: Demgemäß werde der Exeget zwar „auf die Religionsphilosophie verwiesen“, habe „als Religionsphilosoph“ aber keineswegs etwa „vor der Lektüre des Textes die richtige Vorstellung von der inneren Wahrheit der Religion“, sondern gewinne diese allererst „bei der Lektüre des Textes“ (Bultmann 2011, 250). 327   Vgl. die entsprechende Aussage Lessings im Andreas Wissowatius (B 7, 579,34–580,4). 328   B 7, 579,37–580,4 (Hervorh. i. O.). – Pointiert heißt es bei Schultze: „In dem völligen Verzicht auf die konstitutive Bedeutung des Geschichtsbezuges des Glaubens steht Lessing in einem nicht mehr überbrückbaren Gegensatz zu aller Orthodoxie“ (Schultze 1969, 90). Dieser Gegensatz liegt also offen zutage. Wenn Lessing dennoch „die alte orthodoxe (im Grunde tolerante) Theologie, der neuern (im Grunde intoleranten) vorzieh[t]“, so tut er dies deshalb, „weil jene mit dem gesunden Menschenverstande offenbar streitet, und diese ihn lieber bestechen möchte. Ich vertrage mich mit meinen offenbaren Feinden, um gegen meine heimlichen desto besser auf meiner Hut sein zu können“ (Brief Nr. 1257 [An Karl Lessing; 20. Mrz. 1777], in: B 12, 51f. Hier: 51,33–52,4; Hervorh. i. O.). 326

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mus revidiert er dessen ungeschichtliche Perspektive und kritisiert die dadurch bedingte (freilich naive und unkritisch vollzogene) Verabsolutierung der menschlichen Vernunft. – So weit, so klar. – Betrachten wir indes die von Lessing vornehmlich attackierte Neologie, so sind die Differenzen von ungleich sublimerer Art 329; gleichwohl aber lassen auch sie sich in genügender Deutlichkeit darlegen: Während die menschliche Vernunft nach neologischem – sowohl geschichtlich begründetem (Jerusalem) wie auch ungeschichtlich argumentierendem (Lüdke) – Verständnis im (freilich ‚geläuterten‘ und entdogmatisierten) Christentum ihr Ziel und ihre Bestimmung erreicht330, bildet die christliche Religion (nun unter Beibehaltung gerade ihrer zentralen Dogmen) für Lessing – eingedenk ihrer Positivität und Geschichtlichkeit – lediglich die letzte Stufe vor Erreichen des Ziels331: Auf die Offenbarungen des Judentums und des Christentums folgt – in Anlehnung an die ‚Schwärmereien‘ eines Joachim von Fiore (um 1130/35–1202)332 – als das dritte Weltzeitalter „die Zeit 329   In diesem Sinne wird in der Forschung immer wieder die Frage gestellt, worin denn nun eigentlich der Unterschied zwischen Lessing und der Neologie präzise zu setzen sei? Vgl. u.a. Dörr 2010, 17; Fick 2016, 392. 330   Gerade hier aber ist mit Lessing der „Fehlansatz“ der Neologie zu lokalisieren: Dass sie mit dem Christentum „eine positive Religion zu rational erweisbarer Absolutheit“ meint erheben zu können, wo doch „keine der positiven Religionen einen Absolutheitsanspruch vernünftig begründen“ kann (Schultze 1969, 73). – Passend zum oben beschriebenen Problem neologischer Intoleranz formuliert Schulze weiter: „Indem aber die Evidenz des Absolutheitsanspruchs einer positiven Religion unmöglich geworden ist, ist zugleich das innere Recht religiöser Intoleranz aufgehoben. Geschichtswahrheiten können keinerlei Zwangsmaßnahmen gegen Andersdenkende rechtfertigen.“ Schultze spricht hier vom „negativen Toleranzmotiv, das auf der Nichtigkeit der Absolutheitsfrage im geschichtlichen Bereich beruht“ (aaO., 74f.). 331   Dies hebt auch Ursula Goldenbaum hervor: Lessings „Fingerzeig ist aber in gar keiner Weise vereinbar mit der oben beschriebenen protestantischen Geschichtsphilosophie [sc. eines Thomas Abbts, eines Herders oder Semlers], die allein dem Christentum eine dynamische und unendliche Entwicklung zur reinen Moralität zuspricht, weshalb alle Menschen am Ende der Zeit Christen werden müssten“. Vielmehr ist „auch das Christentum in der Erziehungsschrift Lessings nur eine Stufe zur reinen Moralität des ewigen Evangeliums […] Dieses Evangelium der Vernunft ist aber nichts anderes als der Gebrauch der allen Menschen gegebenen Vernunft, die zu einer rationalen Moral führen mußte (§ 86). Es war diese Volte, die Lessing in direkter Opposition zu Semler [und die neologische Theologie insgesamt] schlug, für den ja das Christentum allein unendlicher Entwicklung zur reinen Moralität fähig war, das also höchste Form der Religion blieb bis zum Ende aller Tage“ (Goldenbaum 2012, 248ff.). – Dass Lessing (im Blick auf das Erreichen der Bestimmung des Menschen) neologisches Denken auf eine Zukunftsvision hin transzendiert, bestätigen auch die Ergebnisse einer von Barbara Mahlmann-Bauer angestellten Untersuchung. Demnach behalte Lessing die „Kompetenz ethischer Autonomie“ im Unterschied zu Johann Joachim Spalding (1714–1804) „einem künftigen Zeitalter der Vernunft“ vor: „In Die Erziehung des Menschengeschlechts projiziert Lessing […] die von Spalding vorausgesetzte Anthropologie […] in die Zukunft“ (vgl. Mahlmann-Bauer 2011, 69–72). 332  Vgl. §§ 87f. – Zu Lessings Anspielung auf Joachim von Fiore vgl. Vollhardt 2011. – Zu Lessings Verbindung der joachitischen Lehre vom Dritten Geist-Reich mit der orige-

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Dritter Teil: Gipfelschau

eines neuen ewigen Evangeliums, die uns selbst in den Elementarbüchern des Neuen Bundes versprochen wird“.333 Gemeint ist das noch ausstehende Zeitalter der „völligen Aufklärung“ sowie – in Entsprechung zu Lessings ganzheitlichem Vernunftbegriff334 – derjenigen „Reinigkeit des Herzens […], die uns, die Tugend um ihrer selbst willen zu lieben, fähig macht“.335 Dort wird „der nistischen Apokatastasis-Lehre sowie zum origenistischen Hintergrund der Lessingschen Eschatologie überhaupt vgl. Schmidt-Biggemann 2011. 333   B 10, 96,31ff. (§ 86; Hervorh. i. O.). – Vgl. Apk 14,6. – Angesichts dieser letztlichen Überwindung der positiven Religionen spricht Thaidigsmann treffend sowohl von ihrer ‚Relativierung‘ als auch von ihrer ‚Rechtfertigung‘ (vgl. Thaidigsmann 2016, 262; vgl. auch Allison 2018, 138). Lessing wird also auch in seiner ‚Rettung‘ der positiven Religionen noch seinem ureigensten „Denkbedürfnis“ gerecht, „alles als absolut Hingestellte[]“ zu relativieren (vgl. Schneider 1953, 227). – Zur berechtigten Frage, wie sich die Entwicklungsperspektive der Erziehungsschrift, sprich die hier vollzogene Hierarchisierung von Judentum und Christentum, zur ganz anderen Sichtweise ihrer Parallelität im Nathan verhält, vgl. die luziden Ausführungen bei Kondylis 2002, 609f. Vielleicht liegt die Antwort ja schlicht darin, dass Lessing die hier konstatierte Relativierung der positiven Religionen im Nathan – als im Kontext sich widerstreitender Absolutheitsansprüche – noch einmal schärfer betont. 334  S. bereits die frühen Äußerungen im Herrnhuter-Essay zur notwendigen Lebendigkeit der wahren Religion (o. Kap. I. 2.2.2) sowie die Darlegungen von Lüpkes, dass nach Lessing erst der Fortschritt des Begriffs die Fortentwicklung des Ethos ermöglicht (vgl. v. Lüpke 1989, 162ff.). 335   B 10, 95,28–31 (§ 80). – Zu dieser Zielvision Lessings schreibt Ernst Cassirer: „Vor dem Lichte dieser Zukunft verblaßt ihm [sc. Lessing] der Glanz des lumen supranaturale der Offenbarung, wie des lumen naturale, auf das sich die Philosophie der Aufklärung berief“ (Cassirer 1929, 34). Dem entspricht der ‚dreigestufte Religionsbegriff‘, wie ihn Daniel Cyranka in Bezug auf die Erziehungsschrift konstatiert: natürlich – positiv – vernünftig (vgl. Cyranka 2007, v.a. 44f.; zur Unterscheidung von „natürlicher und vollendeter Religion“ in den Lessingschen Spätschriften vgl. ferner Hebler 1862, 40). Freilich kommt an dieser Stelle auch „das eminent Sittliche des Lessingschen Erziehungsplanes zum Ausdruck“ (Helbig 1980, 51). – Das Verhältnis zwischen Vernunftaufklärung und Tugendhaftigkeit berührt Lessing auch in seinen ‚Zusätzen des Herausgebers‘ zu den Philosophischen Aufsätzen Karl Wilhelm Jerusalems (1747–1772), einziger Sohn des Theologen Johann Friedrich Wilhelm Jerusalem (s.o. Exkurs 6) und hinsichtlich seines Suizids historisches Vorbild von Goethes Werther-Gestalt. – Dass sich Lessing, seines selbstbekundeten (freilich ästhetisch bedingten) ‚Vergnügens‘ bei Lektüre des Romans unerachtet, über das im Werther gezeichnete grobe Zerrbild seines jungen Freundes regelrecht entsetzte, bezeugt ein Brief an Johann Joachim Eschenburg (1743–1820; vgl. Brief Nr. 996 [An Johann Joachim Eschenburg; 26. Oct. 1774], in: B 11/2, 667). In diesem Sinne verfolgt Lessing mit seiner Herausgabe der Aufsätze Jerusalems nicht zuletzt eine ‚Rettung‘ des Freundes gegen dessen durch eine allzu einseitige Darstellung erfolgte ‚Verächtlichmachung‘ im Werther (vgl. hierzu insbesondere die einleitenden Bemerkungen Lessings zu den von ihm herausgegebenen Aufsätzen; vgl. außerdem Nisbet 2008, 684f.). – Nun also zum Verhältnis von Vernunftaufklärung und Tugendhaftigkeit: Lessing zufolge wirkt – aufgrund des Satzes vom zureichenden Grund – „die Vorstellung des Besten“ (d.i., Wolffisch gesprochen, der klare und deutliche Begriff desselben) mit Notwendigkeit auch tugendhafte Handlungen. Hierzu heißt es in den ‚Zusätzen‘ pointiert: „Ich danke dem Schöpfer, daß ich muß; das Beste muß“ (G. E. Lessing [Hg.], Philosophische Aufsätze von Karl Wilhelm Jerusalem [1776], in: B 8, 135–170. Hier: 168,32–36 [Hervorh. i. O.]; zur Wolffischen Terminologie vgl. Christian Wolff, Ver­ nünff­tige Gedancken von Gott, der Welt und der Seele des Menschen, auch allen Dingen überhaupt, den Liebhabern der Wahrheit mitgetheilet [1751], 110f. u. 114f. [Kap. 3, §§ 198f. u. 206]).

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Neue Bund eben so wohl antiquieret“ sein, „als es der Alte geworden“.336 Dort wird das Neue Testament (als „das zweite beßre Elementarbuch für das Menschengeschlecht“) ebenso ‚erschöpft‘ sein, wie es das Alte (und erste) gewesen.337 Dort wird die schlechterdings notwendige „Ausbildung geoffenbarter Wahrheiten in Vernunftswahrheiten“ abgeschlossen sein; werden die Schüler selbständig zu rechnen gelernt haben; werden die zunächst bloß ‚mitgeteilten‘ Begriffe auch eigenständig ‚erworben‘ sein 338; wird der ‚menschliche Verstand‘ – solcherweis – auf die ‚schicklichste‘ Art sich gebildet haben.339 Dort – und darauf zielt die Religionsgeschichte – wird die menschliche Vernunft die positiven Religionen – das Judentum, das Christentum (und den Islam?)340 – gleichsam ‚in den Begriff‘, in eine universale Vernunftreligion ‚aufgehoben‘ haben: eine Religion, die im Unterschied zur natürlichen Religion also nicht nur die bloßen, sondern – darüber hinaus341 – auch die notwendig geoffenbarten Vernunftwahrheiten umfasst.342 Ist aber dieses Ziel (dereinst einmal) erreicht, so werden „wir in allen positiven Religionen […] weiter nichts, als den Gang erblicken, nach welchem sich die menschliche Vernunft jedes Orts einzig und allein entwickeln können“.343 – Eingedenk des so bestimmten Verhältnisses von Vernunftaufklärung und Tugendhaftigkeit ist die wahre Religion also durchaus – wie in der Ringparabel – auch durch ihre wohltätigen Folgen eines ethisch verantwortungsvollen Handelns zu erweisen. 336   B 10, 97,9f. (§ 88; Hervorh. i. O.). 337   Da es dereinst im dritten Zeitalter zur ‚Antiquierung‘ auch des ‚Neuen Bundes‘ resp. des ‚Neuen Testamentes‘ kommen wird, modifiziert Lessing das ‚ewige Evangelium‘ aus Apk 14,6 durch die Formulierung ‚neues ewiges Evangelium‘ (vgl. Sparn 2018, 109). 338   Zu den Termini ‚mitgeteilter‘ vs. ‚erworbener‘ Begriff s. § 6. 339   Vgl. § 79. 340   Anders als etwa im Nathan spielt der Islam in der Erziehungsschrift keine Rolle. Da im „Vorbericht des Herausgebers“ aber von „allen positiven Religionen“ die Rede ist, scheint solch ein Übergehen des Islam an dieser Stelle dem spezifischen Entstehungskontext (der Auseinandersetzung mit der Bibel- bzw. Juden- und Christentumskritik des Reimarus) geschuldet zu sein. 341   Es sei noch einmal an Cyrankas „dreigestuften Religionsbegriff“ erinnert: natürlich – positiv – vernünftig (s.o. Anm. 335). 342   Am Ende steht also gewissermaßen „the victory of enlightenment over religion” – wobei „Sieg“ freilich nicht im Sinne eines Gegeneinanders von Religion und Aufklärung missverstanden werden darf, will man die anti-deistische Pointe der geschichtsphilosophischen Perspektive Lessings nicht zerstören (vgl. Schorch 2012, 77). Demgemäß setzt sich „das Vernunft­ ideal nicht gegen die positive Offenbarung, sondern durch sie“ durch (Kondylis 2002, 606). 343   S. obiges Zitat aus dem „Vorbericht des Herausgebers“ (bei Anm. 226). – Hier also gelingt es Lessing, die Vielheit der positiven Religionen „im Horizont der Vorsehung“ religionsphilosophisch, und d.h. über ihre soziologische Notwendigkeit hinaus, zu rechtfertigen (vgl. o. Kap. V.). – Hinsichtlich der Toleranzproblematik findet sich bei Cassirer in diesem Zusammenhang noch die folgende, in ihrer Zuspitzung unbedingt zitierungswürdige Anmerkung: „Und damit erhält auch Lessings oft gerühmte, aber selten ganz verstandene ‚Toleranz‘ erst ihren neuen, ihren spezifisch-eigentümlichen Charakter. Die Toleranz des Aufklärungszeitalters war eine Toleranz des Mitleids; die Toleranz Lessings ist eine Toleranz der Ehrfurcht. Jene sieht auf die Irrtümer, die die Menschheit in ihrer religiösen Entwicklung durchlaufen hat, herab; sie

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Dritter Teil: Gipfelschau

Kurzum: Gegen einen geschichtsvergessenen Deismus, gegen eine in ihrem Gestern verharrende Orthodoxie und gegen eine gegenwartsselige Neologie richtet Lessing seinen Blick auf „das Noch-nicht-Seiende, Sich-Ankündigende“, ja „das Zukünftige schlechthin“. Vergangenheit und Gegenwart werden auf die Zukunft hin relativiert. Sie ist der Maßstab der Geschichte.344

