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German Pages [237] Year 2018
Jost Hermand
VON TEUTSCH ZU DENGLISCH Stationen deutscher Sprachgeschichte
BÖHLAU VERLAG WIEN KÖLN WEIMAR
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.de abrufbar. © 2019 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Lindenstraße 14, D-50674 Köln Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildungen: Reichadler und amerikanische Flagge (AKG-images) Korrektorat: Jörg Eipper-Kaiser, Graz Einbandgestaltung: Michael Haderer, Wien Satz: Bettina Waringer, Wien
Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISBN 978-3-412-51273-6
Inhalt Vorwort..................................................................................................... 7 Der Einbruch des Französischen in die „Sprachmengerey“ des Heiligen Römischen Reichs Unteutscher Nation. Un résumé compact. . .............................................................................. 11 Zur Ideologie der Befreiungskriege. Friedrich Ludwig Jahns Programm einer konsequenten „Muttersprachlichkeit“. . ...................... 29 Dialekt als Waffe. Adolf Glaßbrenners plebejische Eckensteher, räsonnierende Guckkästner und aufmüpfige Kleinbürger.................... 51 Phonographische Präzision. Soziolekt als Indiz milieubedingter Verhältnisse im deutschen Naturalismus des späten 19. Jahrhunderts.. ........................................................................ 81 An den breiten Massen vorbei. Expressionistische Wortballungen.. ..... 97 Mastering two languages mit derselben poetischen Finesse. Der sich ins „Haus der Sprache“ zurückziehende Exildichter Felix Pollak. . .......................................................................................... 129 Total Assault Against Daddy’s World. Der Scene-Jargon der jugendlichen Poprebellen der siebziger Jahre. . ..................................... 153 Das Eigene im Fremden. Zur Sprache der deutschen Türken............ 177 Amerikanismen und denglodeutsche Neubildungen. Abschied von der „Muttersprache“?. . ................................................... 195
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Anmerkungen....................................................................................... 213 Bildnachweise....................................................................................... 229 Personenregister.................................................................................... 231
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Vorwort Über die Geschichte der deutschen Sprache gibt es bereits unzählige Bücher und Aufsätze, aber sie wurden lange Zeit zumeist von Philologen und Linguisten geschrieben, denen es vornehmlich darum ging, in fachspezifischer Weise auf die vielfältigen Wandlungen hinzuweisen, die sich innerhalb dieser Sprache in semantischer, lexikographischer und grammatikalischer Hinsicht oder auch in Anbetracht fremdsprachlicher Beeinflussungen beobachten lassen. Erst in den letzten Jahrzehnten hat sich sogar in diesem Bereich ein Wandel ins Kulturgeschichtliche angebahnt, der auch die dahinter stehenden politischen und sozioökonomischen Vorgänge ins Auge zu fassen beginnt, ohne die viele dieser zum Teil drastischen Veränderungen der deutschen Sprache kaum zu verstehen sind. Doch damit haben sich Forschungsfelder eröffnet, welche selbst von noch so versierten Sprachwissenschaftlern kaum zu überschauen sind. Dennoch sollte man sogar in dieser Hinsicht, wie bei allen ins Politische, Soziale und Kulturelle übergreifenden Bemühungen, die einen Mut zur Unvollkommenheit voraussetzen, nicht von vornherein verzagen. Schließlich interessiert uns heutzutage an solchen Vorgängen – nach der Überwindung des Positivismus als auch der älteren Geistesgeschichte – nicht nur das Faktische oder Ideelle, sondern auch das ganz Konkrete, nämlich die Grundvoraussetzungen derartiger Wandlungen in politischer und sozioökonomischer Hinsicht, die hinter allen kulturellen und damit auch sprachlichen Phänomenen stehen sowie diese prägen oder zumindest beeinflussen. In diesem Sinne fasse man daher die folgenden Beiträge nicht als philologisch erschöpfende Studien, sondern als kulturhistorische Schneisen in einen Dschungel bisher meist übersehener Regionen auf, die sich eher um eine Bloßlegung von soziopolitischen Strukturen als um eine philologische Datenfülle bemühen. Dementsprechend beginnt jedes Kapitel – wenn auch in höchst kursorischer Form – erst einmal mit einer polithistorischen und zugleich sozialgeschichtlichen Einleitung in die jeweils behandelte 7
Vorwort
sprachgeschichtliche Problemstellung, um so den Hauptakzent von vornherein auf die gesellschaftliche Relevanz und nicht auf die von allen Schlacken gereinigte Szientivität zu legen. Was deshalb in den folgenden Kapiteln im Vordergrund stehen soll, ist nicht die Sprache „an sich“, sondern stets der jeweilige Soziolekt, das heißt die Frage, welche gesellschaftliche Schicht sich in offizieller, alltäglicher oder literarischer Hinsicht einer bestimmten Sprachsorte bedient hat, um entweder ihre Herrschaft zu befestigen, gegen die Dominanz der jeweils Regierenden zu rebellieren oder sich neuerdings einfach dem Trend ins Globalisierende und Digitalisierende anzuschließen. Damit wendet sich diese Sehweise gegen das noch immer von konservativer Seite verteidigte Konzept, in allen sprachlichen Wandlungen etwas „organisch Gewachsenes“ zu sehen, das lediglich seinen eigenen Gesetzen unterliegt und dem sich alle daran Beteiligten zumeist widerstandslos angeschlossen hätten. Schließlich ist die herrschende Sprache fast immer die Sprache der Herrschenden, die sich als führende Meinungsträgerschicht ihrer bedient, um die ihr Untergebenen oder unbewusst Folgenden in ihrem Sinne zu beeinflussen oder gar zu indoktrinieren, was deshalb die dagegen aufbegehrenden Bewegungen zum Teil veranlasst hat, nicht nur mit andersartigen ideologischen Anschauungen, sondern auch mit neuartigen Sprachformen aufzutreten. Ich weiß, eine solche Sehweise eröffnet ein „weites Feld“, welches auch Ausblicke auf andere kulturhistorisch zu beackernde Felder ermöglicht. Doch dieses Buch begnügt sich erst einmal damit, wenigstens einige Stationen innerhalb des höchst vielfältigen, von mannigfachen Einflüssen geprägten Verlaufs der deutschen Sprachgeschichte aufzuzeigen. Eine wesentlich ausführlichere Darstellung all dieser Veränderungsprozesse unter der in ihm anvisierten Perspektive würde daher sicher viele Bände umfassen, die vielleicht nie geschrieben werden, obwohl sie höchstwahrscheinlich wesentlich fundiertere Erkenntnisse als die in diesem Buch angestrebten ermöglichen würden. Doch auch vorläufige Ansätze zu einer Erforschung aller im Laufe der letzten Jahrhunderte in Deutschland gesprochenen Soziolekte, Dialekte, 8
Vorwort
offiziellen Verlautbarungen, ausländischen Sprachen, Szenejargons, revolutionären Wortballungen oder kommerziellen Werbesprüche sowie ihrer literarischen Ausformungen sind sicher nicht völlig überflüssig. Worauf sie hinweisen wollen, ist, dass sich nach dem Heiligen Römischen Reich Undeutscher Nation, ja, selbst noch im Deutschen Bund des 19. Jahrhunderts, in denen neben vielen Dialekten auch französisch, ungarisch, polnisch, tschechisch und jiddisch gesprochen wurde, sich das Hochdeutsche als die allein gültige Hochsprache erst nach der bismarckschen Reichsgründung durchsetzte. Und das währte immerhin bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts, als es durch die nazifaschistischen Vertreibungen zu einer zum Teil ins Fremdsprachliche tendierenden Exilliteratur kam sowie sich darauf durch die in die westdeutsche Bundesrepublik eingewanderten Türken und schließlich durch die in den letzten Jahren einströmenden Asylsuchenden aus den Ländern des Nahen Osten und Nordafrikas – trotz aller Integrationsbemühungen der jeweiligen Regierungen – ein Migrantendeutsch entwickelte, das sogar im literarischen und massenmedialen Bereich nicht mehr zu übersehen ist. Ja, nicht nur das. Schon durch den bereits in der frühen BRD beginnenden Einfluss der USA, der sich im Laufe der letzten Jahrzehnte im Zuge der fortschreitenden Globalisierung und Digitalisierung sogar noch verstärkte, setzte in Deutschland zugleich eine sprachliche Denglisierung ein, die sich in immer weiteren Bereichen des geschäftlichen und alltäglichen Lebens bemerkbar machte. Ob sich daraus neue Formen der deutschen Sprache ergeben werden, bleibt vorerst abzuwarten. Das hängt völlig davon ab, wer in Zukunft im „Industriestandort Deutschland“ die politisch, sozialökonomisch und massenmedial herrschenden Kreise sein werden.
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Der Einbruch des Französischen in die „Sprachmengerey“ des Heiligen Römischen Reichs Unteutscher Nation. Un résumé compact I Die Begriffe „teutsch“ oder „deutsch“ haben eine ebenso wandlungsreiche wie bedeutungsschwangere Vorgeschichte, die vielen Deutschen heutzutage kaum oder gar nicht mehr bewusst ist. Historisch gesehen geht dieser Terminus auf das altdeutsche Wort „thiutisk“ (von „thiot“, das Volk) zurück, das erstmals von jenen germanischen Bevölkerungsgruppen verwendet wurde, zu denen vor allem die Friesen, Sachsen, Thüringer, Franken, Alemannen, Schwaben und Bayern gehörten, die sich seit vorchristlicher Zeit in Mitteleuropa ausgebreitet hatten. Trotzdem gab sich das dort entstandene großräumige Frankenreich seit der im Jahr 800 in Rom erfolgten Kaiserkrönung Karls des Großen – in der Nachfolge des altrömischen Cäsarenreichs und in klarer Abgrenzung vom byzantinischen Kaisertum in Konstantinopel – nicht als Imperium Germanicum, sondern im Sinne einer Translatio Imperii als Imperium Romanum oder gar ab 1157 als Sacrum Imperium Romanum aus. Die offizielle Bezeichnung Heiliges Römisches Reich erhielt dieses Staatsgebilde erst unter Kaiser Karl IV., worauf sich in einigen Urkunden ab 1442 auch die Bezeichnung Heiliges Römisches Reich Teutscher Nation findet. Dennoch kann im Hinblick auf die dort lebenden Bevölkerungsschichten schon damals und auch in den folgenden Jahrhunderten von einer einheitlichen „teutschen Nation“ keine Rede sein. Indem die kaiserliche Zentralgewalt, die unter den Saliern und Staufern noch erheblich gewesen war, immer schwächer wurde, das heißt die verschiedenen Landesfürsten und Bischöfe zusehends souveräner auftraten und zugleich die in Adel, Klerus und Bauern gegliederte mittelalterliche Ständegesellschaft durch die Entstehung städtischer Ansiedlungen mit einem auf eigenmächtige Rechte 11
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pochenden Bürgertum zusehends an Bedeutung verlor, trat der bisherige Reichsgedanke und damit die Vorstellung einer einheitlichen teutschen Nation immer stärker in den Hintergrund. Und das hatte nicht nur rechtsstaatliche, sondern auch sprachliche Auswirkungen. Während bis dahin – neben einer winzigen Minderheit von im Lateinischen bewanderten Klerikern und Scholaren sowie einer ebenso numerisch unbedeutenden Minderheit sich um eine mittelhochdeutsche Literatursprache bemühender Ritter und Lehensmannen – die überwältigende Mehrheit der Bevölkerung, die weder lesen noch schreiben konnte, im täglichen Umgang an ihren jeweiligen Dialekten festgehalten hatte, setzte sich im späten 15. Jahrhundert in den immer selbstbewusster auftretenden freien Reichsstädten durch die wirtschaftliche Machtstellung der dortigen Ratsherren sowie die Erfindung der Buchdruckerkunst eine frühneuhochteutsche Sprachgebung durch, die immer breitere Schichten in ihren Bannkreis zog. Doch der politisch, sozial und sprachlich entscheidende Wendepunkt in dieser Hinsicht trat erst zu Beginn des 16. Jahrhunderts ein. Während sich das mittelalterliche Reichsgefüge trotz mancher dynastischen Streitigkeiten bis dahin als halbwegs stabil erwiesen hatte, setzte plötzlich – durch die überall aufflackernden Bauernaufstände sowie den im Jahr 1517 gegen die Übermacht der allein seelig machenden Papstkirche erfolgten Thesenanschlag Martin Luthers und die sich daran anschließende Ausbreitung des Protestantismus – eine tiefe Krise des Heiligen Römischen Reichs Unteutscher Nation ein. Zugegeben, die Bauernaufstände wurden von den einzelnen Landesherren mit ihren Ritterheeren und Landsknechtshorden blutig niedergeschlagen, aber die lutheranische Reformation sowie die mit ihr einhergehenden Wiedertäufer, Kalvinisten und Zwinglianer, deren Lehren sich in weiten Bereichen überraschend schnell verbreiteten und damit der überwältigenden Machtfülle der römisch-katholischen Kirche in vielen Landesteilen den Boden entzogen, führte fast zum Zusammenbruch der an ultramontanen Überlieferungen festhaltenden kaiserlichen Zentralgewalt – ein Vorgang, welcher erst im Jahr 1555 durch den in Augsburg geschlossenen Religionsfrieden vorläufig aufgehoben wurde, der unter der Formel „Cuius 12
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regio, eius religio“ („Wer die Macht hat, bestimmt die Religion“) jedem der inzwischen immer zahlreicher gewordenen Landesfürsten das Recht verlieh, über die Religionsform innerhalb seines Herrschaftsbereichs nach eigenem Gutdünken selbst zu entscheiden. Und das hatte nicht nur politische und soziale, sondern auch sprachliche Auswirkungen. In den katholischen Gebieten blieb es – linguistisch gesehen – weitgehend beim Status quo der älteren Verhältnisse. Im kirchlichen Bereich, wo man Luthers Bibelübersetzung als des „Teufels Gebetsbuch“ diffamierte, dominierte hier nach wie vor das Lateinische, das durch das neulateinische Jesuitentheater sogar noch zusätzlich nobilitiert wurde, während die unteren Bevölkerungsschichten weiterhin an ihren als „niedrig“ und damit nicht bildungs- oder literaturfähig hingestellten Dialekten festhielten. In den protestantisch gewordenen Landesteilen des Heiligen Römischen Reichs setzte sich dagegen – trotz der Widerstände der zwar ebenfalls antipäpstlich eingestellten, aber lateinisch schreibenden stadtbürgerlichen Humanisten sowie der nach wie vor plattdeutsch sprechenden norddeutschen Bevölkerung – nicht nur in den Kirchen, sondern auch in den staatlichen Dekreten, dem erbaulichen und literarischen Schrifttum sowie im alltäglichen Umgang immer stärker das durch die Bibelübersetzung Luthers maßgeblich gewordene mitteldeutsche Meißnerdeutsch durch. Allerdings hörte auch hier in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts die sprachliche Gemengelage keineswegs auf. Einer der Hauptfaktoren dafür war das steigende Selbstbewusstsein der protestantischen Landesherren und der in ihren Diensten stehenden Vertreter der Hofbürokratie, die sich immer stärker dem Herrschaftsanspruch der kaiserlichen Zentralgewalt entzogen und sich – in schroffer Ablehnung des in den katholisch gebliebenen Landesteilen des Heiligen Römischen Reichs herrschenden ultramontan ausgerichteten Zeremonialwesens – in ihrem dynastischen Auftreten zusehends an nichtdeutschen, vor allem französischen Herrschaftsformen orientierten, was im Folgenden im Hinblick auf die sich daraus ergebenden sprachlichen Auswirkungen etwas detaillierter ausgeführt werden soll.
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II Zu welchen Konsequenzen dieses eigenmächtige Herrschaftsgebaren führte, lässt sich auf den ersten Blick nur schwer auf einen gemeinsamen Nenner bringen. Wie immer vollzogen sich diese politischen, ökonomischen, sozialen und sprachlichen Wandlungsprozesse auch diesmal recht vielschichtig, ja, zum Teil sogar höchst widersprüchlich. Dennoch lassen sich bei genauerem Zusehen einige zentrale Entwicklungstendenzen durchaus klar erkennen. Unter politischer Perspektive betrachtet setzte sich damit jene später als „Frühabsolutismus“ bezeichnete Regierungsform durch, die sich in prunkvollen, meist noch klassizistisch ausgestatteten Residenzen konsolidierte und – im Gegensatz zu den bisher noch weitgehend von adelsfeudalistischen Privilegien geprägten Gesellschaftsverhältnissen – kaum noch andere Herrschaftsformen neben sich duldete. In ökonomischer Hinsicht führte das zu einer merklichen Schwächung der bisher recht selbstbewusst aufgetretenen freien Reichsstädte und den dort entwickelten Verwaltungsund Wirtschaftsformen, wodurch selbst der norddeutsche Hanse-Bund sowie als reich geltende Städte wie Nürnberg und Augsburg viel von ihrer früheren Bedeutung verloren. Sozial gesehen wurden damit die stadtbürgerlichen Bevölkerungsschichten in weiten Teilen des Heiligen Römischen Reichs Unteutscher Nation zusehends entmachtet und selbst von ihnen ein Obrigkeitsdenken abverlangt, gegen das sie in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts noch durchaus aufbegehrt hatten. Kurzum: im Mittelpunkt aller Herrschaftsgebiete stand jetzt nicht mehr die Adels- und Großbürgerschicht, sondern ausschließlich der alleinbestimmende Fürst, der sich in selbstherrlicher Gesinnung immer weiter von den mittleren und unteren Bevölkerungsschichten distanzierte. Sprachgeschichtlich betrachtet hatte diese Wende ins Frühabsolutistische folgende Konsequenzen. Während selbst in den protestantischen Landesteilen an den Universitäten weiterhin das Lateinische die vorherrschende Bildungssprache blieb, setzte in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts in den gleichen Landesteilen im Bereich der Höfe und des sich an ihm 14
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orientierenden Adels und gehobenen Bürgertums – mit deutlichen Affekten gegen das Volkstümliche, Pöbelhafte, ja geradezu „Grobianische“ in der Sprachgebung der voraufgegangenen Jahrzehnte – die Neigung zu einer wesentlich „edleren“ Hochsprachlichkeit ein, die schließlich 1624 in dem manifestartigen Buch von der teutschen Poeterey von Martin Opitz ihre maßstabgebende Ausprägung erhielt. Im Einflussbereich der fürstlichen Residenzen, wo man sich von der älteren Reichsordnung „teutscher Nation“, die in diesen Kreisen als ein längst überfälliges „Monstrum“ galt, abzusetzen versuchte, orientierte man sich dagegen, wie gesagt, zusehends an jener bereits als „frühabsolutistisch“ geltenden Staatsform, wie sie sich in Frankreich herausgebildet hatte, was sich nicht nur auf die Anlage immer prunkvoller ausgestatteter Schlösser sowie die eigenmächtige Aufstellung stehender Heere, sondern auch auf die damit verbundene Sprachgebung auswirkte.1 Im Hinblick auf die Schlossbauten sowie ihre nach französischem Vorbild entworfene Innenausstattung und ihre weiträumigen Gartenanlagen drangen daher schon seit dem späten 16. Jahrhundert folgende französische Lehnwörter in die frühabsolutistische teutsche Sprache ein. Und zwar gilt das nicht nur für plötzlich auftauchende Begriffe wie „chatelet“, „palais“ und „residence“, deren „baudoirs“ , „cabinets“ und „chambres“ mit ihren kunstvollen „passements“ und „tapisserien“ (Verzierungen) gern als „magnifique“ oder „luxurieux“ herausgestrichen wurden, sondern auch für höfische Personenbezeichnungen wie „ambassadeur“, „excellence“ (Hofrat), „gouverneur“, „marquis“, „ministre“ (Staatsbeamter), „prince“, „princesse“, „senechal“ (Oberhofmeister), „souverain“ und „vicomte“ sowie die ihnen unterstehende, geradezu unübersehbare Schar von „secretaires“, „serviteurs“, „valets“ und anderer „domestiques“, über welche die Hofkreise je nach Belieben verfügen konnten. Nicht minder reich wirkt der aus dem Französischen entlehnte Wortschatz, wenn diese Schichten auf die „grandesse“ der die jeweiligen Schlösser umgebenden „parcs“ mit ihren pittoresken „allees“, „arcades“, „bassins“, „bosquets“, „cascades“, „colonades“, „fontaines“, „menageries“, „orangeries“, „promenades“ und „parterres“ (Blumenbeeten) zu sprechen kamen. 15
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Fast noch bezeichnender für die neuen, sich an den frühabsolutistischen Höfen durchsetzenden Herrschaftsformen sind all jene als Ausdruck einer ehrerbietigen „contenance“ empfundenen Ausdrücke, bei denen die Wörter „höfisch“ und „höflich“ eine innige Symbiose eingingen. Vor allem im Umgang mit den jeweiligen Fürsten, Prinzen, Exzellenzen und anderen Höflingen verbreitete sich in diesem Bereich eine „courtoisie“, in der nicht das Mitmenschliche, sondern fast ausschließlich der Ton der Unterwürfigkeit, der „reverence“, ja, der „devotion“ vorherrschend wurde. Dafür sprechen vor allem aus dem Französischen entlehnte Verben wie „accomodiren“ (sich einordnen), „accordiren“ (zustimmen), „ajustiren“ (sich schicken), „assuriren“ (sich anpassen), „caressiren“ (jemandem schmeicheln), „complimentiren“ (Lobeshymnen anstimmen) oder „harangiren“ (wohlsprechen), um sich nicht als „pöbelhaft“ zu „blamiren“, sondern darauf zu hoffen, innerhalb der hierarchisch gegliederten Hofgesellschaft durch ein wohlgefälliges Betragen zu „arriviren“, zu „avanciren“ oder zu „reussiren“. Die gleiche „contenance“ äußerte sich in Sprachfloskeln wie „um pardon bitten“, den Oberen die nötige „hommage“ (Huldigung) zu erweisen, sich um „faveurs“ (Gunstbezeugungen) zu bemühen, in heiklen Situationen die erforderliche „discretion“ zu bewahren, das heißt sich möglichst „acceptable“, wenn nicht gar „amiable“ (liebenswert) oder „gracieux“ (anmutig) zu geben. So viel zum Einfluss der französischen Sprache innerhalb der frühabsolutistischen Hofgesellschaft und der in ihr dominierenden Umgangsformen. Da jedoch die zahlreichen Konflikte zwischen der katholischen Liga und der protestantischen Union die verschiedenen Fürsten schon in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts und dann während der Zeit des Dreißigjährigen Kriegs zwischen 1618 und 1648 die immer souveräner auftretenden Potentaten dazu zwangen, ihren selbstherrlichen Interessen dienende Heere aufzustellen, nahmen sie sich auch auf diesem Gebiet die als besonders straff gegliederte französische „armee“ zum Vorbild. Die Vielzahl der damit verbundenen Entlehnungen ist kaum zu übersehen. Dafür spricht, dass an die Stelle der älteren Ritterheere und Landsknechtshorden jetzt auch die „bataillons“, „brigades“ und „divisions“ des Militärs in „artillerie“, „arriere-gardes“, 16
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„cavalerie“, „derriere-gardes“ und „infanterie“ eingeteilt wurden, denen als rangmäßig genau abgestufte „officiers“ eine Fülle von „capitains d’armes“, „colonels“, „cornets“, „corporals“, „generals“, „lieutenants“, „marechals“ und „sergeants“ vorstanden, welche die streng zu befolgenden Befehle ausgaben, während die „soldats“, ob nun die „avanturiers“ (Freiwilligen), die „cuirassiers“, die „grenadiers“ oder die „musquetiers“ zunehmend mit „arquebuses“, „baionettes“, „canons“, „carabiners“ und „pistoles“ ausgestattet wurden. Derselben Fülle an französischen Fremdwörtern begegnet man in den Schriften dieser Ära, wenn von kriegerischen Auseinandersetzungen die Rede ist. Nachdem die jeweiligen Truppenverbände ins Feld „marchirt“ waren, sollten sie stets bereit sein, kein „rendevous“ mit den feindlichen „armeen“ zu scheuen, die nötige „courage“ aufzubringen, „patrouilles“ vorauszuschicken, den Gegner zu „attaquiren“ oder zu „chargiren“, eine geschlossene „front“ zu bilden, keinen „combat“ zu fürchten, sich in „battailles“ stets siegreich zu erweisen, „barricades“ zu bauen, „canonades“ durchzuführen, Städte zu „bombardiren“ oder zu „bloquiren“ (belagern), unter den Gegnern ein „massacre“ anzurichten und im Feindesland rücksichtslos zu „maraudiren“, das heißt alles, was ihnen im Wege steht, auszuplündern, zu verwüsten oder dem Erdboden gleich zu machen. Doch nicht genug damit. Selbst im Zivilleben der Hofkreise und des mit ihm verbundenen gehobenen Bürgertums setzte sich in diesem Zeitraum eine an französischen Vorbildern orientierte „contenance“ sowie ein sich daraus ergebender Wortschatz durch. So komplimentierte man sich schon damals selbst im familiären Umkreis häufig mit Etikettierungen wie „monsieur“, „madame“, „demoiselle“, „oncle“, „tante“, „neveu“, „cousin“ und „cousine“, statt weiterhin Herr, Frau, Fräulein, Oheim, Muhme, Neffe, Vetter oder Base zu sagen, stattete sich „visites“ ab, begrüßte sich mit „bon jour“ und „adieu“, kleidete sich „alamode“, indem man sich „perruques“ aufsetzte und elegante „camisoles“ (Westen) trug, versuchte im gesellschaftlichen Verkehr jeden „affront“ zu vermeiden, benahm sich gegenüber gesellschaftlich Höherstehenden besonders „affectueux“, bemühte sich im „amourösen“ Umgang mit dem anderen Geschlecht um „charme“ und „galanterie“, 17
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gebrauchte im Verkehr mit gesellschaftlichen Gleichrangigen das französische „Vous“ (Sie), kurzum: versuchte sich in seinem Sozialverhalten so weit wie möglich von dem mit „Du“ angeredeten „gemeinen Volk“ der Bediensteten, kleinbürgerlichen Handwerker und in Frondiensten arbeitenden Bauern abzusetzen.
