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German Pages 368 [376] Year 1979
Stefan Sonderegger Grundzüge deutscher Sprachgeschichte Band I
Stefan Sonderegger
Grundzüge deutscher Sprachgeschichte Diachronie des Sprachsystems Band I
Einführung - Genealogie - Konstanten
W DE
G Walter de Gruyter · Berlin · New York
1979
Dr. phil. Stefan Sonderegger ordentlicher Professor für germanische Philologie an der Universität Zürich Brüder-Grimm-Preisträger 1977 der Philipps-Universität Marburg an der Lahn
CIP-Kurztitelaufnahme
der Deutschen
Bibliothek
Sonderegger, Stefan: Grundzüge deutscher Sprachgeschichte : Diachronie d. Sprachsystems / Stefan Sonderegger. — Berlin, New York : de Gruyter. Bd. 1. Einführung, Genealogie, Konstanten. 1979. ISBN 3-11-003570-7
© 1 9 7 9 by Walter de Gruyter & Co., vormals G. J . Göschen'sche Verlagshandlung J . Guttentag, Verlagsbuchhandlung · Georg Reimer · Karl J . Trübner Veit Sc Comp., Berlin 3 0 , Genthiner Straße 13. Printed in Germany Alle Rechte, insbesondere das der Übersetzung in fremde Sprachen, vorbehalten. Ohne ausdrückliche Genehmigung des Verlages ist es auch nicht gestattet, dieses Buch oder Teile daraus auf photomechanischem Wege (Photokopie, Mikrokopie, Xerokopie) zu vervielfältigen. Satz und Druck: Passavia Passau Einband: Lüderitz & Bauer, Berlin
Für Ruth
Vorwort
Die Konzeption einer neuen Darstellung der deutschen Sprachgeschichte nach systematischen Gesichtspunkten bedarf kaum einer näheren Begründung, will man einmal von der üblichen Darstellungsfolge einer weitgehend isolierten und anreihenden Betrachtungsweise der sich zeitlich folgenden Sprachstufen Germanisch-Vordeutsch, Althochdeutsch, Mittelhochdeutsch, Neuhochdeutsch loskommen zugunsten einer mehr übergreifenden Analyse der diachronischen Entfaltung des deutschen Sprachsystems, in welcher sozusagen kapitelweise nach den historisch wirksamen Zusammenhängen gefragt wird und ein neues Gesamtbild deutscher Sprachgeschichte von den Anfängen im Germanischen und Frühdeutschen bis zur Gegenwart und in die Zukunft hinein entstehen soll. Als Ziele der vorliegenden Grundzüge deutscher Sprachgeschichte sind hervorzuheben: eine Einführung in deren Wesen und eine Begründung ihrer Thematik unter Berücksichtigung der bewußtseinsgeschichtlichen Aspekte (Kapitel 1); die zusammenfassende Darstellung der Geschichte des Sprachbegriffes Deutsch vom Frühmittelalter bis in die Neuzeit (Kapitel 2); ein materialreicher Überblick über die genealogische Herkunft des Deutschen aus dem Germanischen, nicht ohne auch die Frage nach der typologischen Verankerung des Deutschen im Germanischen aufzugreifen (Kapitel 3); die Erörterung der Periodisierung deutscher Sprachgeschichte und ihrer Probleme nach verschiedenen Seiten hin (Kapitel 4); sodann die Begründung einer Lehre von den konstanten Entwicklungstendenzen und den inkonstanten Merkmalen in der Geschichte des Deutschen, sowohl in der äußeren Sprachgeschichte als auch im Sprachsystem selbst (Kapitel 5). Der Verfasser ist sich der Problematik deutscher Sprachgeschichtsschreibung voll bewußt, doch bildet gerade dieses Bewußtsein den Anstoß dazu, einen neuen Weg in der Darstellung der deutschen Sprachgeschichte zu versuchen, dessen Hauptanliegen der immer wieder an anderem Material und an weiteren Gesichtspunkten erprobte systematische Gesamtüberblick sein soll. Daß dabei manche Beobachtungen oft nur im Sinne eines skizzenhaften Gerüstes ausgeführt werden konnten, dessen Füllung und Ergänzung weiterer intensiver Überlegungen und Forschungen oder erneuter Besinnung auf das Komplexe und Wesentliche am und im deutschen Sprachsystem bedarf, ist dem Verfasser außerdem einsichtig. Eine besondere Schwierigkeit jeder sprachgeschichtlichen Darstellung stellt die Materialbewältigung dar. Im vorliegenden Buch wurde versucht,
VIII
Vorwort
durch Einfügung graphischer Darstellungen einerseits den laufenden Text zu verdeutlichen und zu entlasten, andererseits mit Sprachmaterial oder systematischen Daten zu untermauern. Diese vom Verfasser selbst entworfenen graphischen Darstellungen sind von Erwin Zimmerli, Graphiker in St. Gallen — in einem Fall von Andreas Farner, wissenschaftlicher Zeichner in Zürich —, ausgeführt worden. Die bibliographischen Angaben wurden auf die wesentlichsten Titel beschränkt, da es nicht die Aufgabe dieses Buches sein kann, primär Literaturangaben zu vermitteln. Wertvolle Hilfe in der kritischen Überprüfung der graphischen Darstellungen und Karten hat mir mein ehemaliger Assistent Dr. phil. Jürg Etzensperger, Zürich, geleistet, dem ich auch die Zahlenangaben in Abschnitt 5.2.1. verdanke. Der zweite Band dieses Werkes wird sich zunächst mit der Geschichte des Verhältnisses Mundarten, Schreibsprachen und Schriftsprache befassen, um sodann die sprachlichen Teilsysteme des Deutschen in ihrer geschichtlichen Entwicklung durch die verschiedenen Sprachstufen zu verfolgen. Ein abschließendes Kapitel wird der geschichtlichen Typologie des Deutschen gewidmet sein. Zürich, im Sommer 1978 Deutsches Seminar der Universität
Stefan Sonderegger
Inhalt
1. Deutsche Sprachgeschichte — Wesen und Thematik 1.1. Deutsche Sprachgeschichte als bewußtseinsgeschichtlicher Begriff Literaturhinweise zu Abschnitt 1.1 1.2. Deutsche Sprachgeschichte und das Wesen der Sprache . . . 1.2.1. Das Primat des Sprechens 1.2.2. Die Zeitlichkeit oder Zeitgebundenheit der Sprache . 1.2.3. Die Sprache als generierende Tätigkeit 1.2.4. Die Möglichkeit der Sprachabbildung durch die Schrift 1.2.5. Die Systemhaftigkeit der Sprache 1.2.6. Die Schichthaftigkeit der Sprache 1.2.7. Die räumliche Gebundenheit der Sprache 1.2.8. Zusammenfassung Literaturhinweise zu Abschnitt 1.2 1.3. Die Thematik der deutschen Sprachgeschichte Literaturhinweise zu Abschnitt 1.3 2. Die Sprachbezeichnung Deutsch 2.1. Die besondere Stellung der Sprachbezeichnung Deutsch . . 2.2. Entwicklungsgeschichte des Wortes Deutsch 2.2.1. Der sprachliche Ausgangspunkt 2.2.2. Der Sinngehalt in historischer Sicht 2.2.3. Zur Entwicklung des Begriffes Hochdeutsch . . . . 2.2.4. Zusammenfassung Literaturhinweise zu Kapitel 2 3. Genealogie der deutschen Sprache: das Deutsche als Teil des Germanischen 3.1. Der Begriff Germanisch . . Literaturhinweise zu Abschnitt 3.1 3.2. Verwandtschaft und Urverwandtschaft des Deutschen . . . 3.2.1. Die Verwandtschaftsverhältnisse im allgemeinen . . 3.2.2. Die Neuerungen des Germanischen und ihre Auswirkungen für den deutschen Sprachbau . . . . 3.2.2.1. Die erste oder germanische Lautverschiebung
1 1 10 11 11 12 14 14 19 20 23 24 25 25 36 37 37 40 40 44 48 53 55 57 57 68 69 69 72 73
X
Inhalt
3.2.2.2. 3.2.2.3. 3.2.2.4. 3.2.2.5.
3.3. 3.4.
3.5.
3.6.
Der grammatische Wechsel Die germanische Akzentfestlegung . . . . Die germanischen Auslautgesetze Die Umstrukturierung des germanischen Vokalsystems 3.2.2.6. Die Systematisierung des Ablauts bei den sogenannten starken Verben 3.2.2.7. Die Bildung der sogenannten schwachen Verben mit Dentalsuffix 3.2.2.8. Umbildung verschiedener Formkategorien beim Verbum 3.2.2.9. Vereinfachungen im Kasussystem 3.2.2.10. Vereinfachungen im Numerussystem . . . 3.2.2.11. Die Ausbreitung der «-Stämme in der Klassenbildung und Deklination des Substantivs 3.2.2.12. Differenzierung einer starken und schwachen Deklination beim Adjektiv . . 3.2.2.13. Tendenz zur Kennzeichnung des grammatischen Geschlechts durch die Flexionsendungen 3.2.2.14. Aufgabe und Umstrukturierung der wechselflektierten Substantive 3.2.2.15. Die germanischen Umlaute 3.2.3. Das genealogische Verwandtschaftsgerüst Literaturhinweise zu Abschnitt 3.2 Die Ausgliederung des Deutschen aus dem Germanischen . Literaturhinweise zu Abschnitt 3.3 Die zweite oder hochdeutsche Lautverschiebung 3.4.1. Kurze synchronisch-vergleichende Bestimmung . . . 3.4.2. Sprachgeschichtliche Einordnung 3.4.3. Zur räumlichen Staffelung 3.4.4. Vergleich zwischen der germanischen und hochdeutschen Lautverschiebung Literaturhinweise zu Abschnitt 3.4 Die Anfänge einer deutschen Sprachgeschichte 3.5.1. Der überlieferungsgeschichtliche Aspekt 3.5.2. Der siedlungsgeschichtliche Aspekt 3.5.3. Der kulturgeschichtliche Aspekt 3.5.4. Differenzierung vom Germanischen und Integration zum Deutschen Literaturhinweise zu Abschnitt 3.5 Die Frage nach der typologischen Verankerung des Deutschen im Germanischen Literaturhinweise zu Abschnitt 3.6
75 77 79 80 84 90 93 98 99 100 102
104 105 105 110 112 113 123 124 124 126 133 136 140 141 141 146 147 155 156 156 164
Inhalt
3.7. Begriffskatalog zu den historischen Sprachstufen Vorgermanisch — Germanisch — Deutsch 4. Die Periodisierung der deutschen Sprachgeschichte 4.1. 4.2. 4.3. 4.4.
Gesichtspunkte zur sprachhistorischen Periodisierung . . . Die entscheidenden zeitlichen Schnitte Das Periodisierungsgerüst Die hauptsächlichen Kennmerkmale der verschiedenen Sprachstufen 4.4.1. Althochdeutsche Sprachstufe 4.4.2. Mittelhochdeutsche Sprachstufe 4.4.3. Neuhochdeutsche Sprachstufe 4.5. Das Problem der Verstehbarkeit älterer Sprachstufen . . . . Literaturhinweise zu Kapitel 4
5. Deutsche Sprachgeschichte im systematischen Überblick 5.1. Kriterien eines systematischen Überblicks 5.2. Konstante Entwicklungstendenzen in der Geschichte der deutschen Sprache 5.2.1. Äußere Konstanten der Sprachgeschichte 5.2.2. Innere Konstanten in der Entwicklung des Sprachsystems 5.2.2.1. Konstanten der Lautsystementwicklung . . 5.2.2.2. Konstanten der Formensystementwicklung 5.2.2.3. Konstanten der Wortbildungsentwicklung und der Lexik 5.2.2.4. Konstanten der Syntaxentwicklung . . . . 5.2.2.4.1. Syntaktische Entwicklungstendenzen in der Verbindung mit dem Ausbau des Formensystems 5.2.2.4.2. Herausbildung neuer Oppositionen im syntaktisch-morphologischen System 5.2.2.4.3. Umstrukturierung der Wortstellung 5.2.2.4.4. Logische Verknüpfung von Hauptsatz und Nebensatz . . . 5.2.2.5. Konstanten der stilistischen Entwicklung: Verwendung, Verfall und Nachleben der Stabreimtechnik 5.2.2.6. Übergreifende Konstanten im sprachlichen Gesamtsystem: der Umlaut als Modellfall einer sprachgeschichtlichen Kettenreaktion im Deutschen
XI
164 169 169 177 180 180 180 182 183 185 193 195 195 219 219 237 237 241 255 262
264 276 279 285
292
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XII
Inhalt
5.2.2.6.1. Definition und allgemeine Einordnung des Umlauts 5.2.2.6.2. Der Umlaut als unterscheidendes Kategorienmerkmal im Deutschen 5.2.2.6.3. Der Akzent als Ausgangsbedingung des Umlauts 5.2.2.6.4. Skizze einer historisch-genetischen Gesamtdarstellung des Umlauts im Deutschen 5.2.2.6.5. Zusammenfassender Rückblick auf den Umlaut 5.3. Inkonstante Merkmale in der Geschichte der deutschen Sprache 5.3.1. Inkonstante Merkmale der äußeren Sprachgeschichte 5.3.2. Inkonstante Merkmale in der Geschichte des Sprachsystems 5.3.2.1. Inkonstante Merkmale in der Geschichte des Akzentsystems 5.3.2.2. Inkonstante Merkmale in der Geschichte des Lautsystems 5.3.2.3. Inkonstante Merkmale in der Geschichte des Formensystems 5.3.2.3.1. Das Verhältnis von starker und schwacher Deklination . . . 5.3.2.3.2. Einzelne Neuerungen im Formensystem der neuhochdeutschen Schriftsprache Literaturhinweise zu Kapitel 5
297
299 302
304 317 319 320 324 326 331 340 340
345 351
Verzeichnis der graphischen Darstellungen und Karten
Zu Kapitel 1. Deutsche Sprachgeschichte — Wesen und Thematik Nr.
1
Nr. 2 Nr. 3 Nr. 4 Nr. 5 Nr. 6 Nr. 7
Die Anfänge der Sprachwissenschaft im frühen 19. Jahrhundert Ubersicht zur germanischen und deutschen Schriftgeschichte Der Aufbau der Sprache Die mehrdimensionale Erscheinungsform der Sprache . . . Zur Thematik der Sprachgeschichte Das Problem der sprachlichen Konfrontation System der Sprach Veränderung
6 17 19 24 29 32 35
Zu Kapitel 2. Die Sprachbezeichnung Deutsch Nr.
8
Nr. 9 Nr. 10 Nr. 11
Stammtafel zur vergleichenden Geschichte des Wortes Deutsch Geschichte des Wortes Deutsch Geschichtliche Entwicklung des Begriffes ,Hochdeutsch' Die Doppeldeutigkeit des Begriffs Hochdeutsch
. .
43 45 52 56
Zu Kapitel 3. Genealogie der deutschen Sprache: das Deutsche als Teil des Germanischen Nr. 12 Nr. Nr. Nr. Nr.
13 14 15 16
Nr. 17 Nr. 18 Nr. 19 Nr. 2 0 Nr. 2 1 Nr. 2 2
Der Einfluß der Franken auf ihre germanischen Nachbarstämme im Frühmittelalter Die Zeitbereiche der germanischen Sprachen bis 1500 n. Chr. Verwandtschaft und Urverwandtschaft des Deutschen . . . Genealogische Sprachverwandtschaft Die Ausgliederung der deutschen Sprache aus dem Germanischen Hochdeutsche Lautverschiebung: Ubersicht Die hochdeutsche Lautverschiebung als Gliederungsmerkmal mundartlicher Sprachräume Die sprachgeschichtliche Entwicklung des Konsonantensystems vom Indogermanischen zum Deutschen Vergleich zwischen der germanischen und hochdeutschen Lautverschiebung Die Hauptorte althochdeutscher Uberlieferung Die Schreiborte der altsächsischen Überlieferung
63 65 71 110 121 128 135 137 139 143 144
XIV Nr. 23 Nr. 24
Verzeichnis der graphischen Darstellungen und Karten
Der kultursprachliche Aspekt in der frühdeutschen Sprachgeschichte Sprachgeschichtliche Entwicklungskonstanten vom Germanischen zum Deutschen
148 .
Zu Kapitel 4. Die Periodisierung der deutschen Sprachgeschichte Nr. 25 Periodisierung des Frühneuhochdeutschen Nr. 26 Stufen in der Entwicklung zur neuhochdeutschen Schriftsprache Nr. 27 Die zeitliche Einteilung der deutschen Sprachgeschichte . . Nr. 28 Die Verstehbarkeit der historischen Sprachstufen des Deutschen vom Standpunkt der Gegenwartssprache . . . .
162
171 174 181 192
Zu Kapitel 5. Deutsche Sprachgeschichte im systematischen Überblick Nr. 29 Nr. 30 Nr. 31 Nr. 32 Nr. 33 Nr. 34 Nr. 35 Nr. 36 Nr. 37
Nr. 38 Nr. 39 Nr. 40 Nr. 41
Die Entwicklung des Deutschen von den Stammessprachen zur Schrift-, National-und Staatssprache Differenzierung und Integration in der Geschichte der deutschen Sprache (vereinfachter Uberblick) Die Konjugation des Verbums ,haben' im Praesensstamm (Sprachgeschichtliche Entwicklung im Deutschen) Diachronische Übersicht über die hauptsächlichen Lautveränderungen der deutschen Sprache Die Entwicklung der End- und Mittelsilbenvokale in den Flexionsformen des Deutschen Die drei Prinzipien der Flexion im Deutschen und ihre Verteilung auf die historischen Sprachstufen Die Reduktion der Flexionsmorpheme bei den Substantiven und Adjektiven in der Geschichte des Deutschen Entwicklung des Kasussystems beim Substantiv vom Germanischen zum Neuhochdeutschen Historische Entwicklung und synchronisches Gefälle der Kasussysteme bei den verschiedenen Wortarten oder grammatischen Kategorien des Deutschen Der Aufbau des germanischen Verbalsystems und seine ineinandergreifende Formenstruktur Der Umlaut als unterscheidendes Kategorienmerkmal in der Geschichte des Deutschen, Blatt 1 Der Umlaut als unterscheidendes Kategorienmerkmal in der Geschichte des Deutschen, Blatt 2 Folgen der Umlautwirkung im Deutschen 1. Ursprüngliche Kurzvokale
198 204 206 216 239 244 247 250
252 263 300 301 303
Verzeichnis der graphischen Darstellungen und Karten
Nr. 42 Nr. 43 Nr. 44 Nr. 45 Nr. 46 Nr. 47 Nr. 48 Nr. 49 Nr. 50
Folgen der Umlautwirkung im Deutschen 2. Ursprüngliche Langvokale Folgen der Umlautwirkung im Deutschen 3. Ursprüngliche Diphthonge Der Umlaut als Modellfall einer sprachgeschichtlichen Kettenreaktion im Sprachsystem des Deutschen Typologie der sprachlichen Überlieferung vom Altgermanischen zum Althochdeutschen und Mittelhochdeutschen . Sprachräumliche Schwerpunkte im Hinblick auf die schriftsprachliche Entwicklung der deutschen Sprache . . . Geschichtliche Entwicklung des deutschen Vokalsystems . Das Verhältnis von starker und schwacher Flexionsart im Deutschen Der neuhochdeutsche Präteritalausgleich bei den starken Verben der Klassen 1 - 5 Karte Deutsches Sprachgebiet (nach Behaghel), Stand vor dem zweiten Weltkrieg
XV
305 307 354 321 325 336 346 350 356
1. Deutsche Sprachgeschichte — Wesen und Thematik
1.1. Deutsche Sprachgeschichte als bewußtseinsgeschichtlicher Begriff
Kenntnis und Bewußtsein einer deutschen Sprachgeschichte sind erst allmählich und schrittweise im Gefolge der geisteswissenschaftlichen Bewußtwerdung des Deutschen als einer selbständigen und mit den alten klassischen Bildungs- und Bibelsprachen gleichwertigen Volkssprache seit dem Mittelalter erwachsen. Die Herausbildung eines diachronischen Begriffssystems für die deutsche Sprachgeschichte hängt außerdem aufs engste mit der vom 15. Jahrhundert an deutlich zunehmenden Kenntnis der schriftlichen Überlieferung in dieser Sprache zusammen. So läßt sich in der sprachgeschichtlichen Begriffsbestimmung der Übergang vom synchronischen Bewußtsein des Deutschen, d.h. des Volkssprachlichen in alt- und mittelhochdeutscher Zeit, zur synchronisch-diachronisch kombinierten Bewußtseinsbildung seit der frühen Neuzeit im späten 15. und im 16. Jahrhundert verfolgen. Zur Konfrontation Volkssprachlich = Deutsch / Nicht-Volkssprachlich = Nicht-Deutsch tritt im Verlauf der deutschen Geistesgeschichte die neu historisch dimensionierte Konfrontation Deutsch der Gegenwart / Deutsch der Vergangenheit (Alt-Deutsch) // Nicht-Deutsch der Gegenwart oder Vergangenheit. Mit der zunehmenden Kenntnis der älteren deutschen Schriftdenkmäler aus den Handschriften und ihrer teilweisen Veröffentlichung in den frühen Drucken seit dem 16. Jahrhundert bildet sich ein neues epochales Sprachgeschichtsbewußtsein heraus, das unmittelbar zu den ersten historischen Exkursen und Periodisierungsversuchen deutscher Sprachgeschichte bei den Grammatikern der Barockzeit und zur ersten deutschen Sprachgeschichte im engeren Sinn durch Johann Christoph Adelung ( 1 7 3 2 - 1 8 0 6 ) führt. Schematisch läßt sich der Vorgang wie folgt darstellen und in seinem Werdegang einstufen: Althochdeutsche Sprachzeit: ( 8 . - 1 1 . Jh.) Mittelhochdeutsche Sprachzeit: (spätes 1 1 . - 1 4 . / 1 5 . Jh.)
Volkssprachlich
/ Nicht-Volkssprachlich
Bildungssprachen Nachbars"prachen Volks- und Literatur- / Nicht-Deutsche Sprachen spräche Deutsch Bildungssprachen
Nachbarsprachen
2
Deutsche Sprachgeschichte — Wesen und Thematik
Frühneuhochdeutsche Sprachzeit: (15. Jh.-Mitte 17. Jh.)
Deutsch der Gegenwart / Nachbarsprachen und Altdeutsch oder antike Bildungssprachen Altfränkisch
I
erste Reflexionen über deutsche Sprachgeschichte (Humanisten)
1
erste Periodisierungsversuche der deutschen Sprachgeschichte (ältere Grammatiker seit Justus Georg Schottelius) Ältere neuhochdeutsche Sprachzeit: (Mitte 17. Jh.—um 1800)
I
erste deutsche Sprachgeschichte im eigentlichen Sinn durch Johann Christoph Adelung, Über die Geschichte der Deutschen Sprache [usw.], Leipzig 1781 und Älteste Geschichte der Deutschen, ihrer Sprache und Litteratur, bis zur Völkerwanderung, Leipzig 1806
Erste Reflexionen über die ältere deutsche Sprache und die sie tragenden Persönlichkeiten seit althochdeutscher Zeit finden sich verstreut in den Schriften der deutschen und schweizerischen Humanisten, so vor allem beim frühhumanistischen Würzburger Abt Johannes Trithemius (1462—1516), beim bairischen Geschichtsschreiber Johannes Turmair, genannt Aventinus (1477-1534), beim St. Galler Humanisten und Reformator Joachim von Watt, genannt Vadianus (1484-1551), bei dem vorwiegend in Basel tätigen Hebraisten und Kosmographen Sebastian Münster (1489-1552), beim Elsäßer Humanisten Beatus Rhenanus (1485-1547) sowie beim Glarner Historiographen Ägidius Tschudi (1505-1572). Die Humanisten gebrauchen auch den Sprachbegriff Altfränkisch oder Altfrentsch für Altdeutsch. Zu einer eigentlichen Periodisierung einer deutschen Sprachgeschichte und damit zum Bewußtsein einer stufengeschichtlichen Entwicklung der deutschen Sprache konnte es freilich erst nach den entscheidenden größeren Texteditionen, wie beispielsweise der althochdeutschen Evangelienharmonie Otfrids von Weißenburg (um 870) durch den lutherischen Theologen Matthias Flacius Illyricus (1520-1575) in Basel 1571 oder der gotischen Bibelübersetzung des Missionsbischofs Wulfila (Mitte 4. Jh.) durch Franciscus Junius (1589-1677) in Dordrecht (Holland) 1665, ferner nach den entscheidenden größeren Sammelwerken mit altund mittelhochdeutschen Denkmälern etwa durch Melchior Goldast (1578-1635) in dessen Rerum Suevicarum scriptores aliquot veteres, Frankfurt 1605, und Alamannicarum rerum scriptores aliquot vetusti, Frankfurt 1606, 3 1730, sowie durch Johannes Schilter (1632—1705) in verschiedenen Schriften (besonders Thesaurus antiquitatum Teutonicarum, postum Ulm 1726—1728) kommen. Dies ist der allgemeine und sich mit den tatsächlichen Textkenntnissen ständig verfeinernde Hintergrund für die ersten Darstellungen der Perioden, Denkzeiten oder Epochen deutscher Sprachgeschichte, deren programmatische Anfänge mit der „dritten Lob-
Deutsche Sprachgeschichte als bewußtseinsgeschichtlicher Begriff
3
rede von der Uhralten HaubtSprache der Teutschen" in Justus Georg Schottelius' Ausführlichen Arbeit Von der Teutschen HauptSprache, Braunschweig 1663, 27—49, gegeben sind. Auf die Parallelität der Geschichte von Nation und Sprache hat im Hinblick auf das Deutsche auch Gottfried Wilhelm Leibniz (1646—1716) in seiner Ermahnung an die Deutschen, ihren Verstand und ihre Sprache besser zu üben von 1679 ausdrücklich hingewiesen. Aber noch Friedrich Gottlieb Klopstock (1724—1803) wandte sich in seinem Werk Die deutsche Gelehrtenrepublik von 1774 durchaus anonym „ A n den, welcher die Geschichte unsrer Sprache schreiben wird", womit er zum Ausdruck bringt, daß eine eigentliche deutsche Sprachgeschichte zu seiner Zeit noch fehlt. Den gleichen Gedanken äußert Johann Gottfried Herder (1744—1803) wenig später in seinem Aufsatz Von Ähnlichkeit der mittlem englischen und deutschen Dichtkunst von 1777, w o er sagt: „Aber freilich haben wir noch nichts weniger als eine Geschichte der deutschen Poesie und Sprache!" So blieb es im wesentlichen trotz manchen weiteren Versuchen erst dem letzten großen Grammatiker und Lexikographen vor der Neubegründung der historischen Sprachwissenschaft im frühen 19. Jahrhundert, Johann Christoph Adelung (1732-1806), vorbehalten, die erste wirklich diesen Namen verdienende Geschichte der deutschen Sprache sowie eine Art Vorgeschichte dazu zu schreiben. Sie liegt in den beiden Werken Über die Geschichte der Deutschen Sprache, über Deutsche Mundarten und Deutsche Sprachlehre, Leipzig 1781, sowie Älteste Geschichte der Deutschen, ihrer Sprache und Litteratur, bis zur Völkerwanderung, Leipzig 1806, vor: das erste Werk stellt einen gedrängten Abriß deutscher Sprachgeschichte vom 5./6. bis ins 18. Jahrhundert dar, unter Einschluß des Verhältnisses Schriftsprache und Mundarten in neuhochdeutscher Zeit, — es ist außerdem die vorzeitig publizierte Einleitung zur großen Grammatik Adelungs ( U m ständliches Lehrgebäude der Deutschen Sprache, I—II, Leipzig 1782); das andere ist als spekulativer Versuch einer Verlängerung deutscher Sprachgeschichte in die germanische Vorzeit auf Grund der antiken Quellen zu werten. Eine Kurze Geschichte der Deutschen Schriftsprache legte Adelung überdies in seinem Werk Über den Deutschen Styl, Berlin 1785 (l.Theil, S. 48 ff.) umrißhaft vor. Damit war, bei allen Vorbehalten gegenüber einem tieferen sprachhistorischen Verständnis und einer tatsächlichen Kenntnis älterer Sprachstufen bei Adelung, der Durchbruch zu einer umfassenderen sprachgeschichtlichen Schau im Sinne eines diachronischen Entwicklungsganges erreicht. Es gehört mit zur Sicht eines langsamen Werdeganges der Darstellungen deutscher Sprachgeschichte, daß der Begriff Sprachgeschichte erst spät, erstmals bei Justus Georg Schottelius 1663, erscheint, w o der barocke Grammatiker in seiner Ausführlichen Arbeit Von der Teutschen HaubtSprache im fünften Traktat des fünften Buches, pagina 1246, von dem spricht, der „in den Sprachgeschichten erfahren ist" (vgl. auch Grimm, Dt.
4
Deutsche Sprachgeschichte — Wesen und Thematik
Wb. X, 1, 2755), was soviel bedeutet wie „in den historischen Begebenheiten der Sprache bewandert". Trotz bereits althochdeutscher Wortgrundlage hat sich der Begriff der Geschichte erst im Frühneuhochdeutschen zur Bedeutung „in der Zeit ablaufende oder abgelaufene Ereignisse, Gesamtheit historischer Begebenheiten" entwickelt. So zeigt das Wort Sprachgeschichte - vereinfacht dargestellt - folgenden Werdegang (vgl. Grimm, Dt. Wb.IV, 1 , 2 , 3 8 5 7 - 3 8 6 6 ) : ahd.
mhd.
frühnhd.
gi-scihida f., gi-sciht f. ge-sktht f.
(Glossen)
,casus'
(Notker)
.casus, eventus, exitus: Geschehen, Begebenheit, Ereignis, Zufall, Ausgang, Eintreffen'
eigentliches Verbalabstraktum zu gi-skehan .geschehen, sich ereignen', also ,was geschieht oder geschehen ist, was eintritt' ge-schihti. .Begebenheit, Ereignis, Folge von Ereignissen, Eigenschaft, Schicht' ge-schihte n. .Begebenheit, Geschichte' Geschicktf.n., Geschichtei., pl. Geschichte, Geschichten zunächst vor allem als Plural Geschichten im Sinne von .historia'
I
PI. Sprachgeschichten (Schottelius 1663)
I
Sg. Sprachgeschichte (18. Jh. ff.)
Im Singular gebraucht z.B. Johann Georg Hamann (1730—1788) die Wendung „Archäologie der Sprachgeschichte". Von der „Historie der teutschen Sprache" spricht sodann Johann Augustin Egenolff in seinem gleichnamigen, doch dem anspruchsvollen Titel keineswegs gerecht werdenden Buch von 1716-20 (Teil 1-2, Leipzig, Nachdruck 1978). War bis zu Adelung hin der äußere Weg einer deutschen Sprachgeschichte als lose geschichtliche Folge der aus ihrer historischen und literarischen Überlieferung bekannten Denkmäler einstweilen markiert, so hat erst Johann Gottfried Herder (1744-1803) den Blick für die innere, genetische Entfaltung der deutschen Sprache und anderer ihm nahestehenden Sprachen — besonders des Griechischen —, ja der Sprache überhaupt, frei gemacht. „Für mich selbst will ich die Sprache in verschiedenen Zeitaltern, auf verschiedenen Stufen, in mancherlei Gesichtspunkten der Bildung kennen lernen; vielleicht läßt sich dann über ihre Bildung was gewisses bemerken, was vollständiges entwerfen, und was nützliches vorzeichnen" — mit diesen Worten aus dem Anfang der Fragmente über die Bildung einer Sprache, wo ein Roman von ihren Lebensaltern vorausgeschickt, und ein Weg eröffnet wird sie zu erklären aus dem Jahr 1767 ( 2 1768) wird die historisch-genetische Betrachtungsweise oder die innere Entfaltungsgeschichte der Sprache, zusammen mit der berühmten Abhandlung über den Ursprung der Sprache, Berlin 1772, begründet. Bei Herder liegen die geistigen Wurzeln der deutschen Sprachwissenschaft des frühen 19. Jahrhunderts, wo mit
Deutsche Sprachgeschichte als bewußtseinsgeschichtlicher Begriff
5
Jacob Grimm (1785-1863) und Wilhelm von Humboldt (1767-1835) das eigentliche Zeitalter der historisch-vergleichenden und vergleichend-genetischen Sprachwissenschaft begann. Während bei Wilhelm von Humboldt die genetisch-typologischen, bis zu einem gewissen Grad auch die synchronischen Gesichtspunkte im Vordergrund standen, rückte Jacob Grimm aus genauester Kenntnis der ältesten, mittleren und neueren germanischen Sprachstufen heraus die Geschichte des germanischen Sprachstammes in seiner historisch-vergleichenden Sprachstufengrammatik (Deutsche Grammatik, I-IV, Göttingen 1819/22—1837) sowie in seiner Geschichte der deutschen Sprache, Leipzig 1848, 2 1853 ins Zentrum der Darstellung. Damit wurde die deutsche Sprachgeschichte vor allem und durchaus in nationaler Erfüllung aufs engste an die größere germanische Spracheinheit angeschlossen, für die das Deutsche geradezu stellvertretend stand. „Unsere Sprache ist auch unsere Geschichte" heißt es in Jacob Grimms Altersaufsatz Über den Ursprung der Sprache won 1851. Schematisch läßt sich dieser entwicklungsgeschichtliche Vorgang wie folgt umreißen: 18. Jh., 2. Hälfte
Johann Gottfried Herder: Geschichtlich-genetische Schau (Von den Lebensaltem einer Sprache 1767, Abhandlung über den Ursprung der Sprache 1772 usw.)
19. Jh., 1. Hälfte
Jacob Grimm: erste historisch-sprachwissenschaftliche Grammatik sowie Sprachgeschichte des Deutschen und Germanischen
I
I
Wilhelm von Humboldt: Begründung der genetischtypologischen Sprachwissenschaft auf vergleichender und allgemein sprachphilosophischer Basis
Die größeren geistesgeschichtlichen Zusammenhänge reichen dabei vor allem zur Literatur und frühen Sprachwissenschaft der Romantik, mit denen Jacob Grimm und sein Bruder Wilhelm in engster, freundschaftlicher oder forschungsmäßiger Verbindung stehen, ferner zur eben erst entstehenden Indogermanistik und Indologie sowie zur klassischen Philologie und Textkritik (Karl Lachmann 1793—1851). Es ist ein Ineinandergreifen verschiedener Strömungen der aufbrechenden Sprachwissenschaft und germanischen Philologie, an der auch der Däne Rasmus Kristian Rask (1787-1832) entscheidenden Anteil hat (vgl. dazu die Übersicht Die Anfänge der Sprachwissenschaft im frühen 19. Jahrhundert S. 6). Für die Geschichte der deutschen Sprache hat zunächst vor allem Jacob Grimms Werk entscheidende Nachwirkungen gezeigt. Die historisch zielgerichtete und seither kaum mehr erreichte Materialfülle seiner Schriften blieben tragfähiger Grund und Vorbild für die späteren, freilich nach ihren Gesichtspunkten mehr und mehr eingeengten Darstellungen des späteren 19. Jahrhunderts. Der Durchbruch zu einer in nuce bereits bei Wilhelm von Humboldt vorhandenen synchronischen Ergänzung oder Entgegensetzung selbst im Rahmen der sprachgeschichtlichen Fragestellung blieb indessen dem frühen 20. Jahrhundert mit Ferdinand de Saussure's (1857—1913)
Deutsche Sprachgeschichte - Wesen und Thematik
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Graphische Darstellung 9
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Die Sprachbezeichnung Deutsch
von Bresburg unz an Metze
[= Preßburg/Bratislava an der Donau und Metz in Lothringen] — Friedrich von Sonnenburg, Spruchdichter, um 1270 von Metze hin ze Bruneswlc [= Braunschweig] von Lübeke ze Berne [.= Verona, dt. Dietrichs Bern] Seit mittelhochdeutscher Zeit erscheint auch die Substantivierung diutsch, tiutsch als Neutrum ,das Deutsche, Deutsch', neben der schon althochdeutsch bei Notker von St. Gallen bezeugten femininen Bildung diu diutiska, mittelhochdeutsch diu diutsche (zunge). Spätmittelalterlich und frühneuhochdeutsch heißt gemeines Deutsch oder die gemeine Teutsch die mehr oder weniger überregionale, stilistisch ungezierte Volkssprache, vor allem als allgemein verständliche Stilart verstanden. Hier liegt auch der Ursprung der Wendung deutsch und deutlich, wie sie etwa Martin Luther gebraucht, bis zum volksmäßig Derben, Groben oder Ungebildeten. Undeutsch heißt bei Luther geradezu ,unverständlich'. Auch besondere Stilarten werden differenzierend, so in der Barockzeit bei Kaspar Stieler (1632—1707), als mittelteutsch ,stylus mediocris linguae teutonicae' und teutschteutsch oder meisterteutsch ,subtilis, verus et sincerus germanice loquendi modus' bezeichnet. Mit der zunehmenden Kenntnis der deutschen Stammesgeschichte und ihrer historischen Verlängerungsmöglichkeit ins Germanische zurück wird seit dem Humanismus Deutsch vermehrt mit Germanisch gleichgesetzt, ein Gedankengang, der in ausgesprochen nationaler Erfüllung bei Jacob Grimm im 19. Jahrhundert kulminiert. So formuliert Jacob Grimm in der Vorrede zu seinen Deutschen Rechtsalterthümern, Göttingen 1828, S. VII/VIII: „Deutsche Rechtsalterthümer heißen sie in dem Verstand, wie ich die Grammatik eine deutsche genannt habe, obleich beide auch die nordischen und angelsächsischen Quellen unter sich begreifen, und begreifen müssen. Ist einmal eine solche Verbindung natürlich und nothwendig, so kann man auch nicht lange mit dem Namen zaudern [usw.]". Seit spätmittelhochdeutscher Zeit ist sodann diutschen, tiutschen ,verdeutschen, in die Volkssprache übersetzen', aber auch ,erklären, auslegen' bekannt. (2) Deutsch als Volksbezeichnung Auch Deutsch als Volksbezeichnung erscheint seit spätalthochdeutscher und frühmittelhochdeutscher Zeit. Der Ubergang von der Sprachbezeichnung zur Volksbezeichnung im mittelalterlichen deutschen Reichsverband ist schon bei Notkers Wendung uutr teutones (vgl. oben S. 41) eingeleitet. Weitere Belege finden sich im frühmittelhochdeutschen Annolied um 1080: Diutschi man PL, Diutschiu Hute. Die frühmittelhochdeutsche Kaiserchronik um die Mitte des 12. Jahrhunderts verwendet als erste größere Quelle daz Dütisc volch, die Dütiscen, alle Dütisce man, Dütisce man, nehatn tütisk man, dehain Diutisker u. ä. Damit hat sich der Volksbegriff seit dem 12. Jahrhundert endgültig etabliert. Beim Humanisten Joachim von Watt,
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genannt Vadianus (1484—1551), erscheint offenbar erstmals die Wendung die tütsch nation. Im übrigen vollzieht sich auch hier die Nationalisierung und ,Germanisierung' wie beim Sprachbegriff, während die Neuzeit den veränderten politischen Gegebenheiten nach 1945 entsprechend eine zunehmende Tendenz zur Vermeidung der nationalen Volksbezeichnung anstrebt (vgl. die Übersicht über die Geschichte des Wortes Deutsch S. 45). Eine solche Vermeidungstendenz lag schon nach 1918 in der Wahl des freilich auch historisch verankerten Landes- und Volksnamens Österreich, Österreicher an Stelle des ebenfalls zur Diskussion stehenden Namens Alpendeutschland, Alpendeutsche vor. Auch im Grundlagenvertrag zwischen den beiden deutschen Staaten BRD und DDR vom 21. Dezember 1972 ist jeder Hinweis auf eine deutsche Nation insgesamt vermieden worden. Die Präambel nennt lediglich die „unterschiedlichen Auffassungen" der beiden Staaten „zu grundsätzlichen Fragen, darunter zur nationalen Frage". Das Fortbestehen einer einheitlichen deutschen Nationalkultur wird seit den 1970er Jahren von den staatlichen Vertretern der DDR bewußt bestritten. Damit ergibt sich linguistisch gesehen eine semantische Verengung und Entnationalisierung der alten Volkszeichnung Deutsch auf die politischen Gegebenheiten und gesellschaftlichen Vorstellungen hin, welche jede deutsche Einheit über bestehende Staatsgrenzen hinweg grundsätzlich leugnen. (3) Deutsch als geographischer Begriff Auch die geographische Geltung von deutsch und die Verbindung Deutschland begegnen — zunächst noch nicht in fester Zusammensetzung — seit frühmittelhochdeutscher Zeit. Hier liegen die Anfänge im Annolied um 1080 in Diutischemi lande, Diutschiu lant PI., gefolgt von der Kaiserchronik eines Regensburger Geistlichen vor oder nach 1150 ze, in Dütiscen landen, in Dütiscem riche (neben Germanje) u. ä. Die mittelhochdeutschen Belege sind aber noch selten, erst seit frühneuhochdeutscher Zeit wird Deutschland, das Teutschland u. ä. geläufiger. Geographischen Ursprungs ist schließlich das Begriffspaar oberdeutsch oder hochdeutsch / niederdeutsch, worauf wir unten zurückkommen werden. Rein geographisch zu verstehen sind ursprünglich Nord-, Süd-, West- und Ostdeutschland, letztere sind aber nach 1945 auch als Bezeichnungen für die neuen Staaten der Bundesrepublik Deutschland (BRD, nicht-amtlich auch Westdeutschland) und der Deutschen Demokratischen Republik (DDR, nicht-amtlich auch Ostdeutschland) üblich geworden, während Mitteldeutschland als Ausdruck für die DDR eine durch politische Ansprüche belastete westdeutsche Bildung aus der Entgegensetzung zum ehemals deutschen Osten darstellt, der nach dem Zweiten Weltkrieg an die slavischen Staaten verloren ging. Erst recht war die Prägung großdeutsch von der Frankfurter Nationalversammlung 1848/49 bis zum Nationalsozialismus 1 9 1 9 - 1 9 4 5 mit Adolf Hitlers Großdeutschland politisch ausgerichtet: im Hintergrund stand der Gedanke einer Vereinigung aller Deutschen - womit ethnolinguistisch alle
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Die Sprachbezeichnung Deutsch
Deutschsprachigen gemeint waren — zu einem Einheitsstaat von möglichst weiter geographischer Ausdehnung. Als Gegensatz zu großdeutsch ergab sich im 19. Jahrhundert kleindeutsch im Sinne eines enger gefaßten deutschen Nationalstaates. (4) Deutsch als Sittenbezeichnung Im wesentlichen seit frühneuhochdeutscher Zeit, vereinzelt auch schon im Mittelhochdeutschen, erscheint deutsch als Sittenbezeichnung im Sinne von ,trefflich, edel, treu und sittlich gut'. Schon Walther von der Vogelweide formuliert in seinem Deutschlandlied Ir suit sprechen willekomen im ersten Viertel des 13. Jahrhunderts gegenüber den fremden Sitten (56, 30-37): Ich hän lande vil gesehen unde nam der besten war: übel müeze mir geschehen, künde ich ie min herze bringen dar daz im wol gevallen wolde fremeder site, nü waz hülfe mich, ob ich unrehte strite? tiuschiu zuht gät vor in allen. Das heißt: „Ich habe viele Länder gesehen und habe dort die Trefflichsten kennen gelernt. Unglück möge mir geschehen, wenn ich mein Herz je dazu bringen würde, daß ihm fremde Sitten gut gefielen. Nun, was würde es mir helfen, wenn ich Unrichtiges behauptete? Deutsche Gesittung steht allen voran." Seit frühneuhochdeutscher Zeit spricht man von deutscher Treue, deutschem Mut, deutschem Gemüt u. ä. Besondere Formen von Tanz, Turnier und Spiel werden als deutsch bezeichnet. Im nationalsozialistischen Sprachgebrauch des 20. Jahrhunderts war der deutsche Gruß eine besondere Art der Begrüßung durch Erheben der rechten, flachen Hand mit ausgestrecktem Arm. Die Bedeutungsentwicklung geht auch in ironischer Richtung, von ,bieder, edel, gutmütig' zu ,unbeholfen, beschränkt, einfältig'. So ist der deutsche Michel (eigentlich Michael, häufiger Bauernname) das Sinnbild des biederen, einfältigen Landmanns vom 16. bis ins 19. und 20. Jahrhundert. (5) Deutsch als Bezeichnung einer Glaubensgemeinschaft Seit der Reformation erscheint deutsch gelegentlich auch als besondere Kennzeichnung der Glaubensgemeinschaften und Kirchen, insbesondere der evangelisch-lutherischen Gemeinschaft, bis nach den Niederlanden und Skandinavien. 2.2.3. Zur Entwicklung des Begriffes Hochdeutsch Es muß verständlich bleiben, daß Wortbildung und Begriff Neuhochdeutsch erst aus der Entgegensetzung Alt-, Mittel- und Neuhochdeutsch,
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das heißt aus der sprachgeschichtlichen Einsicht in die verschiedenen, klar abgrenzbaren zeitlichen Stufen der deutschen Sprache hervorgehen konnte. Somit gehört der Begriff Neuhochdeutsch seinem Ursprung nach zu den Errungenschaften des geschichtlichen Denkens, wie es die Sprachwissenschaft des frühen 19. Jahrhunderts geprägt hat (vgl. oben Kap. 1.1. S. 5-10). Anstelle von Neuhochdeutsch hat man in älterer Zeit einfach von Hochdeutsch gesprochen. Doch hat auch dieser Sprachbegriff seine bestimmte Geschichte, die wir in den folgenden sechs Stufen nachvollziehen können (vgl. dazu die Aufstellung Geschichtliche Entwicklung des Begriffes,Hochdeutsch' S. 52): Stufe 1: Am Anfang steht der geographische Ausgangspunkt, der sich seit dem 15. Jahrhundert, übrigens auch in sprachbezogener Hinsicht, aus dem Gegensatz zwischen Niederdeutsch — mit Einschluß des Niederländischen — und Hochdeutsch, beziehungsweise zwischen Niederdeutschland und den Niederlanden und Hoch- oder Oberdeutschland, ergibt. Ein hochdeutsches Sprachbewußtsein im geographischen Sinn als Gegensatz zum Niederdeutschen und Niederländischen zeigt sich im 16. und 17. Jahrhundert immer deutlicher. So unterscheidet der Basler Drucker Adam Petri in seinem Nachdruck von Luthers Neuem Testament, Basel 1523, zwischen Martin Luthers Hochdeutsch und seinem Hochdeutsch und nennt dabei auch seine schweizerisch bestimmte Sprache „unser hoch teutsch", in unausgesprochener Entgegensetzung zum Niederdeutschen. Stufe 2: Spezifischer meint Hochdeutsch seit dem Aufkommen der Druckersprachen in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts mehr oder weniger überregionales Kanzleideutsch, insbesondere die Sprache der Nürnberger und Augsburger Drucker der letzten Jahrzehnte des 15. Jahrhunderts, sodann die Sprache der sächsischen und österreichischen Kanzleien im 16. Jahrhundert. In diesem Sinn sagt Luther „Ich rede nach der Sechsischen cantzlei, quam mutuantur omnes principes Germaniae". Dabei spielt für ihn bewußtseinsmäßig der überregionale Ausgleich eine entscheidende Rolle: „Et ego communem quandam linguam scio et nullam certam, ideo intelligi possum in inferiori et superiori Germania" (Tischreden Nr. 2758 a, worauf der Hinweis auf die sächsische Kanzlei folgt). Dann heißt es weiter: „Maximilianus et Fredericus totum imperium iam ad certam formam loquendi perduxerunt, haben alle spräche alßo in einander gezogen". Gegenüber seiner hochdeutschen Ausgleichssprache lehnt Luther das ihm unter anderem von Zwingli her bekannte engere Oberdeutsche des Südwestens ausdrücklich ab: „die Oberlendische spräche ist nicht die rechte Teutsche spräche, habet enim maximos hiatus et sonitus" (Tischreden Nr. 6146). Stufe 3: Mit der Wirkung von Luthers Bibelübersetzung seit 1522 wird Luthers
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Die Sprachbezeichnung Deutsch
Sprache mehr und mehr als die vorbildliche hochdeutsche Sprache verstanden. Somit vollzieht sich eine gestalthafte Profilierung auf Luther, was bereits bei den Grammatikern des 16. Jahrhunderts mit Fabian Frangks Orthographia deutsch, Wittenberg 1531, beginnt und sich bei den großen Grammatikern des 17. Jahrhunderts noch verstärkt. Damit heißt Hochdeutsch vor allem die Sprache Luthers. Stufe 4: Neben der Berufung auf Luther wird besonders im 17. Jahrhundert eine obersächsische Bewußtwerdung deutlich. Hochdeutsch wird nun verstanden als die Sprache Obersachsens, die in diesem Raum am besten gesprochen und geschrieben wird. In diesem Sinn schreibt Kaspar Stieler in der dem Kurfürsten und Herzog Johann Georg III. von Sachsen zugedachten Vorrede seines Werkes Der Teutschen Sprache Stammbaum und Fortwachs oder Teutscher Sprachschatz, Nürnberg 1691: „daß Sie ein Herrscher über solche Städte und Festungen seyn / worinnen die hochteutsche Sprache glücklich geboren / glücklicher erzogen / und aufs glücklichste ausgezieret und geschmücket worden / auch noch täglich einen erneuerten und mehr lieblichen Glanz empfähet; Ich meine das prächtige Dreßden / das heilige Wittenberg / und das Süßeste aller Städte / Leipzig / welches auch von ihrem Sprachenzucker / dem sonst salzichten Halle solch eine milde Beysteur verehret / dass es sich seiner Lehrlingschaft zuschämen nimmermehr Ursach finden wird. In diesen trefflichen Städten regiret und triumfiret die hochteutsche Sprache ... Diese treffliche Städte nun sind die Richtschnur der Hochteutschen Sprache / gleichwie Wittenberg insonderheit / vor nunmehro 170. Jahren zu derselben den Grund / durch Verteutschung des großen GOttesbuches / der Bibel / geleget hat" — womit wiederum Luther anvisiert ist. Stufe 5: Parallel dazu vollzieht sich eine allgemein schriftsprachliche Ausweitung des Begriffes Hochdeutsch zur Schrift- oder Hochsprache schlechthin. In diesem Sinn unterscheidet Johannes Bödiker, Grund-Sätze Der Deutschen Sprachen im Reden und Schreiben, Cölln an der Spree, 1690 (und später), erstmals scharf zwischen Hochdeutsch als gehobener Hoch- und Schriftsprache und zwischen Niederdeutsch und Oberdeutsch als Mundarten: „Ich theile die teutsche Sprache, da ich itzt von der altteutschen und auch niederländischen nichts sage, inner Teutschland ab: 1. in die niederteutsche, 2. oberteutsche, und 3. hochteutsche. Die hochteutsche Sprache ist keine Mundart eines einigen Volks oder einer Nation der Teutschen, sondern aus allen durch Fleis der Gelehrten zu solcher Zierde erwachsen, und in ganz Teutschland im Schreiben der Gelehrten wie auch im Reden vieler vornehmer Leute üblich." Dadurch tritt die axiologische Bedeutung des Begriffes Hochdeutsch, die in Stufe 4 erst latent vorhanden war, noch schärfer in Erscheinung. Sprachgeographisch löst die Bezeichnung Ober-
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deutsch nun allmählich Hochdeutsch ab, das als normativ-schriftsprachlich gilt. Aber noch in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts entzündet sich zwischen dem vor allem in Leipzig und Dresden tätigen Grammatiker Johann Christoph Adelung (1734—1806) und dem schwäbischen Dichter Chr. M. Wieland (1733-1813) ein Streit über die Bedeutung des Begriffes Hochdeutsch, dessen verschiedene Standpunkte sich so darstellen lassen: Adelung Wieland Was ist Hochdeutsch, besonders Vorrede zu seinem Teutscher Merkur 1782 Grammatisch-kritischen Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart, I, Leipzig 1774, 2 1793 — Hochdeutsch heißt im engeren Sinn die obersächsische oder vielmehr meißnische Mundart der oberen Stände, wie sie in den besten Schriften angetroffen wird — Autonomie und Geltung des Hochdeutschen sind nicht aus einem Sprachausgleich, sondern aus der historisch-kulturell begründeten Vorzugsstellung der südlichen kursächsischen Länder abzuleiten — Hochdeutsch ist die in Meißen und Obersachsen verfeinerte und ausgebildete Sprache, sowohl als Schriftsprache des ganzen aufgeklärten Teils der Nation wie auch als gesellschaftliche Sprache fast aller Personen von Geschmack und Erziehung, besonders im mittleren und nördlichen Deutschland
die hochdeutsche Schriftsprache ist nicht durch die Mundarten einer blühenden Provinz bestimmbar, sondern nur aus den Werken der besten Schriftsteller des 16., 17. und 18. Jahrhunderts alle Mundarten sind Fundgruben für die Bedürfnisse der Schriftsprache die hochdeutsche Schriftsprache kann nicht mit der Mundart der oberen Schichten Kursachsens gleichgesetzt werden die Entwicklung zur deutschen Schriftsprache ist keineswegs abgeschlossen Umgangssprache und Schriftsprache fallen nie zusammen
Die Auseinandersetzung zeigt ein Doppeltes: einerseits das Nachwirken des obersächsisch-meißnischen Hochsprachbewußtseins bei Adelung, übersteigert und dogmatisiert, andererseits den zunehmenden Einigungsprozeß der deutschen Schrift- und Literatursprache im 18. Jahrhundert, der sich Schriftsteller ganz verschiedener Herkunft anschließen. Sprachgeschichtlich ist Adelungs Ansicht nicht unbegründet; sie entsprach aber den tatsächlichen Verhältnissen im 18. Jahrhundert nicht mehr. Denn die Geltung und Ausweitung der hochdeutschen Literatursprache war keineswegs mehr allein auf Obersachsen beschränkbar. In ähnlichem Sinn wie Wieland hatte sich schon 1746 der Zürcher Johann Jacob Bodmer (1698—1783) in seinem Aufsatz Lob der Mundart (in Der Mahler der Sitten, Zürich 1746, Bd. II) gegen die „tyrannischen Sprachrichter aus Sachsen" gewandt und den Wert
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Die Sprachbezeichnung Deutsch
Geschichtliche Entwicklung d& BegriffesHodideutscti geographischer Ausgangspunkt 15. Jh.ff. sprachschichtmäßige Spezifik zierung .Kanzleisprachen spätes 15./besonders i6.jh. gestalt hafte Frqßlierung auf Luther 16-Jh.ff.