5.4 Die Paragraphen 4 und 77 – ein Widerspruch? Nachdem Lessing dieserart (nämlich in der festen Zuversicht auf ein drittes Zeitalter der vollendeten Vernunft) die Religionen in ihrer Notwendigkeit und Göttlichkeit 345 gerechtfertigt – oder besser: sie gegen den aufklärerischen „Hohn“ duldet und versteht sie in dem Bewußtsein, sie endgültig überwunden und hinter sich gelassen zu haben. Bei Lessing hingegen entspringt die Toleranz aus einer durchaus anderen Quelle. Sie gründet sich in einem Gefühl der Demut, das diesen so stolzen und selbstbewußten Geist überkommt, wenn er sich die Geschichte der religiösen Ideen in all ihren Seltsamkeiten und Paradoxien, in all ihren Widersprüchen, in all ihren Abwegen und Irrwegen vor Augen stellt. Lessing vertraut dem Menschengeist“ – in unserer theistischen Lesart ist es freilich Gott als Erzieher des Menschengeschlechts (bzw. die göttliche Vorsehung), dem Lessing vertraut – „mitten in diesen Irrwegen, ja eben um dieser Irrwege willen – denn er weiß, daß der Irrtum nicht den absoluten Gegensatz zur Wahrheit, sondern daß er ein unentbehrliches Moment, eine unumgängliche Bedingung der werdenden, der sich suchenden Wahrheit selbst ist“ (Cassirer 1929, 34; Hervorh. i. O.). In diesem Sinne pointiert auch Schultze: „Toleranz gegenüber Vergangenem und Gegenwärtigem wird möglich durch die Ausrichtung des Blickes in die Zukunft“ (Schultze 1969, 102). 344   Vgl. Schilson 1974, 159f. 345   Indessen scheint der interpretatorische Versuch, die Wirklichkeit der geoffenbarten Religionen im Sinne Lessings rein immanent zu begründen (vgl. Fick 2011) – nämlich unter Voraussetzung eines ‚anthropozentrisch gewendeten‘ Leibnizianismus (vgl. aaO., 58) –, aus unserer Perspektive wenig überzeugend. In der Logik dieser Deutung werden die göttlichen Offenbarungen umgedeutet zu ‚Eingebungen‘ des menschlichen ‚Gefühls‘ (vgl. aaO., 61) und die Religionen in ihrer Vielheit erklärt „als unterschiedliche, perspektivisch bedingte Spiegel der göttlichen Wahrheit“ (aaO., 63; vgl. auch Allison 2018, 139). Um diese Deutung allerdings am Text festmachen zu können, bedarf es einer konsequenten Umdeutung desselben: So sind es nach Fick beispielsweise die Menschen, die „sich ihre ‚Glückseligkeit‘ je nach den Sehnsüchten und Wünschen [modelten]“ (ebd.), im Wortlaut der Gegensätze aber ist es die Religion, die sich „nach den Grenzen seiner [des Menschen] Sehnsucht und Wünsche“ fügt (B 8, 331,35f.). Nach Fick sind es die Menschen, die sich „in den verschiedenen Regionen der Erde“ ‚mannigfaltige Begriffe‘ von der „Seligkeit“ machen (Fick 2011, 63), nach dem Wortlaut der Gegensätze ist es Gott, der den Menschen nicht sämtlich „die nemliche Offenbarung“ davon erteilt hat (B 8, 332,11–15; s. auch die entsprechende Kritik bei Strohschneider-Kohrs 2011, 168 Anm. 48). – Ebenso problematisch scheint Nisbets gleichlautende Deutung, es gehe „die Offenbarung auf natürliche Weise aus den noch dunklen Empfindungen außergewöhnlicher Menschen hervor[], deren Einsichten ihrer Zeit voraus sind“ (Nisbet 2008, 752; vgl. Allison 2018, 116– 121.140). Wenn er dies im Rekurs auf einen Abschnitt aus Lessings IV. [Gegensatz] (B 8, 331,10–21) meint begründen zu können, so möchten wir zuvorderst auf die Makrointention des IV. [Gegensatzes] hinweisen, nämlich trotz der Argumentation des Reimarus an der Göttlichkeit des AT festzuhalten. Im Sinne dieser dezidiert apologetischen Zielsetzung thematisiert der von Nisbet herangezogene Textausschnitt nun die Unmöglichkeit, im Blick auf die bloßen Vernunftwahrheiten des AT aufgrund eines inhaltlichen Kriteriums solche menschlich-genia­ lischen Eingebungen von göttlichen Offenbarungen zu unterscheiden: „Auf die Göttlichkeit

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und „Unwillen“ gerettet hat346, bleibt noch die Frage, wie sich all dieses nun auf den eingangs zwar zitierten, in seiner Aussage aber noch nicht bedachten vierten Paragraphen reimen lässt.347 Um diese wichtige Frage beantworten zu können, der Bücher des A. T. ist aus dergleichen Dingen [sc. Reimarus’ inhaltlicher Feststellung, die alttestamentlichen Schriften ermangelten jeglicher Unsterblichkeitsvorstellung] wenigstens gar nichts zu schließen. Denn diese muß ganz anders, als aus den darin vorkommenden Wahrheiten der natürlichen Religion erwiesen werden. Wahrheiten, die allerdeutlichsten, die allererhabensten, die allertiefsten von dieser Art [gemeint sind die bloßen Vernunftwahrheiten im Unterscheid zu den notwendig geoffenbarten Vernunftwahrheiten], kann jedes andere eben so alte Buch enthalten, wovon wir itzt die Beweise haben; Beweise, welche so manchen gelehrten Sorites für die Göttlichkeit der Bibel fehlerhaft machen, in welchem die allein in dem A. T. gelehrte Einheit Gottes ein Glied ist. […] Was sich also von dergleichen [privilegierten und über die Sphäre ihrer Zeitverwandten hinausdenkenden] Männern herschreiben kann, deren noch itzt von Zeit zu Zeit einige aufstehen, ohne daß man ihnen immer Gerechtigkeit widerfahren läßt, das kann zu keinem Beweise eines unmittelbar göttlichen Ursprungs gebraucht werden. Kann es [sc. dieses inhaltliche Kriterium] diesen Ursprung aber nicht erweisen, da wo es vorhanden ist: so kann es diesen Ursprung auch nicht widerlegen, da wo es mangelt; und Bücher können gar wohl von Gott sein, durch eine höhere Eingebung Gottes verfaßt sein, ob sich schon nur wenige, oder gar keine, Spuren von der Unsterblichkeit der Seelen und der Vergeltung nach diesem Leben, darin finden“ (B 8, 330,32–331,4.20–31; Hervorh. D.Z.). In diesem Sinne ist es für Lessing ja schlechterdings offenkundig, „daß Gott auch bloße Vernunftswahrheiten unmittelbar offenbaret“ (§ 70). – Kurzum: Wenn man so will, ist die Erziehungsschrift mit ihrer Theodizee der positiven Religionen zugleich auch eine echt Lessingsche „Rettung der Offenbarung“ (letztere Bezeichnung findet sich bei Helbig 1980, 45). – Von unserem Standpunkt aus wäre zudem noch zu fragen, wie die oben gemachte Unterscheidung von bloßen Vernunftwahrheiten einerseits und notwendig geoffenbarten Vernunftwahrheiten andererseits (und ebenso die Lessingsche Differenzierung vom „Kind der Natur“ und vom „Kind der Erziehung“ in § 21) in die immanente (Offenbarungs-)Deutung eines Allison, eines Nisbet oder einer Monika Fick integriert werden könnte. – S. hierzu auch die entsprechende Kritik bei Wessell 1977, 186f. sowie ferner die mannigfaltigen Argumente bei Thielicke 1967, 77–92, insbes. 90f. – Mit Thielicke lässt sich jedenfalls sagen, dass über „den transzendenten (‚Erziehung‘) oder immanenten (‚Evolution‘) Sinn […] der Offenbarung […] nur im Sinne eines Entweder-Oder entschieden werden“ kann (aaO., 36). 346   S. obiges Zitat aus dem „Vorbericht des Herausgebers“ (bei Anm. 226). – Wenn dort nun gleichwohl im Zusammenhang der positiven Religionen von „Irrtümern“ die Rede ist (B 10, 74,26), so scheint dies auf den (freilich notwendigen) ‚Irrtum‘ der Anhänger aller geschichtlichen Religionen bezogen zu sein: die jeweils eigene Religion für „das Non plus ultra“ der Wahrheitserkenntnis zu halten (vgl. § 67) und sie so in ihrem Wesen (nämlich als geschichtliche Erscheinung mit lediglich begrenzter Bestimmung und also bloß relativer Geltung) zu verkennen. In ähnlicher Weise akzentuiert auch Allison: „Insofar as they are based upon historical facts and claim the possession of absolute truth these religions must be dismissed as errors“ (Allison 2018, 139). – Einen anderen, mehr vernunftkritischen Akzent setzt Strohschneider-Kohrs 2005; vgl. auch Nisbet 2008, 755f. sowie Sparn 2018, 77: „Von ‚Irrtümern‘ zu sprechen, spiegelt Lessings generelle […] Überzeugung, dass menschliche Erkenntnis immer eine vorläufige ist, so dass uns die fortwährende, aber immer auch irrtumsanfällige Suche nach der Wahrheit aufgegeben, die Wahrheit selbst jedoch Gott anheimgestellt ist.“ – Zum „Irrtum als Weg zur Wahrheit“ und zur hierfür unerlässlichen Voraussetzung einer „Hermeneutik der Vorsehung“ s. Schilson 1974, 152–155. 347   Indem wir im Folgenden einen Verständnisvorschlag zur Integration des vierten Paragraphen in unsere Gesamtdeutung unterbreiten, setzen wir uns freilich jener Kritik Leonard

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sei vorweg noch einmal auf unsere obigen Ausführungen zu Lessings ‚abgründiger‘ Einsicht in die Geschichtlichkeit der Vernunft verwiesen (Kap. VII. 4.), an deren Ende wir den folgenden (Pseudo-) Syllogismus formuliert haben: [„Obersatz“] Da prinzipiell gilt, dass allein die Vernunft (eine über die moralische Gewissheit hinausreichende) absolute Wahrheitsgewissheit überhaupt erzeugen kann, diese absolute Gewissheit aber (aufgrund des Verlusts der moralischen Gewissheit) für die Annahme geoffenbarter Glaubenswahrheiten schlechterdings notwendig ist – [„Untersatz“] faktisch aber gleichermaßen gilt, dass die Vernunft die christlichen Mysterien in ihrer Übervernünftigkeit lediglich als logisch Mögliche erweisen (und so keineswegs in irgend hinreichendem Sinne erweisen) kann, sprich: das möglicherweise Vernünftige (mit Gewissheit) weder als das Ihre noch als das nicht zu ihr Gehörige (also Widervernünftige) erkennen kann, [„Conclusio“] so nötigt die solcherweis explizierte Aporie regelrecht zu dem Schluss, dass die Vernunft – eingedenk ihres Unvermögens, diese an sich notwendige Aufgabe zu erfüllen – noch nicht vollkommen bei sich selbst, sondern vielmehr noch in Entwicklung begriffen und also keineswegs absolut, souverän und autonom ist.

Freilich: Zu besagtem „Schluss“ wird bloß genötigt, wer – wie Lessing – immer schon die ‚völlige Aufklärung‘ als Ziel der Geschichte voraussetzt. An sich aber ist unsere Argumentation alles andere als zwingend. So kann die Vernunft „einen letzten Sinn der Geschichte, der erst an ihrem Ende vollends offenbar wird, zwar ahnen, aber nicht mit zureichender Sicherheit vorwegnehmen“. Ihre Ohnmacht „angesichts der Zukunft der Geschichte läßt daher jeden rein philosophischen Theodizeeversuch als bloße Hypothese erscheinen und schließlich scheitern“. Kurzum: Weder die Geschichte selbst noch die menschliche Vernunft sind in der Lage, eine letzte Sinnhaftigkeit des Geschichtsverlaufes zu garantieren. Der Versuch, durch den Erziehungsgedanken eine sinnvoll fortschreitende Entwicklung des Menschengeschlechts philosophisch zu begreifen, gerät an der Zukunft in eine rational unüberwindliche Krise. Allein der Überschritt aus der reinen Rationalität in eine – wie auch immer geartete – Ir-rationalität kann diese Schwierigkeit auflösen.348

P. Wessells aus, die aufgrund ihrer poetischen Qualität an dieser Stelle zitiert sei: „As long as the contradictoriness of Lessing’s thinking is not acknowledged, interpreters will continue to invent ever new and ever more ingenious ways of reconciling the irreconcilable“ (Wessell 1977, 265 Anm. 16). In Korrespondenz zu seiner durchaus originellen Deutungshypothese rührt dieser (freilich unauflösliche) Widerspruch von Lessings krisentypischem Bestreben her, im religiös-spekulativen Denken zwei epistemologische Modelle miteinander zu versöhnen: das rationalistische (§ 4) und das empiristische (§ 77) (vgl. aaO., 183f.). 348   Schilson 1974, 164f.

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In diesem Sinne also ist obige Argumentation, wie wir bereits früher angedeutet haben, auf Zuversicht gebaut349: auf die feste Zuversicht des vorsehungsgläubigen 350 Vernunftoptimisten, für den die Vermeidung jedweden Vernunftpessimismus, also das Nichtzweifeln Pflicht ist. Vor dem Hintergrund solcher – geradezu frommer 351 – Gewissheit aber, die nicht nur keinen Zweifel duldet 352, sondern auch die Anfechtung regelrecht wegzubeten weiß353, ist § 4 gleichsam als das Credo des Vernunftoptimisten zu begreifen: §. 4. Erziehung giebt dem Menschen nichts, was er nicht auch aus sich selbst haben könnte: sie giebt ihm das, was er aus sich selber haben könnte, nur geschwinder und leichter. Also giebt auch die Offenbarung dem Menschengeschlechte nichts, worauf die mensch349   So ist die Vernunft nicht nur prinzipiell unfähig, ihre Geschichte „kraft ihrer immanenten Gesetzlichkeit“ als Erziehungsgeschichte abzuleiten – weshalb Thielicke vom „Dogma“ des (lediglich) vorgegebenen Verhältnisses von Vernunft und Offenbarung sowie von der „Vernunftgläubigkeit“ bei Annahme desselben spricht (vgl. Thielicke 1967, 69f.) –, sondern sie vermag auch die noch ausständige Zukunft „durch keine rationale Operation“ sicherzustellen (vgl. Schilson 1974, 161): „[A]uf Hoffnung hin erwartet der Geschichtsphilosoph Lessing am Ende der ‚Erziehung des Menschengeschlechts‘ das alles rechtfertigende dritte Zeitalter“ (aaO., 164). 350   Zu Lessings Vorsehungsglauben als theistisch-persönlichem Gottesglauben s. die wichtigen Ausführungen bei Schilson 1974, 203–207. – Zur dezidiert theologischen Deutung des Natur-Begriffs in den §§ 84 u. 90 sei noch einmal auf Johannes von Lüpke (1989, 167 u. 234 Anm. 19) und Arno Schilson (1998, 103) hingewiesen: Demgemäß ist Natur „nicht spinozistisch zu verstehen, sondern im Gefolge eines Herbert von Cherbury [1583–1648] parallel, kontrastiv und universalisierend gegenüber ‚Gnade‘ gemeint: ‚Natura heic est Providentia divina universalis. Gratia Providentia particularis‘ (De Veritate, unpag. Einl.). Auf diese umfassende göttliche Vorsehung, auf diese menschenfreundliche Macht der Geschichte, setzt Lessing in schlichter ‚Ergebenheit in Gott‘, seinem ‚Ratschluß‘ sich anvertrauend […], seine ganze Hoffnung und sein ganzes Vertrauen“. – Ähnlich Sparn 2018, 109; s. auch Fittbogens Rede von der „Gottergebenheit“ als dem „Wesen“ Lessingscher Religionsauffassung (vgl. Fittbogen 1923, 309). 351   Auch Durzak charakterisiert Lessings Verhältnis zum „transzendenten Erziehungsplan“ als ein „Vertrauen“, das „nicht nur ‚vernünftig‘, sondern auch gläubig und damit irrational“ ist (Durzak 1970, 135). 352   In den §§ 81f. heißt es: „§. 81. Oder soll das menschliche Geschlecht auf diese höchste Stufen der Aufklärung und Reinigkeit nie kommen? Nie? / §. 82. Nie? – Laß mich diese Lästerung nicht denken, Allgütiger! – Die Erziehung hat ihr Ziel; bei dem Geschlechte nicht weniger als bei dem Einzeln. Was erzogen wird, wird zu Etwas erzogen“ (B 10, 96,1–8; Hervorh. i. O.). Dass es sich bei solchem Glauben um einen gewissen (i.S.v. certus) Glauben handelt, wird in den §§ 85f. denn auch in gleich doppelter Weise betont. 353   „§. 91. Geh deinen unmerklichen Schritt, ewige Vorsehung! Nur laß mich dieser Unmerklichkeit wegen an dir nicht verzweifeln. – Laß mich an dir nicht verzweifeln, wenn selbst deine Schritte mir scheinen sollten, zurück zu gehen! – Es ist nicht wahr, daß die kürzeste Linie immer die gerade ist. / §. 92. Du hast auf deinem ewigen Wege so viel mitzunehmen! So viel Seitenschritte zu tun! […]“ (B 10, 97,31–98,6). – Zur Rede vom ‚philosophischen Gebet‘ und „Bekenntnis“ in Bezug auf die Schlussparagraphen der Erziehungsschrift vgl. Thaidigsmann 2016, 259.265. Auch Nisbet spricht von Lessings „faith in ultimate progress reminiscent of Leibniz’s optimism“ und vom „prayer to divine providence“ (Nisbet 2011, 69.74), Landmesser von „einer Art Stoßgebet“ (Landmesser 2011, 217).

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liche Vernunft, sich selbst überlassen, nicht auch kommen würde: sondern sie gab und giebt ihm die wichtigsten dieser Dinge nur früher.

Mit einem Wort: Dass „die Offenbarung dem Menschengeschlechte nichts [gibt], worauf die menschliche Vernunft, sich selbst überlassen, nicht auch kommen würde“, kann vor Erreichen des dritten Zeitalters lediglich als Hypothese354 formuliert werden und bleibt also bis dahin eine Glaubensaussage des vorsehungsgläubigen Vernunftoptimisten355: In dieser Weise stößt Lessings Geschichtsverständnis ständig und unvermeidlich auf die Vorsehung als leitende und tragende Macht der Geschichte. Die ‚eschatologische‘ Orientierung seines Geschichtsbildes und die rationale wie praktische Ohnmacht hinsichtlich der Vollendung der Geschichte rücken den Sinn des Ganzen aus dem Bereich des menschlichen Vermögens heraus in einen rational nicht völlig aufhellbaren ­‚Glauben‘.356 354   „Es handelt sich bei diesen Zukunftserwägungen [in den Schlussparagraphen der Erziehungsschrift], wissenstypologisch gesehen, um Verheißungen“ (Schmidt-Biggemann 2011, 139). – In diesem Sinne ist Thielickes Rede vom „Postulat“-Charakter des § 4 also durchaus berechtigt. Hieraus allerdings auf jenen doppelten Vernunftbegriff zu schließen (vgl. ­T hielicke 1967, 131–135), ist u.E. keineswegs notwendig. 355   Auch Ernst Cassirer betont, dass Lessing „alle religiöse Gewißheit […] rein und ausschließlich im Lichte der Zukunft“ sieht, und akzentuiert dabei Lessings „Glaube[n] an die ‚Perfektibilität‘ der Menschheit“: „er ist und bleibt ein Glaube, der sich nicht auf bloß logische Syllogismen und auf rein metaphysische Beweise gründen kann“ (Cassirer 1929, 33.37). – Lessings vernunftoptimistisches Credo umfasst dabei auch den im II. [Gegensatz] in aller Klarheit formulierten Gedanken einer universalen Heilsökonomie: „Denn Weh dem menschlichen Geschlechte, wenn in dieser Ökonomie des Heils auch nur eine einzige Seele verloren geht. An dem Verluste dieser einzigen müssen alle den bittersten Anteil nehmen, weil jede von allen diese einzige hätte sein können. Und welche Seligkeit ist so überschwänglich, die ein solcher Anteil nicht vergällen könnte?“ (B 8, 322,27–32; Hervorh. i. O.). Um den Erfolg des göttlichen Erziehungsprojekts auch auf individueller Ebene im Blick auf jeden Einzelnen garantieren zu können, bekennt sich Lessing in den Schlussparagraphen der Erziehungsschrift zu der ‚ältesten‘ „Schwärmerei“ oder „Hypothese“, dass „jeder einzelne Mensch“, um „alle die Schritte zu [s]einer Vervollkommnung“ tun zu können, „mehr als einmal auf dieser Welt vorhanden“ sein und also „so oft wiederkommen“ müsse, als er „neue Kenntnisse, neue Fertigkeiten zu erlangen geschickt“ ist (vgl. B 10, 97,19–99,19; §§ 90–100; zu Lessings Seelenwanderungslehre vgl. Cyranka 2005). Hierzu findet sich bei Nisbet u.a. auch die folgende „tragikomische“ Bemerkung: „Schließlich deutet auch manches darauf hin, daß er [sc. Lessing] ein persönliches Interesse an der Seelenwanderung und anderen Formen der Weiterentwicklung nach dem Tod gehabt hat. Er litt in ungewöhnlichem Maße an Anfällen von Langeweile und Trägheit, die oft Hand in Hand mit tiefer Depression gingen. Das Langweiligste, was er sich denken konnte, waren die Vorstellung von einem transzendenten, in ewiger und unveränderlicher Vollkommenheit existierenden Gott und die vom Leben nach dem Tod, wie es die orthodoxe christliche Theologie verstand. […] Solche Stimmungen machen es vielleicht verständlicher, daß seine Vorstellungen vom Leben nach dem Tod in den späteren Jahren immer dynamischer und vielfältiger wurden“ (Nisbet 2008, 761). – Zu Lessings Ersetzung der Unsterblichkeitslehre durch den Gedanken einer Seelenwanderung im Kontext der Überwindung jener für das Christentum so charakteristischen Spaltung zwischen Diesseits und Jenseits im „dritten Zeitalter“ s. Fick 2016, 440f. 356   Schilson 1974, 166.