III Dass ein solches, lediglich auf Rang und Ansehen bedachtes Alamode Gebaren in gewissen teutschgesinnten Kreisen zu Gegenreaktionen führen würde, konnte kaum ausbleiben. Allerdings erfolgten solche Missmuts erklärungen nicht von Seiten der weiterhin im Zustand gesellschaftlicher Unmündigkeit lebenden kleinbürgerlichen oder bäuerlichen Bevölkerungsschichten, die nach wie vor weder lesen noch schreiben konnten, sondern wurden anfänglich lediglich von einigen protestantischen Fürsten im mitteldeutschen Bereich unterstützt, die sich mit einer längst obsolet gewordenen reichspatriotischen Gesinnung sowohl gegen die kaiserliche Zentralgewalt im Süden als auch gegen das immer mächtiger werdende Hohenzollernregime im Osten aufzulehnen versuchten. Dafür spricht unter anderem die 1617, also kurz vor Ausbruch des Dreißigjährigen Kriegs gegründete „Fruchtbringende Gesellschaft“,2 mit der sich die Anhaltiner, Askanier, Sachsen, Thüringer und Wettiner bemühten, ein ihren Eigeninteressen dienendes Sprachrohr zu verschaffen, und sich dabei der Mithilfe einiger neuhumanistisch eingestellter Literaten wie Andreas Gryphius, Georg Philipp Harsdörffer, Friedrich von Logau, Johann Michael Moscherosch, Martin Opitz, Johann Rist, Caspar Stieler und Philipp von Zesen versicherten, die es als eine „hohe Ehre“ empfanden, in diese hochadlige „erlauchte Gesellschaft“ aufgenommen zu werden. Vor allem Rist in seinem Büchlein Rettung der Edlen Teutschen Hauptsprache (1642) sowie Moscherosch in seiner Satire Wunderbarliche und Wahrhaftige Gesichte Philanders von Sittewald (1643) zogen demzufolge gegen Ende des Dreißigjährigen Krieges mit „altteutschem“ bzw. „altfränkischem“ Eifer gegen ein 18
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Abb. 1: Peter Ißelburg: Eine Sitzung der „Fruchtbringenden Gesellschaft“ (1622)
an den Franzosen orientiertes „Alamode“-Wesen vom Leder und warfen den „französelnden“ Mitgliedern jener ehrgeizigen, mit einem arroganten Imponiergehabe auftretenden „neusüchtigen Teutschlinge“ vor, sich um ein „cavaliersmäßiges“ Ansehen zu bemühen, indem sie in ihre „discourse“ 19
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allerhand „fremde Wörter“ einmischten, um sich so „noble“ und „amiable“ wie nur möglich zu geben, sich mit den nötigen „accessoires“ „a la mode“ zu kleiden, „alamodische“ Briefe zu schreiben, darauf zu bestehen, im Rahmen der bestehenden „etiquette“ (Rangordnung) als „monsieur“ oder gar als „cavalier“ angeredet zu werden, sich „amouren“ zu leisten, ja, die bisherigen „Schandhuren“ zu „maitressen“ aufzuwerten, kurzum: alles Neue, Bessere, Vornehmere als „a la mode de France“ hinzustellen, um sich damit als „elegant“ oder „modern“ auszuzeichnen. Durch die 30 Jahre währenden Kriegswirren blieben jedoch die Auswirkungen der „Fruchtbringenden Gesellschaft“ sowie anderer Sprachgesellschaften dieser Art und die Schriften der sie unterstützenden Literaten weitgehend auf eine kleine Bevölkerungsschicht beschränkt. Alle diese Gruppen setzten sich zwar mit protestantischem Eifer für eine durchgehende „Reinigung“ der teutschen Sprache von allen „fremdländischen“ Wörtern ein, konnten jedoch den Alamode-Wortschatz der sich weiterhin an der französischen „contenance“ orientierenden absolutistischen Fürsten und Adelskreise nicht völlig beseitigen, sondern lediglich etwas eindämmen.3 Und selbst das nur für kurze Zeit. Schließlich erwies sich der 1648 geschlossene Westfälische Frieden zu Münster und Osnabrück, der den mörderischen Vorgängen der vorangegangenen Jahrzehnte ein Ende bereitete, nicht als ein Durchbruch zu einer neuen, sich „teutsch“ gebenden Reichsgesinnung, sondern als ein Sieg der absolutistisch regierenden Einzelfürsten, wodurch sich das Heilige Römische Reich, das sich schon vorher aufzulösen begann, immer stärker in ein in unzählige souveräne Fürstenstaaten, Bistümer und Grafschaften aufgespaltenes „Monstrum“ verwandelte, in dem es keinerlei politische, religiöse, soziale oder sprachliche Einheitsbestrebungen mehr gab. Und damit blieben auch die halbwegs reichspatriotisch gemeinten Bemühungen der verschiedenen Sprachgesellschaften und der mit ihnen verbundenen Literaten auf der Strecke. Obwohl sich viele Mitglieder dieser Organisationen – vor allem die Bürgerlichen unter ihnen – auch in der Folgezeit für die Durchsetzung einer „teutschen Haupt Sprache“ einsetzten, ja, diese gegen Ende des Jahrhunderts sogar an den Universitäten 20
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als Vorlesungssprache einzuführen versuchten, erhielten sie dabei von jenen Fürsten, die in der Hofkultur Ludwigs des XIV. in Versailles die überzeugendste Manifestation eines absolutistischen Verwaltungs- und Lebensstils sahen, immer weniger Unterstützung. Deshalb bedienten sich auch viele der anspruchsvolleren Dichter in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts weiterhin der Alamode-Sprache oder gaben zumindest ihrem Stil eine verstärkte Wendung ins Manierierte, Prunkvolle, Schwülstige, kurz: „Barocke“, um so mit der Prestigesprache ihrer „hochwohllöblichen“ Gönner Schritt halten zu können und nicht als „altmodisch“ zu gelten. Vor allem in der Hofsprache blieben daher unter anderem Hauptwörter wie „advertisement“ (Benachrichtigung), „audience“ (Empfang), „avantage“ (Vorteil), „carriere“ (beruflicher Aufstieg) „chancellerie“ (Kanzlei), „companie“ (gesellschaftliches Zusammensein), „conference“ (Delegiertentreffen), „convention“ (Vereinbarung) „courtoisie“ (Höflichkeit), „delicatesse“ (Kostbarkeit), „discours“ (Redegewandtheit), „entree“ (feierlicher Aufzug), „equipage“ (Kutsche), „etat“ (Staat), „finance“ (Wirtschaftswesen), „ordre“ (Anordnung, Befehl), „parade“ (Aufmarsch), „plaisir“ (Annehmlichkeit), „ressort“ (Amtsbereich), „redoute“ (Maskenball), „seigneur“ (Herr), „trafic“ (Handel) oder „visite“ (Besuch) sowie Verben wie „concurriren“ (wetteifern), „controlliren“ (beaufsichtigen), „courtisiren“ (umwerben), „interessiren“ (sich gefügig machen), „menagiren“ (klug handeln), „observiren“ (beobachten), „ordoniren“ (Befehle erteilen), „pardoniren“ (verzeihen), „poussiren“ (sich beliebt machen), „refusiren“ (sich weigern) oder „revanchiren“ (rächen) durchaus gebräuchlich. So viel zu den sprachlichen Ausdrücken, die sich auf die höfischen Verhaltensformen der häufig als „absolutistische Zwangskultur“ charakterisierten Ära des späten 17. Jahrhunderts beziehen.5 Die gleiche Fülle von aus dem Französischen entlehnten Wörtern findet sich stets dann, wenn man die damals ständig aufwendiger werdenden höfischen Festivitäten ins Auge fasst. So verwandte man etwa in diesem Zeitraum im Hinblick auf die „music“ der immer mächtiger anschwellenden Hoforchester – neben mancherlei italienischen Fremdwörtern – zusehends Satz- und Tanzbezeichnungen wie „ballet“, 21
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„bourrée“, „chaconne“, „courante“, „gavotte“, „gigue“, „menuet“, „ouverture“, „polonaise“, „quadrille“, „sarabande“ und „suite“, um sich betont „alamodisch“ zu geben. Ja, selbst im Bereich der Instrumente sprach man in höfischen Kreisen nicht mehr von Fideln, Pauken oder Trommeln, sondern bediente sich meist aus dem Französischen übernommener Ausdrücke wie „cornet“, „hautbois“, „viole de gambe“ oder „violon“. Angesichts dieser Entwicklung hat man oft dargestellt, dass an vielen deutschen Höfen in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts kaum mehr die deutsche Sprache, sondern überwiegend das Französische zu hören war.6 Und zwar gilt das sowohl für viele kleinere Fürstentümer wie Hessen-Kassel, Baden-Durlach, Sachsen-Gotha und Sachsen-Weimar als auch für einen inzwischen zur Großmacht aufgestiegenen Staat wie Preußen. Wer dort nicht als „honnete homme“ mit der nötigen „contenance“ auftrat, galt von vornherein als „Tölpel“ oder „ungehobelter Klotz“ und wurde von den Höhergestellten geflissentlich gemieden oder gar vor die Tür gesetzt. In diesen Kreisen konnte man erst dann „reussiren“, wenn man nicht nur einzelne französische „mots“ oder besser „bon mots“ in seinen teutschen Redefluss einfügte, sondern sich ausschließlich dieser Sprache, und zwar mit der nötigen „elegance“ bediente. Daher wurden Prinzen und andere Hochadlige schon als Kinder von französischen Sprachlehrern oder Gouvernanten in dieser Sprache unterrichtet und dann als Zwanzigjährige dazu angehalten, sich mit ihren Hofmeistern und anderen „serviteurs“ auf Kavalierstour nach Paris zu begeben, um sich dort mit den gesellschaftlichen Verhaltensformen eines „honnete homme“ vertraut zu machen und als französisch „parlirende seigneurs“ zurückzukehren.7 Doch nicht genug damit. Diese mit der Bewunderung des französischen Absolutismus zusammenhängende „contenance“ griff in den letzten Jahrzehnten des 17. Jahrhunderts auch auf die Gelehrtenschicht des gehobenen Bürgertums über. Während in diesen Kreisen, wie gesagt, lange Zeit das Lateinische die weitaus verbreitete, ja, geradezu normative Sprache gewesen war, wurde jetzt sogar in dieser Schicht allmählich das Französische „dominant“, und zwar nicht nur als Sprache, sondern auch als Anleitung 22
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zu einer dem Teutschen überlegenen würdevolleren Lebensart. An prominenter Stelle setzte sich dafür schon der junge Privatdozent Christian Thomasius ein, der 1687 im Rahmen der Leipziger juristischen Fakultät einer seiner Vorlesungen den Titel gab: Welcher Gestalt man denen Frantzosen im gemeinen Leben und Wandel nachahmen sollte? und der darin seine Zuhörer aufforderte, sich die Franzosen vor allem im Hinblick auf Eigenschaften und Verhaltensformen wie „honneté, Gelehrsamkeit, beauté d’esprit, un bon gout und galanterie“ zum Vorbild zu nehmen.8 Doch nicht nur er, auch eine Vielzahl anderer Autoren unterstützte bereits im gleichen Zeitraum diesen Trend, wodurch selbst im akademischen Bereich die französischen Lehnwörter immer zahlreicher und die lateinischen zusehends geringer wurden. Während also diese Form der an Frankreich orientierten „contenance“ zuvor weitgehend ein höfisches Merkmal war, wurde sie demzufolge um die Wende zum 18. Jahrhundert auch in der allmählich größer werdenden Schicht des gehobenen Bürgertums als maßstabgebend für die Verhaltensweisen eines „honnete homme“ angesehen und so eifrig und zugleich so „devot“ wie nur möglich nachgeahmt, wodurch die Fülle an französischen Lehnwörtern und der damit verbundenen als höfisch geltenden „manieren“ von Jahrzehnt zu Jahrzehnt ständig zunahm. Ja, selbst an Büchern, die solche Verhaltensweisen als „normativ“ hinstellten, fehlte es keineswegs. Während im späten 16. Jahrhundert lediglich 38 und dann im 17. Jahrhundert bereits 173 Bücher dieser Art erschienen waren, stieg dementsprechend ihre Zahl im 18. Jahrhundert auf mindestens 400 an, die sich nicht mehr wie bisher vornehmlich an die Hofkreise, sondern auch an die sich zahlenmäßig vergrößernde Bildungsbourgeoisie wandten, um auch dieser Bevölkerungsschicht die Möglichkeit zu geben, sich durch eine erweiterte Kenntnis der französischen Sprache mit den als maßgeblich empfundenen Vorzügen der gesellschaftlichen, intellektuellen und künstlerischen „civilisation“ dieses Landes vertraut zu machen. Ziehen wir dafür die als besonders „instructif“ geltenden Schriften von Julius Bernhard von Rohr heran, der in den späten zwanziger Jahren des 18. Jahrhunderts – im Gefolge von Friedrich Wilhelm Winterfelds Teutsche und Ceremonial Politica (1700–1702), Gottfried Stieves Europäisches 23
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Hoff-Ceremoniell (1715), Johann Christan Lünigs Schau-Platz Aller Ceremonien (1719) und Sinold von Schütz’ Fünff und fünffzig Discourse über die Sitten der Welt (1728) – zwei besonders umfangreiche Werke dieser sich an den französischen „Ceremoniel“-Formen orientierenden gesellschaftlichen „contenance“ herausbrachte. Und zwar unterschied er dabei im Sinn der absolutistischen Ständeordnung in seinen Büchern Einleitung zur Ceremoniel-Wissenschaft der großen Herren (1730) und Einleitung zur Ceremoniel-Wissenschaft der Privatpersonen (1728) trotz der für beide Schichten geltenden französischen Vorbilder so scharf wie möglich zwischen den gesellschaftlichen Verhaltensformen der Hofkreise und denen der als „Privatpersonen“ von den fürstlichen Residenzen ausgeschlossenen bürgerlichen Schichten. Im Hinblick auf die „großen Herren“ und ihre „Mitregenten“ behandelte Rohr dabei – neben dem Staats-Ceremoniel, den hochfürstlichen „Occupationen“, „Contracten“ und deren „Execution“ – vornehmlich höfische Rangfragen wie „Majoritäts“-Erklärungen, das fürstliche „Successions“-Wesen, die „Devotion“, welche sie als „Exzelenzen“ von ihren Untertanen erwarteten, die höfischen „Divertissements“ in Form von „Carnevals“-Belustigungen, musikalischen „Concerten“, „Illuminationen“ und „Masqueraden“, das Tafel-„Ceremoniel“ mit all seinen „Café-Services“, „Credenz-Tellern“ und „Confituren“ sowie andere im Hofleben vorkommende Amusements und Zeremonien, wobei er wie schon im 17. Jahrhundert die aus dem Französischen stammenden Wörter – im Gegensatz zu den deutschen Frakturlettern – in römischer Druckschrift setzen ließ, um sie als besonders bedeutungsvoll herauszustreichen. Im Hinblick auf die „allgemeinen Handlungen“ des „Ceremoniel“-Wesens unter den als „Privatpersonen“ bezeichneten bürgerlichen Schichten wurden dagegen von Rohr vor allem jene „Manieren“ etwas genauer beschrieben, mit denen sich die durch Gelehrsamkeit oder finanziellen Reichtum ausgestatteten Vertreter dieser Klasse auszeichnen sollten. Und das betreffe nicht nur, wie er schrieb, ihre den Hofkreisen angepasste Kleidung „a la mode“, sondern auch ihre „Correspondenz“, ihr Komplimentierverhalten bei „Assembleen“ und „Visiten“, beim Besuch von „Comoedien“, 24
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Abb. 2: Anonym: Titelillustration in Julius Bernhard von Rohrs „Einleitung zur Ceremoniel-Wissenschaft der Privat-Personen“ (1728)
„Divertissements“, „Music“ und dergleichen, sondern auch ihre Familien-„Affairen“, ob nun ihre „Verehelichungen“, den Ankauf von stattlichen „Buffets“, „Commodes“ und anderem „Emeublement“, die Verwendung von Wörtern wie „Bouillon“, „Compote“, „Confiture“, „Cotelettes“, „Crème“, „Delicatesse“, „Fricassée“, „Gelée“, „Pralinee“ und „Ragoût“ im Rahmen der Speisekultur sowie ihr Verhalten der Schar ihrer „Bediensteten“ gegenüber, mit anderen Worten: welche an französischen Vorbildern geschulte 25
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Haltung sie sowohl den über ihnen als auch den unter ihnen Stehenden in ihrem Auftreten annehmen sollten. Noch präziser hätte man die damals geltende soziale Rangordnung kaum charakterisieren können. Als repräsentativ galten innerhalb dieser Gesellschaftsformation weiterhin lediglich die sogenannten Standespersonen, während man den als „Pöbel“ bezeichneten Unterklassen keinerlei Beachtung schenkte. Und daran änderte sich im Heiligen Römischen Reich Unteutscher Nation auch in den folgende Jahrzehnten nicht viel, als sich unter manchen reformwilligen Bürgern, ja, selbst bei einigen Adligen und Fürsten jene Gesinnung verbreitete, die gemeinhin als „Aufklärung“ bezeichnet wird. Gut, der autoritäre, das heißt gewaltbetonte Absolutismus wurde so in manchen Landesteilen durch etwas milder gestimmte Formen des Absolutismus abgelöst, aber daraus ergaben sich für die unteren Bevölkerungsschichten der städtischen Bediensteten oder der noch weitgehend zu Frondiensten angehaltenen bäuerlichen Leibeigenen kaum irgendwelche Vorteile. Was sich dagegen in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts änderte, war ein allmählicher Rückgang aus dem Französischen entlehnter Wörter und damit eine zunehmende „Sprachreinigung“. Da im Zuge einer verbesserten Schulbildung immer breitere Schichten des mittleren und schließlich sogar des unteren Bürgertums deutschgeschriebene Texte lesen konnten, verzichteten viele der „aufgeklärten“, das heißt reformbetonten Autoren dieser Klasse zusehends darauf, sich durch den ständigen Gebrauch aus dem Lateinischen oder Französischen übernommener Fremdwörter ein den höfischen Verhaltensnormen angeglichenes Ansehen zu verschaffen. Stattdessen bedienten sie sich lieber einer durchgehenden Deutschsprachigkeit, wovon sich diese Schichten und vor allem ihre Verleger erhofften, ein wesentlich breiteres Lesepublikum zu erreichen. Wohl ihre einflussreichste Kodifizierung erfuhren diese Bemühungen in den fünf Bänden des zwischen 1774 und 1786 erscheinenden Grammatisch-kritischen Wörterbuchs der hochdeutschen Mundart von Johann Christoph Adelung. In entschiedener Ablehnung aller dialektgefärbten Idiome sowie sämtlicher lateinischen, französischen und italienischen Lehnwörter wurde in diesem umfangreichen Kompendium – in 26
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der Tradition von Luthers Bibelübersetzung – die Meißner Kanzleisprache als die von nun an maßgebliche Norm jedweder schriftsprachlichen Fixierung hingestellt.9 Selbst da, wo es sich weiterhin um Fremdwörter handelte, wurde in diesen Bänden sowohl auf die bisher üblichen Antiqualettern verzichtet, wurden fast alle lehnsprachlichen Hauptwörter nicht mehr klein, sondern groß geschrieben und die Buchstaben „c“ durch „k“ oder „z“ ersetzt (also „Kanone“ statt „canon“, „Finanz“ statt „finance“ usw.). Zudem ließ Adelung Wörter wie „monsieur“ einfach weg, behielt allerdings die Verb-Endungen „iren“ statt „ieren“ vorerst noch bei. Und damit setzte ein schriftsprachlicher Wandlungsprozess ein, der trotz des hohen Ansehens, das die französische Sprache in den Hofkreisen und bei vielen Vertretern der Bildungsbourgeoisie weiterhin besaß, nicht mehr rückgängig zu machen war. Die Folgen, die sich daraus in journalistischer, gelehrsamer und literarischer Hinsicht ergaben, sind allgemein bekannt. Während einige Fürsten, selbst der sich als „aufgeklärt“ gebende König Friedrich II. von Preußen, nach wie vor an der französischen Sprache und Kultur festzuhalten versuchten und sich über die Herausbildung einer rein deutschsprachigen Literatur lustig machten, bedienten sich die Autoren der für ein mittelständisches Publikum bestimmten Moralischen Wochenschriften, die kleinbürgerlichen Pietisten, ein gegen das höfische „Franzosentum“ aufbegehrender Germanenschwärmer wie Friedrich Gottlieb Klopstock, die Radikalaufklärer im Gefolge Gotthold Ephraim Lessings, die deutschtümelnden Mitglieder des Göttinger Hains sowie die nationalgesinnten Autoren der sogenannten Sturm-und-Drang-Bewegung immer stärker oder gar ausschließlich einer von allen Fremdeinflüssen gereinigten hochdeutschen Sprachgebung. Ja, sogar an scharfen Ausfällen gegen die bisherige „Gallicomanie“, in der neben sprachreinigenden Absichten auch durchaus antihöfische Affekte mitschwangen, fehlte es seit den sechziger und siebziger Jahre des 18. Jahrhunderts keineswegs. So ermahnte etwa Heinrich Christian Boie 1778 in seiner Zeitschrift Das Deutsche Museum die „sogenannte große Welt“, die das „deutsche Genie gegen französisches Blendwerk verachtet“ habe, nicht länger „ihre Muttersprache einer fremden Papageiensprache“ zu unterwerfen.10 27
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Justus Möser schrieb in der Berlinischen Monatsschrift, dass der „deutsche Nationalgeist“ nicht an den Höfen zu finden sei, wo es nur „verfehlte und verdorbene“ Gelehrte gebe, die sich ein „air étranger“ zu geben versuchten.11 Jakob Michael Reinhold Lenz wies in seinem Essay Über die Vorzüge der deutschen Sprache darauf hin, dass die Deutschsprachigkeit in den „Wissenschaften weit vorteilhafter sei“ als die französische, da „sie dem Geist mehr Freiheit lasse“.12 Noch entschiedener drückte sich Johann Gottfried Herder in dieser Hinsicht aus, der in seinen Briefen zur Beförderung der Humanität unter sozialgeschichtlicher Perspektive erklärte: „Wenn sich nun, wie offenbar ist, durch diese törichte Gallicomanie in Deutschland seit einem Jahrhunderte her ganze Stände und Volksklassen voneinander getrennt haben; mit wem man Deutsch sprach, der war Domestique (nur mit denen vom gleichen Stande sprach man Französisch und forderte von ihnen diesen Jargon als Zeichen des Eintritts in die Gesellschaft von gleicher Erziehung, als ein Standes-, Ranges- und Ehrenzeichen); zur Dienerschaft sprach man wie zu Knechten und Mägden sprechen muß, ein Knecht- und Mägdedeutsch. So geschah, was geschehen ist; Adel und Französische Erziehung wurden Eins und Dasselbe. Der mächtigste, wohlhabendste, einflußreichste Teil der Nation war also für die tätige Bildung und Fortbildung der Nation verloren.“13 Noch klassenbewusster und zugleich nationalgestimmter hätte man sich kaum ausdrücken können. Und das wurde an einem trotz seiner absolutistischen Grundstruktur aufgeklärten Hof wie dem des Herzogtums von Sachsen-Weimar-Eisenach durchaus geduldet. Schließlich schufen hier zu gleicher Zeit Autoren wie Johann Wolfgang Goethe und Friedrich Schiller in einer von fast allen fremdsprachlichen Einsprengseln gereinigten Schreibweise jene literarischen Werke, die in der Folgezeit weithin als „klassisch“ angesehen wurden. Doch damit war die bisherige Vorherrschaft der französischen Sprache noch längst nicht gebrochen. Sie existierte nicht nur als internationale Diplomatensprache weiter, sondern behauptete sich sogar im höfischen „Discours“, ja, wurde sogar von Teilen des Adels und der Bildungsbourgeoisie nach wie vor benutzt, um sich damit von den niederen Bevölkerungsschichten abzusetzen. 28
Zur Ideologie der Befreiungskriege. Friedrich Ludwig Jahns Programm einer konsequenten „Muttersprachlichkeit“ I Statt die nationalpatriotische Begeisterungswelle, die während der Befreiungskriege von 1813 bis 1815 herrschte und später von den Vertretern des Wilhelminismus sowie den Nazifaschisten in ihrem Sinne propagandistisch ausgeschlachtet wurde, von vornherein als „chauvinistisch“ zu verteufeln, wäre es vielleicht nicht unangebracht, auch einmal mit dialektisierender Perspektive auf ihre positiven, nationaldemokratischen Zielvorstellungen einzugehen. Um das historisch untermauern zu können, ist es allerdings unabkömmlich, zuvor einen kurzen Blick auf jene kriegerischen Auseinandersetzungen zu werfen, von denen sich viele Deutsche, welche sich an ihnen als Freikorpsmitglieder bzw. Landsturmsoldaten beteiligten oder die sie mit ihren Schriften unterstützten, nicht nur eine Befreiung von der französischen Fremdherrschaft, sondern auch ein Ende der im Heiligen Römischen Reich Undeutscher Nation vorwaltenden absolutistischen Machtausübung der einzelnen Territorialherrscher erhofften.1 Von entscheidender Bedeutung für diese nationale Gesinnungsaufwallung war, dass sich Napoleon nach dem zweiten Koalitionskrieg, der von 1799 bis 1802 andauerte, in allen innenpolitischen Angelegenheiten dieses Reichs ein ständig zunehmendes Mitspracherecht anmaßte. Darauf kam es 1803 aufgrund des von ihm ausgeübten Drucks zum sogenannten Reichsdeputationshauptschluss, auf dem die Säkularisierung aller geistlichen Herrschaftsgebiete sowie die Aufhebung der Reichsunmittelbarkeit unzähliger kleinerer Fürstentümer, Grafschaften, Reichsrittergebiete, Reichsdörfer und freier Reichsstädte beschlossen wurde, so dass von den rund 1100 früheren Herrschaftsterritorien nur 40 übrig blieben. Damit hatte Napoleon erst 29
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einmal einige seiner ersten außenpolitischen Ziele erreicht. Durch die Bildung wesentlich größerer Mittelstaaten wie Bayern und Württemberg, die er kurz darauf zu Königreichen erhob, schuf er sich unter den deutschen Fürsten mehrere ihm günstig gestimmte Vasallen, was zu einer fortschreitenden Desintegration des alten Reichs führte. Als es daher 1805 zum dritten Koalitionskrieg gegen Frankreich kam, blieb Preußen neutral, während sich die süddeutschen Staaten sogar ohne nationale Bedenken mit Frankreich verbündeten, weshalb es Napoleon relativ leicht gelang, die allein kämpfenden Österreicher bei Austerlitz vernichtend zu schlagen. Durch diese Niederlage war im Jahr 1806 das Ende des Heiligen Römischen Reichs Undeutscher Nation endgültig besiegelt worden. Fast alle übriggebliebenen deutschen Staaten – außer Österreich, Preußen und Sachsen – traten darauf dem am 1. Juli 1806 gegründeten und sich dem Protektorat Napoleons unterwerfenden Rheinbund bei, worauf im Artikel I dieses Bunds ausdrücklich erklärt wurde, dass diese „Confédération germanique“ auf „ewig von dem Territorium des deutschen Reichs getrennt bleiben solle“. Und dem stimmten die 31 Fürsten, welche diesem Bund beitraten, auch zu. Drei Wochen später verzichtete Franz II . auf Druck Napoleons, der sich immer stärker in der Tradition der römischen Cäsaren sah, auf die inzwischen bedeutungslos gewordene deutsche Kaiserkrone und nannte sich fortan Franz I. von Österreich. Als kurz darauf Preußen und Sachsen gegen die inzwischen eingetreteten Neuregelungen protestierten und sich zu einem vierten Koalitionskrieg gegen Frankreich entschlossen, dem diesmal Österreich fernblieb, war es für Napoleon ein Leichtes, das preußisch-sächsische Heer im Oktober 1806 in der Doppelschlacht bei Jena und Auerstedt zu besiegen und mit seiner Grande armée bis Berlin vorzudringen. Obwohl es danach noch einmal zu Schlachten bei Preußisch-Eylau und Friedland kam, siegten wiederum die Franzosen gegen die Preußen und die mit ihnen verbündeten Russen. Damit hatte Napoleon den Höhepunkt seiner Machtstellung in Mitteleuropa erreicht. 1807 musste Preußen bei den Friedensverhandlungen in Tilsit auf alle linkselbischen Gebiete verzichten und hohe Reparationssummen in Form von 30 Millionen Talern 30
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zahlen. Zugleich errichtete Napoleon im Westen des ehemaligen Heiligen Römischen Reichs das Königtum Westfalen unter seinem Bruder Jérôme und im Osten Preußens das Großherzogtum Warschau.
II Dass Österreich und Preußen – selbst nach den ersten militärischen Niederlagen gegen die immer weiter nach Osten vordringenden französischen Truppen – diese politischen Umwälzungen nicht widerstandslos hinnehmen würden, war vorherzusehen. In Wien gingen derartige Bemühungen vor allem von zwei Staatsmännern aus, dem Erzherzog Karl von Habsburg und dem österreichischen Außenminister Johann Philipp Graf von Stadion, die sich 1808 – sicher mitbeeinflusst durch die Meldungen über den spanischen Volksaufstand gegen die französische Okkupationsarmee – für die Aufstellung einer in Guerillataktiken ausgebildeten Landwehr und eine verstärkte Volkserziehung einsetzten. Doch alle damit verbundenen Maßnahmen erwiesen sich als fruchtlos. Der Tiroler Bauernaufstand unter Andreas Hofer im Jahr 1809 scheiterte und auch die österreichische Armee erlitt im gleichen Jahr bei Wagram gegen die Franzosen unter Napoleon eine empfindliche Schlappe, worauf das Habsburgerreich im Frieden zu Schönbrunn erhebliche Gebietsverluste hinnehmen musste. Aufgrund dieser Ereignisse ersetzte Kaiser Franz I. den deutsch-patriotisch eingestellten Graf Stadion durch den fast ausschließlich das Interesse Österreichs im Auge habenden Fürsten Klemens Wenzel von Metternich, dem er den Rang eines Staatskanzlers verlieh. Als entschiedener Gegner des Erzherzogs Karl wandte sich dieser nachdrücklich gegen das Konzept einer nationalen Erhebung, da es unsinnig sei, wie er erklärte, dem „Pöbel“, das heißt der „gefährlichen Klasse der Unbesitzenden“, zum Aufstand reizende „Waffen in die Hände zu geben“. Dementsprechend unterdrückte Metternich alle Tendenzen, die eine Aufhebung der Standesunterschiede oder gar eine nationale Verbrüderung anstrebten. Aus denselben, von abwiegelnder Vorsicht diktierten Gründen vermittelte er sogar die Eheschließung Napoleons mit Marie-Luise von 31
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Habsburg, einer Tochter von Franz I., und unterstellte die österreichische Armee dem Oberbefehl Napoleons. Damit fiel die Rolle, dem französischen Imperialismus in Mitteleuropa die Stirn zu bieten, notwendig Preußen zu. Die treibende Kraft dieser Bemühungen war zu diesem Zeitpunkt Karl August Fürst von Hardenberg, der seit 1804 dem preußischen Außenministerium vorstand, jedoch 1806 wegen seiner antifranzösischen Gesinnung auf Drängen Napoleons diesen Posten aufgeben musste. Darauf begab er sich ins Zarenreich, wo er 1807 eine Denkschrift verfasste, in der er sich einerseits scharf gegen die „Raub- und Herrschsucht Napoleons“ aussprach, jedoch andererseits ebenso nachdrücklich ein starres „Festhalten am Alten“ verwarf. Was er stattdessen befürwortete, war eine „Revolution im guten Sinne“, um so in einem „neuen monarchischen Staat“ eine „natürliche Freiheit und Gleichheit“ aller Bürger in die Wege zu leiten, auf den in ferner Zukunft sogar eine „demokratische“ Staatsverfassung folgen könne. Nach seiner Entlassung setzte der preußische Freiherr Heinrich Friedrich Karl vom und zum Stein für kurze Zeit das von Hardenberg begonnene Reformwerk fort. Wie dieser trat auch er sowohl für eine Befreiung der Bauern aus ihrer bisherigen Erbuntertänigkeit als auch für eine bürgerliche Gewerbefreiheit und Selbstverwaltung der Städte ein, um so auch dem Landvolk und dem Mittelstand das Gefühl einer größeren Staatsverbundenheit zu geben. Doch auch Stein wurde – wiederum auf Druck Napoleons – 1808 von seinem Ministerposten entfernt und musste wie Hardenberg ebenfalls ins Zarenreich fliehen, wo er in schroffer Ablehnung der versöhnlerisch einlenkenden Haltung Metternichs mehrere Druckschriften gegen die „erdrückende Übermacht Frankreichs“ verfasste. Wie schon Hardenberg richtete er in ihnen als das Ziel einer möglichen nationalen Erhebung gegen die „ungebundene Herrschsucht Napoleons“ das Ideal einer ganz Deutschland umfassenden „gemäßigten Monarchie“ auf, in der allen Bürgern die gleichen Rechte zustehen würden, statt nach der Befreiung von den Franzosen erneut zu einem „Bund kleiner Staaten“ zurückzukehren, dessen „Despoten“, wie zur Zeit des „Heiligen Römischen Reichs Undeutscher Nation“, wiederum lediglich nach „Unabhängigkeit, 32
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Selbständigkeit und Vergrößerung“ ihrer dynastisch regierten Teilgebiete streben würden. Während Stein nach 1808 weiterhin im russischen Exil bleiben musste, konnte Hardenberg ab 1810 als erneut vom preußischen König ernannter Staatskanzler sein zwischen 1804 und 1806 begonnenes liberaldemokratisches Reformwerk fortsetzen. Neben der Bauernbefreiung sowie der neuen Städteordnung trat er in den folgenden Jahren vor allem für eine durchgreifende Heeresreform ein, deren Durchführung er Hermann von Boyen, August Wilhelm Neidhardt von Gneisenau und Gerhard Johann von Scharnhorst anvertraute, die sich für die Einführung einer allgemeinen Wehrpflicht, die Abschaffung der bisher üblichen Prügelstrafe sowie die Zulassung von Bürgerlichen zur Offizierslaufbahn einsetzten, um so allen preußischen Bürgern das Gefühl einer Mitverantwortung für die politischen Angelegenheiten ihres Staates zu geben und sie zugleich im Rahmen eines vaterländisch gestimmten Volksheers auf eine mögliche Insurrektion gegen die französische Fremdherrschaft vorzubereiten, was man später als „defensive Modernisierung“ Preußens charakterisiert hat.2
III Unter den preußischen Intellektuellen waren dagegen die Reaktionen auf Napoleon zu Anfang eher zwiespältig. Während in der zweiten Hälfte der neunziger Jahre, ja, selbst noch bis zu Napoleons Kaiserkrönung im Jahr 1804, die sich eher „aufgeklärt“ gebenden Vertreter dieser Schicht in Napoleon – wegen der in seinem Code civil enthaltenen futurologischen Liberalisierungsparagraphen sowie der durch ihn im Gefolge des Reichsdeputationshauptschlusses durchgeführten „Flurbereinigung“ des Heiligen Römischen Reichs – einen „Befreier“ gesehen hatten, schlug danach wegen seines lediglich französischen Eigeninteressen dienenden Auftretens das ideologische Pendel immer stärker in die entgegengesetzte Richtung aus, das heißt führte bei den eher nationalistisch Denkenden zu einem erbitterten Franzosenhass. Schließlich hatte Napoleon nicht gezögert, einige der angeblich 33
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„befreiten“ Gebiete ohne die geringsten Skrupel in absolutistisch regierte Königreiche zu verwandeln, deren Throne er wie schon die Potentaten des Ancien régime mit Mitgliedern seiner eigenen Familie besetzte. Obendrein hörten sie, wie geringschätzig Napoleon von den Deutschen als einem „Volk ohne Vaterland“ dachte, das in serviler Untertänigkeit auf „leichtgläubige Weise in die von ihm gestellten Netze“ gelaufen sei. Es waren daher nicht nur die militärischen Niederlagen der Österreicher und Preußen, sondern auch die imperialistischen Übermutsgesten, mit denen Napoleon im Heiligen Römischen Reich auftrat und es zugleich im Dienste der französischen Großbourgeoisie ausplünderte, die unter vielen deutschen Intellektuellen jene nationalistische Stimmung anfachten, welche in den Jahren 1806 bis 1815 immer vehementere Formen annahm. Die wichtigsten Impulse gingen dabei von Preußen aus. So kam es dort bereits 1808 zur Gründung eines sogenannten Tugendbunds, der sich mit vaterländischer Gesinnung für eine moralische Wiederaufrichtung Preußens einsetzte.3 Da jedoch derartige Aktivitäten dem Napoleon gegenüber äußerst zögerlich taktierenden König Friedrich Wilhelm III. zu riskant erschienen, hob er diesen Bund schon Ende 1809 wieder auf. Auch einzelne Intellektuelle wie Johann Gottlieb Fichte, Friedrich Daniel Schleiermacher, Ernst Moritz Arndt und Friedrich Ludwig Jahn, die sich zum gleichen Zeitpunkt in ihren Reden und Publikationen für die Stärkung eines vaterländisch-preußischen oder gar nationalen Gemeinsinns einsetzten und dabei ihre kritische Haltung gegenüber der französischen Fremdherrschaft keineswegs verhehlten, wurden vom preußischen König zwar geduldet, aber keineswegs tatkräftig unterstützt. Wohl der Mutigste von diesen Vieren war anfangs Fichte, der bereits im Winter von 1807 auf 1808 im Berliner Akademiegebäude seine später immer wieder zitierten Reden an die deutsche Nation vor einem ihm begeistert folgenden Publikum hielt. Und zwar stützte sich Fichte dabei – im Einklang mit seiner von Herder herkommenden humanistischen Gesinnung – vor allem auf die These, dass die Germanen und damit die heutigen Deutschen das eigentliche Ur- oder Stammvolk Europas seien, weil sie als die 34
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Einzigen innerhalb der mittelalterlich-neuzeitlichen Kulturentwicklung an ihren ursprünglichen Wohnsitzen sowie ihrer angestammten Sprache festgehalten hätten. Und daraus folgerte er, dass dieses Volk noch immer stark genug sei, sich nicht von irgendwelchen fremden Nationen unterjochen zu lassen. Allerdings sei dazu eine verstärkte nationalpädagogische Erziehung im Sinne von Johann Heinrich Pestalozzi nötig. Nur so, betonte er, könne sich ein vaterländischer Gemeinsinn entwickeln, der die Deutschen befähigen würde, sich nicht weiter mit jener territorialen Zersplitterung abzufinden, die im Zeitalter des dynastischen Absolutismus eine gegen das volkhafte Zusammengehörigkeitsgefühl gerichtete Form angenommen habe. Ähnliche Anschauungen lagen den zwischen 1806 und 1808 in Halle und Berlin gehaltenen Patriotischen Reden Schleiermachers zugrunde, in denen er sich bemühte, sogar die Religion in den Dienst einer nationalen Erweckung zu stellen. Statt lediglich der vom Absolutismus geprägten Vergangenheit nachzutrauern, forderte auch er, endlich durchgreifende staatliche Reformen ins Auge zu fassen. Schließlich sei der Widerwille gegen die „Ungleichheiten und Vorrechte“ im öffentlichen Leben so allgemein geworden, dass Preußen einer „vollständigen Wiedergeburt“ bedürfe. Während jedoch Schleiermacher wegen seiner halb theologischen, halb philosophischen Sprachgebung keine allzu große Wirkung beschieden war, erwiesen sich die Schriften Arndts und Jahns – aufgrund ihrer wesentlich direkteren, selbst gewisse nationalistische Überspitzungen nicht verschmähenden Ausdrucksweise – innerhalb der preußisch-vaterländisch oder gar gesamtdeutsch gesinnten Bevölkerungsschichten um so erfolgreicher. Wohl am vehementesten trat Arndt der französischen Fremdherrschaft entgegen. Schon in seiner Schrift Germanien und Europa (1803) erregte er sich darüber, wie sehr Teile des Deutschen Reichs durch den Frieden von Luneville, auf dem Napoleon die Abtretung aller linksrheinischen Gebiete an Frankreich durchgesetzt hatte, unter die beschämende „Vormundschaft“ einer fremden Macht geraten sei. In seinen folgenden Schriften, die ab 1806 meist unter dem Titel Geist der Zeit erschienen, nahm sein Hass auf den „hinterlistischen“ Despotismus Napoleons immer schärfere Formen 35
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an. Was er dem entgegensetzte, waren folgende Konzepte: den Hermannsgeist der alten Germanen,4 den es wiederzuerwecken gelte, einen verstärkten Stolz auf die deutsche „Muttersprache“ sowie ein christgermanisches Vertrauen in jenen Gott, „der Eisen wachsen ließ“ und der den Deutschen bei ihrem Ankampf gegen die Franzosen sicher den nötigen Beistand leisten werde. Um die damit Angesprochenen – nach Jahrhunderten der Vielherrschaft einzelner Fürsten – endlich zu einem „einigen“ Volk werden zu lassen, unterstützte daher Arndt nicht nur die von Hardenberg und Stein eingeleitete Bauernbefreiung sowie die Beteiligung der Bürger an der Städteverwaltung, sondern setzte sich ebenso nachdrücklich für die von Boyen, Gneisenau und Scharnhorst eingeleitete Heeresreform ein, um so jene widerwillig kämpfenden Söldnerheere, die keinen Bezug zum wahren Volksgeist hätten, durch nationalgesinnte Wehrmannschaften zu ersetzen, in denen sich jeder Landsturmmann als ein Verteidiger seines Vaterlands fühlen könne. Nur so werde es möglich sein, erklärte er zwischen 1808 und 1810 mehrfach mit antiwelschem Grimm, die französischen Truppen aus Deutschland zu vertreiben und mit der nötigen Wehrbereitschaft dafür zu sorgen, dass der Rhein wieder mitten durch Deutschland fließe, statt seine Grenze zu sein. Erst dann, schrieb Arndt, könne man die verräterischen Rheinbündler endlich zum Teufel jagen und ein deutsches Reich errichten, in dem es nur noch einen Herrscher und ein Volk, aber nicht mehr eine Vielzahl von dynastischen Eigeninteressen geleiteter Fürsten und ihnen nur unwillig gehorchender Untertanen geben werde.