öSt \J
sächsische ßewußtwerdung spätes 16./besonders 17. und 18Jh. (Obersachsen/Meißen, OstmitteldeutschlandJ allgemein schriftsprachliche Ausweitung.ätiologische Erfüllung, Ende lju. m.Jh.ff. 6
spradihistürische Pifferenzierung durch Jacob Grimm 1319/22 Graphische Darstellung 10
der verschiedenen Regionalsprachen des Deutschen unterstrichen. So hat es nicht an Gegenstimmen gegen den obersächsischen Anspruch gefehlt, wenn dieser Landschaft und ihren großen Vertretern auch für die Ausbreitung der deutschen Hochsprache ein entscheidender Anteil zukam. Stufe 6: Als letzte Stufe in der Entwicklungsgeschichte des Begriffes Hochdeutsch darf die sprachhistorische Differenzierung im Werk des Begründers der deutschen und germanischen Philologie, bei Jacob Grimm (1785-1863), genannt werden, die bis heute gilt. So prägte Jacob Grimm den Begriff Neuhochdeutsch im Gegensatz zu Mittelhochdeutsch und Althochdeutsch, wobei sich wiederum ein direkter Bezug zu Luther ergibt: „Luthers Spra-
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che, deren Grammatik gleichwohl eigentlich dargestellt zu werden verdiente, gehört nicht in diesen Kreis [gemeint ist die Zwischenzeit zwischen Mittelhochdeutsch und Neuhochdeutsch], sie muß ihrer edlen, fast wunderbaren Reinheit, auch ihres gewaltigen Einflusses halber, für Kern und Grundlage der neuhochdeutschen Sprachniedersetzung gehalten werden, wovon bis auf den heutigen Tag nur sehr unbedeutend, meistens zum Schaden der Kraft und des Ausdrucks abgewichen worden i s t . . . " (Deutsche Grammatik I, 2Göttingen 1822, S. XI). Eine genauere Modifizierung, auch in zeitlicher Hinsicht, vollzieht Jacob Grimm schließlich 1854 in der Vorrede zu Band I des Deutschen Wörterbuches der Brüder Grimm. Obwohl er das Wörterbuch als Sammlung des deutschen Wortschatzes von Luther bis Goethe sieht, ist er sich bewußt, daß das Neuhochdeutsche aus einem längeren Übergangsprozeß vom Spätmittelhochdeutschen bis zu Luther zu begreifen sei. So rechnet er den Beginn des Neuhochdeutschen etwa von der Mitte des 15. Jahrhunderts an. Jedenfalls ist seit Jacob Grimm der Begriff Neuhochdeutsch — zusammen mit Mittelhochdeutsch und Althochdeutsch — in die Fachterminologie eingegangen. 2.2.4. Zusammenfassung Zusammenfassend kann gesagt werden: (1) Das Wort Deutsch ist eine sprachliche Selbstbezeichnung südgermanisch-altdeutscher Sprach träger seit frühalthochdeutscher Zeit im 8./ 9. Jahrhundert, die sich auf dem seit merowingisch-karolingischer Zeit zusammenwachsenden deutschen Sprachgebiet als einzige übergreifende Sprach- und Volksbezeichnung verfestigt hat. (2) Die Geschichte des Wortes Deutsch spiegelt die Bewußtwerdung des Volkssprachlichen im Mittelalter, des Nationalsprachlichen und Volksgeschichtlichen bis zu seiner Überhöhung in der Neuzeit, mit anschließender Entnationalisierung in der Gegenwart. (3) Erst mit der Ausbildung eines entwicklungsgeschichtlichen Denkens seit dem deutschen Humanismus ist es zur sprachstufenbezogenen Differenzierung altdeutsch, seit dem 19. Jahrhundert althochdeutsch-mittelhochdeutsch / neuhochdeutsch gekommen. (4) Die ursprünglich geographische Scheidung oberdeutsch / niederdeutsch wurde schon früh auf den Sprachunterschied Hochdeutsch / Niederdeutsch übertragen und seit dem 19. Jahrhundert sprachgeographisch näher begründet. (5) Mit der Ausbreitung einer neuhochdeutschen Schriftsprache seit dem 15./16. Jahrhundert und ihrer zunehmend normierenden Darstellung in den deutschen Grammatiken des 16. bis 18. Jahrhunderts wurde der Begriff Hochdeutsch axiologisch als im gesamten deutschen Sprachraum allein gültige Schrift- und Hochsprache neu erfüllt. (6) Deutsch bedeutet seit 1945 vor allem die Sprache der europäischen
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Mitte, während der Volksbegriff im Zuge der Entnationalisierung und angesichts verschiedener ganz oder teilweise deutschsprachiger Staaten stark zurückgetreten ist und in der Zukunft weiter zurücktreten wird. Symptomatisch für die Tendenz zur Vermeidung des Volksbegriffs Deutsch ist die Tatsache, daß die abgekürzten Staatsbezeichnungen BRD und DDR geläufiger sind und national-politisch weniger belastet wirken, als ihre entsprechenden Vollformen, während in den Namen Österreich und Schweiz jeder Hinweis auf etwas Deutsches überhaupt fehlt. (7) Was die Differenzierung des ursprünglichen Sprachbegriffs Deutsch als Adjektiv durch spezifizierende Zusammensetzungen im Neuhochdeutschen betrifft, läßt sich nun die folgende Aufstellung vermitteln: deutsch geographisch und später sprachgeographisch
historisch-politisch
schriftsprachlichnormativ und stilistisch
sprachhistorisch
15. Jh. hochdeutsch
19. Jh. großdeutsch
1 6 . / 1 7 . Jh. hochdeutsch
16. Jh. altdeutsch
17. Jh. mittelteutsch teutschteutsch meisterteutsch und weitere Bildungen
19. Jh. althochdeutsch
i oberdeutsch t mitteldeutsch
1 niederdeutsch 1 7 . / 1 8 . Jh. nord-, süd-, ost-, west-, deutsch 1 7 . / 1 8 . Jh. Schweizerdeutsch alpendeutsch u.a.
I
kleindeutsch 20. Jh., 1. Hälfte reichsdeutsch alldeutsch volksdeutsch auslandsdeutsch 20. Jh., 2. Hälfte ostdeutsch
t
westdeutsch gesamtdeutsch innerdeutsch deutsch-deutsch mitteldeutsch (im Sinne von ostdeutsch, ohne die ehemaligen deutschen Ostgebiete)
19. Jh. neuhochdeutsch Schriftdeutsch
t
mittelhochdeutsch l neuhochdeutsch altniederdeutsch
Τ
16.-20. Jh. gut deutsch gut hochdeutsch
mittelniederdeutsch
20. Jh., 2. Hälfte standarddeutsch
urdeutsch (sprachwissenschaftlicher Hilfsbegriff, vgl. S. 166)
1
Cneu)niederdeutsch
(8) Doppeldeutig ist der Begriff hochdeutsch, weil er sprachgeographischdialektologische und schriftsprachlich-normative Bedeutungskomponenten enthält. Das Gleiche gilt vom Begriff Neuhochdeutsch, welcher durch die diachronische Dimension erweitert ist (vgl. das beigegebene Schema Die Doppeldeutigkeit des Begriffs Hochdeutsch S. 56). So ist die Sprachbezeichnung neuhochdeutsch im dreifachen Oppositionsbezug von Zeit, Raum und Norm zu verstehen:
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Raumbezug
Zeitbezug
mittel- und oberdeutsch (dialektologisch)
15./16. Jh. ff. bis zur Gegenwart
neu — hoch — deutsch
\
mit neuer räumlicher Geltung als Hochsprache für das ganze deutsche Sprachgebiet
Schriftsprache, Hochsprache, wie sie erst in neuhochdeutscher Zeit entsteht und grammatisch normiert wird -
Normbezug
Literaturhinweise zu Kapitel 2. (soweit nicht im Text genannt) Die entscheidenden Ansätze der Forschung zur älteren Geschichte von Wort und Begriff Deutsch vereinigt der Sammelband Der Volksname Deutsch, hg. von Hans Eggers (Wege der Forschung Bd. CLVI), Darmstadt 1970, während die vollständigste Sammlung und Sichtung der Belege immer noch Willy Krogmann, Deutsch, Eine wortgeschichtliche Untersuchung (Deutsche Wortforschung, Heft 1), Berlin und Leipzig 1936, vermittelt. Für das Mittelalter ist der Sammelband Aspekte der Nationenbildung im Mittelalter (Ergebnisse der Marburger Rundgespräche 1972—1975, Reihe Nationes Bd. 1), Sigmaringen 1978, heranzuziehen. Außerdem sind zu berücksichtigen: Wilhelm Breuer, ,Dietsch' und ,Duutsch' in der mittelniederländischen Literatur, Rheinische Vierteljahrsblätter Jg. 37, 1973, 328-347. - Alfred Dove, Studien zur Vorgeschichte des deutschen Volksnamens (Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-historische Klasse, Jg. 1916, 8. Abhandlung), Heidelberg 1916. — Sr. Raphaela Gasser, Propter lamentabilem vocem hominis, Zur Theorie der Volkssprache in althochdeutscher Zeit, Diss. Zürich, Freiburg/Schweiz 1970 (dazu Klaus Matzel, AfdA 84,1973,11-15). — Klaus Matzel, Karl der Große und die Lingua theodisca, Rheinische Vierteljahrsblätter 34, 1970, 172-189. - Ingo Reiffenstein, Diutisce, Ein Salzburger Frühbeleg des Wortes .deutsch', in Peripherie und Zentrum, Studien zur österreichischen Literatur (Festschrift Adalbert Schmidt), Salzburg 1971, 249-263. — Alexander Schwarz, Der Sprachbegriff in Otfrids Evangelienbuch, Diss. Zürich, Bamberg 1975. — Klaus von See, Deutsche Germanen-Ideologie vom Humanismus bis zur Gegenwart, Frankfurt a. M. 1970. — G. A. R. de Smet, Die Bezeichnungen der niederländischen Sprache im Laufe ihrer Geschichte, Rheinische Vierteljahrsblätter Jg. 37, 1973, 315-327. — Fritz Vigener, Bezeichnungen für Volk und Land der Deutschen vom 10. bis 13. Jahrhundert, Heidelberg 1901 (Nachdruck mit Anhang von Walther Müller, Deutsches Volk und deutsches Land im späteren Mittelalter, Ein Beitrag zur Geschichte des nationalen Namens [Historische Zeitschrift Bd. 132, 1925] und Nachwort von Helmut Beumann, Darmstadt 1976). - Leo Weisgerber, Der Sinn des Wortes .Deutsch', Göttingen 1949. Für die Geschichte von Wort und Begriff Deutsch und seiner Zusammensetzungen im Neuhochdeutschen ist man im wesentlichen auf die großen Wörterbücher (besonders auch Grimm, Deutsches Wörterbuch, Leipzig 1854—1960) und die älteren Grammatiken angewiesen, vgl. dabei Helmut Henne, Semantik und Lexikographie (Studia Linguistica Germanica
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Die Sprachbezeichnung Deutsch
Bd. 7), Berlin-New York 1972, und Helmut Henne [Hrsg.], Deutsche Wörterbücher des 17. und 18. Jahrhunderts, Einführung und Bibliographie, Hildesheim—New York 1975. Zu Adelung und Wieland vgl. Karl-Ernst Sickel, Johann Christoph Adelung, seine Persönlichkeit und seine Geschichtsauffassung, Diss. Leipzig 1933. Zur Wortgeschichte nach 1945 besonders Manfred W. Hellmann, Wortschatzdifferenzen und Verständigungsprobleme - Fragen bei der Erforschung der sprachlichen Situation in Ost und West, im Sammelband: Zum öffentlichen Sprachgebrauch in der Bundesrepublik Deutschland und in der DDR (Sprache der Gegenwart, Schriften des Instituts für deutsche Sprache, Bd. 18), Düsseldorf 1973 sowie Erdmuthe Schlottke, Mitteldeutschland - Semantische und psycholinguistische Untersuchungen zur jüngsten Wortgeschichte (Münchener germanistische Beiträge Bd. 5), München 1970.
PiePoppeldeutigkat desßegnffi Hochdeutsch Gegensatz althochdeutsch niederdeutsch mittethodideutsdi^
ßegrijf neu-hoch-deufrcfi JfrdmnglNeuhochdeutsch: deutsche Schriftsprache oder Hochdeutsch: deutscheHochsprache (normatiu-schrift- neuhochdeutsche Itmspradilidt) gangsspradte Gegensatz: AiundartenMdemmdi Verbreitung: garuefdeutrdtffSpttcftgebier 2.Hochdeutsch: neuhochdeutsdre/Mund{sprachgeograptiisdi- arten(Mitteldeutschund dialektologisch) Oberdeutsch) Gegensatz: Niederdeutsch Verbreitung: deutsches Sprachgebiet ohneniederdeutsches Gebiet Graphische Darstellung 11
3. Genealogie der deutschen Sprache: das Deutsche als Teil des Germanischen Die deutsche Sprache gehört nach ihrer genealogischen Verwandtschaft in den größeren Kreis des Germanischen. Sie ist sprachhistorisch als eine seit dem 8. Jahrhundert verfolgbare Entwicklungsstufe des Germanischen und synchronisch-typologisch als ein gewichtiger Teil der heutigen germanischen Sprachgruppe zu sehen. Diese Zusammenhänge sollen im folgenden näher erläutert werden.
3.1. Der Begriff Germanisch Anders als beim Wort Deutsch ist Germanisch in Anlehnung an den alten Stammesnamen Germanen eine in deutscher Sprache erst spät belegbare Bildung seit dem Zeitalter des Humanismus, wenn auch die frühmittelhochdeutsche Kaiserchronik um 1150 in Vers 471 bereits den Landschaftsnamen üzer Germanje ,aus Germanien' nennt. Ein eigentliches germanisches Bewußtsein ist in der deutschen Geistesgeschichte aber erst seit dem späten 15. und dem 16. Jahrhundert festzustellen, von einzelnen mittelalterlichen Belegen in dieser Richtung abgesehen, zu denen beispielsweise Walahfrid Strabos (808/809-849) Bezeichnung des Gotischen als „deutsche Sprache" gehört, wenn der Reichenauer Abt in seinem Libellus de exordiis et incrementis quarundam in observationibus ecclesiasticis rerum, Kap. 7, von den Goten (a Gothis, qui et Getae) schreibt: „nostrum hoc est Theotiscum sermonem habuerint" (d.h. „sie hatten unsere, nämlich die deutsche Sprache"). Der Name der Germanen geht von einem germanischen Stamm auf der linken Seite des Niederrheins aus, den Caesar im 1. Jahrhundert v. Chr. als Germani cisrhenani bezeichnet. Damit ist ein Einzelstamm im germanischkeltischen Grenzgebiet gemeint, dessen Name später auf die benachbarten weiteren germanischen Stämme rechts des Rheins übertragen wurde. Die etymologische Deutung des Namens ist umstritten. In Frage kommen germanische Herkunft nach einem Götternamen (inschriftlich Garmangabis, Göttin der Sueben, dazu das Personennamenelement Germ-, Germen-, zum Wortstamm ger-n, ger-m ,begehren, lieben'), keltische Herkunft (zum um-
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Genealogie der deutschen Sprache
strittenen Wortstamm kelt. germ- ,schreien') oder illyrische Herkunft (Germ- in illyrischen Personennamen, zu indogerm. guher-m ,warm, heiß', im Völkernamen nach Sitzen an warmen Quellen). Je nach der Deutung liegt eine Eigenbezeichnung oder eine Fremdbezeichnung mit nachfolgender Übertragung vor. Ins Gewicht fällt allerdings, daß die Gesamtbezeichnung Germani und der Ländername Germania von den Römern ausgegangen sind. Vom Standpunkt der sprachwissenschaftlichen, historischen und urgeschichtlichen Forschung aus lassen sich die Germanen oder das Germanische in den folgenden zehn Bereichen erkennen, die wir dort näher erklären, wo dies im Hinblick auf die Geschichte der deutschen Sprache geboten erscheint. (1) Die Germanen als archäologische (prähistorische oder urgeschichtliche) Fundgruppen oder Kulturkreise des 1. Jahrtausends v.Chr. sowie in den ersten Jahrhunderten n.Chr. in Südskandinavien, Nordwestund Nordostdeutschland sowie darüber hinaus bis in den unteren Weichselraum, in den mittleren und nördlichen Rheinlanden mit weiteren Ausstrahlungen je nach Stämmen (z.B. die Goten des 2.—4. Jh. in Südrußland und am Schwarzen Meer). (2) Die Germanen als mehr oder weniger deutlich gegliederte Stammesgruppierungen in der spätantiken Ethnographie und Geschichtsschreibung, seien sie einfach als Germani bezeichnet, seien sie eingeteilt in drei bis fünf größere Volksverbände wie bei Plinius dem Älteren (Naturalis historia IV, 99 Germanorum genera quinque usw., 1. Jh.n.Chr.) oder in der Germania des Tacitus (2, 3—4 proximi Oceano Ingaevones, medii Hermiones, ceteri Istaevones usw., 98 n.Chr.), oder seien sie schließlich unter dem Namen Barbari,Barbaren' subsumiert. Auf die Tragfähigkeit der antiken Einteilung bei Plinius und Tacitus wird unten (S. 1 1 3 - 1 1 4 ) zurückzukommen sein. (3) Die Germanen als älteste Sprach träger des Frühgermanischen in den Jahrhunderten vor und nach Chr. Direkte Zeugnisse einer frühgermanischen Sprache begegnen — inschriftlich seit dem 1.Jahrhundert v.Chr. (Helme Α und Β von Negau/Negova im östlichen Slowenien, römisch-germanische Militärinschriften) — lexikalisch als aus dem Germanischen in die lateinische Sprache aufgenommene Sachwörter seit Caesar (1. Jh. v.Chr.), Plinius d.Ä. (1. Jh.n.Chr.) und Tacitus (Ende 1.Jh.n.Chr.), wie z.B. urus ,Auerochse' (ahd. ur m.), alces pl. ,Elche, bos cervi figura' (ahd. elaho m.), framea ,Wurfspeer' (Grundform * framjö f., zu germ, fram ,vorwärts') — onomastisch, d. h. namenkundlich, durch die vielen germanischen Personen· und Völkernamen sowie einige Landschafts- und Ortsnamen in der lateinischen und griechischen Geographie, Ethnographie und Geschichtsschreibung
Der Begriff Germanisch
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— frühgermanische Lehnwörter im Finnischen, die sich dort bis heute kaum verändert haben. (4) Die Germanen als geschichtliche Größe der Völkerwanderungszeit mit eigener Reichsbildung und Stammesverfassung Zu einer zeitlich und räumlich erkennbaren germanischen Reichsbildung und Stammesverfassung unter Königen ist es in der Völkerwanderungszeit bei den ostgermanischen Stämmen gekommen. Dabei sind zu nennen: (a) Das ostgotische Reich um die Mitte des 4. Jahrhunderts in Südrußland nördlich des Schwarzen Meers unter Ermanarich, der in die altgermanische und mittelhochdeutsche Heldendichtung eingegangen ist (mittelhochdeutsch Ermenrich). Dieses Reich fiel dem Hunnensturm von 375 zum Opfer. (b) Das ostgotische, in das römische Imperium integrierte Reich Theoderichs des Großen (493—526) und seiner Nachfolger bis zur Mitte des 6. Jahrhunderts in Italien und im Alpengebiet. Auch Theoderich ist in die altgermanische und mittelhochdeutsche Heldendichtung eingegangen (althochdeutsch Theotrih, Thioterih, Dioterih; mittelhochdeutsch Dietrich von Berne [Verona]). (c) Das nach seiner Hauptstadt Tolosa (Toulouse) benannte Tolosanische Reich der Westgoten im 5.Jahrhundert in Südfrankreich und Nordspanien und das ihm nachfolgende, auf Spanien beschränkte westgotische Reich von Toledo vom Anfang des 6. Jahrhunderts bis zur Unterwerfung durch die Araber im Jahre 711. (d) Das Reich der Wandalen im nordafrikanischen Umkreis von Karthago von 428 bis 533/534. (e) Das Burgundische Reich zwischen Mainz und Worms im 4. und 5. Jahrhundert bis zur Niederlage der Burgunder unter König Gundahar durch Aetius und seine hunnischen Verbündeten im Jahre 436, worin der historische Hintergrund des zweiten Teils des mittelhochdeutschen Nibelungenliedes (König Gunther) zu erblicken ist. (5) Die Germanen als geschichtliche Größe des europäischen Frühmittelalters Als ethnische und räumliche Grundlage der frühmittelalterlichen germanischen Sprachen sind eine Reihe von verschiedenen staats- und reichsbildenden Stammesverbänden zu nennen, unter denen wir im Hinblick auf die deutsche Sprachgeschichte die folgenden aufführen: (a) Der sich im 3. und 4. Jahrhundert aus verschiedenen älteren Stämmen (Chatten, Salier, Ripuarier u.a.) neu gruppierende Verband der Franken in den Rheinlanden, deren verschiedene Teilreiche der Merowinger Chlodwig (gest. 511) zum Fränkischen Reich vereinigte und dem auch die Alemannen um 500 bzw. 536 und die Thüringer 532 eingegliedert wurden. Die spätere Geschichte des ostfränkischen Reichs, besonders seit karolingischer Zeit, ist für die erste Einigung der ver-
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Genealogie der deutschen Sprache
schiedenen Stammesdialekte zur althochdeutschen Sprache im 8. und 9. Jahrhundert bestimmend geworden, während die Westfranken im heutigen Nordfrankreich und Südbelgien im 9. Jahrhundert der Romanisierung erlagen. Die sich verstärkende Geltung der Franken im Frühmittelalter zeigt sich auch darin, daß ihr Name mehr und mehr an die Stelle des Germanennamens überhaupt tritt und die Germanen als Bewußtseinsgröße zurücktreten. So spricht schon der byzantinische Geschichtsschreiber Prokop von Caesarea (um 500-562) von den „Germanen, die nun Franken genannt werden" (ές Γερμανούς, oE νϋν Φράγγοι καλούνται, De hello vandalico I, 3), oder er nennt „die Franken, welche früher aber Germanen genannt wurden" (οί δέ Φράγγοι ούτοι Γερμανοί μεν τό παλαιόν ώνομάζοντο, De hello gothico I, 11). Entsprechend wird in einer althochdeutschen Glosse Germania mit franchonolant (Ahd. Gl. III, 610) übersetzt. (b) Der räumlich im heutigen Nordwestdeutschland anzusiedelnde Stammesverband der Sachsen oder Altsachsen bildet die ethnische Grundlage zur altsächsischen Sprache des 9. bis 12. Jahrhunderts, der nördlichen Nachbarsprache des Althochdeutschen. Die Sachsen sind im Verlaufe längerer Feldzüge in den Jahren 772-804 von Karl dem Großen der fränkischen Herrschaft unterworfen und gleichzeitig christianisiert worden. Damit beginnt auch ein nachhaltiger sprachlicher Einfluß des Fränkisch-Althochdeutschen auf das Altsächsische, welches letztlich die Grundlage des heutigen Niederdeutschen darstellt. Teile der Sachsen machten im 5. Jahrhundert die angelsächsische Landnahme Britanniens mit und begründeten so das altenglische oder angelsächsische Reich und Sprachgebiet. Als Neusachsen oder Obersachsen bezeichnet man dagegen die seit etwa 1100 im Rahmen der deutschen Ostkolonisation ausgewanderten Niederdeutschen, Thüringer, Mainfranken, Oberpfälzer und Baiern in das ursprünglich slavische, aber nur dünn besiedelte Gebiet jenseits der Fränkischen Saale — im wesentlichen das historische deutsche Land Sachsen - , wobei auch slavische Bevölkerungsteile in diesen Neustamm eingegangen sind. Mundartgeographisch unterscheidet man in neuerer Zeit zwischen Niedersächsisch als westlichem Teil des Niederdeutschen auf der Grundlage der Altsachsen und Obersächsisch als Teillandschaft des östlichen Mitteldeutschen auf der Basis der Neusachsen. (c) Der Stammesverband der Thüringer, welcher in der frühen Völkerwanderungszeit aus verschiedenen älteren Einzelstämmen (Hermunduren, Angeln und Warnen) entstand, bildete im 5. Jahrhundert beidseits der Saale und westlich von Magdeburg ein Königreich, das in den Jahren 531-534 von den Franken und Sachsen vernichtet wurde. So kam das Gebiet westlich der Saale an die Franken, während der Nordteil den Sachsen zufiel. Im Osten drangen später die Slaven ein,
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welche durch die hoch- und spätmittelalterliche deutsche Ostkolonisation wieder teilweise überschichtet wurden. Die Thüringer sind seit althochdeutscher Zeit die Sprachträger des mittleren deutschen Ostens, wenn auch die schriftliche Überlieferung sich in vormittelhochdeutscher Zeit im wesentlichen auf Inschriften (Runendenkmäler des 6./7. Jahrhunderts) und Namen beschränkt. (d) Der seit dem 3. Jahrhundert genannte Stammesverband der Alemannen (oder Alamannen) läßt sich in einer längeren Wanderbewegung vom oberen Main in das Gebiet zwischen Rhein und römischem Limes (3. Jahrhundert), ins Elsaß (um 350), in die nördliche Schweiz und in das Gebiet zwischen Iiier und Lech (seit dem 5. Jahrhundert) verfolgen. Während die nördlichen Gaue bereits nach der Niederlage der Alemannen in der Schlacht von Zülpich 496 den Franken unter ihrem König Chlodwig zufielen, gelangten die südlichen Gebiete erst nach dem Zusammenbruch des Ostgotenreiches im Jahr 536 unter fränkische Herrschaft, da sich die Alemannen in der heutigen Schweiz und im Alpengebiet unter den Schutz des Ostgotenkönigs Theoderich d. Gr. gestellt hatten. Noch während der ganzen althochdeutschen Zeit bleibt eine Siedlungsbewegung der Südalemannen in das Alpengebiet hinein festzustellen, die sich selbst in mittelhochdeutscher Zeit — besonders als Walserwanderung, d. h. südliche, südöstliche und nordöstliche Wanderung der südalemannischen Walliser fortsetzt. Die Alemannen sind seit althochdeutscher Zeit die Sprachträger des deutschen Südwestens. (e) Der Stammesverband der Baiern (oder Bajuwaren) wanderte im frühen 6. Jahrhundert aus dem Osten in das nach ihm benannte Land Bayern ein, wobei sich auch hier ein lang anhaltender Landesausbau und eine Siedlungsbewegung nach Süden und Südosten in und über die Alpen bis zur Etsch im Südtirol sowie nach Südosten in das Gebiet des heutigen Österreichs ergab. Das alte Stammesherzogtum der Agilolfinger dauerte bis zum Jahr 788, doch standen die Baiern seit 591 meist unter fränkischer Oberherrschaft. Die Baiern sind seit althochdeutscher Zeit die Sprachträger des deutschen Südostens, wobei das österreichische Gebiet außer im Raum Salzburg erst seit dem Frühmittelhochdeutschen sprachlich in Erscheinung tritt, obwohl seine Besiedlung durch eine deutschsprechende Bevölkerung in althochdeutsche Zeit zurückreicht. (f) Die ursprünglich elbgermanischen Langobarden wanderten über das mittlere Donaugebiet 568 in Oberitalien ein und bemächtigten sich der Lombardei (mittelhochdeutsch ze Lamparten ,bei den Langobarden'), bis um 650 auch ganz Nord- und teilweise Mittelitaliens. Das Königreich wurde unter Desiderius in den Jahren 7 7 3 - 7 4 von Karl dem Großen erobert, blieb aber im 9. Jahrhundert noch relativ selbständig. Die Sprache der Langobarden gehört in den oberdeutschen
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Genealogie der deutschen Sprache
Kreis des Bairisch-Alemannischen, ist aber im 10. Jahrhundert erloschen. Eine volkssprachliche Schreibsprache konnte neben dem geltenden Mittellatein nicht erwachsen. Die schriftliche Überlieferung des Langobardischen beschränkt sich auf Rechtswörter und Namen. Dergestalt dürfen die frühmittelalterlichen Stammesverbände der Franken, Sachsen, Thüringer, Alemannen und Baiern als ethnische Grundlage der seit althochdeutscher und altsächsischer Zeit in das Licht der Überlieferung tretenden deutschen Sprache betrachtet werden, während die Sprache der Langobarden in Oberitalien im 10. Jahrhundert ebenso wie das vorausgehende Ostgotische in Italien im 6./7. Jahrhundert erloschen ist. Entscheidend für die Herausbildung einer gegenseitig verstehbaren, mehr und mehr vereinheitlichten Sprache des Deutschen bleibt die kontinuierliche Vormachtstellung der Franken unter den Merowingern und Karolingern vom 5. bis zum 10. Jahrhundert, mit der die fränkische bzw. ostfränkische Reichsbildung, die durchgreifende Christianisierung der heidnischen Alemannen und Sachsen oder die Katholisierung der arianischen Germanen im fränkischen Umkreis und der Aufbau einer neuen Kirchenorganisation verbunden sind. Diese Zusammenhänge sind in der beiliegenden Aufstellung Der Einfluß der Franken auf ihre germanischen Nachbarstämme im Frühmittelalter S. 63 kurz aufgeführt. (6) Die Germanen als frühmittelalterliche altgermanische Rechtsverbände mit eigenen Volksrechten Im Gefolge der verschiedenen germanischen Staatsbildungen im Frühmittelalter ist es auch zur Aufzeichnung der germanischen Volksrechte, der sogenannten Leges barbarorum vom 5. bis 9. Jahrhundert gekommen. Dies geschah in lateinischer Sprache, wobei auch Einflüsse des römischen Rechts festzustellen sind. Die Leges der germanischen Stämme vermitteln aber viele altertümliche germanische Rechtswörter, die sprachgeschichtlich von großem Wert sind. Für den werdenden deutschen Bereich gehören sie zu den ältesten sprachlichen Zeugnissen des Frühalthochdeutschen, wenn auch ihre Gestalt oft latinisiert erscheint. Für die deutsche Sprachgeschichte sind — in vom Fränkischen her bestimmter Staffelung — zu nennen: Franken Lex Salica
Lex RibvariaS. und frühes 9. Jh.
- verschiedene Rezensionen von 5 0 7 / 1 1 bis um 8 3 0 - enthält die sog. Malbergische Glosse, d. h. volkssprachliche Wörter mit der Einführung in mallobergo ,vor Gericht' (germ, mahal und berg, mlat. mallum, mallus,Gerichtsstätte') in altertümlichem Westfränkisch (ohne die letzten Fassungen), aber von verderbter Uberlieferung
— lateinisch, mit althochdeutschfränkischen Rechtswörtern - als Lex Salica Karolitta von 8 0 2 / 8 0 3 wurde der gesamte Text in Mainz ins Althochdeutsche des frühen 9. Jh. übersetzt, ist aber nur fragmentarisch erhalten (Doppelblatt Stadtbibliothek Trier)
Der Begriff Germanisch
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Der£influJ3 der Frankenauf ihrr germmisrfioi JVadifarjtämme imfrühmittelalier
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Genealogie der deutschen Sprache
Als neues Königsrecht erscheinen daneben vereinzelt im 6. und 7. Jahrhundert, häufiger ab 742 die fränkischen Kapitularien, besonders in kirchlichen Angelegenheiten. Auch sie enthalten vereinzelte volkssprachliche Wörter in latinisierter Gestalt, und auch hier ist eine fränkische Übersetzung ins Althochdeutsche belegt (Trierer Kapitulare 10. Jh.). Alemannen
Baiern
Pactus legis Alamannorum, 7. Jh., und Lex Alamannorum 7 1 2 - 7 2 5 , mit fränkischer Überarbeitung um 740 — lateinisch, mit althochdeutschalemannischen Rechtswörtern
Lex Baiuvariorum, um 743/44 mit bairischer (772) und fränkischer (788) Überarbeitung und späteren Texten, durch die übrigen vorausliegenden Leges (Lex Salica, Lex Alamannorum sowie das westgotische Recht) beeinflußt - lateinisch, mit althochdeutschbairischen Rechtswörtern
Sachsen
Thüringer
Lex Saxonum, 803, fränkisch bestimmt, mit der vorausgehenden Capitulatio de partibus Saxonie Karls des Großen von 785 - lateinisch, mit vereinzelten altsächsischen Rechtswörtern
Lex Thuringorum, auch nach den Vorfahren der Thüringer Lex Angliorum et Vuerinorum hoc est Thuringorum genannt, unter Karl dem Großen um 802/803 aufgezeichnet - lateinisch, mit einzelnen althochdeutschen Rechtswörtern
Demgegenüber sind die Volksrechte der Langobarden, die Leges Langobardorum, seit ihren Anfängen mit dem Edictus Rothari (Edikt des Königs Rothari) von 643, bis in die erste Hälfte des 9. Jahrhunderts hinein unbeeinflußt von den fränkischen Rechtsaufzeichnungen. Die Langobardengesetze bilden mit ihren volkssprachlichen Rechtswörtern das Hauptdenkmal der zum Althochdeutschen gehörenden langobardischen Sprache. (7) Altgermanisch als Bezeichnung der germanischen Sprachgruppen und ihrer Literaturen vom Frühmittelalter bis ins Spätmittelalter Als geschlossene Sprachgruppen mit eigener volkssprachlicher Überlieferung erscheinen die Germanen im wesentlichen seit dem Frühmittelalter. Altgermanisch heißen die Sprachen und Sprachstufen, welche in noch relativ enger Verwandtschaft und in gemeinsamen Überlieferungsbereichen (Runendenkmäler, Heldendichtung, Götterdichtung oder mythisch gebundene Zaubersprüche, Stabreimdichtung) einen älteren Sprachstand mit mehr oder weniger vollen Nebensilbenvokalen und gleichgerichtetem Formensystem aufweisen. Entsprechend ist der Kulturbegriff Altgermanisch von der Völkerwanderungszeit bis ins Hoch- oder Spätmittelalter, aber mit unscharfer, von Sprachbereich zu Sprachbereich sowie je nach Überlieferungsschicht verschiedener Endgrenze zu bestimmen. Altgermanisch sind man vergleiche dazu das Übersichtsblatt über Die Zeitbereiche der germanischen Sprachen bis 1500 n. Chr. auf S. 65 - das Gotische des 4. bis zum Anfang des 7. Jahrhunderts seit der Bibelübersetzung durch den westgoti-
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sehen Missionsbischof Wulfila um 3 5 0 , die Reste des Burgundischen und weiterer ausgestorbener ostgermanischer Sprachen, das Althochdeutsche (mit Einschluß des Langobardischen) v o m 8. bis 11. Jahrhundert, das Altsächsische des 9. bis 12. Jahrhunderts, das im 9. Jahrhundert ausgestorbene frühmittelalterliche Westfränkische, das nur spurenweise überlieferte Altniederländische des 9. bis 12. Jahrhunderts, das erst spätmittelalterlich in Rechtsquellen bezeugte Altfriesische, das Altenglische des 8. bis 11. Jahrhunderts sowie das Altnordische mit seinen Untergruppen vom 9. bis zum 15. Jahrhundert. Fast allen altgermanischen Sprachen geht eine reiche Runenüberlieferung als Festlandrunisch oder Urnordisch voraus, die teilweise in den Beginn der handschriftlichen Uberlieferung hineinreicht. Im skandinavischen Bereich reicht der Begriff Altgermanisch zeitlich wegen der späteren Christianisierung und der räumlichen Reliktlage weiter ins Hoch- und Spätmittelalter hinein als in England und auf dem Festland, allerdings mit Ausnahme des Altfriesischen. Den altgermanischen Sprachen folgen in starker sprachlicher Umgestaltung die mittleren Sprachstufen Mittelhochdeutsch, Mittelniederländisch, Mittelenglisch, in denen vereinzelte altgermanische Stoffschichten (die mittelhochdeutsche Heldendichtung) oder Stilbereiche (die mittelenglische Stabreimdichtung) noch nachwirken. Doch befinden sich schon die altgermanischen Sprachen, a m wenigsten das Altnordische, in einem gewaltigen Umformungsprozeß ihrer Uberlieferung und Lexik, der sich in den mittleren Sprachstufen fortsetzt. (8) Germanisch als historischer Besinnungs- und Bewußtseinshintergrund seit humanistischer Zeit Die wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Altgermanischen nach Sprache und Geschichte reicht in d a s Zeitalter des H u m a n i s m u s zurück. Sie entzündet sich zunächst an der Wiederentdeckung des römischen Historikers Tacitus (um 5 5 — nach 1 1 6 n . C h r . ) , dessen Schriften im 15. Jahrhundert in einem aus Fulda stammenden Hersfelder K o d e x wiederentdeckt wurden, nach Italien kamen und durch die Editio prineeps, Venedig 1470 (und R o m 1515), in wesentlichen Teilen bekannt wurden, erstmals aber in einem T r a k t a t De ritu, situ, moribus et conditione Germaniae des Enea Silvio Piccolomini (des späteren Papstes Pius II.) herangezogen worden waren und so in den Gesichtskreis der deutschen Humanisten traten. D a m i t konnte die Germania des Tacitus zur Grundlage humanistischer Geschichtsschreibung über die Germanen werden. Darauf bauten besonders K o n r a d Celtes (1459—1508) und sein Schüler Johannes Turmair, genannt Aventinus (1477—1534) auf. Der Schlettstädter H u m a n i s t Beatus Rhenanus (1485—1547) betrachtete in seinem Werk Kerum Germanicarum libri tres, 2 Basel 1 5 3 1 ( 1 5 5 1 ) , auf breiterer Grundlage die Kriegszüge der Goten, Wandalen und Franken als Bestandteile deutscher Geschichte. Ulrich von Hutten (1488—1523) bestimmte mit publizistischem Gefühl in seinem postum gedruckten Dialog Arminius (1529) das nationalliterarische Bild
Der Begriff Germanisch
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des Cheruskerfürsten, den er zur mythischen Gestalt des Deutschtums erhob, bis hin zu Klopstock und in die Zeit der Romantik. Die erste frühneuhochdeutsche Übersetzung der historischen Schriften des Tacitus mit Einschluß der Germania legte Jacobus Micyllius (eigentlich Jakob Moltzer, 1503—1558) unter dem Titel Der R6mischen Keyset Historien [usw.], Jtem das Büchlein von der alten Teutschen brauch tmnd leben, Mainz 1535, vor. Die Übersetzungshaltung zeigt eine deutsch-nationale Ausrichtung und Einverleibung, die Germania omnis des Tacitus (1,1) erscheint dabei als Das gantz Teutschland (S. 438r), in hunc Oceanum (3, 3) wird mit auff das Teutsch meer übersetzt (S. 438v). Eine weitere Komponente einer germanischen Bewußtwerdung seit dem 16. Jahrhundert bilden die vielen neuen Handschriftenfunde altdeutscher und gotischer Denkmäler, mit denen sich deutsche und niederländische Humanisten des 16. Jahrhunderts sowie Gelehrte des 17. Jahrhunderts beschäftigten. Dabei vollzieht sich, wie übrigens auch in Skandinavien, eine Einverleibung des Gotischen als Grundlage deutscher und skandinavischer Sprache und Geschichte, die bis ins 19. Jahrhundert nachwirkt. So nennt noch August Wilhelm Schlegel das Gotische in seiner Rezension der von den Brüdern Grimm herausgegebenen Zeitschrift Altdeutsche Wälder in den Heidelbergischen Jahrbüchern für Literatur 1815 „die älteste schriftliche Auffassung unserer Sprache'", während der dänische Sprachforscher Rasmus Kristian Rask in einem Brief an Wilhelm Grimm 1811 die Bezeichnung Gotisch für Germanisch überhaupt setzen will. Demgegenüber entscheidet sich Jacob Grimm seit 1819 in nationalidealistischer Begeisterung für Deutsch, das er auch für Germanisch überhaupt setzt (Deutsche Grammatik, 1819—1837, Deutsche Rechtsalterthümer 1828, Deutsche Mythologie 1835 usw.). (9) Germanisch als zurückverlängerte Rekonstruktion eines Urgermanischen in Sprachwissenschaft und Vorgeschichtsforschung Der Begriff Orgermanisch als Rückverlängerung zu einer gemeinsamen Einheit des Germanischen in Sprache und Kultur einer vorliterarischen und überhaupt vorschriftlichen Zeit wurde im 19. Jahrhundert geprägt. Zunächst erscheinen allerdings literarische Belege wie „nach urgermanischer Sitte" (bei Fouque, vgl. Grimm, Dt. Wb. XI, 3, 2420) u. ä. In der vergleichenden germanischen und indogermanischen Sprachwissenschaft ging es in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts um die Erschließung der germanischen und indogermanischen Ursprache, so beispielsweise in August Schleichers geschichtlicher Darstellung Die deutsche Sprache, Stuttgart 1860. Von diesem Gesichtspunkt her ergibt sich der sprachwissenschaftliche Begriff urgermanisch zunächst bei Wilhelm Scherer, Adolf Noreen und Wilhelm Streitberg. Der letztere umreißt in seiner Urgermanischen Grammatik, Heidelberg 1896, 2 1943 - dem ersten und letzten deutschen Werk dieses Titels —, seine Aufgabe dahin, „daß die urgermanische Grammatik
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Genealogie der deutschen Sprache
durch eine systematische Vergleichung der altgermanischen Dialekte untereinander die allgemeine Grundlage festzustellen und das gewonnene Resultat in den weiteren Rahmen der allgemein-indogermanischen Grammatik einzufügen habe". Als sprachwissenschaftlicher Begriff bezeichnet Orgermanisch die erschlossene, allen späteren germanischen Sprachen vorausliegende Grund- oder Ausgangssprache, das sogenannte Protogermanische (englisch Proto-Germanic), des 1. Jahrtausends v. Chr. In der archäologischen oder vorgeschichtlichen Bodenforschung haben Joseph Wimmer, Geschichte des deutschen Bodens [usw.], Halle 1905, und anschließend der Begründer der germanischen Siedlungsarchäologie, Gustav Kossinna (1858—1931), den Begriff der Urgermanen eingeführt. Besonders Kossinna ging es darum, die Ursitze der Germanen im nördlichen Deutschland und Südskandinavien näher zu bestimmen (Ursprung und Verbreitung der Germanen in vor- und frühgeschichtlicher Zeit, Leipzig 1 9 2 6 - 2 7 , 3 1936). (10) Germanisch als wissenschaftlicher Forschungsbegriff nach 1945 Ähnlich wie beim Begriff Deutsch ist der Begriff Germanisch seit 1945 politisch neutralisiert und entnationalisiert worden. Eine nationale Erfüllung kann bei der ethnischen und geographischen Verschiedenheit der neugermanischen Sprachen auch gar nicht mehr in Frage kommen. Ein gemeinsames Bewußtsein aller germanischen Sprachträger hat es übrigens seit der Völkerwanderungszeit nie gegeben. Vielmehr ist ein solches immer von einzelnen Sprachgruppen, besonders vom Deutschen, ausgegangen oder blieb auf einzelne Stoffbereiche der altgermanischen Zeit, wie das Heldenlied, beschränkt. Heidentum neben Christentum, Arianismus neben Katholizismus, Reichsbildung über die anderen, zunächst als Gegner betrachteten Stämme im Frühmittelalter, Wikinger und Normannen gegenüber den seßhafteren Angelsachsen und Festlandgermanen — dies alles waren mehr auseinanderstrebende als zusammenfügende Kräfte innerhalb des Germanischen. Und auch die altgermanischen Sprachen selbst begannen sich seit dem 5. Jahrhundert bedeutend auseinander zu entwickeln, nicht zuletzt darum, weil die Germanen als eines der bedeutendsten Wandervölker im europäischen Bereich von den britischen Inseln bis ans Schwarze Meer und von Island bis nach Nordafrika gesiedelt haben. Verblieben ist ihnen auf die Dauer jedoch nur das ihrem Ursprungsgebiet am nächsten oder sogar damit identische Gebiet des europäischen Nordteils bis zu den Alpen.
Literaturhinweise zu Abschnitt 3.1. (soweit nicht im Text genannt) Die Literatur über den Namen der Germanen findet sich bei Adolf Bach, Deutsche Namenkunde, Bd. I Die deutschen Personennamen, l.Teil, 2. Aufl., Heidelberg 1952, 3 1 9 - 3 2 1 . Abhandlungen zum Rahmenthema IX: ,Der Begriff des Germanischen', Erste Folge, Jahrbuch für Internationale Germanistik VII, Heft 1, 1975, 105—165 (darin Piergiuseppe Scardigli,
Verwandtschaft und Urverwandtschaft des Deutschen
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Einleitende Bemerkungen; Rolf Hachmann, Der Begriff des Germanischen; Gerd Tellenbach, Zur Geschichte des mittelalterlichen Germanenbegriffs). - Karl von Amira - Karl August Eckhardt, Germanisches Recht, Bd. I—II (Grundriß der germanischen Philologie Bd. 5), Berlin 1 9 6 0 - 1 9 6 7 . - Helmut Birkhan, Germanen und Kelten bis zum Ausgang der Römerzeit, Sitzungsberichte der österreichischen Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-historische Klasse, Bd. 272, Wien 1970. - Rolf Hachmann, Die Germanen (Archaeologia Mundi), München—Genf—Paris 1971. — Paul Joachimsen, Geschichtsauffassung und Geschichtsschreibung in Deutschland unter dem Einfluß des Humanismus, Leipzig und Berlin 1910. - Rudolf Much, Der Name der Germanen, Sitzungsberichte der Akademie der Wissenschaften zu Wien, Philosophisch-historische Klasse, Bd. 195, 2. Abhandlung, Wien 1920. — Friedrich Schlette, Germanen zwischen Thorsberg und Ravenna, Kulturgeschichte der Germanen bis zum Ausgang der Völkerwanderung, Leipzig—Jena-Berlin 1972. - Ludwig Schmidt, Geschichte der deutschen Stämme bis zum Ausgang der Völkerwanderung: Die Ostgermanen, 2. Aufl. München 1934; Die Westgermanen, l.Teil, 2. Aufl. München 1938. — Ernst Schwarz, Germanische Stammeskunde, Heidelberg 1956. - Ernst Schwarz, Germanische Stammeskunde zwischen den Wissenschaften (Vorträge und Forschungen, hg. vom Konstanzer Arbeitskreis für mittelalterliche Geschichte, Sonderband 5), Sigmaringen 1967. — Reinhard Wenskus, Stammesbildung und Verfassung, Das Werden der frühmittelalterlichen gentes, Köln-Graz 1961 (hier die gesamte Literatur zur älteren Stammesgeschichte). - Zur germanischen Stammeskunde, Aufsätze zum neuen Forschungsstand, hg. von Ernst Schwarz (Wege der Forschung Bd. CCIL), Darmstadt 1972. Für Einzelfragen Reallexikon der Germanischen Altertumskunde, hg. von Johannes Hoops, Bd.I-IV, Straßburg 1911—1919; 2., völlig neu bearbeitete und stark erweiterte Aufl., hg. von Heinrich Beck, Herbert Jankuhn, Hans Kuhn, Kurt Ranke, Reinhard Wenskus, Bd. 1 ff., Berlin-New York 1973 ff.
3.2. Verwandtschaft und Urverwandtschaft des Deutschen 3.2.1.
Die Verwandtschaftsverhältnisse im allgemeinen
Die sprachlichen Verwandtschaftsverhältnisse des Deutschen sind wie folgt zu sehen: Deutsch ^
einzelsprachlich
^
I
Germanisch verwandt
^
^
Indogermanisch urverwandt
^
In der Regel gilt dabei die folgende ideale Beziehung, die aber oft genug durch neue Sonderbildungen einzelner Sprachgruppen sowie durch Lehnbeziehungen gestört ist: einzelsprachlich (deutsch) verwandt (germanisch) urverwandt (indogermanisch)
= lexikalische Einheit (Lexem oder Morphem) = allgemein erkennbarer gemeinsamer Stamm oder Flexions- bzw. Wortbildungselement = wissenschaftlich linguistisch über die Kenntnis der Lautgesetze erkennbare gemeinsame Wurzel oder Morphematik
Zur Erläuterung dieses Verhältnisses können die folgenden Beispiele von Wortgleichungen dienen:
70
Genealogie der deutschen Sprache
einzelsprachlich (deutsch)
verwandt (germanisch)
urverwandt (indogermanisch)
ahd. fisk, mhd. visch, mhd. Fisch
germ. *fiskaz got. fisks anord. fiskr ae. fisc (neuengl. fish) niederl. tns
indogerm. *pisk-, * peisklat. piscis altirisch iasc (p- geschwunden) slavisch pisk-
ahd. hunt, mhd. hunt, nhd. Hund
germ. *hundaz got. hunds anord. hundr ae. hund (neuengl. hound Jagdhund') niederl. hond
indogerm. * itfon-, iunaltindisch s(u)νά armenisch sun griech. κύων, κυνός (Gen.) lat. canis litauisch suö, suns (Gen.) tocharisch ku altirisch cü, con (Gen.)