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Nun gilt es aber – abschließend –, eine bislang noch nicht entwirrte Verwicklung zu lösen. Im Blick auf die von uns erhobene Gesamtargumentation der Erziehungsschrift erweisen sich v.a. die folgenden Formulierungen des vierten Paragraphen als problematisch: „aus sich selber“, „sich selbst überlassen“ und „nur früher geben“. Indem man gerade hier verschiedentlich einen handfesten Widerspruch zu § 77 konstatieren zu müssen vermeinte357, soll im Folgenden ein Verständnis besagter Problemkandidaten entwickelt werden, das eine Harmonisierung der §§ 4 und 77 ermöglicht. Dabei kann es (im Rahmen unseres Gesamtverständnisses) keineswegs darum gehen, etwa die Notwendigkeit der Offenbarung im Sinne ihrer bloßen Nützlichkeit abzuschwächen 358, sprich auf einen allein zeitlichen Vorteil hin zu relativieren. – Wie aber lässt sich das so naheliegende Verständnis von § 4 vermeiden, wir könnten auch ohne die (faktisch und aus Gnaden) uns gewährte Offenbarung „aus uns selbst nach und nach haben […], was sie uns nun [ge]geben“?359 – Unsere Antwort lautet schlicht: Indem wir auf den unmittelbaren sowie auch mittelbaren Kontext dieser Formulierungen achten. Zunächst also die Frage, ob die sich selbst überlassene Vernunft notwendig auch eine Vernunft ohne Offenbarung bezeichnet? – Ziehen wir mit § 6 den unmittelbaren Kontext dieser Worte mit in Betracht, so muss dies offenkundig verneint werden, ist doch die ebenda verbaliter noch einmal getätigte Formulierung einer „sich selbst überlassene[n] menschliche[n] Vernunft“ mitnichten auf eine von Offenbarung unbehelligte Vernunft zu beziehen, sondern vielmehr auf eine solche, die – „mit einem Begriffe von einem Einigen Gotte sofort ausgestattet“ – dann, also nach Erhalt dieser Ur-Offenbarung360 und vom Offenbarer gleichsam (wieder) „sich selbst überlassen“, nun ihrerseits das ‚Mitgeteilte‘ „zu bearbeiten anfing“ (§ 6).361 Das heißt: Wie die Schüler, veranlasst durch die 357

  Insgesamt lautet § 77 wie folgt: „Und warum sollten wir nicht auch durch eine Religion, mit deren historischen Wahrheit, wenn man will, es so mißlich aussieht“ – dies freilich formuliert Lessing hinsichtlich der bibelkritischen Einwürfe H. S. Reimarus’ –, „gleichwohl auf nähere und bessere Begriffe vom göttlichen Wesen, von unsrer Natur, von unsern Verhältnissen zu Gott, geleitet werden können, auf welche die menschliche Vernunft von selbst nimmermehr gekommen wäre?“ (B 10, 95,2–8; Hervorh. D. Z.). 358   Zu „Nutzen“ und „Notwendigkeit“ der Erziehung (bzw. Offenbarung) vgl. den bereits zitierten § 21. 359   So im anonym verfassten Dialog über die von G. E. Leßing herausgegebene Erziehung des Menschengeschlechts aus dem Jahre 1781 (s. obiges Zitat bei Anm. 235). 360   Dass Lessing in § 6 mehr zu intendieren scheint als bloß „das anthropologische Datum einer religiösen Anlage aller Menschen“, sprich: dass ihm tatsächlich ein (wie auch immer geartetes) Offenbarungsgeschehen vorschwebt, deutet sich „mit dem Wort ‚mitgeteilt‘ an“ (vgl. Sparn 2018, 81; dort findet sich auch der Hinweis, dass der solches bezeichnende Begriff einer „Ur-Offenbarung“ erst im 19. Jahrhundert aufkommt). 361   B 10, 76,4–9. – Hier, in ihrer absoluten Kindheit, freilich vermag die Vernunft diese Aufgabe noch nicht wirklich zu meistern (vgl. §§ 6f.). Indessen: Die Gefahr der Übereilung aufseiten des Zöglings bleibt auch später noch – trotz aller Weisheit des Erziehers – in allen

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Mitteilung des ‚Fazits‘, dasselbe hernach auch eigenständig zu ermitteln sich anschicken – freilich indem „sie sich im Rechnen einigermaßen darnach richten können“ (§ 76) –, ebenso strebt auch die Vernunft danach, den ihr bloß ‚mitgeteilten‘ Begriff nach Erhalt desselben nun auch eigenständig, und das heißt: sich selbst überlassen und nur auf ihre eigenen Fähigkeiten gestützt, zu ‚erwerben‘.362 – Es ist diese klare Gerichtetheit der göttlichen ‚Mitteilung‘ hin auf den eigenständigen ‚Erwerb‘ des Mitgeteilten durch die menschliche Vernunft, welche das öfter bemerkte Schillern der Lessingschen Konzeption zwischen Erziehung und Entwicklung 363 bedingt. – In diesem Sinne könnte § 4 also in gleicher Weise auch dergestalt lauten: Also giebt auch die Offenbarung dem Menschengeschlechte nichts, worauf die menschliche Vernunft dann, nämlich nach Erhalt des geoffenbarten Begriffs – und also wieder sich selbst überlassen –, aus ihren andern ausgemachten Wahrheiten (sprich: ihrerseits und eigenständig) nicht auch kommen würde: sondern sie gab und giebt ihm die wichtigsten dieser Dinge nur früher.

Oder anders formuliert: Wird Offenbarung nicht autoritativ im Sinne einer Manifestation von bestimmten (und allein im Glauben anzunehmenden) Lehren verstanden, sondern vielmehr in ihrer illuminierenden Funktion, d.h. in ihrem Sein für die Vernunft, pointiert 364, so kann sie – ihrem Wesen gemäß – nicht (dauerhaft) übervernünftig bleiben.365 Phasen der Erziehung akut, wie etwa die Mahnung an das ‚fähigere Individuum‘ (vgl. §§ 68f.) verdeutlicht. 362   ‚Sich selbst überlassen‘ meint hier also ein rationales Verfahren im Anschluss an den Erhalt einer Offenbarung (vgl. hierzu auch die knappen Anmerkungen F. W. J. Schellings [1775–1854] zur rationalen Entstehung des Polytheismus in Lessings Erziehung des Menschengeschlechts, in: Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, Philosophie der Mythologie [1856], Bd. 1, 84; vgl. außerdem Timm 1974, 113f.). 363   Im „Vorbericht“ spricht Lessing vom „Gang […], nach welchem sich der menschliche Verstand jedes Orts einzig und allein entwickeln können, und noch ferner entwickeln soll“. 364  S. hierzu die entsprechenden Ausführungen in Kap. I. 2.2.2 u. Exkurs 1. – Dies unterstreicht auch Hermann Timm (im Rekurs auf § 76): „Der Mathematiker lehrt nicht die Mathematik, sondern das Rechnen, und dieses besteht nicht im Repetieren von Resultaten, sondern in der Kunst des Resultierenlassens. So auch der Offenbarer. Er häuft nicht supranaturale Informationen, um sie von den Adepten kanonisieren und nachplappern zu lassen. Sie sollen befähigen, Subjekt des eigenen Lebens zu werden. Sein Endzweck ist, die Menschheit sich selbst befreien zu lassen, sie in die Mündigkeit zu bringen […]“ (Timm 1974, 84). Diesen Aspekt exponiert auch Arno Schilson: Gegenüber einem „maßgeblich autoritär geartete[n] Verständnis von Offenbarung“ (im Sinne einer „machtvolle[n] Mitteilung von göttlichem Wissen […], dem sich der Mensch unverständig, unter Aufopferung seiner Vernunft und seines Selbst zu unterstellen und zu fügen hatte“) liege die Pointe der Lessingschen Offenbarungskonzeption darin, „daß Offenbarung dem Menschen dienen solle, indem sie nichts anderes als Gott selbst erschließt und darin zugleich die Kräfte des Menschen zu voller Entfaltung bringt, eben sein Heil als letzte Vollendung von Gott her bedeutet“ (Schilson 1998, 101). 365   Als „an sich vernünftige“ impliziert die Offenbarungswahrheit also konsequenterweise „in sich ihre notwendige Selbstaufhebung“ (Stiening 2012, 229).

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In gleicher Weise sollte auch das „früher geben“ nicht vorschnell in einem rein temporalen Sinne gedeutet werden. Wie etwa die analoge Formulierung in § 76 zeigt, kann auch das Voraussagen des „Facits“ (seinem primär temporalen Sinne unerachtet) sowohl in der Logik des Beispiels als auch in seiner unmittelbaren Nachbarschaft zu § 77 unmöglich im Sinne einer bloß zeitlichen Relation verstanden werden – ist doch die Offenbarung offenkundig mehr als nur ein Katalysator für die Vernunftentwicklung (und außerdem das Changieren zwischen „vor“ und „voraus“ [bzw. „früher“] im Deutschen nichts Ungewöhnliches).366 Dabei schwingt die changierende Bedeutung auch dort noch mit, wo in der Logik eines radikalen Vernunftoptimismus das Ende – gleichsam „im Glauben“ – antizipiert wird und in solchem Vorgriff schon jetzt (wenigstens hypothetisch) gilt, dass die Offenbarung bloß solches (und auch das „nur früher“) geben kann, worauf die menschliche Vernunft dann, nämlich im Zuge ihrer Entwicklung, auch aus sich selbst heraus kommen wird. Schließlich und endlich der vermeintliche Widerspruch der Paragraphen 4 und 77: Die Vernunft vermag „aus sich selber“, was sie „von selbst nimmermehr“ vermocht hätte. – Wie die „sich selbst überlassene menschliche Vernunft“ nicht zwingend eine Vernunft ohne Offenbarung meint, so auch das Vermögen „aus sich selbst“ nicht notwendig ein solches, das die Vernunft auch „von selbst“ hätte haben können. In diesem Sinne entspricht es sowohl dem Prinzip des ‚wechselseitigen Dienstes‘ als auch dem oben explizierten Gehalt der so wesentlichen 70er-Paragraphen, dass – jedenfalls im Blick auf die notwendig geoffenbarten Wahrheiten367 – die Vernunft allererst dadurch in die Lage versetzt wird, das einstweilen noch Übervernünftige irgendwann einmal aus ihren eigenen Wahrheiten (sprich: eigenständig oder „sich selbst überlassen“ bzw. ‚aus sich selbst‘ heraus) und also als Vernunftwahrheit zu generieren, dass sie zuvor durch Offenbarung auf solche Wahrheit hin orientiert worden ist.368 Kurzum: 366  S. beispielsweise zum Verb „vorgeben“ den entsprechenden Abschnitt in: Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm, Bd. 26, Sp. 1069. 367   Vgl. obige Unterscheidung von bloßen Vernunftwahrheiten auf der einen und notwendig geoffenbarten Vernunftwahrheiten auf der anderen Seite. 368   Vgl. hierzu Schellings Gleichnis von der Offenbarung als einem „Fernrohr“ für die Vernunft (in: Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, Philosophie der Offenbarung [1858], 137f. [Siebente Vorlesung der „Einleitung in die Philosophie der Offenbarung oder Begründung der positiven Philosophie“]) sowie seine Aufnahme bei Hermanni 2012, 15. – Unsere kohärente Lesart bestätigend argumentiert auch Arno Schilson: „Rein vom Vorstellungskontext sowie von den Beschreibungen, die Lessing selbst in dieser Schrift gibt, bedarf Erziehung der Autorität, der Überordnung, des ‚Voraus-Seins‘ und ‚Mehr-Seins‘. Doch im Kontext der Erziehung wird diese klare Unterschiedlichkeit nicht als Last und Bedrückung, als Minderung des eigenen Seins empfunden, sondern als Bedingung der Möglichkeit zur endgültigen Selbstwerdung. ‚Erziehung giebt dem Menschen nichts, was er nicht auch aus sich selbst haben könnte‘ (§ 4). Dieser programmatische Satz gilt ohne Umschweife – und zugleich enthält er (widerspruchsfrei!) den als problematisch empfundenen § 77, weil ohne Erziehung der Mensch dumm, ungebildet, unaufgeklärt und unfähig zu wahrhaft sittlichem und humanem

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Die Vernunft vermag – durch Offenbarung orientiert oder: im Nach-denken derselben – „aus sich selber“ (d.h. vermittels ihrer ureigenen Kompetenzen), „aus ihren andern ausgemachten Wahrheiten“ alles das herzuleiten, was ihr die Offenbarung zu wissen vorgibt – und würde doch ohne solche Orientierung, sprich: ohne Offenbarung und also „von selbst nimmermehr“ an ihr Ziel gelangen.369 Mit einem Wort: § 4 ist in seinen thetischen Formulierungen als das Credo des vorsehungsgläubigen Vernunftoptimisten zu verstehen, der – ungeachtet seiner Einsicht in die Geschichtlichkeit der Vernunft und die damit gesetzte Notwendigkeit ihrer „Erziehung“370 – an der Möglichkeit und dereinstigen Wirklichkeit ihrer Autonomie nicht zweifelt. Gegenüber der Neologie371 drückt sich hier Handeln bleibt. Erziehung will den Menschen in all seinen Kräften, also auch im Blick auf seine Vernunft, zu sich selbst bringen“ (Schilson 1998, 102; zur hier feststellbaren ‚produktiven Rezeption‘ patristischer Vorstellungen vgl. aaO., 102f.). 369   Es sei noch einmal auf die klärende Unterscheidung zwischen (absolut notwendigem) Aktvollzug und (relativ wahrem) Aktinhalt verwiesen (vgl. Thielicke 1967, 59f.). – Vgl. auch Schilson zu § 4: „Die besondere Auszeichnung der menschlichen Vernunft liegt also darin, daß sie Inhalte der Offenbarung nach-zudenken imstande ist, denn ‚die Offenbarung [gibt] dem Menschengeschlechte nichts, worauf die menschliche Vernunft, sich selbst überlassen, nicht auch kommen würde‘. Dieser grundlegenden, niemals zurückgenommenen Ermächtigung der Vernunft muß allerdings deren offenkundige Ohnmacht, genauerhin ihre Selbst-Entmächtigung entgegengehalten werden. Nur so erkennt man die Wahrheit der Geschichte und die Notwendigkeit von Offenbarung für die prompt in die Irre gehende ‚sich selbst überlassene menschliche Vernunft‘“ (Schilson 1980, 36f.). – In gewissem Sinne scheint hier also tatsächlich eine, wie Allison es nennt, platonische Konzeption vorzuliegen, „which underlies all of modern rationalism […]: Since from this standpoint knowledge is not seen as something acquired from without but rather as something derived from within the innate capacities of the mind, experience in general and education in particular are viewed not as external sources of knowledge, but as occasions or stimulants for the reflection upon the knowledge that lies ‚within‘.“ Wenn also die Offenbarung (als Medium göttlicher Vernunfterziehung), indem sie der menschlichen Vernunft bestimmte Begriffe ‚mitteilt‘, diese zugleich dazu anregt, die ihr lediglich ‚mitgeteilten‘ Begriffe nun auch aus sich selbst heraus zu ‚erwerben‘, so zeigt sich doch hierin, „that Lessing’s concept of revelation is perfectly consistent with this standpoint and can likewise be viewed as an ‚occasion‘ in the Platonic sense“ (Allison 2018, 141; eine ähnliche Pointe scheint in Thielickes Unterscheidung von analytischer und synthetischer Sinnseite der Erziehung zu liegen [vgl. Thielicke 1967, 66ff.]). 370   Oder doch vielmehr deswegen? – „Die Erziehung hat ihr Ziel; bei dem Geschlechte nicht weniger als bei dem Einzeln. Was erzogen wird, wird zu Etwas erzogen“ (§ 82). – Das heißt: Gerade weil der allmächtige, allgütige und allwissende Gott es ist, der – in seiner Vorsehung – dem Menschengeschlecht genau dieses Ziel gesetzt hat, gerade deshalb wird es dieses Ziel auch erreichen: „Darauf zwecke die menschliche Erziehung ab: und die göttliche reiche dahin nicht? Was der Kunst mit dem Einzeln gelingt, sollte der Natur nicht auch mit dem Ganzen gelingen? Lästerung! Lästerung!“ (§ 84) – In gewisser Weise besteht hierin die Pointe von Dörrs Deutung der Offenbarung als eines echt transzendent begründeten Geschehens (vgl. Dörr 2010, 21f.). 371   Anders Nisbet, dem gemäß „der in § 4 bezeichnete Standpunkt wesentlich der der Neologen“ ist (vgl. Nisbet 2008, 751). – Es sei in diesem Zusammenhang noch einmal an Jerusalems Appell an die ‚Großen der Erde‘ erinnert (s.o. in Anm. 143).