IV Doch kommen wir – nach diesen langwierigen, aber notwendigen Ausführungen – endlich zu den Aktivitäten und Schriften jenes Friedrich Ludwig Jahn, dem das Hauptinteresse dieses Beitrags gelten soll. Er wurde am 11. August 1778 in Lanz in der märkischen Priegnitz geboren, wo sein Vater als Pfarrer tätig war, verbrachte seine Gymnasialjahre in Salzwedel sowie im Grauen Kloster zu Berlin und begann 1796 ein Theologiestudium an der 36
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Universität Halle. Schon dort, wo er dem Studentenorden der Unitisten angehörte, der sich der Ideenwelt der Freimaurer verschrieben hatte, machte er sich bei den königstreuen Behörden unbeliebt und wurde schließlich relegiert.5 Nach einem Abstecher nach Breslau wurde Jahn im Jahr 1800 an der Leipziger Universität aus denselben Gründen sogar der Prozess gemacht und ihm verboten, an irgendeiner anderen Universität des Heiligen Römischen Reichs weiterzustudieren. Von Juli 1801 bis zum Januar 1802 hielt er sich ohne Immatrikulation an der preußischen Universität in Frankfurt an der Oder auf und ging darauf nach Greifswald im schwedischen Vorpommern, wo er Arndt begegnete, der an der dortigen Universität als Privatdozent für Geschichte und Philologie tätig war und sich wie er für die Idee eines „vereinigten Deutschlands“ begeisterte. Ohne Studienabschluss verließ jedoch Jahn Greifswald bereits nach einem Jahr und nahm in der Folgezeit Stellen als Hauslehrer in Neubrandenburg und Jena an. In all diesen Jahren eignete sich der junge Jahn eine beachtliche Kenntnis in theologischer, philologischer und literarischer Hinsicht an, die ihm bei seinen folgenden Publikationen zugute kam. Die erste dieser Schriften auf sprachwissenschaftlichem Gebiet war sein durchaus „gelahrt“ wirkendes Büchlein Bereicherung des Hochdeutschen Sprachschatzes versucht im Gebiethe der Sinnverwandtschaft, ein Nachtrag zu Adelungs’s und eine Nachlese zu Eberhard’s Wörterbuch, das 1806 im Verlag Adam Friedrich Böhme in Leipzig herauskam. Schon in seiner „Erklärung“, wie er das Vorwort dieses Bandes nannte, wandte sich Jahn entschieden gegen das „Verhudeln, Verhunzen und Verpfuschen unserer Sprache“, das durch den übermächtigen Gebrauch französischer Lehnwörter geradezu groteske Formen angenommen habe und dem endlich ein Riegel vorgeschoben werden müsse.6 Auf die Frage, wie wichtig ein solcher Versuch sei, antwortete er im Tonfall eines deutschbewussten Biedermanns: „In seiner Muttersprache ehrt sich jedes Volk, in der Sprache Schatz ist die Urkunde seiner Bildungsgeschichte niedergelegt, hier waltet wie im Einzelnen das Sinnliche, Geistige, Sittliche. Ein Volk, das seine eigene Sprache verlernt, giebt sein Stimmrecht in der Menschheit auf, und ist zur stummen Rolle in der Völkerbühne verwiesen. Mag 37
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es dann aller Welt Sprachen begreifen und übergelehrt bei Babels Thurmbau zum Dollmetscher taugen, es ist kein Volk mehr, nur ein Mengsel von Staarmenschen.“7 Um keinen Zweifel an seinen volksbezüglichen Absichten zu lassen, erklärte Jahn darauf ausdrücklich, dass er dieses Buch nicht für die „Großen“, sondern für „seines Gleichen“, also die „geraden, schlichten Deutschen“ geschrieben habe.8 Statt weiterhin aus fremden Sprachen „Schleichware“ einzuschleusen, wie das in den höheren Ständen üblich sei, wo man auch sonst so viel Wert auf „Gezier und Schminke“ lege,9 solle die Sprache des alltäglichen Hauslebens endlich die allgemeinverständliche Ausdrucksweise für alle Deutschen werden. Wie es zu der immer noch weitverbreiteten „Sprachmengerei“ gekommen sei und wer sich dagegen, wie vor allem Martin Luther, gewehrt habe, versuchte Jahn darauf mit einem kurzen Abriss der deutschen Sprachgeschichte zu belegen, wobei er die „höheren Stände“ wiederholt dazu aufrief, trotz der vielfältigen „Zersplitterung Deutschlands“ endlich zu versuchen, eine nationale „Allgemeinsprache“ durchzusetzen,10 um so den inneren Zusammenhalt aller Deutschen zu verstärken. Jahn selber erklärte daher im Hauptteil dieses Buchs, dass man in Zukunft im Bereich der deutschen Sprache keine „eingeschlichenen Fremdlinge“ mehr dulden dürfe,11 sondern im Gegenteil den herkömmlichen Wortschatz durch einen verstärkten Gebrauch sinnverwandter Wörter bereichern solle. Da ihm in dieser Hinsicht sowohl Johann Christoph Adelungs Grammatisch-kritisches Wörterbuch der hochdeutschen Mundart, das zwischen 1774 und 1786 in fünf Bänden herausgekommen war, als auch Johann August Eberhards Synonymisches Handwörterbuch der deutschen Sprache für alle, die sich in dieser Sprache richtig ausdrücken wollen (1802) nicht ausführlich genug erschienen, ließ Jahn im Hauptteil seiner eigenen Studie auf über 150 Seiten eine Liste sinnverwandter Wörter folgen, mit der er zur Bereicherung der hochdeutschen Sprache beitragen wollte, um so ein wirksames Bollwerk gegen die ihm verhasste Ausländerei zu errichten. Weil dieses Buch wegen seiner zwar deutschbetonten Note, aber allzu sprachwissenschaftlichen Ausführlichkeit nicht die von Jahn erhoffte 38
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Wirkung hatte, entschloss er sich in den folgenden Jahren – ideologisch beflügelt durch die antifranzösischen Bestrebungen Fichtes und Arndts sowie der preußischen Heeresreformer – seine deutschnationalen Ansichten in einem weiteren Buch zusammenzufassen, dem er den unzweideutigen Titel Deutsches Volksthum gab, das 1810 bei dem Leipziger Verleger Wilhelm Rein herauskam und sich sofort als höchst erfolgreich erwies. Unter Berufung auf die bekannte Zeile in Goethes Hermann und Dorothea (1798), dass es „den Deutschen nicht gezieme“, die durch die Französische Revolution in Gang gekommene „fürchterliche Bewegung“ fortzusetzen, welche Jahn diesem Buch als Motto voranstellte, betonte er hier, dass sich alle Deutschen – angesichts der französischen Eroberungssucht – fortan in erster Linie für das „Wohl ihres eigenen Vaterlandes“ einsetzen sollten.12 Daraus folgerte er, nicht ohne auf deutschbewusste Autoren wie Johann Heinrich Voß, Friedrich Gottlieb Klopstock, Johann Gottfried Seume und besonders nachdrücklich auf Johann Gottfried Herder hinzuweisen, der bereits empört erklärt habe, dass die Deutschen noch immer eine „ungewordene Nation“ seien und dass sich ein wahres Volkstum nur durch eine verstärkte „Einigungskraft“ entwickeln könne (S. 17), darin in Zukunft die höchste ideologische Zielvorstellung zu sehen. Im Einklang mit derartigen Anschauungen schreckte Jahn sogar in nationaldemokratischer Gesinnung keineswegs davor zurück, den absolutistisch regierenden Einzelfürsten ein skrupelloses Herrschaftsgebaren vorzuwerfen und ihre Schlösser als jene „Zehr- und Aussaugeörter“ zu bezeichnen, deren Besitzer „vom sauern Schweiß der andern blutigelich leben“ (S. 31). Um derartige Missstände abzuschaffen, forderte er wie Arndt – unter Berufung auf die „Volksweisheit der jugendlichen Freistaaten von Amerika“ (S. 83) – durch die „Abschaffung der Leibeigenschaft“ sowie ein „allgemeines Bürgerrecht“ (S. 76) eine verstärkte „Theilnahme der einzelnen Staatsbürger am Wohl und Weh des Ganzen“ zu befördern (S. 73). Statt tatenlos zuzusehen, dass die deutsche Geschichte weiterhin ein Trauerspiel dynastischer Kriege bleibe, rief daher Jahn seine Mitbürger dazu auf, alle einzelstaatlichen Zwistigkeiten zu beenden, alle religiösen Unterschiede abzuschaffen sowie alle 39
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„Landmannsschaftsucht und Volkkleinerei“ aufzuheben (S. 91). Um das zu erreichen, schrieb er, müsse man endlich eine zentrale Hauptstadt errichten, eine „freigläubige einige Deutsche Kirche“ schaffen (S. 128), den „welschen Gesang auf der Bühne“ verbieten (S. 278), neue „Volksfeste“ durchsetzen (S. 261) sowie eine „allgemeine Volkstracht“ einführen (S. 255), um selbst im äußeren Anschein die bestehenden Standesunterschiede zu verwischen. Ebenso entschieden trat Jahn für deutsche statt lateinische Monatsnamen, die Bevorzugung deutscher Vornamen sowie die ausschließliche Verwendung der „gotischen“ Druckschrift ein.13 Nur durch solche Maßnahmen ließe sich, wie er hoffte, eine Wiedergeburt des wahrhaft Deutschgesinnten erreichen. Zu einer solchen Aufgabe, glaubte Jahn damals, sei allein der preußische Staat fähig. In ihm sah er zwar nicht „das höchste schon Gewordene menschlicher Regierungskunst“, aber doch die wichtigste „Triebkraft zur Vervollkommnung und einstigen Vollendung“ derartiger Absichten (S. XIII), das heißt den tatwilligsten „Kern“, dem „zersplitterten Deutschland“ wieder eine einheitsstiftende Form zu geben, während er Österreich, wo „die Wohlfahrt des Herrschers in sieben Sprachen erfleht“ werde, als ein „allzu großes Völkermang“ bezeichnete, das zu einer solchen Aufgabe unfähig sei (S. XIII). Nur von Preußen, wie er erklärte, wo durchgehend hochdeutsch gesprochen werde, könne daher eine „zeitgemäße Verjüngung des alten ehrwürdigen Deutschen Reichs“ ausgehen (S. XV). Wie schon Fichte fasste dabei Jahn in dieser Hinsicht vor allem eine durchgreifende Volkserziehung ins Auge, die er als die „Edelste“ aller von ihm vorgeschlagenen Maßnahmen empfand. Statt Kinder weiterhin vornehmlich dazu anzuhalten, sich auf das spätere Erwerbsleben vorzubereiten oder in die übliche „Vergnügungsjagd hineinzutrudeln“, das heißt sich zu „amusiren“ (S. 139), solle man sie zu „menschlich fühlenden und selbsthandelnden Wesen“ erziehen (S. 144), die sich vor allem darum bemühen würden, sich als mittätige „Volksglieder“ auszuzeichnen (S.141). Und im Rahmen dieser Überlegungen kam Jahn immer wieder auf die volksvereinende Bedeutung der deutschen „Muttersprache“ zurück, mit der er sich 40
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schon vier Jahre zuvor in seinem Büchlein Bereicherung des Hochdeutschen Sprachschatzes auseinandergesetzt hatte und der er auch in seinem Deutschen Volksthum mehrere Kapitel widmete. Mit einem Hinweis auf die antifranzösische Gesinnung in Carl Wilhelm Kolbes Schriften Über den Wortreichtum der Deutschen und der Französischen Sprache (1806) und Über Wortmengerei, Spracheinheit und Sprachreinigung (1809)14 erklärte er hier: „Unglückliches Deutschland! Die Verachtung Deiner Muttersprache hat sich fürchterlich gerächt. Du warst schon längst Dir unwissend durch eine fremde Sprache besiegt, durch Fremdsucht ohnmächtig, durch Götzendienst des Auslands entwürdigt. Nie hätte Dein Überwinder so vielfach in einem andern Lande gesiegt, wo die Vergötterung seiner Sprache nicht mitgefochten. Schreibt doch schon 1752 an Argental Voltaire: ‚Ich bin mehrmals erstaunt über die Fortschritte, welche unsere Sprache in fremden Ländern gemacht hat; wohin man sich auch wenden mag, man ist in Frankreich. Ihr habt, meine Herren! die Universalmonarchie erlangt, die man Ludwig dem Vierzehnten vorwarf, und von deren Besitz er so weit entfernt war.‘“ Und er schickte diesem Zitat die empörten Sätze hinterdrein: „Diese Sprache hat Deine Männer bethört, Deine Jünglinge verführt, Deine Weiber entehrt. – – – Deutsche, fühlt wieder mit männlichem Hochsinn den Werth eurer edlen lebendigen Sprache, schöpft aus ihrem nie versiegenden Urborn, grabt die alten Quellen auf, und lasset Lutetiens stehende Lache in Ruhe!“ (S.157). Im gleichen Sinne schrieb Jahn an anderer Stelle: „Ohne eine allgemeine Umgangs-, Schrift- und Büchersprache herrscht im Volke eine Verwirrung. Das Hochdeutsch ist eine Gesamtsprache und hat eine unendliche Bildsamkeit in sich; jeder Deutsche sollte es als ein nothwendiges Bürgererfordernis lernen“ (S. 79). Unter Berufung auf volksverbundene Sprachschöpfer wie Homer, Ariost, Tasso, Cervantes und Shakespeare, die sich stets ihrer Muttersprache bedient hätten, rief er deshalb die Deutschen immer wieder auf, endlich ihre „Affenliebe für fremde Sprachen“ aufzugeben, mit der sich so viele „Windbeutel und Aufblasefrösche“ wichtig zu machen versuchten und dadurch „unser biederherziges Volk verdorben“ 41
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hätten (S. 146). Schließlich habe schon Gottfried August Bürger erklärt, dass in der europäischen Geschichte „kein aufgeklärtes schreibendes Volk bekannt sei, welches so nachlässig, so unbekümmert um Richtigkeit, Reinheit und Schönheit, ja, welches so liederlich geschrieben habe, als bisher unser Deutsches Volk“ (S. 150). In Jahns Buch Deutsches Volksthum findet sich daher kein einziges Fremdwort. In allen Lebensbereichen verwandte er möglichst deutsch, ja, altfränkisch klingende Hauptwörter, um seinen Lesern zu beweisen, dass man selbst in gelehrten Schriften getrost auf das Lateinische oder Französische verzichten könne. Im Hinblick auf den geradezu leidenschaftlichst von ihm erwünschten deutschen Einheitsstaat ist daher nicht, wie damals noch vielfach üblich, von „Etat“ oder „Gouvernement“, sondern stets von „Bürgertugend“, „Deutschwerdung“, „Einigungskraft“, „Gemeinwesen“, „Mustervolk,“ „Selbststolz“, „Staatsbund“, „Tatenbegeisterung“ oder „Vaterlandsliebe“ die Rede. Wer sich diesem „Volkstumsringen“, ob nun in Wort oder Tat, entgegenstelle, wird dementsprechend von Jahn als „Feilbieter“, „Halbbruder“, „Kannegießer“, „Klatschbruder“, „Selbling“, „Weisling“ oder dem „Wißdünkel“ und der „Neusucht ergebener Nichtstuer“ angeprangert, der keinen „Gemeingeist“, keinen „Mannesschritt“, keine „Tatenbegeisterung“ besitze, sich nicht um ein „Vorsinnen“ bemühe, keine „Einigungskraft“ aufbringe und sich dem „Ehrenkampf fürs Vaterland“ entziehe. All das erschien Jahn – angesichts der von Napoleon herbeigeführten „Landesnot“ – als schmähliche „Hundheit“. Um solchen Gesinnungen möglichst umgehend ein Ende zu bereiten, forderte er daher alle wahren Volkserzieher auf, sich von allen französischen Einflüssen freizumachen und sich in ihren Reden an das Volk endlich unter Verzicht auf alle Fremdwörter der seit Jahrhunderten bestehenden deutschen „Muttersprache“ zu bedienen, und zwar auf allen Gebieten: „im Rechtsprechen, Rechtlesen, Rechtreden, Rechtschreiben und im Gesang“ (S. 148). Um das zu erreichen, schrieb er: „Möge doch recht bald ein ‚Deutsches Sprachbuch‘, Lehre, Übungsschule, Anweisungen enthaltend, erscheinen, und die Wohlthat gewähren, auf einem gebahnten
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Deutschen Wege Deutsch zu lernen“, um so den „zubescheidenen Deutschen“ ein stärkeres „Selbstvertrauen“ einzuflößen (S. 152). Doch nicht nur im öffentlichen Leben und im Unterricht, auch im Hinblick auf das Bücherlesen müsse, wie Jahn erklärte, endlich ein durchgreifender Wandel eintreten. „Ohne Plan und Wahl“ oder nur zum „sogenannten Zeitvertreib zu lesen“, erschien ihm wie „eine höchst armselige geschäftige Nichtstuerei von Müßiggängern“ (S. 152). Was er in dieser Hinsicht besonders verwarf, waren die vielen Wunder-, Geister-, Ritter- und Räuberromane, die damals den Büchermark überfluteten, mit denen sich jene „Alltagsleute“ zufrieden gäben, welche nicht auf eine bessere Zukunft hofften, sondern sich mit dem schäbigen „Stichwort“ begnügten: „Man muß die Menschen nehmen, wie sie sind, die Welt, wie sie ist, es gehen lassen, wie’s geht, sich nicht kümmern, wie’s sein sollte“ (S. 160). Dem setzte Jahn die ebenso schlichte, wie treffende Maxime entgegen: „Was nicht ist, wie es sein soll – taugt nicht“ (S. 161). Ja, er gab sogar schon Hinweise darauf, was die Deutschen in Zukunft vor allem lesen sollten: „In der Kinderstube statt Feenmährchen Gellert, Hagedorn, Lichtwer, Lessing, Pfeffel, wenn sie in Fabeln lehren. In der Unterrichtsschule Schlözer’s Vorbereitung zur Weltgeschichte für Kinder. Weiterhin Goethe vor Ovid und Horaz; Voß früher als Virgil und Theokrit; Müller’s Schweizergeschichte eher als Cäsar; Schiller vor Sophokles; Iffland vor Terenz; Lichtenberg vor Lucian; Klopstock vor Pindar“ ( S.165). Nur das würde jeden nach „Mensch- und Deutsch-Werdung Strebenden zu Aufklärung, Herzensveredelung, Mutherhöhung, Hoffnungsbelebung, zur Stärkung und Erhaltung im Guten, Befestigung edler Vorsätze und zur Schutzbegeisterung“ verhelfen (S. 163). Mit solchen Äußerungen war keine grundsätzliche Ablehnung ausländischer Klassiker, sondern lediglich der übermäßige Nachdruck, den man bisher im Gymnasialunterricht und an den Universitäten auf solche Autoren gelegt habe, gemeint. Allerdings bleiben dabei die französischen Schriftsteller – im Zuge der antinapoleonischen Stimmung dieser Jahre – stets ausgespart, während die englischen Dichter und Geschichtsschreiber wegen ihrer „Volksthümlichkeit“ durchaus gelobt werden (S. 171). Überhaupt 43
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beeindruckten Jahn nur Schriften, die eine auf nationalem Geschichtsbewusstsein beruhende allgemein verständliche Sprache besäßen. „Volksfaßlichkeit muß mit wahrem Volksgeiste Gegenstände auffassen“, heißt es demzufolge, „die für Jedermann sind, dann werden die Bücher in Jedermanns Hand kommen, und in keiner papiernen Sündfluth untergehen“ (S. 301). Im Einklang mit ebenso nationalgesinnten Autoren wie Ernst Moritz Arndt, Achim von Arnim, Clemens Brentano, Joseph Görres, Jakob Grimm, ja, selbst Heinrich von Kleist, verstand Jahn darunter vor allem Volksliederbücher, Volksmärchen, Volksbücher wie Faust und Eulenspiegel, immerwährende Zeitweiser, vaterländische Reiseführer, zur Wehrbereitschaft aufrufende Dramen sowie Bücher „zur deutschen Geschichte, Völkerrechtlichkeit, Selbstregierung und Selbstgesetzlichkeit“, in denen man mit dem nötigen Pathos die „Edelsten“ der deutschen „Mustermänner“ verewigen solle, statt „an vaterländische Stoffe ohne Künstlerweihe und Dichterbegeisterung heranzugehen“ (S. 310). Denn auch solche Bücher, falls man sie in einer allgemeinverständlichen Sprache abfassen würde, könnten, wie er schrieb, durchaus zu einer Neubesinnung auf wahrhaft Deutsches und damit zu einem Widerwillen gegen fremdländische Eroberungssucht beitragen.
IV Um all diesen Forderungen auch die ihnen entsprechenden Taten folgen zu lassen, gründete Jahn am 13. November 1810, also dem gleichen Jahr, als sein Buch Deutsches Volksthum erschien, in der Hasenheide bei Berlin den geheimen „Deutschen Bund“ für Beförderung der Vaterlandsliebe und damit zur Einigung Deutschlands. Die dort unter seiner Anleitung stattfindenden Turnübungen sollten vor allem der wehrpolitischen Ertüchtigung des von seinen Mitgliedern erhofften Befreiungskriegs gegen die herrschsüchtigen Franzosen dienen, von dem sie sich nicht nur eine Beseitigung der von Napoleon angeführten fremdländischen Eindringlinge, sondern auch die Errichtung eines deutschen Einheitsstaates unter preußischer Führung sowie die Teilnahme aller Bürger am staatlichen Verwaltungswesen 44
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versprachen. Zugleich unterstützte Jahn mit Hardenberg und Scharnhorst die Gründung des mit Guerilla-Taktiken operierenden Lützower Freikorps, in dem er sich zeitweise als Anführer eines Bataillons auszeichnete.15 Als sich 1813, nach der Niederlage der Franzosen in der Völkerschlacht bei Leipzig, alle seine Hoffnungen auf „Freiheit und Einheit des Vaterlandes“ endlich zu erfüllen schienen, glaubte Jahn im darauffolgenden Siegestaumel, dass nun ein Zeitalter gesamtdeutscher Einheitssehnsucht und wiedererstandener Größe anbrechen würde. Doch das Gegenteil trat ein. Der von dem österreichischen Staatskanzler Fürst Metternich einberufene Wiener Kongress beschloss im Jahr 1815 – nach dem endgültigen Sieg über Napoleon in der Doppelschlacht bei Waterloo und Belle Alliance – keinen deutschen Einheitsstaat, sondern lediglich einen in 36 Einzelstaaten aufgeteilten Deutschen Bund zu errichten, in dem die verschiedenen Könige und Herzöge wie eh und je mit absolutistischer Einzelherrschaft regieren würden. Dass es daraufhin von Seiten der weiterhin nationaldemokratisch gesinnten Bevölkerungsschichten, die in den vorangegangenen Schlachten nicht nur einen Befreiungskrieg, sondern zugleich einen Freiheitskrieg, wenn nicht gar einen „halben Insurrektionskrieg gegen die Fürsten“ gesehen hatten, wie Friedrich Engels später schrieb,16 zu politideologischen Gegenreaktionen kommen würde, war kaum zu vermeiden. Vor allem die überall im Sinne Jahns entstandenen patriotisch auftretenden Turnvereine, die von ihm angeregte „Berlinische Gesellschaft für deutsche Sprache“ sowie die am 12. Juni 1815 in Jena gegründete Urburschenschaft, die sich gegen die bisherigen einzelstaatlich ausgerichteten Landsmannschaften unter den Studenten wandte und die von Arndt und Jahn geforderte altdeutsche Tracht trug, traten weiterhin entschieden für eine nationale Einigungsbewegung sowie alle deutschen Bürger repräsentierende Verfassungen ein. Und Jahn war wieder einer der Aktivsten, die diese Bestrebungen unterstützten. Er veröffentlichte 1816 nicht nur ein mit Ernst Eiselen verfasstes Buch Über Deutsche Turnkunst, sondern ließ ein Jahr später auch sein Buch Deutsches Volksthum in einer unveränderten Neuauflage erscheinen. Zugleich hielt er 1817 in Berlin 21 Vorträge, in denen er sich gegen die Einschränkung 45
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der bürgerlichen Rechte im Staatswesen wandte und die unpatriotische Gepflogenheiten angriff, sich im höfischen Diplomatiediskurs nach wie vor der französischen Sprache zu bedienen.17 Bis zum Sommer 1817 wurden diese Aktivitäten von staatlicher Seite her noch weitgehend toleriert. Ja, Jahn erlebte zu seiner Genugtuung, dass ihm Anfang 1817 die Universitäten in Jena und Kiel sogar Ehrendoktorwürden verliehen. In Schwierigkeiten gerieten er und seine Turnvereine, von denen es inzwischen allein in Preußen über 100 gab, erst, als bekannt wurde, dass Jahn einer der Anreger des am 18./19. Oktober 1817 stattfindenden burschenschaftlichen Wartburgfests zur 300-Jahrfeier der Reformation und zum 4. Jahrestag der Völkerschlacht bei Leipzig war und dort sein Schüler Hans Ferdinand Maßmann eine Reihe von Jahn indizierter antiburschenschaftlicher Bücher unter dem Beifall aller dort Versammelten auf einen hoch auflodernden Scheiterhaufen geworfen hatte. Doch einen von den Vertretern der metternichschen Reaktion erhofften Anlass, alle diese Bestrebungen gewaltsam zu unterdrücken, bot ihnen erst die Ermordung des antipatriotisch gesinnten Hofrats August von Kotzebue durch den Turner und Burschenschafter Karl Sand im März 1819. Darauf entschlossen sich wenige Monate später die in Karlsbad versammelten Fürsten bzw. ihre Minister nicht nur zu drakonischen Zensurgesetzen, sondern erließen zugleich ein in allen deutschen Staaten durchzuführendes Verbot sämtlicher Turnvereine und burschenschaftlichen Zusammenschlüsse. Das führte zu jenen Unterdrückungsmaßnahmen, die seitdem von vielen Historikern und Gesellschaftswissenschaftlern als „Demagogenverfolgung“ bezeichnet werden. Viele Mitglieder dieser Verbände verließen darauf die Länder des Deutschen Bunds und gingen wie der Turner Wolfgang Menzel in die Schweiz oder der Urburschenschafter Karl Follen nach Amerika. Andere wurden in Gefängnissen eingekerkert, unter Polizeiaufsicht gestellt oder erhielten wie der Bonner Professor Ernst Moritz Arndt für Jahre hinaus Berufsverbot.
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Abb. 3: Anonym: Friedrich Ludwig Jahn (um 1830)
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Jahn trafen diese Maßnahmen besonders hart.18 Er wurde bereits am 13. Juli 1819 verhaftet und verbrachte die nächsten fünf Jahre in Gefängnissen in Spandau, Küstrin und Kolberg. Als man ihn schließlich unter der Bedingung freiließ, in keiner Gymnasial- oder Universitätsstadt zu wohnen, da sein Einfluss auf die Jugend zu „ungünstig“ sei,19 lebte er bis 1840 unter Polizeiaufsicht in Freyburg an der Unstrut, wurde darauf von dem sich für kurze Zeit als „liberal“ gebenden preußischen König Friedrich Wilhelm IV. rehabilitiert und konnte 1848 sogar als gewähltes Mitglied an den Debatten des Frankfurter Paulskirchenparlaments teilnehmen, wo er sich der Erbkaiserpartei anschloss und am 18. September 1848 erklärte: „Deutschlands Einheit war der Traum meines verwehenden Lebens, das Morgenroth meiner Jugend, der Sonnenschein der Manneskraft und ist jetzt der milde Abendstern, der mir zur ewigen Ruhe winkt.“ Allerdings erlebte er schon wenige Monate später das Scheitern dieses Traums und starb 1852 erbittert in Freyburg. Dass Jahns Wirken und Schriften danach eine höchst widerspruchsvolle Wirkungsgeschichte hatten, konnte bei dem weiteren, von vielen politischen Umbrüchen gezeichneten Verlauf der deutschen Geschichte nicht ausbleiben.20 Während seine sprachtheoretischen Ausführungen nach der Jahrhundertmitte, als sich das Hochdeutsche schon längst als Allgemeinsprache durchgesetzt hatte, keine Aufmerksamkeit mehr erregten, blieben das durch ihn in Gang gekommene Turnerwesen sowie seine Volkstumsideologie weiterhin höchst virulent. Im Gegensatz zu seinen nach Amerika ausgewanderten Anhängern, die dort in unzähligen Städten Turnhallen errichteten und vorwiegend „liberal“ eingestellt waren, ja, sich 1861 sofort den Truppen der Nordstaaten anschlossen, um ihre „schwarzen Brüder“ im Süden aus der Sklaverei zu befreien und sogar die Leibgarde Abraham Lincolns bildeten,21 kam es im Zuge der Nachmärzära unter den in den Ländern des Deutschen Bunds verbliebenen Turnern und Korpsstudenten eher zu einer Wendung aus dem Nationaldemokratischen ins Chauvinistische, die ihren ersten Höhepunkt nach der Reichsgründung von 1871 fand. Danach begannen die euphorisch gestimmten Patrioten der Turnvereine überall 48
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Jahn-Denkmäler aufzustellen oder ihn in hagiographischen Monographien als Vorläufer des Reichsgründers Bismarck zu feiern.22 Noch stärker wurde dann die maßgebliche Bedeutung Jahns für die deutsche „Volkswerdung“ im Dritten Reich herausgestellt, während sein Eintreten für „Einigkeit und Recht und Freiheit“ kaum noch beachtet wurde. Erst in jüngster Zeit hat man sich aus historisierender Perspektive etwas ausführlicher mit den vielen Widersprüchen in seinen Schriften und Aktivitäten beschäftigt, in denen sich einerseits ein humanistisch gefärbter Idealismus, ein aufgeklärtes Freiheitsdenken, eine Sehnsucht nach einem deutschen Nationalstaat sowie andererseits ein klopstockisierender Hermannsgeist, eine romantische Hinwendung zum Mittelalter sowie ein ideologisch und sprachtheoretisch begründeter Franzosenhass oft unvermittelt gegenüberstehen.23 Darauf näher einzugehen, so wichtig es auch wäre, würde allerdings über die in diesem Aufsatz behandelten sprachgeschichtlichen Fragestellungen weit hinausgehen.
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Dialekt als Waffe. Adolf Glaßbrenners plebejische Eckensteher, räsonnierende Guckkästner und aufmüpfige Kleinbürger I Dass die weit verbreitete „Sprachmengerey“, die im Heiligen Römischen Reich Undeutscher Nation lange Zeit geherrscht hatte, trotz der im 18. Jahrhundert erweiterten Schulbildung und der rapiden Zunahme hochdeutscher Druckerzeugnisse auch im frühen 19. Jahrhundert nicht völlig aufhörte, geht auf folgende Ursachen zurück. Dieses monströse Unikum, in dem es schon lange keine kaiserliche Zentralgewalt und damit keine einheitsstiftenden Impulse mehr gegeben hatte, brach zwar, wie bereits ausgeführt, zwischen 1803 und 1806 unter französischem Druck endgültig auseinander, aber an seine Stelle trat kein neuer, auf einer Revolutio germanica beruhender deutscher Nationalstaat, sondern lediglich eine geringere Anzahl absolutistisch regierter Länder, in denen weiterhin die jeweiligen dynastischen Eigeninteressen im Vordergrund standen. Um nicht vollends von der immer weiter nach Osten vordringenden Grande armée Napoleons überwältigt zu werden, versprach daher der preußische König Friedrich Wilhelm III. mit Hilfe „vaterländisch“ gesinnter Generäle, Staatsbeamter und Literaten seinen Untertanen notgedrungen eine Reihe erheblich erweiterter Rechte, wenn sie ihm im Kampf gegen Napoleon beistehen würden. Und das erwies sich als so effektiv, dass im Jahr 1813 – nach der Niederlage Napoleons in Russland – nicht nur in Preußen, sondern auch in anderen Teilen des ehemaligen Heiligen Römischen Reichs ein Furor germanicus ausbrach, der sich von der Beseitigung der französischen Fremdherrschaft zugleich die Errichtung eines deutschen Nationalstaats oder zumindest eine erhebliche Erweiterung der bürgerlichen Rechte erhoffte.1
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Doch als nach der sogenannten Völkerschlacht bei Leipzig und dann der Schlacht bei Waterloo und Belle Alliance das weiträumige französische Kaiserreich zusammenbrach, erwies sich der von vielen Deutschen gehegte Traum, welche sich von diesem Befreiungskrieg auch einen Sieg über den fürstlichen Absolutismus versprochen hatten, als eine Illusion. Was die 1815 auf dem Wiener Kongress unter dem Vorsitz des österreichischen Staatskanzlers Klemens Wenzel von Metternich versammelten Fürsten beschlossen, war nicht die Errichtung eines deutschen Einheitsstaats, sondern lediglich eines lockeren Deutschen Bunds von 36 souverän regierten Einzelstaaten, in denen den verschiedenen Königen und anderen Potentaten wie eh und je das alleinige Gewaltmonopol zustehen würde. Wer sich gegen diese Rückkehr zu absolutistischen Regierungsverhältnissen und damit die Unterdrückung irgendwelcher deutschnationalen Tendenzen aufzulehnen versuchte, ob nun Ernst Moritz Arndt, Friedrich Ludwig Jahn oder die maßgeblichen Vertreter der Burschenschaften und Turnvereine, wurde deshalb entweder arretiert, seines Amtes enthoben oder des Landes verwiesen. Ja, im Jahr 1819 entschieden sich die deutschen Fürsten in ihren Karlsbader Beschlüssen, in sämtlichen Staaten des Deutschen Bunds strenge Zensurgesetze zu erlassen, die alle weiteren Tendenzen ins bürgerlich Liberale oder gar Nationaldemokratische von vornherein unterbinden sollten. Was dadurch eintrat, war jene metternichsche Restaurationsepoche, die trotz vereinzelter widersetzlicher Aufwallungen bis zum Jahr 1848 andauerte. So viel – nochmals kurz zusammengefasst – zu den entscheidenden politischen Vorgängen und ihren ideologischen Auswirkungen in dem Zeitraum von der Auflösung des Heiligen Römischen Reichs Undeutscher Nation, den sogenannten Befreiungskriegen, dem Wiener Kongress sowie der über 30 Jahre währenden ersten Phase des Deutschen Bunds bis zur Märzrevolution von 1848. Wie zu erwarten, hatten diese Ereignisse nicht nur politische, sozioökonomische, weltanschauliche, literarische und publizistische, sondern auch soziolinguistische Auswirkungen, von denen im Folgenden etwas genauer die Rede sein soll.