-e(-) als Morphem für den Konjunktiv Praesens ahd. lebe, mhd. lebe, nhd. er lebe (hoch)
germ, -ai(-), (einzelsprachlich später zu -e(-), -e{-) geworden) got. libai ,er lebe' anord. life, -i (schwed. leve han) ae. lifge niederl. leve hij
indogerm. -£»'(-) vgl. griech. φέροι ,er trage' (entsprechend got. bairai ahd. bere [nhd. ge-bäre])
-ter als Suffix in Verwandtschaftsnamen wie Vater, Mutter, Bruder, Tochter (ahd. fater, muoter, bruoder, tohter)
germ, -par, -dar, -tar got. fadar, möpar, bröpar, dauhtar und ähnlich in den übrigen germ. Sprachen (neuengl. father, mother, brother, daughter)
indogerm. -ter, vgl. lat. pater, mäter, fräter, griech. θυγάτηρ,Tochter', altindisch pitär-, mätär-, bhrätär-, duhitär-
Die indogermanische Spracheinheit, zu der das Germanische nach seiner genealogischen Herkunft oder Verwandtschaft gehört, gliedert sich in eine Reihe von heute noch lebenden oder ausgestorbenen Sprachen oder Sprachgruppen, die vom alten Nordwest-, Nord-, Mittel- und Südosteuropa über Kleinasien bis nach Indien reichten oder noch reichen, indem indogermanische Sprachträger in den ersten Jahrtausenden v. Chr. von einer mutmaßlichen Urheimat zwischen Nordsee, Ostsee und Schwarzem Meer nach Westen (Festland- und Inselkelten), nach Süden über die Alpen (sogenannte Indogermanisierung Italiens und des Balkans) und weiter nach Osten und Südosten (vor allem die Arier und Indoiranier) wanderten. Eine größere Gruppierung des Indogermanischen in mehr westliche Kentum- und mehr östliche Satem-Sprachen (vgl. die Tabelle Verwandtschaft und Urverwandtschaft des Deutschen S. 71) läßt sich nach dem Anlautkriterium des Wortes für hundert, indogermanisch * kmtom aus * (d)kmtom Zehnerdekade' sowie aus vergleichbaren Fällen der Vertretung gewinnen:
Verwandtschaft und Urverwandtschaft des Deutschen
% % \
ipsipuj ipSIUPJT
71
ipsijepuPM x ipsyeßujux IpSpOO
ipspoßw
-•
lpruofioM ipsiuju/jy ipsißsvijj tpsiy/rjifx
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?
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ipsweqjy
Μ S
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tpsupipoi ipsißfayj ipsrpA-j tpsiYtÄJ tpspiiWH
Vs £
ipsiip&JQ ipstjXjjj
5a/ v.
IPSIUPWJJO jpsimi
•
ipqfo/tuoN
•
yinojej ifjstpue/si
hοηΐμχ jJ r i f j s j p up/tut/fjfj
4/ri/Jsip Graphische Darstellung 14
up/tuj/t
72
Genealogie der deutschen Sprache indogermanisch * irptom
griechisch lateinisch tocharisch altirisch germanisch (altgermanisch althochdeutsch mittelhochdeutsch
έκατόν centum kärtt, känte cet >XUttda-, *hundahund, hunt in ein hunt, zwei hunt usw., hundert, mit germ. *raö .Zahl' im zweiten Glied)
altindisch iranisch litauisch altslavisch
satam sata simtas s3to
Dadurch und in weiteren, vor allem lexikalischen Kriterien zeigt sich das Germanische als eine westindogermanische Sprachgruppe, die nähere Verbindungen zum Keltischen, Italischen und Illyrischen (bzw. Venetischen), seinen alten indogermanischen Nachbarsprachen, aufweist. Ein engerer alteuropäischer Kreis der indogermanischen Sprachen, zu dem auch das Germanische gehört, kann durch wichtige Übereinstimmungen bei den Gewässernamen im alten Europa herausgeschält werden. Man darf annehmen, daß die Germanen als indogermanische Nordwestgruppe ihre Urheimat in Nordeuropa zwischen Weser und Weichsel und in Südskandinavien erst relativ spät, seit den ersten Jahrhunderten v. Chr., nach Norden, Westen, Osten und Südosten, später auch nach Süden, erweitert haben. 3.2.2. Die Neuerungen des Germanischen und ihre Auswirkungen für den deutschen Sprachbau Die entscheidende linguistische Neuerung im germanischen Lautsystem ist neben einer stark vereinfachenden Vokalsystemgestaltung gegenüber dem Indogermanischen die Durchführung der ersten oder germanischen Lautverschiebung spätestens in der zweiten Hälfte des 1. Jahrtausends v. Chr., welche das germanische Konsonantensystem vollständig umgestaltet hat. Durch die nachfolgende germanische Erst- oder Stammsilbenbetonung (Festlegung des indogermanisch ursprünglich freien Wortakzentes auf die Stammsilbe) ergaben sich neue, gleichgerichtete Akzentverhältnisse, die zur allmählichen Neben- und Endsilbenreduktion (sogenannte germanische Auslautgesetze) und zur Entstehung des Stabreims in allen germanischen Sprachen führten. Zusammenfassend betrachtet kennzeichnen die folgenden Neuerungen das aus dem Indogermanischen im 1. Jahrtausend v. Chr. heraustretende Germanische, die wir im folgenden Punkt für Punkt kurz besprechen wollen: - die erste oder germanische Lautverschiebung — der grammatische Wechsel
Verwandtschaft und Urverwandtschaft des Deutschen
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-
die germanische Akzentfestlegung die germanischen Auslautgesetze die Umstrukturierung des germanischen Vokalsystems die Systematisierung des Ablauts bei den sogenannten starken Verben die Bildung der sogenannten schwachen Verben mit Dentalsuffix Umbildung verschiedener Formkategorien beim Verbum Vereinfachungen im Kasussystem Vereinfachungen im Numerussystem die Ausbreitung der «-Stämme in der Klassenbildung und Deklination des Substantivs - Differenzierung einer starken und schwachen Deklination beim Adjektiv - Tendenz zur Kennzeichnung des grammatischen Geschlechts durch die Flexionsendungen - Aufgabe und Umstrukturierung der wechselflektierten Substantive - die germanischen Umlaute Im Rahmen einer sprachgeschichtlichen Darstellung des Deutschen ist es dabei wichtig, die spätere Entwicklung dieser germanischen Neuerungen im Deutschen mitzuverfolgen, um die typisch germanischen oder auch nicht-germanischen Züge des deutschen Sprachsystems zu erkennen (vgl. dazu auch Abschnitt 3.6).
3.2.2.1. Die erste oder germanische Lautverschiebung Als erste oder germanische Lautverschiebung bezeichnet man die Veränderungsprozesse der indogermanischen unbehauchten und behauchten (aspirierten) Verschlußlaute, welche im Germanischen zu neuen Reibelauten (Spiranten) oder — was die indogermanischen Medien b, d, g betrifft — zu harten Verschlußlauten verschoben werden. Dabei ist zwischen einer Tenuesverschiebung (d.h. einer Verschiebung der harten Verschlußlaute) und einer Medienverschiebung (d. h. einer Verschiebung der weichen Verschlußlaute) zu unterscheiden, (a) Tenuesverschiebung Die indogermanischen Tenues und Tenues aspiratae werden im Germanischen zu stimmlosen Reibelauten verschoben: idg. p, ph
> germ, f
idg. t, th
> germ, p
idg. lih k, kh
> germ, χ (> h)
*pelu- (vgl. griech πολύς) > *felu, *filu, ahd. filu, nhd. viel *phoino- (vgl. altind. phena-) > *faina, *faima, ahd. feim, nhd. Feim,Schaum' * treues (vgl. griech. τρεις, lat. tres) > *preis, -z, frühahd. thrt, nhd. drei, engl, three *sketh-, *skath- (vgl. griech. ά-σκηΰης .unversehrt') > *skap-, frühahd. skatho, ahd. skado, nhd. Schaden *kerd-, *&fd- (vgl. griech. καρδία) > *xertam, ahd. herza, nhd. Herz *kap- (vgl. lat. capiö) > *xaf-, got. hafjatt, ahd. heffen, nhd. hebert
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Genealogie der deutschen Sprache
idg. qtf, q%h > germ.
(χιν)
*q%od (lat. quod) > *htfat, ahd. hwas, was, nhd. was, engl, what *reiq%h- (vgl. altind. rekhä,Linie') > ahd. rthan, nhd. reihen
Von der Verschiebung ausgeschlossen bleiben die Verbindungen sp, st, sk / sk und ihre aspirierten Varianten. Die Lautfolgen idg. pt, pth und kt, kth (auch mit palatalem k) werden im Germanischen zu ft und χί (hi) verschoben: so entsprechen sich lat. captus, ahd. haft,gefangen' (vgl. nhd. die Haft)·, lat. octo, ahd. ah to, nhd. acht. (b) Medienverschiebung Die indogermanischen Mediae aspiratae werden im Germanischen zu stimmhaften Reibelauten verschoben, die einzelsprachlich ζ. T. zu weichen Verschlußlauten werden: idg. bh idg. dh
idg. gh, gh
idg. guh
> germ, b (> b)
*bhü- ,sein, werden' (vgl. lat. fui,ich bin gewesen') > *bü-, ahd. büart, nhd. bauen, älter ,wohnen' > germ. d(> d *dhur-, *dhurä (vgl. griech. θύρα) > *dur-, *dor, ahd. > ahd. t) tor, nhd. Tor und ahd. pl. turi, nhd. Türe *bhettdh- > *bind-, ahd. bintan, nhd. binden > germ, g (>g) *ghans (vgl. griech. χήν) > *gans-, ahd. gans, nhd. Gans *ghostis .Fremdling' (lat. hostis,Feind') > *gastiz, ahd. gast, nhd. Gast > germ. g# ( > gw > g) *seng%h-o- ,tönen' > *sing^-a, got. siggwan (=ngw), vor Nasalen, ahd. singan, nhd. singen germ, g (> g) *g#bift- ,Kampf' > *gunp-, ahd. gundfano ,Kriegsvor dunklen fahne' Vokalen und *gtfhormos ,heiß, warm' > *warmaz, ahd. warm, nhd. Konsonanten warm und germ. >wvor hellen Vokalen und a
Die indogermanischen Medien werden im Germanischen zu Tenues verschoben, die ihrerseits im Hochdeutschen durch die zweite Lautverschiebung wieder zu Reibelauten oder Affrikaten weiterverschoben werden (vgl. S. 124 ff.): idg. b
> germ, p
idg. d
> germ, t
'dg· g'g
> germ, k
'dg· f!%
- > germ, ktf (kw)
*slab- (vgl. litauisch släbnas .schwach') > *slap-, niederdeutsch slap, nhd. schlapp neben ahd. slaf, nhd. schlaff *pöd- (vgl. lat. pes, pedis) > *föt-, got. fötus, altsächs. föt, ahd. fuo3, nhd. Fuß *geus- .kosten, prüfen' (vgl. griech. γεύομαι) > *keus-, got. kiusan, ahd. kiosan, chiosan .wählen', nhd. kiesen, küren *gel-, *gol- ,kalt' (vgl. lat. gelidus ,kalt') > *kal-, *kaldaz, ahd. kalt, nhd. kalt *gtfem- ,gehen, kommen' (vgl. lat. veniö, altind. gam-) > *k%em-, ahd. queman (später kuman, koman, chomen), nhd. kommen
Verwandtschaft und Urverwandtschaft des Deutschen
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Die inneren Zusammenhänge und die Vergleichbarkeit der ersten oder germanischen Lautverschiebung des 1. Jahrtausends v. Chr. mit der zweiten oder hochdeutschen Lautverschiebung des 1. Jahrtausends n. Chr. ( 5 . - 8 . / 9. Jh.) werden wir in Abschnitt 3.4.4. S. 136ff. besprechen. 3.2.2.2. Der grammatische Wechsel Unter dem grammatischen Wechsel versteht man im Germanischen die Stimmhaftwerdung der aus idg. p, t, k, qu > germ, f, p, χ, χιν verschobenen stimmlosen Reibelaute im In- und Auslaut, wenn der indogermanisch und frühurgermanisch freie Hauptakzent des Wortes nicht unmittelbar vorausging. Diese Erscheinung wirkt unter veränderten und reduzierten Gegebenheiten auch im Deutschen nach. Der komplexe Befund bedarf einer näheren Erläuterung. Grammatischer Wechsel heißt Doppelheit von stimmlosen neben stimmhaften Reibelauten im Germanischen bzw. ihren späteren Entsprechungen in den alt- (oder neu-) germanischen Einzelsprachen, nämlich — im gleichen Wort in den verschiedenen Zeitstufen oder Kategorien der starken Verben — in verschiedenen Wörtern oder Ableitungen der gleichen Wurzel — oder losgelöst von weiteren synchronischen Anknüpfungspunkten im Vergleich mit dem sprachhistorischen, vorgermanischen Ausgangspunkt oder mit Parallelformen in anderen germanischen Sprachen. Somit erscheint der grammatische Wechsel als flexivisches, wortbildungsgebundenes oder sogar absolutes Prinzip im Sinne der altgermanischen Reibelautintensität zwischen Geräusch (stimmlos) und Sonorität (stimmhaft). Der sprachgeschichtliche Ursprung dieser ur- und altgermanisch zunächst voll wirksamen Erscheinung liegt in den ältesten, aus dem Indogermanischen nachwirkenden Akzentverhältnissen: je nach unmittelbar vorausgehendem oder nachfolgendem bzw. weiter als unmittelbar vorlaufendem Hauptton erscheinen stimmlose oder stimmhafte Varianten der Lautverschiebungsergebnisse idg. p, t, k / k, ku > germ, f / b, p / d, χ / g, χιυ / gw, denen sich das außerhalb der Lautverschiebung stehende s / ζ { — stimmhaftes s) anschließt: (1) Anlaut (auch nach Präfixen und in zweiten Kompositionsgliedern) = stimmlose Variante germ, f-, p-, χ- (später > h-), χιν- (später hw- einzelsprachlich w-), s*pater- ,Vater' (vgl. griech. πατήρ) > germ. *fapär > *fadär > *fäöar (Anlaut stl. f-, Inlaut sth. d, vgl. unten Ziff. 2.2) > ahd. fater, nhd. Vater idg. *trejes ,drei' (vgl. lat. ires) > germ, pris, -ζ > ahd. dri, nhd. drei idg. *ierd-, kfd-, ,Herz' (vgl. griech. καρδία) > germ. *xertön, *hertön, got. hatrtö n., ahd. berza n. (mit 2. Lautverschiebung -rt- > -rz-), nhd. Herz idg. *seq%-,folgen' (vgl. lat. sequi) > germ. *sexw-, Inf. *sexwanan, got. satkvan, ahd. sehatt, idg.
nhd. sehen
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Genealogie der deutschen Sprache
(2) Inlaut und Auslaut (2.1) nach unmittelbar vorausgehendem Hauptton = stimmlose Variante germ, '-f, -p, -χ (später -h), -χιν (-hw, einzelsprachlich -h), 's idg. *penq%e ,fünf' (vgl. lat. quinque, griech. πέντε), *pempe > germ. got. ahd. fimf, nhd. fünf (mit Rundung) idg. *bhräter,Bruder' (vgl. lat.
fräter) > g e r m . *bröf>ar(got. bröpar) > a h d . bruoder (mit d < th, f>), nhd. Bruder idg. *deirp, dekom ,zehn' (vgl. lat. decent) > germ. *texum, -am, got. tathun, ahd. zehan (mit 2. Lautverschiebung t- > z-), nhd. zehn idg. leiqtf-.lassen' (vgl. griech. λείπω) > germ. Inf. *1ϊχιναηαη > ahd. Ithan, nhd. leihen (2.2) nach nicht unmittelbar vorausgehendem Hauptton, also bei vorvorausgehendem oder nachfolgendem Hauptton = stimmhafte Variante germ. (') -b-, (-) -d-, (-) -g-, (') -gw -'(einzelsprachlich goder w), Η ~zL idg. *septrp ,sieben' (vgl. lat. Septem) > *sepri} > germ, sibüm > stbun > ahd. sibun, altsächs. stbun, nhd. sieben idg. *koitüs ,B'ld, Gestalt' > germ. *χαίδύζ > häiduz (got. haidus) > ahd. heit m. ,Stand, Rang' (mit 3 > d> t), nhd. Suffix -heit idg. *ankä,Biegung, Bug' > germ, αηχά- > anga-, änga-: got. halsagga m. [ = -ng-],Nacken', ahd. angul, nhd. Angel idg. *seqtf-, soq%-,sagen' > germ. saxw-> sagw-, sägw-: ahd. sagen, nhd. sagen idg. *liq%on0s Part. Praet. ,gelassen' > germ. Ιϊχιναηάζ > ligwanäz > ligwanaz > ahd. giliwan, nhd. mit Ausgleich nach dem Infinitiv geliehen idg. *ä/ips ,Erz' > germ, äiaz, got. aiz n., ahd. er n., nhd. Erz (Nebenform < ahd. aruzzi), ehern (ahd. erin) ,aus Erz' Diese nach seinem Entdecker Karl Verner (1876) auch als Vernersches Gesetz bezeichnete Regel besagt demnach, daß die aus der ersten oder germanischen Lautverschiebung hervorgegangenen stimmlosen Reibelaute f> P> X' Xw sowie s in stimmhafter Umgebung, d. h. im In- und Auslaut, dann zu ihren stimmhaften Entsprechungen weiterentwickelt worden sind, wenn ihnen der ursprüngliche, d.h. indogermanische (und zunächst noch frühgermanische) Hauptton nicht unmittelbar vorausging. Dergestalt erhalten wir die folgende chronologische Abfolge für das Urgermanische: — indogermanisch freier Wortakzent, zunächst noch ins Germanische nachwirkend — erste oder germanische Lautverschiebung, vgl. oben Abschnitt 3.2.2.1., S. 73-75 — Verners Gesetz (f\ p, χ, xw, s > b, d, g, gw, ζ unter den oben genannten Bedingungen), damit Begründung des grammatischen Wechsels zwischen stimmlosen und stimmhaften Reibelauten — germanisches Akzentgesetz (sog. Erst- oder Stammsilbenbetonung), vgl. unten Abschnitt 3.2.2.3. S. 77-78. Nun zeigen aber die verschiedenen altgermanischen — und erst recht neugermanischen — Sprachen nur noch reduzierte Nachwirkungen dieses alten Grundgesetzes eines grammatischen Wechsels. Auf die besonderen Verhältnisse des grammatischen Wechsels in der Geschichte des Deutschen kommen wir bei der historischen Darstellung des deutschen Konsonantensystems in Band II zurück.
Verwandtschaft und Urverwandtschaft des Deutschen
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Die ursprünglichen Oppositionsverhältnisse des grammatischen Wechsels stimmlos / stimmhaft spielen im Germanischen und — unter veränderten, im Verlauf der historischen Entwicklung stark reduzierten Bedingungen auch im Deutschen — in der Stammbildung der starken oder ablautenden Verben eine große Rolle, da die verschiedenen Stammformen dieser Verben im ältesten Germanischen noch unterschiedliche Akzentverhältnisse aufwiesen: Infinitiv und Praesensstamm
=
germ. *teuxan-, *teuxögerm. *ltpan-, *lipö-
Praeteritum Singular (ahd./mhd. n u r l . / 3 . P s . )
Stammsilbenbetonung ahd. ziohan, ziubu ahd. ltdan, ltdu (mit d< p)
=
Stammsilbenbetonung
germ. *tau%a
ahd. zäh
germ. *latpa
ahd. leid (mit
Praeteritum Plural (ahd. / mhd. auch 2.Sg.)
=
Endbetonung
germ. *tugumi
ahd. zugum
germ, lidumi
ahd. litum (mit t< d< d)
Partizip des Praeteritums
=
Endbetonung
germ. *ga-toganä-
ahd. gi-zogan
germ. *ga-lidanä-
ahd. gi-litan (mit t< d< d)
d germ. *fulnaz > *fullaz, got. fulls, ahd. fol (mit u > ο vor a), nhd. voll idg. ψ > germ, um, z.B. idg. *g%rptis,Gang, Gehen, Kommen' > germ. *k%ümpiz, *k#umdtzf., got. gaqumps,Zusammenkunft', ahd. kumft, nhd. -kunft(mit /-Einschub und d> d> t) idg. 1} > germ, un, z.B. idg. *miftis .Denken' > germ. *mundtz f., got. ga-munds,Andenken', ahd. gimunt .Erinnerung' idg· Γ > germ, «r, z.B. idg. *bhjtis .Tragen' (vgl. lat. fors .Zufall') > germ. *bürpiz, burdtz f., got. gabaurps (au = offenes o), ahd. gi-burt, nhd. Ge-burt,das Ausgetragene'
(2) Der Zusammenfall von indogermanisch α, ο und 9 (Reduktionsvokal) zu germanisch α im Kurzvokalsystem: idg. *a§ros ,Trift, Acker' (vgl. griech. άγρός, lat. ager) > germ. *akraz m., got. akrs, ahd. ackar, ahhar, nhd. Acker idg. *oktö(u) .acht' (vgl. griech. όκτώ, lat. octo) > germ. *axtau, got. abtau, ahd. ah to, nhd. acht idg. *poter- .Vater' (vgl. altind. pitär-, lat. pater) > germ. *fadär, fädar, got. fadar, ahd. fater, nhd. Vater
Verwandtschaft und Urverwandtschaft des Deutschen
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E i n n e u e s ο e n t s t e h t i m G e r m a n i s c h e n w i e d e r a u s u v o r a, e, ο d e r F o l g e silbe [vgl. ( 3 ) ] . ( 3 ) D i e k o m p l e m e n t ä r e S t e u e r u n g v o n g e r m a n i s c h e u n d i (je a u s i n d o g e r m a n i s c h e u n d i) u n d g e r m a n i s c h ο u n d u ( b e i d e a u s i n d o g e r m a n i s c h
«)
n a c h f o l g e n d e n B e d i n g u n g e n , die sich z . T . bis ins D e u t s c h e e r h a l t e n : Relationsgruppen
Germanisch
Althochdeutsch
e/i
e vor alelolu-Haltigkeit der Folgesilbe
e vor (ursprünglicher) α/e/o-Haltigkeit der Folgesilbe (e = kurzes, offenes, germ, e)
i vor »-Haltigkeit der Folgesilbe und vor n/m + Konsonant, teilweise auch vor u der Folgesilbe ο erst spätgemeingermanisch vor a/e/oHaltigkeit der Folgesilbe, außer vor n/m + Konsonant w vor «'/«-Haltigkeit der Folgesilbe, sowie vor n/m + Konsonant in allen Fällen
i vor (ursprünglicher) »'/«-Haltigkeit der Folgesilbe und vor n/m + Konsonant
ο / u
ο vor a!e/o-Haltigkeit der Folgesilbe, außer vor n/m + Konsonant
u vor »'/«-Haltigkeit der Folgesilbe, sowie vor n/m -I- Konsonant in allen Fällen
D a z u die B e i s p i e l e : e > »':
idg. *medhj germ. got. ahd. fimf, nhd. fünf (mit Rundung) idg. *mel§-, .abstreifen, melken', germ. *melk-, ζ. B. *meluk-ö f. .Gemolkenes', ahd. miluh, nhd. Milch (aber skandinavisch melk, mjölk, altengl. meolc), dagegen nhd. melken < ahd. melkan < germ. *melkan-an idg. *sedhus,Sitte' (vgl. griech. έθος < * sedhos) > germ, siduz (hier mit e > «'), got. sidus, altsächs. sidu, altnord. sidr, ahd. situ, nhd. Sitte (mit Geschlechtswechsel mask. > fem.) »> e: idg. *%iros ,Mann' (vgl. lat. vir) > germ. *weraz, ahd. w e r , M a n n ' , nhd. Werwolf ,Mannwolf, in einen Wolf verwandelbarer Mensch' « > o: idg. *ghltom ,Gold' > germ. *gulf>a-, ahd. gold, nhd. Gold, aber ahd. guldtn (mit « vor t), frühnhd. gülden,golden' dagegen idg. * dijgbtfä,Zunge' > germ, tungijö, ahd. zunga, nhd. Zunge mit Μ vor «-Verbindung Z u bedenken bleiben allerdings einzelsprachliche o d e r klassenbedingte Stör u n g e n in d i e s e n R e l a t i o n s g r u p p e n . ( 4 ) D e r Ü b e r g a n g d e r L a u t g r u p p e n u r g e r m a n i s c h -αηχ-, -βηχ-),
-ϋηχ-
z u g e m e i n g e r m a n i s c h -αχ-,
Ersatzdehnung:
-ϊχ-,
-ΰχ-
-ϊηχ-
{< -ϊηχ-
und
mit «-Schwund vor χ und
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Genealogie der deutschen Sprache
urgerm. *fanxan- .fangen' (vgl. lat. pattgö,schlagen') > gemeingerm. faxan, ahd. fäban, nhd. fangen (neugebildeter Infinitiv- und Präsensstamm nach dem Partizip des Präteritums gefangen) urgerm. *ρίηχαη- .gedeihen' (vgl. litauisch tenk.it .ich habe genug') > gemeingerm. piyan, ahd. thihan, dthan, nhd. ge-deihen (mit t> «'seit frühnhd. Zeit) urgerm. *pun%-tö .dünkte' > gemeingerm. Ρΰχίδ, ahd. thühta, dühta, nhd. deuchte (aus dem Konjunktiv, statt des ausgestorbenen dauchte)
(5) Der Zusammenfall von indogermanisch ä und ö zu germanisch ö im Langvokalsystem: idg. * bhräter- .Bruder' (vgl. lat. fräter) > germ. * bröpar, got. bröpar, altsächs. brödar, ahd. bruoder (mit Diphthongierung von ö > uo), nhd. Bruder (mit Monophthongierung von uo > ü) idg. *plötus .Fließen, Flut' (vgl. griech. πλωτός .schwimmend') > germ. *flöditz, got. flodus f., ahd. fluoti., nhd. Flut
(6) Die Entstehung eines neuen germanischen Langvokals e 2 (geschlossenes langes e) aus indogermanisch ei oder südgermanisch vor geschwundenem ζ (sth. 5) sowie in Lehnwörtern mit lateinisch e: idg. * ftet-r ,hier' > germ. *%er, got. her, altsächs. her, ahd. her > hear, hiar (mit Diphthongierung), nhd. hier idg. *mizdhö- ,Lohn, Sold' (vgl. griech. μισθός ,Sold') > germ. *mizd-, got. mizdö f. ,Lohn', altsächs. meda, ahd. meta> miatai. (mit Diphthongierung), nhd. Miete Lehnwort lat. mensa, vulgärlat. mesa > gotisch mes n. .Tisch', ahd. meas, mias n. (mit Diphthongierung e2 > ea, ie). altengl. mesei.
Demgegenüber entwickelte sich das germanische e 1 (= offenes ce < idg. e) im Spätgemeingermanischen (ohne das Gotische) zu ä, man vergleiche idg. * dhetis ,Tat' (vgl. griech. τίϋημι ,ich stelle, setze') > germ, dediz, got. gadeps, ahd. tat, nhd. Tat, ebenso altsächs. däd, altnord. däd usw. (7) Die Assimilation und Monophthongierung von indogermanisch ei zu germanisch «bzw. t: idg. *steigh- .schreiten' (vgl. griech. στείχω .ich schreite') > germ. *sttgan, got. steigan (ei = 0, ahd. sttgan, nhd. steigen (mit Diphthongierung von f > ei)
(8) Der Zusammenfall der verschiedenen indogermanischen Kurz- und Langdiphthonge (außer ei und ei, die sich gesondert entwickeln) zu den germanischen Kurzdiphthongen ai, eu, au, die als einzige germanische Diphthonge übrigbleiben. Dabei bleibt die Frage der einzelnen Langdiphthonge in der indogermanischen Vorstufe des Germanischen umstritten, da die Langdiphthonge in den Wurzelsilben nur vereinzelt nachweisbar sind, aber in den ursprünglichen Flexionssilben eine große Rolle spielen; dort aber sind sie den germanischen Auslautgesetzen unterworfen. Nimmt man für die Vorstufe des Germanischen das volle mögliche Diphthongspektrum des Indogermanischen an, ergeben sich die folgenden Reduktionen und Zusammenfallserscheinungen: idg. äi, ai und öi, oi über ai, oi (ausschließlich Kurzdiphthonge) > germ, ai (weil idg. ο > germ, a)
Verwandtschaft und Urverwandtschaft des Deutschen
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idg. äu, au und öu, ou über au, ou (ausschließlich Kurzdiphthonge) > germ, au (weil idg. ο > germ, a) idg. eu, eu über eu (ausschließlich Kurzdiphthong) > germ, eu idg. * gbatdis ,Ziege' (vgl. lat. haedus < * ghaidos ,Bock') > germ. *gaitiz, got. gaits, ahd. gets (mit 5 < t), nhd. Geiß idg. * oinos ,eins' (vgl. griech. οϊνη ,die Eins') > germ. *ainaz, got. ains, ahd. ein, nhd. eitt(s) au / ou: idg. * aug- ,mehren, wachsen' (vgl. lat. augere) > germ. * auk-att, got. aukatt, ahd. ouhhön (mit hh, ch < k),vermehren' idg. * roudhos ,rot' (vgl. litauisch raüdas) > germ, raudaz, got. raups, anord. raudr, ahd. rot (mit ö< au vor Dental t < d), nhd. rot eu: idg. *teutä ,Gesamtheit, Volk' (vgl. gallisch Teuto- in Personennamen) > germ. peudö, got. piuda, ahd. thiota, diotai., tbiot, diotm. n.,Stamm, Volk' ail oi:
Die tiefgreifende Um- und Neustrukturierung des germanischen und vordeutschen Vokalsystems läßt sich gesamthaft nun wie folgt begreifen: Kurzvokalsystem indogermanisch
t/
u
germanisch
a {
e
t
hX. e
1
vor l, m, n, r
u
vor a, e, ο der Folgesilbe
besondere Entwicklung urgermanisch
αηχ
ιηχ
(enX>)
un%
Langvokalsystem indogermanisch
/
V
ο
1
ο
I I
germanisch i), e+ u (> eu, einzelsprachlich eo, io, tu) = Vollstufe 1 Präteritum Singular a,a+i{> at), a + « (> au) (südgerm. nur 1. / 3.Ps.) = Vollstufe 2 Im Präteritum Plural (südgermanisch auch 2.Ps. Sg.) und im Partizip des Präteritums wechseln je nach Ablautreihe Schwundstufe {i, u, o), Dehnstufe (e 1 , nur im Prät. PI.) und Vollstufe 1 (nur im Part. Prät.). Selten erscheint im Infinitiv und Präsensstamm die Tiefstufe ü statt eu. (1.2) Auf der Basis a / e 2 , α / ö = a-Gruppe Infinitiv/Präsensstamm a, a + i (> at),a + u(> au) = Vollstufe 2 Präteritum Singular e\ e2 e + u (> eu, eo) ö = Dehnstufe (außer eu) Im Präteritum Plural steht die gleiche Ablautstufe wie im Präteritum Singular, während die Ablautstufe des Part. Prät. sich nach dem Infinitiv/Präsensstamm richtet. (1.3) Auf der Basis der Langvokale e1 / e2, ö / e2 Infinitiv/Präsensstamm e1 (südgerm. > ä) oder ö Präteritum Singular e2 und e 2 Im Präteritum Plural steht die gleiche Ablautstufe wie im Präteritum Singular, während sich die Ablautstufe des Part. Prät. nach dem Infinitiv/Präsensstamm richtet. (2) Reduplikation ohne oder in Verbindung mit Ablaut kommt nur im Gotischen vor, während die übrigen altgermanischen Sprachen außer wenigen frühen Spuren einer Reduplikation nur noch den Stammablaut für die Bestimmung der Zeitstufen kennen (vgl. gotisch haihald ,ich, er hielt' zu haldan ,halten', ahd. hialt < e2, zu haltan; vgl. gotisch lailöt ,ich, er ließ' zu letan, ahd. liaj < e2, zu lä^att < germ. *letan). Die Entwicklungstendenz des Germanischen geht somit dahin, die Zeitstufen des starken Verbs ausschließlich durch die verschiedenen Ablautstufen der Stammsilben zu bezeichnen, was sich im Deutschen und in den übrigen neugermanischen Sprachen (außer im Afrikaans) bis heute erhalten hat. Insgesamt läßt sich das germanische Ablautsystem bei den starken Verben als symmetrisches Gerüst von zwei gleich strukturierten e / a- und a / e2 (bzw. ö)-Reihen begreifen - wie insbesondere Frans van Coetsem gezeigt hat —, wozu noch die Langvokalreihen treten. Die Symmetrie der beiden
Verwandtschaft und Urverwandtschaft des Deutschen
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Kurzvokal- bzw. mit ihnen kombinierten Diphthonggruppen zeigt sich bis ins Neuhochdeutsche hinein, trotz vieler lautgesetzlicher Veränderungen im einzelnen (wir vermitteln germanische, althochdeutsche und neuhochdeutsche Beispiele, wobei im Prät. PI. und Part. Prät. ζ. T. der grammatische Wechsel eintritt):
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G e n e a l o g i e
d e r d e u t s c h e n
S p r a c h e
VC
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sk (z.T. > s) ,sich' entsteht — Passiv grundsätzlich neu umschrieben, soweit nicht alte mediale Formen (wie im Gotischen) oder neue mediale Formen (wie im Nordischen) dafür eingetreten sind. Im Hinblick auf die deutsche Sprachgeschichte ergibt sich damit ein grundsätzlicher Unterschied zwischen synthetischen, d.h. mittels Verbalendungen ( + eventuell Umlaut) gebildeten, nicht umschriebenen und neuen analytischen oder umschriebenen (sog. periphrastischen) Verbalformen, zu denen gegenüber dem Indogermanischen auch die neuen Medialformen zu rechnen sind:
94
Genealogie der deutschen Sprache
Sprachstufe
alte synthetische Verbalformen
neue umschriebene (sog. periphrastische) Verbalformen
Germanisch
Aktiv (eingeschränkt auf die im Germanischen vorhandenen synthetisch ausgedrückten Zeitstufen) Medio-Passiv (resthaft in passivischer Bedeutung)
Medium (Aktivform mit Personal-/Reflexivpronomen) Passiv (außer Präsens) Aktiv und Passiv des Futurums, Perfekts, Plusquamperfekts
Deutsch
Aktiv (nur Präsens, Präteritum)
Medium (Aktivform mit Personal-/Reflexivpronomen) Passiv (alle Zeitformen) Aktiv (Futurum, Perfekt, Plusquamperfekt, z.T. Konj. II [würde-Form])
Die Passivumschreibung erfolgt seit althochdeutscher Zeit auf zwei Arten, nämlich mit sein (ahd. wesan, sin) als Zustandspassiv oder mit werden (ahd. werdan) als Vorgangspassiv. (2) Tempussystem Die Um- oder Neustrukturierung des germanischen Tempussystems auf die beiden Hauptkategorien Präsens und Präteritum läßt sich durch die folgende Übersicht begreifen: Indogermanisch 1. Präsensstamm: Handlung im Verlauf 1.1. Präsens: Zeitstufe der Gegenwart oder Ausdruck der übergreifenden, nicht näher bestimmten Zeit 1.2. Imperfekt: Zeitstufe der Vergangenheit
Germanisch
^ —
1. Präsens als allgemeine Zeitstufe der Bewußtseinsnähe, im wesentlichen zum Ausdruck der Gegenwart, der unmittelbaren Zukunft und der übergreifenden, nicht näher bestimmten Zeit. Reste alter Perfektstämme in den sog. Präterito-Präsentia, z.B. germ. *wait, *witum, ahd. wei^,
wi^utn, nhd. ich weiß, wir wissen,
idg. *%oidausw., griech. ( f )οϊδα ,ich habe gesehen, ich weiß'
Fortsetzung der Tabelle S. 95
Verwandtschaft und Urverwandtschaft des Deutschen
Indogermanisch 2. Aoriststamm: momentane, punktuelle Handlung in der Vergangenheit 3. Perfektstamm: durch vorausgegangene Handlung erreichter Zustand 3.1. Perfekt: in der Gegenwart 3.2. Plusquamperfekt: in der Vergangenheit 4. Futurum: Handlung in der Zukunft
95
Germanisch —2. Präteritum als allgemeine Zeitstufe ^ y der Bewußtseinsferne, zum Ausdruck der Vergangenheit z' sowie der Vorvergangenheit (hier z.T. mit Präfix ga-, ahd. gi-, nhd. ge-, wie nhd. noch im Partizip des Präteritums). Ein umschriebenes Perfekt u. Plusquamperfekt mit haben + Infinitiv erscheint erst relativ spät einzelsprachlich. Im Germanischen zunächst als Präsens ausgedrückt, sekundär durch Umschreibung mit Hilfsverben + Infinitiv neu gebildet
Die Vielfalt der verschiedenen indogermanischen Präsensbildungen wird im Germanischen durch eine einheitliche Präsensbildung ersetzt, das alte Perfekt des Indogermanischen wird - unter Einschluß von ablautenden Aoristformen - zum Tempus der Vergangenheit. So zeigt das Germanische zunächst ein Zweitempussystem, dessen interne Differenzierungen mit Hilfe von Präfixverben ausgedrückt werden, wie dies etwa die Übersetzung griechischer Aoristformen in der gotischen Bibelübersetzung des 4. Jahrhunderts oder die Verwendung von mit ga- (ahd. gi-, mhd. ge-) präfigierten Verbalformen im älteren Deutschen zum Ausdruck der Vorvergangenheit erweist. Im Südgermanischen lebt außerdem bei den starken Verben eine alte Aoristform in der 2. Person Singular Indikativ des Präteritums nach, die im Deutschen erst in frühneuhochdeutscher Zeit ausgeglichen worden ist: -
ahd. stigi, mhd. stige ,du stiegst', vgl. griech. £στιχες (Aorist), gegenüber ahd. steig, mhd. steic ,ich/er stieg' < germ. Staig (zu ahd. sttgan .steigen', germ. *sttgan < *steigan, vgl. griech. στείχειν) - ahd. liwi, mhd. liwe ,du liehst', vgl. griech. ίλιπες ,du verließest' (Aorist), gegenüber ahd. mhd. leh ,ich/er lieh' < germ. * Ιαϊχιν (got. laihv), vgl. griech. λέλοιπα 1. Ps. Ind. Perfekt (zu ahd. lihati .leihen', germ. * Κχιναη < * letxwan, vgl. griech. λείπειν)
Entsprechend dem ursprünglichen altgermanischen Zweitempussystem zeigen archaische Texte selbst der deutschen Uberlieferung noch ganz oder fast ausschließlich eine Beschränkung auf Präsens und Präteritum, während in den Übersetzungstexten die differenzierenden Zeitstufen durch neue Umschreibungen nach dem Vorbild des lateinischen Tempussystems deutlich zunehmen. So zeigt z.B. das in der ersten Hälfte des 9. Jahrhunderts aufgezeichnete althochdeutsche Hildebrandslied, der einzige Vertreter des altgermanischen Heldenliedes in deutscher Sprache, in seinem Verbalgefüge nur Präsens- und Präteritalformen, auch dort, wo es um Zukünftiges oder Vorvergangenes geht, nebst einigen modalen Hilfsverb-I-Infinitiv-Konstruktionen, die aber meist nicht primär zeitlichen Charakter haben.
96
Genealogie der deutschen Sprache
(3) Modussystem Auch im Modussystem, d. h. bei den Aussageweisen, ergibt sich im Germanischen eine Umstrukturierung, die den Optativ oder Konjunktiv betrifft: Indogermanisch
Germanisch
1. Indikativ: Modus der Indifferenz, des Tatsächlichen (auch negiert), des Allgemeingültigen, der direkten Rede, der Frage
1. Indikativ
2. Imperativ: Modus des Befehls
2. Imperativ
3. Konjunktiv: Modus der Aufforderung
'""-··...
4. Optativ: Modus des Wunsches, der Möglichkeit, der Irrealität, der indirekten Rede
Optativ (in dengermanischen Einzelsprachen auch Konjunktiv genannt)
Formal ist der germanische Optativ die Weiterführung des indogermanischen Optativs, semantisch-syntaktisch erfüllt er den Beziehungsbereich des indogermanischen Konjunktivs und Optativs. In den germanischen Einzelsprachen - so auch im Deutschen - verwendet man allgemein die Bezeichnung Konjunktiv. Die Zeitform des Optativs in Nebensätzen richtet sich ursprünglich nach der Zeitform des Indikativs oder Optativs im übergeordneten Hauptsatz. Diese Grundregel ist erst in der neuhochdeutschen Sprachstufe nicht mehr voll wirksam. (4) Numerus Im Indogermanischen und zunächst auch im Germanischen erscheinen neben den Singular- und Pluralformen noch Dualformen im Verbalsystem, die aber im Spätgemeingermanischen (ohne im Gotischen) abgebaut worden sind: Indogermanisch und älteres Germanisch (Gotisch)
Jüngeres Germanisch und Deutsch (Ahd., Mhd., Nhd.)
1. Singular: Numerus der Einzahl, des Einfachen, Ungegliederten 2. Dual: Numerus der natürlichen Paarigkeit (wir zwei, ihr zwei, sie zwei), ζ. B. gotisch noch vorhanden ^ 3. Plural: Numerus der Mehrzahl, Vielzahl, des Gegliederten
1. Singular
^ ^ 2 . Plural
Verwandtschaft und Urverwandtschaft des Deutschen
97
(5) Nominale Formen des Verbums Die verschiedenen nominalen Formen des Verbums, nämlich Partizipien (d.h. am Genus und Tempus des Verbums teilhabende Adjektive) und Infinitive (d.h. Verbalnomina oder vom Verbalstamm gebildete Substantive mit der Grundbedeutung der verbalen Handlung oder des verbalen Zustande) werden im Germanischen wie folgt vereinfacht: Partizipien Partizip des Präsens (aktiv)
Infinitiv Partizip des Präteritums (passiv)
grundsätzlich einheitliche Bildung nach dem Präsensstamm
von verschiedenen Stämmen aus vom Präsensgebildet, mit Präfix ga-, stamm ohne Präfix gebildet ahd. gi-, nhd. beeinheitliche Bildung auf germ. -ttd-, ahd. -»*(-), nhd. -le]nd{-)
stärke Verben: ablautend mit Suffix -an, -in (ahd. -an, nhd. -en)
schwache Verben: mit Dentalsuffix (vgl. obenS. 90ff.)
starke Verben: germ. -an{-) (z.T. mit Infixen -jan, -nan), ahd. -an (z.T. -jen), nhd. -en
vgl. nhd. gebend, lebend
vgl. nhd. gegeben, getrunken
vgl. nhd. gelebt, gemacht
(vgl. oben S. 8 8 f.)
wie Adjektive flektiert
schwache Verben: mit Klassendifferenzierung germ, -jan, -ön, -en, -nan (vgl. oben S.91f.), ahd. -(i)en, -ön, -en, nhd. vereinheitlicht -en
wie Substantive flektiert
Dementsprechend finden wir im Germanischen und im Deutschen zwei Partizipien, die wie die Adjektive stark und schwach flektieren, und einen Infinitiv, der wie ein starkes Substantiv flektiert, vor. Die Deklination des Infinitivs, das sogenannte Gerundium, zeigt in den älteren deutschen Sprachstufen ein geminiertes nn, das auf eine südgermanische Bildung η vor / (mit Konsonantengemination) zurückgeht, im Neuhochdeutschen aber ausgeglichen ist:
98
Genealogie der deutschen Sprache
Infinitiv (Nominativ, Akkusativ) Genitiv Dativ
nhd.
ahd.
mhd.
neman
nemen
nemannes niemanne
nemennes nemenne
des "Nehmens \ dem Nehmen (älter 1 -ene) I
ze nemanne
ze nemenne, ze nemende (mit nn > nd)
zu nehmen
— nehmen, das Nehmen
'
Ausgleich nach der Infinitivform
3.2.2.9. Vereinfachungen im Kasussystem Das indogermanische Kasussystem zeigt in seiner möglichen Vollform eine Ausgestaltung von acht verschiedenen Kasus, die zwar nicht für alle Deklinationsklassen belegbar sind, aber als Gesamtsystem einer differenzierten Grammatikalisation so anzusetzen sind. In der geschichtlichen Entwicklung des Germanischen erfolgt eine Reduktion des Kasussystems in folgender Hinsicht: Indogermanisch
Nominativ Vokativ Genitiv Dativ Akkusati Ablativ " ' s ' " Lokativ Instrumental
8-Kasussystem
Urgermanisch
Nom. Vok. ^ ,Gen. rDat. 'Akk.
Gotisch
rNom. »'Nom. ·—Vok. (reduziert) Gen. Gen. Dat. ~Dat. Akk. I Akk.
"Instr.
6-Kasussystem
Südgermanisch Nordgermanisch (Althochdeutsch) (Altnordisch) Nom. Gen. Dat. Akk.
—Instr. (nahezu voll im älteren Ahd.) 5-Kasussystem
5-Kasussystem
4-Kasussystem
Die Reduktion des Kasussystems setzt sich auch in der Geschichte der deutschen Sprache, allerdings mit verschiedener Intensität je nach Wortart und Deklinationsklasse, fort (vgl. Kap. 5.2.2.2., S. 248ff.), so daß wir im heutigen Deutsch ein Vier- bis Einkasussystem vorfinden. Die syntaktische Funktion der einzelnen Kasus läßt sich so charakterisieren: — Nominativ: Kasus des Subjekts und des Prädikatsnomens — Vokativ: Kasus des nominalen Anrufes, insofern satzwertig — Genitiv: Kasus des Bereiches in adnominaler und adverbialer Verwendung
Verwandtschaft und Urverwandtschaft des Deutschen
99
- Dativ:
Kasus des Zweckes, der inneren Beteiligung, des entfernteren Objektes - Akkusativ: Kasus des näheren Objektes, der Ausdehnung und Richtung - Ablativ: Kasus des Ausgangspunktes und des Abstandes - Lokativ: Kasus der Ruhelage in Raum und Zeit - Instrumental: Kasus der Begleitung und des Mittels Die Funktionen der in der Sprachgeschichte des Germanischen untergegangenen oder mehr und mehr eingeschränkten Kasus Ablativ, Lokativ und Instrumental hat der Dativ übernommen, bis zu einem gewissen Grad auch der Genitiv, wobei entsprechende Präpositionen stützend zur Seite traten. Die Funktion des Vokativs ist nach und nach klassenweise gestaffelt vom Nominativ übernommen worden, wie dies das Gotische des 4. Jahrhunderts zeigt. Am längsten haben sich die im Normalsystem des Substantivs und Adjektivs ausgestorbenen oder aussterbenden Kasus beim Pronomen (Instrumental, vereinzelt Lokativ) sowie in erstarrten Wendungen gesprochener Sprache (z.B. nhd. heute, ahd. hiutu < *hiu tagu ,an diesem Tag', Instrumental in lokativischer Bedeutung) erhalten. 3.2.2.10. Vereinfachungen im Numerussystem Im Germanischen vollzieht sich eine Reduktion des indogermanischen dreistufigen Numerussystems, worauf wir schon unter Ziffer 3.2.2.8., S. 96 für das Verbum hingewiesen haben. Diese Reduktion betrifft nicht nur die Verbalformen, sondern auch die Substantive, Adjektive und Pronomina, welche den Dual im Germanischen entweder bereits ausgeschieden haben oder im Verlauf ihrer belegbaren Geschichte verlieren: Indogermanisch
Germanisch
volles Numerussystem Singular, Dual, Plural - Substantiv - Adjektiv — Verbum — Pronomen
durchgreifende Reduktion des Duals nicht mehr vorhanden — Subst. - Adj.
nur im ältesten Germanischen vorhanden — Verbum (im Gotischen des 4. Jh.)
in allen altgermanischen Sprachen resthaft bzw. mehr oder weniger voll vorhanden — Personalpronomen (im Neuisländischen bis heute produktiv)
In der Geschichte des Deutschen zeigt sich der Dual nur noch resthaft beim Personalpronomen: einerseits althochdeutsch-schreibsprachlich bei Otfrid von Weißenburg (um 860—870) in der verdeutlichenden Form unker zweio ,νοη uns beiden', altsächsisch im Heliand (Mitte 9.Jh.), Genitiv unkero ,unser zweier' (vgl. gotisch igqara ,euch zweier', Schreibung gq = nq), Dativ-Akkusativ unk ,uns zwei(en)' (vgl. gotisch ugkis, Schreibung gk = nk), andererseits mundartlich-bairisch seit mittelhochdeutscher Zeit be-
100
Genealogie der deutschen Sprache
legt 2. PI. e j (heute eß) ,ihr' (germ. * et), Dativ-Akkusativ enc (heute enk) ,euch' (vgl. got. igqis), dazu das Possessivpronomen enker ,euer', wobei aber dieser Dual einfach Pluralfunktion übernommen hat und somit nicht mehr als wirkliche Dualform im System neben der Pluralform gelten kann. 3.2.2.11. Die Ausbreitung der «-Stämme in der Klassenbildung und Deklination des Substantivs Wenn sich auch bei der Überführung der indogermanischen Deklinationsklassen des Substantivs in das Germanische eine Reihe von Verschiebungen im einzelnen ergeben, so kann doch gesagt werden, daß die indogermanischen Deklinationsklassen im wesentlichen ihre Fortsetzung im Germanischen finden. Nach den klassenbildenden Vokalen und Konsonanten, die an die Wurzel antreten (oder bei den Wurzelstämmen nicht antreten), unterscheidet man: Indogermanisch
Germanisch
1. Vokalische Stämme o-Stämme (vgl. griech. λύκος, lat. lupus) m., n.
1. Vokalische oder starke Stämme α-Stämme (germ. * wulfaz, ahd. wolf, nhd. Wolf) m., n. /«-Stämme (germ. * harjaz, ahd. heri, nhd. Heer) m., n. neu: we-Stämme (germ. * knewam, ahd. kniu, G. kniwes, nhd. Knie) m., n.
;'o-Stämme (vgl. griech. ύιός, lat. filius) m., n.
ä-Stämme (vgl. lat. mensa) f. /'«»-Stämme (vgl. lat. cöpia) f.
ö-Stämme (germ. * gebö, ahd. gebai. ,Gabe') f. /ö-Stämme (germ. * stbjö, ahd. sippea, nhd. Sippe) f. neu: ttfö-Stämme (ahd. bräwa, nhd. Braue) f.
«-Stämme (vgl. lat. hostis) m„ f., (n.)
/-Stämme (germ. *gastiz, ahd. gast, PI. gesti, nhd. Gast) m., f., (n.)
«-Stämme (vgl. lat. manus) m., f.
«-Stämme (germ. * sunuz, got. sunus), später einzelsprachlich i. d. R. zu den (-Stämmen überführt (ahd. sutt[u], nhd. Sohn), m.,f., (n.) Fortsetzung der Tabelle auf S. 101
Verwandtschaft und Urverwandtschaft des Deutschen
101
Indogermanisch
Germanisch
2. Konsonantische Stämme
2. Konsonantische oder schwache Stämme (Vokal + «) «-Stämme, vgl. unten, mit bedeutender Ausbreitung im Germanischen
«-Stämme (vgl. lat. homö, hominis; natiö, nattonis; nömen, nominis) m., f., n.
«(-Stämme (vgl. lat. dens, dentis; ferens, ferentis) m., f.
3. Weitere konsonantische Stämme « germ. *midjaz, got. midjts, ahd. mitti, altsächs. middi, altnord. miör .mittlerer'
idg. urgerm. i > germ, e und idg. urgerm. u > germ, ο vor a (ce, ο) der Folgesilbe = älterer Λ-Umlaut (oder Brechung), nicht vollständig durchgeführt z.B. idg. *%iros (vgl. lat. vir) > germ. *wtraz, got. tuair (at = evor r), ahd. altsächs. wer, altnord. verrm. ,Mann' idg. *fiugom (vgl. lat. iugum) > germ. *jukam, *jokam, ahd. joh (neben juh), nhd. Joch n., altnord. ok n.
(b) jüngere, in den germanischen Einzelsprachen mit verschiedenem Wirkungsgrad durchgeführte Umlaute I. Palatalumlaute: (1) /-Umlaut, durch ein i, /"oder / der Folgesilbe hervorgerufen und auf die meisten Vokale aller germanischen Sprachen außer im Gotischen (wo er vielleicht nur nicht oder noch nicht bezeichnet, aber trotzdem vorhanden war) in verschiedener zeitlicher
Verwandtschaft und Urverwandtschaft des Deutschen
II.
III.
IV.
V.