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also Lessings ureigene aufklärerische Gewissheit aus, dass die Bestimmung des Menschengeschlechts, dass dessen Ziel nicht etwa in einem allgemeinen Christentum zu gewärtigen ist, sondern in einer – die Partikularität und Kontingenz der historischen Religion transzendierenden – autonomen Vernunft.372

6. Fazit Wir haben es wohl den Papieren unsres Ungenannten zu verdanken, dass Lessing – dieser „herrliche Mann“373 – den Problemkomplex Offenbarungsreligion in seinem letzten Lebensjahrzehnt noch einmal neu und umfassend in den Blick nimmt. Insbesondere die Gegensätze des Herausgebers sowie seine religions372   Es sei am Ende dieser Ausführungen darauf hingewiesen, dass „Lessings Blick in die Zukunft […] nach den erschütternden Erfahrungen von 1778 [in erster Linie ist hier an den Tod seiner Frau Eva sowie ihres einzigen gemeinsamen Kindes zu denken, sodann an die Zurücknahme der Freistellung von der Zensur infolge des Fragmentenstreits] und bei seiner seitdem nachlassenden Gesundheit nicht mehr so optimistisch [war], wie er es 1776 gewesen war [also im Jahre der Abfassung der Erziehungsschrift wenigstens in ihren maßgeblichen Teilen]. Elise Reimarus, die 1780 bei seinem letzten Besuch in Hamburg mit ihm über die kurz zuvor veröffentlichte Erziehung des Menschengeschlechts sprach, äußerte später, Lessing habe mittlerweile ‚nicht mehr an diesen früher geträumten Traum geglaubt‘. So ist auch die Annahme gerechtfertigt, daß er es jetzt nicht mehr so einfach wie früher fand, sich zu dem ekstatischen, visionären Ton der Schlußparagraphen der Erziehung des Menschengeschlechts zu bekennen, in denen die Stimme des Sprechers wie die eines jener ‚Schwärmer‘ klingt, die er 1776 noch verteidigt hatte. Sein lebenslanges Vertrauen auf die wohlwollende Vorsehung hatte er natürlich nicht verloren; doch sein Blick in die Zukunft war, wie der des Richters in der Ringparabel, nicht mehr ganz so zuversichtlich wie vier Jahre zuvor“ (Nisbet 2008, 763). Zwei Briefe zeugen in besonders eindrücklicher Weise von Lessings Schmerz und Verzweiflung angesichts des Verlusts seiner Frau und seines Kindes. Der eine ist am 31. Dezember 1777 an Johann Joachim Eschenburg (1743–1820) adressiert und lautet folgendermaßen: „Mein lieber Eschenburg, Ich ergreife den Augenblick, da meine Frau ganz ohne Besonnenheit liegt, um Ihnen für Ihren gütigen Anteil zu danken. Meine Freude war nur kurz: Und ich verlor ihn so ungern, diesen Sohn! denn er hatte so viel Verstand! so viel Verstand! – Glauben Sie nicht, daß die wenigen Stunden meiner Vaterschaft, mich schon zu so einem Affen von Vater gemacht haben! Ich weiß, was ich sage. – War es nicht Verstand, daß man ihn mit eisern Zangen auf die Welt ziehen mußte? daß er sobald Unrat merkte? – War es nicht Verstand, daß er die erste Gelegenheit ergriff, sich wieder davon zu machen? – Freilich zerrt mir der kleine Ruschelkopf auch die Mutter mit fort! – Denn noch ist wenig Hoffnung, daß ich sie behalten werde. – Ich wollte es auch einmal so gut haben, wie andere Menschen. Aber es ist mir schlecht bekommen. Lessing“ (Brief Nr. 1331 [An Johann Joachim Eschenburg; 31. Dez. 1777], in: B 12, 116). Und noch einmal zwei Wochen später an Eschenburg: „Mein lieber Eschenburg, Gestern Morgen ist mir der Rest von meiner Frau vollends aus dem Gesichte gekommen. – Wenn ich noch mit der Einen Hälfte meiner übrigen Tage das Glück erkaufen könnte, die andre Hälfte in Gesellschaft dieser Frau zu verleben; wie gern wollte ich es tuen. Aber das geht nicht: und ich muß nur wieder anfangen, meinen Weg allein so fort zu duseln“ (Brief Nr. 1341 [An Johann Joachim Eschenburg; 14. Jan. 1778], in: B 12, 121f. Hier: 121,25–32). 373  So, in einem Anflug von Begeisterung, F. W. J. Schelling (Philosophie der Mythologie, 84).

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Dritter Teil: Gipfelschau

philosophische Hauptschrift, Die Erziehung des Menschengeschlechts, zeugen von Lessings tiefgreifender Auseinandersetzung mit der radikalen Bibel- und Christentumskritik des Hamburger Gelehrten H. S. Reimarus. Wieder einmal streitet Lessing für die ‚Rettung‘ eines zu Unrecht Verfemten – doch diesmal keines grundlos verketzerten Querdenkers, sondern eines historischen Phänomens, das unter den Bedingungen eines überwiegend ungeschichtlichen Denkens immer mehr unter Rechtfertigungsdruck gerät: des Christentums – bzw. noch grundsätzlicher: der positiven Religion(en) überhaupt. – Freilich hieße es Lessing missverstehen, wollte man seine Intention als Herausgeber der Fragmente lediglich auf die apologetische Absicht beschränken und dabei die kri­ tische Stoßrichtung übersehen, zu welcher er sich – als ein „Liebhaber der Theologie“374 – angesichts der anämischen Erscheinung gerade der Neologie verpflichtet (oder gar genötigt) sieht. Grundlegend für Lessings apologetische Strategie ist die Unterscheidung von außen und innen, von geschichtlich-konkretem Ausdruck und „darunterliegender“ Substanz, von Form und Inhalt. Für den Apologeten bedeutet dies, seine Absichten auf die innere Wahrheit des christlichen Glaubens zu richten, sprich: auf das Christentum als Religion sowie auf die Rechtfertigung seines (von Bibel und Buchstaben unterschiedenen) Geistes – anstatt sich in zirkulären Argumentationsfiguren im Kreise zu drehen.375 Dabei wird die zeitgenössisch gängige Methode, die „christlichen Geheimnisse“ oder Glaubensmysterien zu einem bloß „natürlichen Dinge herunter“ zu erklären376 , von Lessing ebenso zurückgewiesen wie andererseits auch das autoritative Offenbarungsverständnis der Orthodoxie. Demgegenüber betont Lessing eine dem Begriff inhärente und also wesentliche Übervernünftigkeit der Offenbarung – „Denn was ist eine Offenbarung, die nichts offenbaret?“377 – und integriert diese in eine spezifisch geschichtliche, von einem starken Vorsehungsglauben durchwaltete opti­mis­tische Vernunftkonzeption. Anders als von Kant in seiner Religionsschrift intendiert, führt die so verstandene Offenbarung nicht wieder zur natürlichen Vernunftreligion zurück; vielmehr leitet sie die Vernunft über ihren gegenwärtigen Umfang hinaus, hin zu ihrer „völligen Aufklärung“.378 Kurzum: Die Rechtfertigung der positiven Religionen als (in ihrer Geschichtlichkeit und Kontingenz gleichwohl) notwendiger Größen und damit zugleich die Rechtfertigung Gottes 374

  B 9, 57,32 (Axiomata).   Einen „ewigen Zirkel“ erkennt Lessing etwa im schriftbasierten Wahrheitserweis der Bibel, „nach welchem die Unfehlbarkeit eines Buches aus einer Stelle des nemlichen Buches, und die Unfehlbarkeit der Stelle, aus der Unfehlbarkeit des Buches bewiesen wird“ (B 9, 62,1–4; Axiomata). 376   Karl Gotthelf Lessing (Hg.), Gotthold Ephraim Leßings theologischer Nachlaß (1784), 5 („Vorrede“). 377   B 8, 316,29f. (Gegensätze). 378   Die Erziehung des Menschengeschlechts, § 80. 375

VII. Geschichtliche Vernunft – vernünftige Geschichte

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angesichts der Religionsgeschichte – mit einem Wort: die Theodizee der Religionen kann dann (und nur dann und dann erst) als evidentermaßen gelungen betrachtet werden, wenn „wir in allen positiven Religionen […] weiter nichts, als den Gang erblicken, nach welchem sich der menschliche Verstand jedes Orts einzig und allein entwickeln können, und noch ferner entwickeln soll“.379 Das heißt: Während für Reimarus und den Deismus die wahre Religion als natürliche Religion die Religion der Vernunft ist (nämlich im Sinne des Genitivus auctoris), ist für Lessing die wahre Religion eine Religion für die Vernunft – hier ist die Vernunft also Objekt der durch die Offenbarungsreligionen gewährten Erleuchtung.380 Erst in dieser Perspektive also gelingt es Lessing, die Religion als eine der fundamentalen geschichtlichen Erscheinungen nun auch „im hermeneutischen Horizont der Vorsehung und ihres weisen und guten Geschichtsplanes in seinen notwendigen Zusammenhängen“ zu betrachten.381 Im Kontext des zeitgenössischen Denkens (insbesondere der Neologie) besteht die Pointe der Lessingschen Konzeption – seine religionsphilosophische Leitidee – in der wechselseitigen Bezogenheit von Vernunft und Offenbarung. Diese kann in wenigen Worten so beschrieben werden, dass die Offenbarung die noch unvollkommene Vernunft auf ihrem Weg hin zu ihrer „völligen Aufklärung“ leitet und ihr dabei auch solche „Begriffe vom göttlichen Wesen, von unserer Natur, von unsern Verhältnissen zu Gott“ mitteilt, „auf welche die menschliche Vernunft von selbst nimmermehr gekommen wäre“382 – gemäß unserer Terminologie also sowohl bloße als auch notwendig geoffenbarte Vernunftwahrheiten. Im Unterschied zur Neologie erkennt Lessing in solcher Begriffs-Mitteilung indes nur die eine Seite der Medaille: Da die geoffenbarten Wahrheiten aufgrund ihrer geschichtlichen Vermitteltheit (Stichwort Offenbarungsgeschehen) formal betrachtet bloß ‚zufällig‘ oder kontingent sind, ist zur Vergewisserung ihrer Wahrheit ihre Ausbildung „in Vernunftswahrheiten […] schlechterdings notwendig“.383 Der „Dienst“384, den die Vernunft dabei leistet, besteht also präzise darin, die ihr ‚mitgeteilten‘ Begriffe und Wahrheiten aus deren ‚Zufälligkeit‘ und Kontingenz zu befreien und dem Geoffenbarten so al379

  AaO. („Vorbericht“).   Freilich steht auch hier wieder das Verständnis von Offenbarung als einer Illumination der Vernunft (vs. Manifestation) im Hintergrund (vgl. die entsprechenden Ausführungen o. in Kap. I. 2.2.2 u. Exkurs 1). 381  S. die entsprechenden Schlussbemerkungen in obigem Kap. V. 3. (dort findet sich auch das Zitat Arno Schilsons). – Wie tiefgreifend sich Lessings Verständnis sowohl der (Religions-) Geschichte als auch der menschlichen Vernunft seit Beginn seines Denkweges gewandelt hat, wird nicht zuletzt in den Formulierungen der von uns gewählten Kapitelüberschriften deutlich: Geschichtslose Vernunft vs. vernunftlose Geschichte (Kap. I.) und Geschichtliche Vernunft – vernünftige Geschichte (Kap. VII.). 382   Die Erziehung des Menschengeschlechts, § 77. 383  AaO., § 76. 384  AaO., § 37. 380

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Dritter Teil: Gipfelschau

lererst Gewissheit und – Lessings ganzheitlichem Vernunftbegriff entsprechend – auch handlungsbestimmende Stärke zu verleihen. Lauter Licht wird folglich erst dann sein, wenn alle Wahrheit Vernunftwahrheit (geworden) ist. Das so erleuchtete ‚dritte Zeitalter‘ – darauf insistiert Lessing gegen alle Zweifel –, „die Zeit der Vollendung“, „sie wird kommen, sie wird gewiß kommen“.385 Es ist diese Gewissheit, die Lessings ‚entzückende Aussicht‘ als Glaubensüberzeugung oder Hypothese, sprich: als „Denknotwendigkeit“ allein unter optimistischen Voraussetzungen kennzeichnet. In diesem Sinne formuliert § 4 das Credo des vorsehungsgläubigen Vernunftoptimisten gegen die Tyrannis einer „neuen Orthodoxie“ – eine für Lessings Dafürhalten gefährliche, weil potenziell menschenverachtende Form der Verabsolutierung des Christentums, wie sie die Neologie im Namen der Aufklärung in einer Art religiös-philosophischem Zwittertum von Vernunft und Glauben – nolens volens? – zu installieren im Begriffe ist. Nach § 4 jedenfalls findet die Geschichte, findet das Menschengeschlecht sein Ziel keineswegs in einem (wie auch immer gearteten) aufgeklärten Christentum. Vielmehr hat „der gute Meister“386 seinen Zöglingen eine andere Zukunft bestimmt: das ‚dritte Zeitalter‘ eines neuen ewigen Evangeliums387, einer völligen Aufklärung der Vernunft und einer Reinigkeit des Herzens, „die uns, die Tugend um ihrer selbst willen zu lieben, fähig macht“.388 Mit einem Wort: die Wirklichkeit einer letzten und ewigen, allseitigen Umarmung.389

385

 AaO., § 85.  AaO., § 76. 387  AaO., § 86. 388  AaO., § 80. 389   So die letzte Regieanweisung in Lessings Nathan-Stück: „Unter stummer Wiederholung allseitiger Umarmungen fällt der Vorhang“ (B 9, 627). 386

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Schluss Bei allem Entzücken über die Aussicht in jene abendgerötete Ferne wenden wir den Blick noch einmal zurück und überschauen unseren gemeinsam mit Lessing abgeschrittenen Denkweg. „Die Xstliche Religion“, so lasen wir zu Beginn dieses Weges, „ist kein Werk, das man von seinen Eltern auf Treue und Glaube annehmen soll.“ Hinter diesem frühreifen Bekenntnis steht Lessings lebenslang festgehaltene Einsicht, dass man die Wahrheit niemals – „als ob [sie] Münze ­wäre“1 – besitzen oder ‚(v)ererben‘ könnte. Wahrheit will erstrebt, sie muss errungen werden. Solches Ringen um Wahrheit dokumentiert sich in Lessings „Weg der Untersuchung“ – jenem Weg also, auf welchem der flügge gewordene Pfarrerssohn Überzeugung zu erlangen sich bestrebte. Es verwundert kaum, dass Lessing in seinem festen Entschluss, alles mit eigenen Augen zu betrachten, seine orthodoxe Prägung – wenigstens fürs Erste – hintansetzt, um in offenkundiger Zeitgenossenschaft auf die Heerstraße religionskritischer Aufklärungsphilosophie einzubiegen: „Der Mensch ward zum Tun und nicht zum Vernünfteln erschaffen.“ – Wie die Philosophie ihre Kernaufgabe in der Moralität, so soll die wahre Religion ihr innerstes Wesen in der Harmonie von ‚Einfachheit‘, ‚Leichtigkeit‘ und ‚Lebendigkeit‘ erkennen. Und wie die wahre Religion im Dreiklang ihrer Wesensbestimmung den ganzen Menschen in Anspruch nimmt (nämlich als Denkenden und zum Handeln Bestimmten), so fordert sie in ihrer Unüberbietbarkeit auch die Beipflichtung aller Menschen. In ihrem totalen und universalen Anspruch aber wurde sie ebenso wohl in der Philosophie des Sokrates wie in der Religion Christi erkannt und durch beide als Menschheitslehrer verkörpert, verkündigt und bezeugt. Wie aber gerade Christus in der Reinheit seiner Verkündigung „alle Arten der Religion zu verbinden“ und so die natürliche Religion in ihrer Lauterkeit wiederherzustellen vermochte, so erweist sich alle geschichtliche Religion im Spiegel dieser ‚einfachen‘, ‚leichten‘ und ‚lebendigen‘ Lehre als das Machwerk menschlichen Beliebens: Ihre ‚willkürlichen Sätze‘, ihre ‚nichts bedeutenden und selbst erwählten Gebräuche‘ bezeugen nichts als den Abfall der Nachkommen Adams von der ursprünglichen und göttlichen Wahrheit. In ihrer Geschichtlichkeit und Positivität lässt sich das Göttliche nicht vernehmen: Gott spricht nicht durch supranaturale Zeichen; er diktiert nicht, auf dass man glaube. Seine Stimme ist lau1

  B 9, 554 (Nathan der Weise, III 6, VV. 352f.).