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Zugegeben, im öffentlichen Leben, in der Literatur und im Pressewesen setzte sich in diesem Zeitraum – trotz aller von den verschiedenen Regierungen unterdrückten nationalistischen Tendenzen – weitgehend das Hochdeutsche als die führende Sprache durch. Im Bereich der sogenannten anspruchsvollen Literatur erwiesen sich dabei vor allem die vom niederen Adel und vom Bildungsbürgertum als maßstabsetzend erachteten Werke der Weimarer Klassik und der auf sie folgenden Vertreter der Romantik als besonders einflussreich, während sich im niederen Bereich der Literatur, der sich an den Rest der damaligen Lesewelt, das heißt die mittelständischen bis kleinbürgerlichen Bevölkerungsschichten wandte, jene gemeinhin als „biedermeierlich“ bezeichnete Schreib- und Empfindungsweise durchsetzte, die eher ins Idyllisierende, mimilihaft Sentimentale, humoristisch Unterhaltsame, Gelegenheitspoetische, Hausmärchenhafte oder novellistisch Erzählende tendierte und sich dabei bewusst von allen bisherigen französischen Wortprägungen sowie irgendwelchen aus der lateinischen Gelehrtensprache stammenden Wörtern enthielt. Dadurch breitete sich zwar die hochsprachliche Umgangs- und Lesefähigkeit, die im 18. Jahrhundert noch recht beschränkt war, selbst im Bürgertum immer weiter aus, blieb aber dennoch nach wie vor auf die mit Besitz und Bildung ausgestatteten bzw. kleinbürgerlichen Schichten beschränkt, während die Mehrheit der städtischen Bediensteten und Handwerker, die weiterhin kaum las und im täglichen Umgang an ihren Dialekten festhielt, davon kaum berührt wurde. Fragen wir uns nun: Welcher Sprache bedienten sich eigentlich jene Autoren, welche den metternichschen Restaurationsbestrebungen und ihren biedermeierlichen Begleiterscheinungen mit einer kritischen Haltung entgegentraten? Letztlich boten sich ihnen dabei nur drei Möglichkeiten an: 1. ihrem Unmut über die herrschenden Verhältnisse einen betont subjektiv lamentierenden Ausdruck zu verleihen, 2. ihre gesellschaftskritischen Invektiven so geschickt zu verschlüsseln, dass sie die Zensur passieren konnten, oder 3. in eine scheinbar veralbernde Sprachgebung auszuweichen, indem sie sich eines der weiterbestehenden Dialekte bedienten, die in den Augen der Obrigkeit von vornherein als harmlos zu gelten. 53
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Die erste Gruppe von Autoren dieser Art wurde im konservativen Lager lange Zeit als „weltschmerzlerisch“ hingestellt, um so ihre untergründig ins Byronistische tendierende Aufmüpfigkeit so weit wie möglich zu entpolitisieren und damit als „pure Poesie“ ausgeben zu können. Darum setzten die staatlichen Behörden den Werken dieser Autoren keinen allzu großen Widerstand entgegen. Die zweite Gruppe, zu der anfangs vor allem die jungdeutschen Schriftsteller und Publizisten gehörten, nahmen dagegen die reaktionär gesinnten Zensoren von vornherein wesentlich schärfer aufs Korn. Obzwar sich viele von ihnen schon durch ihre höchst gebildete und zugleich raffiniert verschlüsselte Sprachgebung lediglich an die winzige Minderheit des liberal eingestellten Flügels der Bildungsbourgeoisie wandten und obendrein durch die hohen Preise ihrer Publikationen keine unmittelbare Gefahr für das gesellschaftliche Gesamtgefüge der verschiedenen Staaten des Deutschen Bunds bildeten, wurden nicht nur einzelne ihrer Werke, sondern im Jahr 1835 sämtliche jungdeutschen Schriften durch einen Bundestagsbeschluss radikal unterdrückt. Ja, in den frühen vierziger Jahren erfolgten derartige Verbote auch gegen die sich zusehends rebellischer gebenden Schriften der später als „vormärzlich“ bezeichneten Autoren. Doch nun zu der noch kleineren Gruppe von Schriftstellern, die sich in ihrer jungdeutschen und dann vormärzlichen Widersetzlichkeit gegen die absolutistische Bevormundung nicht allein an die bürgerliche Oberschicht wandten, sondern auch die Unterklasse der städtischen Bediensteten, ob nun die Tagelöhner, die kleinen Handwerker und Dienstmädchen ins Auge fassten, in denen sie – im Gegensatz zu den lediglich auf eine Erweiterung ihrer bereits bestehenden Privilegien pochenden Bourgeoisie – schon wegen ihrer quantitativen Überlegenheit die möglichen Vertreter einer wahrhaften Umsturzgesinnung sahen. Deshalb bedienten sie sich in ihren Veröffentlichungen nicht nur der gehobenen Sprache der gebildeten Mittelschicht, sondern griffen auch zum Dialekt als der Sprache der Ärmsten der Armen, wobei sie, um der Zensur zu entgehen, zwar nicht völlig auf das possenhaft Veralbernde verzichteten, aber schon durch die teils unbeholfene, teils witzelnde Bissigkeit in der Ausdrucksweise dieser Schichten auf die 54
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gesellschaftliche Notlage all jener Menschen, die in der „höheren“ Literatur kaum vorkamen, hinzuweisen versuchten. Ihrer waren – im Gegensatz zu den bürgerlichen Liberalen – nicht viele, aber einer davon, nämlich der sich höchst unverblümt auf „berlinisch“ ausdrückende Adolf Glaßbrenner verdient nach wie vor in dieser Hinsicht eine kleine Ehrenpforte.
II „Wer ist denn dieser Glaßbrenner?“, werden viele Nichtberliner erstaunt fragen. Ja, hat man in ihm nicht schon in der Nachmärzära und dann im wilhelminischen Kaiserreich selbst in Preußen bloß noch einen kalauernden Witzbold gesehen, den man politisch nicht ernst zu nehmen brauche? So sagt etwa der alte Dubslav in Theodor Fontanes Stechlin (1897) zum Prediger Frommel: „Als ich noch Leutnant war, freilich lange her, mußten alle Witze von Glasbrenner (!) oder von Beckmann sein.“2 Eine solche Äußerung ist in vielerlei Hinsicht aufschlussreich. Erstens, dass es im Jahr 1897 nur noch die ganz Alten waren, die sich an ihn erinnerten. Zweitens, dass man ihn mit einem unbedeutenden Komödienschreiber wie Friedrich Beckmann auf eine Stufe stellte, dessen Eckensteher Nante im Verhör (1833) sich kaum über ein „zusammengestoppeltes Mischmasch aus Wiener Lokalpossen und alten Anekdoten“ erhebt, wie Glaßbrenner in einer Zwischenbemerkung des zweiten Bandes seiner Sammlung Berliner Volksleben (1847–1851) erklärte.3 Drittens, dass es gerade die Offiziere waren, die über seine Witze gelacht haben und nicht das „niedere“ Volk, dem er seine Werke an sich zugedacht hatte. Für einen Autor, der zu den wenigen radikalen Demokraten in der deutschen Literatur des 19. Jahrhunderts gehört, ist das ein bitteres Fazit. Alles, was von seinen schriftstellerischen Bemühungen weiterlebte, waren ein paar „Witze“, und an sie erinnerte sich um 1900 bloß noch jener märkische Adel, den Glaßbrenner zeit seines Lebens als eine längst anachronistisch wirkende Kaste von dummstolzen Krautjunkern und bramarbasierenden Degenrasslern anzuprangern versuchte.
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An dieser Situation änderte sich bis zum Ersten Weltkrieg – trotz einiger engagierter Hinweise von sozialdemokratischer Seite her – nicht viel.4 Anstatt Glaßbrenner endlich in das deutsche Nationalbewusstsein aufzunehmen oder ihn wenigstens mit einer Gesamtausgabe seiner Werke zu würdigen, galt er unter den Literaturinteressierten weiterhin als ein Altberliner Witzereißer, dessen Texte lediglich von reisenden Vortragskünstlern rezitiert wurden, die sich damit die erwünschten Lacherfolge zu verschaffen suchten. Es gab daher lange Zeit fast nur Anthologien seiner Werke, in denen das „Humorige“ überwog. Schon die Titel dieser Werke bewiesen deutlich genug, was man dabei im Sinne hatte: Buntes Berlin (1912), Altes, lustiges Berlin. Humoristische Bilder und Szenen (1920), Wie war Berlin so quietschvajniegt (1925), Berliner Leben (1936), Das heitere Brennglas (1950) sowie Altes, gemütliches Berlin (1955). Nichts gegen Witze! Aber man hätte sie nicht ständig ins Lokale verdünnen und zugleich jede politische Absicht aus ihnen eliminieren sollen. So betonte etwa Wilhelm Müller-Rüdersdorf im Vorwort zu seiner Auswahl Altes, lustiges Berlin, dass er das „Tendenziöse“ bewusst ausgelassen habe, um so den „Ewigkeitskern“ von Glaßbrenners Humor herauszuschälen. Das Politische an diesen Werken sei „ja längst überwunden“, heißt es bei ihm mit herablassender Pose.5 Ähnlich äußerte sich Robert Rodenhauser, der in Glaßbrenner einen jener „umwerfenden“ Humoristen sah, die sich immer da „selbst untreu“ werden, wo sie ihren Witz mit einer „störenden Tendenz“ vermischen.6 Die meisten dieser Auswahlbände wirken daher zwangsläufig etwas läppisch und ließen sich notfalls auch unter „Beckmann“ klassifizieren. Doch wollte Glaßbrenner nicht weit mehr als ein simpler Spaßmacher sein, der lediglich die „quietschvajniegte Jemietlichkeit“ auf seine Fahne schrieb? Nun gut, daran änderte sich zwar seit der von Klaus Gysi und Kurt Böttcher herausgegebenen Glaßbrenner-Auswahl, die 1954 in zwei umfangreichen Bänden in Ostberlin erschien,7 sowie dem im Zuge der westdeutschen Achtundsechziger-Bewegung neu aufflackernden Interesse an den politischen Aspekten seiner Werke, das durch die publizistischen Bemühungen Horst Denklers, Ingrid Heinrich-Josts, Heinz Bulmahns und zwei 56
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Publikationen meinerseits angeregt wurde,8 wenigstens etwas. Aber zu einer grundsätzlichen Neubewertung seines Œuvres kam es selbst dadurch nicht. Sowohl in der DDR als auch in der BRD nahm bereits seit den frühen achtziger Jahren die Beschäftigung mit den widersetzlichen, ja, revolutionär gesinnten Traditionen der älteren deutschen Literatur wieder stark ab und machte zusehends einer eher gegenwartsbezogenen, meist subjektiv gefärbten, wenn nicht gar autobiographischen Sehweise Platz, durch die klassenbezogene oder gesamtgesellschaftliche Gesichtspunkte immer seltener wurden.
III Um diesem Trend entgegenzutreten, werfen wir erst einmal einen kurzen Blick auf die soziale Herkunft sowie die sich daraus ergebende ideologische Orientierung Glaßbrenners, bevor wir uns im Hauptteil dieses Essays der Sprachgebung seiner Werke zuwenden wollen.9 Geboren wurde er am 27. März 1810 in Berlin. Sein Vater war der Besitzer einer kleinen Putzfedernwerkstatt, der seine zahlreiche Familie eher schlecht als recht durchs Leben brachte. In den vier Jahren auf dem Friedrichwerderschen Gymnasium scheint der kleine Adolf ein Mitschüler Karl Gutzkows gewesen zu sein. Da es seinen Eltern an den nötigen Mitteln fehlte, wurde er Ostern 1824 als kaufmännischer Lehrling in eine Seidenwarenhandlung gesteckt. Trotz seiner anstrengenden Berufstätigkeit hörte er jedoch nebenher einige Vorlesungen Hegels und verfasste bereits 1827 kleinere Feuilletonbeiträge für den von Moritz Saphir herausgegebenen Berliner Courier. 1830 gab Glaßbrenner den Kaufmannsberuf auf und versuchte sich als Journalist zu etablieren. Sein erstes selbständiges Unternehmen war die Wochenschrift Der Berliner Don Quixote, die jedoch nur vom Januar 1832 bis zum Dezember 1833 erscheinen konnte und dann wegen „injuriöser Artikel“ gegen den Adel und seine Majestät den König ihre Lizenz verlor.10 Als Strafe für dieses „Preßvergehen“ wurde dem „Ladendiener Glaßbrenner“, wie ihn das amtliche Protokoll des preußischen Oberzensurkollegiums nannte,11 für die nächsten fünf Jahre jede redaktionelle Tätigkeit strengstens untersagt. 57
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Als er 1834 die besten Artikel seines Don Quixote unter dem aufreizenden Titel Aus den Papieren eines Hingerichteten veröffentlichte, kamen auch diese sofort auf den Index. Um als Autor nicht völlig ausgeschaltet zu werden, hatte darum Glaßbrenner bereits 1832 eine Serie kleinerer Genrebilder unter dem scheinbar unverbindlichen Reihentitel Berlin wie es ist und – trinkt angefangen, die sich als ein beachtlicher Erfolg erwies, jedoch von den Berliner Zensoren schon nach dem sechsten Heft ebenfalls verboten wurde.12 Überhaupt erwies sich die Zeit nach 1835 besonders unerfreulich für ihn, da nach dem Verbot der Jungdeutschen jede Möglichkeit „liberaler“ Meinungsäußerungen für Jahre hinaus fast völlig zum Erliegen kam. Auch Glaßbrenner sah sich deshalb gezwungen, in seinem Deutschen Liederbuch (1837) und seinem Taschenbuch für ernste und heitere Poesie (1837–1838) weniger verfängliche Themen zu behandeln. Als er sich im Oktober 1839 – nach Ablauf der fünfjährigen Sperrzeit – um die Lizenz für eine neue Zeitschrift bewarb, wurde dieses Ansinnen vom preußischen Oberzensurkollegium als „nicht würdig“ abgelehnt. Die gleiche Abfuhr erhielt er ein Jahr später, als er mit Karl August Varnhagen von Ense eine Wochenschrift unter dem Titel Der Preuße. Freimüthige Blätter für Leben und Kunst gründen wollte. Aufgrund all dieser Schikanen sah er sich schließlich gezwungen, auf kurze Zeit als „unverantwortlicher“ Mitarbeiter beim Freimüthigen, einem Unterhaltungsblatt für gebildete Leser, unterzuschlüpfen. Im September 1840 heiratete er die Wiener Schauspielerin Adele Peroni, die seit 1837 am Königstädtischen Theater in Berlin tätig war. Als seine Frau kurze Zeit später wegen ihrer Verbindung mit dem „berüchtigten“ Glaßbrenner entlassen wurde, gingen beide 1841 nach Neustrelitz, wo man der inzwischen berühmt gewordenen „Peroni“ ein lebenslängliches Engagement an der dortigen Hofbühne angeboten hatte. Die folgenden Jahre in Neustrelitz waren zwar für Glaßbrenner persönlich sehr bedrückend, erwiesen sich aber schriftstellerisch als äußerst fruchtbar. Anstatt wie so mancher Jungdeutsche zum Renegaten abzusinken, entwickelte er sich in dieser Zeit zu einem ausgesprochenen „Vormärzler“, dessen Hauptwaffen das Satirische und das Tendenziöse wurden. Dafür sprechen 58
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seine Neuen Berliner Guckkästenbilder (1844), die Berliner Gewerbe-Ausstellung (1844) und Herrn Buffey’s Wallfahrt nach dem heiligen Rocke in Trier (1845), die einem Georg Herwegh und Ferdinand Freiligrath an politischer Entschiedenheit an nichts nachstehen und demzufolge in den meisten Bundesländern sofort verboten wurden. Auch seine Reihe Berlin wie es ist und – trinkt, die zwischen 1837 und 1842 zum Stillstand gekommen war, nahm in diesen Jahren eine ganz andere Schärfe an. Die preußische Regierung war daher über die „Verwerflichkeit und Gemeinheit“ dieser Schriften so erbittert, dass sie Glaßbrenner schließlich zur „persona non grata“ erklärte und ihm jede Rückkehr nach Berlin strengstens untersagte. Doch alle diese Behinderungen und Verbote wurden durch den Volksaufstand vom 19. März 1848 mit einem Schlag über den Haufen geworfen. Glaßbrenner reiste noch am selben Tag, an dem die Extrapost mit den „ungeheuerlichen“ Nachrichten Neustrelitz erreichte, nach Berlin zurück und warf sich dort zum Barrikadenbürger auf. Schon am 24. März schloss er mit einem Berliner Verleger einen Vertrag für eine politische Zeitung ab, die vom 6. Mai an unter dem Titel Freie Blätter. Illustrierte-politisch-humoristische Zeitung zu erscheinen begann. Ihr Motto war die stolze Zeile „Der Staat sind wir.“ Als sich die politische Lage allmählich zu Gunsten der Reaktion verschob, wurden die letzten Nummern dieses Blatts (145–156) bei Philipp Reclam in Leipzig gedruckt. Mit dem Sieg General Wrangels über die Berliner Bürgerwehr war es dann endgültig aus. Um nicht von den triumphierenden Monarchisten ins Gefängnis geworfen zu werden, zog sich Glaßbrenner Anfang 1849 wieder nach Neustrelitz zurück. Da jedoch die dortige Hofbühne in den Wirren des Revolutionsjahrs eingegangen war, übersiedelten er und seine Frau 1850 nach Hamburg, wo Adele Peroni eine gut florierende Schauspielschule gründete. Trotz dieser materiellen Rückversicherung litt Glaßbrenner in den folgenden Jahren schwer unter der nachmärzlichen Reaktion und galt selbst bei seinen Freunden als hypochondrisch. Dennoch schrieb er noch eine Zeit lang politische Genrebilder, stachlige Xenien sowie Spottgedichte auf den deutschen Michel, die von seiner tiefen Erbitterung über die gescheiterte Achtundvierziger Revolution zeugen. 59
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Doch dann wurde er – angesichts der allgemeinen Rückschrittlichkeit – von einer tiefgehenden Resignation überwältigt. Daher glaubt man in den beiden von ihm herausgegebenen Wochenschriften dieser Jahre, den Blättern Ernst Heiter (1856–1857) sowie Phosphor (1857), den „alten“ Glaßbrenner kaum wiederzuerkennen. Als er 1858 plötzlich die Erlaubnis erhielt, nach Berlin zurückkehren zu dürfen, empfand er das zwar als eine Erlösung, sah jedoch in den bismarckisch eingestellten bürgerlichen Nationalliberalen keine möglichen Kampfgenossen, mit denen es sich gelohnt hätte, weiterhin nicht nur für Freiheit, sondern auch für soziale Gleichheit einzutreten. Daher verhielt er sich eher „moderiert“, was sowohl die von ihm redigierte Berliner Montags-Zeitung als auch eine Reihe eher belangloser Burlesken wie Herr Heiter im Coupe (1862) und Herr von Lustig auf der Reise (1866) belegen. „Dieser Lümmel ist sehr zahm geworden“, schrieb daher einer der Beamten des preußischen Innenministeriums über ihn.13 Als Glaßbrenner am 23. September 1876 starb, versuchte seine Frau die Berliner Montags-Zeitung noch eine Weile in eigener Regie weiterzuführen, sah sich jedoch bald gezwungen, dieses Blatt an das mächtig aufstrebende mossesche Berliner Tageblatt zu verkaufen.
IV Schon dieser knappe Lebensrückblick beweist wohl zur Genüge, zu welchen literarischen Ausdrucksformen der gegen den preußischen Absolutismus aufbegehrende Glaßbrenner greifen musste, um sich unter den gegebenen Zensurbedingungen überhaupt als Schriftsteller durchsetzen zu können. Wie allen Autoren dieser Ära boten sich ihm dabei vier Möglichkeiten an: 1. den Weg in die durch die Weimarer Klassik vorgezeichnete Hochliteratur einzuschlagen, 2. unter Absehung aller politischen Tendenzen ins biedermeierlich Populäre auszuweichen, 3. sich wie Ludwig Börne, Heinrich Heine und Georg Herwegh ins Ausland zu begeben oder 4. seine sozialpolitischen Überzeugungen in schweykscher Manier in scheinbar harmlos wirkende Formen einzukleiden. Die beiden ersten Möglichkeiten verwarf 60
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er als überzeugter Demokrat von vornherein. Ins Exil zu gehen, erschien ihm als milieuverhaftetem Urberliner als Rückzug, wenn nicht gar Flucht in die Wirkungslosigkeit. Also blieb ihm nur die vierte Möglichkeit: Der Weg in eine mit politischen Stacheleien durchsetzte witzelnde, ja, bewusst blödelnde oder ordinäre Ausdrucksweise, von der er hoffte, die Zensoren zu täuschen und die von ihnen als „niedrig“ eingeschätzten Kleinbürger und Unterklassen erreichen zu können. Eins der besten Beispiele für diese Absicht ist seine Schriftenreihe Berlin wie es ist und – trinkt (1832–1850), die schon in ihrer halb ernsten, halb witzelnden Titelgebung auf diese ideologische Doppelpoligkeit verweist. Wie viele liberale Autoren der frühen dreißiger Jahre stand Glaßbrenner in den ersten Heften dieser Serie noch unter dem Einfluss des Jungen Deutschland, neigte jedoch eher zum Börne- als zum Heine-Flügel dieser Bewegung. Das „Heinisieren“ erschien ihm zu aristokratisch und damit zu sehr vom wahrhaft Volksverbundenen „abjehoben“. Als kleinbürgerlicher Demokrat, dem es stets um ein direktes Engagement im politischen Tageskampf ging, bezog er von Anfang an eher die Partei der sogenannten kleinen Leute, die unter den herrschenden gesellschaftlichen Verhältnissen wesentlich schlimmer zu leiden hatten als die Vertreter der finanziell besser gestellten Bürgerklasse, der die staatlichen Autoritäten zwar keine Pressefreiheit oder sonstige von ihnen eingeforderte Privilegien erlaubte, aber deren ökonomischen Bereicherungsdrang sie keinerlei Schranken entgegenstellten. Im Gegensatz zu vielen bürgerlichen Liberalen war daher Glaßbrenners gesellschaftliche Perspektive nicht von vornherein auf eine Privilegienerweiterung der ohnehin Begünstigten ausgerichtet, sondern verlor nie den ständig zum Ausdruck kommenden Unmut der unterdrückten, ungebildeten, in ärmlichen Verhältnissen lebenden Unterschichten aus dem Auge, obzwar sich der nur in bissigen Bemerkungen, Verhohnepiepeleien, Schimpfkanonaden oder Veralberungen der als „Standespersonen“ auftretenden Mitglieder der gesellschaftlichen Oberschichten äußern konnte. Daher herrscht in fast allen seiner Werke zwischen 1832 und 1848 stets eine klassenbezogene Perspektive vor. Die Adligen, die Geheimräte und die wohlsituierten 61
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bürgerlichen Kaufleute werden stets kritisch gesehen, die Kleinbürger wirken meist wie Vertreter des deutschen Michel, die von ihm dazu aufgefordert werden, sich endlich aus den Fesseln der metternichschen Restauration und der damit verbundenen Verharmlosung ins Biedermeierliche zu befreien, während die unter diesen beiden Klassen stehenden Armen zwar fast durchgehend als geistig beschränkt, aber in der Einschätzung ihrer gesellschaftlichen Lage durchaus „wach“ wirken, was sich vor allem in ihren aufmüpfigen Witzeleien und Schimpfereien äußert. Werfen wir zuerst einen kurzen Blick darauf, wie Glaßbrenner dieses Dreiklassensystem im Einzelnen literarisch darzustellen versuchte. Die Herren mit dem „von“ vor ihrem Namen treten bei ihm meist als bornierte Nichtstuer auf, die des morgens spät aufstehen, ihr „Mädchen für alles“, wie Dienstmädchen damals hießen, sexuell belästigen, sich von Stiefelputzern und Barbieren „ausgehfertig“ machen lassen, am Nachmittag etwas promenieren oder ihre Mätresse aufsuchen, des Abends aus Prestigegründen in die Oper und dann in ein renommiertes Weinhaus gehen, während die Damen dieses Standes vornehmlich um ihre Lockenfrisuren besorgt sind, sich federund perlengeschmückte Hüte aufsetzen, großblumige Shawls tragen, von ihren Galanen liebenswürdige Komplimente erwarten, bei Konzerten mit romantischer Musik geradezu von Sinnen geraten, aber jeden, der gesellschaftlich unter ihnen steht, geflissentlich übersehen oder arrogant zurechtweisen. Ebenso kritisch wird jene Schicht dargestellt, in der die höheren Beamten, die Polizei- und Gerichtsoberkommissare sowie die Vertreter der gelehrten Welt den Ton angeben. Auch sie verhalten sich den Mitgliedern der Unterklassen meist bewusst herablassend gegenüber, das heißt streichen stets ihre ständische Überlegenheit so dünkelhaft wie nur möglich heraus und erwarten obendrein, dass diese gebührend respektiert wird. Doch nun zu den „Bürgern“ in Glaßbrenners frühen Werken. Im Hinblick auf sie verfuhr er wesentlich differenzierter. Und zwar unterschied er dabei stets sehr genau, wer in dieser Klasse zum Stand der Kaufleute, also der finanziell Bessergestellten, und wer zur Schicht der eher bescheiden lebenden Handwerksmeister gehörte sowie welche Folgen das für ihr 62
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gesellschaftliches Verhalten und ihre ideologische Orientierung hatte. Die Reicheren unter ihnen legen bei ihm stets Wert auf ein „feines Hauswesen“, schikanieren ihre Bediensteten, halten sich zuweilen sogar eine Mätresse und geben sich ansonsten als getreue Diener ihres Staates aus. Die biederen Handwerker können sich zwar zwei bis drei Gesellen leisten, werden aber von den Höhergestellten häufig um ihren Lohn betrogen und zögern daher keineswegs, manchmal eine freche Lippe zu riskieren, wenn sie in eine finanzielle Notlage geraten. Zwischen diesen beiden Schichten gibt es in seinen Schriften außerdem einige kleinere Rentiers, die in reiferen Jahren ihre Werkstätten oder Kneipen verkauft haben und sich durch ihre Zinseinkünfte ein einigermaßen erträgliches Leben leisten können. Da Glaßbrenner während der Vormärzära seine größten politischen Hoffnungen vor allem auf die kleinbürgerliche Klasse setzte, werden die Vertreter dieser Schichten von ihm besonders ausführlich dargestellt. Allerdings war er sich dabei durchaus bewusst, welche fatalen Folgen die Unterdrückungsmaßnahmen und zugleich Propagandawellen der metternichschen Restauration auf den ideologischen Bewusstseinszustand dieser Bevölkerungsgruppen bewirkt hatten. Doch mit der gleichen widersetzlichen Gesinnung fasste Glaßbrenner zugleich die sogenannte breite Masse der Armen, also all jene Eckensteher, Fuhrknechte, Guckkästner, Handwerksgesellen, Holzhauer, Nachtwächter, Stiefelputzer, Sandfahrer sowie Dienstmädchen, Hökerinnen, Näherinnen und Köchinnen ins Auge, von denen er sich ebenfalls ein allmähliches Erwachen aus der staatlich verordneten Ständeordnung erwartete. Er machte sich zwar keine Illusionen, dass die Männer dieser Schichten als letzten Trost meist nur zur Schnapsflasche griffen und sich die Dienstmädchen und Hökerinnen lediglich mit hämischen Witzeleien über ihre jeweiligen Herrinnen Luft zu schaffen versuchten, hoffte aber in den vierziger Jahren mit steigender Eindringlichkeit, dass auch diese von den oberen Klassen unterdrückten Bevölkerungsschichten endlich zur Einsicht kämen, sich um ein „wahres Menschsein“ zu bemühen und sie dieses Bestreben zu einer politischen Aufruhrgesinnung beflügeln würde.
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V Zu welchen sprachlichen Ausdrucksformen griff Glaßbrenner dabei eigentlich, um endlich auf die bereits von Anfang an untergründig mitschwingende Zielvorstellung dieses Essays zu kommen? Wie zu erwarten, verfuhr er hierbei so schichtenspezifisch wie nur möglich. Und zwar wählte er in dieser Hinsicht meist die Form des Dialogs, der Unterhaltung, gewisser feierlicher Veranstaltungen, sogenannter Volksvergnügungen oder auch politischer Versammlungen, in denen die verschiedenen Gesellschaftsschichten entweder unter sich sind oder hart aufeinander stoßen. Statt wie so viele Jungdeutsche oder auch Vormärzler lediglich auf hochdeutsch zu theoretisieren oder in einen bildungsbürgerlichen Erzählton zu verfallen, ging es ihm dabei in erster Linie stets um soziolektisch genau differenzierte Sprechweisen, um so das Klassenspezifische der einzelnen Figuren nicht nur ideologisch, sondern auch in ihren sprachlichen Ausdrucksformen so charakteristisch wie nur möglich herauszustellen und sie damit als Indizienträger bestimmter sozialer Bewusstseinszustände zu kennzeichnen oder auch kritisch bloßzustellen. So sprechen etwa die in all diesen Szenen auftretenden Adligen stets ein ins Arrogante übergehendes Hochdeutsch, das zum Teil an den Kasinoton der preußischen Offiziere erinnert und sich obendrein gern einiger als „höfisch“ geltender französischer Wörter bedient, um sich damit so scharf wie möglich von der weiterhin im Berliner Dialekt sprechenden Schar der sie umgebenden Bediensteten abzusetzen. Selbst einer der ihnen gehorsamen Polizeikommissare sagt daher nicht: „Gehen sie nach Hause und verhalten sie sich ruhig!“, sondern „Allez-vous à la maison et etez-vous tranquillement!“ Doch auch sonst streuen alle gesellschaftlich Höherste henden und ihre Damen in ihre Gespräche gern Wörter wie „Ancien regime“, „Apanage“, „apart“, „arretieren“, „Assemblee“, „Beletage“, „Carosse“ (Kutsche), „complaisant“ (gefällig), „cour schneiden“ (umwerben), „dejeunieren“ (frühstücken), „embrassieren“ (umarmen), „ennuyant“ (langweilig), „Faux pas“ (Fehltritt), „Jeu“ (Glücksspiel), „Mesalliance“ (Missheirat), „mon cour“ (mein Liebchen), „Papilloten“ (Lockenwickler), „par honeur“ (auf 64
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Abb. 4. Theodor Hosemann: Adliger und Stiefelputzer. Illustration in Adolf Glaßbrenners „Berliner Volksleben“ (1847)
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Ehre), „Parapluie“ (Schirm), „Redoute“ (Maskenball) oder „Table d’hôte“ (gemeinsames Diner) ein, die sich fast alle auf ihre gesellschaftlichen Verhaltensweisen, ihre Esssitten, ihre Liebesaffären und ihre Spielsucht beziehen. Auch die staatlich approbierte Gelehrtenschicht, die ein sorgfältig gewähltes Hochdeutsch spricht, bedient sich zum Teil solcher Entlehnungen aus dem Französischen oder flicht in ihren Redefluss dem „gemeinen Volk“ ebenso unverständliche philosophische Anspielungen auf Hegel und Schelling sowie lateinische Termini ein, um sich ebenfalls als Standespersonen aufzuspielen. Doch nun zu den „juten Bürjern“, die sich in den von Glaßbrenner dargestellten Gesprächssituationen, ja, sogar in ihren Briefen oder Eingaben an die Behörden fast durchweg im damals gebräuchlichen Berliner Dialekt ausdrücken.14 Gut, auch sie verwenden manchmal französische Wörter, die noch aus der älteren Hugenottenzeit stammen oder die sie sonst „irjendwo uffjeschnappt“ haben. Statt sich damit als Standespersonen auszeichnen zu wollen, verballhornen sie jedoch diese Wörter meist so stark ins Berlinische, dass sie entweder albern wirken oder darin eine versteckte Aufsässigkeit gegen die arrogante Überheblichkeit der oberen Klassen zum Ausdruck kommt. Dafür sprechen von ihnen verwendete Wörter wie „Aexellenz“ (Herr), „ah bah!“ (nein!), „aijriren“ (ärgern), „aparte“ (besonders), „am-popo“ (besonders), „annejieren“ (langweilen), „Chatulle“ (Tasche), „conschtruiren“ (sich ausdenken), „Contraire“ (Gegenteil), „Effronterie“ (Unverschämtheit), „exküse“ (entschuldige), „horrende“ (unverschämt), „impertinens“ (unverschämt), „jeschaßt“ (weggejagt), „majnifiquement“ (großartig), „militiös“ (boshaft), „schallu“ (eifersüchtig) oder „Souswereen“ (Herrscher). Allerdings unterschied dabei Glaßbrenner als scharfer Gesellschaftsanalytiker stets höchst zutreffend zwischen dem sprachlichen Ausdrucksvermögen und der dahinterstehenden ideologischen Gesinnung der oberen sowie der unteren Schichten jener Bevölkerungsklasse, die man damals als „Bürgertum“ bezeichnete. Um sich auch als Standespersonen auszugeben, sprechen die finanziell besser gestellten Kreise innerhalb dieser Klasse, wenn sie abends die von ihnen gegründeten „Bürgergesellschaften“ aufsuchen, 66
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ausschließlich ein mit gelegentlich eingesprengten französischen Floskeln versehenes „reputierliches“ Hochdeutsch und machen sich ständig über die kleinen Handwerker und Bediensteten lustig, die sich nicht in einer gehobenen Sprache ausdrücken können. „Die Millionen anderer Männer sind doch Kinder“, erklärt ein besonders arrogantes Mitglied einer solchen Bürgergesellschaft auf einer Sylvesterfeier, „denen man alles vordenken, vorsagen, vorschreiben muß!“ (B XVII, 8 ).15 Ja, die Phrasendrescher unter ihnen glauben sogar, dass sie es sind, die aufgrund ihrer gesellschaftlichen Sonderstellung den wahren „Geist der Menschheit“ repräsentieren (B XVII, 10). Sie geben sich daher betont bildungsbürgerlich, gehen gern ins Theater oder die Oper und sind empört, dass die Kleinbürger bei einer Aufführung von Schillers Jungfrau von Orleans ständig lachen oder buhen. „Dieses hat man nun davon“, erklärt einer von ihnen bei dieser Gelegenheit, „daß man sich mit Leuten eingelassen hat, die keine Bildung haben“ (V I,232). Die untere Bürgerschicht repräsentiert dagegen in Glaßbrenners Groschenheften Berlin wie es ist und – trinkt sowie in seinen zwei Bänden Berliner Volksleben vor allem ein gewisser Herr Buffey, der sich nicht als hochgestochener „Monsieur“, sondern als wohlwollender „Musje“ ausgibt. Er ist halbwegs „liberal“ eingestellt und befürwortet in „gutmütiger Beschränktheit“ durchaus einen „gemäßigten Fortschritt“ (V II,44). Er hat seine Raucherkneipe mit ihren Billardtischen in der Kommandantenstraße günstig verkauft und genießt seitdem mit seiner Frau Hulda und seinem Sohn Willem als kleiner „Rentier“ ein durchaus bequemes Leben, das heißt „jönnt sich ab und zu ein Jläsken Wein“ (V II,93) und spielt sich gern als kommentierender Beobachter der gesellschaftlichen Verhältnisse auf. Anstatt auf hochdeutsch zu parlieren, spricht er stets ein waschechtes „Berlinisch“ und gebraucht gern Ausdrücke wie „bleib immer jut in de Mitte“ , „da kannst wat lernen“, „det jeht flöten“, „det jeht in’s Aschjraue“, „det juttiert mir nich“, „hör’n Se mal“, „I Herrjeeses“, „ick wende mir an Ihnen“, „jut Moorjen“ oder „wat is’n da zu lachen“ und Ähnliches mehr. Als 1844 „alle Welt“ nach Trier fährt, um dort den heiligen Rock in Augenschein zu nehmen, fährt selbstverständlich auch Buffey dorthin, findet 67
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aber als protestantischer Preuße das jesuitische Treiben um diese angebliche Reliquie höchst abstoßend. Als ebenso lächerlich lehnt er den Bildungshochmut der oberen Gesellschaftsschichten ab. Er geht zwar ab und zu auch mal ins Theater, fühlt sich aber dort, wo sich die Standespersonen „vor Tarkwato Tasson bejeistern“, fehl am Platze, da „det Janze keenen Schwunk, keene Fantarsie“ habe. Wenn der „Jethe mal Mensch sein will“, schreibt er an seinen Freund Flitter, „dann hängt er sich jedesmal noch drei Mäntel um, damit er sich nich erkältet“ (V II,56). „Is denn des ein Dichter“, erklärt er darauf, „der zu einem Andern sagt: ‚den Herrn, der mir ernährt, dem dien’ ick‘, wie der Tarkwato von Jöthen? Ein Dichter muß blos vor Jott un vor der Kunst Respekt haben, der Purpur un de Krone muß ihm akkurat so viel jelten wie ein Bettlerjewand und ’ne Schlafmütze!“ (V II,57). Ebenso empört ist Buffey, als sich in der Achtundvierziger Märzrevolution so viele der reicheren Bürger, wie die Herren Dunkelinsky, Fürchter, Kriechling, Schafskopp, Stillemann und Wedelwitz, lieber in die Versammlung der „Zuruck-Gesellschaft“ gehen, „die es sich zur Aufgabe jestellt hat, die neuerungssüchtige, jlaubenslose und nach züjelloser Freiheit strebende Zeit aufzuhalten“ (B XVI,14), anstatt mal tüchtig auf die Pauke zu hauen. Buffey geht zwar auch als „juter Bürjer“ in die Versammlung dieser Duckmäuser, setzt sich aber lieber auf die linke Seite, da ihm die Gesinnung des rechten Flügels zu „unterthänij“ erscheint, ja, wird wegen einiger aufmüpfiger Bemerkungen schließlich aus dieser Gesellschaft ausgeschlossen. Darauf verlässt auch der einzige andere Linke mit dem erbitterten Stoßseufzer „Ihr habt Macht und Waffen, wir nur Worte!“ den Saal (B XVI, 33).