107
Staffelung seit dem 6./7. Jh. wirksam. Nach seiner früheren oder späteren schriftlichen Bezeichnung und seinem Wirkungsgrad unterscheidet man im Deutschen zwischen Primärumlaut (Vollumlaut, a > e) und Sekundärumlaut (Halbumlaut, gehemmter Umlaut, a > ä, sowie Umlaut auf alle anderen Vokale und Diphthonge). (2) sofern zum Umlaut auch konsonantische Einwirkungen auf Vokale gezählt werden (Umlaut im weiteren Sinn), gehören die nordischen R- (got. kas, aisl. ker ,Gefäß' usw.) und g/k-Umlaute, ferner ein gelegentlicher westnordischer progressiver /Umlaut und die durch palatale folgende Konsonanz bewirkten Palatalisierungen im Deutschen hierher (ahd. asca, nhd. Asche, mundartlich weit verbreitet Äsche) (3) bei Miteinrechnung von regressiven Kontaktassimilationen beim Umlaut im engeren Sinn sind auch die durch hiatustilgendes / hervorgerufenen Palatalisierungen besonders im Kontinentalgermanischen hier aufzuführen (nhd. säen < ahd. sä-jan, säan). Velarumlaute: (1) die nordgermanische Brechung (Velarumlaut, a- und «-Umlaut auf kurzes e = a- und «-Brechung: germ. *helpan, altnord. hialpa; germ. *erpö > *erpu, altnord. igrd). (2) der altenglische Velarumlaut («-/o-Umlaut auf a > ea, e > eo, i > io, z.B. featu ,Fässer', heorot,Hirsch', siofoti,sieben'). Die Verwandtschaft mit der nordischen Brechung ist dabei gegeben. Labialumlaute: (1) der nordgermanische «-Umlaut (Labialisierung besonders von a > Q, ä > φ [ά > φ] usw., z.B. got. magus, aisl. tnpgr,Sohn'). (2) der nordgermanische «^Umlaut (Rundung ungerundeter Vokale durch wder Folgesilbe). (3) die altfriesische «/«^Epenthese (siunga < singwan). «-Umlaut auf e > i: Eine Angleichung des e der Stammsilbe an den Hochzungenvokal « der Folgesilbe (e > / vor «) kommt im Althochdeutschen, Altsächsischen und spurenweise im Urnordischen vor (ahd. gibu ,ich gebe', as. gibu, urnord. gibu). Die Erscheinung muß als regressiver Umlaut bezeichnet werden. Zu den Umlauterscheinungen können auch die einzelsprachlichen Weiterentwicklungen von germ, eu, sofern sie vom Vokal der Folgesilbe abhängig sind, gerechnet werden, doch liegen dabei stets auch starke begünstigende oder hindernde konsonantische Einflüsse vor. Bei einer ganzheitlichen Betrachtung des Umlautphänomens müssen aber die Modifikationen von germ, eu (ζ. B. > ahd.
108
Genealogie der deutschen Sprache
io/ie oder iü) ebenfalls als Umlaute aufgefaßt werden (vgl. dazu fürs Deutsche S.155). Während die älteren, gemeingermanischen Umlaute in ihrer Auswirkung auf das Lautsystem beschränkt sind und die komplementäre Steuerung der Phoneme /e/ /i/ sowie /o/ /u/ regeln (vgl. oben S. 81), haben die jüngeren, einzelsprachlichen Umlaute den allergrößten Einfluß auf das Gesamtsystem der Sprache, was später in Abschnitt 5.2.2.6. anhand der Geschichte des deutschen /-Umlauts gezeigt werden soll. Entscheidend ist dabei neben der Entstehung neuer Phoneme bzw. neuer phonematischer Oppositionen im Verhältnis Umlaut/Nichtumlaut die gewaltige Umgestaltung der germanischen Flexion und Wortbildung mit Auswirkungen auf die Syntax (z.B. weitgehend umgelautetes Konjunktivsystem im Neuhochdeutschen) und Lexik. Für die Beurteilung der Umlautwirkung auf die germanische Flexion lassen sich die folgenden drei Stufen erkennen:
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£ ο vor h, hw, r) keine jüngeren Umlaute e x als e (Graphem < e > ) Bewahrung von germ, eu als iu (mit Neuerung e > i) relativ volle Nebensilbenvokale Eigenentwicklung im Konsonantensystem (Auslautverhärtung, Verschärfung von geminiertem /'und w > ddj und ggw, anl. ß- > pl-) Bewahrung von stimmhaftem s (Graphem < z > ) Bewahrung der Reduplikation bei den starken Verben (mit oder ohne Ablaut) Ausgleich des grammatischen Wechsels bei den starken Verben zugunsten der stimmlosen Reibelaute nur altes Demonstrativpronomen sa, sö, pata ,der, die, das' ohne Neubildung dazu
116
Genealogie der deutschen Sprache
Nimmt man, wie heute in der Forschung überwiegend, noch eine gotische Monophthongierung von ai > ς (Graphem < a i > ) und au > g (Graphem < a u > ) an, so wird die frühe Sonderstellung des Gotischen auf dem Neuerungssektor noch deutlicher: Spätgemeingermanisch Erhaltung:
volles Diphthongsystem /ai/, /au/, /eu/ ( > /iu/, /io/)
Gotisch Neuerung:
reduziertes Diphthongsystem /iu/
Als zweite Stufe der Ausgliederung der germanischen Sprachen ist die Scheidung des Spätgemeingermanischen in eine südliche, kontinentale (sekundär auch auf der britischen Hauptinsel vertretene) und eine nördliche, skandinavische Gruppe zu nennen. Die wichtigsten Kriterien sind dabei die folgenden: Spätgemeingermanisch Südgermanisch (Westgermanisch) 1 Neuerung:
2 Erhaltung:
3 Neuerung:
4 Neuerung:
5 Neuerung:
6 Erhaltung:
Entstehung von neuen Sproßvokalen in Mittelund Endsilben (germ. *akraz m.,Acker', got. akrs, altnord. akr, aber ahd. ackar, altsächs. akkar, altengl. cecer) gute Erhaltung des urspriinglichen Konsonantensystems, jedoch Übergang von d > d
Verdoppelung inl. Konsonanten vor j, ζ. T. auch vor r, l, w, m, η (sog. südgerm. Konsonantengemination) Sonderform der 2. Ps. Prät. bei den starken Verben aus dem Aorist mit Vokal wie im Prät. PI. (ahd. bunti, altsächs. bundi, altengl. bunde ,du bandst'; ahd. nätni, mhd. tueme ,du nahmst') Ausscheidung der schwachen Verben Kl. 4 auf -nan (Inchoativa) Bewahrung der Verbalpräfixe (ζ. B. ga-)
Nordgermanisch (Skandinavisch) Neuerung:
Wirkung des a- und uUmlautes auf e als Brechung zu ia (ja), ig (jg) (vgl. oben S. 107)
Neuerung:
starke Umgestaltung des Konsonantensystems durch Assimilationen und Kontraktionen unter teilweiser Einwirkung auf das Vokalsystem
Erhaltung:
Normalform der 2. Ps. Prät. bei den starken Verben auf -t (wie im Gotischen, got. altnord. namt,du nahmst')
Erhaltung:
Bewahrung der schwachen Verben Kl. 4 auf -nan (Inchoativa) Verlust der Verbalpräfixe (Reste altnord. of, om)
Neuerung:
Die Ausgliederung des Deutschen aus dem Germanischen 7 Erhaltung: 8
Bewahrung des Instrumentals als eigener Kasus
Neuerung: Neuerung:
117
Verlust des Instrumentals im Kasussystem Neubildung eines synthetischen Medio-Passivs mit -sik (> sk, -s)
Eine Gruppierung in Ostgermanisch (vor allem Gotisch), Südgermanisch und Nordgermanisch zeigt sich, wie Wolfgang Krause betont hat, auch in der verschiedenen Behandlung der Auslautverhältnisse und der daraus resultierenden Morphematik bei den starken maskulinen und ζ. T. femininen Substantiven, wobei hier allerdings eine verschiedene chronologische Einstufung der Überlieferung mitzuberücksichtigen bleibt (Beispiele urgerm. *dagaz m. ,Tag', *gastiz m. ,Gast', *nauöizi. ,Not'): nordgermanisch
ostgermanisch
südgermanisch
alter Volltypus
Synkopetypus
Kurztypus (mit Schwund der alten Endung)
gotisch
dags
gotisch
gasts
gotisch
naups
ahd. altsächs. altengl. ahd. altsächs. altengl. ahd. altsächs. altengl.
urnordisch altnordisch (vgl. neuisl. urnordisch altnordisch (vgl. neuisl. altnordisch (< *naudizi.)
dagaR (R < z) dagr dagur) gastiR (R < z) gestr gestur) naudr (jünger rtaud)
tag dag dag gast gast giest nöt ttöd nead, med
Trotz dieser grundsätzlichen Ausgliederungsmöglichkeiten bleiben viele verbindende Züge etwa zwischen Gotisch und Nordgermanisch, Alemannisch (-Bairisch) und Nordgermanisch, Oberdeutsch und Gotisch, Altenglisch und Nordgermanisch, die siedlungsgeschichtlich und berührungsgeschichtlich begründet sind, soweit nicht mehr zufällige gemeinsame Erhaltung alter gemeingermanischer Sprachzüge vorliegt. Im Hinblick auf die Entstehung des Deutschen als einer besonderen Sprache innerhalb des Germanischen muß zunächst die weitere Aufgliederung des Süd- oder Westgermanischen verfolgt werden. Einen engeren Sprachverband bilden seit ihrem Eintreten in die schriftliche Überlieferung die nordseegermanischen Sprachen Altsächsisch, Altfriesisch, Altenglisch, die sich vom Althochdeutschen oder wesentlichen Teilen davon abheben. Dabei ist zu bedenken, daß sich das Deutsche aus den verschiedenen Stammesdialekten der Franken, Thüringer, Baiern, Alemannen und Langobarden als althochdeutsche Sprachstufe erst seit dem 8. und 9. Jahrhundert zu konstituieren beginnt und sich im Verlauf der Jahrhunderte bis um 1100 eine zunehmende Annäherung der Sprachform unter fränkischer Führung vollzieht. Demnach sind bei einer kontrastiven Betrachtung der Sprachkriterien im Hinblick auf das Deutsche nordseegermanische und nichtnordseegermanische (oder binnengermanische) Systemelemente zu scheiden:
118
Genealogie der deutschen Sprache
Südgermanisch (auch als Westgermanisch bezeichnet) Binnengermanisch (im wesentlichen später Deutsch)
1 Neuerung:
Nordseegermanisch (Altsächsisch, Altfriesisch, Altenglisch, später auch Niederländisch)
grundlegende Umgestaltung des Konsonantensystems durch die zweite oder hochdeutsche Lautverschiebung t > tz, 33 (ss),p>pf,ff,k> kX, ch, in landschaftlicher Staffelung von S nach Ν abnehmend; ferner Entwicklung von d > t (neben nur oberdeutsch b> p, g> k) undp(th) > d teilweise Erhaltung von germ, at und au als ei und ou
Erhaltung:
weitgehende Bewahrung des südgermanischen Konsonantensystems
Neuerung:
Diphthongierung von germ, e2 > ia, ie und germ, ö > uo, ua keine konsonantischen Einwirkungen auf einfache Vokale
Erhaltung:
Monophthongierung von germ, at > altsächs. e, altfries. ä, e, altengl. ä Umgestaltung von germ. au > altsächs. ö, altfries. ä, altengl. ea Bewahrung von germ, e 2 und germ, ö
5 Erhaltung:
Bewahrung von m und tt vor Reibelaut
Neuerung:
6 Erhaltung:
bedeutende Erhaltung der verschiedenen Kasusmorpheme und Personal- bzw. Numerusmorpheme in der Flexion Bewahrung des Reflexivpronomens (ahd. Gen. sin, Akk. sih)
Neuerung:
2 Erhaltung:
3 Neuerung: 4 Erhaltung:
7 Erhaltung:
Neuerung:
Neuerung:
konsonantische Einflüsse auf einfache Vokale (Nasalierungen, Brechungen, Palatalisierungen) sowie spontane Palatalisierung von a > altfries. e, altengl. ce (altsächs. nur vereinzelt vor s und r) Schwund von m und η vor Reibelaut mit Ersatzdehnung des vorausgehenden Vokals durchgreifende Ausgleichstendenzen in der Morphematik aller Wortarten Verlust des Reflexivpronomens (dafür tritt das Personalpronomen 3. Ps. ein)
Die Ausgliederung des Deutschen aus dem Germanischen
119
Man vergleiche dazu die folgenden Beispiele: Binnengermanisch
Nordseegermanisch
Weitere Vergleiche
Althochdeutsch
Altsächs.
Altfries.
Altengl.
wazzar n. .Wasser' zunga f.,Zunge' släf(f)an,schlafen'
watar tunga släpan
weter tunge slepa
wceter tunge släpan
pflegan,pflegen' ahhar, ackar m. ,Acker' kirihha, chirihha f. .Kirche' tagm. .Tag'
plegan accar
plegia ecker,
kirika
tzerke, tsiurke
cirtce, cyrce
dag
dei, dt
dceg
dorfn. ,Dorf'
thorp
therp, thorp
Porp
eid m. ,Eid'
ed
äth, eth
äö
ouga n. ,Auge'
öga
äge
eage
hiar, hier ,hier'
her
her, htr
her
buohstab m. .Buchstabe'
bökstaf
alt ,alt'
aid, old
gebart, kepan .geben'
ekker
plegian cecer
böcstcef
eald
germ. *watar germ. *tungön germ. *slepan, so gotisch südgerm. *plegan germ. *akraz, got. akrs südgerm. *kirika, griech. κυριακή germ. *dagaz, got. dags germ. *porpam, got. paurp [au = p] germ. *aidaz, got. aif>s germ. *augö, got. augö germ. *her, so gotisch spätgemeingerm. *bökstabaz, altnord. bokstafr germ. *aldaz, got. aids germ. *geban, got. giban germ. *finf, got. fimf
getan
aid, auld, aud ieva, geva
gi(e)fan
fitnf, finf, fünf .fünf'
f'f
fif
fif
Flexion: differenzierte Kasusmorphematik beim Substantiv
bedeutende Ausgleichstendenzen in den Kasusformen der Substantive
germ, differenziert
unflektierte neben flektierten Adjektivformen in der starken Deklination Nom./Akk. Sg.
keine Doppelformen
gotisch im Neutrum entsprechende Doppelformen
Bewahrung der Genusunterschiede im Nom./Akk. PI. der Pronomina
weitgehende Aufgabe der Genusunterschiede im Plural der Pronomina
germ. Genusunterschiede vorhanden
dreiformiger Verbalplural
einförmiger Verbalplural
germ, dreiformig
120
Genealogie der deutschen Sprache
Somit lassen sich eine Reihe gemeinsamer Züge im Sprachsystem der binnengermanischen Stammesdialekte nachweisen, die seit dem späten 8. Jahrhundert in die althochdeutsche Uberlieferung einmünden. Die Ausgliederung und Konstituierung der deutschen Sprache aus dem Germanischen muß dabei als dreifacher sprachgeschichtlicher Vorgang verstanden werden (vgl. dazu Abbildung Die Ausgliederung der deutschen Sprache aus dem Germanischen S. 121): - zunächst als zunehmende Differenzierung vom Spätgemeingermanischen über das Südgermanische zum Binnengermanischen der beiden Gruppen des sog. Istwäonischen (Rhein-Weser-Stämme) und Hermionischen (ursprüngliche Elbgermanen, später durch Südwanderung im Donauraum und unmittelbar nördlich der Alpen seßhaft geworden), auf denen die frühmittelalterlichen Stammesdialekte beruhen; - sodann als Integration durch die neue Klammer im fränkischen Reichsverband zum Althochdeutschen, worüber die Abschnitte 3.1. und 3.5. zu vergleichen sind; - schließlich als schrift- oder hochsprachliche Überschichtung auf hochdeutscher, genauer gesagt ostmitteldeutscher (und südostdeutscher) Grundlage, die selbst ursprünglich nordseegermanische Teile (das Niederdeutsche) der deutschen Sprache endgültig einverleibt, wobei eine Beeinflussung vom Hochdeutschen her seit althochdeutscher Zeit festzustellen ist. Dem Fränkischen freilich kommt im Verband des Südgermanischen und im Aufbau des Deutschen eine Sonderstellung zu, da die verschiedenen Teilstämme der Franken auf verschiedene Weise und in einem viel weiteren Gebiet sprachbildend geworden sind als die anderen am Althochdeutsch beteiligten Stammesgruppen. Dies mag das folgende Gliederungsbild erhellen: 6 . - 1 1 . Jh. Altfränkisch
Westfränk. (im 9. Jh. erloschen)
Altniederfränkisch
Altalemannisch Altbairisch
Mittel- und Hochfränkisch
Langobardisch (im 9 . / 1 0 . Jh. erloschen)
Altoberdeutsch
Althochdeutsch (7./8—11. Jh.)
Damit soll zum Ausdruck kommen, daß sich das Altfränkische nur noch teilweise, allerdings auf nachhaltigste und bald auch übergreifende Weise ins Althochdeutsche einfindet, daneben aber noch in zwei weiteren Sprachformen in Erscheinung tritt: im Westfränkischen und im Altniederfränki-
121
Die Ausgliederung des Deutschen aus dem Germanischen
1 i^t I j'jsi >£
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Ii
Η
Graphische Darstellung 16
Η
122
Genealogie der deutschen Sprache
sehen. Westfränkisch, die Sprache der im vorwiegend galloromanischen Westfranken (heutiges Nordfrankreich und Südbelgien) siedelnden fränkischen Sprachträger ist ein im 8./9. Jahrhundert erlöschender Nebenzweig, der westliche Nachbar des werdenden Althochdeutschen, aber schon dem Romanischen erliegend, immerhin durch Schreibtraditionen auch fürs Althochdeutsche wichtig genug geworden; das Altniederfränkische im Gebiet der Landschaft Limburg steht jenseits der zweiten Lautverschiebung und ist darum auch nicht hochdeutsch geworden — vielmehr ist hier eine Komponente des werdenden Niederländischen, das auch am Ingwäonischen oder Nordseegermanischen teilhat, zu erblicken. Was vom Altfränkischen noch althochdeutsch wird, sind somit die Teile des Mittel-, Rhein-, Ost- und Südrheinfränkischen. Das werdende Deutsch des Frühmittelalters kann nun nach Einheitlichkeit und Uneinheitlichkeit gemessen werden. Einheitlich sind die vielen gemeinsamen binnengermanischen Systemelemente oder Systemtendenzen, die wir oben, sei es durch Neuerung, sei es durch Erhaltung, als ausgliedernd bezeichnet haben. Aber es bleiben, wie vor allem die sprachgeographische Forschung der Schule von Theodor Frings gezeigt hat, auch viele uneinheitliche Züge, die erst nach und nach ausgeglichen werden oder mundartlich bis in die Neuzeit nachleben. Eine Besonderheit im Verwandtschaftsgefüge des ältesten Deutschen, d.h. des Althochdeutschen, machen so einerseits die alemannisch/oberdeutsch-nordgermanischen und die bairisch/oberdeutsch-gotischen Beziehungen aus, denen andererseits fränkisch-nordseegermanische Verbindungen entgegenstehen. Sie spiegeln, soweit es alte Gemeinsamkeiten oder gemeinsame Neuerungen im sich weiter entfaltenden Sprachsystem sind, eine relative ursprüngliche Nachbarschaft der Sprachträger in frühgermanischer Zeit wider, über das Elbgermanische, die erschließbare Grundlage des Oberdeutschen, bzw. über das Rhein-Weser-Germanische, die erschließbare Grundlage des Fränkischen. Dazu gehören beispielsweise die folgenden Verbindungen, welche die sprachgeographische Uneinheitlichkeit des ältesten Deutschen erweisen:
Die Ausgliederung des Deutschen aus dem Germanischen
123
Althochdeutsch Nordseegerm.
ae. hü, afries. hü, as. hwö ae. he, afries. ht, he, as. he, hie ae. leogan, afries. liaga, as. liogan ae. deop, afries. diap, as. diop, diap ae. pes, afries. thisse, this, as. these as. the, thi, afries. tht, di
Fränkisch
Oberdeutsch
Gotisch
Altnordisch
gähts f. (in Zss.) ,Gehen'
gätti. .Eingang, Türöffnung'
wuo ,wie'
alem. gäht f. (in bettegäht) .Gehen, Gang' rävo m.,Dachsparren' (h)weo, (h)wio
he(r) ,er'
er,er'
is
leogan, liogan
liugan,lügen'
liugan
Ijüga
tiof, diof
tiuf,t ief
diups
djüpr
dhese,
deser,dieser'
the, de, thie
these
hvatwa, hve
räf, räfrn. .Sparrendach' hve ,wie'
der ,der, dieser'
Daneben treten spezifische Lehnwortschatzbeziehungen im christlichen Glaubensbereich Angelsächsisch —» Fränkisch-Althochdeutsch (-Altoberdeutsch) und Gotisch —> Althochdeutsch-Oberdeutsch, die wir im Abschnitt 3.5.3. kurz besprechen werden.
Literaturhinweise zu Abschnitt 3.3. (vgl. die Hinweise zu Abschnitt 3.2.) Carl Karstien, Historische Deutsche Grammatik, I Geschichtliche Einleitung, Lautlehre, Heidelberg 1939. - Eduard Kolb, Alemannisch-nordgermanisches Wortgut (Beiträge zur schweizerdeutschen Mundartforschung Bd. VI), Frauenfeld 1957. - Wolfgang Krause, Handbuch des Gotischen, Dritte Auflage München 1968. — Hans Kuhn, Kleine Schriften, Bd. I Sprachgeschichte, Verskunst, Berlin 1969 (hier die entscheidenden Aufsätze und Rezensionen zur Frage der Ausgliederung der germanischen Sprachen). - Winfred P. Lehmann, The Grouping of the Germanic Languages, in: Ancient Indo-European Dialects, ed. by Henrik Birnbaum and Jaan Puhvel, Berkeley and Los Angeles 1966. — Gotthard Lerchner, Studien zum nordwestgermanischen Wortschatz, Ein Beitrag zu den Fragen um Aufbau und Gliederung des Germanischen (Mitteldeutsche Studien Bd. 28), Halle 1965. — Thomas L. Markey, Germanic Dialect Grouping and the Position of Ingvaeonic (Innsbrucker Beiträge zur Sprachwissenschaft Bd. 15), Innsbruck 1976. - Friedrich Maurer, Nordgermanen und Alemannen, Studien zur germanischen und frühdeutschen Sprachgeschichte, Stammes- und Volkskunde (Bibliotheca Germanica Bd. 3), Dritte Auflage Bern—München 1952. — Friedrich Maurer, Dichtung und Sprache des Mittelalters, Gesammelte Aufsätze (Bibliotheca Germanica Bd. 10), Bern—München 1963
124
Genealogie der deutschen Sprache
(hier die entscheidenden Aufsätze zur Frühgeschichte des Deutschen). — Ludwig Rösel, Die Gliederung der germanischen Sprachen nach dem Zeugnis ihrer Flexionsformen (Erlanger Beiträge zur Sprach- und Kunstwissenschaft Bd. 11), Nürnberg 1 9 6 2 . - Rudolf Schützeichel, Die Grundlagen des westlichen Mitteldeutschen, Studien zur historischen Sprachgeographie (Hermaea N . F . Bd. 10), Tübingen 1961, 2 1 9 7 6 . - Ernst Schwarz, Goten, Nordgermanen, Angelsachsen, Studien zur Ausgliederung der germanischen Sprachen (Bibliotheca Germanica Bd. 2), Bern—München 1951. - Rafael von Uslar, Archäologische Fundgruppen und germanische Stammesgebiete vornehmlich aus der Zeit um Christi Geburt, Historisches Jahrbuch 7 1 , 1 9 5 2 , 1—36 (Nachdruck im Sammelband Zur germanischen Stammeskunde, hg. von Ernst Schwarz [Wege der Forschung Bd. CCIL], Darmstadt 1 9 7 2 , 1 4 6 — 2 0 1 mit Literaturnachtrag).
3.4. Die zweite oder hochdeutsche Lautverschiebung
3.4.1. Kurze synchronisch-vergleichende Bestimmung Gegenüber dem Germanischen erscheint das deutsche (hochdeutsche, auch schriftsprachlich-hochsprachliche) Konsonantensystem durch eine Reihe von sprachgeschichtlichen Neuerungen grundlegend umgestaltet, die gößtenteils auf die Wirkung der zweiten oder hochdeutschen Lautverschiebung der vor- und frühalthochdeutschen Zeit (5.—8./9. Jh.) zurückgehen und auch bei einem Vergleich mit den übrigen germanischen (d.h. mit den nicht-hochdeutschen) Sprachen bis zur Gegenwart sichtbar werden. Dementsprechend hebt sich die Lautform hochdeutscher Wörter im Bereich der alten germanischen Verschlußlaute t, p, k und d, welche schriftsprachlich von der zweiten Lautverschiebung betroffen sind, gegenüber den etymologisch entsprechenden Wörtern des Niederdeutschen und der übrigen germanischen Sprachen bis heute deutlich ab, wie die folgenden Beispiele aus den neugermanischen Sprachen beleuchten mögen, wobei wir uns auf Wörter aus den Sprachen Neuhochdeutsch (Schriftsprache, gelegentlich mit Ausblicken auf das Alemannische oder die älteren Sprachstufen), Niederdeutsch, Niederländisch, Neuenglisch und Neuschwedisch (welches für das Skandinavische oder Nordgermanische stehen mag) beschränken müssen:
D i e zweite oder hochdeutsche L a u t v e r s c h i e b u n g
ohne
Lautwert
Lautverschiebung
125
mit Lautverschiebung
im Germanischen skandinavisch englisch
nieder-
nieder-
neuhoch-
(schwedisch)
ländisch
deutsch
deutsch
fnach Vokal
vad vatten bita
4vhat water bite
wat water bijten
wat water btten
was Wasser beißen
i i m Anlaut
tunga salt sitta
tongue salt sit
tong zout zitten
tunge salt, solt sitten
Zunge Salz sitzen
p nach V o k a l
skepp gripa
ship gripe
schip grijpen
schip, schep grtpen
Schiff greifen
p im A n l a u t p nach Kons.
peppar hjälpa
südgerm.
äpple ( , oder Affrikaten , , ,
— je nach Schriftsprache oder Mundart teilweise verschiedene Lautung (alem. Chorn, nhd. Korn; alem. Acher, Akcher, nhd. Acker) — weicher Verschlußlaut d — harter Verschlußlaut t (auch < t t > geschrieben, nach Konsonant als geschrieben) Tatsächlich läßt sich das Kriterium der zweiten oder hochdeutschen Lautverschiebung für die Gliederung der Sprachen und/oder Mundarten sowohl innerhalb des Germanischen wie auch innerhalb des Deutschen anwenden: Germanische Sprachen
ohne zweite Lautverschiebung = alle Sprachen ohne das Hochdeutsche, d. h. Niederdeutsch (und Niederfränkisch), Friesisch, Niederländisch (und Afrikaans), Englisch, Skandinavisch (Schwedisch, Dänisch, Norwegisch, Färöisch, Isländisch)
mit zweiter Lautverschiebung = Deutsch (ohne Niederdeutsch, also besser = Hochdeutsch, mit Einschluß der neuhochdeutschen Schriftsprache)
verschiedene Stufen des Durchführungsgrades der zweiten Lautverschiebung in den räumlich bestimmbaren Mundarten ( = sog. Rheinischer Fächer, vgl. unten S.134f.), außerdem etwas reduzierte Stufe des Durchführungsgrades in der neuhochdeutschen Schrift- oder Hochsprache
3.4.2. Sprachgeschichtliche Einordnung Die sprachgeschichtliche Betrachtung der zweiten oder hochdeutschen Lautverschiebung läßt indessen weitere Differenzierungen zu. Zunächst darf noch einmal betont werden, daß die Erscheinung als wichtiges Kenn-
Die zweite oder hochdeutsche Lautverschiebung
127
merkmal der Ausgliederung des Deutschen im engeren Sinn ( = Binnendeutsch) innerhalb des Südgermanischen zu gelten hat (vgl. Abschnitt 3.3.) und die durchgeführte Lautverschiebung eines der hauptsächlichen Strukturelemente des seit dem 8.Jahrhundert schriftlich-literarisch bezeugten Althochdeutschen, also der ältesten Stufe der deutschen Sprache, darstellt:
Südgermanisch
ohne Lautverschis >ung
Altenglisch Altfriesisch
Altsächsisch Altniederländisch (Altniederfränkisch)
nordseegermanische Spracheinheit des Frühmittelalters
mit L a u t v e r s c h i e b u n g teilweise
voll
teilweise
Mittelfränkisch Hochfränkisch (Rhein-, Südrhein- und Ostfränk.)
Oberdeutsch (Alem., Bair.), sog. Strengalthochdeutsch
Langobardisch (im 9. Jh. ausgestorben) südlich der Alpen in Oberitalien
binnengermanische Spracheinheit des Frühmittelalters Althochdeutsche Schreibdialekte
Innerhalb der germanischen Schreibdialekte des Frühmittelalters bleibt die zweite oder hochdeutsche Lautverschiebung auf das Althochdeutsche beschränkt. Die Verschiebung erfaßt, wenn auch mit ungleichem, verschieden reduziertem Anteil des Fränkischen, das gesamte Althochdeutsche, teilweise auch dessen südlichsten Ausläufer, nämlich das Langobardische in Oberitalien. Demnach handelt es sich bei der zweiten Lautverschiebung um eine übermundartliche, allgemeine Entwicklungstendenz des konsonantischen Lautsystems, welche allerdings im Oberdeutschen (nämlich im Alemannischen und Bairischen) qualitativ am stärksten und quantitativ am vollständigsten durchgeführt worden ist. Dies zeigt sich übrigens bis heute in den hochdeutschen Mundarten. Je nach den von der Lautverschiebung betroffenen harten Verschlußlauten t, p, k oder den weichen Verschlußlauten d, b, g des Südgermanischen sind zwei verschiedene Teilverschiebungen zu unterscheiden, nämlich die Tenuesverschiebung und die Medienverschiebung (vgl. dazu die Schemendarstellung Hochdeutsche Lautverschie-
bung,
ÜbersichtS.l28).
(a) Tenuesverschiebung So heißt die Verschiebung von voralthochdeutsch (spätgermanisch) p, t, k (außer in den Gruppen sp, st, sk, ht, ft, tr). Dabei werden im ganzen althochdeutschen Gebiet (außer mittelfränkisch die Pronomina thit, that, it, wat, allat ,dies, das, es, was, alles') germanisch t, p, k inlautend zwischen
Genealogie der deutschen Sprache
128
Hochdeutsche Lautverschiebung Übersicht
ITwuesverschiebung t / j f / k
>SS/5 ff,f dt im Inlaut/Auslaut nach Vokal 5./6.JH. N
6/m. pf
— • z / Z z
7/8. Jh. k^di/CkikjO
im Anlaut im Inlaut/Auslaut nadt Konsonant bei alter Goninatz iMcdim/ersüiktmng d/ fyg
f
v
\
8./9.JH. L__
^ nurimOberdmtsäim/ baMoMeutrpi__ j
Graphische Darstellung 17
Vokalen und auslautend nach Vokal zu den Doppelspiranten j j (dentaler s-Laut), f f , bh (cb) verschoben, die im Auslaut sowie nach Langvokal oder Diphthong auch im Inlaut oft zu 3 (dentales 5), f, h vereinfacht werden. Im einzelnen können chronologisch ungefähr unterschieden werden: 5./6. Jh. ff.
t > 33,3
6./7. Jh. ff.
p> f f , f
germ. * etan > ahd. e^an, nhd. essen (aber engl, eat) germ. * letan > ahd. läjan, nhd. lassen (aber engl, let) germ. * hu/ata > ahd. (h)waj (mfrk. wat), nhd. was (aber engl, what) germ. * opana > ahd. off an, nhd. offen (aber engl, open) germ. *slepan > a h d . släfan, nhd. schlafen (aber engl, sleep) germ. * skipa > a h d . skif, nhd. Schiff {aber engl, ship)
7./8. Jh.
k > hh, h germ. *makön > ahd. mahhön, nhd. machen (aber engl, make) germ. *tatkn- > a h d . zethhan, nhd. Zeichen (aber engl, token)
germ. *ik
> ahd. ih, nhd. ich (aber niederdt.-niederländ. ik)
Nach ihrer mundartlichen Ausbreitung komplizierter sind die Verschiebungsverhältnisse von voralthochdeutsch (spätgermanisch) t, p, k im Anlaut, im Inlaut und Auslaut nach Konsonant (l, r, m, n) und bei voralthochdeutscher (sog. westgermanischer) Verdoppelung (tt, pp, kk):
Die zweite oder hochdeutsche Lautverschiebung 5 ./6. Jh. ff. t > ζ
6./7. Jh. ff. p> pf
germ. ahd.: mittelfränk. rheinfränk. südrheinfränk. ostfränk. bair. alem. vgl. engl. 7./8.JH.
129
im ganzen ahd. Gebiet, mit Einschluß des Langobardischen germ *taikn- > ahd. zeihhan, nhd. Zeichen, mit neuem Sproßvokal in der Endsilbe (aber engl, token) germ. *holta- > ahd. bolz, nhd. Holz (aber engl, holt in Namen) germ. * hertön > ahd. herza, nhd. Herz (aber engl, heart) germ, sitjan > vorahd. * sittjan > ahd. sizzen, nhd. sitzen (aber engl, sit) germ. * sat/an > vorahd. * sattjan > ahd. sezzen, nhd. setzen, mit Primärumlaut (aber engl, set) (alemannisch teilweise >f) in folgender althochdeutscher Ausdehnung (wobei zusätzlich pf in einigen Wörtern nach l, r > / weiterentwickelt ist, z.B. ahd. helfan, werf an, dorf, nhd. helfen, werfen, Dorf):
p* plegan .pflegen*
PP "•apla,Apfel'
mp *kampa,Kampf
ip *gelpa,übermütig'
Φ "•scarpa,scharf
plegan
appul
kamp
gelp
scarp
plegan plegan
appul apful
gelpf, gelp gelpf
scarpf, scarp scarpf
pflegan pfleg/kan (p)fleg/kan
apful apful apful, afful
kamp kämpf (selten mp) kämpf champf, -f champf, -f
gelpf gelpf, -f gelpf, -f
scarpf scarpf scarpf
play
apple
camp
to yelp
sharp
k > kx (ch, cch, ck), im Oberdeutschen, alemannisch-althochdeutsch teils > χ (ch) weiter verschoben. Das Fränkische hat an dieser Verschiebung sozusagen nicht teil: germ. *korna- ,Korn', ahd. fränk. horn, obd. chorn, nhd. Korn germ. *folka- ,Volk', ahd. fränk. folk, obd. folch, nhd. Folk germ. *werka- ,Werk', ahd. fränk. werk, obd. werch, nhd. Werk germ. *wakra-,wacker', ahd. fränk. wakkar, obd. wackar (mit Gemination k> kk vor r), nhd. wacker germ. *queman ,kommen', ahd. fränk. queman, obd. chweman, alem. spätahd. chomen, nhd. kommen germ. *quekka- ,lebendig', ahd. fränk. quec, obd. chwek, -ch, alem. check, -ch, nhd. keck
Damit erhalten wir folgende Gesamtübersicht über die Tenuesverschiebung im Althochdeutschen (nach Stefan Sonderegger, Althochdeutsche Sprache und Literatur, Eine Einführung in das älteste Deutsch [Sammlung Göschen 8005], Berlin-New York 1974, S. 159):
130
Genealogie der deutschen Sprache Tenuesverschiebung 1-
k-
Ρ
t- -tt(-) -Kons. -t+t
-t
p-
-pp(-) mp
ip
Φ
-P(-)
k-
kk
-Kons. -k(-) +k
südgerm.- t vorahd.
tt
t
t
t
P
PP
mp
lp
Φ
Ρ
k
kk
k
k
asächs.
t
tt
t
t
t
Ρ
PP
mp
ip
Φ
Ρ
k
kk
k
k
mittelfrk. ζ
ζ
ζ
33 ! 3/t
Ρ
PP
mp
lp
Φ
f(f)
k
kk
k
ch
rheinfrk.
ζ
ζ
33
Ρ
PP
mp
lp/
φ/
f(f)
k
kk
k
ch
lpf
rpf
ζ
3
südrheinfrk.
ζ
ζ
ζ
33
3
Ρ
pf
mpf lpf
rpf
f(f)
k
kk
k
ch
ostfrk.
ζ
ζ
ζ
33
3
pf
pf
mpf lpf
rpf
f(f)
k
kk
k
ch
bair.
ζ
ζ
ζ
33
3
pf
pf
mf
lf
rf
f(f)
kx kx kx
ch
alem.
ζ
ζ
ζ
33
3
pf/f pf/ff
mf
lf
rf
f(f)
ch
kx
ch
ch
langob.
ζ
ζ
ζ
s(s)
s
Ρ
mpf lpf
rpf
p/f(f) k
kk
k/kx
ch
p(p)
Systematisiert und nach den berücksichtigten Positionen der betreffenden Laute in der Aufstellung oben ergibt sich folgende Staffelung der Tenuesverschiebung im Althochdeutschen:
Verschiebungsintensität
Sprache/Mundart
Verschiebung in Positionen
NichtVerschiebung in Positionen
keine Verschiebung
Altsächsisch Altniederfränkisch (sowie übrige nordseegermanische und skandinavische Sprachen)
0
15
stark reduzierte Verschiebung
Mittelfränkisch
6 + 1 teilweise
8 + 1 teilweise
teilweise Verschiebung
Rheinfränkisch Südrheinfränkisch Ostfränkisch
7 + 2 teilweise 11 12
6 + 2 teilweise 4 3
Die zweite oder hochdeutsche Lautverschiebung
131
volle Verschiebung volle Verschiebung mit Extremwerten
Bairisch Alemannisch
15 15
0 0
teilweise Verschiebung
Langobardisch
9 + 2 teilweise
4 + 2 teilweise
Die inneren Phasen der Tenuesverschiebung sind besonders durch Herbert Penzl und Gotthard Lerchner — für die erste oder germanische Lautverschiebung durch Jean Fourquet - näher beleuchtet worden (siehe Literaturhinweise S. 140). Danach ist zunächst eine Aspirationsstufe *th *ph *kh anzusetzen, welcher eine Allophonphase mit der Doppelheit lockerer Verschlußbildung ( * Z , *F, *X: später Reibelaute) neben festerer Verschlußbildung (*t h , *ph, *kh: später Affrikaten) folgte, aus der als Endstadium durch Phonematisierung die beiden stellungsbedingten Lautpaare der Reibelaute (33> ff> hh [ch]) und Affrikaten (tz, pf, kch) entstanden. Damit ergibt sich folgendes Entwicklungsschema (H. Penzl, revidiert durch G. Lerchner, hier leicht verändert): (1) Anfangsstadium (durch Sprachvergleich erschließbar) (2) Aspirationsstufe (erschlossen) (3) Allophonphase (erschlossen)
Vi/
*/k/
*/p/
ΊΛί]
h
•[Z,
'[x,kh]
[kh,k]
th] / * p p f >
(4) Endstadium (durch Sprachdenkmäler belegt)
Iffl
*pf
^Tpft
/*kkx>*kx Ihhl
^7kV
oder/kch/
Wie oben S. 127 kurz angedeutet, entziehen sich die Tenues in den folgenden Lautverbindungen der hochdeutschen Lautverschiebung überhaupt: germ, germ, germ, germ, germ, germ,
sp st sk ht ft tr
ahd. spil, nhd. Spiel, entsprechend niederl. spei ahd. stein, nhd. Stein, entsprechend niederl. steen, engl, stone ahd. seilt, nhd. Schild, entsprechend niederl. schild, engl, shield ahd. naht, nhd. Nacht, entsprechend niederl. nacht, engl, night ahd. kraft, nhd. Kraft, entsprechend engl, craft ahd. trost, nhd. Trost, entsprechend niederl. troost, engl, trust ahd. bittar, nhd. bitter ( < germ. *bitra, vgl. got. baitrs), entsprechend niederl. engl. bitter
Spätere Ausgleichsvorgänge innerhalb der neuen, durch die Tenuesverschiebung entstandenen Laute liegen in folgenden Fällen vor: nhd. Münze, mhd. münze, aber ahd. muni^a < lat. moneta; nhd. Pilz, mhd. bülz neben büle3, ahd. buli^< lat.(-griech.) boletus;
132
Genealogie der deutschen Sprache
nhd. Binse, daneben frühnhd. bintze, mhd. bine3, bin3, ahd. binu5 < germ. *binut-. Hier kam 3 < t sekundär nach Konsonant zu stehen, so daß ein Übergang zur Affrikate ts (z) möglich wurde. (b) Medienverschiebung So heißt die Verschiebung von voralthochdeutsch (spätsüdgermanisch) d, b, g > t, p, k (c) seit dem 8. Jh. Dieser Teil der Verschiebung hat seinen deutlichen Schwerpunkt im Oberdeutschen, doch ergibt sich auch hier eine gewisse Staffelung bis ins Fränkische. Am weitesten verbreitet ist die Verschiebung d > t, die — außer bei d nach Konsonant — auch neuhochdeutschschriftsprachlich durchgeführt worden ist: *dohter ,Tochter'
*faöar ,Vater'
*binöan .binden'
althochdeutsch: mittelfränk. rheinfränk. siidrheinfränk. ostfränk. bair. alem.
dohter dohter dohter tohter tohter tohter
fader fader fater fater fater fater
bindan bindan bintan bintan p/bintan p/bintan
vgl. engl.
daughter
father
to bind
germ.
|
*biöjan ,bitten'
|
bidden bitten bitten bitten p/bitten p/bitten to bid
Sozusagen nur auf das Oberdeutsche beschränkt (mit breiter Vertretung im Bairischen, auch mittelhochdeutsch) ist die Verschiebung von b > p (z.B. ahd. mittelfränk. bodo, leven, selvo, lembir, sibba, gaf; sonst ahd. fränkisch bodo/boto, leben, selbo, lembir, sibba, sippa, gab; oberdeutsch ahd. zumeist lepen, selpo, lempir, sippa, gap ,Bote, leben, selb[st], Lämmer, Sippe, gab'). Selbst oberdeutsch nicht durchgehend ist die Verschiebung g > k (z.B. ahd. fränk. biogan, obd. piugan, piukan ,biegen'; ahd. fränk. geban, obd. keban, kepan ,geben'; ahd. fränk. huggen, obd. hucken, -an ,denken'). Inlautende p sind bairisch häufig, aber auch alemannisch verbreitet. Die Medienverschiebung wird im späteren Althochdeutschen weniger deutlich faßbar als im 8./9.Jh. Spätalemannisch wird inl. nt > nd erweicht (Notker von St. Gallen). Doch ist auch Notkers Anlautgesetz (um 1000) durchaus auf dem Hintergrund der Medienverschiebung zu sehen, sozusagen als phonetische Stilisierung der b> p- und g > ^-Verschiebung in der gesprochenen Sprache: im Anlaut (auch zweiter Kompositionsglieder) wechseln b-p ( = normal-ahd. b), g-k (= normalahd. g), d-t(= normalahd. th, d < germ, p) so, daß p, k, t am Anfang eines Satzes oder Satzteiles stehen, ferner im Satz nach stimmlosen Lauten; b, g, d nach stimmhaften Lauten (= Vokale und l, r, m, n). Fest ist dabei freilich das auch teilfränkisch verschobene t- < vorahd. d- (etwa tag ,Tag'). Damit erhalten wir folgende Gesamtübersicht über die Medienverschiebung im Althochdeutschen (nach Stefan Sonderegger, Althochdeutsche Sprache und Literatur,
Die zweite oder hochdeutsche Lautverschiebung
133
Eine Einführung in das älteste Deutsch [Sammlung Göschen 8005], Berlin — New York 1974, S.162) - sie zeigt ein weniger einheitliches Bild in den einzelnen Mundarten als die Tenuesverschiebung - : Medienverschiebung A
8
südgerm.- dvorahd.
-d(-) Kons, -dd+d
b-
-b(-) -mb(-)
-bb-
g"
-a(-) -ng(-) -gg-
asächs.
δ, -d ö, d
dd
b
b, -f mb
bb
g
a.-g
n
g
gg
mittelfrk. d
d,-t d
dd
b
v,-f
mb
bb
g
g
ng
gg
rheinfrk.
d,-t d
tt
b
b
mb
bb/pp
g
g
ng
gg
südrhein- d frk.
t
t
tt
b
b
mb
bb
g
g
ng
gg
ostfrk.
t
t
t
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3.4.3. Zur räumlichen Staffelung Zunächst lehrt die geschichtliche Analyse der zweiten Lautverschiebung für die althochdeutsche Zeit bereits eine räumliche Staffelung vom ersten Auftreten der Erscheinung an in den Mundarten oder Schreibdialekten des ältesten Deutsch, wie wir bereits oben in Abschnitt 3.4.2. gesehen haben. Eine Übersicht über die Gesamtwirkung der hochdeutschen Lautverschiebung in althochdeutscher Zeit (8.—11. Jh.) zeigt das folgende Bild gestaffelter Durchführung von Süden (unten) nach Norden (oben): Tenuesverschiebung
Sprache/Mundart
Medienverschiebung
keine
Altsächsisch
keine
stark reduziert teilweise Verschiebung
voll voll extrem teilweise
t Mittelfränkisch Rheinfränkisch Südrheinfränkisch Ostfränkisch Bairisch 1 • Alemannisch Langobardisch
t vereinzelt (-d > -t) stark reduziert teilweise Verschiebung < • voll extrem voll eingeschränkt ^ teilweise
134
Genealogie der deutschen Sprache
Räumlicher Ausgangspunkt der hochdeutschen Lautverschiebung scheint das Alemannische für die Tenuesverschiebung, das Bairische für die Medienverschiebung gewesen zu sein, so daß man von einer oberdeutschen Lautverschiebungskernlandschaft sprechen darf, die nach Norden ins Fränkische und etwas auch nach Süden ins Langobardische ausstrahlt, soweit nicht gemeinsame Entfaltungstendenzen wirksam waren. Jedenfalls haben sich die einzelnen Lautverschiebungsgrenzen innerhalb des Fränkischen und Mitteldeutschen im Laufe der Jahrhunderte von der althochdeutschen Zeit bis zu den Mundarten der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert merklich nach Norden verschoben. Da das Langobardische im 9./1 O.Jahrhundert der Romanisierung erliegt, kann die allenfalls weitere Ausbreitung der Erscheinung dort nicht mehr verfolgt werden. Die Kerndialekte der Lautverschiebung in althochdeutscher Zeit, Alemannisch und Bairisch (zusammen das Oberdeutsche), hat man früher mit Jacob Grimm als Strengalthochdeutsch, d.h. Althochdeutsch im engeren, strengen Sinn, bezeichnet, weil eben hier die Kennmerkmale des Hochdeutschen am deutlichsten zu Tage treten. Mit der hochdeutschen Lautverschiebung wird die dialektgeographische Staffelung der hochdeutschen Mundarten im Konsonantismus maßgeblich begründet und eines der wichtigsten Gliederungskriterien für den internen Aufbau der deutschen Sprachlandschaft gewonnen. Zunächst scheidet im Norden das Niederdeutsch aus, die geschichtliche Fortsetzung des Altsächsischen (mit bedeutender Siedlungserweiterung nach Osten hin), welche aber stark vom hochdeutschen (besonders mitteldeutschen) Süden her beeinflußt worden ist. Mehr und mehr tritt der sprachlich ursprünglich nach dem Nordseegermanischen ausgerichtete Norden Deutschlands im Verlauf des Mittelalters und der Neuzeit unter hochdeutschen Einfluß, ohne jedoch an der Lautverschiebung teilzuhaben, von einer langsamen Verlagerung der k/ch-Grenzen von Süden nach Norden {ik/icb- und tnaken/machen-Linien, teilweise zusammenfallend) abgesehen. Die fächerartige sprachgeographische Aufgliederung der hochdeutschen Mundarten in den Rheinlanden durch verschiedene Lautverschiebungsgrenzen hat man bildnerisch den Rheinischen Fächer genannt. Dieser Fächer setzt sich aber über den Oberrhein und Schwarzwald bis in die deutsche Schweiz hinein fort. So bietet sich besonders im Westen und Südwesten des deutschen Sprachgebiets (Rheinlande, Oberrhein-Schwarzwald-Bodensee, deutsche Schweiz) die hochdeutsche Lautverschiebung der Tenues als areallinguistisches Gliederungsmerkmal des Mundartbereichs an, mittels dessen sich die größeren Gruppen des Fränkischen und Alemannischen untergliedern lassen (dazu die Aufstellung Die hochdeutsche Lautverschiebung als Gliederungsmerkmal mundartlicher Sprachräume S. 135 sowie die Karte Deutsches Sprachgebiet nach Otto Behaghel am Schluß dieses Bandes). Was die Vertretung der hochdeutschen Lautverschiebung in der neuhochdeutschen Schriftsprache angeht, ist sie bei germanisch t und p voll-
135
Die zweite oder hochdeutsche Lautverschiebung
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136
Genealogie der deutschen Sprache
ständig durchgeführt, bei k jedoch nur teilweise, nämlich in- und auslautend nach Vokal (ich, machen gegen niederdeutsch ik, maken), jedoch nicht im Anlaut (Kind, Kopf) und nicht nach Konsonant (denken) sowie in alter Geminate (Acker, nackt). Scheinbare Ausnahmen lassen sich durch eine sprachgeschichtliche Analyse erklären {Milch, ahd. miluh< germ. *meluk,das Gemolkene', somit k nach Vokal), oder sie sind Lehngut der Schriftsprache aus dem Niederdeutschen (z.B. Pegel ,Wasserstandsmarke') oder auch aus dem Lateinisch-Romanischen seit der Zeit nach durchgeführter Lautverschiebung (z.B. Pein, ahd. pina < lat. pena, poena,Höllenstrafe'). Bei Lehnwörtern aus dem Lateinisch-Romanischen stehen oft Formen mit durchgeführter Lautverschiebung neben solchen ohne Lautverschiebung, was auf zeitlich verschiedener (älterer neben jüngerer) Entlehnung beruht (Pforte, ahd. pforta neben Porte, ahd. porta, beide aus lat. porta; daneben lat. porticus > ahd. pforzih, forzih ,Vorhalle' mit allen drei verschobenen Tenues).
3.4.4. Vergleich zwischen der germanischen und hochdeutschen Lautverschiebung Der typologische Zusammenhang zwischen der ersten oder germanischen und der zweiten oder hochdeutschen Lautverschiebung ist der germanistischen Sprachforschung seit Jacob Grimms Deutscher Grammatik, Band I, Göttingen 2 1822, voll bewußt. Obwohl die beiden Lautverschiebungen nicht völlig identisch sind, lassen sie sich in wesentlichen Teilen vergleichen. Beide Lautverschiebungen sind entscheidend sprachausgliedernd, die erste oder germanische im 1.Jahrtausend v.Chr. für das Germanische gegenüber dem Indogermanischen, die zweite oder hochdeutsche für das Deutsche gegenüber dem Germanischen: Indogermanisch erste Lautverschiebung (l.Jhts. v.Chr.) übrige indogermanische Sprachen
Germanisch
zweite Lautverschiebung (etwa 5.-8./9. Jh.) übrige germanische Sprachen
Deutsch (vgl. oben S. 126 ff.)
137
Die zweite oder hochdeutsche Lautverschiebung
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138
Genealogie der deutschen Sprache
Bei einer Analyse der sprachgeschichtlichen Entwicklung des Konsonantensystems vom Indogermanischen zum Germanischen sowie vom Germanischen zum Deutschen, wie wir sie auf dem beigegebenen Schema S. 137 (Die sprachgeschichtliche Entwicklung des Konsonantensystems vom Indogermanischen zum Deutschen) aufgezeichnet haben, fallen vor allem die grundsätzlich gleichgerichteten Veränderungsvorgänge Tenues (harte Verschlußlaute) —> Spiranten (Reibelaute) und Mediae (weiche Verschlußlaute) —> Tenues (harte Verschlußlaute) auf. Freilich ist das Ergebnis der zweiten oder hochdeutschen Lautverschiebung differenzierter, doch geht ein gut Teil dieser Differenzierung auf die verschiedene einzellandschaftliche Ausformung zurück. Bei einem Vergleich erste/zweite Lautverschiebung angewendet auf das Verhältnis Germanisch/Oberdeutsch (oder Strengalthochdeutsch) wird die Parallelität noch deutlicher: idg. b,d,g
> germ, p, t, k > oberdeutsch f ( f ) , 3(3), ch
idg. p,t,k
> germ, f, p, χ
> oberdeutsch pf (z.T. > f ) , tz, kch > germ, ft, d, g (grammatischer Wechsel, S. 75 ff.)
m
germ. b,d,g>
ttt
oberdeutsch p, t, k
idg. bh, dh, gh > germ, b, d, g
So kann man sagen, daß die zweite oder hochdeutsche Lautverschiebung, welche das Deutsche seit vor- und frühalthochdeutscher Zeit so entscheidend von den übrigen germanischen Sprachen hat wegentwickeln lassen, nichts anderes ist als die Wiederholung des gleichen Veränderungsprinzips, wie es schon in der gegen tausend Jahre vorausgehenden ersten oder germanischen Lautverschiebung im Übergang Indogermanisch-(Alteuropäisch)Germanisch wirksam war, übrigens mit fast gleichen Ausnahmen (vgl. dazu die Aufstellung Vergleich zwischen der germanischen und hochdeutschen LautverschiebungS. 139). Man vergleiche etwa die Beispiele: Indogermanisch
1. Lautverschiebung
2. Lautverschiebung
idg.