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Schluss

ter Licht, vermittelt durch die menschliche Vernunft. Wahrt diese die ihr gesetzten Grenzen; anerkennt sie die ihr gegebene, festumgrenzte Natur, so tut sich in ihrem einfältigen Spruch das Göttliche kund. Mit einem Wort: Menschliche Vernunfterkenntnis ist durch Gott konstituiert. Wo der Mensch aber in willkürlicher Eigenmächtigkeit wider seine schöpfungsmäßige Bestimmung handelt, ist lauter Unwahrheit und Finsternis. So in der Geschichte, die in all ihren Wechseln und Zufälligkeiten zum Gegenkandidaten der unwandelbaren und geschichtslosen Vernunft avanciert. Kommt es also in der Identifikation von natürlicher Vernunft und göttlicher Offenbarung zur Überwindung des jahrhundertelang dominierenden Dualismus religiöser Erkenntnisquellen, so reißt der Graben an anderer Stelle wieder auf: zwischen der geschichtslosen Vernunft auf der einen und der vernunftlosen Geschichte auf der anderen Seite. – So die Koordinaten jenes Punktes, von welchem unser Weg seinen Ausgang nahm. Freilich erweist sich dieser Ausgangspunkt schon deshalb als problematisch, weil die für den Menschen wesentliche (religiöse) Wahrheit in der utopischen Idee einer rein natürlichen Religion und somit jenseits der Geschichte lokalisiert wird, während doch der Mensch allein in der Geschichte existiert – eine Problematik, die sich auf methodischer Ebene in jenem widersprüchlichen Versuch widerspiegelt, vermittels einer Rekonstruktion der Geschichte zur geschichtslosen (Vernunft-)Natur des Menschen vorzudringen. Eine Wegstrecke weiter gelangten wir mit der Rettung des Hier. Cardanus. Hier unternimmt Lessing nicht mehr den Versuch, von der Geschichte loszukommen und sich unmittelbar auf die Natur des Menschen zu beziehen. Stattdessen vollführt er in der Figur des ‚Mahometaners‘ die Identifikation von geschichtlichem Islam und natürlicher Religion und verleiht damit Letzterer ein geschichtliches Antlitz. – Freilich geschieht solche Identifikation an dieser Stelle noch ohne argumentative Begründung. – Entsprechend verschiebt sich denn auch der Fokus von Lessings Kritik: Diente das Gegenüber von ungeschichtlicher natürlicher Religion und geschichtlichen positiven Religionen im Herrnhuter-Essay noch einer – mindestens deistisch inspirierten – prinzipiellen Kritik der historischen Religion, so zielt die jetzige Konfrontation der geschichtlichen(!) natürlichen Religion mit der (bzw. den) Offenbarungsreligion(en) auf eine Kritik der Apologetik: Soll die Wahrheit des Christentums, soll seine Göttlichkeit mit Recht behauptet werden können, so bedarf es für Lessing (und entgegen der apologetischen Praxis seiner Zeit) der außerordentlichen Anstrengung, die spezifisch christlichen Lehren im Rahmen einer rationalen Argumentation als vernünftig, sie als ‚ewige Wahrheiten‘ zu erweisen. – Es liegt auf der Hand, dass Lessing selbst solchen (im zeitgenössischen Kontext ungeheuerlichen) Versuch im Christentum der Vernunft unternommen hat. – Dieselbe Stoßrichtung zeigt sich auch in der Auseinandersetzung mit dem gefühlstheologischen Ansatz Friedrich Gottlieb Klopstocks, innerhalb derer Lessing dem Klopstockschen Versuch, die offenbar gewordenen Begründungs-

Schluss

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aporien der zeitgenössischen christlichen Apologetik durch eine Flucht in die Subjektivität zu überwinden, sein Plädoyer entgegensetzt, an der allgemeinen Vernünftigkeit der (wahren) Religion und ihrer Lehren festzuhalten. Die Frage, wie angesichts solcher Vernünftigkeit der Religion nun aber die schlichte Tatsache ihrer – mehr oder weniger vernünftigen – Vielgestaltigkeit innerhalb der Geschichte zu erklären sei, beantwortet Lessing in seinem Fragment Über die Entstehung der geoffenbarten Religion. Die Pointe dieses kurzen Fragments liegt im Aufweis einer soziologischen Notwendigkeit der historisch-empirischen Vielgestaltigkeit der Religionen. Indem Lessing Einsicht gewinnt in die (historisch-kontingente) Relativierung der Vernunft in ihrer abstrakten Einheit und Einzigkeit, schließt er daraus auf die Unmöglichkeit einer universal-einheitlichen Realisierung der natürlichen Religion ‚im Stande bürgerlicher Vereinigung‘. Die natürliche Religion wird in die Sphäre der Idealität entrückt, ihre Transformation in die Positivität unter geschichtlichen Bedingungen argumentativ begründet. Obwohl es Lessing dadurch gelingt, die fak­ tische Vielgestaltigkeit der Religionen im Rahmen einer deduktiven Argumentation rational zu begründen und so den religionsgeschichtlichen Prozess auf eine ihm inhärente Vernünftigkeit hin transparent zu machen, bleibt die positive Religion in ihrer Beurteilung ambivalent. Besonders problematisch erscheint dabei die Schattenhaftigkeit ihrer Geschichtlichkeit im Lichte ihrer natürlichen Idee – zumal Lessing schon bald damit beginnen sollte, Geschichte (und damit auch und v.a. Religionsgeschichte) „im hermeneutischen Horizont der Vorsehung“ zu betrachten. Haben wir damit die Heerstraße der Aufklärungsphilosophie mit ihrem abstrakt-ungeschichtlichen Denken bereits verlassen, so führt Lessings intensive Auseinandersetzung mit Reimarus und Leibniz zu Beginn der 1770er-Jahre noch weiter davon ab. Durch die Kritik des einen zur erneuten Beschäftigung mit dem Problemkomplex Offenbarungsreligion herausgefordert und durch die Apologetik des anderen in seinem Glauben an die Suffizienz und Unüberbietbarkeit der natürlichen Religion in grundstürzender Weise erschüttert, verwirft Lessing mit diesem Glauben zugleich auch jenen an die Unwandelbarkeit der Vernunft. Gerade die erfolgreiche Strategie eines Leibniz, die christlichen Mysterien als zwar übervernünftige, doch logisch mögliche Wahrheiten zu erweisen, wird Lessing zum „Fingerzeig“, dass die Vernunft in ihrer Unentschiedenheit gegenüber den Mysterien noch nicht vollkommen bei sich selbst, sondern vielmehr noch in Entwicklung begriffen und also keineswegs absolut, souverän und autonom ist. Kurzum: Die Vernunft wird ihm zur Werdenden und Wandelnden, zur Vernunft auf dem Wege. Als noch Unvollendete aber vermag sie es nicht selbst, sich ihren Weg hin zu ihrer „völligen Aufklärung“ zu weisen. Sie bedarf vielmehr eines anderen Lichtes, das sie führt, erkennt ihre Angewiesenheit auf Lenkung von außen. Diese Lenkung aber wird ihr durch Offenbarung zuteil. In diesem Sinne also manifestiert sich in der Religionsgeschichte die Erziehung

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des Menschengeschlechts, an deren Ziel – dies garantiert der göttliche Erzieher in seiner allmächtigen, allgütigen und allweisen Vorsehung – das „dritte Zeitalter“ einer autonomen und zu sich selbst gebrachten, vollendeten Vernunft steht. – Wir kehren uns noch einmal um und blicken in jene abendgerötete Ferne – dorthin, wo unter stummer Wiederholung allseitiger Umarmungen der Vorhang fällt.

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Literaturverzeichnis 1. Quellen 1.1 Lessingschriften Gotthold Ephraim Lessing, Werke und Briefe, 12 Bde., hgg. v. Wilfried Barner et al., Frankfurt a.M. 1985–2003. Im Einzelnen (Fragmente und Schriften, gemäß ihrer Sortierung in der Frankfurter Ausgabe angeordnet): G. E. Lessing, Der Freigeist. Ein Lustspiel in fünf Aufzügen, in: B 1, 361–445. G. E. Lessing, Die Juden. Ein Lustspiel in einem Aufzuge, in: B1, 447–488. G. E. Lessing, Gedanken über die Herrnhuter, in: B 1, 935–945. G. E. Lessing, Das Christentum der Vernunft, in: B 2, 401–407. G. E. Lessing, „Vorrede [zu den Rettungen]“, in: B 3, 153–157. G. E. Lessing, Die Rettung des Hier. Cardanus, in: B 3, 198–223. G. E. Lessing, Fabeln. Drei Bücher. Nebst Abhandlungen mit dieser Dichtungsart verwandten Inhalts, in: B 4, 295–411. G. E. Lessing, Briefe, die neueste Litteratur betreffend, in: B 4, 453–777. G. E. Lessing, Über die Entstehung der geoffenbarten Religion, in: B 5/1, 423–425. G. E. Lessing, Von der Art und Weise der Fortpflanzung und Ausbreitung der christlichen Religion, in: B 5/1, 426–445. G. E. Lessing, Hermäa, Erster Band, Vorrede, in: B 5/1, 449. G. E. Lessing, Laokoon: oder über die Grenzen der Malerei und Poesie, in: B 5/2, 9–206. G. E. Lessing, Hamburgische Dramaturgie, in: B 6, 181–694. G. E. Lessing, Berengarius Turonensis: oder Ankündigung eines wichtigen Werkes desselben, wovon in der Herzoglichen Bibliothek zu Wolfenbüttel ein Manuscript befindlich, welches bisher völlig unerkannt geblieben, in: B 7, 9–126. G. E. Lessing, Emilia Galotti. Ein Trauerspiel in fünf Aufzügen, in: B 7, 291–371. G. E. Lessing, „Vorrede [Zur Geschichte und Litteratur. Aus den Schätzen der Herzog­ lichen Bibliothek zu Wolfenbüttel]“, in: B 7, 379–382. G. E. Lessing, Leibnitz von den ewigen Strafen (in: Zur Geschichte und Litteratur. Erster Beitrag), in: B 7, 472–501. G. E. Lessing, Des Andreas Wissowatius Einwürfe wider die Dreieinigkeit (in: Zur Geschichte und Litteratur. Zweiter Beitrag), in: B 7, 548–581. G. E. Lessing, Von Duldung der Deisten: Fragment eines Ungenannten (in: Zur Geschichte und Litteratur. Dritter Beitrag), in: B 8, 115–134. G. E. Lessing, Philosophische Aufsätze von Karl Wilhelm Jerusalem, in: B 8, 135–170.

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1. Quellen

291

Brief Nr. 621 (Von Johann Albert Heinrich Reimarus; Nov./Dec. 1770), in: B 11/2, 103– 106. Brief Nr. 624 (Von Christian Gottlob Heyne; 9. Dec. 1770), in: B 11/2, 116 f. Brief Nr. 645 (An Moses Mendelssohn; 9. Jan. 1771), in: B 11/2, 144–147. Brief Nr. 654 (Von Friedrich Nicolai; 12. Febr. 1771), in: B11/2, 158 f. Brief Nr. 657 (An Friedrich Nicolai; 16. Feb. 1771), in: B 11/2, 162 ff. Brief Nr. 665 (Von Friedrich Nicolai; 8. Mrz. 1771), in: B 11/2, 172 ff. Brief Nr. 996 (An Johann Joachim Eschenburg; 26. Oct. 1774), in: B 11/2, 667. Brief Nr. 693 (Von Karl Lessing; 4. Jun. 1771), in: B 11/2, 207 ff. Brief Nr. 694 (An Johann Wilhelm Ludwig Gleim; 6. Jun. 1771), in: B 11/2, 209 f. Brief Nr. 699 (An Karl Lessing; 4. Jul. 1771), in: B 11/2, 218 ff. Brief Nr. 797 (Von Herzog Karl von Braunschweig; 13. Feb. 1772), in: B 11/2, 354. Brief Nr. 849 (An Eva König; 27. Jun. 1772), in: B 11/2, 436–441. Brief Nr. 874 (An Karl Lessing; 5. Dec. 1772), in: B 11/2, 482–485. Brief Nr. 885 (An Eva König; 8. Jan. 1773), in: B 11/2, 494–497. Brief Nr. 906 (An Karl Lessing; 8. Apr. 1773), in: B 11/2, 538 ff. Brief Nr. 910 (Von Friedrich Nicolai; 26. Apr. 1773), in: B 11/2, 546 f. Brief Nr. 926 (Von Friedrich Nicolai; 13. Aug. 1773), in: B 11/2, 573–576. Brief Nr. 939 (Von Karl Lessing; 21. Okt. 1773), in: B 11/2, 590–593. Brief Nr. 951 (Von Eva König; 23. Dec. 1773), in: B 11/2, 605 ff. Brief Nr. 956 (Von Moses Mendelssohn und Friedrich Nicolai; 1. Feb. 1774), in: B 11/2, 611 ff. Brief Nr. 957 (An Karl Lessing; 2. Febr. 1774), in: B 11/2, 614–617. Brief Nr. 958 (Von Johann Wilhelm Ludwig Gleim; 4. Febr. 1774), in: B 11/2, 617 f. Brief Nr. 970 (An Moses Mendelssohn; 1. Mai 1774), in: B 11/2, 643 f. Brief Nr. 1257 (An Karl Lessing; 20. Mrz. 1777), in: B 12, 51 f. Brief Nr. 1331 (An Johann Joachim Eschenburg; 31. Dez. 1777), in: B 12, 116. Brief Nr. 1341 (An Johann Joachim Eschenburg; 14. Jan. 1778), in: B 12, 121 f. Karl Gotthelf Lessing (Hg.), Gotthold Ephraim Leßings theologischer Nachlaß, Berlin 1784. (Kommentierte Ausgaben der Erziehungsschrift:) Gotthold Ephraim Lessing, Die Erziehung des Menschengeschlechts, hg. u. komm. v. Walter Sparn, Leipzig 2018 (= Große Texte der Christenheit 5). Louis Ferdinand Helbig, Gotthold Ephraim Lessing. Die Erziehung des Menschengeschlechts, Histor.-krit. Ed. m. Urteilen Lessings u. seiner Zeitgenossen, Einl., Entstehungsgesch. u. Komm., Bern 1980 (= Germanic Studies in America 38).

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1.4 (Kommentierte) Quellensammlungen/Dokumentationen Braun 1884–1897: Julius W. Braun (Hg.), Lessing im Urtheile seiner Zeitgenossen. Zeitungskritiken, Berichte und Notizen, Lessing und seine Werke betreffend, aus den Jahren 1747–1781, 3 Bde., Berlin. Daunicht 1971: Richard Daunicht (Hg.), Lessing im Gespräch. Berichte und Urteile von Freunden und Zeitgenossen, München. Dvoretzky 1971/1972: Edward Dvoretzky (Hg.), Lessing. Dokumente zur Wirkungsgeschichte 1755–1968, 2 Tle., Göppingen. Hirsch 1964: Emanuel Hirsch, Hilfsbuch zum Studium der Dogmatik. Die Dogmatik der Reformatoren und der altevangelischen Lehrer quellenmäßig belegt und verdeutscht, Berlin (4. Aufl.).

1. Quellen

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1.5 Sonstige Hilfsmittel Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm, Bd. 26 (12. Bd. II. Abteilung: Vesche – Vulkanisch), bearb. v. Rudolf Meiszner, München 1984 (Nachdr. d. Erstausg. 1951).

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Register der Schriften Lessings in der chronologischen Ordnung ihrer Abfassung bzw. Publikation Der Freigeist  152 Die Juden  152 Gedanken über die Herrnhuter  11–53, 54, 62, 72–74, 97f., 143f., 148, 150f., 153f., 162, 169, 226, 249f., 270, 286 „Vorrede [zu den Rettungen]“  11f., 58 Die Rettung des Hier. Cardanus  11, 54–77, 83, 87, 97, 144, 147–149, 286 Das Christentum der Vernunft  4, 69, 81, 92–116, 134, 142, 151f., 179, 264f., 286 Fabeln/Fabelabhandlung  146, 186f. Briefe, die neueste Litteratur betreffend – 1. Literaturbrief  118 – 8. Literaturbrief  124 – 11. Literaturbrief  124 – 12. Literaturbrief  124 – 13. Literaturbrief  79, 124 – 48. Literaturbrief  135 – 49. Literaturbrief  2, 117–138, 152 – 51. Literaturbrief  137 – 108. Literaturbrief  135 – 111. Literaturbrief  125, 134, 136f. Über die Entstehung der geoffenbarten Religion  139–154, 169f., 221, 236, 268, 287 Von der Art und Weise der Fortpflanzung und Ausbreitung der christlichen Religion  139, 141f. Hermäa, Erster Band, Vorrede  55 Laokoon: oder über die Grenzen der Malerei und Poesie  141, 157 Hamburgische Dramaturgie  121, 154, 157 Berengarius Turonensis: oder Ankündigung eines wichtigen Werkes desselben …   1, 159–170, 179, 189, 202 Emilia Galotti  192 „Vorrede [Zur Geschichte und Litteratur …]“  171 Leibnitz von den ewigen Strafen  4, 100, 179f., 182 Des Andreas Wissowatius Einwürfe wider die Dreieinigkeit  112, 171–173, 179–182, 188f., 237, 242f. Von Duldung der Deisten: Fragment eines Ungenannten  195, 197, 227 Philosophische Aufsätze von Karl Wilhelm Jerusalem  270 Ein Mehreres aus den Papieren des Ungenannten, die Offenbarung betreffend  199–205, 212–236, 281–284

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Register der Schriften Lessings

Über den Beweis des Geistes und der Kraft  238–242, 267 ‚Paralipomenon‘. Über den Beweis des Geistes und der Kraft  6 Vom Arianismus, zufolge einer Abhandlung des Hrn. D. Töllners nemlichen Inhalts  179, 198 Über den Arianismus von Philalethes dem mittlern  179, 198 Herkules und Omphale  198 Axiomata, wenn es deren in dergleichen Dingen giebt  1, 219f., 222f., 225, 241, 252–254, 268, 282 Nötige Antwort auf eine sehr unnötige Frage des Hrn. Hauptpastor Goeze in Hamburg  253 Nathan der Weise 3f., 6, 241, 245, 270f., 284f. Die Erziehung des Menschengeschlechts  2–4, 65, 92, 115, 139, 179, 223, 231, 235, 243, 244–255, 260–284, 287f. Bibliolatrie  78 Rezensionen und journalistische Arbeiten – BPZ. 35. Stück. 23. 3. [1751]  14 – BPZ. 38. Stück. 30. 3. [1751]  14, 49f. – BPZ. 103. Stück. 28. 8. [1751]  14, 27, 38, 46, 50 – BPZ 155. Stück. 28. 12. [1751]  93 – Das Neueste aus dem Reiche des Witzes. Monat April 1751  16 – Das Neueste aus dem Reiche des Witzes. Monat Mai 1751  123 – Das Neueste aus dem Reiche des Witzes. Monat September 1751  124 Briefe – An Johann Gottfried Lessing (30. Mai 1749)  1, 25, 33, 60, 97, 219, 242, 244 – An Johann Gottfried Lessing (29. Mai 1753)  95 – An Karl Wilhelm Ramler (6. Dec. 1760)  140 – An Moses Mendelssohn (30. Mrz. 1761)  141 – An Karl Wilhelm Ramler (30. Mai 1762)  141 – An Friedrich Nicolai (17. Mai 1770)  158 – An Johann Gottfried Lessing (27. Jul. 1770)  158, 162, 164, 167 – An Johann Jakob Reiske (13. Oct. 1770)  164 – An Eva König (25. Okt. 1770)  164 – An Karl Lessing (29. Oct. 1770)  163f. – An Karl Lessing (11. Nov. 1770)  164 – An Moses Mendelssohn (9. Jan. 1771)  170, 194, 219, 236f. – An Friedrich Nicolai (16. Feb. 1771)  164 – An Johann Joachim Eschenburg (26. Oct. 1774)  270 – An Johann Wilhelm Ludwig Gleim (6. Jun. 1771)  158 – An Karl Lessing (4. Jul. 1771)  164 – An Eva König (27. Jun. 1772)  159 – An Eva König (8. Jan. 1773)  159 – An Karl Lessing (8. Apr. 1773)  159, 182, 193, 198, 227 – An Karl Lessing (2. Febr. 1774)  193f. – An Moses Mendelssohn (1. Mai 1774)  179, 226, 237 – An Karl Lessing (20. Mrz. 1777)  268

Register der Schriften Lessings

– An Johann Joachim Eschenburg (31. Dez. 1777)  281 – An Johann Joachim Eschenburg (14. Jan. 1778)  281

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Personenregister Hinweise an den Benutzer / die Benutzerin: Zur besseren Orientierung finden sich zentrale Belegstellen fett gedruckt; Kursivierungen weisen auf Fundstellen in den Anmerkungen hin.