VI So viel zu Glaßbrenners Sicht der vormärzlichen Berliner Bürgerklasse, die ihm – selber aus dem Handwerkerstand stammend – als durchaus rebellisch gesinntem „Vorwärtser“ wegen ihrer halbwegs wohlwollenden, aber letztlich biedermeierlichen, wenn nicht gar reaktionären Haltung nicht revolutionsbereit genug erschien. Fragen wir nun, welche Gesinnung herrscht 68
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denn in den von ihm inszenierten Gesprächen in jenen unter dem Bürgertum stehenden Bevölkerungsschichten, die in vielen seiner Schriften den breitesten Raum einnehmen? Äußert sich nicht wenigstens bei ihnen der Wille, sich nicht länger mit der krassen Zweiteilung der damaligen Gesellschaft in eine bereits seit langer Zeit mit vielen Privilegien ausgestattete Adelsschicht und ein neureiches Bürgertum sowie eine in ärmlichen Verhältnissen lebende Unterklasse abzufinden? Genau besehen: ja und nein. Schließlich sah Glaßbrenner genau, dass es sich auch bei den Ärmeren keineswegs um eine ideologische Einheitsfront handelte. Hier gab es Bürstenbinder, Eckensteher, Guckkästner, Handlanger, Hausknechte, Holzhauer, Kattundrucker, Kutschenfahrer, Nachtwächter, Sandfahrer, Stiefelputzer sowie Hökerinnen, Köchinnen und „Mädchen für alles“, die nur von der Hand in den Mund lebten, aber auch kleine Handwerker, die zwar von den Oberen ständig um ihre Einkünfte betrogen wurden, aber keineswegs revolutionär gestimmt waren. Die meisten von ihnen besaßen keine „höhere Bildung“, das heißt konnten kaum lesen oder schreiben und drückten sich stets im Berliner Dialekt aus. Fast alle plappern deshalb auch bei Glaßbrenner einfach so, wie es damals in der Berliner Unterklasse üblich war, nämlich in jenem teils unbeholfenen, teils aufsässig-witzelnden Tonfall, den man später als „Herz mit Schnauze“ charakterisiert hat. Im Gegensatz zu anderen, eher biedermeierlich-konservativen Lokaldichtern wie Friedrich Beckmann, Carl von Holtei, David Kalisch und Julius von Voß, die mit ihren Lustspielen die Oberklassen nach alter Tradition lediglich zu amüsieren versuchten, vermied dabei Glaßbrenner, so gut er es vermochte, jeden Ausrutscher ins Possenhafte. Selbst hinter seinen noch so albern klingenden Dialektwitzen steht fast immer die Absicht, seinen Lesern in den von ihm geschilderten Unterhaltungen klar zu machen, dass es dabei nicht um närrische Außenseiter, sondern um Vertreter und Vertreterinnen der ernst zu nehmenden Mehrheit der Bevölkerung geht, denen man bisher noch nie den gebührenden Respekt gezollt oder ein wirkliches Mitbestimmungsrecht in den öffentlichen Angelegenheiten eingeräumt habe. 69
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Gehen wir das einmal im Einzelnen durch. Schon sein Eckensteher Nante, mit dem er seine Groschenheftserie Berlin wie es ist und – trinkt begann, ist nicht nur ein ständig zur Schnapspulle greifender dummer Handlanger, über den man lediglich lachen soll, sondern einer, der durchaus „philosoffirerisch“ daherquatschen kann, ja, der von sich behauptet, dass er „eben so jut ein Mensch“ sei wie der „Kaiser von China un von Pankow un von wat De willst!“ (V II,227).16 Auch seine Holzhauer, die „’n janzen ausjeschlagenen Tag vor zehn Silbergroschen puckeln“ müssen, wissen „janz jenau“, dass man sie aus „Cavalier-Perspektive“ überhaupt nicht als „Individuen“ wahrnimmt und ihnen wie allen Armen lediglich „det Fell über de Ohren“ zieht, wodurch der Staat „immer reicher“ werde, während sie weiterhin am Hungertuche nagen müssten (V III ,161). Einer von ihnen würde daher am liebsten umgehend nach Amerika auswandern, wo „de Dienstboten mit ihre Herrschaft an eenen Disch sitzen un essen janz Dasselbe, was de Herrschaft eßt!“ (V I,146). Ebenso aufmüpfig äußert sich – neben manchen harmlosen Witzeleien – einer seiner Nachtwächter, der sich für eine „Constitution“ begeistert, wo nur „de Vernünftigsten berathschlagen, wat des Volk fehlt“ und „wo wir selber sajen können, wat wir brauchen, un wo uns Unrecht jethan wird“, statt eine „Constitution“ zu haben, „wo der Könich von irgendeen Land nich Allens alleene zu sajen hat“ (B VII,18, 20). Ja, noch schärfer drücken sich manche seiner zahlreichen Guckkästner aus, wenn sie anhand ihrer Bilder die verschiedenen Herrscherhäuser kommentieren. Sie betonen zwar, dass sie sich aus Rücksicht auf die vielen herumstehenden Gensd’armen stets um die „übertriebenste Unterthanentreue“ befleißigen würden (V I,304), schrecken aber von Zeit zu Zeit, wenn sie sich nicht beobachtet fühlen, keineswegs davor zurück, sich höchst sarkastisch über die Welt der „Jroßen“ lustig zu machen. Einer ist sogar so kühn zu behaupten, dass die „Jeschichte heutzutage nicht mehr von oben, sondern von unten jemacht“ werden solle (V I,310). Ja, er findet es durchaus gut, „wenn ein Land einmal janz ohne König leben“ würde, denn dann werde sich schon „Allens finden“, wie er hinzufügt (V I,313). Außerdem weist er mit scheinheiliger Anteilnahme darauf hin, dass sich 70
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Abb. 5: Anonym: Berliner Eckensteher. Illustration in Adolf Glaßbrenners „Berlin wie es ist und – trinkt“ (1832)
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die Familie des Kaisers Franz von Österreich nach dessem Ableben „mit lumpigen 30 Millionen Dhalern behelfen“ musste, was als „rührender Zug eines kaiserlich-königlichen Herzens sicher unverjeßlich bleiben“ werde (V 1,316). Ebenso emphatisch und zugleich hämisch weist ein anderer seiner Guckkästner auf die vielen höfischen „Berliner Festessen“ hin, wo man nach dem „Toast auf unsern König blos Cavjaar, Krebsschwänze, Heil Dir im Siegerkranz, Sauerkohl, Bratwurst, deutsche Tugend, Mehlspeise un Ehrt de Frauen“ aufgetischt habe (B XX,21). Als ihn ein skeptisch dreinblickender Zuschauer daraufhin fragt, ob nicht auch die Zeitungen manchmal solche Meldungen brächten, antwortet er: „Wenn se wirklich mal reden, denn is es ooch danach; denn heißt es so viel wie: komm her un dhu’ mir nischt, oder: wasch’ mir ’n Pelz un mach’n nich naß“ (B XX,21). Noch schärfer äußern sich seine Guckkästner kurz vor der Achtundvierziger Revolution. So nennt etwa einer von ihnen jetzt die staatlich verordnete Untertanengesinnung eine „Dummejungenpflicht“ und weist mit hinterfotzig klingender Stimme auf die „neuerfundene Cummernisten-Verschwörung“ hin, die heute das „schimesische Reich“ bedrohe, womit in komischer Verfremdung stets Preußen gemeint ist (V I,324). Eine ähnliche Aufsässigkeit herrscht selbst dann, wenn die kleinen Handwerker auf das Gedrückte ihrer Lebensweise zu sprechen kommen. So erklärt etwa der Schumacher Pinne vor Gericht, dass man ihn und seine Familie „aus’t Haus jeschmissen habe, weil wir nich jleich drei Dhaler Miethe bezahlen konnten“, obwohl „wir vier Daje un zwee Nächte jearbeitet hatten“ (V III , 246). In einer anderen Szene muss ein armer Weber auf dem Weihnachtsmarkt mit ansehen, wie die betuchten Adligen und Studenten teure Geschenke erstehen und mit den Verkäuferinnen poussieren, während er, da er keine Arbeit hat, seinen Kindern nicht einmal eine kleine Süßigkeit schenken kann (V I,261). Ja, ein anderer Weber schreibt an seinen „König Magesteht Wohljebohren“ voller Verzweiflung, dass er nicht mehr wisse, „wo er Haupt herkriechen soll, un wo er sein Brod hinlegen soll“. Er fleht ihn daher an: „Sie sind wohlhabend und kennen Ein unterstitzen, der ein untertan von Ihn ist, und der in Elend ist wie viele sind, die nicht König 72
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Magesteht sind, sondern sich solange rechtschafen ernehren muß, biß er nicht mehr kann, un weil so viel Unjlick is, daß die meisten Arbeiter nichts zu essen haben. Un nu möchte ich lieben König Wohlgebohren Magesteht bitten, daß er mir allens das Jeld wiederjibbt, was ich vor den Staat jejeben habe, weil der Staat nischt vor mir jedhan hat un das Betteln nicht erlaubt ist“ (V II, 194). Selbst die Dienstmädchen nehmen bei ihren Unterhaltungen mit anderen „Mädchen für alles“ kein Blatt vor den Mund, wenn ihnen die Galle hochkommt und sie missvergnügt zu quasseln anfangen, wie schäbig sie von ihren jeweiligen Herrschaften ausgebeutet werden, wie oft man sie sexuell belästigt und wie wenig Zeit ihnen für ihr eigenes Leben übrig bleibt. Selbst wenn sie mal spätabends auf eine Redoute gehen, werden sie dort sofort von irgendwelchen „jroßmäuligen Jardeleichnams“ angegrabscht. Doch manche wissen sich in solchen Situationen durchaus zu wehren. „Kommt Da Eener an mir ran“, sagt Rike einmal zu Fike, „lejt seinen Arm um meine Hüfte un sajt: schönes bürjerliches Fleisch! Jott Du, den hab’ ick Dir jemöbelt! An so ’nen adelijen Knochen is freilich nischt dran! Sagt’ ich, wenn man den dem jemeensten Schlächterhund vor de Füße schmeißt, denn jeniert er sich noch, daran zu knabbern!“ (V III, 258). Ebenso lustig machen sich einige von Glaßbrenners Hökerinnen über jene herrschaftlich herausgeputzten Dameken oder dünkelhaft daherredenden Herren, die an ihren Waren herummäkeln oder ihnen, obwohl sie das könnten, nicht den feststehenden Preis dafür bezahlen wollen. Ja, manche schicken ihnen sogar noch unziemliche Schimpfkanonaden hinterdrein (V II, 157). Womit kompensieren all diese Schichten eigentlich die kaum erträgliche Mühsal ihres Lebens? Die Eckensteher, Guckkästner, Holzhauer, Nachwächter und Sandfahrer greifen unter Berufung auf das Motto „So lange der Mensch was zu drinken hat, kann er existieren“ (B XV,7) ständig zur Schnapsflasche und die Dienstmädchen leisten sich spätabends mit irgendeinem Füselier etwas „Jeknutsche“ im Treppenhaus. Ansonsten ist wochentags für sie alles „Sense“. Lediglich der lang erwartete Sonntag, „der einzige Tag, welcher den armen Geschöpfen ein paar Stunden bietet, in welchen 73
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Abb. 6: Theodor Hosemann: Sandbube und Dienstmädchen. Illustration in Adolf Glaßbrenners „Berliner Volksleben“ (1847)
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sie Menschen sein dürfen“, wie es einmal kommentierend heißt (B X,3), bietet ihnen etwas Zeit zu „Verjnüjungen“. Dann gehts hinaus ins Freie, ob nun nach Moabit, aufs Tempelhofer Feld oder in irgendwelche der vielen billigen Lokale, wo man sich einen antrinken kann oder wo sie für wenige Groschen Billard spielen können. Andere sehen sich in einer Menagerie einige „wilde Tiere“ an, die sie mit ihren Herrschaften vergleichen, oder befragen ein Fastnachtsorakel, wann man ihnen als unmündigen Untertanen endlich mehr „Freiheit“ gewähren werde und ob es ihnen als armen Schluckern in Zukunft endlich besser ergehen würde. Angesichts all dieser inhumanen Verhältnisse fragt man sich unwillkürlich: Wo haben denn diese Bevölkerungsschichten – außer einigen bissigen Witzeleien – ihre gesellschaftskritischen Ansichten sonst zum Ausdruck gebracht? Kam es denn in diesem Zeitraum nicht auch zu Bürger- oder Volksversammlungen, bei denen die herrschenden Missstände öffentlich diskutiert wurden? Ja, es gab – trotz der erdrückenden Zensurmaßnahmen und der ständigen Polizeiaufsicht – schon kurz vor der Märzrevolution von 1848 solche Versammlungen durchaus und Glaßbrenner bemühte sich, die dort vorgebrachten Meinungen so ideologisch differenziert wie nur möglich darzustellen. Statt sich in idealistischer Verblendung der Hoffnung auf eine allgemeine Revolutionsstimmung hinzugeben, sah er sehr genau, wie unterschiedlich die politischen und sozialen Interessen der oberen und unteren Bürgerschichten dieser Jahre waren. Das zeigt sich schon bei der von ihm 1847 geschilderten Versammlung des „Vereins der Habenichtse“, wo man sich zwar zu einer allumfassenden „Weltliebe“ bekennt und sich alle mit „Mitmensch“ anreden, aber sich die sogenannten Liberalen unter den guten Bürgern als hochdeutsch sprechende Phrasendrescher in sorgfältig gewählten, aber letztlich unkonkreten Sentenzen ergehen, während die kleinen Leute lieber so sprechen, „wie ihnen der Schnabel jewachsen is“ und dadurch viel näher an der Realität bleiben (B XXVI,9). Eine Vermittlerrolle spielt hier lediglich der Literat Frischer, hinter dem sich Glaßbrenner selbst verbirgt, der sich seinen Äußerungen vornehmlich an die ärmeren Mitglieder dieses Vereins wendet und sie ermahnt, nie zu vergessen, dass 75
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auch sie „mitten in dem leben, was Welt und Geschichte heißt“ und sie „keinen Athemzug thun“ könnten, „ohne eine Menge Politik mit herunterzuschlucken“ (B XXVI,16). Wesentlich turbulenter geht es dagegen, wie zu erwarten, bei jenen von Glaßbrenner geschilderten Volksversammlungen zu, die während oder kurz nach der Märzrevolution von 1848 stattfanden. Obwohl sich in seinem Groschenheft Eine Volks-Jury in Berlin auch ein Adliger zu Wort meldet und sich für die Aufrechterhaltung der bisherigen Verhältnisse ausspricht, fordern hier die ärmeren Mitglieder dieser Jury, dass man auch sie als „Bürjer“ anerkennen solle, dass auch sie „zum Staat jehören“ und dass endlich ein gleiches Recht für alle gelten müsse (B XXVIII,6). Doch die drei folgenden Szenen dieser Art, wie Eine Volkskammer, Eine Berliner Abend-Nationalversammlung unter den Linden zur Vereinbarung mit den Constablern und Eine Urwählerversammlung unter Wrangel, demonstrieren bereits, wie schnell zu Glaßbrenners Verbitterung die anfängliche Begeisterungswelle für eine revolutionäre Umgestaltung der gesellschaftlichen Verhältnisse wegen der ideologischen Gespaltenheit innerhalb der besitzenden und der armen Vertreter der Bürgerklasse wieder abflaute. Schon auf der Berliner Abend-Nationalversammlung befürchtet einer der kleinen Leute, „det wir de janze Jeschichte von’n März umsonst jemacht“ haben (V III , 301). Als daher der Maurergeselle Brusicke auf der Urwählerversammlung unter Wrangel erklärt: „Wat mein Jlaubensbekenntnis anbetrifft, so is des eenfach des: ick will, det der Adel mit Stumpf und Stiel abjeschafft wird un deß das Volk durch seine Vertreter janz alleene rejiert un deß der Erste von’s Volk den Volkswillen ausführt. Ick will, deß der Reichthum sehr hoch besteuert wird und die Armuth sehr niedrig, un endlich will ick, daß die Arbeetsstunden abjekürzt werden, damit wir uns ooch bilden können un keene Sclaven mitten in die Freiheit der Wohlhabenden bleiben“ (V III,391), erhält er in dieser Versammlung, die gegen Ende des Jahres 1848 spielt, kaum noch Beifall. Die Adligen, die sich wieder halbwegs im Sattel dünken, setzen sich jetzt, wie der Geheimerath von Karnickel, erneut für jene „wahre Freiheit“ ein, die „nicht ohne Ordnung, Gesetz, Ruhe und christliche Ergebenheit 76
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möglich“ sei (V III, 373). Und selbst die „juten Bürger“, die scheinheilig erklären, dass ihr Herz weiterhin „für’s Volk“ poche (V III, 377), bekennen sich wieder „mit Gott für König und Vaterland“ (V III, 374).
VII Statt also in Glaßbrenner lediglich einen „quietschverjnüjt“ witzelnden Dialektdichter zu sehen, wie das leider allzu häufig geschehen ist, sollte man in Zukunft lieber solche Äußerungen ins Auge fassen. Schon dass er sich in seinen programmatischen Erklärungen ausdrücklich auf Gotthold Ephraim Lessing, Johann Gottfried Seume, Jean Paul und Ludwig Börne berief, beweist, dass es ihm im Gegensatz zu Lokaldichtern wie Friedrich Beckmann, Karl von Holtei, Karl Meisl und Julius von Voß nicht in erster Linie ums Possenhafte ging. „Ich will die Tyrannei nicht belustigen, ich will nicht ihr Narr sein!“, schrieb er deshalb selbstbewusst am 25. Mai 1845 an August Heinrich Hoffmann von Fallersleben.17 Seine Nähe zum Volk lässt sich darum nicht als ein Rückzug ins partikularistisch Vergnügliche interpretieren, sondern hat bis zur gescheiterten Achtundvierziger Revolution stets einen unverkennbar aufmüpfigen Charakter. Glaßbrenner wollte nicht „Jemietlichkeit“ verbreiten, wenn er berlinerte, sondern der Gesinnung der unterdrückten Bevölkerungsschichten Ausdruck verleihen. Selbst das witzige Krakeelen und übermütige Randalieren seiner Vertreter der unteren Klassen hat daher fast immer den Aspekt des Kritischen. Während sich viele der anderen sogenannten Lokalautoren meist mit ein paar gängigen Dialektausdrücken begnügten, bemühte er sich stets, den Berliner Dialekt so treffend wie nur möglich wiederzugeben. Er wollte das Konkrete, nicht das „Tümliche“, das Bertolt Brecht später an den sogenannten Heimatdichtern so verächtlich fand. Dafür spricht unter anderem ein Hinweis in den Erinnerungen (1875) Heinrich Laubes, nämlich dass Glaßbrenner ständig wie ein „Photograph“ herumgelaufen sei, um seinen Figuren eine höchstmögliche Authentizität zu geben.18 Deshalb deuten manche seiner Genreszenen schon fast auf Die Familie Selicke (1890) von Arno Holz und 77
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Johannes Schlaf voraus, wo dieses Streben nach sprachlicher Authentizität bis zum Äußersten getrieben wird. Doch in dieser Übersteigerung liegt zugleich das Trennende zwischen ihm und den späteren „konsequenten“ Naturalisten. Was Glaßbrenner im Auge hatte, war nicht ein milieuverhafteter Objektivismus, sondern das trotz aller sozioökonomischen Misere optimistisch gebliebene und kritisch-spöttelnde „Volk“. Wenn er sich dieser Perspektive anschloss, leistete er stets sein Bestes. Glaßbrenners Gesellschaftsperspektive geht daher immer von unten aus. Das zeigt sich besonders deutlich in seinen ständig wiederkehrenden Volksaufläufen. Hier konnte er alle seine verschiedenen Typen zusammenbringen und ihr gesellschaftliches Verhalten demonstrieren. Seine Werke wimmeln daher von Marktszenen, Redouten, Vereinssitzungen, Hochzeiten, Ausstellungen, Ladenszenen, Eisenbahnreisen und Volksfesten, wo er manchmal über 20 Figuren zu charakterisieren versuchte. Was seine konservativen Kollegen als harmlose Genreszenen gestalteten, wirkt bei ihm trotz aller Komik meist wie ein politisches Tribunal. Denn schon durch die unterschiedliche Sprachgebung wird in diesen dramatisierten Novelletten jeder als Träger einer bestimmten sozialen Haltung und der mit ihr verbundenen Ideologie charakterisiert, wodurch Typenkomik und politische Satire weitgehend in eins zusammenfallen. Glaßbrenners Figuren brauchen nur den Mund aufzumachen, und schon weiß man, was man von ihnen zu halten hat. Wahrhaft „demokratisch“ wirkt deshalb in diesen Szenen nur der Dialekt, während das Hochdeutsche in einer solchen Umgebung notwendig phrasenhaft klingt. Manchmal hat man fast das Gefühl, als ob Glaßbrenner damit herausstellen wollte, dass sich Dialekt und Hochsprache wie lebendige Basis und papierner Überbau zueinander verhalten. Wie bewusst er sich dieser Haltung war, beweist eine kommentierende Randbemerkung in seinem Heft Verein der Habenichtse zur sittlichen Hebung der höhern Klassen, wo es unter anderem erläuternd heißt: „Das Volk benutzt die goldne, poesiereiche Sprache dazu, seinen Gedanken das Bild zu geben; ihr aber, ihr Vornehmen, entehrt sie zur Kupplerin, daß sie eure Gedanken verberge. Das Volk, so weit es nicht von euch angesteckt ist, lebt in seiner 78
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ehrlichen Wahrheit, ihr aber vom Morgenkaffee bis zum Abendthee in lauter Schein, Lüge und Heuchelei“ (B XXVI, 20). Der adlige oder bürgerliche Phrasenschwall wirkt darum bei ihm neben dem gesunden Mutterwitz der niederen Stände manchmal geradezu peinlich. Am aufsässigsten wirken deshalb jene Szenen, in denen Glaßbrenner seiner Berliner Schnoddrigkeit und seinem entlarvenden Angriffswitz keinerlei Zügel anlegte. Hier ist er das, was Kurt Tucholsky geworden wäre, wenn er im Biedermeier gelebt hätte, was sowohl Glaßbrenners politischen als auch literarischen Rang umschreibt. Ja, diese Ähnlichkeit hat sogar noch einen weiteren Aspekt. So wie sich Tucholsky nach 1933 im Exil unter der Parole „Bei Deutschen fruchtet keine Lehre“ in ein verbittertes Schweigen zurückzog, gab auch Glaßbrenner seinen politischen Traum einer deutschen Revolution der Kleinbürger, Handwerker und Arbeiter nach der gescheiterten Achtundvierziger Revolution auf. Man sage nicht, dass dieser Traum lediglich ein utopischer Vorgriff auf Unrealisierbares war. Vielleicht hatte er mehr Wirklichkeitsnähe als der idealistische Phrasenschwall, der die Paulskirche durchdröhnte, in der vor allem die Professoren den Ton angaben, ja, vielleicht war er sogar radikaler als der hochgestochene Wortschwall mancher Linkshegelianer, denen auch Karl Marx in den gleichen Jahren die Leviten las. Jedenfalls wurde dadurch über den großen Theorien und einer abstrakt bleibenden Philosophiererei, wie so oft in der deutschen Geschichte, ein auch die Unterklassen einbeziehender gesellschaftlicher Wandlungsprozess wieder einmal versäumt. Kein Wunder, dass bei einer derart unglücklichen Konstellation ein wahrer Volksschriftsteller wie Glaßbrenner ein Zwischenfall ohne Folgen blieb.
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Phonographische Präzision. Soziolekt als Indiz milieubedingter Verhältnisse im deutschen Naturalismus des späten 19. Jahrhunderts I Als sich der von breiten Schichten des nationalliberalen Bürgertums gehegte, aber von den auf ihre territorialen Sonderrechte bestehenden Fürsten immer wieder gewaltsam unterdrückte Traum eines deutschen Einheitsstaates im Jahr 1871 endlich erfüllte, erwies er sich als eine trügerische Illusion. An die Stelle des in 36 Einzelstaaten aufgesplitterten Deutschen Bunds war zwar unter Preußens Führung ein neues Kaiserreich getreten, in dem jedoch nicht die auf „Einigkeit und Recht und Freiheit“ pochende Bourgeoisie, sondern weiterhin – im Verbund mit dem autoritär auftretenden Staatskanzler Otto von Bismarck – die gesellschaftlichen Oberschichten der Fürsten, des Adels und einiger neureicher Parvenüs die wichtigsten Machtpositionen innehatten. Was demzufolge schon im ersten Jahrzehnt dieses mit so vielen Hoffnungen gegründeten Reichs die Oberhand bekam, war nicht ein verstärkter Liberalismus oder gar Demokratismus, sondern ein ins Preußisch-Militaristische gewendeter Nationalismus, den Bismarck mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln durchzusetzen versuchte, um so „seinem Staat“, wie er sich ausdrückte, eine „innere Festigung“ zu verleihen. Demzufolge ergriff er schon kurz nach 1871 höchst drakonische Maßnahmen, mit denen er diese Zielsetzung zu erreichen glaubte. Die erste Gruppe, die er sich dabei aufs Korn nahm, war die katholische Zentrumspartei, die eine stärkere Berücksichtigung der föderalistischen Struktur des neuen Reichs forderte. Ihre Vertreter prangerte Bismarck kurzerhand als „ultramontan“ gesinnte Reichsfeinde an, welche ihre höchste Autorität nicht in der preußischen Staatsführung, sondern im Vatikan sähen. Um ihren Einfluss einzudämmen, setzte er sowohl das Jesuitenverbot, den 81
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Kanzelparagraphen, die Zivilehe als auch ein Schulaufsichtsgesetz durch, was zu einer erheblichen Schwächung der bisherigen Machtstellung der katholischen Kirche in Bayern und den Rheinlanden führte. Ebenso scharf wandte sich Bismarck gegen die im Osten Deutschlands lebenden Polen, welche rund zehn Prozent der preußischen Bevölkerung bildeten, die er ebenfalls als „Reichsfeinde“ einstufte und deshalb eine durchgreifende „Germanisierung“ der dortigen Gebiete befürwortete, um so einen wirksamen „Wall gegen die slawische Flut“ zu errichten, wie er mit geradezu präfaschistischer Akzentuierung erklärte. Doch nicht nur in den Ultramontanen und den nichtdeutschen Bevölkerungsgruppen sah Bismarck die innere Einheit des Zweiten Kaiserreichs bedrohende Gegner, auch die seit den fünfziger Jahren durch die rapide Industrialisierung schnell angewachsene Arbeiterbewegung erschien ihm als „staatsgefährdend“. Schon dass sich die Anhänger der Sozialistischen Arbeiterpartei (SAP ), diese „Ratten im Lande“ bzw. diese „bedrohliche Räuberbande“, wie er sich wuterfüllt äußerte, gegen den Deutsch-Französischen Krieg ausgesprochen und sich obendrein der II. Internationale der europäischen Arbeiterparteien angeschlossen hatten, empfand er als nicht zu duldende Affekte gegen seine auf eine nationale Vereinheitlichung bedachte Politik. Daher erließ er im Jahr 1878 das gegen die „gemeingefährlichen Bestrebungen“ dieser Partei ins Auge gerichtete Antisozialistengesetz, welches die SAP unter Polizeiaufsicht stellte und ihr jedwede Publikations- und Versammlungstätigkeit untersagte. Aufgrund all dieser Maßnahmen, die von der Mehrheit des deutschgestimmten Bürgertums durchaus gebilligt wurden, setzte sich in den ersten zwei Jahrzehnten des neu gegründeten Kaiserreichs – trotz der parlamentarischen Struktur des Reichstags – letztlich ein „pseudokonstitutioneller Absolutismus“ oder „bürokratischer Obrigkeitsstaat“ durch, wie Theodor Mommsen und Max Weber später erklärten, was zwangsläufig zum Untergang der ehemals starken Nationalliberalen Partei führte, die sich im Jahr 1878 in mehrere relativ bedeutungslose Splitterparteien auflöste, von denen nur noch einige der sogenannten Freisinnigen oder Fortschrittler an ihren 82
Phonographische Präzision
bisherigen weltanschaulichen Überzeugungen festzuhalten versuchten, während die meisten ihrer bisherigen Anhänger schließlich ihre Gegenwehr zum bismarckschen Autoritätsstaat aufgaben und in den Bereich einer „machtgeschützten Innerlichkeit“ auswichen. Zu nur mühsam zu unterdrückenden Protesten gegen den gründerzeitlichen Chauvinismus, den Protzenreichtum der großbürgerlichen Parvenüs sowie die unbarmherzige Ausbeutung des Proletariats kam es daher, wie zu erwarten, lediglich von Seiten führender SAP-Mitglieder, die sich als die Vertreter der von der herrschenden Oberschicht als „Vaterlandsfeinde“ gemaßregelten Unterklassen verstanden.1 Und diese Haltung nahmen sie nicht nur in politischer, sondern auch in kultureller Hinsicht ein. Statt wie bisher in der linksorientierten Literatur lediglich unter den herrschenden Verhältnissen notleidende Proletarier darzustellen, forderten sie schon auf dem 1871 abgehaltenen Parteitag der SAP dazu auf, bei derartigen Publikationen den Hauptakzent eher auf die kämpferische Gesinnung der Arbeiterklasse zu legen. Dafür spricht bereits August Otto-Walsters Roman Am Webstuhl der Zeit (1873), in dem es – nach vielen Auseinandersetzungen der Armen und Entrechteten mit den gesellschaftlichen Oberschichten – zur Gründung eines „freien Volksstaats“ kommt. Ähnliche Themen griffen danach Friedrich Bosse, Minna Kautsky, Max Kegel, Rudolf Lavant und Manfred Wittich auf, die sich trotz der von Bismarck erlassenen Antisozialistengesetze in ihren Gedichten, Erzählungen und Dramen in mehr oder minder versteckter Form ebenfalls für die von ihren Parteivorsitzenden ausgegebenen Parolen engagierten. Und im Zuge dieser Proteste begannen Mitte der achtziger Jahre auch einige aus dem Lager der übrig gebliebenen Freisinnigen und Fortschrittler mit derartigen Ansichten zu sympathisieren. Allerdings stützten sie sich dabei weniger auf die Hoffnungen der SAP bzw. der aus ihr inzwischen hervorgegangenen Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (SPD) als auf die in Frankreich aufgekommene Milieutheorie Hippolyte Taines, die darwinistische Vererbungslehre, die massentheoretischen Reflexionen Gustave Le Bons, den Detailrealismus Émile Zolas sowie die gesellschaftskritischen 83
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Tendenzen in den Dramen des Norwegers Henrik Ibsen. Zu den Ersten, die derartige Anschauungen vertraten, gehörten Michael Georg Conrad mit seinem Pamphlet Flammen! Für freie Geister (1882), Heinrich und Julius Hart mit ihren Kritischen Waffengängen (1882–1884), Karl Bleibtreu mit seinem Manifest Revolution in der Literatur (1886), Wilhelm Bölsche mit Die naturwissenschaftlichen Grundlagen der Poesie. Prolegomena einer realistischen Ästhetik (1887) und Edgar Steiger mit seiner Schrift Der Kampf um die neue Dichtung (1888), in denen sie sowohl gegen den überspannten Nationalismus der Gründerzeit als auch die gleichzeitig entstandene salonidealistische Parvenükultur der neureichen Großbourgeoisie vom Leder zogen. Doch schon kurz darauf kam es bei solchen Protesten auch zu sozialkritischen Attacken gegen die unbarmherzige Ausbeutermentalität der herrschenden Oberklassen, welche den ein menschenwürdiges Dasein ermöglichenden Bedürfnissen der proletarischen Schichten der Bevölkerung keinerlei Beachtung schenken würden. Die sich darauf entwickelnde literarische Strömung wird meist als Naturalismus bezeichnet. Als ihre Hauptexponenten galten damals Konrad Alberti, Michael Georg Conrad, Hermann Conradi, Richard Dehmel, Gerhart Hauptmann, Karl Henckell, Arno Holz, Max Kretzer, Johannes Schlaf und Bruno Wille. Ihre größte Wirksamkeit entfaltete diese Bewegung, welche in ihren gesellschaftskritischen Gedichten, Romanen und Dramen in frondeurhafter Gesinnung die sich hochkulturell abkapselnde und zugleich reichspatriotisch gebende Oberschicht so scharf wie möglich mit den Folgen ihrer egozentrischen Unterdrückungsbemühungen konfrontierte, in den Jahren zwischen 1886 und 1893. Was die Naturalisten in diesem Zeitraum besonders krass herausstellten, waren einerseits die parvenühaften Allüren des arrogant auftretenden Adels und der Großbourgeoisie, die grassierende Armut, die erbärmlichen Wohnverhältnisse, die erdrückenden Arbeitsbedingungen, die weitverbreitete Nötigung zur Prostitution, kurzum: die steigende „Verelendung des Vierten Standes“, wie es damals hieß. Allerdings lassen sich dabei trotz mancher Ähnlichkeiten zwei verschiedene Richtungen innerhalb des Naturalismus unterscheiden: Eine, wie in 84
Phonographische Präzision
den Werken von Arno Holz, die sich fast ausschließlich einer akribisch objektivierenden Sehweise bediente, und eine, wie in den Werken von Gerhart Hauptmann, die zwar bei der Widerspiegelung der gesellschaftlichen Gegebenheiten ebenso objektivierend verfuhr, ohne jedoch dabei gelegentlich auf programmatisch formulierte Ausfälle gegen die rangbetonten Oberschichten des Adels, der neureichen Großbürger sowie der wilhelminisch gesinnten Hochkulturprotzen zu verzichten. Welche sprachlichen Auswirkungen das in beiden dieser Richtungen im Hinblick auf die phonographische Präzision der verschiedenen Soziolekte in den Werken dieser beiden Autoren hatte, soll im Folgenden etwas genauer untersucht werden.