*pöd-
> germ.
> ahd. /woj, nhd. Fuß
lat.
pes, pedis
griech.
πους, ποδός
idg.
*bhräter
lat.
fräter
griech.
φρατηρ, -ωρ
idg.
*agros
lat. griech.
ager άγρός
idg.
*gyenä
griech.
γυνή
*föt-
gotisch
fötus
engl.
foot
> germ.
*bröpar
gotisch
bröpar
engl.
brother
> germ. gotisch
*akraz akrs
engl.
acre
> germ.
*kyenö
gotisch altengl.
qinö cwene
engl.
Queen
> ahd. bruodar (mit p> aber oberdt. pruodar
d), (mit Medien-
verschiebung b > p), nhd. wieder Bruder > ahd. ahhar (neben ackar < alem. acher, nhd. Acker > ahd. qttena, oberdt. (alem.) chetta ,Frau'
akkra-),
139 11 1 Ii ι f •1 II ι I|| * iI $ I I§ 11 ι II I§ I ^ I ι2^ I Ä ι1 %κ s 41 I ι I £ II ι/ τ Ii II I I ι il t luI 1 I 1§ Η lls § 1 I Τ | ^ I /\ Τ τΤ I ι I f I | Η !§ a1 tI II ίI I ^ΜL I it Ii I 1 Ia Iι. I »Ii I Die zweite oder hochdeutsche Lautverschiebung
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140
Genealogie der deutschen Sprache
Sprachtypologisch bedeuten beide Lautverschiebungen den Übergang zu grundsätzlich neuen Oppositionsverhältnissen im Konsonantensystem. Während die erste oder germanische Lautverschiebung — zusammen mit dem grammatischen Wechsel (siehe Abschnitt 3.2.2.2.) — das für die germanischen Sprachen zunächst neue und wichtige Oppositionsverhältnis stimmlos/stimmhaft begründet, entsteht durch die zweite oder hochdeutsche Lautverschiebung ein neues Oppositionsverhältnis Verschlußlaut/Reibelaut bzw. Affrikate (Tenuesverschiebung) sowie hart/weich (Medienverschiebung), während die Opposition stimmlos/stimmhaft stark zurücktritt. Die im Germanischen ursprünglich der Opposition stimmlos/stimmhaft zugeordneten Fälle des paradigmatischen grammatischen Wechsels werden durch die Wirkung der hochdeutschen Lautverschiebung (Medienverschiebung) neu der Opposition weich/hart unterstellt: germ. Itpan,gehen', Praet. Sg. laip, PI. lidutn, Part. Praet. galidan ahd. ltdan,leiden', Praet. Sg. leid, PI. litum, Part. Praet. gilttan nhd. leiden, Praet. Sg. litt, PI. litten, Part. Praet. gelitten germ. Opposition p/d = stimmlos/stimmhaft ahd. nhd. Opposition d/t — weich/hart Die schwierige Frage nach den Ursachen der beiden Lautverschiebungen ist trotz mancher Versuche noch keineswegs auch nur annähernd überzeugend beantwortet worden. Die Erklärungsversuche schwanken zwischen äußeren (ethnologischen, physiologischen und klimatischen) und inneren (systembedingten) Ursachen. Für die zweite oder hochdeutsche Lautverschiebung wird man bedenken müssen, daß sie bei den Alemannen und Baiern im wesentlichen auf frühmittelalterlichem Neusiedlerboden erwachsen ist, wo Einflüsse von inkorporierten Substratsprachen (Keltisch, Romanisch) nicht auszuschließen sind. So ist es mindestens nicht abwegig, an eine Systembeeinflussung zu denken, die wesentliche Anstöße von außerhalb des Germanischen aufgenommen hat. Doch müßten die einzelnen Schritte eines solchen Vorgangs genauer nachgewiesen werden. Literaturhinweise zu Abschnitt 3.4. Die reiche Fachliteratur zur zweiten (und teilweise auch zur ersten) Lautverschiebung ist berücksichtigt bei Gotthard Lerchner, Zur II. Lautverschiebung im Rheinisch-Westmitteldeutschen (Mitteldeutsche Studien 30), Halle (Saale) 1971 (hier Probleme der Forschung S. 1 3 - 4 2 und Literaturverzeichnis S. 343—362), diejenige zur ersten Lautverschiebung bei Richard Schrodt, Die germanische Lautverschiebung und ihre Stellung im Kreise der indogermanischen Sprachen (Wiener Arbeiten zur germanischen Altertumskunde und Philologie Bd. 1), Wien 1 9 7 3 . An neueren Darstellungen der zweiten (und z.T. auch ersten) Lautverschiebung sind zu nennen: J[ean] Fourquet, Les mutations consonantiques du Germanique, Essai de position des problemes (Publications de la Faculte des Lettres de l'Universite de Strasbourg, Fascicule 111), Nouveau Tirage Paris 1956. - Hugo Moser, Zu den beiden Lautverschiebungen und ihrer methodischen Behandlung, Der Deutschunterricht 6, 1954, 5 6 - 8 1 . - Herbert Penzl, Die Phasen der ahd. Lautverschiebung, Taylor Starck Festschrift, The Hague 1964, 27—41. Herbert Penzl, Lautsystem und Lautwandel in den althochdeutschen Dialekten, München 1971 (hier § 16 und § 17 sowie Tabelle III).
Die Anfänge einer deutschen Sprachgeschichte
141
3.5. Die Anfänge einer deutschen Sprachgeschichte
Die Frage nach den Anfängen einer deutschen Sprachgeschichte ist nach folgenden Kriterien zu messen: 3.5.1. Der überlieferungsgeschichtliche Aspekt Das Eintreten der deutschen Sprache in das Licht der schriftlichen Überlieferung vollzieht sich in einer uneinheitlichen, ja gegensätzlichen Entwicklung. Einerseits findet die bei Beginn der schriftlichen Uberlieferung bereits auslaufende und absterbende altgermanische Form- und Dichtungstradition noch vereinzelt und wenig zusammenhängend Eingang in die geschriebene Gestalt des Deutschen, andererseits setzt mit dem 8. Jahrhundert die Aufzeichnung eines frühmittelalterlichen christlichen Schrifttums ein, die bald nach allen Seiten von Recht, Bildung und Zeitgeschichte erweitert wird. Man darf dies schematisch so darstellen:
6. Jh.
spätes 8. Jh.
auslaufende altgermanische Schrifttradition der Runeninschriften vereinzeltes Einfinden altgermanischer Formtraditionen in die neue Schriftlichkeit des Althochdeutschen ^ 9.Jh. (Runeninschriften des 6./7. Jh., Zaubersprüche und Stabreimdichtung des 9. Jh.) Neubeginn eines klostergebundenen Kirchen- und Bildungsschrifttums 11. Jh. (Glossierung; katechetische, biblische, schulliterarische und rechtliche Ubersetzung; christliche Dichtung, Segenssprüche, historisch-zeitgebundene Dichtung)
Schriftgeschichtlich geht es dabei um die Ablösung der auf altgermanisch-magisch-kultische oder schon christlich-weihevolle Inschriften beschränkten Runenüberlieferung auf losen Gegenständen durch die neue, von der lateinischen Tradition her bestimmte Buch- und Urkundenschrift der klösterlichen Schreibschulen und geistlichen wie weltlichen Kanzleien, die sich zunehmend auch der volkssprachlichen Uberlieferung annehmen. An der ausgehenden Runentradition des 6.Π. Jahrhunderts haben durch gesicherte Inschriften alle für die Herausbildung des Deutschen wichtigen Stammesgruppen noch Anteil: die Franken (8 Inschriften), die Thüringer (4 Inschriften), die Alemannen (17 Inschriften), die Baiern (1 Inschrift) und selbst die Langobarden (3 Inschriften). Aber schon im 9. Jahrhundert besteht nur noch ein antiquarisches Interesse an den Runen, die jenseits eines wirklichen Gebrauches stehen. So hat der spätere Reichenauer Abt Walahfrid Strabo (808/809—849) in seinem Vademecum (Codex Sangallensis 878) das althochdeutsch-altsächsisch-altnordische Mischgedicht Abcdarium Nordmannicum in Fulda aufgezeichnet, Merkverse über die jüngere nordische Runenreihe in Stabform, oder es finden sich noch Runenreihen in Handschriften (sog. Runica manuscripta) im Rahmen antiquarischer Zusammenhänge.
142
Genealogie der deutschen Sprache
Insgesamt sind die Anfänge des Deutschen aber so gut wie völlig an die neue Schriftlichkeit der Klöster und Domschulen gebunden, in denen seit dem 8. und besonders im 9. Jahrhundert bedeutende Bibliotheken entstanden (vgl. dazu die Karte Die Hauptorte althochdeutscher Überlieferung S. 143). Erst auf diesem Hintergrund konnte es zur Ausbildung frühdeutscher, d. h. althochdeutscher Schriftdialekte und Schreibsprachen kommen. Schematisch läßt sich dieser Vorgang so darstellen: S!idgermanische Stammesdialekt» germanische Runenzeichen —
6./7. Jh.
Einfinden in die frühmittelalterliche lateinische Schrifttradition
8-/9. Jh.
Adaptation der lateinischen Buch- und Urkundenschrift für die frühdeutsche Volkssprache: Entstehung der althochdeutschen Schriftdialekte und Schreibsprachen in den klösterlichen Schreibschulen
auslaufende Runeninschriften der Franken, Thüringer, Alemannen, Baiern und Langobarden
Die entscheidenden Klostergründungen vollziehen sich dabei im Rahmen von Mission und fränkischer Reichsgeschichte, wobei sich seit dem 7. Jahrhundert für den Aufbau der Scriptorien und Bibliotheken auch Verbindungen über die Alpen zu Norditalien ergeben. Im frühalthochdeutschen Raum sind die folgenden Missionsbewegungen festzustellen: — die irische Mission seit 600 mit den Glaubensboten Kolumban (611 in der nördlichen Schweiz und im Bodenseegebiet [Bregenz]), Gall oder Gallus (612 in St. Gallen), Kilian in Würzburg (gest. 689), Korbinian in Freising (gest. 725), Rupert in Salzburg (gest. 710) — die angelsächsische Mission seit 700 mit Bonifatius (gest. 754), besonders im Raum Mainz, Fulda (744), Würzburg (748) — die westgotisch-fränkische Mission im 8. Jahrhundert mit Pirmin (gest. 753) auf der Reichenau (724, von da aus durch Pirminsmönche 741 Niederaltaich) und in Murbach (727), sowie die Tätigkeit des fränkischen Wanderbischofs Heimhram oder Emmeram (gest. um 715) in Regensburg. Auch für das Altsächsische, die nördliche Nachbarsprache des Althochdeutschen im Nordwesten des heutigen deutschen Sprachgebiets, lassen sich für das 8. bis 12. Jahrhundert Schreiborte oder Scriptorien bestimmen
Die Anfänge einer deutschen Sprachgeschichte
143
Graphische Darstellung 21
(vgl. dazu die Karte Die Schreiborte der altsächsischen Überlieferung S. 144): ihr Schwerpunkt liegt zunächst im Ruhr- und Weserraum, reicht aber ostwärts bis zur mittleren Elbe und greift auch bereits bis gegen die Nordund Ostsee aus. Zwei widerstreitende Tendenzen kennzeichnen die erste Sprachstufe des Deutschen, die althochdeutsche Zeit, was ihre volkssprachliche Schriftlichkeit betrifft. Einerseits erwächst jede schriftliche Aufzeichnung althochdeutscher Sprache aus den Stammesmundarten der Rheinfranken, Ostfranken, Alemannen und Baiern heraus, die das sprachgeographische Gefüge des ältesten Deutsch ausmachen. Andererseits gehen die wesentlichen Impulse zu volkssprachlich geschriebenen Denkmälern im älteren Althochdeutschen von der Zentralgewalt des ostfränkischen Reichs aus, von Karl dem Großen nämlich, der damit die erste Einigungsphase der deutschen
144
Genealogie der deutschen Sprache
Graphische Darstellung 22
Die Anfänge einer deutschen Sprachgeschichte
145
Sprache einleitet, was durch die nahe sprachliche Verwandtschaft der daran beteiligten Stammesdialekte erleichtert wird. In diesem Widerstreit ist das Verhältnis zwischen Mundarten und Schreibsprachen durch die gesamte althochdeutsche Zeit zu sehen, wobei sich hintergründig außerdem das Lateinische als Vorbild geschlossener und normierter Schriftlichkeit im Sinne eines übergreifenden Bildungsmediums manifestiert, von dem durch Lehneinflüsse außerdem gesamtalthochdeutsche Einigungstendenzen ausgehen: Grundmedium Volkssprache
in der Dialektgebundenheit seiner Schreibsprachen
Bildungsmedium Latein als Vorbild normierter Schrift- und Literatursprache, als Grundsprache vieler Ubersetzungen und als Basis eines neuen Lehn- und Fremdwortschatzes
als teilweise vereinheitlichtes und zunehmend übergreifendes Deutsch
aus Gründen der engen Sprachverwandtschaft seiner Stammesmundarten
durch staatlichkirchliche Sprachlenkung (Karl d. Gr.)
durch gemeinahd. Spracheinflüsse aus dem Latein im einzelnen
Daraus ergeben sich seit dem späten 8. Jahrhundert die althochdeutschen Schriftdialekte oder mundartlichen Schreibsprachen, in welche während der ganzen althochdeutschen Sprachzeit bis über die Mitte des 11. Jahrhunderts zunehmend übergreifende Sprachmerkmale aus allen sprachlichen Teilsystemen hineinwachsen, die letztlich das Altfränkische und seine Untergruppen, das Altalemannische und das Altbairische zum Althochdeutschen, d.h. eben zum Deutschen im übergreifenden Sinn werden lassen. Ähnliches ließe sich für das Altsächsische des 8. bis 12. Jahrhunderts formulieren, wo jedoch zwei besondere Merkmale hervorzuheben sind: der aus dem älteren nordseegermanischen Zusammenhang heraus verständliche Einfluß der altenglischen stabreimenden, aber bereits christlichen Dichtungstradition auf die altsächsische Bibelepik des 9. Jahrhunderts auf der einen Seite, ein stil- und literaturgeschichtliches Phänomen; sodann der zunehmende fränkisch-althochdeutsche Einfluß seit den Sachsenkriegen Karls des Großen und der von Mainz ausgehenden Sachsenmission. So steht das Altsächsische zwischen alter nordseegermanischer Ausrichtung und neuer fränkisch-deutscher Beeinflussung, woneben wie im Althochdeutschen die Einwirkung des Bildungsmediums Latein von großer Bedeutung wird.
146
Genealogie der deutschen Sprache
3.5.2. Der siedlungsgeschichtliche Aspekt In voralthochdeutscher und frühalthochdeutscher Zeit vollzieht sich die räumliche Konsolidierung der südgermanischen Binnenstämme zu seßhaften, staatsbildenden Verbänden, die mehr und mehr zu systematischer Rodung übergehen und innerhalb der großen Landstriche, die sie einnehmen, neue Siedlungszonen zu erschließen beginnen (vgl. oben Abschnitt 3.1., S. 59ff.). Noch in althochdeutsche Zeit hinein fallen dabei die folgenden Siedlerbewegungen: (a) die alemannische Einwanderung in die deutsche Schweiz seit der 2. Hälfte des 5. Jh., besonders aber im Verlaufe des 6., 7. und 8. Jh., was zur Begründung der sogenannten althochdeutschen Schweiz geführt hat; (b) die Durchdringung des bairischen Alpenraums mit althochdeutsch sprechenden Siedlern, wobei die bairischen Alpenklöster eine wichtige geschichtliche Stellung einnehmen; (c) der Beginn der Erschließung Österreichs durch die Baiern von Passau aus donauabwärts und über die Enns, besonders seit dem Avarensieg Karls des Großen von 791. Das österreichische Gebiet tritt seit frühmittelhochdeutscher Zeit sprachlich in Erscheinung; (d) der Beginn der sogenannten deutschen Ostsiedlung vom Ostfränkischen über das Gebiet von Fulda hinaus ins thüringische (althochdeutsch wenigstens durch Runeninschriften und Namen vertreten) und sächsische Gebiet hinein, die sich später als deutsche Ostkolonisation ab etwa 1100 verstärkt und geographisch noch weiter ausgreift. Die Erschließung der übrigen Siedlungszonen liegt der althochdeutschen Zeit voraus - so die alemannische Einwanderung ins Elsaß bis an die Vogesen seit dem 4. Jh., wenn es auch in althochdeutscher Zeit noch zu weiterer Siedlungsdurchdringung kommt. Dieser Befund ist für die zeitliche Einstufung des ältesten deutschen Ortsnamenmaterials von Bedeutung, für welches das Althochdeutsche die ältesten Siedlungsnamentypen überliefert, vor allem die Namenschichten auf -ingen (ahd. Dat. PI. -ingun, patronymisches Zugehörigkeitssuffix, das an Personennamen antritt) -beim (Grundbedeutung ,Siedlung, Dorf', vgl. got. baims ,Dorf'), ferner auf -dorf (ahd. tborf, dorf), -hofen (ahd. Dat. PI. -hofun), -inghofen (ahd. Dat. PI. -inghofun, an Personennamen antretend), -Stetten (ahd. Dat. PI. -stetin), -weil(er)/wtl(er)/wtr (ahd. wtlari < lat. rom villare ,Hofgruppe, Gehöft', meist an Personennamen antretend) usw. Hand in Hand damit vollzieht sich im ganzen althochdeutschen Sprachraum die z.T. mit starken Umdeutungen verbundene Eindeutschung der alten vordeutschen Siedlungs-, Landstrichs- und Flußnamen, z.B. Maguntiäcum > ahd. Maginza, Meginza (Mainz), Ratisbona > Reganesburg (Regensburg), Turtcum > ahd. Ziuricb(e) (Zürich), Danubius > ahd. Tuonouwa (Donau) u. ä.
Die Anfänge einer deutschen Sprachgeschichte
147
Die siedlungsgeschichtlichen Bewegungen der althochdeutschen Sprachträger, die den Grund zur späteren Verbreitung des Deutschen in Mitteleuropa gelegt haben, lassen sich wie folgt veranschaulichen: Altsächsisch (ränkische Beeinflussung
fränkische -Ostsiedlung (Thüringen, Sachsen)
Fränkisch Althochdeutsch Alemannisch
alemannische Südwanderung (deutsche Schweiz, Vorarlberg) *
Bairisch
bairische Süd- ·"' und Südostwanderung (Österreich, Südtirol)
seit um 1 1 0 0 deutsche Ostkolonisation verschiedener Stämme in mittelhochdeutscher und mittelniederdeutscher Zeit
t
weitere Südwanderung von Alemannen und Baiern, nämlich: hoch- und Spätmittelhoch- und spätmittelalterliche alterliche Walserbairische Sprachinseln im Wanderung in den italienischen und slavischen Zentralalpen und Gebiet südlich der Ostalpen unmittelbar südlich in mittelhochdeutscher Zeit davon in mittelhochdeutscher Zeit
3.5.3. Der kulturgeschichtliche Aspekt Mit dem Eintreten eines geschriebenen Deutsch in die handschriftliche Überlieferung seit dem 8. Jahrhundert ist bereits ein sprachgeschichtlicher Verwandlungsprozeß eingeleitet, welcher die bäuerlich bestimmten südgermanischen Stammesdialekte des Binnenlandes über das Medium der lateinischen Bildungstradition zur neuen Kultursprache der althochdeutschen Schreibsprachen führt (vgl. dazu die Aufstellung Der kultursprachliche Aspekt in der deutschen Sprachgeschichte S. 148). So stehen, um eine Formulierung von Theodor Frings zu gebrauchen, Antike und Christentum an der Wiege der deutschen Sprache. Dadurch kommt es vor allem in der Lexik, d.h. im Aufbau des Wortschatzes, ferner in der Syntax, die vom Übersetzen aus dem Lateinischen her bestimmt wird, zu tiefgreifenden Veränderungen in der werdenden deutschen Sprache oder im Frühalthochdeutschen. Als wichtigste Erscheinungen dieses Verwandlungsprozesses, der grundsätzlich die ganze althochdeutsche Sprachgeschichte bis zum 11. Jahrhundert bestimmt, sind zu nennen:
148
Genealogie der deutschen Sprache
PerkuttunpradiMeAspekt inderjrühdeut5(henSpi2(hgü(hi(h^ 4Jh.ff.
Südgermnisdte Stammesdialekte rein bäuertiche Sprache mit sikmlen Elementen mit dichterischen Elementen (Heldendichtung)
Lateinische Mdungstradition: Christentum und Antike//Mission /
8. Jh.ff. neue Kulturspmdie Althochdeutsche Schreibspradien/Sdireibdialektz Graphische Darstellung 2 3
(a) Der grundlegende Einfluß des Spätrömisch-Lateinischen in der Sachkultur von Wein- und Gartenbau, Straßen- und Hausbautechnik, Handel und Verkehrswesen, der sich in über hundert neuen Lehnwörtern des Frühdeutschen niederschlägt. Man vergleiche etwa die folgenden Auswahlbeispiele von Lehnwörtern nach Sachbereichen, die i.d. R. noch vor oder während der Wirkung der zweiten oder hochdeutschen Lautverschiebung {t,p, k> tz /33, pf / f f , kfc]/ bh[cbj) seit dem 4./5. Jahrhundert ins Deutsche, Südgermanische oder in alle germanischen Sprachen aufgenommen worden sind (wir beschränken uns hier auf das spätere Deutsche):
Die Anfänge einer deutschen Sprachgeschichte
149
"Weinbau
Produkte
Herstellung
Geräte, Behälter Weinbauer, Weinlese, Rebwerk
ahd. (und germ.) win < lat. Vitium ,Wein'
ahd. fränk. calc(a)türa, kelk(e)tra, kelk(e)terrei. (nhd. Kelter) < lat. calcatüra, calcatorium .Tretvorrichtung, Trotte' (zu calx,Ferse') ahd. obd. torcula, torculm. (mhd. torkel, nhd. Torkel) < mlat. torcula,Drehpresse' ahd. rheinfränk. p(h)ressa, p(h)ressiri (mhd. wtnpresse, nhd. Presse, mda. Pers) < mlat. pressa, pressorium,Kelter'
ahd. kuofa (mhd. kuofe, nhd. Kufe) < lat. cöpa neben cüpa .Gefäß' (dazu mhd. küefer, nhd. Küfer, entsprechend mlat. cüpärius)
ahd. e33th, mit /-Umlaut < spätlat. *atecum, vgl. acetum > got. akeit, altsächs. ekid,Weinessig' ahd. mhd. most ,unausgegorener Traubensaft' < roman. *mostu-, *mustu- < lat. vinum mustum ,junger Wein' (nhd. Most) ahd. Iura, mhd. Iure f. (nhd. Lauer m.) ,Nachwein' < lat. löra ,Wasserwein', neben ahd. lürra, mhd. liure f. (nhd. Leier m.) < lat. lörea (über vordt. *lürja)
ahd. trahtare, trthtere u.a. (mhd. triehter, trichter, nhd. Trichter) < lat. träjectörium (zu träjicere ,hinübergießen') ahd. kelich (nhd. Kelch) < lat. calix, calicis, Weinkelch' ahd. lägella, lägilla u. ä. f. (nhd. Lägel) < lat. lagella ,Fäßchen'
ahd. wtnzüril, -zurnil (< *unnzür + Suffix -il) < vulgärlat. Akk. *vintörem, zu lat. vtnitor,Winzer' ahd. windema f., windemöd m.,Weinlese, Wimmet' < lat. tHndemia und ahd. obd. windemön ,wimmen' < lat. tnrtdemiare,Weinlese halten', vgl. auch ahd. windu(me)mänöth ,Weinlesemonat, Oktober' (und mhd. winmänet ,Weinmonat') Ausdrücke des Pfropfens: ahd. impitön, impfön (vgl. nhd. impfen) < lat. imputare ,pfropfen' ahd. obd. pelzött (nhd. mda. beizen, pelzen, pfelzen) < lat. impeltare ,pfropfen' ahd. pfropfön und Subst. proba, profa, pfrofa f. (nhd. pfropfen) < lat. propagare, -ginare ,durch Stecklinge vermehren'
150
Genealogie der deutschen Sprache
Obstkultur und Früchte Kernobst
Steinfrüchte
ahd. bira, pira (nhd. Birne) < lat. pirum ,Birne', pirus ,Birnbaum' (ahd. biraboum)
ahd. kirsa, mhd. kirse, kerse, kriesei. (nhd. Kirsche) < lat. (-griech.) cerasum ,Kirsche', cerasus ,Kirschbaum' und lat. ceresta > *kresta (> mhd. kriese, alem. Chriest) ahd. phersih-, fersih-, phirsih-boum und phersih, phirsih, persih m. .Pfirsichbaum, Pfirsich' < lat. persica (arbor) und persicum (malum) ahd. prüma, pfrüma, plüma (nhd. Pflaume) < lat. (-griech.) prünurn, prürta
Steinbautechnik (Straßen- und Hausbau) Bauelemente ahd. altsächs. müra f. (nhd. Mauer) < lat. mürus,Steinmauer' (mit fem. Geschlecht nach ahd. wanti. .geflochtene Wand') ahd. ziagalaL, ziagal m. (mhd. ziegel m., nhd. Ziegel) < lat. tegula,Dachziegel' ahd. kalk, kalch, chalch m. (nhd. Kalk) < lat. calx f. m., Akk. calcem ahd. pflastar (mhd. Pflaster, nhd. Pflaster) < südgerm. *plastar (altsächs. plastar) < spätlat. emplästrum (griech. Herkunft) .Bindemittel für den Steinbau, bearbeiteter Platz, Wundpflaster'
Straßenbau; Befestigung; Verließ ahd. strä3(3)a f., altsächs. sträta (nhd. Straße) < spätlat. sträta (via) .gepflasterter Weg, Heerstraße' altsächs. wal, Gen. walles, spätahd. erdewal (nhd. Wall) < lat. vallum .Stein-, Mörtel- und Erdwall' ahd. chastellai., casteln. (und in Ortsnamen Kastel, Kestel, Kassel),Lager, befestigter Ort' (vgl. nhd. Kastell mit Neuentlehnung) < lat. castellum ahd. charchäri, karkäri, karkeri m. (nhd. Kerker) < lat. carcer (in Anlehnung an Wörter mit -ärium eingedeutscht) ahd. turri n., turra f., turn m. (nhd. Turm) < lat. turris bzw. roman. turn
Hausbau ahd. astrih, estrtb, -ich m. (nhd. Estrich) < lat. astracum, astricum,fester Boden oben und unten im Haus' ahd. chruft, chrufta, cruft, crufta f.,gedeckter Gang, Grotte, Gruft' < lat. crypta ,gedeckter Gang, Gewölbe, Unterkirche' (später mit dt. Gruft, ahd. grufti., zu graben, zusammengefallen) ahd. porta, borta, phorta, porza f. (nhd. Pforte) ,Tor' < lat porta ahd. phorzth, -ich, porzth m. ,Vorhalle, Säulenhalle' (nhd. mda. Pforzich, Pforzeich) < lat. porttcus ahd. pfosto m. (nhd. Pfosten) < lat. *postis,Türpfosten' ahd. soläri, solerim. (nhd. Söller) < solarium,Dachboden, Sonne ausgesetzter Seitenraum' ahd. spthhäri m. (nhd. Speicher) ,Vorratsgebäude, Kornspeicher' < lat. sptcärium (zu sptca,Ähre') ahd. fenstam. (nhd. Fenster) < lat. fenestra
der
Die Anfänge einer deutschen Sprachgeschichte
151
Handel und Verkehrswesen Tätigkeit des Handelns, Händler
Maß- und Geldeinheiten
Transportmittel, Warenbehälter
ahd. choufo, koufo m. ,Händler' (mhd. koufmatt, nhd. Kaufmann) < lat. caupo .Schenkwirt', dazu ahd. kouffen, choufen, koufön .Handel treiben', nhd. kaufen, vgl. lat. cauponari .schachern' ahd. mangäri, mengäri m. .Händler' < lat. mango .Händler'
ahd. pfunt (nhd. Pfund), altsächs. pund < germ. *pund < lat. pondö .Gewichtseinheit' (vgl. lat. pondus n. .Gewicht') ahd. muni^a, mhd. münze (nhd. Münze), altsächs. munita, südgerm. * munita < lat. moneta .Münze' ahd. unza f. .kleines Gewicht, Münze' (nhd. Unze) < lat. uncia (vgl. got. ugkja mit
ahd. karro m., karra f. .Reise-, Frachtwagen' (nhd. Karren m., Karre f.) < lat. carrus .vierrädriger Wagen' ahd. karruh m. .Reisewagen' (nhd. mda. Karch) < lat. carruca .zweirädriger Wagen' ahd. *benna f., nhd. Benne (im Westobd.) .Wagenkasten, einfacher Wagen, Stoßbenne' < lat. bzw. gallisch benna .geflochtener Wagenkorb, Art Wagen' ahd. bulga, pulga f. (nhd. mda. Bulge) .lederner Sack' < galloroman. bulga ahd. butin, butin(n)a(. (nhd. Bütte) ,Korb, Gefäß' < spätlat. buttis, *buttia, *butina
gk = ng) .ein Zwölftel an Gewicht und Längenmaß, auch Münze' ahd. zins m. < lat. census ,Zins'
ahd. kista, chista f. (nhd. Kiste) < lat. cista .Kasten, Kiste' ahd. Sack,Beutel' (nhd. Sack) < lat. (-griech.) saccus
Nach lateinischem und griechischem Vorbild kommt es sodann zu Übernahme und Neubildung der Wochentags- und Monatsnamen im Frühdeutschen — wie auch in den übrigen altgermanischen Sprachen —, wobei selbst mythologische Vorstellungen vom Lateinischen ins Germanische transponiert werden. Wochentage, i. d. R. Lehnübersetzungen seit dem 4. Jh., ζ. T. vorchristlich
Monatsnamen, im Deutschen erstmals durch Karl d. Gr. gesetzt (Einhard, Vita Karoli Magni, Kap. 29)
lat. dies solis, ahd. sunnüntag, mhd. sun(nen)tac, nhd. Sonntag (neben dies dominica, ahd. fröntag) lat. dies lunae, ahd. mänatag (neben *mänintag mit Genitiv), mhd. man-, mcentac, nhd. Montag
lat. januarius, ahd. u/intarmänöt ,Wintermonat' (erst frühnhd. jenner u. ä., 18. Jh. Januar) lat. februarius, ahd. hornung ,Kurzmonat', nhd. mda. Hornung, frühnhd. dann Februar
152
Genealogie der deutschen Sprache
lat. Marlis dies, ahd. ztostag, mhd. ziestac (nhd. alem. Ziischtig),
zu Z/M < germ. * Ttwaz Kriegsgott, Mars; daneben nhd. Dienstag, zum rheinisch bezeugten Götternamen Mars Thingsus Gerichtsgott (zu ahd. thing, ding ,Thing, Gerichtsversammlung'), mittelnd. dingesdach, Luther Dinstag; schließlich bair. Ertag, mhd. ertac < *erintag, gotisch *Aretnsdagsu.ä. (zu griech. Ares = Mars) kirchenlat. media hebdomas, spätahd.
mittawehha, mhd. mittewoche, nhd. Mittwoch; daneben Mercurii dies, mittelnd. Wödensdag, Wönesdach (nl. woensdag, engl. Wednesday) zu germ. *Wödan, ahd. Wuotan Himmelsgott lat. Iovis dies, ahd. Donarestag, mhd. donerstac, nhd. Donnerstag,
zu germ. *portar Wettergott; daneben bair-österr. Pfinztag, mhd. pfinztac, got. *patntedags aus griech. πέμπτη ήμερα .fünfter Tag (der Woche)' spätlat. Veneris dies, ahd. frtatag,
frtjetag, mhd. vritac, nhd. Freitag,
zu ahd. Frta Himmels- und Liebesgöttin griech. sabbaton neben *sämbaton, ahd. samba^tag (über gotisch *sambatö),
mhd. same^tac, sam^tac, nhd. Samstag;
daneben mhd. sun(nen)äbent, Klammerform < Sonntagabend, nhd. Sonnabend (mittel- und norddt.) .Vortag, Vorabend des Sonntags'; schließlich rhein. Satertag, mittelnd. säter(s)dach < nordseegerm. *Säteresdag (vgl. engl. Saturday, nl. zaterdag) aus spätlat. Saturni dies, zum Götternamen Saturn
lat. martius, ahd. lenzinmänöt .Frühlingsmonat', zu ahd. lenzo ,Frühling, Jahreszeit von länger werdenden Tagen, Lenz', germ. *langa-tin.Langtagzeit', spätahd. auch merze
lat. aprilis, ahd. östarmänöt
.Ostermonat', spätahd. auch aprille, abreite,April'
lat. maius, ahd. winnemänöt, wunnemänöt, zu ahd. Winne, wunne f.,Weide, Grünland', spätahd. auch meiem. ,Mai'
lat. junius, ahd. brächmänöt .Brachmonat', zu ahd. brähha
f. .Umbrechen des Bodens im Juni' (zu brehhan,umbrechen'), erst frühnhd. auch Juni(i)
lat. julius, ahd. hewimänöt, houwimänöt .Heumonat' (zu ahd. hewi, houwes u. ä. ,Heu'), frühnd. Juli lat. augustus, ahd. aranmänöt .Erntemonat' (zu ahd. am f. .Ernte', arnziti. .Erntezeit', arnön .ernten'), neben ahd.
a(u)gusto, mhd. ougest(e),August' lat. septembris, ahd. witumänöt .Holzmonat' (zu ahd. witu n. ,ΗοΙζ, mit Bezug auf die Herbstarbeiten im Wald'), neben ahd. herbistmänöt .Herbstmonat', mhd. auch September
lat. octobris, ahd.
winde(mu)mänöt
.Weinlesemonat' (zu ahd. windema u. ä. .Weinlese', vgl. oben S. 149), auch ahd. wintarmänöt .Wintermonat', mhd. auch october,
octember lat. novembris, ahd. herbistmänöt ,Herbstmonat' und ahd. wintar-
mänöt .Wintermonat', mhd. auch
november lat. decembris, ahd. heiligmänöt ,Heiligmonat' (nach der Weihnachtszeit) und ahd. hertimänöt .Hartmonat' (von der harten Winterszeit), mhd. auch december
Die Anfänge einer deutschen Sprachgeschichte
153
(b) Der Aufbau einer christlichen Terminologie für Kirche, Klöster, Liturgie, Glaubensbereich, Katechetik, Kirchenjahr, Bibelübersetzung, Predigt und Bibeldichtung. Dies geschieht einerseits mit dem altheimisch-germanischen Wortschatz, andererseits durch Einflüsse der gotischen, seit der Bibelübersetzung des Wulfila im 4. Jahrhundert vorgeformten ersten germanischen Bibelsprache, die noch bei den Ostgoten in Oberitalien bis ins 6. Jahrhundert wirksam war, sodann durch Lehnwörter aus dem Lateinischen und — teils wiederum über gotische Vermittlung - aus dem Griechischen, ferner durch das Mittel der Lehnprägung nach lateinischem Vorbild. Auch angelsächsische und vereinzelt irische Einflüsse sind, entsprechend den Missionsbewegungen des 7. und 8. Jahrhunderts, festzustellen. Man vergleiche die folgenden Beispiele nach Einflußzonen: GriechischLateinisch (-Romanisch)
GriechischGotisch
LateinischRomanisch
ahd. priestm., priester m. (nhd. Priester) < griech.lat. presbyter, über altfranz. prestre
ahd. fimfchustim (Dat. PI.), altsächs. pincoston (Dat. PI.) .Pfingsten' < got. paintekusten (at = f, Akk. Sg.) < griech. πεντεκοστή (ήμερα) ,der 50.Tag (nach Ostern)'
ahd. altsächs. sig(i)risto m. (nhd. Sigrist .Küster') < altfranz. *segrista < mlat. sacrista .Kirchendiener' (zu sacrum .Heiligtum')
spätahd. bäbes m. ,Papst' < altfranz. päpes < griech.-lat. papas, lat. päpa ahd. alamuosan n. u. ä. (nhd. Almosen) < rom. *almostna < griech.-lat. eleemosyna
ahd. pfaffo m. .Geistlicher' (nhd. Pfaffe) < got. papa < griech. παπάς .Kleriker'
Angelsächsisch
Irisch
ahd. gotspeln. ,Evangelium' nach altengl. godspel (vgl. neuengl. gospel)
ahd. glocca, clocca f. (nhd. Glocke) < kelt. *cloc, irisch clocc
ahd. östarün f. pl. (nhd. Ostern) nach altengl. eastron
ahd. touf(f)en (nhd. taufen), altsächs. döpian < got. daupjan .eintauchen' (zu got. diups .tief')
ahd. ftra f. .Feiertag' < rom.-lat. feria, Sg. zu lat. feriae pl. .Feiertage' ahd. fränk. offrön, obd. opfarön (nhd. opfern) und Subst. ahd. opfar n. < lat. offerre .anbieten' und operari .dienend arbeiten'
ahd. chltricb m. .Geistlicher' < irisch clerech < lat. clericus (über irische Vermittlung)
Nicht bei allen Wörtern läßt sich der Übermittlungsprozeß genau nachvollziehen. So kann ahd. kirihha, chirihha (neben spätahd. chtlicha) »Kirche' über gotische oder romanisch-rheinische Vermittlung aus griech. κυ-
154
Genealogie der deutschen Sprache
ριακή, κυριακόν ,Haus des Herrn' > vordeutsch *kirika, -ort aufgenommen worden sein. Ähnliches gilt für ahd. tiufal u. ä. (nhd. Teufel) aus griech.-lat. diabolus (got. diabaulus, mit au für o). Auf die Umstrukturierung des altgermanischen Sakralwortschatzes im Deutschen durch die neue Christlichkeit kommen wir im Kapitel über die geschichtliche Entwicklung des deutschen Wortschatzes in Band II zurück. (c) Der Aufbau einer wissenschaftlichen Terminologie für Schule, Bibliothek und Bildung im Bereich der sieben freien Künste (septem artes liberales): nämlich des Triviums (Grammatik, Rhetorik, Dialektik, d.h. die mittelalterliche Philosophie) und des Quadriviums (Arithmetik, Geometrie, Musik und Astronomie), sowie der klösterlichen Medizin. Dazu die folgenden Beispiele: Schule und Bibliothek lat. schola, ahd. scuolat. .Schule' lat. bibliotheca, ahd. buohchamera f. .Bücherkammer', frühahd. poahfazvi. .Bücherbehältnis' lat. Uber, ahd. libel, livolm. n. (Lehnwort < libellum) und allgemein buoh n. m. f. .Buch' lat. magister, ahd. meistar m. ,Schulvorsteher, Lehrer, Gelehrter, (nhd. Meister) lat. discipulus, frühahd. disco m. (Lehnwort), ahd. iungiro m. (nhd. Jünger), scuolarim. (nhd. Schüler)
Wissenschaft lat. septem artes liberales, ahd. die stbett büohliste ,die sieben Buchwissenschaften' (Notker von St. Gallen), wobei liberales zu Uber, Buch' gezogen wird (list f. heißt ahd. mhd. .Kunst, Können, Gelehrsamkeit') lat. grammatica, ahd. gram(m)atich m., n. (Notker) lat. sctentia, ahd. ζ. B. wtstuom m. .Weisheit', wizzti. .Wissen', chunsti.,Können', meisterscaft f. .Gelehrsamkeit'
(d) Die Erneuerung des Rechtswortschatzes durch die Kodifikationen und Ubersetzungen der fränkischen Zeit (siehe oben S. 62, 64), durch weitere frühe Rechtstexte der althochdeutschen Zeit, zu denen auch die Canones-Glossen, d. h. die volkssprachlichen Erklärungen zum kirchlichen Recht, sowie frühe Rezeptionsvorgänge des römischen Rechts, z.T. über die Rhetorik-Tradition, zu rechnen sind. Besonders im Rechtswortschatz zeigen sich frühe Einigungsbewegungen der althochdeutschen Sprache, die besonders vom Fränkischen ausgehen, und beispielsweise zur allgemeinen Verbreitung des Lexems /urteil/ führen: ahd. urteilo m. ,Richter', urteilt n. u. ä. ,Urteil', gegenüber älter ahd. obd. suana, suona f. ,Gericht, Urteil', suanare m. ,Richter', das mehr in den geistlichen Bereich zurückgedrängt wird (nhd. Sühne), neben ahd. ostfränk.-obd. tuomom. »Richter', tuom, toamm.,Gericht'.
Die Anfänge einer deutschen Sprachgeschichte
155
3 . 5 . 4 . Differenzierung v o m Germanischen und Integration z u m D e u t s c h e n Dies ist die besondere linguistische Schwierigkeit bei der Beurteilung des ältesten Deutschen in seinen Anfängen: d a ß sich das werdende A l t h o c h deutsche in den J a h r h u n d e r t e n seiner ersten überlieferungsgeschichtlichen Faßbarkeit in einem gewaltigen U m s t r u k t u r i e r u n g s p r o z e ß befindet, der die d a r a n teilnehmenden Stammesdialekte aber recht ungleich betrifft. E s geht dabei v o r allem u m die folgenden Erscheinungen, die allmählich in einen allgemeinen Integrationsprozeß einmünden: Zeit
Konsonantensystem Beginn der 2. Lautverschiebung: t > z, 33; konsonantische Auslautgesetze
Vokalsystem Lexik vollzogener lateinischÜbergang ex > ä; romanische vokalische Lehnwörter Auslautgesetze
Überlieferung
6./7.JH.
Fortsetzung der 2. Lautverschiebung: Ρ > Pf, ff'> südgermanische Konsonantengemination
neue Sproßvokale
lateinischromanische und christliche Lehnwörter
Namen, Runeninschriften
7./8. Jh.
im wesentlichen Abschluß der Tenuesverschiebung mit k > kx, cb; Beginn der Medienverschiebung b, d,g> p, t, k, im wesentlichen auf das Oberdeutsche beschränkt
Monophthongierung von ai > eund au> ö vor bestimmten Konsonanten; Spaltung von eu > eo, io vor dunkeln und tu vor hellen Vokalen (mit weiteren konsonantischen Einwirkungen)
lateinischromanische und christliche Lehnwörter, erste Lehnprägungen, angelsächs. Einflüsse
Namen, Runeninschriften, Rechtswörter der Leges, erste Denkmäler (Ende 8. Jh.)
Diphthongierung von e1 > ea, ia und ö > uo, ua; Beginn der Umlautwirkung vor i, t, j der Endsilbe; Kontaktassimilationen ai > ei, au > ou
zunehmende lateinische Lehnprägungen; Beginn des fränkischen Einflusses auf die übrigen Dialekte; erste Integrationsbewegungen
Namen, Denkmäler, Inschriften, Beginn einer christlichen (Übersetzungs-) Literatur, vereinzelte Aufzeichnung altgermanischer Gattungen (Heldenlied, Zaubersprüche)
S./6. Jh.
8-/9. Jh. Abschluß der Medienverschiebung; h-Verlust vor 1, n, r, w im Anlaut; Übergang von p(th) > d; frühahd. Spirantenschwächung
Namen, Runeninschriften
So lassen sich die Anfänge einer deutschen Sprachgeschichte z u s a m m e n fassend als ein doppelter, zunächst auseinanderstrebender, d a n n aber wieder auf neuer Grundlage vereinheitlichender V o r g a n g v o m 4 . / 5 . bis z u m 1 1 . J a h r h u n d e r t begreifen: als Differenzierungsprozeß aus der alten g e r m a -
156
Genealogie der deutschen Sprache
nischen Spracheinheit auf der einen Seite und als ein Integrationsvorgang in die neue Spracheinheit des Deutschen unter politischer, kirchlicher, kultureller und zunehmend auch sprachlicher Führung des Fränkischen auf der anderen Seite. Rein linguistisch gesehen bildet schon die zweite oder hochdeutsche Lautverschiebung, wenigstens bei der t- und teilweise bei der pund k-Verschiebung (in- und auslautend nach Vokal) eine entscheidende neue Klammer des werdenden Deutschen. Doch wäre es ohne die allgemein-historisch und kulturgeschichtlich dazutretende fränkische Klammer nie zu der bei Beginn der mittelhochdeutschen Sprachstufe im späten 11. Jahrhundert deutlich sichtbaren Spracheinheit des Deutschen gekommen. Gemeinsame primäre, intern sprachsystembedingte Entwicklungstendenzen und neue sekundäre, sprachgeographisch aus dem historisch-politischen Gefälle des fränkischen und ostfränkischen Reiches erwachsende Ausstrahlungen vermochten so zur Herausbildung der deutschen Sprache im Frühmittelalter zu führen.
Literaturhinweise zu Abschnitt 3.5. Gerhard Cordes, Altniederdeutsches Elementarbuch, Wort- und Lautlehre, Heidelberg 1973 (hier Literatur und Uberlieferungsorte für das Altsächsische). — Theodor Frings, Grundlegung einer Geschichte der deutschen Sprache, Dritte Auflage Halle (Saale) 1957. - Theodor Frings und Gertraud Müller, Germania Romana 2I—II (Mitteldeutsche Studien Bd. 19/1—2), Halle (Saale) 1966—1968. — Erik Rooth, Saxonica, Beiträge zur niedersächsischen Sprachgeschichte (Skrifter utgivna av Kungliga Humanistiska Vetenskapssamfundet i Lund 44) Lund 1949. Stefan Sonderegger, Althochdeutsche Sprache und Literatur, Eine Einführung in das älteste Deutsch, Darstellung und Grammatik (Sammlung Göschen Nr. 8 0 0 5 ) , Berlin-New York 1974 (hier Literatur und Überlieferungsorte für das Althochdeutsche). — Stefan Sonderegger, Tendenzen zu einem überregional geschriebenen Althochdeutsch, in Nationes, Historische und philologische Untersuchungen zur Entstehung der europäischen Nationen im Mittelalter, Bd. I, Sigmaringen 1 9 7 8 , S. 229—273. — Deutsche Wortgeschichte, hrsg. von Friedrich Maurer und Heinz Rupp, Dritte Auflage, Bd. I (Grundriß der germanischen Philologie 17/1), BerlinNew York 1974.
3.6. Die Frage nach der typologischen Verankerung des Deutschen im Germanischen
Im Zusammenhang der genealogischen Verwandtschaft des Deutschen mit dem Germanischen müssen in sprachtypologischer Hinsicht die beiden Fragen gestellt werden: (a) was ist noch typisch germanisch im System der deutschen Sprache? (b) was ist nicht mehr typisch germanisch im System der deutschen Sprache?
Typologische Verankerung des Deutschen im Germanischen
157
Ohne das Problem hier ausführlich erörtern zu können, wollen wir versuchen, einige hauptsächliche Gesichtspunkte dazu zu vermitteln. Gesichtspunkt 1: Relativ hohe Altertümlichkeit der deutschen Sprache in Vergangenheit und Gegenwart Zunächst darf betont werden, daß die deutsche Sprache bei einem Vergleich mit den verwandten germanischen Sprachen eine merkwürdig hohe Altertümlichkeit ihres Formenbaus nach Klassenbildung und Morphematik aufweist. Sowohl bei einem Vergleich ihrer ältesten Stufe, des Althochdeutschen, mit den altgermanischen Sprachen, als auch bei einer Gegenüberstellung des Neuhochdeutschen mit den germanischen Sprachen der Neuzeit fällt die relativ fast gleich gebliebene Stellung des Deutschen in der Reihenfolge der vergleichsweisen Altertümlichkeit auf. Vergleichen wir die beiden folgenden schematischen Aufstellungen: Stufen relativer Altertümlichkeit im Formensystem (Klassenbildung und Morphematik) der altgermanischen Sprachen Stufe Sprachen 1 Gotisch (4.-6. Jh.) und Urnordisch (2.-8. Jh.) 2 Althochdeutsch (8.-11. Jh.) 3 Altsächsisch (9.-12. Jh.) 4 Altnordisch im weiteren Sinn (9.—13. Jh.) 5 Altenglisch (8.-11. Jh.) 6 Altfriesisch (erst spätmittelalterlich überliefert) im allgemeinen abnehmende Altertümlichkeit Die Stellung des Althochdeutschen im Rahmen der germanischen Sprachen läßt sich im übrigen durch das beiliegende Schema S. 158 (aus Stefan Sonderegger, Althochdeutsche Sprache und Literatur, Sammlung Göschen 8005, Berlin-New York 1974, S.28) verdeutlichen:
158
Genealogie der deutschen Sprache Altgermanisch
Wiederholung des germanischen Lautverschiebungsprinzips Althochdeutsch frühmittelalterliche Sonderform des Germanischen mit durchgreifender Umgestaltung des Lautsystems und Wortschatzes, in neuer mitteleuropäischer Klammerbildung begriffen, aber daneben mit vielen altgermanischen Merkmalen
Altsächs.
Altfries.
Altengl. Altnord.
noch relativ einheitliche, nordseegebundene Erscheinungsform des Germanischen mit alten Zügen besonders im Konsonantismus und mit gemeinsamen Umgestaltungstendenzen im Formensystem
neue, stark umgestaltete, im Wortschatz und ζ. T. in der Flexion archaische Kompaktform des Germanischen, intern noch lange relativ einheitlich
Gotisch frühgermanisch altertümliche Aussonderung ohne die später für das Germanische typisch werdenden Züge, Sonderform eines Mittelmeergermanischen
Zunehmende Umlautwirkung, Palatalisierungen und Brechungen, zunehmender Nebensilbenzerfall Zunehmende altgermanische Überlieferungsintensität (Stabreimdichtung, Runen) - mit Ausnahme des spät überlieferten Altfriesischen Zunehmender Ausgleich des grammatischen Wechsels
Völlig anders, jedoch für die Stellung des Deutschen merkwürdig gleichgerichtet, sieht das Verhältnis innerhalb der germanischen Sprachen der Neuzeit aus: Stufen relativer Altertümlichkeit im Formensystem (Klassenbildung und Morphematik) der neugermanischen Sprachen Stufe Sprachen 1 Isländisch 2 Deutsch Skandinavisch (ohne Isländisch) 3 4 Niederländisch Friesisch 5 Englisch 6 7 ' Afrikaans (Kolonialniederländisch) im allgemeinen abnehmende Altertümlichkeit In beiden Aufstellungen der Stufen relativer Altertümlichkeit nimmt das Deutsche - als Althochdeutsch und als Neuhochdeutsch — die zweite Stelle
Typologische Verankerung des Deutschen im Germanischen
159
im Rahmen der vergleichbaren Sprachstufen ein. Schematisch läßt sich die Stellung des Neuhochdeutschen als Schrift- und Hochsprache im Gefüge der verwandten germanischen Sprachen etwa so begreifen: Deutsch grundsätzlich anders im Konsonantensystem, aber relativ sehr altertümlich im Formensystem, ohne direkte Verstehbarkeit im Verhältnis zu einer anderen neugermanischen Sprache
-Niederländisch—»· Englisch und Friesisch Zwischenstellung zwischen Deutsch und Englisch, gegenseitig teilweise verstehbar Afrikaans von extremer Neuentwicklung im Formenbau, mit gegenseitiger Verstehbarkeit zum Niederländischen, da aus dem Holländischen als Kolonialsprache entwickelt
durch gewaltige Fremdeinflüsse und Umgestaltungen im Formensystem sehr weit vom ursprünglich Germanischen wegentwickelt, ohne direkte Verstehbarkeit im Verhältnis zu einer anderen neugermanischen Sprache
Skandinavische Sprachen von ganz verschiedener Altertümlichkeit im einzelnen, jedoch gegenseitig weitgehend verstehbar (Schwedisch, Norwegisch, Dänisch, mit altertümlicher Sonderstellung des Isländischen im Formensystem)
Gesichtspunkt 2: Germanische Züge im deutschen Sprachsystem Folgende hauptsächliche Kennzeichen im Sprachsystem des Gesamtdeutschen vom Althochdeutschen bis zum Neuhochdeutschen dürfen als typisch germanisch bezeichnet werden: (1) Relativ gute Bewahrung der germanischen Erst- oder Stammsilbenbetonung (auch Wurzelbetonung genannt), allerdings mit gewissen Einschränkungen im Neuhochdeutschen (vgl. S.77f., 326 ff.). (2) Die grundsätzliche Einteilung des Vokalsystems in Kurzvokale, Langvokale und Diphthonge in allen Sprachstufen des Deutschen (vgl. S. 208,336). (3) Die Konstanz des Umlauts als lautgesetzliche, morphologische (auch analogische) und wortbildungsmäßige Kategorie (/-Umlaut, vgl. S. 297 ff.). (4) Reflexe des grammatischen Wechsels (d. h. Wechsel bestimmter Konsonanten im gleichen Wort oder in der gleichen Wurzel) bei den starken Verben (ziehen, zog, gezogen; leiden, litt, gelitten) und in der Wortbildung (frieren, Frost, vgl. S. 253 ff.) bis ins Neuhochdeutsche. (5) Die morphemintensive Endungsflexion in allen Sprachstufen des Deutschen (vgl. besonders S. 241 ff.). (6) Die grundsätzliche Bewahrung der Kategorien stark und schwach bei den Substantiven, Adjektiven und Verben, wenn im Neuhochdeutschen dazu auch substantivische und adjektivische Mischklassen treten (vgl. besonders S.340ff.).