Abbt, Thomas  269 Achermann, Erich  57, 65, 77 Adam (erster Mensch)  25, 27, 31f., 34f., 38, 42, 50, 52, 72, 74, 80, 144, 151, 230, 285 Adam, Wolfgang  12 Adorno, Theodor W.  12f., 16, 51, 97 Albrecht, Wolfgang  124 Alexander, Gerhard  196 Allison, Henry E.  5f., 97f., 103, 110, 115, 170f., 180, 222, 224, 237, 245, 265, 270, 272f., 280 Aner, Karl  1, 6, 24, 33, 79, 80, 182, 187, 224, 260 Anselm von Canterbury  74 Aristoteles  23, 100, 101, 103, 121 Arletius, Johann Kaspar  141 Augustinus  103, 177, 245 Avicenna  110

Beutel, Albrecht  2, 35, 79f., 84, 182, 196, 245, 256, 258 Beyreuther, Erich  31, 34 Bias von Priene  22 Bode, Johann Joachim Christoph  157 Bodmer, Johann Jakob  120–123 Böhm, Benno  23, 37, 49 Böhme, Jakob  135 Bohnen, Klaus  135, 158–160, 162f., 165f., 169, 171–173, 180, 240 Bollacher, Martin  6 Bothe, Bernd  150f., 170, 180f. Boyle, Robert  86 Braun, Julius W.  200 Breitinger, Johann Jakob  120–123 Briegleb, Klaus  50 Bruno, Giordano  98 Bultmann, Christoph  200, 268 Byrne, Peter  86

Balme, Christopher  33 Barner, Wilfried  139, 142 Basedow, Johann Bernhard  134 Baumgarten, Alexander Gottlieb  122f. Baumgarten, Siegmund Jacob  111f. Bayer, Oswald  253 Bayle, Pierre  12, 56, 177 Berengar von Tours  159–170 Bergmann, Ernst Albin  32, 34f., 37 Betegh, Gábor  22

Calixt, Georg  206 Calov, Abraham  207 Cardan, Hieronymus (Gerolamo Cardano)  54–77 Cassirer, Ernst  28, 138, 234, 235, 236, 238, 243, 253f., 270–272, 276 Christes, Johannes  22 Christus (s. Jesus Christus) Cicero, Marcus Tullius  43 Clarke, Samuel  35, 86

310

Personenregister

Cobet, Justus  22 Cochläus, Johannes  169 Cramer, Johann Andreas  119, 125, 134f., 152 Cyranka, Daniel  270f., 276 Dane, Gesa  247 Danneberg, Lutz  253 Danzel, Theodor Wilhelm  16, 160, 165 Daunicht, Richard  200 Descartes, René  23, 40, 128 Dörr, Volker C.  234, 254f., 262f., 265, 269, 280 Durand, Béatrice  17, 44 Durzak, Manfred  149, 220, 222, 226, 254, 275 Dvoretzky, Edward  200 Eberhard, Johann August  182 Eibl, Karl  265 Ernesti, Johann August  163 Eschenburg, Johann Joachim  270, 281 Euklid von Alexandria  241 Faust, Ulrich  162 Ferguson, Adam  244 Fick, Monika  2, 11f., 14f., 17f., 20–25, 32, 34, 44, 46, 55, 67, 69, 71, 76, 117–119, 127, 137, 221f., 224, 247f., 262, 265f., 269, 272f., 276 Fittbogen, Gottfried  4, 6, 52, 275 Franzbach, Martin  55 Freund, Gerhard  5, 202 Friedrich V. (König von Dänemark)  124 Fulbert von Chartres  160 Gawlick, Günter  196, 198 Gerhard, Johann  207–210 Gleim, Johann Wilhelm Ludwig  158, 163, 181 Göbel, Helmut  68f., 71, 246 Goethe, Johann Wolfgang  124, 140, 157, 270 Goeze, Johann Melchior  186, 202, 219f., 222f., 225, 252–254 Goldenbaum, Ursula  118–121, 123–125, 130, 134f., 138, 228f., 269

Goltz, Alexander Freiherr von der  92f., 95f., 111 Gottsched, Johann Christoph  118, 120–123, 128 Gregor VII. (Papst)  162 Grimm, Gunter E.  118f., 125 Grotius, Hugo  86 Guhrauer, Gottschalk Eduard  16, 160, 165 Häfner, Ralph  100, 115 Haller, Albrecht von  15, 20–23, 24, 31, 44, 47f., 51 Haupt, Johan Thomas  93–95, 115 Hebler, Carl  149, 153f., 270 Hecker, Johann Wilhelm  95f., 99 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich  96, 223 Helbig, Louis Ferdinand  270, 273 Herbert von Cherbury  275 Herder, Johann Gottfried  118, 129, 157, 197, 269 Hermanni, Friedrich  279 Heyne, Christian Gottlob  164, 169 Hirsch, Emanuel  205f. Hofmann, Carl Gottlob  14, 46 Hofmann, Michael  265 Hollaz, David  206, 210–212 Hölkeskamp, Karl-Joachim  22 Homer  122 Horaz (Quintus Horatius Flaccus)  54, 122 Horsch, Silvia  61, 71, 73f., 76 Huarte de San Juan, Juan  54 Hume, David  256 Hus, Johann  39 Hüskens-Hasselbeck, Karin  40, 44, 47 Jacobi, Friedrich Heinrich  3, 6f., 265 Jacobs, Wilhelm G.  241, 262 Jerusalem, Johann Friedrich Wilhelm  129, 228, 255–262, 263, 267, 269, 270, 280 Jerusalem, Karl Wilhelm  270 Jesus Christus  13, 28, 32–37, 38, 42f., 49f., 52, 60, 62, 63–65, 74, 75, 77, 79, 88, 96, 115, 119, 144, 149, 167, 176, 183, 185–187, 204f., 209, 225, 230, 231,

Personenregister

239–241, 241f., 249f., 251, 253, 256, 258, 285 Joachim von Fiore  269 Joest, Wilfried  30 Jüngel, Eberhard  231f. Kaiser, Gerhard  85, 124, 128f., 130, 136–138 Kant, Immanuel  34f., 45, 99f., 231f., 235f., 252, 282 Karl von Braunschweig (Herzog)  171, 255 Karlstadt (eigtl. Andreas Rudolff Bodenstein)  169 Kaufmann, Thomas  40 Kiesel, Helmuth  169, 200 Kleist, Ewald von  119 Klopstock, Friedrich Gottlieb  2, 69, 119, 120, 122f., 124–138, 144, 157, 221, 222, 286f. Klose, Samuel Benjamin  141 König, Eva  158f., 164, 281 Kohl, Katrin  137 Kondylis, Panajotis  194, 222, 245, 254, 265, 270f. Kretzschmar, Ernst  139 Kronauer, Ulrich  15f. Kuschel, Karl-Josef  69, 71, 73f., 76 Landmesser, Christof  151, 252f., 275 Lanfranc  160–162, 165f. Leibniz, Gottfried Wilhelm  4, 5, 6, 23f., 65, 73, 95, 99, 102, 108, 110, 112f., 121, 131, 157f., 171–173, 173–178, 179–182, 188f., 232f., 237f., 239f., 242f., 258, 263f., 268, 272, 275, 287 Leisegang, Hans  2, 4, 6, 246 Lemnius, Simon  169 Leppin, Volker  160, 162, 164, 166–169 Lessing, Johann Gottfried (= Lessings Vater)  1, 13f., 16, 25, 33, 60, 95, 97, 158, 162, 164, 167, 169, 171, 219, 242, 244 Lessing, Karl Gotthelf (= Lessings Bruder)  16, 92, 139, 158f., 162–164, 169, 171, 182, 188, 193f., 196, 198, 227, 268, 282 Liepmann, Hans W.  100, 159, 161, 164–166, 189 Locke, John  86

311

Lüdke, Friedrich Germanus  182­–188, 200f., 227–230, 235f., 267, 269 Lüpke, Johannes von  2, 13, 15, 33, 37, 41, 50–52, 97–99, 139f., 220, 239, 248, 265, 270, 275 Luther, Martin  39f., 162, 164, 167–169, 173f., 177 Mahlmann-Bauer, Barbara  269 Mahomet (s. Mohammed) Mann, Otto  193 Meier, Georg Friedrich  122f., 144–146, 147, 153 Meier, Mischa  22 Melanchthon, Philipp  56 Menander  32 Mendelssohn, Moses  7, 92, 95, 100, 117–119, 130­–133, 134, 136f., 140f., 170, 179, 182, 188f., 194, 196, 219, 226, 236f., 243f., 265 Menhennet, A.  20, 23, 48, 51 Meyer, Bernd  169f., 173, 178, 180, 188f., 233 Meyer, Dietrich  13 Milton, John  122 Mohammed (Prophet)  60, 61, 72, 72f., 75f., 149 Moore, Evelyn  2, 69 Mose (Prophet)  34, 84, 149, 258, 259 Müller, Ernst  120–123, 135, 137f., 146 Müller, Theodor Arnold  92f., 111 Multhammer, Michael  11f., 15, 25, 35–37, 49f., 52, 54–58, 74, 76f. Naumann, Christian Nicolaus  92f., 111 Newton, Isaac  20, 24, 86 Nicolai, Christoph Friedrich  117–119, 158, 162–164, 168, 169, 182, 196, 198, 200, 202 Niewöhner, Friedrich  167 Nisbet, Hugh B.  6f., 11, 13–15, 17, 21, 25, 33, 49, 51, 54–56, 93, 96–98, 112, 117, 119, 139–142, 153, 157–159, 163, 166, 168, 170–172, 179, 188, 193, 196–199, 221f., 224, 235, 244–246, 248, 265f., 270, 272f., 275f., 280f. Novalis (eigtl. Georg Philipp Friedrich von Hardenberg)  266

312

Personenregister

Oberdorfer, Bernd  114 Origenes  4f., 98, 239, 269f. Paulus (Apostel)  32, 82, 89, 183, 187, 203, 204f., 221 Pfaff, Christoph Matthäus  78, 80, 84, 87–89, 91 Pittakos von Mytilene  22 Platon  22, 23 Plutarch  32 Pockrandt, Mark  79f., 81, 83 Pons, Georges  35, 52, 61f., 73f., 80, 121, 135, 144, 148f., 151–153, 173, 180 Pordage, John  135 Quenstedt, Johann Andreas  205f., 211f. Radbertus, Paschasius  160 Ramler, Karl Wilhelm  140f. Raspe, Rudolf Erich  237 Ratramnus  160 Ratschow, Carl Heinz  205 Reh, Albert M.  77 Rehm, Michaela  21, 45f. Reimarus, Elise  196, 281 Reimarus, Hermann Samuel  148, 195–205, 212–218, 219, 224f., 229, 230, 231, 233f., 239f., 254, 271–273, 277, 282f., 287 Reimarus, Johann Albert Heinrich  163, 196f. Reiske, Johann Jakob  164 Reland, Adrianus  61 Rieger, Reinhold  160 Rohbeck, Johannes  18, 21 Rohls, Jan  49 Rose, Dirk  119 Rousseau, Jean-Jacques  15–21, 23f., 39, 44f., 45f., 48, 50f. Rudolph, Andre  134, 137 Sack, August Friedrich Wilhelm  78–91, 94, 128f. Sale, George  61 Scattola, Merio  222, 252 Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph 278f., 281

Schilson, Arno  2f., 4–6, 15, 26, 28, 34f., 41–44, 57, 71, 74, 77, 98, 146, 148f., 153f., 170, 195–200, 213, 221f., 223f., 228f., 235f., 243–245, 247f., 250, 254, 261, 263, 267, 272–276, 278–280, 283 Schmid, Heinrich  205–212 Schmid, Konrad Arnold  159–161 Schmidt, Erich  13f., 50, 151, 153, 162, 164f., 168, 243 Schmidt, Johann Lorenz  28, 197 Schmidt-Biggemann, Wilhelm  246f., 249f., 269f., 276 Schmitt, Axel  247 Schneider, Johannes  3, 34, 40f., 61, 65, 73, 77, 150, 164f., 168f., 182, 188f., 244, 270 Schneider, Ulrich Johannes  240 Schorch, Grit  271 Schultze, Harald  3, 4, 7, 222f., 241, 268f., 272 Schumann, Johann Daniel  6, 238 Schwarz, Friedrich Immanuel  55f. Seidl, Horst  103 Semler, Johann Salomo  228f., 269 Sokrates  15f., 22f., 27, 33, 34, 37, 38, 43, 44f., 47–49, 86, 182, 285 Solon von Athen  22 Spalding, Johann Joachim  120, 129, 256, 269 Sparn, Walter  6, 225, 250, 255, 265, 268, 271, 273, 275, 277 Spiekermann, Björn  119, 135 Spinoza, Baruch de  3, 6f., 24, 98, 141, 265 Steigerwald, Jörn  136 Steinbrügge, Lieselotte  18, 21 Stenzel, Jürgen  11, 14, 16, 43, 96, 98, 109 Stiening, Gideon  2, 245, 278 Strohschneider-Kohrs, Ingrid  6, 170, 242, 245–247, 250, 254, 262, 264–266, 272f. Tauentzien, Friedrich Bogislaw von  119, 140 Teller, Wilhelm Abraham  80 Thaidigsmann, Edgar  246, 270, 275 Thales von Miletos  22 Thielicke, Helmut  1, 4, 245, 263, 266, 268, 273, 275f., 280 Thomas von Aquin  30, 100–110, 111, 113

Personenregister

Tilesius, Balthasar Heinrich  128 Timm, Hermann  3, 6, 196, 199, 225, 240, 242–244, 263, 278 Tindal, Matthew  28–30, 31, 35f., 66, 76, 147, 259 Toland, John  263 Töllner, Johann Gottlieb  180, 185f. Troeltsch, Ernst  28f., 231 Vergil bzw. Virgil (Publius Vergilius Maro)  122 Vogt, Johann  56, 58 Vollhardt, Friedrich  2, 61, 63, 69f., 74f., 95f., 98, 120, 135, 139, 141f., 158, 179f., 199f., 225, 242, 265, 269 Voltaire (eigtl. François-Marie Arouet) 259

313

Walch, Christian Wilhelm Franz  163 Werle, Dirk  12 Wessell, Leonard P.  6, 265, 273f. Wieckenberg, Ernst-Peter  202, 221, 241 Wiedemann, Conrad  11f. Wieland, Christoph Martin  124 Wilckens, Ulrich  202 Wissowatius, Andreas  171f., 237 Wolff, Christian  24, 99, 128–130, 270 Young, Edward  137 Zinzendorf, Nikolaus Ludwig Graf von  11–14, 49f. Zwingli, Huldrych  39, 40, 162, 169

314

315

Sachregister Hinweise an den Benutzer / die Benutzerin: Zur besseren Orientierung finden sich zentrale Belegstellen fett gedruckt; Kursivierungen weisen auf Fundstellen in den Anmerkungen hin.