II Als der wichtigste Initiator der ersten Richtung gilt in dieser Hinsicht zu Recht Arno Holz, dessen Frühwerke, vor allem die Erzählungen Die papierne Passion, Krumme Windgasse 20, Papa Hamlet, Der erste Schultag, Ein Tod sowie das Drama Die Familie Selicke, welche er in Zusammenarbeit mit Johannes Schlaf in den Jahren 1887/88 verfasste und die wegen ihrer phonographischen Wiedergabe alltäglicher Gespräche von den auf modische Neuerungen erpichten Vertretern des sich als fortschrittlich gebenden Flügels des damaligen Bürgertums als literarische Sensationen begrüßt wurden.2 Holz, zutiefst befriedigt über diesen Erfolg, ließ daher in den folgenden Jahren – unter Berufung auf englische Empiriker wie John Stuart Mill und Herbert Spencer sowie französische Positivisten wie Auguste Comte und Hippolyte Taine3 – nicht nach, die von ihm angestrebte Akribie in der Wiedergabe soziolektischer Sprechweisen als das Hauptanliegen der auf ihn zurückgehenden naturalistischen Bewegung hinzustellen. Demzufolge wandte er sich in seiner polemisch zugespitzten Schrift Dr. Richard Meyer, ein literarischer Ehrabschneider (1900) ausdrücklich gegen jene Kritiker, die im Naturalismus lediglich eine stoffliche Bevorzugung des Niedrigen und Verkommenen sahen und stellte das Postulat auf, nur diejenigen Werke als „naturalistisch“ zu bezeichnen, in denen eine vom Poetischen Realismus der 85
Phonographische Präzision
Nachmärzära unterschiedene Darstellungsweise in der Wiedergabe phonographisch präziser Gesprächsformen herrsche.4 Holz betonte demzufolge immer wieder, dass man einen „konsequenten Naturalismus“ nur dann erreichen könne, wenn man alle in einer Erzählung oder einem Drama vorkommende Gespräche in der im Alltag üblichen Sprechweise darstellen würde, um so jenes altfränkische Papierdeutsch zu überwinden, das sich lediglich auf die Übermittlung von Gedanken und Gefühlen beschränke, ohne dabei die minuziösen, nur phonographisch wiederzugebenden Details eines bestimmten Sprechvorgangs in Rechnung zu ziehen. Die einzelnen Gesprächspartner sollten seiner Meinung nach nicht mehr Sprachrohre ihres literarischen Schöpfers sein, sondern sich so ausdrücken, wie sie sich gemäß ihres Standes und der jeweiligen milieubedingten Situation unterhalten würden. Und das wurde von manchen der damaligen Kritiker auch durchaus registriert. So sprach etwa Edgar Steiger in seinem Buch Von Hauptmann bis Maeterlink (1898) im Hinblick auf die Werke von Holz von der „Kunst zu stottern“,5 während Otto Brahm vor allem die Scheu vor dem „vollendeten Wort“ hervorhob, dem Holz durch ein „Suchen und Tasten, ein Stoßen und Stammeln“ auszuweichen versuche.6 Holz selber charakterisierte diese „Mimik der Rede“, deren technologisches Pendant die 1887 von Emil Berliner erfundene Schallplatte ist, folgendermaßen: „Jene kleinen Freiheiten und Verschämtheiten jenseits aller Syntax, Logik und Grammatik, in denen sich das Werden und Sichformen eines Gedankens, das unbewußte Reagieren auf Meinungen und Gebärden des Mitunterredners, Vorwegnahme von Einwänden, Captatio benevolentae und all jene leisen Regungen der Seele ausdrücken, sind das stilistisch Entscheidende, über die die Widerspiegler des Lebens sonst als ‚unwichtig‘ hinwegzugleiten streben, die aber gerade das ‚Eigentliche‘ enthalten und verraten.“7 Nicht nur die älteren, behäbig erzählenden Realisten, sondern auch die Vertreter des Münchener Frühnaturalismus, denen er eine einseitige Bevorzugung des Stofflichen vorwarf, waren daher in seinen Augen nicht mehr wert als jene Kolportagerealisten, die sich ständig irgendwelcher Trivialklischees längst vergangener Zeiten bedienten. Was er sich – im 86
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Gegensatz dazu – unter einer naturwissenschaftlich akkreditierten, das heißt phonographischen Wiedergabe vorstellte, mag ein Beispiel aus der Erzählung Die papierne Passion belegen, wo eine Mutter im Berliner Dialekt ihre Tochter mit folgenden Worten anschnauzt: „Wat?? Liese? – Jawoll, du Aas! Hab – ick – Dir – nich jesagt, Du sollst um Vieren widder da sind?! Wa Wat?! Un jetz ist’t Sechsen!!! Na wachte Du! Ick wer Dir! Fruenzimmer! Mensch, infamischtet!! Det’s nu schon der dritte mal!! Mit die verfluchtichten Bengels haste Dir wieder rumjetrieben! Uff‘n Weihnachtsmarcht! Aassticke!!!“8 Nach seiner Meinung sollte demzufolge ein Autor in Zukunft nur noch das registrieren, was sich unter den milieubedingten Umständen auch wirklich abgespielt haben kann. Daher legte Holz in seinen Werken aus diesen Jahren den Hauptnachdruck auf den im Alltag verwendeten Jargon, auf die Redensartlichkeiten, auf das häufige Sichversprechen und Sichwiederholen, die von einem fluktuierenden Auf und Ab von Interjektionen begleitet werden. Er verstand also unter „Mimik der Rede“ nicht das, was Heinrich von Kleist die „allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden“ genannt hatte, sondern einen rein mechanisch wiedergegebenen Sprechvorgang, in dem sich nicht die Geistigkeit oder der Gefühlsreichtum eines Menschen, sondern seine im Unterbewusstsein verankerte Motorik sowie sein jeweils erreichter Bildungsgrad manifestiert. Durch diese Form des sprachlichen Ausdrucksvermögens versuchte er den Aufschwung ins Vorbildliche oder Seinsollende, wie er in der gründerzeitlichen Hochkultur maßgeblich war, bewusst auszuschalten.9 Das entscheidende Prinzip innerhalb der Literatur müsse von nun an, wie er meinte, nicht mehr das eigenschöpferisch Gestaltete, sondern das simple und doch unglaublich komplizierte Bemühen sein, mit welcher Präzision der schriftstellernde Naturalist das im täglichen Umgang gesprochene Wort im Druck wiederzugeben vermag. Durch diese Methode sollten aus Ideenträgern, aus Menschen mit ausgeprägten Zielen und entschlussfähiger Willenskraft zusehends bloße Sprechapparate werden, bei denen weniger das Ideelle als das Ächzen, Stöhnen und Sichversprechen im Vordergrund steht.
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In der Erzählung Ein Tod, wo es um die letzte Nacht eines im Ehrenduell tödlich verwundeten Studenten geht, neben dessen Bett einer seiner Verbindungsbrüder sitzt, äußert sich das folgendermaßen. Im Treppenhaus torkelt hier ein sinnlos Betrunkener herum, der einen nicht zu unterdrückenden Schluckauf hat und nur noch „Wa…hbf…wa…waaas? Hbf!“ stammelt und sich irrigerweise Zugang zu dem Studentenzimmer zu verschaffen sucht. Als man ihn auf seinen Irrtum aufmerksam zu machen versucht, antwortet er lediglich: „Ah!...En…en…hbf!...schul…jen…i…hbf!...ich...“10 Kurz darauf, als bei dem sterbenden Studenten das Delirium einsetzt, stöhnt dieser schmerzerfüllt und zugleich träumerisch auf: „Die verfluchte Kugel!...Es wird mir dunkel…so dunkel…ich…sterbe!...Ich – sterbe ja!!...Ida! Mutterchen!...Sie waren so stolz auf mich…Ah! Herr Doctor?...Gratuliere!... Aber, ich…ich will ja!...Nein, Nora! nur ein Frosch, Kind!...Sieh doch!... das Meer…es wird…ganz schwarz…Mutterchen!...Mutterchen…Es wird ja alles noch gut…gut…Ah! Aaah!!...Gute Nacht…h! – h! – Gute Nacht, Herr…H…Herr Doctor…“11 Dieselbe phonographische Präzision findet sich in dem kurz darauf mit Johannes Schlaf geschriebenen Drama Die Familie Selicke, wo es um einen kleinen Buchhalter mit seiner Frau und seinen vier Kindern geht. Hier ist der Vater leicht angetrunken, die Mutter weiß nicht, wo sie das Nötigste herkriegen soll, eines der Kinder ist todkrank und eine Tochter tief unglücklich, weil sie ihr studentischer Liebhaber verlässt. Während der junge Theologiekandidat Wendt, ein Chambregarnist der Selickes, ein gepflegtes Hochdeutsch spricht, der Vater und die verliebte Tochter sich ebenfalls bemühen, hochdeutsch zu sprechen, quasseln, fluchen und witzeln die beiden älteren Söhne sowie der olle Kopelke, der sich manchmal mit schnoddrigen Bemerkungen in die Gespräche einmischt, ausschließlich im Berliner Dialekt. Mit anderen Worten: An die Stelle der klassischen Deklamation, wie sie im gründerzeitlichen Theater der siebziger und frühen achtziger Jahre wieder zu Ehren gekommen war, tritt hier eine in soziolektischer Manier genau differenzierte Alltagssprache. In diesem Drama gibt es keine Monologe oder kein altertümlich wirkendes Beiseitesprechen mehr. Überhaupt 88
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Abb. 7: Johannes Schlaf: Arno Holz und Johannes Schlaf bei der Arbeit an der „Familie Selicke“ (1882)
soll hier die Sprache, wie schon in den vorangegangenen Erzählungen oder besser Milieustudien, keine Konflikte oder Katastrophen heraufbeschwören, sondern sich ausschließlich auf den Bereich des unabsichtlich Dahergeredeten beschränken, um so echt, so objektivierend, so superrealistisch und damit so „naturalistisch“ wie nur möglich zu wirken. Und das hatte durchaus Konsequenzen. Wenn man die Romane und Erzählungen der sich an diese Gestaltungsweise anschließenden Autoren und Autorinnen durchblättert, stößt man immer wieder auf Szenen, in deren Sprachgebung der gleiche Affekt gegen ein ins Idealische, wenn nicht gar Heroische übergehendes hochkulturelles Stilbemühen à la Felix Dahn oder Conrad Ferdinand Meyer vorherrscht.12 So beginnt etwa der Roman Adam 89
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Mensch (1889) von Hermann Conradi, der gerade wegen seiner bewussten Trivialität von manchen naturalistisch orientierten Kritikern als besonders „avantgardistisch“ empfunden wurde, mit den Zeilen: „,Kellner.‘ ,Herr Doktor!‘ ,Bitte zahlen!‘ ,Jawohl!‘ Der Kellner kam herangelaufen. ,Ein Kaffee – schwarz – und einen Cognac –‘ ,Vierzig Pfennige!‘ Adam gab einen Fünfziger hin: ,Bitte!‘ ,Danke sehr!‘“13 Im bürgerlichen Realismus der Nachmärzära wäre man über einen solchen Vorgang noch mit der Bemerkung „Er zahlte und ging“ hinweggegangen, falls man ihn überhaupt erwähnt hätte, ja, in der gründerzeitliehen Literatur war man solchen Szenen von vornherein aus dem Wege gegangen, um sich nicht dem Verdacht des Milieuverhafteten und damit „Niedrigen“ auszusetzen. Der gleiche „Sekundenstil“, wie man diese phonographische Objektivierung damals bezeichnete, findet sich in einigen Dramen der Holz-Nachfolge. So sagt etwa der verwitwete Komponist Ritter am Schluss des ersten Akts von Elsa Bernsteins Stück Dämmerung (1893), da sich sein Unterbewusstsein noch mit der eben fortgegangenen Sabine beschäftigt, zu seiner gerade zu Bett gehenden Tochter Isolde lediglich kurz angebunden „Gute Nacht“ und ermahnt darauf das Dienstmädchen Anna, die sich mit einem „Küß die Hand, gnä-“ verabschieden will, mit einem ebenso kurz angebundenen „Pst“, das Zimmer zu verlassen.14 Nicht minder phonographisch akzentuiert spielt sich eine Szene in Max Halbes Drama Jugend (1893) ab, als der Pfarrer Hoppe plötzlich die „Sünde“ seiner Nichte Anna erkennt und nur noch ein paar gestammelte Worte hervorbringen kann, die mit soziolinguistischer Präzision seine seelische Erschütterung widerspiegeln sollen, während Anna mit dem Schrei „Onkelchen! On – kel – chen!“ zusammenbricht, worauf ein langes Schweigen folgt.15 Dass diese streng objektivierende Milieuechtheit und zugleich soziolektische Wiedergabe der verschiedenen Sprechvorgänge, die in derartigen Werken herrschen, in den schöngeistigen Feuilletons dieser Jahre viel Staub aufwirbeln würden, war vorherzusehen. Ja, Holz und Schlaf entschieden sich sogar, in ihrem Band Neue Gleise (1892) auf elf Seiten Auszüge aus diesen teils positiven, teils negativen Kritiken abzudrucken,16 so stolz waren 90
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sie auf den Schockeffekt, den sie mit ihren frühen Prosaerzählungen ausgelöst hatten. Selbst als ihr im Jahr 1889 aufgeführtes Drama Die Familie Selicke von der gründerzeitlich orientierten Kritik als „Tierlautkomödie“ abgekanzelt wurde,15 empfand Holz das eher als eine Bestätigung, mit seiner Schreibweise den einzig richtigen Weg zu einem konsequenten Naturalismus eingeschlagen zu haben. Was ihn verärgerte, war lediglich, dass ihm im gleichen Jahr ein anderer Naturalist namens Gerhart Hauptmann den Rang streitig machte, der wichtigste Bahnbrecher dieser literarischen Strömung zu sein. Von dieser als unziemliche Konkurrenz empfundenen Herabsetzung hat sich Holz nie wieder recht erholen können. Er trug sie danach wie ein Trauma mit sich herum und betrachtete den reich verheirateten Hauptmann, den seine Anhänger auf den dramatischen Ehrensessel erhoben, voller Missgunst,18 zumal ihm selber durch anstrengende Büroarbeiten manchmal kaum noch Zeit zum Schriftstellern blieb.
III Wie kam es eigentlich zu diesem geradezu über Nacht erfolgenden Umschwung von Holz zu Hauptmann innerhalb der naturalistischen Bewegung? Ideologiekritisch gesehen hing das vor allem damit zusammen, dass sich manche ihrer Vertreter in ihrem Ankampf gegen den protzenhaften Stil der gründerzeitlichen Leitkultur nicht nur stilistisch provozierende Ziele setzten, sondern auch mit den politischen Forderungen der damaligen Arbeiterbewegung zu sympathisieren begannen. Dass es Holz und Schlaf vor allem um ihre „Arbeit“, aber nicht um die „Arbeiter“ gegangen war, wie sie selbst beteuerten,18 erschien daher anderen Anhängern dieser Bewegung zu literaturimmanent, wenn nicht gar unzeitgemäß. Gut, Holz und Schlaf hatten in ihren frühen Erzählungen durchaus Kritik an den Vertretern der gründerzeitlichen Oberschicht, ob nun an autoritär auftretenden Lehrern oder am rangbetonten Ehrenkodex festhaltender Corpsstudenten geübt, waren aber kaum auf die erbärmlichen Lebensverhältnisse der damaligen Unterklassen eingegangen. 91
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Was also die aufmüpfig gesinnten Freisinnigen und Fortschrittler unter den literaturinteressierten Bürgerlichen eher ansprach, war weniger die exakte Milieuechtheit und phonographische Präzision der Familie Selicke als das ebenfalls 1889 uraufgeführte Stück Vor Sonnenaufgang von Hauptmann, das sich bereits im Untertitel als „Soziales Drama“ ausgab, in dem zwar die gleichen Stilmittel wie bei Holz dominierten, wo aber zugleich in aller Offenheit gesellschaftskritische Zielsetzungen aufs Tapet gebracht wurden.20 Zugegeben, in der Wiedergabe der verschiedenen Soziolekte folgte Hauptmann durchaus der von Holz inaugurierten Methode der phonographischen Präzision. So sprechen die bürgerlichen Dramatis personae in diesem Stück, das heißt der Ingenieur Hoffmann, der Volkswirtschaftler Loth, der Arzt Schimmelpfennig und die wohlerzogene Helene, selbstverständlich ein gepflegtes Hochdeutsch, während der Bauerngutsbesitzer Krause und seine Frau sowie der Nachbar Kahl, die durch die Kohlenfunde unter ihren Äckern plötzlich aus armen Schluckern zu dummstolz auftretenden Parvenüs geworden sind, sich weiterhin in ihrem „ordinär“ klingenden oberschlesischen Dialekt ausdrücken. Wie genau sich Hauptmann dabei an die holzsche Manier einer möglichst exakten Wiedergabe der einzelnen Sprechweisen gehalten hat, belegen folgende Äußerungen, in denen entweder geschnauzt, gestottert oder im besoffenen Zustand gestammelt wird. So wehrt sich etwa die hochmütig gewordene Frau Krause gegen die ständige Bettelei von Seiten am Hungertuch nagender Arbeiterfrauen mit den Worten: „Doas Loster vu Froovulk! ’naus! mir gahn nischt! A koan orbeita, o hoot Oarme, ’naus! hier gibbt’s nischt!“21 Ihr Nachbar Kahl, der gern auf die Jagd geht, stottert einmal: „N.. ächten hab ich d..d..die alte Szss..sau vu in t..tot g..g..geschossen“,22 während der Gutsbesitzer Krause, als er nächstens betrunken aus dem Wirtshaus kommt, vor sich hinmurmelt: „Trink...ei...Bridela, trink...ei… ’derla, Branntw... wwein…’acht Kurasche.“23 Holz hätte es sicher dabei belassen. Nicht so Hauptmann. Ihm, den schon Mitte der achtziger Jahre die 1879 von Karl Emil Franzos edierte Erstausgabe von Büchners Woyzeck tief beeindruckt hatte, ging es bereits 92
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in diesem Stück um wesentlich mehr als einen sogenannten konsequenten Naturalismus, nämlich auch um den krassen Gegensatz zwischen dem protzigen Gehabe der neureichen Schichten und dem bitteren Elend der Armen und Entrechteten. Wenn auch die oberschlesischen Grubenarbeiter in Vor Sonnenaufgang nicht selber auftreten, so sieht man sie wenigstens als schwarze Schatten hinter den Fensterscheiben, wenn sie des Morgens zur Arbeit trotten. Sein Volkswirtschaftler Loth hat sich daher vorgenommen, eine gesellschaftskritische Studie über ihre Lebensbedingungen zu schreiben. Ja, dieser Loth, der sich im „Interesse des Fortschritts“ als Kämpfer gegen die allgemeine „Verkehrtheit der Verhältnisse“ ausgibt,24 erklärt in einer Szene geradezu programmatisch: „Mein Kampf ist um das Glück aller: sollte ich glücklich sein, so müßten es erst alle Menschen um mich herum sein; ich müßte um mich herum weder Krankheit und Armut, weder Knechtheit und Gemeinheit sehen. Ich könnte mich so zu sagen nur als letzter an die Tafel setzen.“25 Dass dies nicht nur unverbindliche Phrasen waren, belegt Hauptmanns Stück Die Weber, das 1892 uraufgeführt wurde. In ihm geht es um die Verzweiflung jener Ärmsten der Armen unter den schlesischen Webern, die sich im Jahr 1844 in Peterswaldau und Langenbielau schließlich in einer Revolte gegen die unbarmherzigen Ausbeuter unter den lokalen Fabrikanten entladen hatte, welche nur durch den Einsatz von Militär niedergeschlagen werden konnte. Die gesellschaftliche Oberschicht vertreten in diesem Drama der Parchentfabrikant Dreißiger, der Pastor Kittelhaus und der Hauslehrer Weinhold, die sich durchgehend auf Hochdeutsch ausdrücken, denen die im schlesischen Dialekt sprechenden Weber gegenüberstehen, die unter den Parolen „A Weber is ock ’ne Sache“ und „A jeder Mensch hat halt ’ne Sehnsucht“26 auf bessere Bezahlung ihrer Arbeit und auf Anerkennung ihrer Menschenwürde bestehen und, als man ihnen das verweigert, sich zu einem Aufstand entschließen und das Haus der Dreißigerfamilie einfach demolieren. Sprachlich herrscht dabei dieselbe phonographische Präzision wie in dem Drama Vor Sonnenaufgang, wenn auch bei der Wiedergabe der verschiedenen 93
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Abb. 8: Käthe Kollwitz: „Sturm“ aus ihrem Graphikzyklus „Die Weber“ nach Gerhart Hauptmann (1897)
Sprechvorgänge auf eine in holzscher Manier angestrebte diakritische Penibilität zusehends verzichtet wird. Das gleiche gilt für Hauptmanns Diebskomödie Der Biberpelz (1893), in der wiederum die Vertreter der gesellschaftlichen Oberschicht, das heißt der Amtsvorsteher von Wehrhahn, der Rentier Krüger und der Privatgelehrte Doktor Fleischer hochdeutsch sprechen, während die Waschfrau Wolff und ihre zwei Töchter sowie der Schiffer Wulkow durchgehend berlinern. Auf der unteren Sprachebene wimmelt es daher nur so von Sätzen wie: „Ick hau dich, daßte schon gar nicht mehr uffstehst“, „Dat geht nicht so uff eenen Hieb, immer een’s nach’ andern“, „Nu schlägst’s aber dreie’n“, „Wat ick Ihn’ sache“ oder „Ick habe mir richtig wat ausjerenkt“,27 was allerdings diesmal – trotz aller gesellschaftskritischen
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Aspekte – eher den ins Komödiantische tendierenden Charakter dieses Stücks herausstreichen soll.28 Obwohl Hauptmann danach, wie in Hanneles Himmelfahrt (1896) und Die versunkene Glocke (1897), nach einer langen Periode ökonomischer Depression wegen des Mitte der neunziger Jahre einsetzenden wirtschaftlichen Aufschwungs und der daraus resultierenden Wendung der SPD ins Revisionistische, die zu einem schnellen Abflauen der naturalistischen Bewegung führten, in eher neuromantische Themen auswich, griff er auch später in seinen Dramen wiederholt auf die Methode der phonographischen Präzision zurück. Wohl eines der besten Beispiele dafür ist seine 1911 uraufgeführte Tragikomödie Die Ratten, wo er wie in seinem Biberpelz die Berliner Hautevolee wiederum mit der dortigen gesellschaftlichen Unterschicht konfrontierte. Einerseits geht es hier um den ehemaligen Theaterleiter Harro Hassenreuter, seine Frau, seine Tochter Walburga und den Theologiekandidaten Erich Spitta, der bei ihm Theaterunterricht nimmt, andererseits um den Maurerpolier John, seine Frau, ihren Bruder Mechelke und das polnische Dienstmädchen Piperkarcka, die sich sowohl im Hinblick auf ihr soziales Rangbewusstsein als auch ihre sprachliche Ausdrucksweise wie zwei unüberwindbare Welten gegenüberstehen, zwischen denen es keine Gemeinsamkeiten zu geben scheint. Wie zu erwarten drückt sich in diesem Stück der arrogante Hassenreuter selbstverständlich in einer am klassischen Bühnendeutsch geschulten Sprache aus, die er obendrein, um seinen Bildungsgrad zu betonen, häufig mit lateinischen Redewendungen wie „Sic transit gloria mundi“, „Carpe diem“, „Odi profanum mundi“, „Sic eunt fata hominum“ und „Natura non fecit saltus“ untermischt.29 Dazu passt, dass er mit seinen Schülern ausgerechnet Schillers Tragödie Die Braut von Messina einstudiert, die damals als Inbegriff eines wahrhaft „klassischen“ Dramas galt. Außerdem streicht er in reichspatriotischer Gesinnung den Fürsten Otto von Bismarck stets als den „Schmied der deutschen Ehre, den gewaltigen Heros“30 heraus und verflucht die sozialdemokratischen „Ratten“, welche sich unablässig bemühten, die „Wurzeln des Idealismus“ abzufressen, um so Deutschland „durchaus 95
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in den Dreck reißen“ zu wollen.31 Spitta ist dagegen einer der Freisinnigen, der in dem „gestelzten Klassizismus“, wie überhaupt in der „SchillerGoethisch-Weimarischen Schule der Unnatur“, lediglich einen Irrweg ins idealistisch Verblasene sieht und stattdessen für eine Rückbesinnung auf die dramaturgischen Bemühungen der Aufklärung und der Sturm-undDrang-Bewegung eintritt.32 Frau John spricht dagegen, wie auch die anderen Vertreter der gesellschaftlichen Unterschicht, ein waschechtes Berlinisch, das jedoch diesmal – im Gegensatz zur Mutter Wolff im Biberpelz – nicht komisch wirkt, sondern eher ihre soziale Unterprivilegiertheit und materielle Notsituation betonen soll. Während die Vertreter der Oberklasse trotz mancherlei Komplikationen aufgrund ihrer gehobenen gesellschaftlichen Stellung stets einen Ausweg finden, wirkt sie eher wie ein bedauernswertes Objekt ihrer finanziellen und familiären Misere und nimmt sich daher am Schluss notgedrungen das Leben. Und damit erweist sich dieses Stück bei aller phonographischen Präzision und naturalistischen Milieuechtheit eher wie eine exemplarische Umkehrung der in vielen älteren Dramen als „klassisch“ angesehenen Ständeklausel, nach der die Wendung ins Tragische stets ein Vorrecht höher stehender Menschen war, während die Unterschichten lange Zeit weitgehend ins Komödiantische veralbert wurden. In den Ratten lacht man nicht über Frau John und bemitleidet den in Schwierigkeiten geratenen Hassenreuter, sondern eher umgekehrt. Das wirkt zwar immer noch provozierend, aber nicht wirklich rebellisch. Jedenfalls ist von der naturalistischen Elendsmalerei oder dem sozialen Appell der Weber in diesem Stück nicht mehr viel zu spüren. Aber das war in spätwilhelminischer Zeit von Seiten eines ehemaligen Naturalisten auch kaum noch zu erwarten. Eine neue Avantgarde mit einer völlig anders gearteten Sprachgebung trat zu diesem Zeitpunkt erst wieder mit den Frühexpressionisten auf den Plan.
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I Es gibt wohl kaum einen anderen Kunst-Ismus, über den man sich in Deutschland zwischen 1910 und 1945 so erregt hat, wie über den Expressionismus. In den Dreck gezogen, als „entartet“ bezeichnet oder überschwänglich gelobt, ja, in den Himmel gehoben: so lange schwankte das Bild des Expressionismus jahrzehntelang zwischen den ideologischen Fronten.1 Denn eine derartige Explosion politischer, künstlerischer und emotionaler Erregungsimpulse wie in dieser Bewegung, die ziellos nach allen Seiten auszubrechen schien, ließ sich einfach nicht übersehen. Im Hinblick auf das Ungestüme, Wildaufflackernde, Leidenschaftliche fühlten sich alle betroffen: ob nun die Rechten oder die Linken, die Engagierten oder die Nichtengagierten, die Spießer oder die Radikalinskis. Und so konnte es kommen, dass dieser Ismus als prokommunistisch oder protofaschistisch, als modernistischer Kunstausdruck oder bloßer Politabklatsch, als bürgerlich-idealistisch oder bolschewistisch-aktivistisch, als soziologisch bedingtes Massenphänomen oder verblendeter Überschwang verzückter Einzelner entweder verdammt oder hochgejubelt wurde – je nachdem welcher ideologischen Richtung man selber angehörte. So hanebüchen manche dieser Urteile auch klingen mögen, letztendlich treffen sie alle auf irgendeine Weise zu. Der Expressionismus war nun einmal ein höchst komplexes Phänomen, das sowohl ideologisch als auch ästhetisch schwer auf einen Nenner zu bringen ist. Wild zwischen den extremsten Gegensätzen hin- und herflackernd, hier im rein Subjektiven, dort im rein Kollektiven, hier im rein Geistigen, dort im rein Triebhaften untertauchend und dann mit jauchzend verzückter Simultangebärde alle diese sich widersprechenden Polaritäten in eins zusammenraffend, steigerte er sich ständig in jene emphatisch ausgedrückte 97
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Hochgefühle hinein, die gerade in ihrer absoluten Inkongruenz so unverkennbar „expressionistisch“ wirken. Ihren Höhepunkt erlebten die sich an ihm entzündenden Auseinandersetzungen in den Jahren nach 1933. Die Nazifaschisten verfemten anschließend alles Expressionistische wegen seiner angeblich jüdisch-internationalistischen Zielsetzungen als „undeutsch“, das heißt als „novembristisch“ oder „kulturbolschewistisch“, was seinen schärfsten Ausdruck in der berühmt-berüchtigten Monsterschau „Entartete Kunst“ fand, die 1937 von Adolf Ziegler, Hitlers Lieblingsmaler, in München arrangiert wurde.2 Doch im gleichen Jahr kam es auch in Moskau innerhalb der dortigen deutschen Exilgruppe zu einer recht kritischen Beurteilung des Expressionismus, wofür vor allem die Aufsätze „Größe und Verfall“ des Expressionismus von Georg Lukács und Nun ist dieses Erbe zuende von Alfred Kurella bezeichnend sind. Statt wie die Nazifaschisten den Expressionismus in Bausch und Bogen zu verurteilen, ging es ihnen – im Gegensatz dazu – eher darum, auf gewisse irrationale, ja, geradezu präfaschistische Züge dieser Bewegung hinzuweisen.3 Allerdings zögerten einige Linke, wie Ernst Bloch und Hanns Eisler, darauf keineswegs, in der Moskauer Exilzeitschrift Das Wort auch einige positive Aspekte innerhalb der expressionistischen Aufruhrgesinnung herauszustellen.4 Doch angesichts der am 1. September 1939 einsetzenden Kriegswirren verstummten diese Stimmen wieder. Zu einer abermaligen Auseinandersetzung mit dem Expressionismus kam es erst, als man sich nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs erneut mit dem sogenannten „Novembererbe“ zu beschäftigen begann. Da sich diese Aufarbeitungsbemühungen ab 1947/48 zumeist im ideologischen Klima des Kalten Kriegs abspielten, nahmen sie innerhalb des deutschen Restterritoriums in der sowjetischen Besatzungszone sowie den drei westlichen Besatzungszonen höchst verschiedenartige Formen an. Während sich im Osten weitgehend die politästhetischen Ansichten von Lukács und Kurella durchsetzten, was im Rahmen der sogenannten Formalismus-Debatte der frühen fünfziger Jahre zu einer sowohl ästhetischen als auch ideologischen Verdammung des Expressionismus führte, dem eine, wie es hieß, Überbetonung 98
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„modernistischer“ Komponenten sowie ein dementsprechender Mangel an „Realismus und Parteilichkeit“ zugrunde gelegen habe,5 wurde im Westen Deutschlands – zum Teil unter dem Einfluss Gottfried Benns, der zum gleichen Zeitpunkt die formalistisch-westliche Literatur der frühen Bundesrepublik als die „Phase II“ des Expressionismus charakterisierte6 – dieser Bewegung eine immer stärkere Sympathie entgegengebracht.7 Allerdings ging das nur, indem man dabei links der Elbe den Expressionismus aus all seinen politisch-revolutionären Verflechtungen herauslöste und in eine bewusst kunstimmanente Bewegung uminterpretierte. Und so wurde hier aus dieser Stilrichtung zusehends jene „klassische Moderne“, die später zu jener „freiheitlichen Künstlerkunst“ geführt habe, wie es allgemein hieß,8 in der sich eine angeblich von allen ideologischen Restriktionen befreite Gesinnung zu erkennen gebe. Erst im Laufe der sechziger Jahre trat diese durch den Kalten Krieg bedingte Polarisierung im Hinblick auf den Expressionismus wieder allmählich in den Hintergrund. Im Osten gab dazu vor allem Ilja Fradkin 1962 in seinem Aufsatz Vor neuen Aufgaben den ersten Anstoß, in welchem er sich dafür einsetzte, dem Expressionismus wegen seiner unübersehbaren „linken“ Tendenzen endlich die gebührende Gerechtigkeit widerfahren zu lassen.9 Dem wurde zwar von Alfred Kurella umgehend widersprochen,10 was jedoch andere DDR -Autoren nicht davon abhielt, die vornehmlich negative Beurteilung dieses Kunst-Ismus von Seiten Lukács’ und Kurellas abzulehnen, worauf es auch hier zu einer schnell anwachsenden Reihe von Neuausgaben expressionistischer Schriftsteller kam.11 In der ehemaligen Bundesrepublik wurde ein solcher, wenn auch andersgearteter Perspektivenwechsel vor allem durch die studentische Achtundsechziger-Bewegung ausgelöst. Statt den Expressionismus wie in der DDR der fünfziger Jahre einfach totzuschweigen oder ihm seine ideologische Unzulänglichkeit vorzuwerfen, bemühten sich hier einige jüngere Germanisten und Germanistinnen im Hinblick auf die expressionistische Literatur nicht nur à la Gottfried Benn weiterhin ihre ästhetische „Modernität“ herauszustreichen, sondern auch ihre rebellischen, wenn nicht gar 99
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revolutionären Tendenzen in den Vordergrund zu rücken,12 um sich in ihrer eigenen Aufmüpfigkeit gegen die damalige Obrigkeit zu bestärken. Allerdings währte das, wie die Achtundsechziger-Bewegung allgemein, nur wenige Jahre und machte dann in der westdeutschen Expressionismus-Forschung allmählich einer zunehmenden Verwissenschaftlichkeit bei der Beschäftigung mit dieser Bewegung Platz. Und damit hörte der Streit um den Expressionismus sowohl hüben wie drüben zusehends auf. Seit den frühen achtziger Jahren ist demzufolge der Expressionismus zu einem politisch unverbindlichen Relikt aus der längst vergangenen Zeit des frühen 20. Jahrhunderts geworden, das man im Bereich der Literaturund Kulturwissenschaft lediglich strukturalistisch auseinanderklaubt, genretheoretisch klassifiziert, biographistisch durchleuchtet oder was es sonst noch an spezifisch fachwissenschaftlichen Bemühungen gibt. Kein Zweifel, dass wir dadurch heute über den Expressionismus wesentlich mehr wissen als ehemals. Doch der Elan, die Aggressivität, die vehemente Streitlust, die sich anno dazumal an diesem widerborstigen Phänomen entzündeten, scheinen endgültig vorbei zu sein. Auch auf diesem Sektor dominiert momentan zwar ein opulentes, aber ideologisch weitgehend unverbindliches Wissensangebot, wobei allerdings die Frage nach der politischen oder zumindest weltanschaulichen Zielrichtung dieser Bewegung, die einmal die Welt verändern wollte, meist übergangen wird. Entgegen solchen Sehweisen wäre es vielleicht nicht unangebracht, die Frage nach dem spezifisch „Expressionistischen“ ruhig etwas konkreter zu stellen und sich erneut mit seinem revolutionären Anspruch auseinanderzusetzen. Denn bei einer so aufsässigen Bewegung wie dieser liegt nun einmal ihre Relevanz – wie schon beim Sturm und Drang, dem Jungen Deutschland, dem Vormärz oder dem Naturalismus – weniger im ästhetisch Bleibenden als im entwicklungsgeschichtlich Bedeutsamen. Betrachten wir darum den Expressionismus einmal so, wie er sich größtenteils selber verstand, nämlich als Revolution, als Aufbruch, als Erhebung oder Wandlung – alles Vorstellungen, in denen ein grundsätzlicher Wille zur Veränderung der politischen und kulturellen Verhältnisse zum Ausdruck kommt. Denn was auch immer 100
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die einzelnen Expressionisten unterscheidet, der Hang zum Extremen, Aufrührerischen, ja, Weltumstürzenden war allen gemeinsam. An dieser These lässt sich schwerlich rütteln. Was man bezweifeln könnte, wäre lediglich die ideologische Klarheit der expressionistischen „Revolution“. Solchen Skrupeln soll im Folgenden vor allem durch eine genauere Analyse der Sprachgebung dieser Richtung nachgegangen werden, die sich wie in allen Kunst-Ismen stets als ein besonders aufschlussreicher Seismograph der ihr zugrundeliegenden ideologischen Zielvorstellungen erweist. Wie konkret war eigentlich die Tonlage seiner ständig ins Pathetische, Ausruferhafte, Menschheitszugewandte übergehenden Gedichte, Dramen, Erzählungen oder Manifeste? Mit anderen Worten: Waren alle diese Werke lediglich Zeugnisse eines ins Ekstatische übersteigerten Ichausdrucks, mit dem sich einige hoffnungslos Vereinzelte um einen neuen, noch nie dagewesenen literarischen Überschwang bemühten, oder versuchten sie zugleich die sogenannten breiten Massen aufzufordern, ihnen mit ihrer oft belachten „O Mensch“-Gesinnung den Weg zu einer neuen Gesellschaft, wenn nicht gar ins Paradies einer von allen älteren Konventionen, Restriktionen und Unterdrückungsmechanismen befreiten Welt zu weisen? Und welche realpolitischen Möglichkeiten standen ihnen dabei in den Jahren 1910 bis 1921/22, also während der Spätphase des wilhelminischen Kaiserreichs, des Ersten Weltkriegs und nach der Novemberrevolution von 1918 eigentlich offen? Dies wären die entscheidenden Fragen, die es in dieser Hinsicht zu beantworten gilt.