160
Genealogie der deutschen Sprache
(7) Die vergleichsweise gute Erhaltung des Kasussystems, besonders beim Artikel und bei den Pronomina, bis ins Neuhochdeutsche hinein (vgl. S.251 ff.). (8) Die Erhaltung der drei Geschlechter Maskulinum, Femininum, Neutrum bei den Substantiven, Adjektiven und Pronomina in allen Sprachstufen des Deutschen (vgl. S. 211). (9) Das uneingeschränkte Kompositionsprinzip, im Neuhochdeutschen sogar extrem verbreitert (vgl. S. 255 ff.). (10) Ein hoher germanischer Anteil im Erbwortschatz und in den Kategorien der Wortbildung in allen Sprachstufen des Deutschen (vgl. S. 211, 255 ff.). Gesichtspunkt 3: Nicht-Germanische Züge im deutschen Sprachsystem Gegenüber den typisch germanischen Kennzeichen müssen folgende Züge im deutschen Sprachsystem als wesentlich ungermanisch betrachtet werden: (1) Der neue deutsche Satzton mit seinem Zielpol am Schluß (vgl. S. 331), besonders im Neuhochdeutschen. (2) Der Abbau komplementärer Steuerung von Stammsilbenvokalen vor ursprünglich hellen oder dunklen Vokalen ( G o l d / gülden —» golden; Feld, Fildern Felder; vgl. S. 311 ff.). (3) Die neuen Oppositionsverhältnisse im Konsonantensystem des Deutschen nach durchgeführter Lautverschiebung seit althochdeutscher Zeit (Ubergang von den Oppositionen stimmhaft / stimmlos zu hart / weich u.ä.) unter Vertretung neuer Affrikaten (tz, pf, im Süden auch kch) und aspirierter Tenues (th, ph, kh, vgl. S. 140). (4) Die Zunahme des Endsilbenmorphemtypus -θ und die lautliche Reduktion der Nebensilben in allen Sprachstufen des Deutschen (vgl. S. 245 ff.). (5) Der zunehmende Übergang zur progressiven Steuerung in der Flexion (Artikelsetzung sowie Präpositionalgefüge vor dem Substantiv, Subjektspronomen vor der finiten Verbalform) seit althochdeutscher Zeit (vgl. S. 243 f.). (6) Der Abbau oder gänzliche Verlust bestimmter Flexionstypen (Dual beim Pronomen, Gerundium) seit alt- und mittelhochdeutscher Zeit (vgl. S. 98ff.). (7) Die feste Regelung der Wortstellung in nominalen Gruppen (Artikel / Pronomen [ + Adverb] + Adjektiv + Substantiv) und im Verbalbereich (Zweitstellung, Endstellung und Klammerform der Verbalformen je nach Satzart, vgl. S.279ff.), besonders im Neuhochdeutschen, aber mit bedeutenden Ansätzen im Alt- und Mittelhochdeutschen. (8) Die Einschränkung des Stabreims auf Paarformeln und besondere Sprachschichten (im Neuhochdeutschen besonders in der Titelsetzung und Reklame) seit althochdeutscher Zeit (vgl. S. 292 ff.).
Typologische Verankerung des Deutschen im Germanischen
161
(9) Die Entwicklung des Endreims seit althochdeutscher Zeit unter romanisch-lateinischem Einfluß (vgl. S.233f.) und bei reduzierter germanischer Stammsilbenbetonung. (10) Die grundlegende Erneuerung des Wortschatzes durch Lehnbildungen (d.h. nach fremdsprachlichem Muster, aber mit eigensprachlichem Wortkörper), Lehnsuffixe, Lehnwörter und Fremdwörter in allen deutschen Sprachstufen (vgl. S. 231 ff.). So vereinigen sich alte, ererbte und durch die gesamte deutsche Sprachgeschichte nachwirkende Züge des typisch germanischen Sprachsystems mit neuen, völlig ungermanischen Kennmerkmalen, welche in der inneren Umstrukturierung und Weiterentwicklung des deutschen Sprachsystems sowie in ausgeprägten Fremdeinflüssen begründet sind. Wenn schließlich die Geschichte der deutschen Sprache in ihrer diachronisch-genealogischen Rückverlängerung in die Geschichte des germanischen Sprachsystems einmündet, müssen sich im Zeitablauf Germanisch-Deutsch auch übergreifende Züge einer langanhaltenden Konstanzentwicklung zeigen. Dies ist in folgender Hinsicht auch tatsächlich der Fall und kann vereinfacht dargestellt und in Ergänzung zu den oben genannten Gesichtspunkten mit Hilfe der Aufstellung Sprachgeschichtliche Entwicklungskonstanten vom Germanischen zum Deutschen S. 162 begriffen werden. Was das Akzentsystem betrifft, sind im Deutschen die Nachwirkungen von drei verschiedenen Akzenten festzustellen: - erstens die abnehmende Nachwirkung des grammatischen Wechsels, der in die älteste Stufe des Germanischen zurückreicht und auf den ursprünglich freien Wortakzent der indogermanischen Grundsprache zurückgeht (vgl. S. 75 ff.). - zweitens die deutliche Nachwirkung der germanischen Stammsilbenbetonung im Erbwortschatz und ihre tiefgreifenden Folgen für die Abschwächung der Nebensilbenvokale (vgl. S. 238 ff.). - drittens der Einfluß der deutschen Akzentschwächung (vgl. S.329f.)mit der teilweisen Durchbrechung des germanischen Erstbetonungsprinzips. Eine germanisch-deutsche Entwicklungskonstante läßt sich im Umlaut, d. h. der spätgermanischen akzentbedingten Einverleibung von Endsilbenvokalen in die Stammsilbe (vgl. S. 105 ff. und 297ff.), erkennen. Da das Deutsche dabei eine Beschränkung auf den /-Umlaut zeigt, konnte die Auswirkung des Umlautes auf das Phonemsystem — anders als beispielsweise im Englischen und Skandinavischen — nicht überborden, sondern blieb auf die palatalen Ergänzungen der alten Vollvokale und Diphthonge reduziert. Dadurch blieb die Umlautwirkung in der ganzen Geschichte des Deutschen ein überschaubares und in seiner palatalen Gebundenheit gleichgerichtetes Kennmerkmal, das sich über den lautgesetzlichen Bereich hinaus als distinktives Zeichen in der Flexion und Wortbildung viel besser als in allen anderen germanischen Sprachen durchsetzen konnte.
162
Genealogie der deutschen Sprache
SpmtägaMMtäe Entmcklungskonstanten vom Germanischen zum Pöltschen Akzentsystem
Akzentsystem
G erma η / s cßi Lautsystem
Läutsystem D eutscft Graphische Darstellung 24
Formensystem
Formens-ystem
Typologische Verankerung des Deutschen im Germanischen
163
Im Schnittpunkt von germanischer Stammsilbenbetonung samt den dadurch ausgelösten Auslautgesetzen (Reduktion, Verkürzungen) sowie von Umlautwirkung samt dem dadurch ermöglichten neuen Flexionstypus (mit der neuen Opposition Umlaut/Nichtumlaut im Stamm) steht die deutsche Nebensilbenabschwächung seit althochdeutscher Zeit. Auf der einen Seite darf man sie als Weiterführung der gemeingermanischen akzentbedingten Auslautgesetze begreifen, auf der anderen Seite wird sie durch die neue Umlautflexion entscheidend gestützt, da die vollen Endsilbenvokale ihres alleinigen distinktiven Charakters dadurch verlustig gegangen sind: frühalthochdeutsch Sg. gast ,Gast', PI. gast-i ,Gäste', normalalthochdeutsch Sg. gast, PI. g-e-st-i, spätalthochdeutsch (und mittelhochdeutsch) Sg. gast, PI. g-e-st-e. Nachdem die deutsche Nebensilbenabschwächung seit spätalthochdeutscher und mittelhochdeutscher Zeit den Zusammenfall vieler ursprünglich volltoniger Morpheme bewirkte, bei Ausstoßung von abgeschwächtem -e in der Endung sogar zu den endungslosen Flexionstypen mit Nullmorphem führte, mußte im deutschen Sprachsystem die Steuerung der Flexion durch vorangestellte Begleiter (Artikel, Pronomen) an Bedeutung gewinnen, wie dies besonders im Neuhochdeutschen ersichtlich wird. Wir müssen uns mit diesen knappen Ausführungen zu den sprachgeschichtlichen Entwicklungskonstanten vom Germanischen zum Deutschen begnügen: sie haben eine Zeitdimension von ein bis zwei Jahrtausenden und einen inneren Systemkonnex, welcher besonders in der Wirkung vom Akzentsystem über das Lautsystem in das Formensystem verfolgbar bleibt. Das Verhältnis Germanisch-Deutsch zeigt sich schematisch aufgezeichnet dabei grundsätzlich so: Germanisch Erhaltungskomponente (Weiterleben typisch germanischer Sprachzüge im deutschen Sprachsystem) — erstarrtes, nicht mehr produktives Nachleben im Deutschen — zeitlich beschränkt auf ältere Sprachstufen — zeitlich unbeschränkt bis zum Gegenwartsdeutsch — als produktives Prinzip — zeitlich beschränkt auf ältere Sprachstufen — zeitlich unbeschränkt bis zum Gegenwartsdeutsch Deutsch Neuerungskomponente (Ausbildung typisch deutscher, aber nicht germanischer Sprachzüge im deutschen Sprachsystem) - durch innere Entfaltung des Sprachsystems - durch Einflüsse aus anderen Sprachen — aus inkorporierten Substratsprachen oder Teilen davon — aus Nachbarsprachen (durch Interferenz) — aus Bildungssprachen (Latein, Griechisch)
164
Genealogie der deutschen Sprache
Literaturhinweise zu Abschnitt 3.6. Zu diesem Problem gibt es nur wenig Fachliteratur, die spezifisch auf das Deutsche und Germanische ausgerichtet ist. Zu nennen sind: Hermann Ammann, Germanischer und indogermanischer Sprachtypus, in Germanen und Indogermanen, Festschrift Herman[n] Hirt, Bd. II, Heidelberg 1936, 329-342. - Gyula Decsy, Die linguistische Struktur Europas, Vergangenheit - Gegenwart - Zukunft, Wiesbaden 1973. - Franz Nikolaus Finck, Der deutsche Sprachbau als Ausdruck deutscher Weltanschauung, Acht Vorträge, Marburg 1899. — Heinz Kloss, Die Entwicklung neuer germanischer Kultursprachen von 1800 bis 1950, München 1952. — Ernst Lewy, Der Bau der europäischen Sprachen, Zweite Auflage Tübingen 1964 (= Nachdruck aus Proceedings of the Royal Irish Academy, vol. XLVIII, Section C, Nr. 2, Dublin 1942). — A[ntoine] Meillet, Caracteres generaux des langues germaniques, Paris 1917 und öfter, zuletzt 1937. — A[ntoine] Meillet, Les langues dans l'Europe nouvelle, Paris 1918, 2 1928.
3.7. Begriffskatalog zu den historischen Sprachstufen Vorgermanisch-Germanisch-Deutsch
Wir vermitteln nachfolgend einen neugefaßten sprachgeschichtlichen Begriffskatalog, soweit dieser für eine Geschichte der deutschen Sprache relevant ist. (1) Vorgermanische Sprachstufen 3.11. Jahrtausend v.Chr.
Indogermanisch
2./1. Jahrtausend v.Chr.
Alteuropäisch
1. Gesamtbezeichnung der größten und sprachhistorisch am besten bezeugten Sprachfamilie im alten Nord-, Mittel-, Ost- und Südosteuropa, die sich durch vorgeschichtliche Wanderungen vor allem auf die britischen Inseln, in den nördlichen Mittelmeerraum, nach Kleinasien, Persien und Indien verbreitet hat und zu der auch das Germanische und Deutsche nach seiner genealogischen Verwandtschaft gehört. 2. Als Vorstufe des Germanischen die durch historische Sprachvergleichung erschlossene Grundsprache der indogermanischen Sprachträger des 3./2. Jahrtausends vor Chr. Sammel- und Hilfsbegriff für die den indogermanischen Einzelsprachen Europas direkt vorausliegende, besonders aus dem alten gemeinsamen Flußnamenbestand ersichtliche Stufe des Westindogermanischen im 2.—1. Jahrtausend vor Chr. (Skandinavien, Nord- und Mitteleuropa, westliches Ost- und Südosteuropa), die aber nur als lose sprachliche Einheit verstanden werden darf.
Begriffskatalog zu den historischen Sprachstufen
165
(2) Germanische Sprachstufen im Hinblick auf die deutsche Sprachgeschichte Germanisch
1. Jahrtausend v.Chr. Jahrhunderte v. und n. Chr.
ohne engere zeitliche Bindung
4—ll./12./13.Jh. n. Chr.
4 . - 6 . Jh. n.Chr.
Urgermanisch Frühgermanisch
Gemeingermanisch
Altgermanisch
Gotisch
4 . - 5 . Jh.
Spätgemeingermanisch
seit etwa 400
Süd- oder Westgermanisch
4 . - 8 . Jh.
Festlandrunisch
6 . - 8 . Jh.
Westfränkisch
9 . - 1 2 . Jh.
Altniederfränkisch / Altniederländisch
1. Gesamtbezeichnung für alle germanischen Sprachen von den ältesten Zeugnissen im späten 1. Jahrtausend vor Chr. bis heute. 2. Als Vorstufe des Deutschen die teils bezeugte, teils durch die historische Sprachvergleichung erschlossene Grundsprache der germanischen Sprachträger im 1. Jahrtausend vor und nach Chr. Erschlossene gemeinsame Grundform aller germanischen Sprachen. Älteste belegte Sprachspuren des Germanischen (Inschriften, germanische Wörter bei den Schriftstellern des klassischen und späten lateinischen und griechischen Altertums). Entwicklungsgeschichtlicher Hilfsbegriff für die allen germanischen Sprachen zukommenden typologischen Merkmale oder entfaltungsgeschichtlichen Tendenzen von den Anfängen des Germanischen bis heute. Als Sprachbegriff zusammenfassende Bezeichnung der ältesten schriftlich belegten Sprachstufen des Germanischen bis zum Hochmittelalter, soweit sie noch mehr oder weniger volle Nebensilben, wie z.B. das Althochdeutsche, aufweisen. Älteste, vor allem durch die Bibelübersetzung des westgotischen Missionsbischofs Wulfila einigermaßen vollständig bezeugte altgermanische Sprache, von der Lehnwörter bis ins Althochdeutsche ausstrahlen. Erschlossene, als relative Einheit anzusetzende letzte Vorstufe vor der Ausgliederung in Südund Nordgermanisch, aber nach der Aussonderung des Gotischen. Südlicher oder westlicher, d.h. festländischer Teil des Germanischen (mit Einschluß des Angelsächsischen oder Altenglischen, ohne das Gotische). Sprache der südgermanischen und gotischen Runeninschriften, darunter die sog. deutschen, d. h. frühalthochdeutschen des 6.—8. Jahrhunderts, außerdem als Gegensatz zum Urnordischen, der Sprache der älteren skandinavischen Runeninschriften bis 800, zu verstehen. Sprachreste der auf galloromanischem Boden siedelnden und früh romanisierten Westfranken, somit Nachbarsprache des werdenden Althochdeutschen. Sprache der altostniederfränkischen Psalmenfragmente und Glossen aus dem südlimburgischen Raum des 9. Jahrhunderts und weiterer
166
Genealogie der deutschen Sprache
9.—12. Jh.
Altsächsisch
vereinzelter Reste auf niederländischem Gebiet, insofern Nachbarsprache des Althochdeutschen. Direkte nördliche, der Herkunft nach im wesentlichen nordseegermanische Nachbarsprache des Althochdeutschen im heutigen Nordwestdeutschland und Niedersachsen, von der althochdeutsch-fränkischen Schreibtradition stark beeinflußt, nicht ganz zutreffend auch als Altniederdeutsch bezeichnet.
(3) Deutsche Sprachstufen (3.1.) Allgemeine Begriffe 5./6. Jh. bis zur Gegenwart
Hochdeutsch
15./16. Jh. bis zur Gegenwart
Frühmittelalter bis zur Gegenwart
Niederdeutsch
15./16. Jh. bis zur Gegenwart
doppeldeutiger Begriff für 1. [historisch und sprachgeographisch] Die von der zweiten oder hochdeutschen Lautverschiebung völlig oder teilweise erfaßten historischen und gegenwärtigen Sprachstufen und Mundarten des Deutschen im Gegensatz zum Niederdeutschen. 2. [normativ] Die neuhochdeutsche Schrift- oder Hochsprache seit ihrer Ausbildung in frühneuhochdeutscher Zeit im Gegensatz zu den hoch- und niederdeutschen Mundarten (auch als Schriftdeutsch, Standarddeutsch bezeichnet). 1. [historisch und sprachgeographisch] Die von der zweiten oder hochdeutschen Lautverschiebung nicht erfaßten historischen und gegenwärtigen Sprachstufen und Mundarten des Deutschen im Gegensatz zum Hochdeutschen. 2. [nicht-normativ] Die niederdeutschen oder plattdeutschen Mundarten im Gegensatz zur neuhochdeutschen Hoch- oder Schriftsprache seit ihrer Ausbildung im 15./16. Jahrhundert sowie im sprachgeographischen Gegensatz zu den neuhochdeutschen Mundarten.
(3.2) Einzelnen deutschen Sprachstufen zuzuordnende Begriffe um 500/600
Urdeutsch
etwa 700—1500
Altdeutsch
8.—11. Jh.
Althochdeutsch
Grammatischer Hilfsbegriff für die erschlossenen Laute und Formen, die dem Althochdeutschen, besonders der zweiten oder hochdeutschen Lautverschiebung, vorausliegen, Undifferenzierter, vor allem vom 16.—19. Jahrhundert gebrauchter Sammelbegriff für das Althochdeutsche und Mittelhochdeutsche. Durch Jacob Grimm 1819 geprägte Bezeichnung für die älteste schriftlich bezeugte Stufe der deutschen Sprache nach der zweiten oder hochdeutschen Lautverschiebung.
Begriffskatalog zu den historischen Sprachstufen vor und um 800 9. Jh.
Frühalthochdeutsch Normalalthochdeutsch
167
Älteste Stufe des Althochdeutschen bis um 800. Die in den althochdeutschen Grammatiken als Normalstufe bezeichnete ostfränkische Sprache der Tatian-Übersetzung aus dem 2. Viertel des 9. Jahrhunderts in Fulda. Strengalthochdeutsch Veralteter, durch Jacob Grimm geprägter Sam8.-11. Jh. melbegriff für die die zweite oder hochdeutsche Lautverschiebung am stärksten durchführenden oberdeutschen Dialekte der althochdeutschen Zeit. Spätalthochdeutsch Jüngste Stufe des Althochdeutschen seit rund 10./ll.Jh. 950, mit teilweisem Zerfall der alten vollen Nebensilbenvokale. 9.-12. Jh. Altniederdeutsch Ältere, historisch umstrittene bzw. unzutreffende Bezeichnung für Altsächsisch (siehe oben), die in Analogie zum Begriff Althochdeutsch im 19. Jahrhundert entstanden ist. Sammelbegriff für die dem Althochdeutschen Mittelhochdeutsch spätes 11. bis folgende und dem Neuhochdeutschen vorausge14./15, Jh. hende Sprachstufe des hoch- und spätmittelalterlichen Deutsch von den letzten Jahrzehnten des 11. bis gegen Ende des 15. Jahrhunderts, mit unscharfer, jedenfalls fließender und regional verschieden ansetzbarer Periodengrenze zum Frühneuhochdeutschen. spätes 11. Jh. bis FrühmittelÄlteste, archaische Stufe des Mittelhochdeutum 1180 hochdeutsch schen mit der Schreibung nach teilweise noch voll erscheinenden Nebensilbenvokalen und ohne durchgreifende Synkope und Apokope von den letzten Jahrzehnten des 11. Jahrhunderts bis zum Beginn der mittelhochdeutschen Blütezeit um 1180. um 1180 bis Höfisches oder Das relativ einheitliche, geglättete Mittelhochgegen 1300 klassisches deutsche der hochhöfischen Dichtersprache auf Mittelhochdeutsch oberdeutscher Grundlage, unter Meidung engerer mundartlicher Züge, mit durchgehender eHaltigkeit in den Nebensilben. Auf der Grundlage der hochhöfischen Dichter[13. Jh.] Normalmittelsprache lautlich und graphematisch normalisierhochdeutsch tes Mittelhochdeutsch der älteren und junggrammatischen Textausgaben seit Karl Lachmann im frühen 19. Jahrhundert. 1300 bis gegen 1500 SpätmittelStufe des spätmittelalterlichen Deutsch mittelhochdeutsch hochdeutscher Lautung mit großen regionalen Verschiedenheiten und neuen Fachsprachen, gegenüber dem zeitlich folgenden Frühneuhochdeutschen nur in einzelnen Landschaften und Denkmälern abgrenzbar. 13.-16. Jh. Mittelniederdeutsch Dem Altsächsischen folgende Sprachstufe des deutschen Nordens im Hoch- und Spätmittelalter, als hanseatische Schreib- oder Geschäftssprache bis weit nach Skandinavien und in die baltischen Gebiete verbreitet.
168
Genealogie der deutschen Sprache
15./16. Jh. bis zur Gegenwart
(14.J/15./ 16./17. Jh.
Mitte 17. bis 18. Jh.
19./20. Jh. bis 1945
20. Jh. ab 1945
20./21. Jh.
Neuhochdeutsch
Sammelbegriff für die jüngste, im wesentlichen von der Gegenwart aus noch voll verstehbare Sprachstufe des Hochdeutschen vom Beginn des Buchdrucks in den 1450er Jahren bis zur Gegenwart, mit vorauslaufenden Einigungsbewegungen regional- bis überregionalsprachlicher oder kanzleisprachlicher Ausrichtung seit der Mitte des 14. Jahrhunderts. Frühneuhochdeutsch Die zeitlich verschieden einstufbare Periode der Vorbereitung, Ausbildung und ersten Wirksamkeit einer übergreifenden neuhochdeutschen Schriftsprache auf dem genetischen Hintergrund von überregionalen Kanzleisprachen, der technischen Errungenschaft des Buchdrucks, der Verbreitung durch Luthers Bibelübersetzung und ihrer Nachahmungen und des übergreifenden Sprachausgleichs auf ostmitteldeutscher Grundlage mit ostfränkisch-südostoberdeutscher und teilweise niederdeutscher Öffnung vom 14./15. bis zum 16./17. Jahrhundert. Die auf dem Weg zur axiologischen Norm beÄlteres Neufindliche neuhochdeutsche Schrift- und Natiohochdeutsch nalsprache des späten 17. und des 18. Jahrhunderts, der sich die maßgeblichen Schriftsteller aus allen Teilen des deutschen Sprachgebietes sowie die amtlichen Kanzleien der verschiedenen deutschsprachigen Staaten und Länder anschließen. Jüngeres Neu Die allgemein gültige, regional ζ. T. abweichende hochdeutsch neuhochdeutsche Schriftsprache des Deutschen Reiches, Österreichs, der deutschen Schweiz, Elsaß-Lothringens und der deutschsprachigen Ostgebiete von 1800 bis 1945, mit neugeregelter Rechtschreibung seit (1876)/1901. Gegenwartsdeutsch Die gesprochene und geschriebene deutsche Hochsprache oder hochsprachliche Umgangssprache der Gegenwart seit 1945, mit z.T. bedeutenden regionalen Unterschieden in Hochlautung und grammatischem System. Landes-, Staats- und Amtssprache der Bundesrepublik Deutschland, der Deutschen Demokratischen Republik, Österreichs, der deutschen Schweiz und der Sprachregion Südtirol in Italien. Die auf Grund der sprachgeschichtlichen KonZukunftsdeutsch stantenlehre in den wesentlichen Zügen vorausbestimmbare und bis zu einem gewissen Grad planbare deutsche Hochsprache und hochsprachliche Umgangssprache im Übergang vom 20. zum 21. Jahrhundert.
4. Die Periodisierung der deutschen Sprachgeschichte
4.1. Gesichtspunkte zur sprachhistorischen Periodisierung
Periodisierung meint die Einteilung der deutschen Sprachgeschichte in verschiedene, zeitlich fixierbare und linguistisch begründbare Sprachstufen. Als hauptsächliche Gesichtspunkte einer sprachhistorischen Periodisierung des Deutschen können formuliert werden: (1) Jede Periodisierung deutscher Sprachgeschichte ist ein wissenschaftlich notwendiger, aber nur mehr oder weniger begründbarer Versuch, die kontinuierliche diachronische Entwicklung nach bestimmten Kriterien des Sprachsystems zu unterteilen. (2) Die Hauptschwierigkeit der Periodisierung des Deutschen liegt im sprachhistorisch in jeder Sprachstufe verschiedenen Gewichtungsverhältnis zwischen Mundart und Schriftsprache oder Schreibsprachen sowie im ungleichen Anteil verschiedener Sprachlandschaften an der Entwicklung überregional gültiger Sprachnormen. (3) Die deutsche Sprachgeschichte verläuft mehrmals von deutlich abgrenzbaren Sprachstufen über undeutlich abgrenzbare Perioden zu neuen deutlich abgrenzbaren Sprachstufen: althoch deutsche „Ausgangsnorm'' (z.B. volle Nebensilben, differenziertes Formensystem nach historischen Klassen)
Übergangs 1— neue höfische — phase in Norm der mittelspätalthochhochdeutschen deutscher Literatursprache und frühmittel(auf oberdeutscher hochdeutscher Zeit Ausgleichs(Zwischengrundlage) stellung zwischen Althochdeutsch und Mittelhochdeutsch)
Übergangs »»- neue hochphase in sprachliche spätmittelNorm der neuhochdeutscher hochdeutschen und frühneuSchriftsprache hochdeutscher Zeit (Zwischenstellung zwischen Mittelhochdeutsch und Neuhochdeutsch)
Dieser zeitlich wechselnde Vorgang wird sich auch in Zukunft wiederholen. Von der Gegenwartssprache aus gesehen stellt die Hochsprache unserer Zeit zwar die gültige Norm der Schrift- und gehobenen Umgangssprache und damit eine deutlich abgrenzbare Sprachstufe dar, daneben ist aber ganz klar und in vielem gegensätzlich dazu die Sprechsprache der Gegenwart als mögliche Übergangsphase zu einem späte-
170
Die Periodisierung der deutschen Sprachgeschichte
ren neuen Normbereich des Deutschen der Zukunft mit neuen Normstrukturen aus dieser Sprechsprache heraus zu ersehen. Demnach ist auch für die sprachgeschichtliche Entwicklung mit einem sich ständig verändernden Verhältnis zwischen Norm und Lizenz in bestimmten Sprachschichten und in der Hochsprache zu rechnen. (4) Verschiedene Sprachstufen mit den ihnen zuzuordnenden verschiedenen sprachhistorischen Kriterien können landschaftsweise getrennt in der Geschichte der deutschen Sprache zeitlich nebeneinanderlaufen. Dies ist die besondere Schwierigkeit im gewaltigen Übergangsprozeß vom Mittelhochdeutschen bzw. Spätmittelhochdeutschen zum Frühneuhochdeutschen und Neuhochdeutschen überhaupt. Denn die Umwandlungsprozesse z.B. im Lautsystem breiten sich von bestimmten Kernlandschaften sprachgeographisch in andere Landschaften aus, während wiederum bestimmte Beharrungslandschaften kaum Neuerungen in ihrem Sprachsystem aufweisen. Dergestalt muß man von einem Nebeneinander spätmittelhochdeutscher und teilweise oder voll frühneuhochdeutscher Sprache in verschiedenen Landschaften vom 14. bis zum 16. Jahrhundert sprechen. Vereinfacht dargestellt etwa so: Westliches Mitteldeutsch teilweise Umgestaltung des mittelhochdeutschen Lautsystems durch Monophthongierung von ie > t, wo > ü, üe > ü, aber zunächst keine . Diphthongierung oder nur teilweise = Spätmittelhochdeutsch und Frühneuhochdeutsch —
östliches Mitteldeutsch volle Umgestaltung des mittelhochdeutschen Lautsystems durch Diphthongierung (mit Zusammenfall der alten und neuen Diphthonge) und Monophthongierung = Frühneuhochdeutsch i.
Westliches Oberdeutsch (deutscher Südwesten) volles mittelhochdeutsches Lautsystem mit mundartlichen Zügen (ohne Diphthongierung und Monophthongierung) = Spätmittelhochdeutsch
östliches Oberdeutsch (deutscher Südosten) teilweise Umgestaltung des mittelhochdeutschen Lautsystems durch Diphthongierung von t> ei, ü> ou, tu [= ü] > eu und Öffnung von ei > ai, ou > au, öu > äu, aber keine Monophthongierung = Mischung zwischen Spätmittelhochdeutsch und Frühneuhochdeutsch
So bleibt das Hauptproblem bei den Periodisierungsversuchen in der Geschichte des Deutschen immer wieder die zeitliche Abgrenzung des Frühneuhochdeutschen, die man nicht starr fixieren kann, sondern nach den verschiedenen Sprachlandschaften differenziert anzusetzen hat. Als engster Kernbereich des Frühneuhochdeutschen darf die Sprache des 16. Jahrhunderts bezeichnet werden, wobei eine Verlängerung nach rückwärts bis zum Beginn der neuen Sprachverbreitung durch
Gesichtspunkte zur sprachhistorischen Periodisierung
171
den Buchdruck seit 1450 als sinnvoll erscheint (vgl. dazu die Darstellung Periodisierung des Frühneuhochdeutschen S. 171). In den Landschaften des mitteldeutschen Ostens ist aber ein Ansatz ab 1350 für das Frühneuhochdeutsche aus den oben genannten Gründen und weiteren nicht mehr mittelhochdeutschen Sprachzügen besonders der frühhumanistischen Prosa durchaus gegeben. Aber auch das 17. Jahrhundert kann mit seiner ersten Hälfte noch dem Frühneuhochdeutschen zugerechnet werden, wenn auch der Einschnitt von 1650 keine deutliche Grenze bildet. Doch wird man betonen dürfen, daß mit der grammatischen Darstellung und der damit verbundenen Normierung der
F e r i o d i s i e r u n g d e s F r ü h n m h o c h d e u t s c h e n 1100 /Mittel· hochdeutsch 1350
noo
1450 1500 1550 1600 1650
ncuhoihdeuati
2000 Graphische Darstellung 2 5
172
Die Periodisierung der deutschen Sprachgeschichte
deutschen Sprache durch Justus Georg Schottelius (Ausführliche Arbeit Von der Teutschen HaubtSprache, Braunschweig 1663) die Periode des älteren Neuhochdeutschen beginnt, wenn auch die Vorarbeiten des Verfassers in die 1640er Jahre zurückreichen (TeutscheSprachkunst, Braunschweig 1641, 2 1651; Der Teutschen Sprach Einleitung, Lüneburg 1643, Gedicht mit sprachkundlichen Anmerkungen). (5) Die verschiedenen Sprachstufen sind verschiedenen sozialen Schichten als Sprachträgern der hauptsächlichen Überlieferung zuzuordnen. Diese Sprachträger jedoch lassen sich nicht von Sprachstufe zu Sprachstufe ausschließlich gegeneinander absondern, da sich dabei auch Verlagerungen oder Verbreiterungen ergeben: Sprachstufen
soziale Schichten als hauptsächliche Sprachträger der Überlieferung Geistliche, Klöster
Bemerkungen
Spätalthochdeutsch (10./11. Jh.) und Frühmittelhochdeutsch (spätes 11./12. Jh.)
Geistliche, Klöster
Übergangsphase mit undeutlicher Abgrenzung
Höfisches Mittelhochdeutsch (etwa 1180 bis gegen 1300)
Ritter, Adel, Höfe
deutlich abgrenzbar
Spätmittelhochdeutsch (14./15. Jh.) und Frühneuhochdeutsch ( 1 4 . - M i t t e 17. Jh.)
Bürger, Handwerker, Städte, Kanzleien, Buchdrucker, Humanisten, Reformatoren, Grammatiker
Übergangsphase mit undeutlicher Abgrenzung
älteres und jüngeres Neuhochdeutsch (Mitte 1 7 . - 2 0 . Jh.) Neuhochdeutsch und Hochsprache der Gegenwart
zunehmend alle sozialen Schichten, zunächst noch mit bürgerlichem Schwergewicht bis ins 19. Jahrhundert, Massenmedien des 20. Jahrhunderts
hochsprachlich normiert und deutlich abgrenzbar
Frühalthochdeutsch bis um 800 und Althochdeutsch des 9. Jh.
deutlich abgrenzbar
Fortsetzung der Tabelle auf S. 173
Gesichtspunkte zur sprachhistorischen Periodisierung Sprechsprache des 20. Jh.
alle sozialen Schichten, ζ. T. auch die Massenmedien des 2 0 . Jahrhunderts
großer regionaler und grammatikalischer Lizenzbereich, undeutlich abgrenzbar
Deutsch der Zukunft im 21. Jh.
nach Möglichkeit alle sozialen Schichten
mit neuen Normstrukturen aus der Sprechsprache der zukünftigen Gesellschaft, deutlich oder undeutlich abgrenzbar
173
Es kann nicht geleugnet werden, daß die einzelnen sozial gebundenen Sprachträger der verschiedenen Sprachstufen des Deutschen ideologisch gewissen Gruppennormen folgen, die sie sprachlich zum Ausdruck bringen und deren Geltung sie auf dem Weg der Kommunikation zu erreichen versuchen. Insofern ist Sprachgeschichte kulturgeschichtlich auch unter ideologischen Gesichtspunkten zu betrachten. So darf die neuhochdeutsche Schriftsprache nach ihrer Entstehungsgeschichte im 15. und 16. Jahrhundert sowie nach ihrer ersten größeren Verbreitungsphase als vorwiegend städtisch-bürgerlich und zunächst auch stark reformatorisch gebunden gelten, mit nur zögerndem Anteil der Fürsten oder des Adels, wohl aber beeinflußt durch ihre bürgerlichen Stadtschreiber und Kanzleibeamten. Auch die großen Gelehrten haben daran erst seit dem 17. Jahrhundert einen allgemeineren Anteil, von einigen Humanisten allerdings abgesehen. (6) Ein weiteres wichtiges Kriterium zur Periodisierung der deutschen Sprachgeschichte läßt sich aus dem Merkmal einer fehlenden oder vorhandenen Schriftsprachlichkeit des Deutschen in seinen zeitlichen Stufen gewinnen. Dabei zeigen sich nämlich einerseits Ansätze und Vorläufer zu einer möglichen Schriftsprachentwicklung in alt- und mittelhochdeutscher Zeit, die sich aber wieder verloren haben oder nur in einzelnen Bereichen des Sprachsystems nachgewirkt haben, wie zum Beispiel in der überregionalen Straffung und Strukturierung des Wortschatzes; andererseits sind innere Entwicklungsstufen dieser Schriftsprachlichkeit im Neuhochdeutschen selbst festzustellen, die zeitlich deutlicher abgrenzbar sind (vgl. dazu die beigegebene Aufstellung Stufen in der Entwicklung zur neuhochdeutschen Schriftsprache S. 174). Anders ausgedrückt: jeder Sprachstufe des Deutschen vom Althochdeutschen bis zum Gegenwartsdeutschen läßt sich ein eigenes, nur ihr zukommendes Spannungsverhältnis zwischen Mundarten und Schriftsprache — für die alt- und mittelhochdeutsche Zeit müssen wir sagen zwischen Mundarten und Schreib- oder Literatursprachen — zuordnen, in welchem die eine oder andere Sprachform prädominant ist oder beide nebeneinander schichtspezifisch oder situativ gebunden sind. So darf man das Althochdeutsche (8. - 11. Jh.) als im wesentlichen schrift-
Mittelhochdeutsch
+
Althochdeutsch
älteres jüngeres Neuhochdeutsch Neuhochdeutsch
1
Die Periodisierung der deutschen Sprachgeschichte
+
1 -
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+
*
4-
§
s "ξt ^ 1 + I§ ξ§
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Graphische Darstellung 2 6
Ausbreitung und Fe- allgemeine Gültigkeit stigung über das ge- und weitere Normiesamte deutsche rung, u.a. in der OrSprachgebiet, mitent- thographie scheidender Normierung
Γα §
Entstehung, erste Etablierung und Beginn der Ausbreitung, mit Schwergewicht im mitteldeutschen Osten
ιίξ II
Phase 5
Öffnung in sozialer, sprechsprachlicher und regionaler Hinsicht
Phase 4
Geschichte der neuhochdeutschen Schriftsprache
+
I
+ vorhanden — nicht vorhanden ( ) eingeschränkt, teilweise
4-
vereinzelt Entstehung Entfaltung der Pialekt- regional verschiedenes einer Piaiektliteratur literatur mit Einwir- Gewichtungsverhältnis kung aufdie Hochspra- zmschen Mundart und i Schriftsprache mit verNachleben regionaler che Ausbreitung der gehoschiedenen ÜbergangsLiteratursprachen benen Umgangssprache formen Ansätze zu einergehobenen Umgangssprache EntstehungΤdBühnendt τ •r
1f +
Zeichenerklärung:
1
Schtribdialekte,,geschrie- mundartlich bestimm- regionale und überrebene Mischdialekte te Schreibdialekte gionale Kanzlei-, Prukker-und Uteraturspta1 Oberdeutsch ausgerich- cfien tete, höfisdi-überregionaie Liteiatursprache
^
4-
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Gesichtspunkte zur sprachhistorischen Periodisierung
175
sprachlos, d.h. als mundartlich gebunden bezeichnen, wenn auch aus den differenzierten Stammesmundarten klösterliche Schreibdialekte und sogar mundartlich gemischte, kaum je so gesprochene Literaturdenkmäler entstanden sind. Immerhin wird schon in dieser ältesten deutschen Sprachstufe ein wichtiger sprachgeschichtlicher Integrationsprozeß von den alten Stammesmundarten der Franken, Baiern und Alemannen zu einer neuen relativen Einheit eines frühmittelalterlichen Deutschen als Volkssprache eingeleitet, der in allen sprachlichen Teilsystemen überregional einigende Sprachzüge erkennen läßt, ohne daß es aber dabei zur Herausbildung einer einheitlichen Literaturoder Schriftsprache gekommen wäre. Uneinheitlich erscheint auch das dem Althochdeutschen im Nordwesten benachbarte Altsächsische (9. - 12. Jh.), dessen kleinere Sprachdenkmäler mehr nordseegermanische (ingwäonische) Merkmale aufweisen, während der Dichter der großen stabreimenden Bibeldichtung Heliand um die Mitte des 9. Jahrhunderts sich — nach der handschriftlichen Uberlieferung zu schließen - in einigen Sprachkriterien mehr dem Fränkisch-Althochdeutschen nähert, ohne aber den nordseegermanischen Grundcharakter seines Idioms dabei aufzugeben. In beiden Sprachstufen, im Althochdeutschen wie im Altsächsischen, kommen außerdem bereits Mischdialekte, d.h. Kreuzungen verschiedener einzelmundartlich verankerter Schreibsprachen vor, ja sogar althochdeutsch-altsächsisch gemischte Denkmäler (wie z.B. das Hildebrandslied, 9. Jh.), was als Indiz für ein überregionales binnengermanisches Sprachverständnis auf dem europäischen Festland gedeutet werden darf, mindestens jedenfalls als Versuch, ein solches zu erreichen. Auch in mittelhochdeutscher Zeit (spätes 11. — 1 4 . / 1 5 . J h . ) kann man noch nicht von einer ausgebildeten einheitlichen Schriftsprachlichkeit des Deutschen sprechen, wenn auch der innere Entwicklungsprozeß von den Mundarten zu den Schriftdialekten um eine Stufe weiter gediehen ist als in althochdeutscher Zeit: denn neben den weiterhin mundartlich bestimmten Schreibdialekten, welche über den ganzen Zeitraum hin begegnen, kommt es an den die Dichtung und Vortragskunst pflegenden Höfen im späten 12. und im 13. Jahrhundert im oberdeutschen Raum zur Ausbildung einer überregionalen Literatursprache, die auf einem Ausgleich von Alemannisch und Bairisch beruht, aber enger Mundartliches bewußt meidet, insbesondere in den einprägsamen Reimformen. Dieser oberdeutsch ausgerichteten, überregionalen höfischen Literatursprache, welche man auch als das klassische oder Normal-Mittelhochdeutsche bezeichnet, haben sich zum Teil auch Dichter aus dem mittel- und norddeutschen Raum angeschlossen. Als ausgesprochen schichtspezifische Sprachform der höfischen Ritterkultur blieb sie nicht länger als etwa hundertfünfzig Jahre (um 1180 bis Anfang 14. Jh.) in Geltung, von einzelnen Nachwirkungen abgesehen.
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Die Periodisierung der deutschen Sprachgeschichte
Außerdem wurde sie vor allem im bairischen Raum durch tiefgreifende Neuerungen im Vokalsystem {ei > ai, sog. nhd. Diphthongierung von i > ei, ü> ou, tu [=«] > eu) überrundet. Eine relativ übergreifende Sprachform, welcher große praktische Bedeutung für den Wirtschaftsverkehr zukam, ist auch in der mittelniederdeutschen Geschäftssprache des spätmittelalterlichen hanseatischen Handelsraumes längs der Nord- und Ostsee erreicht. Innerhalb der Geschichte der neuhochdeutschen Schrift- oder Standardsprache lassen sich sodann vier zeitlich abgrenzbare Phasen erkennen, auf die das Kriterium verschieden intensiver oder ungleich stark normierter Hochsprachlichkeit angewendet werden kann. In der der Sprachstufe Frühneuhochdeutsch zugeordneten Phase 1 unserer Aufstellung von etwa 1350 bis etwa 1650 geht es primär um die Entstehung und erste Etablierung der neuen Ausgleichssprache des Neuhochdeutschen, welche im mitteldeutschen Osten, wo auch Martin Luther (1483—1546) gewirkt hat, ihren ersten räumlichen wie literarischschriftlichen Schwerpunkt fand. Im Zeitraum von 1650-1800, in den wir das ältere Neuhochdeutsche setzen, vollzieht sich als Phase 2 die Ausbreitung und Festigung der neuen Schriftsprache über das gesamte deutsche Sprachgebiet, Hand in Hand mit einer durchgreifenden grammatischen Normierung bis hin zu Johann Christoph Adelung (1732—1806). Erstmals in der Geschichte der deutschen Sprache beginnt in dieser Phase die Erscheinungsform Schriftsprache als Hochsprache (und damit als Normgröße) auf den mündlichen Gebrauch zurückzuwirken, der bislang praktisch nur den Dialekten vorbehalten war, so daß erste Ansätze zu einer hochsprachlich bestimmten Umgangssprache gehobener Kreise festzustellen sind. Seit etwa 1800 kann man in der Sprachstufe jüngeres Neuhochdeutsch (1800-1945) von einer allgemeinen Gültigkeit der neuhochdeutschen Standardsprache in Schule, Staat und Öffentlichkeit sprechen, wodurch die Ausbreitung der gehobenen Umgangssprache weite Ausmaße annahm, was im einzelnen bis zum Verlust des Dialekts (ζ. B. in den oberen Schichten des deutschen Nordens) führen konnte. Als reinste Form gesprochener Hochsprache entstand im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts das Bühnendeutsch, dessen Normen die Ausspracheregeln einer norddeutsch bestimmten Hochlautung sind. Gleichzeitig begann sich aber eine Dialektliteratur zu entfalten, deren Wurzeln noch im 18. Jahrhundert liegen und die nicht ohne Auswirkungen auf den Wortschatz der Hochsprache blieb. Mit der Sprachstufe jüngeres Neuhochdeutsch ist die Phase 3 in der Entwicklungsgeschichte der neuhochdeutschen Schriftsprache erreicht. Zweifellos beginnt nach Ende des Zweiten Weltkriegs 1945 ein neuer Abschnitt, nämlich Phase 4 in der Geschichte des Neuhochdeutschen, die wir mit der Sprachstufe Gegenwartsdeutsch bezeichnen. Für die Geschichte der Schriftsprache läßt sich dabei eine
Die entscheidenden zeitlichen Schnitte
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breite Öffnung in sozialer, sprechsprachlicher und regionaler Hinsicht feststellen, welche ältere Normen grammatischer und stilistischer Art in den Hintergrund drängt. Das Gewichtungsverhältnis zwischen Mundart und Schriftsprache ist einzellandschaftlich allerdings sehr verschieden, außerdem treten städtische und überregionale Umgangssprachformen stärker hervor. Im staatlich-politischen und wirtschaftlichen Sprachbereich werden außerdem die sprachlichen Folgen der Teilung Deutschlands in die östlich orientierte Deutsche Demokratische Republik (DDR) und die westlich orientierte Bundesrepublik Deutschland (BRD) fühlbar. (7) Erst recht ist im Verhältnis Mundarten / Hochsprache seit neuhochdeutscher Zeit landschaftsweise ein entwicklungsgeschichtlicher Unterschied im Sinne diachronisch ungleichmäßiger Weiterentwicklung synchronisch als Sprachgegensatz relevant geworden, der nur sprachhistorisch, d.h. sprachlandschaftsgeschichtlich, erklärbar bleibt (vgl. dazu S. 170) und grundsätzlich wie folgt zu sehen ist: Niederdeutsche Mundarten größte Entfernung von der neuhochdeutschen Schriftsprache (nicht durchgeführte zweite oder hochdeutsche Lautverschiebung und keine Monophthongierung und Diphthongierung im neuhochdeutschen Sinn), aber starke Überschichtung durch die Schriftsprache seit dem 16. Jahrhundert, insbesondere mit der Verbreitung der Luther-Bibel im protestantischen Norden Deutschlands. Hochdeutsche Mundarten zunehmende Entfernung von der neuhochdeutschen Schriftsprache regional von Norden nach Süden, archaische Stellung der südwestdeutschen, schweizerischen (südalemannischen) und südbairischen Mundarten, i.a. starke Stellung der Mundarten als Umgangssprachen im ganzen Süden (Elsaß, Südwestdeutschland, deutsche Schweiz, Bayern, Österreich, Südtirol). 4.2. Die entscheidenden zeitlichen Schnitte Sprachhistorisch tiefer begründbar sind die folgenden zeitlichen Schnitte in der Geschichte der deutschen Sprache: Schnitt 1 Germanisch / Althochdeutsch hauptsächliches Kriterium: durchgeführte zweite oder hochdeutsche Lautverschiebung im Althochdeutschen, wenn auch in landschaftlicher Staffelung (vgl. Abschnitt 3.4., S. 1 2 4 - 1 4 0 )
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Die Periodisierung der deutschen Sprachgeschichte
Schnitt 2 Althochdeutsch / Mittelhochdeutsch hauptsächliches Kriterium: volltonige Nebensilbenvokale im Althochdeutschen; abgeschwächte, d.h. graphematisch zu < e > bzw. phonetisch zu /e/ oder / s / reduzierte Nebensilbenvokale im Mittelhochdeutschen Aber schon hier ergeben sich eine Reihe von Schwierigkeiten bei der Abgrenzung des Spätalthochdeutschen und Frühmittelhochdeutschen, die vielschichtige Übergangsphasen darstellen. Die Sprache Notkers des Deutschen von St. Gallen (um 9 5 0 - 1 0 2 2 ) erweist sich beispielsweise als lautlich-morphologisches Mittelsystem zwischen dem Althochdeutschen und Mittelhochdeutschen, wie die folgenden Beispiele zeigen mögen: althochdeutsche Entsprechung .Herz'
Sg. N. G. D. A. PI. N. G. D. A. Sg. l.Ps. 2.Ps. 3.Ps. PI. l.Ps. 2.Ps. 3.Ps.
herza
herza herzön (normalahd. - öno) herzön
mittelhochdeutsche Entsprechung herzen herzen herzen
herzen räto (normalahd.-«)
raten
ratest ratet rätent (normalmhd.-ei) rätent
So ist es nötig, weitere Kriterien für die Einordnung heranzuziehen. Von der dem lateinischen Text in seinen Übertragungen noch stark verpflichteten Übersetzungshaltung her beispielsweise wirkt Notker dagegen noch rein althochdeutsch, da ihn eine geistige Haltung geprägt hat, die in mittelhochdeutscher Zeit nicht mehr gilt, aber für die althochdeutsche Sprachstufe typisch ist. Schnitt 3
Mittelhochdeutsch / Neuhochdeutsch bzw. Althochdeutsch-Mittelhochdeutsch / Neuhochdeutsch Obwohl der eigentliche zeitliche Übergang vom Mittelhochdeutschen zum Neuhochdeutschen als Spätmittelhochdeutsch und Frühneuhochdeutsch durchaus fließend ist und längere Zeit beansprucht, sind doch sehr gewichtige Kriterien zu einer ganz deutlichen Abgrenzung zwischen Mittelhochdeutsch und Neuhochdeutsch oder Alt- und Mittelhochdeutsch zusammen und Neuhochdeutsch zu nennen. Dabei zeigt sich eine gewichtige diachronische Sonderstellung des Neuhochdeutschen als eines Deutsch der Neuzeit gegenüber dem Deutsch des Mittelalters, welche in den folgenden,
Die entscheidenden zeitlichen Schnitte
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innerlich zusammenhängenden Punkten vorläufig wie folgt zusammengefaßt werden kann: Neuhochdeutsch (Deutsch der Neuzeit)
Alt- und Mittelhochdeutsch (früh-, hoch- und spätmittelalterliches Deutsch) Schreibsprachlichkeit (ohne wirkliche Schriftsprache)
1
Handschriftenüberlieferung
2
weitgehend ungeregelte Orthographie (von einzelnen Persönlichkeiten abgesehen) altes Gefälle Mundarten (primär) —» Schreib- und Literatursprachen (sekundär) im Prinzip gleich strukturiertes Lautsystem im Prinzip gleich strukturiertes Formensystem nach den alten, historischen Bildungsklassen, die synchronisch noch wirksam sind freies, unscharfes Konjunktionensystem
3
relativ freie Wortstellung mit gewissen Festigungstendenzen, mehr rhythmisch bedingt vergleichsweise rascher Entwicklungsgang sprachgeschichtlicher Veränderungen, besonders im Laut- und Formensystem, obwohl im Prinzip gleich strukturiert, dadurch diachronisch verkürzte Verstehbarkeit ' zwei- bis dreigliedrige nominale Komposita zunehmende räumliche Ausbreitung der deutschen Sprache (Süd-, Südost- und Ostsiedlung im Früh-, Hoch- und Spätmittelalter)
8
mehr oder weniger regionale Gleichwertigkeit deutscher Sprachlandschaften für die Schreib- und Literatursprachen
4
5
Schriftsprachlichkeit (Entstehung einer normierten Schriftsprache) Druckschriftenüberlieferung seit der Erfindung des Buchdrucks in der 2. Hälfte des 15. Jahrhunderts Neuregelung einer normativen Orthographie, in Ansätzen seit frühneuhochdeutscher Zeit neues Gefälle Schrift- oder Hochsprache (primär) —» Mundarten (sekundär) grundsätzlich neu strukturiertes Lautsystem
6
grundsätzlich neu strukturiertes Formensystem nach neuen Kategorien oder Klassen
7
grundsätzlich neu strukturiertes Konjunktionensystem mit logischer Ausrichtung neue Regelung der Wortstellung, mehr logisch ausgerichtet
9
10 11
12
durch die neue Schriftsprachlichkeit bedeutend verlangsamter Entwicklungsgang sprachgeschichtlicher Veränderungen, besonders im neu strukturierten Laut- und Formensystem, dadurch diachronisch verlängerte Verstehbarkeit beliebige Anreihung von Kompositionsgliedern in der nominalen Zusammensetzung keine wesentliche Neuausbreitung deutscher Sprache im europäischen Zentralraum, Abnahme des deutschen Sprachgebietes im Osten seit 1918 und besonders seit 1945, Einschränkung der deutschen Sprache im Westen seit 1918 (Elsaß-Lothringen) regionale Ungleichwertigkeit deutscher Sprachlandschaften für die neuhochdeutsche Schriftoder Hochsprache
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Die Periodisierung der deutschen Sprachgeschichte
Wir werden im Verlaufe unserer Darstellung noch öfter auf die einzelnen Punkte, die hier erst als Wegweiser für die Periodisierung stehen, zurückzukommen haben. Immerhin darf schon jetzt betont werden, daß die hauptsächliche Gliederung der deutschen Sprachgeschichte in ihre Stufen Althochdeutsch, Mittelhochdeutsch, Neuhochdeutsch bei fließenden Grenzen im einzelnen gut begründbar ist.