Abendmahl  40, 159–170, 176, 183, 185 Anthropologie  19–21, 25f., 29f., 31f., 34, 41–43, 47f., 51f., 143f., 146–148, 186, 203–210, 216f., 227f., 230, 234f., 242–244, 256–262, 269, 280f., 284, siehe auch Dogmenkritik; Erkenntnistheorie; Eschatologie; Geschichte; Hamartiologie; Religion; Soteriologie; Vernunft Apologetik, theologische  78–91, 218–236, siehe auch Beweis; Bibel; Bibelkritik; Buchstabe; Christentum; Christentumskritik; Evidenz; Gefühl; Gefühls­ christentum; Geist; Gewissheit; Notwendigkeit; Offenbarung; Religion; Religionskritik; Theodizee der Religionen; Übervernünftigkeit; Überzeugung; Vernunft; Vernunftkritik; Wahrheit; Wahrscheinlichkeit – ästhetisch begründet  120–127, 136f. – erkenntnistheoretisch begründet  81f., 234–236, 256–260 – historisch begründet  62–64, 87, 186 – indirektes rationales Verfahren (Leibniz)  64–66, 173–178, 237f., 242 – moralisch begründet  64–66, 134f., 152 – rational begründet  64–66, 76f., 92–116, 151f., 267f. – rational gestützt  210f. – religions- / geschichtsphilosophisch begründet  234f., 268–272, 282

– subjektivistisch begründet  83–86 – vernunftkritisch begründet  234–236, 242–244, 256­–260, 282 Apologetikkritik  68–77, 93f., 96–98, 141f., 151f., 218–220, 238–242, siehe auch Apologetik; Geschichte; Gewissheit; Kontingenz; Kritik; Rationalismus; Überzeugung; Vernunft Athanasianum, siehe Glaubensbekenntnis; Trinitätslehre Aufklärung  39, 45f., 164–167, 172, 183–189, 193f., 219, 235, 242–244, 258–268, 269­–271, 274, 280f., 282–284, siehe auch Anthropologie; Erkenntnistheorie; Geschichte; Moral; Offen­ barung; Religion; Religionskritik; Theodizee der Religionen; Übervernünftigkeit; Vernunft; Vernunftkritik; Vernunftreligion Bekenntnisschriften  185, siehe auch Bibel; Glaubensbekenntnis; Regula fidei; Tradition Bestimmung, menschliche, siehe Anthropologie Beweis, siehe auch Apologetik; Apologetikkritik; Bibel; Evidenz; Geschichte; Gewissheit; Notwendigkeit; Übervernünftigkeit; Überzeugung; Vernunft; Wahrheit; Wahrscheinlichkeit; Wunder

316

Sachregister

– Erfahrungs~  83–86 – Geschichts~  63f., 70f., 75f., 87, 91, 141f., 186, 238–242, 253 – Schrift~  87–91, 111f., 253f. – Vernunft~  64–66, 76f., 85, 93–97, 99–116, 176–178, 180, 267f. – Wunder- und Weissagungs~  63f., 75f., 87, 238–242 Bibel  174, 178, 181, 183, 187f., 221, 223, 237, 240–242, 282, siehe auch Apolo­getik; Apologetikkritik; Beweis; Bibelkritik; Buchstabe; Christentum; Christentumskritik; Erkenntnis; Erkenntnistheorie; Glaube; Neologie; Offenbarung; Offenbarungswahrheit; Orthodoxie; Religion; Testimonium spiritus sancti internum; Tradition; Wahrheit – als „Elementarbuch“  250–254, 268, 270f. – als gewisser Erkenntnisgrund  81–88, 205–212, 268 – als göttlicher Unterricht für die Vernunft  83–88, 90, 260 – als „populärer“ Unterricht  186, 188, 225–230 – Inspirationslehre  83f., 221, 241, 268 – orthodoxes Schriftverständnis  205–212, 241, 252–254, 268 – Schriftprinzip  79–82, 84, 87–89, 91, 205–212, 252–254, 268 Bibelkritik  195–197, 201f., 216–218, 221, 238, 252–254, 271, 277, 282, siehe auch Apologetik; Apologetikkritik; Beweis; Bibel; Christentumskritik; Deismus; Rationalismus; Vernunft Brief (als literarische Gattung / Publika­ tionsform)  117–119 Buchstabe  221, 223, 252–254, 282, siehe auch Apologetik; Bibel; Geist Christentum, siehe auch Apologetik; Aufklärung; Bibel; Dogmenkritik; Gefühl; Gefühlschristentum; Gewissheit; Glaube; Moral; Offenbarung; Reduktion; Religion; Religionsgeschichte; Religionsvergleich; Theodizee der Religionen; Toleranz; Tugend; Überzeugung; Zweifel

– als absolute Religion  1, 60–62, 79–91, 182–188, 205–212, 225, 227–230, 256–262, 268f., 272, 284 – als geschichtliche / positive Religion  38–41, 79–81, 87–91, 218–223, 225–232, 234, 247, 256–260, 269–271 – als natürliche Religion  28–30, 35–37, 52, 76f., 92–116, 179–181, 186–188, 225– 232 – vernünftiges ~  76f., 92–116, 198 – „wahres“ / „geläutertes“ ~  35–37, 41, 52, 79–81, 179, 182–188, 225–232, 255–260, 267, 269 Christentumskritik  28–30, 32–34, 38–41, 195–197, 201f., 212f., 269–271, 280–282, 284, siehe auch Apologetik; Bibelkritik; Christentum; Religionskritik; Theologiekritik christliche Religion, siehe Christentum Christologie 32–37, 42, 96, 185f., 240f., 249f., 256, 264, siehe auch Dogmen­ kritik; Hamartiologie; Soteriologie conditio humana, siehe Anthropologie Deismus  28–31, 35f., 64–66, 81f., 146f., 169–171, 188, 194–198, 220, 225, 229, 259, 268f., 272, 283, siehe auch Bibelkritik; Erkenntnistheorie; Moral; Offenbarung; Rationalismus; Religion; Religionskritik; Vernunft; Vernunftkritik Denken  125–138, 222, 262, siehe auch Diskursivität; Erkenntnis; Gefühl; Gefühlschristentum; Subjektivismus – ~ „im Dialog“  5f., 15f., 195 – ~ und Empfinden  125–138, 221f. Dichtungstheorie  120–123, 127, 136f. Diskursivität (vs. Subjektivismus)  120– 123, 133–138, 222f., siehe auch Denken; Rationalismus; Vernunft dogmatikôs – gymnastikôs  3–5, 245, siehe auch esoterisch – exoterisch Dogmenkritik  25–38, 40, 42, 50, 71–77, 146–152, 168–171, 182–187, 204f., 212f., 231f., 256, siehe auch Anthropologie; Apologetik; Bibelkritik; Christentumskritik; Christologie; Deismus; Erkenntnistheorie; Hamartiologie;

Sachregister

Neologie; Reduktion; Religionskritik; Soteriologie; Theologiekritik; Trinitätslehre; Vernunftkritik Dreieinigkeit, siehe Trinitätslehre Eklektizismus, philosophischer  5f., 98f. Empfinden, siehe Denken Ens perfectissimum, siehe Gott; siehe auch Gottesbeweis; Metaphysik Entsubstantialisierung, siehe Reduktion Epistemologie, siehe Erkenntnistheorie Erbsünde, siehe Hamartiologie Erkenntnis, siehe auch Bibel; Erkenntnistheorie; Evidenz; Gefühl; Geheimnis; Gewissheit; Offenbarung; Übervernünftigkeit; Überzeugung; Vernunft – deutliche ~  125f., 128–138, 216, 229f. – empirische ~  174 – in der orthodoxen Dogmatik   205–212 – intuitive ~  83–85, 126–138, 221–223, 266f. – rationale ~  29f., 81f., 92–116, 125f., 128–136, 173–175, 187f., 203–205, 212f., 254f., 262–268 – religiöse ~  29f., 81f., 87f., 90f., 93–116, 124–138, 176–178, 187f., 203–213, 221–223, 254–268 – sinnliche ~  174 – undeutliche ~  126–138 – subjektivistisch gefasst  145f. Erkenntnistheorie  28–30, 81f., 87f., 90f., 93f., 99, 101, 125–137, 143–146, 170, 173–178, 187–189, 202–213, 221–223, 234–244, 246, 250–254, 254–268, 268–276, siehe auch Apologetik; Apologetikkritik; Beweis; Denken; Erkenntnis; Evidenz; Gefühl; Geheimnis; Gewissheit; Offenbarung; Offenbarungswahrheit; Übervernünftigkeit; Überzeugung; Vernunft; Vernunftwahrheit; Wahrheit Eschatologie (auch individuelle)  37, 72f., 186, 216f., 250f., 259, 269–276, 280f., 284, siehe auch Anthropologie; Aufklärung; Geschichte; Religion; Religionsgeschichte; Theodizee der

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Religionen; Vernunftoptimismus; Vorsehung; Vorsehungsglaube esoterisch – exoterisch  3–5, 179f., siehe auch dogmatikôs – gymnastikôs Essay  12f., 16, 68, 97 Ethik  97f., siehe auch Moral Evidenz  25f., 29–31, 59–66, 95, 101, 148, 173–178, 182–188, 222f., 232, 238–243, 266–271, 283f., siehe auch Apologetik; Apologetikkritik; Beweis; Erkenntnis; Erkenntnistheorie; Geschichte; Gewissheit; Notwendigkeit; Offen­ barung; Religion; Überzeugung; Vernunft; Wahrheit; Wahrscheinlichkeit exoterisch, siehe esoterisch – exoterisch „Fingerzeig“  2, 246f., 250f. Fragmentenstreit  194–205, 212–236 Gefühl  83–85, 126­–138, 221–223, siehe auch Christentum; Denken; Erkenntnis; Erkenntnistheorie; Gefühlschristentum; Gewissheit; Wahrheit Gefühlschristentum  120–127; siehe auch Apologetik; Christentum; Denken; Diskursivität; Gefühl; Subjektivismus Gefühlstheologie, siehe Gefühlschristentum Geheimnis  36, 64–66, 72, 87–91, 93f., 111f., 120–123, 175–179, 181, 182–189, 205–212, 225f., 229f., 237–244, 248, 262–268, 274, 282, siehe auch Apologetik; Apologetikkritik; Beweis; Christentum; Dogmenkritik; Erkenntnis; Erkenntnistheorie; Evidenz; Gewissheit; Notwendigkeit; Offenbarung; Offenbarungswahrheit; Religion; Religionskritik; Trinitätslehre; Übervernünftigkeit; Überzeugung; Vernunft; Vernunftkritik; Wahrheit; Wahrscheinlichkeit Gehorsam, siehe Glaubensgehorsam Geist  221–223, 252–254, 282, siehe auch Apologetik; Buchstabe; Religion Gelehrsamkeit  54–56, 141, 157–162, 171f., 230

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Sachregister

– Gelehrtenkritik  14, 44–49, 56–59 – Kritik der Gelehrsamkeit  44–49, 183f. – Kritik des gelehrten Diskurses  11–14, 56–59, 160–162 Geschichte, siehe auch Anthropologie; Apologetik; Apologetikkritik; Aufklärung; Beweis; Evidenz; Gewissheit; Kirchengeschichte; Kontingenz; Offenbarung; Philo­ sophiegeschichte; Religion; Religionsgeschichte; Religionskritik; Vernunft; Vorsehung; Vorsehungsglaube; Wahrheit; Wahrscheinlichkeit – als defizitäres Phänomen  154 – als degenerativer Prozess  21–28, 37–44, 257f., 261 – mangelnde Evidenz / Unbeweisbarkeit von historischen Ereignissen  63f., 70f., 75f., 238–242 – vernünftige, vorsehungsgeleitete ~  247–251, 254–266, 269–276, 280f., 283f. – vs. Vernunft  21–44, 52 Geschichtswahrheit  62–64, 75f., 91, 148, 174f., 238–242, 267f., 269, siehe auch Apologetik; Apologetikkritik; Evidenz; Geschichte; Gewissheit; Kontingenz; Wahrheit; Wahrscheinlichkeit Gewissheit  75–77, 95, 186, 206, 274–276, 280f., 284, siehe auch Apologetik; Beweis; Evidenz; Gefühl; Kontingenz; Notwendigkeit; Überzeugung; Wahrheit; Wahrscheinlichkeit – absolute ~  177f., 233, 238, 242f., 266–268, 274 – historische ~  174, 178, 181, 240 – moralische ~  177f., 181, 233, 238, 242f., 274 – religiöse Erfahrungs~  83–86, 174, 178, 181, 221–223, 266f. Glaube, christlicher  1, 59–62, 79–81, 201, 221–223, 238–242, 253f., 262, siehe auch Apologetik; Bibel; Evidenz; Gefühl; Geheimnis; Gewissheit; Gnade; Heiliger Geist; Offenbarung; Testimonium spiritus sancti internum;

Überzeugung; Vernunft; Vorsehungsglaube; Wahrheit; Zweifel – Glaubensgehorsam  64, 88, 90f., 178, 180f., 202–213, 226, 230f., 233, 239 – mit der Vernunft in unklarer Liaison („neologischer“ Glaubensbegriff)   40f., 179–181, 186–188, 226–230, 267, 284 – Offenbarungs~  72, 85, 87–91, 173–178, 180f., 202–213, 221–223, 230–232 – sola fide  40, 204 Glaubensbekenntnis  88f., 112f., 185f., 253, siehe auch Bekenntnisschriften; Regula fidei; Tradition – Athanasianum  89, 113, 185f. – Nicaeno-Constantinopolitanum  89, 112 Glaubensgehorsam, siehe Glaube Glaubensmysterium, siehe Geheimnis Glaubenswahrheit, siehe Offenbarungswahrheit Gnade  34, 51f., 80, 96, 180f., 275, 277 Gott – Allgegenwart Gottes  137, 186 – allmächtig, allweise, allgütig  99–110, 213–216, 233f., 255, 257–260, 280 – Dreieinigkeit  87–91, 110–115 – Ens perfectissimum  95f., 99­–110, 132–134 – als Erzieher / Lehrmeister der Vernunft  81f., 234f., 249–251, 254f., 257–260, 262f., 284 – als Geist (Stichwort „Selbstreflexivität“ und „Selbsterkenntnis“)  36, 102–105 – als Gesetzgeber  20, 29f., 174f. – als ~ Israels  26, 70f., 250, 255 – als Grund und Garant rationaler Erkenntnis  27–30, 178, 207 – als Offenbarer  51f., 173f., 205–212, 249f., 254–266 – als Schöpfer / Grund der Welt  20, 23, 28–30, 48, 51, 84, 95, 101, 105–109, 121, 174f., 257, 259 – als Souverän (Stichwort „Wunder“)  174f. – als Stimme der Vernunft  23, 27, 29f., 32–35, 48 – als Tröster  84

Sachregister

– als Vorsehung / Lenker der Geschichte  48, 70f., 86, 247, 255, 258–260, 275f., 280, 284 – Summum bonum  103, 106f., 111 – Unermesslichkeit / Unbegreifbarkeit Gottes  23, 51, 90f., 93f., 101, 126, 132f., 175–177 Gottesbeweis  95, 99, 101f., siehe auch Metaphysik Gotteslehre  92–116 Großer Dichterkrieg, siehe Literaturstreit Grund, zureichender  270 gymnastikôs, siehe dogmatikôs – gymnastikôs Hamartiologie  19–21, 31f., 34, 35, 42f., 80, 185f., 202–213, 218, 225, 230, 244, 256–258, 264, siehe auch Anthro­ pologie; Christologie; Dogmenkritik; Soteriologie Heilige Schrift, siehe Bibel Heiliger Geist  31, 83–85, 90, 174, 178, 180f., 237, 256, siehe auch Bibel; Gewissheit; Glaube; Gnade; Inspira­ tionslehre; Testimonium spiritus sancti internum; Überzeugung Herrnhuter Pietisten, siehe Pietismus Homousie, siehe Konsubstantialität Identitätsprinzip, siehe Principium identitatis indiscernibilium Inspiration, siehe Inspirationslehre Inspirationslehre  83f., 221, 241, 268, siehe auch Bibel; Heiliger Geist Islam  60–62, 71–77, 271, siehe auch Religion Judentum  30f., 60–62, 70f., 179, 216f., 234, 247, 254–256, 260, 266, 269–271, siehe auch Religion Ketzer / Ketzerei / Ketzermacherei  11– 14, 39, 43f., 56, 79f., 160–162, 164–167, 182f., 195, 200–202, 218f. Kirchengeschichte  38–41, 56–58, 159–170, siehe auch Geschichte Kirchenväter, siehe Patristik Kleiner Dichterkrieg, siehe Literaturstreit

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Konsubstantialität  112, 114, 240, siehe auch Trinitätslehre Kontingenz  62–64, 238–242, 252–254, 259f., 266–268, 282f. Kosmogonie  106–110 Kritik, siehe Apologetikkritik; Bibel­ kritik; Christentumskritik; Dogmenkritik; Gelehrsamkeit; Literaturkritik; Religionskritik; Theologiekritik; Vernunftkritik lex naturae, siehe Naturrecht Lichterlehre  88, 173f., 176–178, 207f., 260, 270, siehe auch Anthropologie; Erkenntnis; Erkenntnistheorie; Geheimnis; Hamartiologie; Offenbarung; Übervernünftigkeit; Vernunft Literaturkritik  117–119 Literaturstreit  120–123 Menschenbild, siehe Anthropologie Menschennatur, siehe Anthropologie Metaphysik, klassische  98–115, siehe auch Gott; Gottesbeweis Mimesis, siehe Nachahmung Moral  21–24, 24–26, 28–30, 41f., 45–50, 64–66, 85, 95, 143f., 152, 174, 182–188, 203f., 227–229, 229–232, 257–260, 269–271, 284, siehe auch Aufklärung; Deismus; Rationalismus; Reduktion; Religion; Religionskritik; Toleranz; Tugend; Vernunft moralische Wochenschrift  117, 124f. Mysterium, siehe Geheimnis Mystik  126f., 134–137, siehe auch Gefühlschristentum Nachahmung (Mimesis)  121f., siehe auch Dichtungstheorie Natur, menschliche, siehe Anthropologie Naturrecht  29f., 64–66, 146f. natürliche Religion, siehe Religion; siehe auch Anthropologie; Deismus; Dogmenkritik; Erkenntnistheorie; Evidenz; Geschichte; Moral; Offenbarung; Reduktion; Religionskritik; Tugend; Vernunft

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Neologie  78–91, 162–164, 182–188, 202, 220, 255–262, 269, 272, siehe auch Bibel; Christologie; Dogmenkritik; Erkenntnistheorie; Geschichte; Glaube; Hamartiologie; Offenbarung; Reduktion; Soteriologie; Theologie­ kritik; Toleranz; Vernunft Nicaeno-Constantinopolitanum, siehe Glaubensbekenntnis; Trinitätslehre Notwendigkeit  270, 272, 280, siehe auch Apologetik; Beweis; Evidenz; Gewissheit; Überzeugung; Vernunft; Wahrheit; Wahrscheinlichkeit – absolute / logische / metaphysische / geometrische ~  174–176, 239f. – moralische ~  174–176 – physische ~  174–176 – soziologische ~  146–150, 271 Offenbarung, siehe auch Apologetik; Aufklärung; Christentum; Erkenntnistheorie; Evidenz; Geheimnis; ­Geschichte; Gewissheit; Glaube; Kontingenz; Lichterlehre; Offenbarungswahrheit; Religion; Religions­ geschichte; Theodizee der Religionen; Überzeugung; Übervernünftigkeit; Vernunft; Vernunftkritik; Wahrheit – als Erziehung des Menschengeschlechts  235, 242, 244, 247, 256–262, 262–268 – als Illumination  27–30, 41, 81f., 134, 188, 256–260, 262–268, 277–283 – als immanentes Geschehen  27–30, 48, 52, 134, 148f., 188, 265, 272f. – als Manifestation (revelatio specialis sive supernaturalis)  26–30, 41f., 72, 90f., 173–178, 205–212, 212–216, 218, 225, 268, 278 – als „populärer“ Unterricht  187f., 229f. – als transzendenter Akt  81–87, 173–178, 205–212, 226f., 230–244, 247–262, 262–268, 272–281 (272f.) – als Unterricht für die Vernunft  81–87, 256–260 – contra rationem  72, 75