II Den Auftakt dieser Bewegung bildeten keine das wilhelminische Kaiserreich attackierenden politischen Manifeste, sondern eher höhnische Lachsalven auf die autoritär verkrampfte Welt der damaligen Bourgeoisie. Die ersten derartigen Aufschreie ertönten 1909 in dem Westberliner „Neopathetischen Cabarett“, die zweiten in dem 1911 mit der gleichen Absicht gegründeten literarischen Etablissement „Gnu“. In beiden führte der sich 101
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als „Philosoph“ ausgebende Kurt Hiller das große Wort. Doch auch sonst fanden solche Zusammenkünfte vielfach in „verrauchten berliner Hinterzimmern“ oder „mondänen Buchhandlungen“ statt, wo junge Literaten mit „genialischem Aristokratismus“ vor einem „kleinen Publikum“ ihre in „steilen Rhythmen“ geschriebenen Gedichte vortrugen. Damit wollten sie demonstrieren, wie einer der daran Beteiligten später rückerinnernd schrieb, dass sie die „empirische Wirklichkeit“ jenen „Ideen“ zu unterstellen versuchten, die einzig allein ihrem „Willen“ entstammten. „Mit züngelnden Nerven und Leidenschaften ver-dichteten sie“, wie es in diesem Rückblick heißt, „die Erde zum konzentrierten Ich-Erlebnis“.13 Inhaltlich ging es dabei anfänglich, wie man das von literarisch gebildeten Söhnen wohlhabender Eltern erwartet, meist um Proteste gegen familiären Zwang, kulturelles Spießertum oder universitäre Autorität, denen man mit dem Pathos einer noch unbefriedigten Lebensgier entgegentrat und zu einem Aufbruch ins noch Ungewisse einer utopisch erhofften Daseinsfülle aufrief. Viele dieser Gedichte tragen daher Titel wie Aufbruch der Jugend, Der Söhne junger Ruf oder schlichtweg Jugend. In ihnen handelt es sich fast immer um frustrierte und zugleich verzückte Jünglinge, die sich angesichts des „Straßengewoges“ und der „Cafehausverlockungen“ im Sinne eines „knabenhaft träumerischen Seins“ mit den in ihnen „schlagenden Geltungen ihres Hierseins“ zu einem „durchseelten Nerventum“ und zugleich einem „blutschäumenden Sein“ bekannten.14 Schon der ständige Nachdruck, den diese Autoren auf Begriffe wie „Sein“, „Dasein“ oder „Menschsein“ legten, beweist, wie irreal die meisten ihrer subjektiven Aufruhrgesten waren. Ihnen ging es – trotz aller aufsässigen Gesinnung – noch nicht um die Anderen, die Vielen, die breiten Massen, sondern immer nur um das eigene Ich. Die Meisten fühlten sich in erster Linie als einsame, weltverlorene, um letztmögliche Erfüllungen ringende „Dichter“. Daher beriefen sie sich in ihren frühen Gedichten gern auf ältere, ebenso vereinsamt ringende Dichter, so Johannes R. Becher auf Kleist, Klabund auf Grabbe, Gottfried Benn auf den Räuber-Schiller, Albert Ehrenstein auf 102
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Rimbaud, Kurt Heynicke auf Strindberg, Alfred Wolfenstein auf Dostojews ki, Georg Heym auf Hölderlin und Georg Trakl auf Novalis. Noch ohne konkrete Ziele, aber auf eine zukünftige „Schicksalserwartung“ vertrauend,15 entzogen sie sich dem elterlichen Zwang, ihr Studium abzuschließen oder gar „arbeiten zu müssen“.16 Stattdessen gaben sie sich im „Sturmwind der Zeit“ erst einmal auf Reisen, in Bars und Hotels mit dirnenhaften Weibsgeschöpfen so ungehemmt, so gottverachtend, so morgenlich leuchtend den Ekstasen der Liebesraserei hin, um sich damit in ihrer „inneren Autarkie“ zu bestärken.17 „Wir sind versehnt nach Reizen unbekannter Art“, heißt es dementsprechend 1914 in dem Lyrikband Wolkenüberflaggt von Ernst Wilhelm Lotz, „Wir sind nach Dingen krank, die wir nicht kennen, / Wir sind sehr jung. Und fiebern noch nach Welt.“18 Und als Erstes bietet sich ihm, wie erwartet, der sexuelle Rausch an: „Wir sind nach Frauen krank, nach Fleisch und Poren, / Es müßten Pantherinnen sein, gefährlich zart, / In einem wild gekochten Fieberland geboren.“19 Ja, bei Paul Boldt finden sich in seinem Gedichtband Junge Pferde! Junge Pferde! sogar folgende Zeilen: „Ich reiße dir die Brüste von den Rippen, / wenn du nicht geil bist!“20 Gerechtfertigt wird diese Lebensgier gern mit sprachlichen Erwähltheitsgesten wie: „Wir sind die verheißenen Erhellten, / Von jungen Messiaskronen das Haupthaar umzackt, / Aus unseren Stirnen springen leuchtende, neue Welten, / Erfüllung und Künftiges, Tage, Sturmüberflaggt.“21 Wie bereits aus diesen wenigen Zitaten ersichtlich, entspricht diesem Rauschverlangen eine Sprachgebung, die – oft mit einem oder mehreren Ausrufungszeichen versehen – ständig zwischen Metaphern eines noch weltverlorenen Unerfülltseins und ekstatisch erlebten Zuständen momentaner Verzückung hin- und herpendelt. So stößt man ständig auf Zeilen, wo von tiefster Trauer, wenn nicht gar vom Absturz ins Dunkel der Einsamkeit die Rede ist, auf die jedoch ebenso häufig Zeilen wie „O Welt, wie bist du wundervoll, / In deinem Feuer kocht mein Blut!“22 oder „Oh Erde, Abend, Glück, oh auf der Welt zu sein!“23 folgen. Ja, manchmal ergibt sich das Eine aus dem Anderen, das heißt geht in einen Simultanrausch über, der weniger inhaltlich Fassbares als eine gesteigerte Intensität ausdrücken soll. 103
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Beste Beispiele dafür bieten die Gedichte von August Stramm. In „ungerichteten sprachlichen Katarakten“, wie einer seiner Bewunderer schrieb, werde in ihnen ein „Ur-Tanz des Seins“ beschworen, bei dem er sich der letztmöglichen „Ballungen der Sprache“ bedient habe. In den „Ur-Schreien“ seiner Gedichte sei daher zwischen Anfang und Ende, zwischen Sturz und Auferstehung, zwischen Verzweiflung und Ekstase kaum zu unterscheiden. In ihnen verdichte sich alles zu einem „bewegenden Rausch ich-beseligter Gefühle“, zu „speiender Glut“ oder „letzt-zusammengepreßtem Strahl“,24 wofür gern sein Gedicht Dämmerung zitiert wird, wo es in äußerster, die höchstmögliche Simultaneität anstrebender Eindringlichkeit heißt: „Unermeßlichkeit! / strömt / zerreißt / mich / In / Dir! / Du!“25 Fast ebenso „geballt“ geht es in vielen frühexpressionistischen Dramen der Vorkriegsära zu. Schließlich sind ihre Zentralfiguren, ob nun die Protagonisten in Reinhard Johannes Sorges Der Bettler (1912) oder Walter Hasenclevers Der Sohn (1912), meist ebenfalls um radikale Selbstverwirklichung ringende Dichterjünglinge, vaterhassende Söhne, geschlechtsgierige Draufgänger oder sich nach höchstmöglicher Vergeistigung sehnende Vereinzelte, welche sich jenseits aller gesellschaftlichen Zwänge lediglich um eine hemmungslose Seinsintensität bemühen. Trotz der genrebedingten Dialogform herrscht daher in vielen Szenen dieser Dramen entweder eine Tendenz ins Monologisierende oder zumindest die gleiche Verknappung ins Ausruferhafte, wie sie sich in den gleichzeitig entstandenen frühexpressionistischen Gedichten findet. Auch hier heißt es: „Man lebt ja nur in der Ekstase“ oder „Du bist der Einzige, der Lebendige, der Rufer: Gott will es.“26 Auch hier will man nur „Mensch“, nur „Pilger“, nur ein der „Tyrannei der Familie“ entlaufener Jüngling sein.27 Sogar in ihnen geht es in erster Linie um „Intensität“, um „ewige Wollust“, um „Himmelaufstieg“, um „Erwachen zur Ewigkeit“28 und was es sonst noch an wirklichkeitsüberschreitenden Sehnsüchten gibt, um so aus der „Irdischkeit“, sprich: gesellschaftlichen Realität, in eine „überirdische Wirklichkeit“ vorzustoßen, in der sich sowohl der Geist als auch der Trieb frei entfalten können, wie Kurt Pinthus 1914 in seinem Versuch eines zukünftigen Dramas in der Zeitschrift Die Schaubühne erklärte.29 104
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Zugegeben, es gibt in diesen Dramen auch Szenen, wo sich mit den Konventionen der gesellschaftlichen Realität unzufriedene jugendliche Rebellen mit anderen, ihnen Gleichgesinnten zu solidarisieren versuchen. So ruft etwa Hasenclevers „Sohn“ eine Jungschar seines Alters auf, einen „Bund der Jugend gegen die Welt!“ zu gründen. Doch unter dem Motto „Wir leben für uns!“ soll dieser Klub lediglich der „Erhaltung der Freude“ dienen.30 Ja, selbst in den etwas konkreter klingenden Beiträgen der 1911 von Franz Pfemfert gegründeten Zeitschrift Die Aktion, von der man – trotz aller frühexpressionistischen Übersteigerungen – aufgrund ihres vielversprechenden Titels noch am ehesten eine Tendenz ins Massenzugewandte erwartet hätte, dominiert auf weite Strecken ein literatenhaftes Ichbewusstsein. Auch in ihr rief etwa Kurt Hiller 1911 die jungen Dichter vor allem auf, „Nachfolger der obersten Götter“ zu werden, in deren Werken das „Intellektische nicht weniger stark lebt als das Erotische“. Genau das sei es, wie er in ideologischer Verblendung schrieb, worauf das „Volk“ warte.31 Nicht minder realitätsentfremdet drückte sich Ludwig Rubiner in der gleichen Zeitschrift aus. Auch er erklärte unumwunden: „Der Dichter ist der einzige, der hat, was uns erschüttert, Intensität.“ Was er unter diesem Begriff verstand, war wiederum kein gesellschaftlicher Strukturwandel, kein Fortschritt, kein Klassenabbau, sondern ein in emphatischer Verwortung ausgedrückter Glaube an unerwartete „Wunder“, an „ewige Absättigung in einem einzigen Moment“ sowie an jene „unermeßliche Seligkeit“, die eines Tages „das tägliche Leben der Civilisation in Trümmer sprengen“ werde. Die Frage „Wer sind eigentlich unsere Kameraden solcher Hoffnungen?“ beantwortete er deshalb in bohmienhafter Verkennung der bestehenden Klassenkonflikte: „Prostituierte, Dichter, Zuhälter, Nichtstuer, Liebespaare inmitten der Umarmung, religiös Irrsinnige, Säufer, Kettenraucher, Arbeitslose, Pennbrüder, Kritiker, Schlafsüchtige“ wie überhaupt alle „Arbeitsunwilligen“, das heißt jenes „Gesindel“, in welchem die Untoten, die Ich-Leichen, die Spießer der bürgerlichen Welt lediglich den „Abhub“ der Gesellschaft sähen. Und Rubiner war stolz darauf, mit solchen emphatischen „Rüdigkeiten“,
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die vor dem Expressionismus „noch keiner ausgedacht“ habe, die deutsche Sprache immens „bereichert“ zu haben.32
III Wie verhielt sich eigentlich diese wort- und ichbesessene Phalanx junger Dichter, Literaten und Kritiker, als in den ersten Augusttagen des Jahres 1914 plötzlich jene Ereignisse eintraten, die zum Ersten Weltkrieg führten? Wenn man sich jene Schriften ansieht, die sie zwischen 1914 und 1918 publizierten, erweist sich leider, dass viele ihrer Vertreter, ohne sich groß um die mörderische Realität des Krieges zu kümmern, weiterhin irgendwelchen utopisch ersehnten Wunschzielen entgegen stürmten, wo sich ihr Verlangen nach einer größeren Lebensintensität endlich erfüllen würde. Gut, es gab auch einige nicht genug zu rühmende Pazifisten unter ihnen, die, weil im Kaiserreich das Oberste Heereskommando alle antivaterländischen Äußerungen von vornherein mit strengen Zensurmaßnahmen abzublocken versuchte, in die neutral gebliebene Schweiz auswichen und dort in der Zeitschrift Die Weißen Blätter gegen die verheerenden Folgen dieses Kriegs in die Schranken traten. Doch letztlich blieb die Mehrheit der anderen Frühexpressionisten weiterhin bei ihren in hochtrabenden Wortballungen ausgedrückten subjektiven Geist- und Triebvorstellungen, statt auch auf die Wünsche der „breiten Massen“ einzugehen. Dafür einige Beispiele aus den Schriften ihrer theoriebesessenen Wortführer. So schrieb etwa Kurt Hiller noch 1917 in einem seiner Ziel-Jahrbücher: „Das potenzierte Individuum ist heiliger als das vervielfachte; heiliger als die Masse.“ Die Lehre von der politischen Gleichberechtigung aller Menschen erschien ihm nach wie vor als ein „Dogma, vom Pöbel für den Pöbel erdacht“. Als Proponent aller höhergearteten Menschen trat er daher mit nietzscheanischem Nachdruck für ein „Deutsches Herrenhaus“ ein, in dem nicht die „geistfeindliche“ Menge, sondern allein die „Dichter“ und ihnen verwandte „Edele“ das Sagen haben würden.33 Ebenso entschieden schwärmten andere sich als Literaten gebende Intellektuelle in diesen Jahren 106
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von neuen geisterfüllten „Führern“ oder „königlichen Menschen“, die mit „neuen Worten“ einer mit ins Ekstatische überhöhten „Sprache“ den noch im Dunkel verharrenden Allermeisten zu einer utopisch erhofften Seinsverklärung verhelfen würden.34 Nicht minder verschwommen wirken die meisten diesbezüglichen Manifeste, welche manche der frühexpressionistischen Dichter in diesem Zeitraum verfassten. So erhoffte sich Kasimir Edschmid 1917/18 in seinen Reden Über Expressionismus in der Literatur nach wie vor eine „Revolution des Geistes“, die sich in ihren „fanatischen Visionen“ zu „Liebe, Gott und Gerechtigkeit“ bekenne. Auch ihm ging es nicht vornehmlich um das „Reale“, sondern weiterhin lediglich um das „Wesen“, das „Eigentliche“, das „Kosmische“, den dichterischen „Enthusiasmus“. Er wandte sich daher entschieden gegen alles Beschreibende, Realistische und forderte eine Schreibart, die auf die „Puffer logischer Überleitungen und den äußeren Kitt der Psychologie“ bewusst verzichtet und sich in „knappster“ Form um das „Seelische“, das im tiefsten Sinne „Menschheitliche“ bemühen solle.35 Ebenso irreal sahen andere Expressionisten zu diesem Zeitpunkt in ihren Schreibbemühungen lediglich eine „Revolution für das Elementare“, bei der das „Ich die Welt überflute“,36 ein schreiartiges „Manifest für den Geist“, in dem der „Künstler“ dem „dumpfen Volk“ sein „großes Herz“ offenbare,37 oder einen „pathetischen Fanfarenruf“ jener jungen Dichter, die in „kosmischer Verantwortung“ ihr Teil zur Errichtung „azurumwallter Menschheits-Monumente“ herbeiführen würden.38 In der gleichzeitig entstandenen Flut expressionistischer Gedichte herrscht deshalb nach wie vor derselbe wortballende, ins Irreale vorstoßende Überschwang wie in der frühexpressionistischen Lyrik vor 1914. Zugegeben, Iwan Goll, Walter Hasenclever, Kurt Heynicke, Wilhelm Klemm, Rudolf Leonhard, Anton Schnack, August Stramm und Paul Zech schrieben auch einige durchaus beachtliche Antikriegsgedichte. Aber selbst in ihnen war oft nur höchst allgemein mit einem bereits zum Klischee gewordenen „O Mensch“-Pathos von „grenzenlosem Aufbruch“, „himmlischer Erhebung“ oder „herzbereitem Aufruhr“ die Rede, ohne dabei bereits bestimmte 107
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Bevölkerungsschichten ins Auge zu fassen, mit denen sich derartige Umbrüche ins „fessellos Befreite“ in politische Aktionen hätten umsetzen lassen. Immer wieder heißt es selbst in solchen Gedichten vornehmlich: „Hocherhaben Herz, wach auf!“, „O Mensch, brich auf ins Licht“, „Brenne weiter, Flamme! Es naht die Zeit!“, „Schmettert Breschen, Hymnen! / Packt an, daß dräuend die Lawin sich ball!“, „O neue Zeit! Zukunft! Preiselbeerrote Feierlichkeit!“, „Wir sind alle gut Du und ich. / Wir sind alle gut!“, „O schwelender Mensch, / Feuermensch, Lichtmensch über dem Himmel, / Zu ihm!“, „Es lebe der runde, geöffnete Mund, der laut gellt: / Es lebe der Führer! Es lebe der Literat!“ oder „O Orpheus. Er führte die Menschheit zur Absolution.“ Als die führende Stimme erweist sich also auch hier ständig der strahlend-erschütterte Tenor junger Dichter, die in idealistischer Verblendung die kriegerischen Ereignisse dieser Jahre vorwiegend als einen zwar alle Menschen bewegenden Umschwung in der Menschheitsgeschichte empfanden, aber ohne dabei auf ihre persönlichen Selbstrealisierungsvorstellungen verzichten zu wollen. Das „besternte“ Ich dieser Gedichte ist daher nach wie vor der „heilig frierende“ Gottsucher auf dem Weg ins Übersinnliche oder der sich nach rauscherfüllten Nächten Sehnende, dem es scheinbar nur um den Genuss heißerglühter „Raubtierlenden“ oder „Glieder-Küsten“ brünstiger Dirnen geht.39 Ja, manchmal hat man bei diesen ins „Rasende“ oder „Siedehitzige“ tendierenden Gefühlsüberschwängen fast den Eindruck, als ob es sich dabei gar nicht um reale Bedürfnisse oder Erlebnisse handelte, sondern es diesen Autoren eher um eine sprachliche Wildheit ging, um sich als an neuartigen, möglichst schockartigen Wortkaskaden berauschende Dichter auszuweisen. So heißt es etwa inmitten aller lyrischen Überschwänge immer wieder: „Gott, lodere du in meinem Wort!,“40 „Satzgefüge tollste meißele ich“41 oder „Bald werden sich die Sturzwellen meiner Sätze zu einer unerhörten Figur verfügen.“42 Etwas konkreter, das heißt auch die breiten Massen ins Auge fassend, statt sich nur als einsame Rufer auszugeben, äußerten einige dieser Lyriker erst in den Jahren 1917/18, als nach dem Sieg der russischen Oktoberrevolution 108
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Abb. 9: Erich Heckel: Mann in der Ebene (1917)
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in der heraufziehenden „Menschheitsdämmerung“ der Hoffnungsstrahl einer grundsätzlichen „Weltveränderung“ aufzuleuchten begann. Danach stößt man sogar in weiterhin ichbezogenen Gedichten plötzlich auf Wörter wie „Barrikadenschrei“ oder „Völkermai“.43 Ja, Johannes R. Becher erklärte mit einem Mal: „Laßt uns Schlagwetter-Atmosphäre vorbereiten! / Lernt. / Vorbereitet! Übt euch!“44 Noch entschiedener äußerte sich Ernst Toller, der in seinem Gedicht An die Dichter in einem zornerfüllten Rückblick auf die frühexpressionistische Ichbezogenheit schrieb: „Anklag ich Euch, Ihr Dichter, / Verbuhlt in Worte, Worte, Worte! / Auf die Tribüne, Angeklagte! / Entsühnt Euch! / Menschen kündet Ihr! / So sprecht doch! Sprecht!“45 Ein ähnlicher Wandlungsprozess von subjektiver Erlösungssehnsucht und Triebbesessenheit zu gewissen politischen Erweckungserlebnissen lässt sich in den Jahren zwischen 1914 und 1918 in manchen expressionistischen Dramen beobachten. Noch am stärksten den frühen Selbstrealisierungskonzepten dieser Bewegung verpflichtet, erweist sich Georg Kaisers Drama Von morgens bis mitternachts, das 1916 im Druck erschien und ein Jahr später uraufgeführt wurde. In ihm geht es um einen philisterhaft-braven Bankangestellten, der nach der Begegnung mit einer verführerischen Dame der höheren Gesellschaft seine als „Ich-Leichen“ empfundenen Familienmitglieder verlässt und sich mit einer gestohlenen Geldsumme auf der Jagd nach dem „Echten“ in den vielfältigen Trubel einer Großstadt stürzt, um dort im Sinnenrausch das große Glück zu erleben, aber dennoch kläglich scheitert, worauf er sich das Leben nimmt. Und dabei bleibt es. Von irgendwelchen über die jeweiligen Erregungszustände hinausgehenden Einsichten in die politischen oder sozioökonomischen Vorgänge dieser Ära ist hier noch keine Rede. Ebenso wild, wenn nicht noch wilder geht es in Fritz von Unruhs Schauspiel Ein Geschlecht zu, das 1917 publiziert wurde. Hier herrscht in rhythmisch aufpeitschenden Sätzen weitgehend das Schreihafte vor, das vor allem in jenen Szenen dominiert, wo es um Verwandtenmord, Inzest und Kastration geht. Obwohl dabei auch die Untaten eines mörderischen Kriegsgeschehens in das Ganze einbezogen werden, bleibt es unklar, um welchen Krieg es sich eigentlich handelt. Alles scheint sich in einem 110
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mythisch-düsteren Raum abzuspielen, in dem sich eine Mutter zum Opfer bringt, um damit ihre Söhne zu bewegen, sich endlich einer vom „Licht“ erfüllten Welt zuzuwenden. Wesentlich realitätsverhafteter wirkt dagegen Ernst Tollers Drama Die Wandlung, das er nach seiner Teilnahme an einem Munitionsarbeiterstreik im März 1918 in einem Militärgefängnis vollendete. In ihm geht es tatsächlich um den Ersten Weltkrieg, in dem sich ein junger Soldat vom begeisterten Vaterlandsverteidiger zum expressionistisch gestimmten Revolutionär durchringt. Dennoch dominiert auch hier eine Sprachgebung, die sich immer wieder in eigenwilligen Wortkaskaden entlädt, in denen noch immer das aufs Höchste gesteigerte Ichbewusstsein aus der Frühphase des Expressionismus weiterklingt. So heißt es beispielsweise an einer Stelle: „Es schrie ein Mensch. / Ein Bruder, der den großen Willen in sich trug / Um Schein und quälende Verachtung. / Bereit zur Tat. / Der ballte lodernd harten Ruf: / Den Weg! / Den Weg! / Du Dichter weise!“46 Mit der gleichen Emphase tritt sein Protagonist am Schluss vor eine niederkniende Menschenmenge, die er mit folgenden Worten beschwört: „Ihr könntet doch Menschen sein, wenn ihr Erfüllte wäret im Geist’“, worauf alle aufschreien: „Brüder recket zermarterte Hand, / Flammender freudiger Ton! schreite durch unser unfreies Land, / Revolution! Revolution!“47 Nichts gegen noble Sentiments. Aber kamen derartig ins Utopische überhöhte Wortballungen überhaupt bei den breiten Massen an? Wer hörte sie eigentlich? Wahrscheinlich nur die kleine Minderheit der Gebildeten, die darin eher literarische Novitäten als Revolutionsaufrufe sahen. Überhaupt könnte man sich fragen, ob literarische Genres wie die Lyrik und das Drama die geeignetsten Ausdrucksformen waren, das sogenannte Volk zu erreichen? Wären dafür nicht Romane und Erzählungen wesentlich wirksamere Genres gewesen? Doch wo sich einige Expressionisten in diesen Jahren ihrer bedienten, verwandten sie meist dieselben ins Ichbesessene tendierenden Übersteigerungen, die sich auch in ihren Gedichten und Dramen finden. Dafür sprechen folgende Beispiele. So geht es in den Novellen Die sechs Mündungen (1915) und Das rasende Leben (1916) von Kasimir 111
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Edschmid ausschließlich um eine leidenschaftlich ersehnte Daseinsfülle und Triebbefriedigung bürgerlicher Sonderlinge, ohne dass die breiten Massen überhaupt in Erscheinung treten. Das gleiche gilt, wenn auch etwas weniger „geballt“, für die Rönnefigur in Gottfried Benns Erzählungen Gehirne (1916), der sich neben seiner erotischen Selbstrealisierung vor allem um die „Schaffung einer neuen Syntax“ bemüht, um damit „den Du-Charakter des Grammatischen“ auszuschalten und in seinem sprachlichen Ausdrucksvermögen ganz er selbst zu werden.48 Sogar in Carl Sternheims Kriegsnovelle Ulrike (1918), die in einem Lazarett hinter der Westfront spielt, drängt alles auf jene Ichbesessenheit hin, mit der sich eine junge märkische Adlige im Geschlechtsakt wie eine „berauschte Äffin“ einem als „behaarten Affen“ empfundenen Mann hingibt, um endlich – jenseits aller Kriegsgräuel – ihr „dichtestes Ich“ zu erfahren.49 Einen der wenigen Versuche, mit expressionistischen Stilmitteln einen zum Pazifismus aufrufenden Roman zu schreiben, unternahm lediglich Leonhard Frank mit seinem Buch Der Mensch ist gut, das allerdings vor Kriegsende nur in der neutral gebliebenen Schweiz erscheinen konnte. In ihm geht es endlich nicht allein um ichbesessene Außenseiter, sondern um das Schicksal all jener Kriegerwitwen, Kriegskrüppel, Kriegsärzte, kriegsmüden Soldaten, wie überhaupt um all jene den Krieg verdammenden „Gutwilligen“, die sich gegen Schluss in gewaltig anschwellenden Protestmärschen zu einer riesigen Menschenmenge vereinigen und damit dem mörderischen Geschehen an den verschiedenen Fronten ein Ende bereiten.50 Allerdings dominiert auch hier in den wortreichen „Ekstasen der Verbrüderung“ ein ideologisch nicht genau definiertes „O Mensch“-Pathos, das in überschwänglichen Freiheitsgesängen kulminiert, in denen zwar auch auf einen entschiedenen Kriegsgegner wie Karl Liebknecht hingewiesen wird, den „die ganze Menschheit kennt und ehrt“, wie es in hoffnungsvoller Verblendung heißt, aber letztlich das Irreale solcher Forderungen nicht zu übersehen ist. Entsprach das wirklich der Stimmung der breiten Massen gegen Ende des Jahres 1918? Oder waren auch das lediglich von
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außen herangetragene Wunschträume innerhalb einer gesellschaftspolitischen Situation, die keineswegs auf eine „totale Wandlung“ hindrängte?