4.3. Das Periodisierungsgerüst Das Periodisierungsgerüst zur Geschichte des Deutschen, wie es in unserer Aufstellung Die zeitliche Einteilung der deutschen Sprachgeschichte auf S. 181 vorliegt, verbindet die allgemeine kulturgeschichtliche Einteilung Frühmittelalter / Hochmittelalter / Spätmittelalter / Neuzeit mit der linguistisch begründeten sprachgeschichtlichen Gruppierung Althochdeutsch / Mittelhochdeutsch / Neuhochdeutsch, wobei aus sprachlichen und überlieferungsmäßigen Gründen eine weitere Differenzierung dazutritt. Auch bei dieser in der Forschung allgemein anerkannten Periodisierung wird die Schwierigkeit der Einstufung des Spätmittelhochdeutschen und Frühneuhochdeutschen sichtbar. Sie liegt kulturgeschichtlich in der Problematik begründet, das Ende des Mittelalters näher zu bestimmen, während sprachgeschichtlich der landschaftlich sehr unterschiedlich vollzogene Systemwandel des Deutschen in Richtung Neuhochdeutsch ins Gewicht fällt. So bleibt auch bei diesem Periodisierungsgerüst zu bedenken, daß die sprachgeschichtlichen Übergangsphasen im einzelnen schwer zu bestimmen sind.
4.4. Die hauptsächlichen Kennmerkmale der verschiedenen Sprachstufen Dem Periodisierungsgerüst der deutschen Sprachgeschichte sind die folgenden Kennmerkmale der Sprachstufen im einzelnen zugeordnet: 4.4.1. Althochdeutsche Sprachstufe (7./8.-11. Jh.) Das Althochdeutsche ist die älteste schriftlich bezeugte Sprachstufe des Deutschen mit vielen archaischen Sprachzügen, vor allem in der Volltonigkeit seines Nebensilbenvokalismus und in der differenzierten, morphemintensiven Endungsflexion. Es gibt keine Mundarten im neuhochdeutschen Bereich, die auch nur spurenweise altertümlicher wären, wenn auch einzelne Dialekte des alpinen Südens im Alemannischen und Bairischen der althochdeutschen Sprachstufe in einzelnen Zügen nahestehen.
Das Periodisierungsgerüst
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600-mo Früh mittelaIterliches D euts c h 600-1070 7 Althochdeutsch 600-800 77. Mfalthodtdeutscft UWfteßJh. 1.2. A/0rimtiltti0(hdeuiT(h(=0stfmnkirdi) $50-1070 7.5. Spj'talthochdeutsch 1070'(7500J Hochmittelalterliches Deutsch io70-(1500) 2. Mitreihochdeutsch 1070-7180 2.1. frühmitrelhochdeuiscft 1180-1500 12. HöfischesMittet'hochdeutsch 1180-1250 2.2.1. HOChhÖfisdt 7250-77500) 2.22 SpäthÖß'sdi W0-(1500) Spätmittelalterliches Deutsch 1300-0500) 2.5 Spätmittelhochdeutsch (1500)Deutsch der Neuzeit (1550)- 3.: Neuhochdeutsch (15507(1650) 57 FiuTmeuhochdeutscft (1650)7800 3.2 Altera Neuhochdeutsch im-m 5.3. Jüngeres Neuhochdeutsch p455.4. Gegenmrtsdeutsch In Kümmern ο diefließenden Ansätze Graphische Darstellung 2 7
182
Die Periodisierung der deutschen Sprachgeschichte
Was den Aufbau eines schriftlich fixierten Sprachsystems betrifft, muß das Althochdeutsche als die große Experimentierphase der deutschen Sprache auf ihrem Weg von den ungeschriebenen bäuerlichen Stammessprachen der Franken, Baiern und Alemannen zu einer neuen Kultursprache christlich-klösterlicher Bildung der europäischen Mitte im Frühmittelalter bezeichnet werden. Das Althochdeutsche vollzieht eine erste vereinheitlichende Klammerbildung als Deutsch oder Volkssprache des ostfränkischen Reichsverbandes. Die sprachlichen Hauptkriterien des Althochdeutschen sind: — nach Mundarten und Landschaften verschieden stark durchgeführte zweite oder hochdeutsche Lautverschiebung (vgl. S. 133ff.), dadurch gegenüber dem diachronisch vorausliegenden Spätgemeingermanischen vollständig umgestaltetes Konsonantensystem mit neuen Reibelauten (t > JJ, J; p > f f , f;k> ch [χχ, χ]) und Affrikaten (i > tz,p> pf, k> kx, kh) — bedeutende Umgestaltung des Vokalsystems durch teilweise Monophthongierung von germanisch ai und au > e und ö, durch Diphthongierung von germanisch e2 und ö > ia und uo, ua in frühalthochdeutscher Zeit und durch den Beginn der Umlautwirkung (f-Umlaut durch /der Endsilben auf a > eder Stammsilben) seit dem späten 8. Jahrhundert — langsame, aber kontinuierliche Schwächung der frühalthochdeutsch und normalalthochdeutsch noch fast ausnahmslos vokalisch vollen Nebensilbenvokale — weitgehender Einfluß des Lateinischen auf den Wortschatz und die Wortbildung und auf die damit verbundene Erneuerung und Ausweitung des Wortvorrates — syntaktische Beeinflussung durch das Lateinische über die vielen Ubersetzungstexte, die den Hauptbestandteil der althochdeutschen Überlieferung ausmachen — weitgehendes Eigenleben der verschiedenen Mundarten, ohne durchgehende schriftsprachliche Einigung, jedoch mit fränkischem Einfluß auf das Oberdeutsche und mit bestimmten schreibsprachlichen Ausgleichsbewegungen. 4.4.2. Mittelhochdeutsche Sprachstufe (spätes 11.-14./15. Jh.) Das Mittelhochdeutsche bildet die große ständisch gebundene Phase der deutschen Sprache im Hochmittelalter, in der zunächst die Standessprache des Rittertums zur übergreifenden Literatursprache wird, während im ausgehenden Mittelalter seit dem 13. Jahrhundert viele neue Fachsprachen und literarische Gattungen des Bürgertums und der an Bedeutung zunehmenden Städte schriftlich in Erscheinung treten. Im ganzen tritt der Einfluß des Lateinischen zugunsten der Volkssprache deutlich zurück, selbst in der breiten geistlichen Sprachschicht des Mittelhochdeutschen, die von der frühmittelhochdeutschen geistlichen Dichtung bis zur spätmittelhochdeut-
Kennmerkmale der verschiedenen Sprachstufen
183
sehen Predigt, Bibelübersetzung und Mystik reicht. Gleichzeitig findet in mittelhochdeutscher Zeit eine große Öffnung der deutschen Sprache nach Westen zum Romanischen hin (Altfranzösisch, Altprovenzalisch) statt. Was das schriftlich fixierte Sprachsystem betrifft, erweist sich das Mittelhochdeutsche als die am meisten differenzierte und vielfältigste Sprachstufe in der Geschichte der deutschen Sprache, deren relative Einheitlichkeit als Literatursprache immer wieder in viele vers- oder stil- bzw. regionalsprachbedingte Doppel- und Mehrfachformen aufgefächert ist (vgl. S. 203 ff.). Die sprachlichen Hauptkriterien des Mittelhochdeutschen sind: - Ansätze zu einer übergreifenden Orthographie — Vermehrung der Vokalphoneme durch weitere Umlaute vor ursprünglichem i der Endsilben (a> ä, ö > ö, ü > ü, ou > öu, uo > üe), die zwar in althochdeutsche Zeit zurückreichen, aber nun schriftlich vollständiger bezeichnet werden - Zusammenfall der meisten Nebensilbenvokale in e und damit weitgehender Abbau der verschiedenen Flexionsmorpheme - Beginn und Durchführung der sog. neuhochdeutschen Diphthongierung von i > ei, ü > au, iu (= ü) > äu, besonders im Südostoberdeutschen und im Ostmitteldeutschen - Beginn und Durchführung der sog. neuhochdeutschen Monophthongierung von ie > i, uo > ü, üe> ü, besonders im Mitteldeutschen — Neigung zu kontrahierten Kurzformen im Verbalbereich (z.B. vän < vähen,fangen', gie < gierte,ich/er ging') — Erproben neuer syntaktischer Ausdrucksformen, besonders im Tempussystem, die teilweise auf das Mittelhochdeutsche beschränkt bleiben - starker Einfluß des Altfranzösischen auf den Wortschatz — Bildung einer oberdeutsch ausgerichteten Literatursprache und neuer Kanzlei- und Fachsprachen bei bewahrter Mundartenvielfalt — breites Spektrum literarisch verfügbarer Sprachschichten, die als CodeSwitching zur Anwendung kommen. 4.4.3. Neuhochdeutsche Sprachstufe (14./15. Jh. bis zur Gegenwart) Das Neuhochdeutsche ist zunächst die große, lang anhaltende Ausbildungs- und Verbreitungsphase einer neu strukturierten und neu systematisierten Schrift- oder Hochsprache, deren übergreifende Normierung und allgemeine Verbreitung im gesamten deutschen Sprachgebiet erst um 1800 erreicht ist. Damit vollzieht sich in weiten Teilen des deutschen Sprachraums eine in den vorausgehenden Sprachstufen so nicht feststellbare starke Zurückdrängung der Mundarten und die Herausbildung einer im wesentlichen auf der Schriftsprache beruhenden neuen Umgangssprache, welche die alten Dialekte besonders in den Städten überlagert oder doch entscheidend mitbeeinflußt. Im 19. und 20. Jahrhundert ist die neuhoch-
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Die Periodisierung der deutschen Sprachgeschichte
deutsche Schriftsprache außerdem zur übergreifenden Sprache der Massenmedien geworden, wenn auch regionalsprachliche Züge dabei weiterhin wirksam sind. In den Sprachschichten sind im Verlaufe der neuhochdeutschen Sprachstufe eine zunehmend differenzierte Verfachsprachlichung und Technisierung festzustellen, die von einer nachhaltigen Internationalisierung der deutschen Sprache begleitet werden: nach innen geht es um die außerordentliche Offenheit des Deutschen gegenüber Fremdeinflüssen im Wortschatz, welche die neuhochdeutsche Sprachstufe trotz mancher immer wieder in Erscheinung tretender puristischer oder „sprachreinigender" Tendenzen im 17., 19. und frühen 20. Jahrhundert kennzeichnet; nach außen hat sich die neuhochdeutsche Schriftsprache seit dem frühen 19. Jahrhundert als eine der einflußreichsten Wissenschaftssprachen des Erdkreises etabliert, deren Geltung zwar nach den beiden Weltkriegen des 20. Jahrhunderts etwas eingeschränkt worden ist. Die sprachlichen Hauptkriterien des Neuhochdeutschen sind: - Entstehung und Verbreitung einer eigentlichen Schrift- oder Hochsprache auf im wesentlichen ostmitteldeutscher Grundlage neben der Weiterentwicklung der Mundarten, die in neuerer Zeit hinter der hochsprachlich bestimmten Umgangssprache zurücktreten - etappenweise Herausbildung einer vereinheitlichten Rechtschreibung der Hochsprache - bedeutender Einfluß der Grammatiker und Lexikographen auf die schriftsprachliche Normierung - Durchführung von Diphthongierung und Monophthongierung (siehe oben S. 183) in der Schriftsprache und in den meisten Mundarten (außer im deutschen Südwesten) - Vokaldehnung in offener Silbe - verschiedene Vokalkürzungen vor Konsonanten - weitgehende Systematisierung des Formenbaus, unter starkem Anteil der progressiven Steuerung mittels Artikel und Pronomen - Ausbildung eines mehr logisch ausgerichteten Satzbaus und einer fest geregelten Wortstellung, insbesondere im Verbalbereich - Aufnahme von unzähligen Fremdwörtern besonders aus dem Französischen und Englischen, beschränkter auch aus dem Slavischen - bedeutende Vermehrung des Wortschatzes durch zwei- oder mehrgliedrige Zusammensetzungen sowie durch neue Abstraktbildungen und Abkürzungswörter - Differenzierung und Technisierung der Sprachschichten und Fachsprachen. Auf die hier nur kurz und summarisch im Sinne eines stichwortartigen Überblicks genannten hauptsächlichen Kennmerkmale der historischen Sprachstufen des Deutschen werden wir immer wieder zurückkommen, wo es der systematische Zusammenhang erfordert.
Das Problem der Verstehbarkeit älterer Sprachstufen
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4.5. Das Problem der Verstehbarkeit älterer Sprachstufen Als direkte Reflexe der sprachgeschichtlichen Veränderungsprozesse im Laufe der Zeit und der sich daraus ergebenden Periodisierung der deutschen Sprachgeschichte dürfen Verstehbarkeit oder Nicht-Verstehbarkeit älterer Sprachstufen genannt werden. Das Problem ist bisher kaum beachtet worden, obwohl sich dafür einerseits direkte Zeugnisse seit humanistischer Zeit, andererseits indirekte Indizien im Weitertragen beziehungsweise im mehr oder minder philologisch richtigen Umsetzen und Weitertradieren älterer Texte finden. Grundsätzlich sind zu unterscheiden: (1) Direkte Zeugnisse über die Verstehbarkeit älterer deutscher Texte oder Handschriften seit humanistischer Zeit Eines der ältesten Zeugnisse zur Beurteilung der Verstehbarkeit älterer Sprachstufen findet sich beim Schweizer Humanisten und Geschichtsschreiber Aegidius Tschudi (1505-1572), der in seinem Werk Die uralt warhafftig Alpisch Rhetia, Basel 1538, mit Bezug auf die althochdeutsche TatianEvangelienübersetzung (Codex 56 der Stiftsbibliothek St. Gallen), die um 830-840 in Fulda entstanden ist, schreibt: „In dem closter S. Gallen ist ein alt bermentin [d.h. pergamentenes] Euangelibuoch vor sechshundert jaren geschriben, vast in denen zyten als tütsch zeschryben wenig zyts daruor den anfang gehebt, ein syt latin, annder syt die tütsch dargegen, welchs dennocht dises hoch tütsch sol sin, aber vnder fünff Worten merckt einer kum einß, wo nit das latin darnebend stüend, daruß einer so latin verstat, die meinung der Worten nemmen muoß." Daran schließt sich eine zweite Stelle in der in den 1550er Jahren entstandenen Urschrift zu Tschudis Chronicon Helveticum an: „Man findt noch in etlichen alten clöstern uralte tütsche schrifften als vertütschte evangeliabücher und anderlei vertütschungen, die diser zit gar unverstäntlich sind", womit wiederum das Althochdeutsche, keineswegs das dem Verfasser schon von seiner archaischen Glarner Mundart her bestens vertraute Mittelhochdeutsche gemeint ist. Ausdrücklich wird hier die Nicht-Verstehbarkeit des älteren Althochdeutschen für die humanistische Zeit bezeugt. Beim barocken Grammatiker Justus Georg Schottelius wird die schwere Verstehbarkeit des Althochdeutschen und des als „teutsche Sprache" bezeichneten Altsächsischen aus normativer Sicht mit der fehlenden Regelmäßigkeit dieser Sprachstufen begründet und der grammatisch normierten Hoch- oder Schriftsprache gegenübergestellt: „ . . . / daher man in den allerältesten Geschriften und Reimereien dieses warnimt / daß nach Belieben und Einfällen die Wörter sind geendigt / und dadurch noch bis ietzo fast unvernemlich gemachet worden / daß nichts wenigere / als etwas Regulmessiges oder grundrichtiges darin zuerspüren: Nunmehr aber ist alle Ungrundrichtigkeit / zufoderst in der Hochteutschen Mundart aufgehoben /
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Die Periodisierung der deutschen Sprachgeschichte
welche billich ein jedweder nach Vermögen in rechte und weitere Kunstzier einzukleiden / bemühet seyn sol" (Ausführliche Arbeit Von der Teutschen HaubtSprache, Braunschweig 1663,175). (2) Diachronische Wiederaufnahme durch synchronische Erneuerung älterer Textvorlagen Dieser Vorgang bleibt in der Geschichte der deutschen Textüberlieferung natürlich häufig zu beobachten, wobei die Fälle einer Erneuerung althochdeutscher Vorlagen in mittelhochdeutscher und frühneuhochdeutscher Zeit sich allerdings auf Notker von St. Gallen (um 950—1022) und Williram von Ebersberg (nach 1000-1085), also auf spätalthochdeutsche Texte, beschränken. Zwei kurze Beispiele und weitere Hinweise mögen diesen Vorgang illustrieren: (a) Notkers Psalter, alemannisch, nach 1000, St. Gallen sowie die Überarbeitung im sog. Münchener Psalter, bairisch, 2. Hälfte 14. Jh. (Texte nach Paul Piper, Die Schriften Notkers, Bd. II, Freiburg und Tübingen 1883, und Albert L. Lloyd, Der Münchener Psalter des 14. Jahrhunderts, Berlin 1969); Beispiel Psalm 1, Anfang: lateinisch: Beatus vir qui non abiit in consilio impiorum et in via peccatorum non stetit et in cathedra pestilentiae non sedit. Notker, nach 1000, kommentiert und erweitert (Hs. 12. Jh., Codex Sangallensis 21): Der man ist sälig. der in dero argon rät negegieng. So Adam teta. dö er dero chenun rates folgeta uuider Gote. Noh an dero sundigon uuege nestuont. So er teta. Er chäm daräna. er chäm an den breiten uueg ter ze hello gät. unde stuönt täräna. uuanda er hangta sinero gelüste. Hengendo stuont er. Noh an demo suhtstuöle nesaz. ih meino daz er richeson neuuolta. uuanda diü suht stüret sie näh alle. So si adämen teta. do er got uuolta uuerden. Pestis chlt latine pecora sternens [Glosse 11. Jh. fieo niderslahinde]. So pestis sih kebreitet. sö ist iz pestilentia. id est late peruagata pestis [Glosse 11. Jh. uuito uuällonde sterbo]. Münchener Psalter, 2.Hälfte 14. Jh.: Der man ist selig der niht gieng in den rat der argen. Als adäm tet do er der konen rates volget wider got. Vnd an dem weg der sündigen stünd er niht. So adam tet. er kom dar-an. er kom an den preiten weg der ze helle gat vnd stünt dar-an wan er verhanget seinem gelust. vnd an dem stül der süht saz er niht. Ich mein daz er niht reichsen wold, wan div suht störet si nahen alle. Als si adäm tet do er got wolt werden. Pestis in latein ist als vil gesprochen als ein niderslach des vihes. vnd wenn si sich gebreittet so heizzet ez pestilentia .i. pestis late pervagata. Das Verständnis ist trotz des Zeitsprunges von etwa 350 Jahren und großer sprachlicher Veränderungen im Sprachsystem (z.B. Diphthongierung i > ei, ü > ou, tu [= ü] > eu; Ersatz der Negation ne durch niht;
Das Problem der Verstehbarkeit älterer Sprachstufen
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Unterschiede in der Wortstellung) erstaunlich genau — im kurzen Textbeispiel ist lediglich stiuren ,lenken, steuern' durch stören,stören, verhindern' (zu erwarten wäre steuren) ersetzt, offenbar aus einem Mißverständnis heraus. (b) Williram von Ebersberg, Paraphrase des Hohen Liedes, ostfränkisch, um 1060 und die späteste handschriftliche Ab- und Umschrift desselben Textes durch Frater Ambrosius Brunner, Bamberg 1523 (Texte nach Erminnie Hollis Bartelmez, The ,Expositio in Cantica Canticorum' of Williram, Abbot of Ebersberg 1048-1085, A Critical Edition, Philadelphia 1967), Kapitel 71: lateinische Prosa: Fons [h]ortorum, puteus aquarum viventium, quae fluunt impetu de libano lateinische Versfassung in leoninischen, d.h. binnengereimten Hexametern: Tu fons hortorum. puteusque profundus aquarum: De libani summo qu? currunt impete uasto [usw., dieser Text ist für unseren Vergleich unwichtig] spätalthochdeutsche Normalfassung um 1060 (im wesentlichen nach der Breslauer Handschrift 3 4 7 , 1 1 . Jh.): Du bist gärtbrunno: du bist pütza der quekkon uuäzzero. die mit tüihte fliezzent uon libano. An dir ist scientia ueritatis. diu der in sacra scriptum etisuua also offan ist sämo der fliezzente brünno. uuänte siu liht ist ze uernemene: etisuua ist siu also diu pütza. da üz man daz uuäzzer mit arbeiten skeffet. uuante siu ünsemfte ist zeuernemene. Ambrosius Brunners Umschrift von 1523 (Hs. Bamberg A 73): Du bist garttenn bronne, du bist ein phucze der lebentigen wasser, die mit schnellikeyt flyessen uon libano. In dir ist scientia ueritatis, dye in sacra scriptura etwan also offen ist alß der fliessende bronne. Wann sye leycht ist zu vornemen. Etwan ist sye alß dye pfucze da auß man daß wasser mit erbeyt schepffte, uuan sye vnsanfft ist zu vornemen. Trotz der großen zeitlichen Sprachdifferenz von etwa 450 Jahren - was den Sprachstand Spätalthochdeutsch gegen Frühneuhochdeutsch betrifft —, liegt ein ausgezeichnetes Verständnis im jüngeren Text vor, wobei die diesem direkt zugeordnete Vorlage freilich nicht näher bekannt ist. (c) Zeitlich näher stehen sich die vielen frühneuhochdeutschen synchronischen Erneuerungen mittelhochdeutscher Texte bis in die Frühdrucke des späteren 15. und des 16. Jahrhunderts, wo es meistens fast nur um die Umsetzung des Vokalsystems durch die sog. neuhochdeutsche Diphthongierung (/ > ei/ai, ü > ou/au, ü > eu/äu) ging. Dies ist z.B. in den Bamberger Wiegendrucken von Ulrich Boners Fabelsammlung Edelstein zu beobachten, wo der spätmittelhochdeutsche Text des Berner Dominikaners aus der Mitte des 14. Jahrhunderts in den ostfränkischen Bamberger Drucken von 1461 und um 1463/64 hundert Jahre
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Die Periodisierung der deutschen Sprachgeschichte
später einfach dem dortigen diphthongischen frühneuhochdeutschen Lautstand angeglichen wurde (einzige erhaltene Exemplare in der Herzog August Bibliothek zu Wolfenbüttel, vgl. Ausstellungskatalog Nr. 4, Incunabula incunabulorum 1972). (3) Altertümliche Ausrichtung in bestimmten Sprachschichten im Sinne einer Orientierung an älteren Sprachstufen In der mittelhochdeutschen und spätmittelhochdeutschen Urkunden- und Kanzleisprache begegnet das Phänomen einer altertümlichen Ausrichtung des Sprachstandes, besonders was die Nebensilbenverhältnisse betrifft. Die schriftliche Fixierung mit falsch oder richtig restituierten Nebensilbenvokalen darf dabei keineswegs als Reflex der gesprochenen Sprache verstanden werden. Vielmehr handelt es sich um kanzleimäßige Bemühungen, einen mehr oder weniger fiktiven älteren Sprachstand einzufangen. Dergestalt kann man von einer althochdeutschen (so Renward Brandstetter, 1892) oder frühmittelhochdeutschen Richtung, einfacher von einer altertümlichen Ausrichtung der spätmittelhochdeutschen Urkunden- und Kanzleisprache sprechen. Oft lassen sich parallele, gleichzeitige Urkunden von verschiedenen Ausstellern in verschiedene sprachliche Ausrichtungen gliedern, wie im folgenden Beispiel aus den Anfängen einer deutschsprachigen Urkundentradition: (a) mittelhochdeutsche Ausrichtung, Originalurkunde Klosterarchiv Wurmsbach, Kt. St. Gallen, A 3 (Druck u.a. Zürcher Urkundenbuch II, Nr.803; F.Wilhelm, Corpus der altdeutschen Originalurkunden I, Nr. 15), etwa 1251-1254: In deme namen linsers herren. Ich abbatissa Offmia von Schennis und allü du / samenunge künden de allen, die sint und die noh komen sun, de wir den kouf state / han, den ünsers gothuslüte von Smaerinkon hant getan umbe den weger ze Bollingen. De / dis ünser wille ist, des henken wir unser insigel herane und tün de alle kunt, de herre Kraft von Tokenburch dur got und dur graven R. von Raprehswile het enzigen sich der vogetteige, die er hate über dis selbe gut. De de staste si, darumbe henket herre Kraft sin insigel herane. Dieser Text repräsentiert sprachlich ein normales alemannisches Spätmittelhochdeutsch des 13. Jahrhunderts mit der gebräuchlichen Abkürzung de im daz ,das, daß'. (b) altertümliche Ausrichtung, Originalurkunde Klosterarchiv Wurmsbach, Kt. St. Gallen, A 2 (Druck u.a. Zürcher Urkundenbuch II, Nr.804; F.Wilhelm, Corpus der altdeutschen Originalurkunden I, Nr. 16), etwa 1251-1254: In dem namin gottis amen. Ih Kraft von Tokinburch künd allin, die disin brief gesehint / aide gehörint, daz ih dur miner sele und miner vorderon trost han gegebin dien suestirn / ce Bollingen, swaz ih teilis
Das Problem der Verstehbarkeit älterer Sprachstufen
189
hette an dem wier bi der burch ze Bollingen, mit allim dem / rehte, als ih ez und mine vordirn lange zit daher han besezzin, an alle ansprahe. Und dur daz disi gift deste bezzir stete habe, so han ih disin brief gevestit mit mime ingesigele. Dieser Text zeigt, was die Nebensilben betrifft, eine altertümliche Ausrichtung, zunächst in die frühmittelhochdeutsche /-Haltigkeit zurück, aber selbst mit geradezu „althochdeutschen" Spuren (miner vorderon trost gegenüber mine vordirn). (4) Eigentliche literarische Übersetzungen vor oder außerhalb der philologischen Hilfsmittel Die ersten literarischen Übersetzungen althochdeutscher Denkmäler in älterer neuhochdeutscher Zeit zeigen wiederum die besonderen Verständnisschwierigkeiten der ältesten deutschen Sprachstufe. So versucht sich Johann Klaj in seinem Werk Redeoratorien, Nürnberg 1654, mit beschränktem Erfolg im Übersetzen einer Anfangspartie aus Otfrids von Weißenburg Evangeliendichtung (althochdeutsch, 9. Jh.). Ebenso gelingt Johann Gottfried Herder in seinen Stimmen der Völker in Liedern 1778/79 im 5. Buch nur eine annähernd genaue Übersetzung des althochdeutschen Ludwigsliedes aus dem späten 9. Jahrhundert, mit vielen Mißverständnissen im einzelnen, wenn auch der Gesamtsinn des Gedichtes im wesentlichen erfaßt ist. Aber einzelne Strophen liegen doch sehr weit ab, ζ. B. Verse 11—12: Althochdeutsch:
Herder:
Lietz her heidine man Obar seo lidan, Thiot Urancono Manon sundiono.
Ließ der Heiden Männer Über sie kommen; Ließ seine Franken Den Heiden dienen. Neuhochdeutsche Übersetzung: Er ließ heidnische Männer über die See fahren, um das Volk der Franken an die Sünden zu mahnen.
Auch hier zeigt sich indirekt die Verstehbarkeitsgrenze zwischen Althochdeutsch und Neuhochdeutsch. Bei der Beurteilung älterer mittelhochdeutscher Übersetzungen, z.B. durch die Romantiker, kommt die altertümliche Patina als Verfremdungseffekt hinzu, hinter der sich oft mangelndes philologisches Verständnis im einzelnen verbirgt. So setzt ζ. B. Ludwig Tieck in seinen Minneliedern aus dem Schwäbischen Zeitalter, 1803, Nr. 171, ein Lied Heinrichs von Morungen aus dem Ende des 12. Jahrhunderts (Minnesangs Frühling 122, 1—9) wie folgt — halb verstanden, halb unverstanden — um: Mittelhochdeutscher Text: Si ist zallen eren ein wip wol erkant, schöner geberde, mit zühten gemeit,
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Die Periodisierung der deutschen Sprachgeschichte sö daz ir lop in dem riche umbe gät. alse der mäne vil verre über lant liuhtet des nahtes wol lieht unde breit so daz sin schin al die weit umbevät, alse ist mit güete umbevangen diu schöne; des man ir giht, si ist aller wibe ein kröne.
Nachdichtung von Ludwig Tieck:
Sie ist zu allen Ehren ein Weib wohl erkannt, Schöner Geberde mit edler Züchtigkeit So daß ihr Lob in dem Reiche ummegaht, Wie der Monde wohl ferne über Land Leuchtet des Nachtes wohl licht und breit So daß sein Schein all die Welt ummefaht, So ist mit Güte ummefangen die Schone Des man sie hat vor allen Weiben zur Krone.
Die philologische Ubersetzung müßte lauten: Sie ist in aller Ehrenhaftigkeit als Frau sehr anerkannt, von schönem Benehmen, von edlem Anstand lieb und stattlich, so daß ihr Ruhm im Reich herumgeht. So wie der Mond sehr weit über Land des Nachts leuchtet gar hell und stark, so daß sein Schein die ganze Welt umfängt, so ist die Schöne von Herrlichkeit umgeben. Deshalb darf man von ihr behaupten: sie ist unter allen Frauen eine Krone.
Die entscheidenden Verstehbarkeitsgrenzen in der Geschichte des Deutschen liegen so: Spätgermanisch
erste Verstehbarkeitsgrenze
Althochdeutsch
,, ,, , . zweite Verstehbarkeitsgrenze
Mittelhochdeutsch
, . ,, , , , . dritte Verstehbarkeitsgrenze
Neuhochdeutsch
Jede diachronische Hauptstufe des Deutschen ist je durch eine deutliche Verstehbarkeitsgrenze von der vorausliegenden Sprachstufe geschieden. Das ist der tiefere Grund dafür, daß wir fast keine direkten literarischtextlichen Nachwirkungen vom Vordeutschen zum Althochdeutschen, vom Althochdeutschen zum Mittelhochdeutschen und vom Mittelhochdeutschen zum Neuhochdeutschen namhaft machen können. Die gewaltigen Umgestaltungen vom Spätgermanischen zum Althochdeutschen (neues Vokalsystem durch die frühalthochdeutsche Monophthongierung und Diphthongierung sowie durch die Umlautwirkung; neues Konsonantensystem durch die Wirkung der zweiten oder hochdeutschen Lautverschiebung), vom Althochdeutschen zum Mittelhochdeutschen (insbesondere Nebensilbenabschwächung) und vom Mittelhochdeutschen zum Neuhochdeutschen (schriftsprachliche Durchsetzung von Diphthongierung, Monophthongie-
Das Problem der Verstehbarkeit älterer Sprachstufen
191
rung, Dehnung in offener Silbe und Kürzung vor bestimmten Konsonanten; neue Flexionsstrukturen) haben jedesmal, wenn auch landschaftlich verschieden, jedoch insgesamt literatursprachlich oder schriftsprachlich voll wirksam zu deutlichen Verstehbarkeitsgrenzen geführt. Entscheidend verlängert hat sich dabei die Verstehbarkeit in zeitlicher Hinsicht erst im Neuhochdeutschen, das selbst von der Gegenwart aus gesehen weitgehend voll verstehbar bleibt seit dem 15./16. Jahrhundert, so daß wir trotz einiger Einschränkungen mit einer diachronischen Verstehbarkeit des Neuhochdeutschen als Schriftsprache von rund 500 Jahren rechnen können. So ist zum Beispiel die Luther-Bibel, 1522—1546, heute noch annähernd voll verstehbar. Es gehört zu den typologischen Hauptkriterien der neuhochdeutschen Schriftsprache, daß sie über eine diachronisch außerordentlich weite Rückverlängerung durch ihre fast ungebrochene Verstehbarkeit verfügt, so daß dem Gegenwartsdeutsch die älteren Texte etwa des 16., 17. und 18. Jahrhunderts noch so gut wie direkt greifbar sind. Weiter zu differenzieren ist unser Verstehbarkeitsgerüst (oben S. 190) nur in den zeitlich aneinander anschließenden Teilperioden der großen Gruppe Althochdeutsch / Mittelhochdeutsch / Neuhochdeutsch, nämlich in folgender Hinsicht: Spätalthochdeutsch
\
Mittelhochdeutsch
Mittelhochdeutsch (vereinzelt Frühneuhochdeutsch)
\
Frühneuhochdeutsch
je mit relativ großer Verstehbarkeit ihrer unmittelbar vorausliegenden Sprachstufen Dies erweisen die oben unter Ziffer (2) genannten Beispiele. Eine Zusammenfassung der Verstehbarkeit der historischen Sprachstufen des Deutschen vom Standpunkt der neuhochdeutschen Gegenwartssprache aus zeigt die folgende, beachtenswerte Stufung (dazu Schema S. 192): Althochdeutsch: Beschränkung der Verstehbarkeit auf einzelne Wörter oder bekannte Textmuster, wie zum Beispiel die Vaterunser-Ubersetzungen und die Glaubensbekenntnisse, was schon den Humanisten geläufig war. Eine durchgehende Verstehbarkeit ist besonders wegen der Volltonigkeit und reichen Endungsflexion des Althochdeutschen nicht gegeben. Immerhin sind vom Neuhochdeutschen aus viele Wortkörper erkennbar. Mittelhochdeutsch: Texte sind immerhin beschränkt verstehbar, doch ergeben sich bedeutende Schwierigkeiten in der Wortinhaltserfassung. Die meisten vom Neuhochdeutschen her scheinbar voll verständlichen Wörter des Mittel-
192
Die Periodisierung der deutschen Sprachgeschichte
hochdeutschen haben eine ganz andere Bedeutung im einzelnen. Man vergleiche: mhd. vrouwe f. mhd. riche mhd. muot m.
mhd. klein(e) mhd. krattc
,Herrin, Lehensherrin, Dame', nicht wie nhd. Frau (dafür mhd. wip) ,mächtig, gewaltig, herrlich', nicht einfach nhd. reich ,Gesinnung, Gemüt, Hochherzigkeit, Lust, Entschluß, Absicht', nicht einfach nhd. Mut ,glänzend, zierlich, fein rein, hübsch, zart', nicht nur wie nhd. klein (dafür mhd. lützel) ,kraftlos, schwach, schmal, schlank, wertlos, gering',
PieVerstehbarkrtt derhistorischen Spndistuftn desPöltschen vom Standpunkt derCegmmrtssimche Althochdeutsch.: keine durchgehende Verstehbarkeit Verständnis auf einzelne Wörter oder bekannte Textmuster beschränkt
Mittelhochdeutsch: Texte beschränkt verstehbar Schwierigkeiten in der Wortinhalterfassungt> imformalenVerständnis und in derSyntajc
Frühneuhodideutsch: weitgehend verstehbar bedeutende syntaktische und lexikalische Abweichungen
älteresNeuhochdeutsch:fist voll verstehbar lexikalische Mißverständnisse möglich
jüngeresNeuhochdeutsch: voll verstehbar Graphische Darstellung 2 8
Das Problem der Verstehbarkeit älterer Sprachstufen
193
nicht wie nhd. krank (dafür mhd. siech) ,tüchtig, gut, trefflich, angesehen, tapfer, nützlich, wirksam', nicht wie nhd. fromm mhd. milte, milde »freundlich, gütig, barmherzig, wohlgesittet, freigebig, reichlich, ausgiebig', nicht einfach wie nhd. mild. Daneben erschweren verschiedene syntaktische Eigenheiten des Mittelhochdeutschen, die der neuhochdeutschen Schriftsprache fehlen, das direkte Textverständnis jenseits der philologischen Kenntnisse. Erst seit frühneuhochdeutscher Zeit können wir von einer weitgehenden bis vollen Verstehbarkeit von der Gegenwartssprache aus sprechen, wenn sich auch im Frühneuhochdeutschen noch bedeutende syntaktische und lexikalische Abweichungen erschwerend einstellen. Mit der zunehmenden Verfestigung und räumlich-überregionalen Geltung der neuhochdeutschen Schriftsprache, besonders im älteren und jüngeren Neuhochdeutschen, wird die Verstehbarkeit zunehmend voll. Der verlangsamte Veränderungsprozeß der neuhochdeutschen Schriftsprache, besonders im Laut- und Formensystem, und die durch den Buchdruck ermöglichte überregionale und langfristige Verfügbarkeit der Sprachdenkmäler gewährleisten die Verstehbarkeit über Jahrhunderte zurück. In der Geschichte der deutschen Sprache ist dies der klassische Fall einer über Jahrhunderte hinaus verstehbaren Verlängerung der Sprache durch die Schrift und einer in ihr festgelegten und darum in ihrer diachronischen Entwicklung verlangsamten Sprachnorm. mhd. vrurtt, vrom
Literaturhinweise zu Kapitel 4. Lexikon der Germanistischen Linguistik, hg. von Hans Peter Althaus, Helmut Henne, Herbert Ernst Wiegand, Tübingen 1973 (Abschnitt VI, Historische Aspekte der Sprache, S. 389—455). - Franz Saran, Das Übersetzen aus dem Mittelhochdeutschen, Eine Anleitung für Studierende, Lehrer und zum Selbstunterricht, Dritte Auflage von Bert Nagel, Tübingen 1957 (enthält S. 131—219 ein „Verzeichnis häufig vorkommender oder besonders wichtiger Wörter" des Mittelhochdeutschen mit Etymologie und Bedeutungsentwicklung). — Herbert Wolf, Zur Periodisierung der deutschen Sprachgeschichte, Germanisch-Romanische Monatsschrift, N.F.Bd. XX), 1971, 7 8 - 1 0 5 (hier die Literatur zur Frage). Zur Beschäftigung mit den älteren deutschen Sprachstufen seit dem Humanismus vgl. besonders Rudolf von Raumer, Geschichte der germanischen Philologie vorzugsweise in Deutschland, München 1870; Bernhard Hertenstein, Joachim von Watt (Vadianus), Bartholomäus Schobinger, Melchior Goldast, Die Beschäftigung mit dem Althochdeutschen von St. Gallen in Humanismus und Frühbarock (Das Althochdeutsche von St. Gallen, Bd. 3), BerlinNew York 1975; Hugo Moser, Karl Simrock, Universitätslehrer und Poet, Germanist und Erneuerer von .Volkspoesie' und älterer .Nationalliteratur', Ein Stück Literatur-, Bildungsund Wissenschaftsgeschichte des 19. Jahrhunderts (Academica Bonnensia, Bd. 5), Bonn 1976; Bernhard Stettier, Studien zur Geschichtsauffassung des Aegidius Tschudi, Habilitationsschrift Zürich, Basel 1973.
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Die Periodisierung der deutschen Sprachgeschichte
Zu den verschiedenen Richtungen der älteren Urkunden- und Kanzleisprache Renward Brandstetter, Prolegomena zu einer urkundlichen Geschichte der Luzerner Mundart, Einsiedeln 1890 und Derselbe, Die Luzerner Kanzleisprache 1250—1600, Einsiedeln 1892 (SA. aus Geschichtsfreund 4 5 , 1 8 9 0 , 2 0 1 - 2 8 4 und 47,1892,225-318).
5. Deutsche Sprachgeschichte im systematischen Überblick
5.1. Kriterien eines systematischen Überblicks Ein neuer, vertiefter Überblick über die deutsche Sprachgeschichte darf sich nicht damit begnügen, nach dem zeitlichen Raster vom Jahr 5 0 0 n. Chr. bis zum Jahr 2000 n.Chr. die hauptsächlichen sprachgeschichtlichen Daten anzureihen oder die einzelnen Sprachstufen des Deutschen zeitlich nacheinander in der Darstellung abrollen zu lassen, sondern es sind zunächst Kriterien zu finden, nach denen ein struktureller Überblick über die Entwicklung sinnvoll erscheint und so aufgezeigt werden kann. Kriterium 1: Sprachgeltung im Gesellschafts- und Staatsverband Als erstes Kriterium ist die Sprachgeltung und Sprachverwirklichung der deutschen Sprache im Gesellschafts- und Staatsverband zu nennen, die es in Form eines Überblickes zu bestimmen gilt. Als Entwicklung im Großen, d.h. von der Vorgeschichte der deutschen Sprache an über zwei Jahrtausende bis zur Gegenwart läßt sich ein allmählicher Übergang des Deutschen bzw. seiner Vorstufen von den Stammessprachen der spätantiken und frühmittelalterlichen Zeit zu den Schreibdialekten und Literatursprachen des Mittelalters und schließlich zur Schrift- und Nationalsprache der älteren und jüngeren Neuzeit und zur Staats- oder Amtssprache der verschiedenen ganz oder teilweise deutschsprachigen Staaten verfolgen, wie wir es im entsprechenden Schema (Die Entwicklung des Deutschen von den Stammessprachen zur Schrift-, National- und Staatssprache, S. 198) aufgezeichnet haben. Der gesamte Vorgang läßt sich in den beiden Koordinaten Zeitachse der geschichtlichen Sprachstufen des Deutschen und gesellschaftspolitische Entfaltung begreifen und zeigt den folgenden Entwicklungsgang (zu den Begriffen Stamm, Nationalität, Nation vgl. Μ. M. Guchmann im Literaturverzeichnis) :
196
Deutsche Sprachgeschichte im systematischen Überblick
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sagte; gehöret > gehört) auch in der älteren Grammatik des 17. und 18. Jahrhunderts ausführlichen Niederschlag gefunden hatte und wir auch in der Flexion des Neuhochdeutschen im 19. und 20. Jahrhundert solche Fälle feststellen können (Dativ Singular voller am Wege, allgemeiner auf dem Weg). Als einzige konstante Entwicklungstendenz innerhalb des Konsonantensystems des Deutschen, die sich vom Althochdeutschen bis zur neuhochdeutschen Schriftsprache durchzieht, ist die Vereinfachung der konsonantischen Geminaten zu nennen. Schon im Althochdeutschen wurden, was graphematisch zunehmend fast regelhaft zum Ausdruck kam, die verschiedenen besonders aus der zweiten oder hochdeutschen Lautverschiebung (vgl. besonders S.127f.) und aus der südgermanischen Konsonantengemination (vgl. S. 116) resultierenden oder sonst schon vorhandenen Doppelkonsonanten unter bestimmten Bedingungen vereinfacht: nämlich im Auslaut (germ. *skipa-, ahd. skif, Gen. skiffes ,Schiff') sowie nach Langvokal (germ. *slepan, ahd. släffan > släfan »schlafen') und Diphthong (germ. *haitan, ahd. hei^an > hei^att ,heißen'). So kamen im mittelhochdeutschen Lautsystem der höfischen Literatursprache nur noch Geminaten nach Kurzvokal vor. Aber auch diese wurden seit frühneuhochdeutscher Zeit in der Schriftsprache und Hochlautung — nicht aber im deutschsprachigen Südwesten — vereinfacht, wenn sie auch orthographisch stehen blieben, freilich in völlig anderer graphematischer Funktion, nämlich zur Bezeichnung der vorausgehenden Vokalkürze: mhd. essen, nhd. essen, Hochlautung -esan (ahd. e^an < germ. *etan) mhd. offen, nhd. offen, Hochlautung 'ofan (ahd. off an < germ. * opana) mhd. wille, nhd. Wille, Hochlautung 'Vila (ahd. willeo < germ. * wiljan) mhd. machen, nhd. machen, Hochlautung 'ma/an (ahd. mahhön < germ. * makön) mhd. acker, nhd. Acker, Hochlautung 'akar (ahd. ackar < germ. * akraz)
Konstanten in der Geschichte der deutschen Sprache
241
Damit läßt sich eine konstante Entwicklungstendenz verfolgen, die zum Fehlen echter Geminaten im neuhochdeutschen Konsonantensystem geführt hat: Germanisch | Althochdeutsch | Mittelhochdeutsch Neuhochdeutsch (Schriftsprache und Hochlautung)
— Entstehung vieler neuer Doppelkonsonanten durch die zweite Lautverschiebung und die südgermanische Konsonantengemination — erste stellungsbedingte Reduktion der Geminaten im Verlauf des Althochdeutschen — neue Ausgangslage: nur noch Geminaten nach Kurzvokalen — zweite totale Reduktion der Geminaten — neue graphematische Funktion der Doppelkonsonanten in der Opposition zu einfachen Konsonanten {offen 'ofan / Ofen· o:fan)
5.2.2.2. Konstanten der Formensystementwicklung Auch in der Geschichte des deutschen Formensystems, d. h. in der Entwicklung und Veränderung der Morphematik, lassen sich konstante Entwicklungstendenzen verfolgen, die vom Althochdeutschen bis zur neuhochdeutschen Gegenwartssprache wirksam sind. Zunächst ist es die Steuerung der Flexion, die einem kontinuierlichen Veränderungsprozeß nach einer Richtung hin unterworfen bleibt. Das Sprachsystem des Deutschen verfügt grundsätzlich über drei Prinzipien der Flexion: 1. Über die für das Germanische (und Indogermanische) typische Endungsflexion mit regressiver Steuerung von einem dem Lexem oder Wortstamm zugefügten Morphem her, ζ. B. Subst. PI. N. (a-Stämme) Verb Präs. Ind. 2. Sg.
germ. *dag-öz, got. dag-os, ahd. tag-a, mhd. tag-e, nhd. Tag-e ahd. mahh-ös(t), mhd. mach-est, nhd. machst
Die Bestimmung der grammatischen Form im einzelnen zu Einzahl oder Mehrzahl, Fall, Zeit, Aussageweise, Aktiv oder Passiv usw. erfolgt dabei regressiv von der Endung aus, die für die Flexion entscheidend ist. 2. Über die ebenfalls vom Indogermanischen und Germanischen her altererbte, aber im Spätgermanischen und Deutschen maßgeblich vermehrte Stamm- oder Wurzelflexion, bei welcher die flexivische Steuerung durch den Stammvokal (selten in Verbindung mit Stammkonsonanten) erfolgt, ζ. B. in den folgenden Oppositionen Verb Imperativ 2. Sg. Prät. Ind. 1./3. Sg. Verb Ind. Präs. 3. PI. Prät. Ind. 3. PI. Subst. Sg. N. PI. N.
ahd. nhd. wirf, bzw. ahd. far, nhd. fahr ahd. nhd. warf ahd. fuor, nhd. fuhr leiden, litten nhd. Vater, Mutter, Väter, Mütter
242
Deutsche Sprachgeschichte im systematischen Überblick
3. Uber die im Germanischen und Althochdeutschen erst teilweise, im Verlauf der deutschen Sprachgeschichte aber zunehmend entwickelte Flexion durch vorangestellten Begleiter, d. h. durch Pronomina und Artikel, wobei auch Adjektive die Begleiterfunktion annehmen können. Die Steuerung der Flexion erfolgt hier progressiv vom Begleiter her (sofern nicht Inversion bei Verbalformen vorliegt), z.B. Verbalflexion
Substantivflexion
nhd. wir kommen / sie kommen; wir kamen / sie kamen; wir kämen / sie kämen kommen Sie! kamen sie schon? nhd. der Tag, dem Tag, den Tag nhd. der Lehrer, die Lehrer nhd. schöner Tag, schönen Tag
Eine weitere Form der progressiven Steuerung, aber nur in Verbindung mit Stamm- und Endungsflexion, zeigen die Sprachstufen Alt- und Mittelhochdeutsch im Verbalbereich mittels des Präfixes ga-, gi-, ge-, womit Präsensformen perfektive oder ingressive Bedeutung, Präteritalformen vorzeitige Bedeutung annehmen konnten. Diese Differenzierungsmöglichkeit ist seit frühneuhochdeutscher Zeit verlorengegangen. So heißt es ζ. B. althochdeutsch in der Tatian-Übersetzung 2 , 2 von Zacharias und Elisabeth bithiu uuanta ... beidu framgigiengun (zu framgangan ,vorwärts gehen') in iro tagun ,weil beide in ihren Tagen vorwärts gegangen waren, d.h. in ihrem Alter weit fortgeschritten waren', wobei die Vorzeitigkeit durch das Präfix gi- zum Präteritum giengun ,sie gingen' ausgedrückt ist. Oder spätmittelhochdeutsch heißt es als sie gäj^en und getrunken ,als sie gegessen und getrunken hatten'. Nun ist es freilich nicht so, daß diese drei Flexionsprinzipien im Sprachsystem stets ausschließlich anzutreffen sind. Vielmehr erscheinen sie meistens in verschiedenen Kombinationen miteinander, welche zu einer Mehrfachbezeichnung der grammatischen Zuordnung führen können (sog. Redundanz). Diese Kombinationsfähigkeit hat sich im Verlauf der deutschen Sprachgeschichte zunehmend verstärkt. Die verschiedenen Kombinationen lassen sich wie folgt klassifizieren: Kombination 1/2 (Endungsflexion und Stammflexion) Kombination 1/3 (Endungsflexion und progressive Steuerung) Kombination 2/3 (Stammflexion und progressive Steuerung) Kombination 1/2/3 (alle Prinzipien kombiniert)
ahd. Sg. N. gast, PI. N. gesti; nhd. Sg.N. Gast, PI. N. Gäste ahd. Ind. Präs. Sg. l.Ps. wirfu, Ind.Prät. Sg. l./3.Ps. warf (entsprechend nhd. werfe, warf) nhd. ich mache, du machst, er macht, wir machen usw. der Soldat, die Soldaten nhd. Sg.N. der gute Vater, PL N. die guten Väter guter Vater gute Väter nhd. ich werfe, du wirfst, er wirft, wir werfen; ich warf, du warfst, ich würfe, du würfest der verlorene Sohn, die verlorenen Söhne
Konstanten in der Geschichte der deutschen Sprache
243
Eine konstante Entwicklungstendenz ergibt sich bei einer Analyse der drei Prinzipien der Flexion und ihrer Verteilung auf die verschiedenen Sprachstufen, wie wir dies auf dem entsprechend betitelten Schema S. 244 versucht haben. Obwohl alle drei Prinzipien der Flexion in allen drei großen historischen Sprachstufen des Deutschen vorkommen, ist ihre Verteilung und Gewichtung recht verschieden. Konstant bleibt indessen der allmähliche Gewichtungsübergang von der Endungsflexion als hauptsächlicher Flexionsform im Althochdeutschen zum vermehrten Ausbau der Stammflexion und der progressiven Steuerung im Mittelhochdeutschen bis zur entscheidenden Verlagerung im Neuhochdeutschen, wo die Flexion durch vorangestellten Begleiter im Zuge von obligatorischer Subjektspronomensetzung beim Verb und weitgehend obligatorischer Artikelsetzung beim Substantiv sowie wegen des stärkeren Rückgangs der Endungsflexion zur hauptsächlichen Beugungsart geworden ist. Für das Neuhochdeutsche ist allerdings auch die Stamm- oder Wurzelflexion bedeutend, da sich durch sie die Systematisierung Umlaut beim Substantiv = Plural (Sg. Baum, PI. Bäume; Sg. Tochter, PI. Töchter), Umlaut beim Verb = Konjunktiv II (Indikativ wurde, Konjunktiv würde) verwirklichen ließ. Und schließlich hat auch das Neuhochdeutsche die Endungsflexion noch keineswegs aufgegeben, wenn sie auch eingeschränkt worden ist — produktiv ist sie bis in die Sprachstufe des jüngeren Neuhochdeutschen geblieben, wie die schriftsprachliche Ausbreitung des s-Plurals beim Substantivum vom Typus die Uhus, die Papas, die Mamas, die Mädels, die Jungens, die Nazis (Nationalsozialisten), die Jusos (Jungsozialisten) im 19. und 20. Jahrhundert beweist. Im übrigen werden wir auf die Einzelheiten der Flexionsgeschichte des Deutschen in Band II zurückkommen. Konstant ist außerdem die Zunahme der zahlenmäßigen Kombinationen der drei Flexionstypen: sie begann mit der Verbindung von umlautbedingter Stammflexion und weiterhin erhaltener Endungsflexion im Althochdeutschen (anst f. ,Gunst', Genitiv/Dativ ensti usw.), wo auch bereits die Erweiterung durch gelegentlich vorangestellte Begleiter erfolgte, verstärkte sich in gleicher Richtung im Mittelhochdeutschen und erreichte ihren höchsten Stand im Neuhochdeutschen, wenn auch hier neue Systematisierungen in der Schrift- oder Hochsprache stattgefunden haben. In enger Verbindung mit den drei Prinzipien der Flexion ist als nächste konstante Entwicklungstendenz des deutschen Formensystems die kontinuierliche Reduktion und Umstrukturierung der Flexionsmorpheme zu sehen. Sie ist zunächst gekoppelt mit dem Verlust der Volltonigkeit der Nebensilben vom Althochdeutschen zum Mittelhochdeutschen und mit der weiteren Reduktion der e-haltigen Morpheme durch Synkope und Apokope, d.h. durch Unterdrückung des reduzierten Vokals vor Konsonant (oder Konsonantenverbindung) und durch Ausstoßung dieses im absoluten Auslaut, z.B.