– durch Dichtung / Poesie  120–123, 126f., 134, 136f. – durch Vernunft  27–30, 48, 52, 134, 148f., 188 – in der Geschichte  224–236, 249f., 256–268 – supra rationem  64–66, 87–91, 93f., 169–171, 173–178, 179–181, 188f. – Uroffenbarung  257, 261, 277 – „wechselseitiger Dienst“ von Vernunft und Offenbarung  254f., 261–268, 283 Offenbarungsreligion, siehe Religion; siehe auch Apologetik; Aufklärung; Christentum; Geheimnis; Geschichte; Glaube; Offenbarung; Offenbarungswahrheit; Religionsgeschichte; Religionskritik; Theodizee der Religionen; Vernunft; Vernunftkritik; Vernunftoptimismus; Vorsehung; Vorsehungsglaube Offenbarungswahrheit  64–66, 72, 75f., 87–91, 93f., 120–123, 126f., 169–171, 173–178, 179–189, 194, 205–212, 221–223, 225–227, 229–233, 237–243, 250, 257–260, 262–268, 271, 277–281, 283f., siehe auch Apologetik; Aufklärung; Dogmenkritik; Geheimnis; Gefühl; Geschichte; Gewissheit; Glaube; Kontingenz; Offenbarung; Reduktion; Übervernünftigkeit; Überzeugung; Vernunft; Vernunftkritik; Wahrheit Optimismus, siehe Vernunftoptimismus Ordnung, göttliche  47f., 108f., 131f., 174f., 214, 218, 239, 247–251, 258–261, siehe auch Gott; Kosmogonie; Religionsgeschichte; Vorsehung Orthodoxie, lutherische / altprotestantische  13f., 162–164, 168–171, 174, 179–182, 197f., 202, 205–212, 220, 224–226, 237f., 241f., 252–254, 265, 268, 272, siehe auch Bibel; Christologie; Dogmenkritik; Erkenntnis; Erkenntnistheorie; Geschichte; Glaube; Hamartiologie; Offenbarung; Soteriologie; Theologiekritik; Übervernünftigkeit; Vernunft

Sachregister

Patristik  253 Petitio Principii  75f. Philosophische Abhandlung / Philo­ sophischer Traktat  97, 141f., 247 Philosophiegeschichte  21–24, 82, 86, siehe auch Geschichte Physikotheologie  23, 47f. Pietismus  13f., 43, 49f. Pneumatologie, siehe Heiliger Geist Polytheismus  256–259, 261, 266, 278 positive Religion, siehe Religion; siehe auch Apologetik; Christentum; Evidenz; Geheimnis; Geschichte; Islam; Judentum; Kontingenz; Offenbarung; Religionsvergleich; Theodizee der Religionen; Übervernünftigkeit; Vernunft; Wahrheit Principium contradictionis  87–89, 107f., 173–175, 178, 206–208 Principium identitatis indiscernibilium  113f. produktive Rezeption  5f., 15f. Protestantismus, siehe Neologie; Orthodoxie; Reformation Rationalismus  24–31, 41–43, 71–77, 92–116, 120–123, 125f., 128–138, 186–188, 194–205, 212–236, 281–283, siehe auch Apologetik; Bibelkritik; Deismus; Religionskritik; Vernunft Reduktion, inhaltlich-dogmatische  24–37, 41–43, 71–77, 146–152, 169–171, 179–189, 231f., 256, siehe auch Christentum; Christentumskritik; Christologie; Deismus; Dogmenkritik; Geheimnis; Hamartiologie; Neologie; Offenbarungswahrheit; Religion; Soteriologie; Theologiekritik; Trinitätslehre; Übervernünftigkeit Reformation / reformatorische Theo­ logie  39f., 162, 163f., 167–169, 173f., 179–181, siehe auch Abendmahl; Bibel; Erkenntnistheorie; Glaube; Ketzer; Kirchengeschichte; Orthodoxie; Theologiekritik

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Regula fidei  253, siehe auch Bibel; Christentum; Glaubensbekenntnis; Testimonium spiritus sancti internum; Tradition Religion, siehe auch Apologetik; Christentum; Geist; Islam; Judentum; Moral; Offenbarung; Polytheismus; Religionsgeschichte; Religionskritik; Vernunft – natürliche ~  25–31, 35–37, 41f., 51–53, 71–77, 81f., 86f., 143f., 146–148, 188f., 194, 196, 198, 212f., 217, 225–232, 235, 256, 270f., 282f. – natürliche ~ in kritischer Funktion  30f., 41f., 151f. – natürliche ~ als christliche Offen­ barungs~  81f., 86f. – Offenbarungs~  26–31, 71–77, 81–87, 197f., 213–216, 218–220, 225–235, 256–260, 268–272, 281–284 – positive ~  26f., 38–41, 59–66, 146–152, 188, 197f., 213–216, 218–223, 225–232, 247, 256–259, 268–273, 281–283 – vollendete (ewige, universale, absolute) Vernunft~  269–272, 282–284 Religionsgeschichte  24–28, 30–43, 141f., 146–154, 215f., 234f., 246f., 249f., 256­–261, 269–272, 282–284, siehe auch Aufklärung; Geschichte; Religion; Theodizee der Religionen; Vorsehung Religionskritik  1, 26–31, 143–154, 195–197, 201f., 212–216, 218–223, 268–272, siehe auch Apologetik; Deismus; Kritik; Rationalismus; Religion; Theodizee der Religionen; Vernunft Religionsvergleich  59–62, 66–69, siehe auch Apologetik; Religion; Überzeugung; Wahrheit Rettung  11–13, 54–59, 160–162, 179f., 270, 282 Rezeption, siehe produktive Rezeption Schöpfung, siehe Kosmogonie Schöpfungsmäßige Bestimmung, siehe Anthropologie

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Sachregister

Scholastik, siehe Metaphysik Schönheit  130–133 Schriftprinzip, siehe Bibel Sittlichkeit, siehe Moral Skeptizismus  145 Soteriologie  34, 42f., 96, 256, 264, siehe auch Anthropologie; Christologie; Dogmenkritik; Hamartiologie; Orthodoxie Sozinianismus  180f., siehe auch Trinitätslehre; Unitarismus Subjektivismus (vs. Diskursivität)  120– 123, 126f., 133–138, 145, 147, siehe auch Denken; Erkenntnistheorie; Gefühl; Gefühlschristentum Suffizienz der natürlichen Religion  24– 31, 35–37, 41f., 51f., 151f., 169–171, 188f., 194, 196, 202–205, 212f., 216, siehe auch Anthropologie; Deismus; Dogmenkritik; Erkenntnistheorie; Geheimnis; Moral; Offenbarung; Offenbarungswahrheit; Rationalismus; Reduktion; Religion; Religionsgeschichte; Religionskritik; Theodizee der Religionen; Übervernünftigkeit; Vernunft; Vernunftkritik; Vernunftwahrheit; Wahrheit Summum bonum, siehe Gott; siehe auch Metaphysik Sünde, siehe Hamartiologie Sündenfall, siehe Hamartiologie Suprarationalität, siehe Übervernünftigkeit Symbola, siehe Bekenntnisschriften Symbolische Bücher, siehe Bekenntnisschriften System  2, 4, 29f., 67, 72, 99f., 163, 169, 178, 185, 194, 218, 220f., 230–232, 233, 235, 246, 253f., 258f., 266 Systemkritik  12f., 25f., 38, 40, 50, 124, 220, 235 Tatsachenwahrheit, siehe Geschichtswahrheit Testimonium spiritus sancti internum  83–85, 174, 178, 181, 237, 266, siehe auch Beweis; Evidenz; Geheimnis; Gewissheit; Glaube; Heiliger

Geist; Orthodoxie; Übervernünftigkeit; Überzeugung; Vernunft; Wahrheit Theodizee der Religionen  220f., 234–236, 246f., 269–273, 282f., siehe auch Apologetik; Aufklärung; Offenbarung; Religion; Religionsgeschichte; Religionskritik; Vernunft; Vernunftkritik; Vernunftoptimismus; Vor­ sehung; Vorsehungsglaube Theologiekritik, siehe auch Bibelkritik; Dogmenkritik; Erkenntnistheorie; Geheimnis; Moral; Neologie; Offen­ barung; Offenbarungswahrheit; Orthodoxie; Reduktion; Religion; Toleranz; Trinitätslehre; Tugend; Übervernünftigkeit; Vernunft; Vernunftkritik – Kritik der inhaltlich-dogmatischen Reduktion  168–171, 179–181, 188f., 198, 225–232, 237 – Kritik der lutherischen / altprotestan­ tischen Orthodoxie  13f., 16f., 40, 182–188, 193f., 202­–205, 212f., 252–254, 263, 268, 272, 282 – Kritik der Neologie  40f., 168–171, 172, 179–182, 188f., 193f., 197f., 224, 225–230, 232, 237, 243f., 248, 261–272, 280–284 Theopneustie, siehe Inspirationslehre Toleranz  13f., 43f., 68f., 79f., 195, 197f., 227–229, 268f., 271f., 284, siehe auch Theologiekritik Tradition  174, 178, 181, 185f., 215, 237–243, 252–254, 266, siehe auch Anthropologie; Apologetik; Bekenntnisschriften; Bibel; Christologie; Dogmenkritik; Glaube; Glaubens­ bekenntnis; Hamartiologie; Regula fidei; Soteriologie; Trinitätslehre Traktat, siehe Philosophische Abhandlung Trinitätslehre  87–116, 172f., 176, 179, 185f., 256, 264f., siehe auch Apologetik; Christologie; Dogmenkritik; Geheimnis; Gott; Offenbarung; Offenbarungs­ wahrheit; Reduktion; Sozinianismus; Theologiekritik; Tradition; Übervernünftigkeit; Unitarismus; Vernunft – Athanasianum  89, 113

Sachregister

– Filioque  114 – Homousie / Konsubstantialität / Wesensgleichheit  112, 114, 240 – Nicaeno-Constantinopolitanum  89, 112 – Relationalität  112–114 Tugend / Tugendhaftigkeit  18f., 22f., 25, 32f., 38, 44–48, 52, 66, 72, 79, 152, 182–188, 227–229, 259, 270f., 284, siehe auch Moral; Religion; Vernunft Überlieferung, siehe Tradition Übervernünftigkeit  64–66, 87–91, 93f., 168–182, 188f., 207f., 215, 225–244, 248, 263f., 268, 274, 282, siehe auch Apologetik; Beweis; Erkenntnistheorie; Evidenz; Gefühl; Geheimnis; Gewissheit; Glaube; Heiliger Geist; Kontingenz; Notwendigkeit; Offen­ barung; Offenbarungswahrheit; Trinitätslehre; Überzeugung; Vernunft; Vernunftkritik; Wahrheit; Wahrscheinlichkeit Überzeugung  1, 33, 59–62, 72, 76f., 85–87, 96f., 174, 176–178, 180, 219, 229f., 238–244, 266–268, siehe auch Apologetik; Beweis; Evidenz; Gewissheit; Glaube; Notwendigkeit; Wahrheit; Wahrscheinlichkeit Unitarismus  33, 237, siehe auch Sozinianismus; Trinitätslehre Vernunft, siehe auch Apologetik; Apologetikkritik; Aufklärung; Beweis; Bibelkritik; Christentum; Deismus; Diskursivität; Erkenntnis; Erkenntnistheorie; Eschatologie; Evidenz; Geheimnis; Geschichte; Gewissheit; Glaube; Hamartiologie; Lichterlehre; Moral; Notwendigkeit; Offenbarung; Offenbarungswahrheit; Rationalismus; Religion; Religionsgeschichte; Religionskritik; Theodizee der Religionen; Tugend; Übervernünftigkeit; Überzeugung; Vernunftkritik; Vernunftwahrheit; Wahrheit – als Einheit von Denken und Handeln  21–26, 28–30, 38–42, 45–50, 97f., 143, 152, 183–185, 268, 270, 284

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– als individuell-subjektives Vermögen 145 – als Medium der Offenbarung (= erleuchtete Vernunft)  23, 27–30, 34–37, 48, 52, 134, 148f., 187f. – als Wahrheitskriterium  24–31, 41f., 75–77, 88, 92–116, 133–138, 173–178, 212f., 226, 231–233, 238–244 – autonome ~  25–30, 41–43, 48, 72, 76f., 92–116, 187f., 202–205, 212f., 218, 225, 231f., 234f., 249 – captivatio rationis  (= ‚Gefangennahme‘ der Vernunft unter den Glauben) 178, 180f., 202–213, 226, 230f., 233, 239 – Definitionen  28, 81f., 173f. – durch Offenbarung unterrichtete / erzogene ~  81f., 187f., 254–268, 272–281 – geschichtlich relativierte ~  143–148, 152f., 236 – geschichtliche ~  234–236, 242–244, 247–251, 254–268, 274–280, 282f. – Grenzen der ~  19–24, 35f., 40f., 47–49, 81f., 87–91, 93f., 132f., 176–178, 205–212, 226, 230–233, 237f., 242–244, 256–260, 262–266 – in der orthodoxen Dogmatik  205–212, 255 – mit dem Glauben in unklarer Liaison („neologischer“ Vernunftbegriff)  40f., 179–181, 186–188, 226–230, 267, 284 – nach-denkende ~  90, 210–212, 226, 230–232, 237f., 242–281 – natürliche (= geschichtslose, universale und absolute) ~  21–31, 34–37, 41–43, 48, 52, 72, 76f., 92–116, 168–171, 173–178, 186–188, 202–205, 212f., 218, 225–230, 230–232, 234f. – vollendete, (und als vollendete) autonome ~  269–281, 284 – „wechselseitiger Dienst“ von ~ und Offenbarung  254f., 261–268, 283 Vernunftkritik, siehe auch Apologetik; Geheimnis; Geschichte; Offenbarung; Offenbarungswahrheit; Religionsgeschichte; Theodizee der Religionen; Theologiekritik; Übervernünftigkeit; Vernunft

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Sachregister

– Kritik der Verabsolutierung der theoretischen Vernunft  20–26, 35–41, 44–49 – Kritik der (wesentlich) autonomen, geschichtslosen, absoluten Vernunft  81f., 168–171, 188f., 194, 224, 234–244, 247, 254–272 Vernunftoptimismus (geschichtlich pointiert)  242–244, 254–281, siehe auch Aufklärung; Eschatologie; Moral; Tugend; Vorsehung; Vorsehungsglaube; Wahrheit Vernunftreligion, siehe Religion; siehe auch Aufklärung; Eschatologie; Moral; Religionsgeschichte; Theodizee der Religionen; Tugend; Vernunft­ optimismus; Vernunftwahrheit Vernunftwahrheit  25f., 28–30, 48, 76f., 81f., 92–116, 128–138, 148, 169–171, 173–178, 182–189, 202–205, 212f., 221–223, 225–233, 238–242, 257–260, 262–271, 277–281, siehe auch Evidenz; Gewissheit; Moral; Notwendigkeit; Offenbarung; Offenbarungswahrheit; Überzeugung; Vernunft; Wahrheit – Unterscheidung von „bloßer“ ~ und „notwendig geoffenbarter“ ~  264–266, 271, 283 Vorsehung, göttliche (als Lenkerin der Religionsgeschichte)  154, 239, 247, 255, 258–260, 271, 274–276, 280, 282f., siehe auch Geschichte; Gott; Religionsgeschichte; Theodizee der Religionen; Vernunftoptimismus; Vorsehungsglaube Vorsehungsglaube  239, 274–276, 280–284, siehe auch Glaube; Theodizee der Religionen; Vernunftoptimismus; Vorsehung Vorurteil(e)  11–13, 56, 58f., 164–167, 168–171, 181, 194, 196, 202–204, 212f., 241, 259, siehe auch Aufklärung; Kritik; Überzeugung; Vernunft; Wahrheit

Wahrheit  2, 26–28, 37, 42, 48, 59–69, 75–77, 79–81, 97, 133–138, 149–152, 164–167, 169f., 173–178, 182–189, 200f., 203f., 212f., 242, 273, siehe auch Apologetik; Beweis; Evidenz; Gefühl; Geschichtswahrheit; Gewissheit; Glaube; Notwendigkeit; Offenbarung; Offenbarungswahrheit; Übervernünftigkeit; Überzeugung; Vernunft; Vernunftkritik; Vernunftwahrheit; Wahrscheinlichkeit – „innere“ Wahrheit  149f., 221–223, 241, 248, 253f., 267, 268, 282 Wahrscheinlichkeit  75, 111f., 174f., 178, 180, 215, 240, siehe auch Apologetik; Beweis; Evidenz; Geschichte; Gewissheit; Kontingenz; Notwendigkeit; Überzeugung; Wahrheit Weissagung, siehe Beweis Wesensgleichheit, siehe Konsubstantialität Widerspruchsprinzip, siehe Principium contradictionis Widervernünftigkeit  72, 75, 87f., 175–178, 188f., 206–209, 243, 274, siehe auch Christentumskritik; Deismus; Dogmenkritik; Geheimnis; Rationalismus; Reduktion; Religionskritik; Übervernünftigkeit Wunder  63f., 75–77, 83, 87, 91, 120–123, 142, 174f., 186, 202, 214f., 223f., 226, 238–242, siehe auch Apologetik; Apologetikkritik; Beweis; Bibel; Bibelkritik; Geheimnis; Geschichte; Gott; Kontingenz; Religionskritik; Übervernünftigkeit; Wahrscheinlichkeit; Widervernünftigkeit Zirkelschluss  282 zufällig/Zufall, siehe Kontingenz Zweifel  1, 33, 80f., 126, 188f., 204f., 218f., 243, 275, 284, siehe auch Gefühl; Gewissheit; Glaube; Überzeugung; Wahrheit