244
Deutsche Sprachgeschichte im systematischen Überblick
Graphische Darstellung 3 4
Konstanten in der Geschichte der deutschen Sprache Präs. ahd. Ind.
Prät. ahd. Ind.
mahh-öm, -ön tnahh-ös, -öst mahh-öt mahh-öm, -ön mahh-öt mahh-önt
mahh-öta mahh-ötös, mahh-öta
vokalisch voll, zwei- bis einsilbige Morpheme
mhd.
mhd. -öst
mach-e mach-est mach-et mach-en mach-et mach-ent
mach-ete mach-etest mach-ete
vokalisch reduziert, zwei- bis einsilbige Morpheme
nhd.
245
(ich) mach-e (du) mach-st (er) tnach-t (wir) mach-en (ihr) mach-t (sie) mach-en
sprechsprachlich
(ich) mach-e (wir) mach-n (sie) mach-n
nhd.
(ich) mach-te (du) mach-test (er) mach-te
vokalisch voll reduziert, einsilbige Morpheme
Ohne hier bereits auf die vielen Einzelheiten der Morphementwicklung eingehen zu können, die Gegenstand eines Abschnittes von Band II sein werden, lassen sich die folgenden entwicklungsgeschichtlichen Grundtendenzen erkennen, welche durch die gesamte deutsche Sprachgeschichte bis zur Gegenwart wirksam sind: — Reduktion der vokalischen und diphthongischen Vollstufen der Morpheme zu e und 3 (z.B. ahd. wird-u, mhd. wird-e, nhd. ich werd-e; ahd. blint-iu fem. Sg.N. und neutr. PI. N.A., mhd. blind-iu [iu = ü], nhd. blittd-e Frau, Kinder) — Abnahme der morphematischen Mehrsilbigkeit (ζ. B. ahd. Gen. PI. herzöno, mhd. herz-en[e], nhd. der Herz-en; oder oben ahd. mahh-öta, mhd. mach-ete, nhd. ich mach-te) — Lösung der konsonantischen Morpheme von ihrer vokalischen Bindung (z.B. ahd. mahh-ös[t], mhd. mach-est, nhd. du mach-st; ahd. mahh-öt, mhd. mach-et, nhd. er/ihr mach-t) — Entwicklung neuer rein konsonantischer Morpheme (s-Plural der Substantive: Sg. das Auto, PI. die Auto-s) — Zunahme des Morphems Null -θ (z.B. ahd. herz-a, mhd. herz-e, nhd. Herz-θ·, ahd. hab-em, -en, mhd. hab-e, nhd. sprechsprachlich ich hab-θ). Ein besonders eindrückliches Bild von der kontinuierlichen Reduktion der Endungsflexionsmorpheme in der Geschichte des Deutschen läßt sich schließlich aus einer zahlenmäßigen Aufarbeitung der verschiedenen Morphemstrukturen gewinnen, wie wir sie für die Morphematik der Substantive und Adjektive in der beiliegenden Aufstellung Die Reduktion der Flexionsmorpheme bei den Substantiven und Adjektiven in der Geschichte des Deutschen S. 247 ermittelt haben (eine vollständige Beispielübersicht müssen wir Band II vorbehalten). Die Zahlen der Tabelle bedeuten die verschie-
246
Deutsche Sprachgeschichte im systematischen Überblick
denen Morphemstrukturen (also z.B. ahd. -a, -ä, -ea/ia, -eä/iä usw., -om, -öm, -öno usw.; mhd. -en, -er, -ere, -eren usw., -we, -wen, -wesusw.; nhd. -e, -en, -ens, -er, -ern usw.), wie sie insgesamt anzutreffen sind. Für sich sprechen die Totalzahlen: Wortart
Ahd.
Mhd.
Nhd.
Anzahl der Endungsmorpheme beim Substantiv
52
16
9
Anzahl der Endungsmorpheme beim Adjektiv
47
24
6
Daß es im entwicklungsgeschichtlichen Vorgang dabei aber nicht nur um eine Reduktion, sondern gleichzeitig auch um eine Umstrukturierung geht, zeigt die gegenläufige Geschichte der Umlautkombinierbarkeit der Endungsmorpheme bei den Substantiven und Adjektiven: bis zum Neuhochdeutschen ist ein Zustand erreicht, wo die Kombination Umlaut im Stamm + Endungsmorphem (z.B. Gott, PI. Gött-er; mhd. got, PI. gote; ahd. got, PI. gota) nur noch dem Substantiv, nicht mehr aber dem Adjektiv (ahd. elliu, ell-u fem. Sg. N., neutr. PI. N.A.; mhd. äll-iu; nhd. all-e) zukommt, wobei die relative Umlautkombinierbarkeit der Endungsmorpheme bei den Substantiven im Neuhochdeutschen sogar zugenommen hat (vgl. die Zahlen auf der Tabelle S. 247), ζ. B. -e (+ ) Baum, PI. Bäume neben Tag, PI. Tage -en (+ ) Dat. PI. Kräften (zu Kraft) neben Frauen (zu Frau) -er (+ ) Haus, PI. Häuser neben nichtumlautfähigen wie Feld, PI. Felder -ern ( + ) Dat. PI. Häusern neben Feldern -n (+) Dat. PI. Vätern neben Kratern -θ (+ ) Vater, Vi. Väter neben Krater, PI. Krater Zur Umstrukturierung der Morphematik gehört natürlich auch die Verlagerung auf andere Flexionstypen und die dadurch entstehende neue Kombinationsmöglichkeit dieser Typen, wie wir es oben S. 241 ff. dargestellt haben. Eine kontinuierliche Abnahme der Anzahl von Endungsmorphemen läßt sich in der Geschichte des Deutschen grundsätzlich bei allen flektierten Wortarten feststellen, nur sind die verschiedenen Wortarten ungleich davon betroffen. Die Verben zum Beispiel weisen in diesem Punkt eine langsamere Entwicklung auf als die Substantive und Adjektive. Von den fünf bis sechs verschiedenen synthetischen (d. h. unzusammengesetzten, reinen) Personalformen des Verbs im Althochdeutschen (1.—3. Singular und 1.—3. Plural, nach Zeiten und Aussageweisen differenziert) sind bis zum Neuhochdeutschen durchgängig noch deren drei bis vier mit je verschiedenen Endungsmorphemen vorhanden (ζ. B. komm-e, komm-st, komm-t, komm-
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Konstanten in der Geschichte der deutschen Sprache I
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248
Deutsche Sprachgeschichte im systematischen Überblick
en), im Neuenglischen vergleichsweise nur deren zwei (gives, give-s). Außerdem verfügt das Deutsche über Verbalformen mit zusätzlich apophonischen Merkmalen außerhalb des zeitstufendifferenzierenden Ablauts (ich werde, du wirst, er wird; ich schlafe, du schläfst, er schläft), die allerdings kontinuierlich verringert werden (vgl. S. 316 f.)· Reduktion und Umstrukturierung der Endungsmorphematik hat im Bereich der fallgebundenen Wortarten Substantiv, Adjektiv, Pronomen, Artikel und Zahlwort bestimmte Auswirkungen auf das Kasussystem, bei welchem die geschichtliche Betrachtungsweise ebenfalls eine konstante Entwicklungstendenz erkennen läßt. Die verschiedenen Fälle beim Substantivum werden nach ihrer morphematischen Kennzeichnung im Wort selbst, also durch synthetische Kasusformen, vom Germanischen zum Neuhochdeutschen schrittweise verringert. Das ideale Sechskasussystem des Germanischen im Singular (vgl. Abschnitt 3.2.2.9., S.98f.), das freilich bereits nicht mehr bei allen Substantivklassen ohne Kasuszusammenfall vorhanden ist, weicht zunehmend reduzierten Systemen im Althochdeutschen, Mittelhochdeutschen und Neuhochdeutschen, wie z.B. die maskulinen aStämme es zeigen, und auch im Plural finden Vereinfachungen statt:
Konstanten in der Geschichte der deutschen Sprache
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Konstanten in der Geschichte der deutschen Sprache
253
reits geschwächten Vierkasussystems, vor allem aber des Dreikasussystems und des vordringenden Zweikasussystems, ähnlich das Mittelhochdeutsche (jedoch mit zunehmendem Einfluß des Einkasussystems), während im Neuhochdeutschen dem sich in Grenzen haltenden Rückgang des Vierkasussystems der merkliche Zuwachs von Zweikasus- und Einkasussystem gegenübersteht. Bemerkenswert konstant verbleibt dabei die Vertretung des Dreikasussystems, welchem in allen Sprachstufen des Deutschen die höchste Positionszahl zukommt und das seit spätalthochdeutscher Zeit um die fünfzig Vertretungen innehat. Und nun wird auf einmal erklärbar, warum das Neuhochdeutsche trotz zunehmenden Kasuszerfalls vor allem beim Substantiv, Adjektiv und Zahlwort und trotz stark reduzierter Endsilbenmorphematik doch noch über eine so erstaunlich klare und feingegliederte Kasusbezeichnung verfügt, die differenzierter ist als in allen übrigen neugermanischen Sprachen ohne das Isländische: die als vorangestellte Begleiter der progressiven Steuerung hauptsächlich fungierenden Wortarten oder grammatischen Kategorien weisen die deutlichste Kasuserhaltung bzw. Kasusdifferenzierung auf, nämlich die verschiedenen Pronomina und die beiden Artikel (bestimmt der, die, das; unbestimmt einer, eine, ein[es]). Nur in diesen Wortarten und Deklinationstypen kommt auch im Neuhochdeutschen noch das Vierkasussystem vor — fast durchgehend beim Maskulinum nämlich, neben dem überwiegenden Drei- und selteneren Zweikasussystem. Durch die Verlagerung zum Flexionstypus der progressiven Steuerung im Neuhochdeutschen mit seiner deutlichen Kasuskennzeichnung wird der diesbezügliche Kennzeichnungsverlust durch Kasuszusammenfall und Reduktion der Endsilbenmorphematik weitgehend wettgemacht. Man vergleiche etwa die folgenden althochdeutschen Texte und deren neuhochdeutsche Übersetzung: Hymne, frühes 9. Jh. (Murbacher Hymnen 1 , 1 - 4 )
Mittera naht« zite uuizaclich/« stimm α man of.· chuuedew lop truhtine fateresimbulum ioh sune.
Zur mitternächtlichen Zeit mahnt eine prophetische Stimme: sagen wir Lob dem Herrn dem Vater stets wie auch dem Sohne
Hildebrandslied, 9. Jh. (auf älterer Grundlage), Vers 27
her was eo folches at ente imo was eo fehta ti leop
er war stets an der Spitze des Volkes ihm war immer der Kampf das liebste
Ballade, um 1000 (Ad equum errfhet 1 , 1 - 2 )
Man gieng after wege zoh sin ros in hand on
Ein Mann ging den Weg entlang er zog sein Roß mit den Händen
Als weitere Konstante der morphematischen Entwicklung in der Geschichte der deutschen Sprache ist der kontinuierliche Abbau des grammatischen Wechsels bei den starken oder ablautenden Verben zu nennen, der in allen Sprachstufen des Deutschen festzustellen bleibt. Grammatischer
254
Deutsche Sprachgeschichte im systematischen Uberblick
Wechsel heißt Doppelheit von ursprünglich stimmlosen neben stimmhaften Reibelauten des Germanischen beziehungsweise ihren späteren Entsprechungen im Alt-, Mittel- und Neuhochdeutschen, verteilt auf die verschiedenen Stamm- oder Zeitformen der starken Verben (zu den lautgesetzlichen Bedingungen vgl. Abschnitt 3.2.2.2., S.75ff.). In der Geschichte des Deutschen unterliegen dem grammatischen Wechsel beim starken Verb die folgenden Konsonantenpaare (die Beispiele sind geordnet nach Infinitiv, Präteritum 1 . / 3 . Sg., Präteritum 1. PI., Partizip des Präteriturns): (1) ahd. f / v - b mhd. v-b oder ausgeglichen nhd. ausgeglichen (2) ahd. d-t
mhd.
nhd.
(3) ahd. mhd. nhd. (4) ahd. mhd. nhd. (5) ahd. mhd.
(6)
nhd. ahd.
mhd.
nhd.
heffen (Präs. heffu, hevis usw.), huob, huobum, gihaban hevett, huop (Auslautverhärtung), buobeti, gehaben/gehoben heben usw. heben (ich hebe, du hebst), hob, hoben, gehoben ltdan, leid, litum, gilitan mtdan, meid, mitum, gimitan werdan, ward, wurtum, giwortan liden, leit (Auslautverhärtung), liten, geliten d—t miden, meit (Auslautverhärtung), miten, gemiten geworden oder ausgeglichen werden, wart (Auslautverhärtung), wurden, leiden, litt, litten, gelitten d-t oder ausgeglichen meiden, mied, mieden, gemieden werden, ward!wurde, wurden, geworden ziohan, zöh, zugum, gizogan h-g zthan, zeh, zigum, gizigan ziehen, zöch, zugen, gezogen h-g zthen, zech, zigen, gezigen ziehen, zog, zogen, gezogen (h) —g oder ausgeglichen zeihen, zieh, ziehen, geziehen (ebenso verzeihen) fähan, fiang, fiangum, gifangan h-ng vähen/vän, vie(nc), viengen, gefangen (h)-ng fangen, fing, fingen, gefangen ausgeglichen Ithan, leh, liwum, giliwan h —w h —w lihen, lech, liwen, geliwen oder ausgeglichen lihen, lech, lihen, gelihen leihen, lieh, liehen, geliehen ausgeglichen kiosan, kös, kurum, gikoran s—r wesan, was, warum, (Part. Prät. fehlt) friosan, frös, frurum, gifroran kiesen, kos, kuren, gekoren s—r friesen, frös/fror, fruren, gefroren oder teilweise (wesen/sin), was, wären, gewesen ausgeglichen kiesen/küren, kor, koren, gekoren teilweise oder völlig ausgeglichen sein/(wesen), war, waren, gewesen frieren, fror, froren, gefroren
Ursprünglich war die Verteilung der Einzelkonsonanten im alternierenden Paar streng geregelt, indem die erstgenannten Konsonanten flv, d, h, s nur dem Infinitiv, dem Präsensstamm (Indikativ und Konjunktiv Präsens, Imperativ) und dem Präteritum Singular 1 . / 3 . Person zukamen, während die zweitgenannten Konsonanten b, t, g, ng, w, r zur Bildung des Präteritums im Plural (inkl. ganzer Konjunktiv des Präteritums), der 2. Person Präteritum Singular und dem Partizip des Präteritums verwendet wurden.
Konstanten in der Geschichte der deutschen Sprache
255
Der Ausgleichsvorgang begann schon in althochdeutscher Zeit, wo frühalthochdeutsch mehr Fälle mit grammatischem Wechsel festzustellen sind als normal- oder spätalthochdeutsch. Das Mittelhochdeutsche hat die Erscheinung weiter eingeschränkt, und im Neuhochdeutschen sind es nur noch sechs starke Verben, welche diesen vom Urgermanischen her nachwirkenden Konsonantenwechsel aufweisen, davon vier noch vollständig, die übrigen nur noch teilweise: leiden (er)kiesen / (er)küren Schneiden sein/(wesen) ziehen sieden Dagegen ist der Konsonantenwechsel bei gehen/stehen, Präteritum ging/ stand, Partizip des Präteritums gegangen!gestanden nicht als grammatischer Wechsel zu beurteilen, da er auf einer Vermischung ursprünglicher Kurzformen althochdeutsch gen/gän, sten/stän mit den entsprechenden Langformen althochdeutsch gangan/stantan, Präteritum giang/stuont, Partizip des Präteritums gigangan!gistantan beruht. Bei hauen/hieb/gehauen liegt ein im Neuhochdeutschen auf das Präteritum beschränkter Ubergang von ursprünglichem w zu b vor, da die Stammformen althochdeutsch houwan, heow, heowum, gihouwan lauten. 5.2.2.3. Konstanten der Wortbildungsentwicklung und der Lexik Als deutlichste konstante Entwicklungstendenz der deutschen Wortbildung und Lexik darf die gewaltige Entfaltung der Komposition oder Zusammensetzung mit nominalem Schwerpunkt auf den Substantiven und Adjektiven betrachtet werden. Im Germanischen und Althochdeutschen begegnen zwei formal noch einigermaßen deutlich geschiedene Kompositionstypen (die Beispiele sind dem althochdeutschen Wortschatz entnommen):
256
Deutsche Sprachgeschichte im systematischen Überblick
eigentliche Komposition d. h. Nebeneinanderstellung von Bestimmungswort + Grundwort mit Fugenvokal dazwischen (sog. Kompositionsfuge)
uneigentliche Komposition oder genitivische Komposition d. h. Verbindung von Bestimmungswort im Genitiv Singular oder Plural + Grundwort
mit geschwundenem oder nicht mehr verwendetem Fugenvokal ambaht-man m. , Beamter' got-spel n. .Gotteswort, Evangelium' gnöt-marchunga f. .genaue Eingrenzung, Definition' (Notker) got-for(a)ht Adj. .gottesfiirchtig'
mit erhaltenem Fugenvokal tag-a-sterro m. tag-o-sterno m. .Morgenstern' slag-i-fedara f. .Schlagfeder' spur-i-halz Adj. .lahm, eig. spurgelähmt'
tages-sterno m. .Morgenstern' sunrtün-tagm. .Sonntag' stemen-fart f. ,Lauf der Sterne'
sehr häufige Vertretung bis ins Neuhochdeutsche Amt-mann, Fried-hof
vereinzeltes Nachleben bis ins Neuhochdeutsche Tag-e-werk, Schwein-e-bauch
stark zunehmende Vertretung bis ins Neuhochdeutsche Tages-zeitung, Sonnenschein
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Entstehung einer neuen ί-Fuge durch Übertragung aus dem Genitiv Singular der mask, und neutr. Bestimmungswörter Liebes-glut hoffnungs-voll
Die gesamte deutsche Sprachgeschichte zeigt nun eine von Sprachstufe zu Sprachstufe fortschreitende Vermehrung der Komposita oder Zusammensetzungen, die allmählich von den alten zweigliedrigen Bildungen aus zwei Teilen (vor allem Substantiv + Substantiv, aber auch Substantiv + Adjektiv, Adjektiv + Adjektiv, zweiteilige Pronomina) zu mehrgliedrigen Bildungen, d. h. zu neuen Zusammensetzungen mit bereits fest gewordenen Komposita führt: ζ. B. ahd. wth-rouh m.,Weihrauch' wthrouh-brunstf.,Verbrennen des Weihrauchs (in der Kirche)' werolt-reht n. ,das weltliche Recht' weroltreht-wison m. pl. ,die Gelehrten des weltlichen Rechts' mhd. gotes-hüs η. ,Kirche, Kloster', eigen-liute m. pl.,rechtlich abhängige Leute, zinspflichtige Bauern' goteshüs-eigenliute, verkürzt goteshüs-liute m. pl. ,vom Kloster abhängige Zinsbauern'
Konstanten in der Geschichte der deutschen Sprache
257
nhd. Schiff-fahrti., Dampf-schiff n. Dampf schiff-fahrt f., Donau-Dampf schiffahrt f . Dampfschiffahrts-gesellschaft f. Donau-dampfschiffahrtsgesellschafti. Donaudampf schiffahrtsgesellschafts-kapitän m. Bereits seit althochdeutscher Zeit kommen außerdem Nominalkomposita mit verbalen ersten Gliedern vor, wie ζ. B. scrtb-sahs m.,Schreibgriffel' (zu scrtban,schreiben' und sahs m. ,Kurzschwert, Messer'), und auch diese nehmen bis zum Neuhochdeutschen außerordentlich zu (Schreibebrief Schreibfeder, Schreibpapier, Schreibpult, Schreibmaschine, Schreibunterricht, Schreibwaren[handlung] usw.). Daneben erscheinen wiederum bereits seit dem Althochdeutschen sogenannte verdeutlichende Zusammensetzungen, die im Mittel- und Neuhochdeutschen zunehmen, z.B.: ahd. gom-man m. ,Ehemann', aus gomo m. ,(Ehe-)Mann' und man m. ,Mann, Mensch' mhd. wint-hunt m. ,Windhund, Jagdhund', aus wint m. ,rasche Hundeart' und hunt m. ,Hund' nhd. Rentier n. aus skandinavisch ren,Großwild der Lappen' und Tier Arzneimittel (Arznei bedeutet bereits ärztlich verordnetes Heilmittel, Mittel bedeutet auch Heilmittel, Arznei) Volksdemokratie (Demokratie bedeutet bereits Volksherrschaft als Staatsform) Volksrepublik (Republik meint bereits eine Staatsform mit breiter Volksvertretung) Es gehört zum Wesen der deutschen Sprache, daß die Bildung von Zusammensetzungen bis zur Gegenwartssprache außerordentlich produktiv geblieben ist und die Komposita vielgliedrig sein können, besonders im Amts- und Verwaltungsstil sowie in der Sprache der Wissenschaft und Technik. Die Kompositionsfähigkeit des Deutschen ist schon von den großen Grammatikern und Lexikologen des Barockzeitalters im 17. Jahrhundert, nämlich von Justus Georg Schottelius und von Kaspar Stieler, erkannt und bewußt gemacht worden. Und selbst der Dichter Jean Paul widmete dem Kompositionsprinzip des Deutschen im Jahre 1819 eine besondere Abhandlung Über die deutschen Doppelwörter — Teile davon erschienen schon 1818 —, wo er die nicht ganz unrichtige Behauptung aufstellte, jede Zusammensetzung in deutscher Sprache sei umkehrbar, d. h. Bestimmungswort und Grundwort könnten stets vertauscht werden, wobei sich jeweilen ein neuer Sinnzusammenhang ergebe. Dazu nennt er die Beispiele Landtrauer/Trauerland, Priesterrock/Rockpriester, Staatsdiener/Dienerstaat, Bundestag/Tagesbund sowie die spielerische Verwandlung von Mondscheinlust in Lustmondschein, Scheinmondlust („durch sogenannte Transparents"), Lustscheinmond, Scheinlustmond, Mondlustschein. Selbst Fremdwortelemente des jüngeren Neuhochdeutschen oder Wörter der neueren Wissenschaft und Technik sind, teilweise mit neuen vokalischen
25 8
Deutsche Sprachgeschichte im systematischen Überblick
Fugen, kompositionsfähig geworden: Elektro-energie, Gaso-meter, soziokulturell, psycho-technisch, wobei Anlehnungen an das Altgriechische und Neuenglische festzustellen sind. Die gesamtdeutsche geschichtliche Entwicklung von Bildung und Vermehrung der Komposita läßt sich im gegenseitig bedingenden Verhältnis zwischen Bestimmungswort ( = erstes Kompositionsglied) und Grundwort (= zweites Kompositionsglied) folgendermaßen sehen (die Zahlen bezeichnen die Anzahl Wörter, welche je in Bestimmungswort und Grundwort der Zusammensetzung eingegangen sind): Sprachstufe Ahd. Mhd. Nhd.
Bestimmungswort 1 selten 2 1-2 1-x
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Grundwort 1 1 1-2 1-x
Eine konstante Entwicklungstendenz der deutschen Lexik liegt in der gegenläufigen Bewegung des zahlenmäßigen Anteils der starken oder ablautenden (synchronisch vom Neuhochdeutschen aus gesehen der unregelmäßigen) und schwachen oder regelmäßigen Verben vor. Während bei den starken oder ablautenden Verben (Typus singen!sang!gesungen oder sprechen/sprach/gesprochen) eine ständige Abnahme ihres Bestandes von Sprachstufe zu Sprachstufe seit althochdeutscher Zeit zu beobachten ist und fast keine Neubildungen sowie nur wenige Ubergänge von den schwachen Verben her erfolgen, vollzieht sich bei den schwachen oder regelmäßigen Verben (Typus machen/machte/gemacht oder spazieren/spazierte/spaziert) ein kontinuierlicher Zuwachs vom Althochdeutschen bis zur Gegenwartssprache. Bedingt ist diese gegenläufige Bewegung durch den teilweisen Übergang alter starker zu schwachen Verben, durch die Aufnahme vieler Lehn- und Fremdwörter mit fast ausnahmslos schwacher Bildungsweise sowie durch viele schwache Neubildungen in jeder Sprachstufe des Deutschen, sodann vor allen Dingen durch die Tatsache, daß die starken Verben zum alten (indogermanisch-)germanischen Erbwortbestand gehören, deren Produktivität seit frühgermanischer Zeit erloschen ist. Der ungefähre zahlenmäßige Rahmen sieht dabei so aus: Sprachstufe
starke Verben
schwache Verben
Althochdeutsch Mittelhochdeutsch Neuhochdeutsch (Gegenwartssprache)
über 300 unter 300 unter 200 unter 150 rein stark, d. h. ohne Mischformen
über 1000 über 5000 über 10000 (weiterhin zunehmend)
Konstanten in der Geschichte der deutschen Sprache
259
Schon im Übergang vom Spätgemeingermanischen oder Südgermanischen zum Althochdeutschen hat sich der Bestand der starken Verben verringert, und so ging die Entwicklung seither unablässig weiter. Trotzdem werden sich die starken Verben im Deutschen auch in der Zukunft noch auf lange hin behaupten, da ihnen eine semantische Schlüsselposition im Sprachgefüge zukommt und ihre Bildungsweise im Übergang vom Mittelhochdeutschen zum Neuhochdeutschen — wie wir später in Band II ausführlich darstellen werden - stark systematisiert und gestrafft worden ist, so daß sie an Übersichtlichkeit gewonnen hat. Die hauptsächlichen Bedeutungsbereiche der starken Verben des Deutschen sind vereinfacht wie folgt zu sehen: Grundbedingungen des Seins: sein (ahd. wesan, nhd. Prät. war, waren, Part. Prät. gewesen), werden Geburt, Wachstum, Tod: gebären, wachsen, schlafen, genesen, sterben körperliche Tätigkeiten gehen, kommen, stehen, sitzen, hänund Fähigkeiten gen, laufen, fallen, schreiten, fahren, reiten, springen, fliehen, werfen, sto(besonders Bewegungen): ßen, ziehen, schlagen, gießen, schwimmen, halten, geben, nehmen, sehen essen, fressen, trinken, saufen, sieden, Nahrung (Aufnahme und braten, mahlen (ursprünglich stark, Zubereitung): vgl. Part. Prät. gemahlen) sprechen (ahd. auch quedan, quad, Sprache und Stimme: quätum, giquetan), singen, rufen, schreien (ahd. auch wuofan, weof, weofum, giwuofan, mhd. wuofen, wüefen) spezifisch geistige sinnen, raten, kiesen/küren, finden, Tätigkeiten: stehlen, lügen, bitten, schwören, zeihen, heißen, ahd. spanan ,verlocken' (Prät. spuon, spuonum, Part. Prät. gispanan) Ackerbau und Viehhaltung: ahd. erien ,pflügen' (Prät. iar, iarum, Part. Prät. giaran), dreschen, melken Handwerk und häusliche flechten, winden, binden, waschen, Tätigkeit: (er)löschen, brechen, stechen, ahd. spannan ,spannen' (Prät. spian, spianum, Part. Prät. gispannan), streichen, schaffen, reißen (vorahd. runisch writan ,ritzen'), schreiben (ahd. Lehnwort aus lat. scribere) Kampf und Krieg: streiten, ahd. wtgan ,kämpfen' (Prät. weig, wigum, Part. Prät. giwigan),
260
Deutsche Sprachgeschichte im systematischen Überblick
fechten, ahd. brettan ,das Schwert zükken' (Prät. bratt, bruttum, Part. Prät. gibrottan), hauen Vorgänge in der Natur: ahd. brinnan ,brennen' (Prät. brann, brunnum, Part. Prät. gibrunnan), ahd. (ir-)rtsan ,auf- und niedergehen (von der Sonne)' (Prät. reis, risum, Part. Prät. girisan), bersten, schmelzen, fließen, fliegen, schwinden Bei den schwachen Verben gibt es demgegenüber nur wenige Primärverben wie z.B. suchen (ahd. suochen < germ. *sökjan, Prät. suohta, Part, prät. gisuohhit), sondern der Hauptbestand wird durch Ableitungen von starken Verben, Substantiven und Adjektiven gebildet, wozu die Neuaufnahme von Lehn- und Fremdwörtern aus fremden Sprachen seit dem Althochdeutschen oder auch die Bildungsweise mit Fremdsuffixen seit mittelhochdeutscher Zeit als zahlenmäßig bedeutender Faktor tritt. Es spielt dabei für den Anteil der schwachen Verben am Gesamtbestand der Zeitwörter keine Rolle, daß die ursprünglichen vier Klassen des Germanischen im Althochdeutschen zu drei Klassen reduziert worden sind, die im Verlauf der Geschichte des Deutschen eine völlige Umstrukturierung erfahren, wie wir später in Band II sehen werden. Im Gegenteil — die zunehmende Angleichung der drei ursprünglichen Klassen des Althochdeutschen durch den Nebensilbenzerfall hat die Bildungsweise der schwachen Verben mit -(e)te im Präteritum, -(e)t im Partizip des Präteritums einheitlicher und durchschlagskräftiger gemacht. Eine historische Übersicht der schwachen Verben muß sich auf die verschiedene Herkunft dieser Verben beschränken: Ausgangspunkt
Beispiele schwacher Verben
(1) einige Primärverben des Germanischen
ahd. haben,haben' (Prät. habeta, Part, gihabet) ahd. suochen,suchen' (Prät. suohta, Part, gisuohhit)
(2) Ableitungen von starken Verben (i. d. R. von der Vokalstufe des Präteritums Singular aus) st.Vb.: ahd. lidati,gehen', Prät. Sg. leid (nhd. leiden) ahd. brinnan,brennen', Prät. Sg. brann ahd. ginesan,genesen' Prät. Sg. ginas ahd. faran ,fahren', Prät. Sg. fuor ahd. wesan ,sein', Prät. Sg. was
ahd. leiten (< *leidjan),gehen führen', nhd. leiten
machen,
ahd. brennen (< *branjan),brennen machen', nhd. (ver-)brennen ahd. nerien, nerren{< *nazjan, nasjan) ,genesen machen, retten, heilen', nhd. nähren ahd. fuoren (< *fuorjan),fahren machen', nhd. führen ahd. weren (< *wezen),dauernd sein', nhd. währen
Konstanten in der Geschichte der deutschen Sprache Ausgangspunkt (3) Ableitungen ahd. ahd. ahd. (4) Ableitungen ahd.
von Substantiven fisk m., nhd. Fisch salba f., nhd. Salbe stiurin., nhd. Steuer von Adjektiven heil,unversehrt', nhd. heil ahd. fül, nhd. faul ahd. wah, nhd. wach (Basis germ. *waka-)
(5) Nominale und verbale Ableitungen mittels Suffixen (5.1) nominal ahd. wort,, Adj. wortal, nhd. Wort nhd. klug nhd. Wasser mhd. blick,Blitz', nhd. Blick ahd. girehthaft (5.2) verbal ahd. scutten, nhd. schütten (6) Lehnwörter und Fremdwörter — lat. ordinäre monire,mahnen' — afranz. -iere
— franz. -iser — engl, to order,verordnen, bestellen' to kill,töten, umbringen' to lease,pachten, mieten' to test,prüfen, analysieren' to manage,verwalten, leiten' tuft,Büschel, Busch'
261
Beispiele schwacher Verben
ahd. fiskön, nhd. fischen ahd. salbön, nhd. salben ahd. stiuren, nhd. steuern ahd. heilen, nhd. heilen, Grundbedeutung ,heil machen' (germ. *hailjari) ahd. fülen ,faul werden', nhd. faulen ahd. wecken (< *wakjan), nhd. wecken ahd. wahhön,bewachen', nhd. wachen ahd. wahhen ,wach sein, wach bleiben', nhd. wachen
ahd. wortalön ,viel Worte machen' nhd. klügeln ,sich besonders klug geben' nhd. bewässern, wassern mhd. blickezen, nhd. blitzen ahd. girehthaftigön rechtfertigen' ahd. scutilön, nhd. schütteln
ahd. nhd. nhd. mhd.
ordinön, nhd. ordnen ordinieren (mit Suffixerweiterung) monieren -ieren, nhd. -ieren (nhd. dinieren, probieren, dressieren) nhd. -isieren (nhd. antikisieren, grammatikalisieren) nhd. ordern .bestellen' nhd. nhd. nhd. nhd. nhd.
killen leasen testen managen Part. II getuftet (handgetuftet), zu * tuften (in der Teppichherstellung, etwa,eingenäht')
So ist es neben der vereinfachten Konjugation dieser Verben das reiche Herkunftsspektrum, im Neuhochdeutschen besonders die Möglichkeit der Neubildung durch Fremdsuffixe oder die direkte Übernahme aus fremden Sprachen, welche die zahlenmäßige Ausbreitung der schwachen Verben so begünstigt hat. Demgegenüber gibt es unter den Verben, welche im Verlauf der Geschichte des Deutschen aus fremden Sprachen aufgenommen worden sind, nur vereinzelte stark oder ablautend gewordene wie schreiben/
262
Deutsche Sprachgeschichte im systematischen Überblick
schrieb/geschrieben, althochdeutsch scriban, Lehnwort aus lateinisch scrtbere, oder preisen/pries/gepriesen, mittelhochdeutsch (wie mittelniederdeutsch und mittelniederländisch) prisen, Lehnwort aus altfranzösisch preisier (Grundform kirchenlateinisch pretiare,schätzen'). Der Aufbau des germanischen und deutschen Verbalsystems zeigt insgesamt eine ineinandergreifende Formenstruktur von außerordentlich klarer Durchbildung und konstanter gegenseitiger Beeinflussung, wie wir sie in der beiliegenden Aufstellung Der Aufbau des germanischen Verbalsystems und seine ineinandergreifende Formenstruktur S. 263 darzustellen versuchen. Daraus ergibt sich vor allen Dingen die Wortbildungsabhängigkeit vieler schwacher Verben von den verschiedenen Zeitstufen der starken Verben, die zunächst von den starken Verben ausgehende Mittelstellung der Praeterito-Praesentia (z.B. weiß/wissen; darf/dürfen), welche ein neues schwaches (dentales) Präteritum ausbilden, während das Partizip II stark oder schwach gebildet sein kann (nhd. aber nur noch schwach, etwa gekonnt, gedurft), sowie die sprachgeschichtlichen Verbindungen der verbalen Restgruppe (mit verschiedenen Stammformen) zu den schwachen Verben und umgekehrt. Die Aufstellung gilt primär für das Germanische, bildet aber gleichzeitig noch das diachronische Grundgerüst für den Aufbau des deutschen Verbalsystems, wo sich gegenüber den vier Ausgangsgruppen keine neuen Bildungskategorien ergeben haben. Hingegen hat sich die Produktivität in den neugermanischen Sprachen auf die schwachen Verben reduziert, während die Praeterito-Praesentia schon im Germanischen nicht mehr produktiv waren und sich in der Geschichte der germanischen Einzelsprachen langsam aber kontinuierlich zurückgebildet haben (vgl. S. 90). 5.2.2.4. Konstanten der Syntaxentwicklung Die geschichtliche Entwicklung des deutschen Satzbaus weist verschiedene konstante Tendenzen auf, die so zusammengefaßt werden können: (1) in enger Verbindung mit der - Setzung von obligatorisch werdenFormensystementwicklung den Begleitern vor Substantiv (vgl. oben Abschnitt 5.2.2.2.) (Artikel) und Personalform des Verbs (Subjektspronomen) - Ausbildung der analytischen Formen des Verbs (sog. umschriebene, zunächst biverbale [zweigliedrige], später auch mehrgliedrige Verbalformen) (2) als Herausbildung neuer — allmählicher Übergang des prädikaOppositionen im syntaktischtiven Adjektivs von der wahlweisen morphologischen System Doppelform flektiert/unflektiert zur einfachen, ausschließlich unflektierten Form — fortschreitende Einschränkung der
Konstanten in der Geschichte der deutschen Sprache
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Konstanten in der Geschichte der deutschen Sprache
275
Die älteren Sprachstufen des Deutschen scheiden schärfer zwischen einem Vorgangspassiv mit ahd. w'erdan!mhd. werden und einem Zustandspassiv mit ahd. sin/wesan bzw. mhd. sin!wesen in der Verbindung mit dem Partizip des Präteritums als das Neuhochdeutsche, wobei das althochdeutsche und mittelhochdeutsche Passiv mit sin auch zum Ausdruck temporaler Vorvergangenheit herangezogen werden kann. Doch ist im ältesten Althochdeutschen noch ein Ringen um das Passiv festzustellen, was sich in Doppelübersetzungen der lateinischen Formen niederschlägt. Zur älteren Entwicklung seien die folgenden Beispiele vermittelt: Zustands- neben Vorgangspassiv:
perfektiv:
plusquamperfektisch:
Paternoster lat. sanctificetur nomen tuum ,geheiligt werde dein Name' Weissenburger Katechismus, nach 800 ahd. giuuihit si namo thin thaz sin namo . . . uuerdhe giuuihit Freisinger Paternoster, nach 8 0 0 ahd. A kauuihit si namo din Β kceuuihtt uuerde din namo Tatian-Übersetzung, um 8 3 0 ahd. si giheilagot thin namo Notker, nach 1000 ahd. Din namo uuerde geheiligot Tatian-Ubersetzung 2 , 5 , um 830 ahd. uuanta gihorit ist thin gibet ,denn dein Gebet ist erhört worden' Otfrid 1 , 4 , 2 8 , nach 860 ahd. wanta ist gibet thinaz fone druhtine gihörtaz ,denn dein Gebet ist vom Herrn erhört worden' Nibelungenlied 2 1 1 6 , 3 mhd. mir ist noch vil selten geschenket bezzer win ,mir ist noch nie besserer Wein eingeschenkt worden' Nibelungenlied 1 5 9 1 , 2 mhd. da ze Meeringen si wären über komen, da dem Elsen vergen der lip was benomen ,als sie bei Mehring übergesetzt hatten [über die Donau], wo dem Fährmann des [Grafen] Else das Leben genommen worden war'
Dreigliedrige Passivformen des Perfekts und Plusquamperfekts sind seit mittelhochdeutscher Zeit besonders mit Wolfram von Eschenbach nach 1200 belegt, aber noch im 13. Jahrhundert recht selten: Wolfram, Parzival 57,29 daz Gahmuret geprisetvil was worden ,daß Gahmuret sehr gepriesen worden war' Seit frühneuhochdeutscher Zeit sind sie gewöhnlich und verbreitet. Die futurischen Passivumschreibungen und die zusätzlichen Konjunktivumschreibungen sind bereits bei den Grammatikern der Barockzeit registriert,
276
Deutsche Sprachgeschichte im systematischen Uberblick
so bei Justus Georg Schottelius, Ausführliche Arbeit von der Teutschen HaubtSprache, Braunschweig 1663, 560-561 Ich werde gehöret werden [usw.], Ich würde gehöret werden [usw.], Ich würde gehöret worden seyn [usw.] und bei Kaspar Stieler, Kurze Lehrschrift von der Hochteutschen Sprachkunst, Nürnberg 1691,141-142 Ich werde/oder würde gesaget werden/ und ich würde gesaget worden seyn/ [usw.] Dabei lassen sich die viergliedrigen Bildungen offenbar erst seit der Mitte des 17. Jahrhunderts und zunächst nur im Konjunktiv nachweisen, sie fehlen nämlich noch in Wolfgang Ratkes Schriften zur deutschen Grammatik aus den Jahren 1612 bis 1630. Demgegenüber ist in Johann Christoph Adelungs Umständlichem Lehrgebäude der Deutschen Sprache, Band I (Leipzig 1782) § 417 (S. 782), das viergliedrige passivische Futurum exactum als feste Größe eingesetzt: (Indikativ und Konjunktiv) Ich werde gelobet worden seyn.
5.2.2.4.2. Herausbildung neuer Oppositionen im syntaktisch-morphologischen System Als konstante syntaktische Entwicklungstendenz in der Herausbildung einer neuen Opposition mit ausschließlicher Festlegung einer Form auf eine bestimmte Funktion kann die Geschichte der syntaktischen Bezogenheit der verschiedenen Adjektivformen im Deutschen bezeichnet werden. Formengeschichtlich greifen zwei Prinzipien der Adjektivdeklination ineinander, nämlich die Kategorien stark (ursprünglich vokalisch, Deklinationsart nach den starken Substantiven und im Germanischen vermehrt auch noch nach den Pronomina, vgl. oben Abschnitt 3.2.2.12., S.102f.) und schwach (ursprünglich konsonantisch mit -«[-], Deklinationsart nach den schwachen Substantiven, vgl. oben S. 100ff.) sowie die Kategorien unflektiert und flektiert. Unflektiert, d.h. ohne besondere Flexionsendung, können jedoch nur wenige bestimmte Kasusformen des starken Adjektivs sein, nämlich ahd. N o m . Sg. m. f. n. Akk. Sg. m. f. n. N o m . PI. m. f. n. mhd. (rein formal bereits eingeschränkt) N o m . Sg. m. f. n. Akk. Sg. n. nhd. allgemein erstarrt
blint (flektiert stark blinter, blintiu, blinta^) blint (flektiert stark blintan, blitita, blintag) blint (flektiert stark blinte, blinto, blintiu)
blint (flektiert stark blinder, blindiu, blinde5) blint (flektiert stark blinden, blinde, blinde3) blind (flektiert N o m . Sg. m. f. n. blinder, blinde, blindes)
Demgegenüber erscheinen die schwachen Adjektivformen nur flektiert, d. h. mit deutlichen Endungen versehen ahd. N o m . Sg. m. f. n. mhd. N o m . Sg. m. f. n. nhd. N o m . Sg. m.f.n.
blinto, blinta, blinta blinde, blinde, blinde (der) blinde (Mann), (die) blinde (Frau), (das) blinde (Kind)
Konstanten in der Geschichte der deutschen Sprache
277
Die verschiedenen Flexionsarten stark (unflektiert und flektiert) sowie schwach (nur flektiert) verteilen sich ursprünglich in verschiedener Deutlichkeit auf die beiden syntaktischen Funktionen attributiv (Begleiter des Substantivs) und prädikativ (nähere Bestimmung des Prädikats), wobei sich aber von Sprachstufe zu Sprachstufe eine zunehmende Tendenz in der Zuweisung der unflektierten starken Form für den prädikativen Gebrauch, der flektierten starken und schwachen Form für den attributiven Gebrauch feststellen läßt: Sprachstufe
Flexionsart und hauptsächliche Funktion
Althochdeutsch
unflektiert
Mittelhochdeutsch
flektiert
indeklinabel (nur fröno ,zum Herrn gehörig')
stark
attributiv
prädikativ und attributiv
stark
flektiert
stark
Neuhochdeutsch
attributiv, vereinzelt auch prädikativ
unflektiert
vorwiegend prädikativ häufig auch attributiv
stark
nur prädikativ (außer erstarrte attributive Wendungen)
schwach
vorwiegend attributiv häufig auch prädikativ
unflektiert
stark
schwach
vorwiegend attributiv selten prädikativ flektiert
stark
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thas, das ,weil, da' durh tas »weil' bi thiu, bi diu .weil' mit thiu, mit diu .weil' (bi thiu) hwanta, wanda .deshalb weil' thanne, danne ,da' sö ,weil' stt, sid .weil, da ja*
er .bevor' unzan, unz .bis'
— nachzeitig
weil da zumal nun daß
nachdem als, wenn sobald, sowie seit, seitdem ehe bevor bis als, wenn
während indem, indes, indessen seitdem solange, sobald, sowie sooft wie als, da (veraltet) wenn, nun (all)dieweil (veraltet)
do ,als' swanne, swenne ,wann immer' swie .sowie, wenn' so ,als, dann, wenn' und ,wie, sowie, als' also, alse, als,sowie, als' bidas, bedas .während, indessen' innen des, under des .indessen' die wtle .solange, während' da mite und,indem' dö,nachdem' nu(n), nu(n) das .nachdem' also, alse, als .als' sit das » seitdem' e (das) »ehe, bevor' unz (das) »bis* bis (das) »bis'
Neuhochdeutsch daß, wie
Mittelhochdeutsch
1
kausal im weiteren Sinn — enger kausal
after thiu, näh thiu .nachdem' std, stt .seit, nachdem'
— vorzeitig
thär, där .als' thö, thuo, dö, duo .als, während' bi thiu, bi diu .während' sö, also ,als' sö lango,solange' sär (sö) .sobald als' thanne, danne .als' söse (< söso) .sooft' dia wila .während'
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temporal — gleichzeitig und Dauer
universal (allgemeine grammatische Abhängigkeit)
Gliederung
Konstanten in der Geschichte der deutschen Sprache
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339
340
Deutsche Sprachgeschichte im systematischen Uberblick
Während im Althochdeutschen alle Mundarten nördlich der Alpen (also Fränkisch, Alemannisch und Bairisch) an der Monophthongierung und Diphthongierung teilhaben, ist dies bei der sogenannten neuhochdeutschen Diphthongierung und Monophthongierung nicht mehr der Fall. Da aber beide Lautveränderungsprozesse unabhängig von ihren verschiedenen Ausgangslandschaften sich im Ostmitteldeutschen, d. h. in der für die neuhochdeutsche Schriftsprache gewichtigsten Landschaft, seit dem 15. Jahrhundert treffen, werden beide Erscheinungen für die Struktur des neuhochdeutschen hochsprachlichen Lautsystems entscheidend (vgl. S.214). Die im wesentlichen inkonstanten Einzelentwicklungen in der Geschichte des deutschen Konsonantensystems, welche nach Abschluß der zweiten oder hochdeutschen Lautverschiebung zu keinen mit den grundlegenden Veränderungen des Vokalsystems vergleichbaren Umstrukturierungen im Sprachsystem geführt haben, werden wir in Band II behandeln. 5.3.2.3. Inkonstante Merkmale in der Geschichte des Formensystems 5.3.2.3.1. Das Verhältnis von starker und schwacher Deklination Inkonstante Merkmale in der Geschichte des deutschen Formensystems sind insbesondere im Verhältnis von starker und schwacher Deklination beim Substantiv und Adjektiv sowie beim Possessivpronomen festzustellen. Anders als bei den Verben, wo ein kontinuierlicher Abbau der starken zugunsten der schwachen Flexion mit vielen Übergangsformen, ja auch rein quantitativ-wortbildungsmäßig ein steter Rückgang der starken Verben und eine weitaus umfangreichere Vermehrung der schwachen Verben festgestellt werden kann (vgl. oben Abschnitt 5.2.2.3., S. 258ff.), ist im nominalen Bereich die Entwicklung keineswegs konstant und geradlinig. Beim Substantiv wird die alte, vom Germanischen herstammende Grundeinteilung in stark deklinierte, eigentlich vokalische Stämme und schwach deklinierte, sogenannte konsonantische (Vokal + ) «-Stämme für jede Sprachstufe des Deutschen neu modifiziert, ohne daß eine übergreifende Entwicklungstendenz sichtbar würde. Schon im Althochdeutschen und im nördlich benachbarten Altsächsischen läßt sich eine gewisse Tendenz des Übergangs stark deklinierter Substantive zur schwachen Deklination - sei dies auch nur als zusätzliche oder sporadische Variante — feststellen. Betroffen davon sind vor allem die starken Feminina, deren Formen ohnehin teilweise mit der schwachen Bildungsweise zusammengefallen sind. Umgekehrt gibt es im Althochdeutschen auch einige starke Nebenformen schwacher Substantive, die aber zahlenmäßig zurücktreten. Damit ergibt sich folgendes Gesamtbild für das Althochdeutsche:
Inkonstante Merkmale in der Geschichte der deutschen Sprache starke Deklination (vokalische Stämme)
»
ü) und Zusammenfall der kurzen ejä-Laute
Gesamtsystem
analogischer Umlaut zur paradigmatischen Auffüllung der Kategorie
zweite spezifische Kategorisierung der Umlautmorpheme auf ganz bestimmte Bereiche im Formen- und Wortbildungssystem
Entstehung des neuen Morphemtypus laut + 0-Zeichen
erneuter analogischer
UmUmlaut
Verstärkung
weitgehende Aufhebung des Rückumlautes, weil außerhalb der spezifisch kategorisierten Opposition
paradigmatische Ausgleichungen Umlautj Nichtumlaut im unflektiertenjfiektierten Part.Praet. der schwachen Verben der Klasse 1, in beiden Richtungen
Parallelisierung der Umlaute lautgesetzlich ojü > ojö oder Aufhebung der Umlautbildungen
analogischer Ruckumlaut als des apophonischen Prinzips
graphematischer Anschluß der Umlautbezeichnungen äje an die noch erkennbaren Grundwörter, damit Einschränkung der e-__ Bezeichnungen auf synchronisch isolierte Fälle
Doppelformen Rückumlautj Umlaut im Praet. der schwachen Verben der Klasse 1
Primärumlaut Sekundärumlaut
τ Gesamtsystem
r
teilweise Vermehrung des Umlaut + 0-Zeichen
Morphemtypus
teilweise Einschränkung des typus Umlaut + Endung
Morphem-
τ semantische Differenzierung von Umlaut und Nichtumlautvarianten (drücken / drucken)
τ semantische Isolierung von einzelnen Nichtumlautvarianten gegenüber Umlautbildungen (schon] schön, fastjfest)
ο τ semantische Isolierung von einzelnen Rückumlautvarianten (gelahrt, erlaucht)
ι weitere Reduktion des
Rückumlautes
regional schriftsprachlich erweiterter, doch kategoriell gebundener Umlaut
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τ Ansätze zur dritten paradigmatischen scheidung von Umlautvarianten
Aus-
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hochsprachliche Tendenz zur erneuten Phonemverminderung durch Zusammenfall der langen e- und ä-Laute
Graphische Darstellung 44
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