IV Als daher am 9. November 1918 die Revolution tatsächlich ausbrach, erwiesen sich die meisten expressionistisch orientierten Dichter und Intellektuellen als viel zu wirklichkeitsentfremdet, um mit ihren teils ichbesessenen, teils ins Menschheitliche ausgreifenden Konzepten die von ihnen anvisierten breiten Massen in ihrem Sinne beeinflussen zu können. Schließlich war die sich real abspielende Revolution weitgehend eine Revolte kriegsmüder Soldaten, die nicht daran dachten, „die gesamte Welt zu verändern“, sondern erst einmal mit ihren Offizieren abrechnen und dann zu ihren Familien nach Hause eilen wollten. Auf anspruchsvolle Vertreter des „Geistes“ waren diese Schichten, die wenige oder keinerlei Bildungsvoraussetzungen besaßen, ohnehin nicht gut zu sprechen, was eine klassenübergreifende Solidarisierung von vornherein erschwerte. In dieser Situation gelang es daher der auf „Ruhe und Ordnung“ drängenden Mehrheitssozialdemokratischen Partei Deutschlands (MSPD) unter Friedrich Ebert, einfach die Macht an sich zu reißen und alle aufsässigen Gruppen und Parteien, wie die Arbeiter- und Soldatenräte, den Spartakus-Bund und die Unabhängige Sozialdemokratische Partei Deutschlands (USPD), zum Teil mit Hilfe reaktionärer Freikorpsverbände Schritt für Schritt zu überrunden oder blutig niederzuschlagen. Demzufolge scheiterte Anfang 1919 sowohl der Spartakus-Aufstand als auch kurz darauf das Experiment der Münchener Räterepublik. Was sich dagegen durchsetzte, war die von der MSPD dominierte Weimarer Nationalversammlung, durch die mit Unterstützung der Deutschen Demokratischen Partei (DDP ) eine bürgerlich-liberale Republik etabliert wurde, die alle geistidealistisch, tataktivistisch, utopistisch oder sozialistisch eingestellten Schichten unter den Intellektuellen notwendig unbefriedigt lassen musste. Daraus ergibt sich zwangsläufig die Frage: Wie verhielten sich eigentlich die auf eine grundsätzliche Menschheitswandlung bestehenden 113
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Expressionisten nach dem 9. November 1918? Versuchten sie weiterhin, als sich die Unmöglichkeit einer gesellschaftlichen Verwirklichung ihrer ins Utopische übergehenden Hoffnungen immer deutlicher abzuzeichnen begann, die von ihnen angestrebten Menschheitsträume in die Tat umzusetzen? Anfangs gingen einige von ihnen erst einmal mit fliegenden Fahnen ins revolutionäre Lager über, beteiligten sich an öffentlichen Demonstrationen, traten in die USPD ein oder beteiligten sich an der Münchner Räterepublik, um die Gunst der Stunde in ihrem Sinne beeinflussen zu können. Ja, manche ihrer Theoretiker bemühten sich sogar allen Ernstes, ihre bisherigen bohemenhaften Cliquen und Konventikel durch größere, straffer geführte Organisationen zu ersetzen, um endlich eine „kommunionistisch“ gesinnte Einheitsfront aller Kriegsgegner, aller Geistigen, aller Aufbruchsbereiten auf die Beine zu stellen. So gründete etwa Kurt Hiller 1919 in Berlin einen „Politischen Rat geistiger Arbeiter“, der weitgehend aus expressionistisch eingestellten Intellektuellen bestand, worauf sich einige expressionistisch orientierte Maler, Architekten und Kunstkritiker im gleichen Jahr zum „Arbeitsrat für Kunst“, zum „Bauhaus“ sowie zur „Novembergruppe“ zusammenschlossen. Auf literarischem Gebiet äußerte sich jedoch diese geistrevolutionäre Gesinnung weniger in neuen Gruppenbildungen als in einer Fülle vehement herausgeschleuderter Dichtungen, denen man allerdings zum Teil deutlich anmerkt, dass sich ihre Autoren von den nicht vorhergesehenen Novemberereignissen ideologisch überfordert fühlten, weshalb sich in ihren Werken oft die gleichen „geballten“, ins Rauschhafte oder Geistüberspannte tendierenden Wortkaskaden wie bei den Frühexpressionisten finden. In ihnen wird die leidenschaftlich begrüßte Novemberrevolution meist als spontane Massenerhebung, als Beginn einer allgemeinen Menschheitsbefreiung, wenn nicht gar als messianisch erhoffter Aufbruch ins Göttlich-Seelische gefeiert, was häufig – trotz aller wohlgemeinten politischen Absichtserklärungen – zu ideologisch verschwommenen Gefühlsentladungen führt, die sich an geistverhafteter Radikalität und zugleich realitätsentfremdeter Hohlheit schwerlich überbieten lassen. Das gilt vor allem für die vielen sich expressionistisch 114
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Abb. 10: Max Pechstein: Lithographie (1919)
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gebenden Revolutionsdichtungen, die zu diesem Zeitpunkt erschienen, wo man am Schluss unter roten Fahnen marschiert, die Marseillaise singt und zugleich Kruzifixe in die Höhe reckt, um so den breiten Massen den Weg ins gelobte Land einer von allen äußeren Zwängen befreiten Menschheit zu weisen. Wie stark dabei viele, von solchen Stimmungen angefeuerte Autoren auf den frühexpressionistischen Sprachrausch zurückgriffen, ja, ihn sogar noch übersteigerten, ließe sich mit Hunderten von Beispielen belegen. So war etwa im Bereich der Substantive nach wie vor von apokalyptisch gestimmten Metaphern wie „Blutregen“, „Donnerspannung“, „Erdballbewusstsein“, „Flammenschwertern“, „Hagelsausen“, „Himmelspfeilen“, „Jubelhymnen,“ „Sehnsuchtsgluten“, „Sphärenwind“, „Sternenduft“, „orkanartigen Stürmen“, „Wetterzorn“ und „Wundermeeren“ oder geistidealistischen Beschwörungen wie „Bruderhand“, „Gedankenangriff“, „Gottestrotz“, „Herzensbindung“, „Prophetenglück“ und „Umarmung“ die Rede, als ob es sich bei der Novemberrevolution lediglich um ein kosmisches Urereignis oder einen brüderlichen Zusammenschluss ichbesessener Einzelmenschen gehandelt habe. Die gleichen ins Expressive tendierenden Wörter finden sich im Hinblick auf intensitätssteigernde Adjektive. Hier stützte man sich ständig auf Wörter wie „absolut“, „aufbrausend“, „erderblüht“, „explosiv“, „fanatisch“, „fessellos“, „gottdurchdrungen“, „grenzensprengend“, „herzverwurzelt“, „himmelweit“, „lichtumflattert“, „manifestatorisch“, „nervengespannt“, „sonnennah“, „sprunglauernd“, „verzückt“, „wesentlich“ oder „wundergegenwärtig“, während unter den Tätigkeitswörtern vor allem auf Umsturz und Neuerwachen drängende Verben wie „aufbersten“, „aufblühen“, „böllern“, „brennen“, „brodeln“, „entzünden“, „flackern“, „glühen“, „leuchten“, „lodern“, „pulsieren“, „schreien“, „stampfstürzen“, „verbrüdern“, „verkünden“, „zermalmen“ und „zerschmeißen“ ins Auge stechen. Und auch an theoretischen Äußerungen, die sich zwischen 1919 und 1921 zu dieser sprachlichen Intensität bekannten, fehlte es keineswegs. So erklärte damals Rudolf Leonhard: „Man kann nur in Hypertrophien dichten, denn beim Superlativ fängt das Dichten erst an.“ Hugo Kersten schrieb: „Der 116
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Abb. 11: Karl Schmidt-Rottluff: Holzschnitt (1918)
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vollkommene Künstler wäre der, der in einem Wort alles sagen könnte, was es zu sagen gibt.“ Bei Franz Blei findet sich die Äußerung, dass „der sogenannte Inhalt“ nur dann „nackt und betont zum Vorschein“ komme, wenn „die Sprache auf ein Minimum ihres Ausdrucks“ heruntergeschraubt werde. Carlo Mierendorff behauptete, dass er die wichtigste Aufgabe der Dichtung darin sehe, „den Sprachschatz schöpferisch zu erneuern“.51 „Wir müssen die Ideen in uns ballen“, heißt es bei Friedrich Wolf 1919, „bis die Sprache aus ihnen explodiert!“52 Ja, selbst der durchaus tatbereite Ernst Toller schrieb im gleichen Jahr in seinem Gedicht An die Sprache, als ob es sich beim Dichten vornehmlich um einen aus religiösen Quellen gespeisten Wortrausch handele: „Sprache, / Gefäß göttlichen Geistes, / Weltorgel! / Brausende in allen Registern! / Dichtergeliebte! / Tauch in geheiligten Quell geäderter Glieder / Voll göttlichem Bluts! / Steige verjüngt, / Geheiligt empor!“53 Wie schon in vielen frühexpressionistischen Dichtungen herrscht daher auch in zahlreichen Werken der unmittelbaren Nachkriegszeit ein Wortschwall vor, dessen poetische Geballtheit streckenweise kaum zu überbieten ist. Vor allem die Lyriker dieser Jahre betonten in ihren Gedichten gern ihre sprachgenialische Schöpferkraft, wenn sie sich ihren Brüdern unter den Menschen, sprich: den breiten Massen zuwandten. „Ich muß euch den Kosmos herrollen“, heißt es dementsprechend 1919 in Iwan Golls Dithyramben, „Ich muß euch alle Leidenschaften aufrollen. Ich bin der Souffleur Gottes.“54 „Ein Dichter; was ist das?“, erklärte Walter Rheiner, „Ein Gott? Ein Tier? – Nein: Wesen! / Ein Weltenfrühling. / O Fackel unbekannten Brands!“55 Andere Lyriker gaben sich mit derselben Emphase als „Sternbelaubte“, als „Erleuchtete“, als „Lichtentflammte“, wenn nicht gar als Führer zu einem „neuen Paradies“ oder „Weltpfingsten“ aus, in dem sich endlich alle Menschen wie „Kameraden der Erde“, wie „Lichtmenschen“, wie „Genossen Gottes“ in die Arme fallen würden.56 Der gleiche ins Irreal-Utopische übersteigerte und damit forciert klingende ideologische Überschwang herrscht in vielen expressionistischen Dramen dieser Jahre, in denen es nach wie vor meist um pseudoreligiöse Auferstehungsakte oder ichbesessene Triebentfesselungen geht, die meist mit 118
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einem literatenhaften Phrasenschwall überblendet werden. Wie schon in den frühexpressionistischen Werken steht auch hier selten die zur Revolution entschlossene breite Masse, sondern fast immer der Einzelne, der Jüngling oder der Dichter im Mittelpunkt, der lediglich seine eigene Selbstbefreiung aus den ihn einengenden familiären Zwängen anstrebt. Und zwar diente dabei als Vorbild häufig Hanns Johsts „ekstatisches Szenarium“ Der junge Mensch von 1916, dessen Protagonist wie Walter Hasenclevers Der Sohn von 1914 seine „rasende Wollust“ erst mit einer Dirne befriedigt und dann nach seiner vorgetäuschten Beerdigung als neugeborener Euphorion am Schluss als Vertreter eines ungezügelten Lebens mit „jugendjubelnden“ Aufschreien „dem Publikum entgegen stürmt“.57 Wohl am emphatisch sten spielt sich in derartigen Dramen der Aufbruch eines zum Letzten entschlossenen Jünglings in Arnolt Bronnens Vatermord von 1920 ab, der erst seinen Vater ersticht, sich dann dem Geschlechtsbegehren seiner mit den Worten „O o oh komm zu mir“ gierig aufschreienden Mutter verweigert und am Schluss mit den Worten „Niemand vor mir niemand neben mir niemand über mir der Vater tot / Himmel ich spring dir auf ich flieg / Es drängt zittert stöhnt klagt muß auf schwillt quillt sprengt fliegt muß auf muß auf / Ich / Ich blühe“ aus dem Fenster springt.58
V All das klingt so, als ob sich die mit dem Expressionismus sympathisierenden Theoretiker und Dichter selbst nach dem 9. November 1918 mit ihren Aufsehen erregenden Wortkaskaden nur für einen ins Extreme gesteigerten Selbstrealisierungsdrang eingesetzt hätten, mit dem sie sich als Wegbereiter zu einem ungehemmten Ichbewusstsein ausweisen wollten. Zugegeben, das trifft auf viele ihrer Vertreter durchaus zu. Aber gab es daneben nicht auch andere Expressionisten, die – im Rückblick auf das mörderische Kriegsgeschehen sowie die über Nacht ausgebrochene Novemberrevolution – mit der gleichen Intensität auch parteipolitische oder sozialreformerische Konzepte ins Auge fassten? Engagierten sich nicht manche zugleich für derartige, über 119
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ihre Ichsüchtigkeit hinausgehende Vorstellungen? Ja, reihten sie sich nicht in eine der vielen um die Macht ringenden Parteien, Räte oder Bünde ein und fassten sie dabei nicht auch die breiten Massen ins Auge? Oder blieben sie selbst bei derartigen Bemühungen weiterhin ichbezogene Außenseiter, denen es bei ihren sich revolutionär gebenden Wortkaskaden eher um ihr literarisches Ansehen als um tatsächliche Engagementsformen ging? Das bliebe im Folgenden noch zu klären. Dass fast alle Expressionisten den Ersten Weltkrieg zu Recht verdammten, ist hinlänglich bekannt. Allerdings sahen die meisten von ihnen in diesem Krieg weniger einen imperialistischen Raubkrieg, hinter dem höchst konkrete politische und ökonomische Interessen standen,59 sondern eher ein infernalisches Flammenmeer, ein Gottesgericht, ein Menschheitsgräuel, einen satanischen Absturz in unergründliche Tiefen oder was es sonst noch an halb religiösen, halb literarischen Metaphern dieser Art gibt. Und hatten sie sich solcher Wortkomplexe nicht schon zwischen 1914 und 1918 nur bedient, weil das Oberste Heereskommando allen antivaterländisch gesinnten Parolen von vornherein mit strengen Zensurmaßnahmen entgegengetreten war, sondern auch weil sie sich nach wie vor um neuartig klingende sprachliche Ausdrucksformen bemühen wollten, in denen vor allem das Apokalyptische, Überweltliche, Herzerschütternde, Menschheitliche im Vordergrund stehen sollte? Um so begeisterter begrüßten sie daher auf ihre Weise die am 9. November 1918 ausbrechende Revolution, als plötzlich alle Zensurbeschränkungen wegfielen und sie sich endlich in aller Offenheit mit hochgespannten Worten zu einer radikalen Verwerfung der von ihnen als hinfällig empfundenen kriegerischen Auseinandersetzungen und gesellschaftlichen Restriktionen bekennen konnten. Wie andere revolutionsbereite Intellektuelle verdammten sie erst einmal die mörderischen Konsequenzen des bisherigen Freund-Feind-Denkens und traten für eine globale Friedensbereitschaft ein, die allen militärischen Zwistigkeiten ein Ende bereiten würde. Angesichts ihrer gesellschaftlichen Vereinzelung sahen sich allerdings viele ihrer Vertreter dabei gezwungen, sich wegen der unrevolutionär gestimmten breiten 120
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Abb. 12: Ludwig Meidner: Titelblatt (1919)
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Massen mit ins Utopistische übergehenden sprachlichen Gesten als selbsterwählte Führer oder zumindest Wegbereiter in eine neue Welt des Friedens und der geistigen Erneuerung aufzuwerfen, in der sich die Dichter vornehmlich bemühen sollten, dem noch unaufgeklärten Volk endlich zu einer höheren, ins wahrhaft Menschliche tendierenden Bewusstseinsstufe zu verhelfen. So heißt es etwa 1919 in Walter Hasenclevers Gedichtsammlung Umsturz und Aufbau: „Der Dichter träumt nicht mehr in blauen Buchten. / Sein Haupt erhebt sich, Völker zu begleiten. / Er wird ihr Führer sein. Er wird verkünden. / Die Flamme seines Wortes wird Musik. / Er wird den großen Bund der Staaten gründen. / Das Recht des Menschentums. Die Republik.“60 Ja, Gustav Landauer erklärte in seiner Ansprache an die Dichter zum gleichen Zeitpunkt: „Wir brauchen die Bereitschaft zur Erschütterung, wir brauchen Posaune des Gottesmannes Mose, die von Zeiten zu Zeiten das große Jubeljahr ausruft, wir brauchen den Frühling, den Wahnsinn und den Rausch und die Tollheit, wir brauchen – wieder und wieder und wieder – die Revolution, wir brauchen den Dichter.“61 Wenn sich daher die expressionistischen Autoren überhaupt einer der nach dem 9. November 1918 entstehenden Parteien, ideologischen Splittergruppen, Bünden oder Räten anschlossen, dann zumeist den Unabhängigen Sozialdemokraten, den Anarcho-Syndikalisten, der Antinationalen Sozialisten-Partei Deutschlands Franz Pfemferts, dem Rat geistiger Arbeiter Kurt Hillers, der Novembergruppe oder der Münchener Räterepublik Kurt Eisners, Gustav Landauers und Ernst Tollers, wo im Gegensatz zu den Arbeiter- und Soldatenräten eher das Geistige als das Proletarische dominierte. Ihre wichtigsten Sprachrohre sahen sie dementsprechend in als expressionistisch geltenden Zeitschriften und Anthologien wie Die Aktion, Die Erhebung, Feuer, Das Forum, Der Gegner, Die Gemeinschaft, Menschen, Neue Erde, Revolution. An alle und einen oder Das Tribunal,62 die sich dem als konterrevolutionär empfundenen Kurs der die Mehrheit der Arbeiterklasse repräsentierenden MSPD unter Friedrich Ebert entgegenstellten, sich für Wahlboykotte engagierten, sich betont „links“ gaben, sich zu Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg bekannten, sich mit wechselnden 122
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ideologischen Akzentsetzungen zu einer Gemeinschaft aller Menschen jenseits der bisherigen Klassenunterschiede einsetzten oder sich als wortbesessene Vertreter einer höheren Bewusstseinsstufe bezeichneten, kurz: welche die Sache einer revolutionär geläuterten „Menschheit“ vertreten wollten. Derselbe mal sozialistisch, mal kommunitaristisch, mal geistidealistisch, mal utopistisch ausgerichtete Tenor herrscht in den meisten der von ihnen 1919 publizierten spätexpressionistischen Gedichte, in denen es an auf einen gesellschaftlichen Umsturz drängenden Verbalkomposita wie „aufgepeitscht“, „aufschreitend“, „aufbäumend“, „letztentschlossend“, adverbialen Bestimmungen wie „empor“, „hoch“, „schrill“, „steil“ oder formelhaften Postulaten wie „Alarmsirenen“, „rotes Aufjauchzen“, „flammende Empörung“, „ekstatische Hocherfüllung“, „wachwerdende Menschheit“, „Messiashoffnungen“, „Schöpfungsakten“ und „erlösende Verheißung“ nur so wimmelt.63 Nicht minder wortgeballt geht es in vielen der ebenfalls ins Ungewisse wahrhaft „lebenserfüllter“ Paradiese vorstoßenden Revolutionsdramen und -romanen zwischen 1918 und 1920/21 zu. So ruft etwa der Protagonist in Georg Kaisers Drama Gas (1918) mit ins Prophetische gesteigerten Worten die für ihn arbeitenden Lohnsklaven gegen Ende auf, die Fabriken zu verlassen, sich wieder auf ihr ursprüngliches „Menschsein“ zu besinnen und sich jenseits der großen Städte als Bauern anzusiedeln. Und als dieser Plan am Widerstand der sich gegen einen Umsturz der bestehenden Verhältnisse sträubenden Arbeiter scheitert, will ihm wenigstens seine Tochter den „neuen Menschen“ gebären.64 Noch am sinnfälligsten wirkt in dieser Hinsicht Ernst Tollers Masse-Mensch. Ein Stück aus der sozialen Revolution des 20. Jahrhunderts (1919), wo eine wohlwollende bürgerliche Revolutionärin von einem namenlosen Vertreter der breiten Massen aufgefordert wird, auf ihre utopischen Menschheitsträume zu verzichten und sich für gewalttätige Aktionen zu entscheiden, sie jedoch vor dem „Moloch Masse“ zurückschreckt und schließlich von gegenrevolutionären Truppen ermordet wird. Ohne auf die Frage der in allen Revolutionen auftretenden Problematik einer unumgänglichen Gewaltanwendung einzugehen, herrscht dagegen in 123
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manchen expressionistischen Prosawerken dieser Jahre häufig ein die Realität der innenpolitischen Situation überspielender Zweckoptimismus vor. So siegt zwar in den „ekstatischen Visionen“ Potsdamer Platz oder die Nächte des neuen Messias (1919) von Curt Corrinth die Revolution am Schluss, aber es ist eine von einem verzückten Jüngling angeführte Revolution von Dirnen, welche mit ihren „marmorweißen“ Leibern die gegen sie aufmarschierenden Soldaten so bezirzen, dass diese ihre Waffen fallen lassen und mit ihnen „selige Jubelchöre“ anstimmen.65 Oder man denke an die damals als erschütternd und zugleich hoffnungsvoll empfundene wortüberladene Prosaskizze Sekunde durch Hirn (1920) von Melchior Vischer, wo hinter der zertrümmerten Fassade der bürgerlichen Kultur der Vorkriegsära am Schluss plötzlich das „Ursein“ der „großen Freiheit“ aufzuleuchten beginnt und es wie in vielen das neue „Jungsein der Menschheit“ beschwörenden Werke dieser Art heißt: „Aus dem Sonnenmondtag, an dem die Kultur mit dem schamlosen Bastard Zivilisation zusammenkracht, da will ich hinknien auf Meer Ebne Wüste, Hände in die reine weite Luft strecken, rufen wild stark groß: WIR SIND WIEDER JUNG!“66 Dass man mit solchen zu Umsturz und Auferstehung aufrufenden Proklamationen die unrevolutionär gestimmten breiten Massen, das heißt die als „Menschenbrüder“ angesprochenen Proletarier nicht erreichte, war vorherzusehen. Dazu blieben sowohl die von vielen Expressionisten verkündeten Idealvorstellungen einer Radikalumwälzung der bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse als auch ihre sprachliche Überhöhung ins Visionär-Utopistische viel zu irreal. Demzufolge wurden zwar ihre Werke zu Anfang von vielen bürgerlich-liberalen Kritikern, die darin vornehmlich einen neuen, modernistisch gesinnten Trend innerhalb der literarischen Entwicklung sahen, lebhaft begrüßt, aber von den besagten breiten Massen, die allein zu einer erfolgreich durchgeführten Revolution fähig gewesen wären, wegen ihrer ideologischen Unklarheit sowie ihrer verbalen Überspanntheit kaum oder überhaupt nicht wahrgenommen.67 Die Ersten, die das erkannten und dagegen höhnisch zu Felde zogen, waren deshalb nicht die vornehmlich literarisch interessierten Status-quo-Anhänger 124
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Abb.13: Eröffnung der ersten großen Dada-Ausstellung in Berlin am 5. Juni 1920
des Justemilieu, sondern jene in der unmittelbaren Nachkriegszeit in Berlin auftretenden Dadaisten, die mit radikaler Verve nicht nur den literarischen Expressionismus, sondern alle sogenannten höheren Kunstformen von vornherein als affirmativ und damit reaktionär verwarfen, um so die gesellschaftlichen Unterschichten nicht länger von ihren nur realpolitisch durchzusetzenden Zielen abzulenken. „Die Dussel“, schrieb Raoul Hausmann 1919 im Hinblick auf viele Expressionisten in der Zeitschrift Dada, „die unfähig sind, Politik zu treiben, wollten sich an den Proletarier heranmachen. Aber so doof, verzeihen Sie, ist der Proletarier nicht, daß er die unfruchtbare Toberei aus lauterer Hohlheit nicht merkte. Kunst ist ihm, was von Bürger 125
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kommt.“68 Doch mit ihren halb proletkultischen, halb hanebüchen-verulkenden Manifesten und Sprachalbereien stießen auch die Dadaisten angesichts der Übermacht der MSPD sowie der bürgerlich-liberalen Parteien, die sich um eine politische und sozioökonomische Stabilisierung der im Januar 1919 gegründeten Weimarer Republik bemühten, ebenso ins Leere wie die wesentlich größere Gruppe der Expressionisten. Deshalb war schon in den Jahren 1921/22 in der journalistischen Kritik, die sich dem von der sozialliberalen Koalition vorgegebenen Kurs weitgehend anschloss, um so eine mögliche „Bolschewisierung“ Deutschlands zu verhindern, wie es damals hieß, sowohl vom „Tod des Expressionismus“ als auch vom „Tod des Dadaismus“ die Rede. Und damit verschwand im literarischen Bereich nicht nur der geballte Wortschwall der expressionistischen Verwortung, sondern auch der schnoddrig-groteske Sprachstil der Dadaisten und machte jener pragmatisch eingestellten Nüchternheit Platz, für die sich schnell der Begriff „Neue Sachlichkeit“ einbürgerte. Doch war diese, sich von allen utopischen Vorgriffen auf eine grundsätzlich zu verändernde Gesellschaftsordnung verabschiedende Weltanschauung letztlich besser als die expressionistische Revolutionsgesinnung? Unterstützte sie nicht – trotz mancherlei nicht zu leugnender Wendungen ins Liberaldemokratische – zugleich eine Stärkung jener fordistisch orientierten Wirtschaftsform, in der es vor allem um eine hektische Kommerzialisierung in ökonomischer und massenkultureller Hinsicht ging und die 1929 zwangsläufig zu einem sozioökonomischen Zusammenbruch führte? Und wurde nicht damit das Kind wieder einmal mit dem Bade ausgeschüttet? So betrachtet, war der Expressionismus nicht nur ein Phänomen, welches sich lediglich in wahnhaften Wortballungen erschöpft hatte, sondern das in vielen seiner Manifeste und literarischen Werke auch einer wenn auch noch so irrationalen Hoffnungszuversicht gehuldigt hatte, sich für eine völlig andersgeartete Welt einzusetzen. Diese Doppelpoligkeit hängt weitgehend damit zusammen, weil der Expressionismus aufgrund der Jugendlichkeit der meisten seiner Vertreter auf die Novemberrevolution von 1918 ideologietheoretisch nicht vorbereitet war und deshalb auf sie zum größten Teil mit zwar umsturzbereiten, 126
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aber dichterisch ichbesessenen Verlautbarungen reagierte, mit welchem, wie gesagt, die unrevolutionär eingestellten breiten Massen, falls sie diese überhaupt wahrnahmen, nicht viel anfangen konnten. Angesichts dieser prekären Erkenntnisse haben es sich manche linken Theoretiker später nicht nehmen lassen, im Expressionismus wegen seiner von Georg Lukács gerügten irrationalen Seinsbetonung nicht nur eine mit anarchischen Tendenzen sympathisierende Richtung, wenn nicht gar eine Vorhut des Nazifaschismus zu sehen oder lediglich auf andere ideologische Überspanntheiten dieser Bewegung hinzuweisen, sondern auch ihre nicht zu übersehenden „rebellischen“ Impulse herauszustellen. So erklärte etwa Ernst Bloch, ein früherer Parteigänger des Expressionismus, bereits 1938 in der Zeitschrift Das Wort: „Seine Probleme bleiben solange denkwürdig, bis sie durch bessere Lösungen, als es die expressionistischen waren, aufgehoben sind.“69 Etwas gedämpfter, wenn auch ebenso abwägend äußerte sich später Silvia Schlenstedt über die „Selbstüberschätzung und Verkennung der eigentlichen geschichtsbildenden Kräfte“ innerhalb der expressionistischen Revolte, deren Dichter zwar die anmaßende „Führerrolle einer Elite der Geistigen“ für sich beansprucht hätten, die aber als „Märtyrer und Propheten“ zugleich ein „starkes Verantwortungsgefühl“ und einen Sinn für „politisches Engagement“ beseelt habe.70 Und auch Hans Mayer schrieb im Hinblick auf die damit verbundene innere Problematik des Expressionismus: „Alle Einwände mögen gelten. Trotzdem: welch ein Reichtum, welche Leidenschaft des Hasses und der Menschenfreundlichkeit.“71 Verwerfen wir daher im Rückblick auf die manifestartigen Erklärungen sowie die Literatur dieser Bewegung nicht nur ihre überspannten Wortballungen, so penetrant sie manchmal auch wirken, sondern nehmen wir zugleich den revolutionären Impuls wahr, der vielen ihrer Werke zugrunde liegt. Auch dass ihre Dichter, wie so viele Revolutionäre vor oder nach ihnen, scheiterten, sollte kein Argument gegen sie sein. Schließlich waren sie zumeist intellektuell Vereinzelte, die selbst in einer hoffnungslosen Situation nicht aufgegeben hatten, wenigstens durch die Vehemenz ihrer dichterischen Ausdrucksweise jene gesellschaftlichen Gegebenheiten in Frage 127
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zu stellen, in denen sich bereits im Laufe des Jahres 1919 eine Rückkehr zu den „geregelten“ Verhältnissen des Justemilieu anbahnte. Ja, manche unter ihnen, wie Johannes R. Becher, Ernst Bloch, Georg Kaiser, Erwin Piscator und Ernst Toller, ließen sogar später – wenn auch unter verschiedenen ideologischen Gesichtspunkten – nicht nach, sich trotz Gerichtsprozessen, Verhaftung und Exilierung mit gesellschaftsverändernder Absicht in die Politik einzugreifen. Das lässt sich zwar nicht allein auf ihre expressionistischen Anfänge zurückführen, hängt aber dennoch untergründig damit zusammen.
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Mastering two languages mit derselben poetischen Finesse. Der sich ins „Haus der Sprache“ zurückziehende Exildichter Felix Pollak I Solange es totalitäre Systeme mit herrschaftsbetonten Leitkulturen gab, hatten selbst unbotmäßige Künstler von vornherein einen schweren Stand. Sie wurden arretiert, der Inquisition unterworfen, vor Gerichte gestellt, ja sogar gefoltert oder hingerichtet. Dafür ließen sich in Deutschland seit dem Mittelalter bis zu den Bauernaufständen, den Religionskriegen zwischen 1618 und 1648, den jakobinisch gesinnten Radikalaufklärern des späten 18. Jahrhunderts, den Vormärzlern, den Achtundvierzigern und den Linken der Weimarer Republik genügend Einzelfälle anführen. Doch zu einem Massenphänomen wurde dieser unbarmherzige Druck gegen nichtkonforme Künstler erst in den Jahren nach 1933 und 1938, als die Nazifaschisten erst das Deutsche Reich und dann Österreich ihrem „völkisch“ verbrämten Ungeist unterwarfen. Wer danach in den Augen der neuen Machthaber als „kulturbolschewistisch“ oder „andersrassig“ galt, musste selbst als Künstler so schnell wie möglich versuchen, jenseits der deutschen Grenzen ein halbwegs gesichertes Unterkommen zu finden.1 Und das führte auf kulturellem Sektor zu einer Emigrationswelle, deren Ausmaße alle bisherigen Vertreibungen „unerwünschter“ Autoren, Komponisten, Maler sowie anderer Kulturschaffender bei weitem übertraf. Jetzt waren es keine Einzelnen oder kleinen Gruppen mehr, sondern Hunderte, wenn nicht gar Tausende, die sich der drohenden Verhaftung oder gar Einweisung in Konzentrationslager zu entziehen suchten. Noch am leichtesten hatten es danach die Filmschaffenden, ob nun Regisseure, Produzenten, Kameramänner, Cutter, Beleuchter und Tontechniker, denen wegen des hohen Ansehens, das die deutschen Filmstudios vor 1933 besaßen, zum 129
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größten Teil die Chance geboten wurde, zeitweilig oder für längere Zeit für ausländische Filmkonzerne arbeiten zu können. So stellten allein die Hollywood-Firmen etwa 800 Exilanten in der dortigen Filmindustrie ein. Ebenso günstig erwiesen sich die Exilbedingungen für viele deutsch-jüdische Komponisten, Dirigenten oder Konzertsolisten, die aufgrund der Internationalität der musikalischen Ausdrucksmittel sowie der in geradezu allen westlichen Ländern hochgeschätzten älteren deutschen Musik relativ schnell neue Wirkungsmöglichkeiten fanden. Dirigenten wie Otto Klemperer, Erich Leinsdorf, Wilhelm Steinberg und Bruno Walter machten daher in den USA schnell Karriere. Und auch Erich Korngold, der in Hollywood Filmmusiken komponierte, sowie Kurt Weill, der die New Yorker Broadway-Bühnen mit Musicals belieferte, erfreuten sich in den Vereinigten Staaten schon nach wenigen Jahren eines guten Rufs. Wesentlich schwieriger hatten es dagegen alle exilierten Kulturschaffenden, deren künstlerisches Ausdrucksmittel die deutsche Sprache war. Das gilt vor allem für die linken oder deutsch-jüdischen Schauspieler und Schauspielerinnen. Wo sollten sie, nachdem sie im Dritten Reich Auftrittsverbot erhalten hatten, ein neues Auskommen finden? Schließlich bildete selbst für die Bekannteren unter ihnen die Sprachbarriere meist eine unüberwindliche Schranke. Es gab zwar Ausnahmen wie Elisabeth Bergner, Marlene Dietrich und Peter Lorre, die auch im Exil zu vielfach umworbenen Stars aufstiegen. Hingegen fanden beispielsweise Albert Bassermann, Fritz Kortner und Helene Weigel im Ausland kaum noch Möglichkeiten, ihren Talenten entsprechende Anstellungen zu finden. Ähnlichen Problemen sahen sich die meisten linken, linksliberalen oder jüdischen Schriftsteller gegenüber. Noch am erträglichsten ging es jenen, die sich wie Lion Feuchtwanger, Emil Ludwig, Thomas Mann, Franz Werfel oder Stefan Zweig bereits in der Weimarer Republik einen Namen gemacht hatten und im Exil vornehmlich historische Romane oder Biographien berühmter Männer schrieben, da sich nur diese Genres als marktgängig erwiesen und unter den anderen aus Deutschland Vertriebenen nach wie vor ein aufnahmebereites Publikum fanden. Ihre Werke ließen sich daher sogar 130
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in Prag, Paris oder Amsterdam auf deutsch publizieren. Wesentlich schwerer hatten es dagegen die Dramatiker im Exil, selbst vorher vielgespielte wie Bertolt Brecht, Georg Kaiser, Ernst Toller oder Carl Zuckmayer, deren Stücke im Ausland fast nirgendwo nachgedruckt oder aufgeführt wurden. So viel zu den erfolgreichen Romanciers. Die meisten von ihnen konnten sich selbst nach dem Zusammenbruch des nazifaschistischen Regimes in ihren früheren Heimatländern, selbst wenn sie weiterhin im Exil blieben, einer kaum nachlassenden Berühmtheit erfreuen. Doch wie steht es eigentlich mit all jenen jüngeren Autoren, die sich vor 1933 oder 1938 noch keinen Namen gemacht hatten und sich aufgrund ihrer politischen Gesinnung oder ihrer jüdischen Herkunft ebenfalls gezwungen sahen, Deutschland oder Österreich so schnell wie möglich zu verlassen? Sie mussten sich, falls sie weiterhin Schriftsteller bleiben wollten, in jenen Gastländern, wo es keine deutschsprachigen Verlagshäuser gab, meist einer sich ihnen bis dahin unbekannten Fremdsprache bedienen, um überhaupt als Autoren wahrgenommen zu werden. Obendrein konnten viele von ihnen wegen ihrer mangelnden Bekanntheit nicht einfach nach 1945 in ihre angestammten Herkunftsländer zurückkehren, sondern mussten sich damit abfinden, in einer ihnen fremd gebliebenen Umwelt überhaupt ein vorläufiges Unterkommen gefunden zu haben. Als ein besonders aufschlussreiches Beispiel eines solchen Schicksals soll im Folgenden der Autor Felix Pollak herausgestellt werden, der 1938 nach seiner Flucht aus Wien in die USA entwich, aber weder ein Amerikaner wurde noch ein Wiener blieb, sondern sich als emigrierter Einzelgänger im „Haus zweier Sprachen“ anzusiedeln versuchte, das heißt seine Prosa weiterhin meist auf deutsch schrieb und seine Lyrik auf englisch verfasste, um wenigstens in seiner schriftstellerischen Arbeit einen halbwegs abgeschirmten Zufluchtsort vor allen Widrigkeiten des ihm durch die Nazifaschisten aufgezwungenen Exils zu finden.
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II Dabei hatte das Leben des kleinen Felix so vielversprechend begonnen.2 Als am 11. November 1909 geborener Sohn einer finanziell wohlsituierten jüdischen Familie in Wien konnte er dort eines der besten Gymnasien besuchen, durfte das Violinspiel auf einer echten Guarneri erlernen und nach der Matura neben seinem Jurastudium an den Theaterseminaren von Max Reinhardt teilnehmen, der ihm sogar erlaubte, 1937 eine Freilicht aufführung des shakespearschen Sommernachtstraums vor Schloss Kleßheim zu inszenieren. Ja, er hatte – beeinflusst von Karl Kraus – in den frühen dreißiger Jahren bereits angefangen, einige journalistische Marginalien und Mosaiksteinchen in der Wiener Neuen Freien Presse zu veröffentlichen.3 Die steigende Nazifizierung Österreichs nahm er anfangs nicht allzu ernst. Was ihm damals vorschwebte, war weder eine Ehebindung noch ein sogenannter Brotberuf, sondern ein ihm von seinem Vater ermöglichtes Leben als theater- und literaturinteressierter Freigeist, als Flaneur, als Bohemien, als genialischer Einzelgänger à la Peter Altenberg oder Alfred Polgar, den die Wogen des Lebens einfach ins Ungewisse weitertreiben würden. Doch dann geschah mit einem Mal etwas von ihm weitgehend Unerwartetes. Am 12. März 1938 marschierten die deutschen Truppen auf Geheiß Hitlers widerstandslos in Österreich ein und selbst für ihn, den unpolitischen Literaten, ging es als Juden plötzlich über Nacht um Leben oder Tod. Obwohl sein Pass sofort eingezogen wurde, gelang es ihm als Neunundzwanzigjährigen dennoch, über Frankreich nach England zu entfliehen. Da er dort kein Unterkommen fand, schiffte er sich Ende 1938 – nach Erhalt des nötigen Affadavits – in die USA ein und traf am 7. Dezember des gleichen Jahres mit zwei Dollar in der Tasche in New York ein. Während er sich in London trotz aller sprachlichen Schwierigkeiten noch als kulturbewusster Europäer gefühlt hatte, erschien ihm hier erst einmal alles fremd, ja geradezu abstoßend. In diesem Land, glaubte er, brachte man allem, was als „arty“ oder „European“ galt, überhaupt kein Interesse entgegen. In New York dominierte offenbar nur das, was Geld einbrachte, kurzum: was dem 132
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sogenannten „business“ dienlich war. Es verwunderte ihn daher nicht, als ihn einer der ersten Amerikaner, dessen Englisch er halbwegs verstand, unverblümt fragte: „And how much money is this Hitler making every month?“4 Pollak war daher froh, dass in den verschiedenen Jewish Agencies, die sich um die aus dem Nazireich vertriebenen Neuankömmlinge kümmerten und ihnen vorläufige Jobs vermittelten, zum Teil deutsch gesprochen wurde. Als man ihm dort eine Anstellung in Austin, Texas, anbot, erwiderte er – wegen seiner Unkenntnis der Geographie der Vereinigten Staaten – etwas beklommen, wo denn das sei, und man zeigte ihm auf der Landkarte, dass es sich bei dieser Stadt um einen Ort „dort unten“, im fernen Südwesten der USA handele. Empört über eine solche Zumutung, sich noch weiter von Europa entfernen zu sollen, erklärte er spontan: „Das ist mir zu weit weg.“ „Von wo, Herr Pollak?“, fragte ihn darauf einer der ironisch lächelnden Jobvermittler – und Pollak suchte lieber das Weite, ohne sich um eine sinnvolle Antwort auf eine so prekäre Frage zu bemühen.5 Stattdessen zog er es vor, sich lieber in New York, ob nun als Hausierer, Fabrikarbeiter oder Doughnutbäcker, „durchzubringen“, wie er später erklärte. Zugleich ging er – immer wieder von Fernwehgefühlen überwältigt – zwischendurch zum Hobokenkai, um eines der großen Schiffe zu betrachten, die dort bis zum Sommer 1939 mit Hunderten reiselustigen Touristen nach Old Europe in See stachen,7 das heißt auf Ozeanriesen, auf denen er selber – unter anderen Umständen – so gern das ungastliche Amerika verlassen hätte. Also gab er sich lediglich der Träumerei hin, dass man an einem besonders klaren Tag vielleicht am fernen Horizont die alte Heimat sehen könne. Da Pollak schließlich in New York keinen noch so kümmerlich bezahlten Job mehr finden konnte, schickte ihn das Jewish Refugee Committee nach Buffalo, wo er zu seiner großen Erleichterung eine Anstellung als Librarian an der dortigen Stadtbibliothek erhielt. Weil hier – im Gegensatz zu New York – fast niemand deutsch oder jiddisch sprach, verbesserte sich seine Kenntnis der englischen Sprache geradezu von Monat zu Monat. Ja, er vermochte sogar, an der dortigen Universität zu studieren und einen B. A. im Fach Bibliothekswissenschaft zu erwerben. Doch diese erste Eingewöhnung 133
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in Land und Leute sollte nicht lange währen, da im Dezember 1941 die USA durch den japanischen Überfall auf Pearl Harbor in den Zweiten Weltkrieg hineingezogen wurden, worauf Pollak ab 1943 Armeedienste leisten musste und die nächsten zweieinhalb Jahre als Wachposten und Übersetzer in verschiedenen Kriegsgefangenenlagern im Süden der Vereinigten Staaten eingesetzt wurde. Als der Krieg endlich vorüber war, konnte Pollak, der inzwischen US-Bürger geworden war, aufgrund der sogenannten G. I. Bill sein Studium an der University of Michigan in Ann Arbor fortsetzen, wo er binnen eines Jahres den Grad eines Magisters im Fach Library Science erhielt. Kurz darauf erhielt er einen Ruf als Curator of Rare Books an die Bibliothek der Northwestern University in Evanston, Illinois, die sich nordwestlich von Chicago am Michigansee befindet. Damit erhielt sein Leben – nach all den vorausgegangenen Wirren – zum ersten Mal eine sichere Existenzgrundlage. Doch das befriedigte ihn, der inzwischen fast das 40. Lebensjahr erreicht hatte, keineswegs. Im Gegenteil, er wollte letztlich kein Civil Servant, kein Beamter, kein Nine-to-Five-Mensch werden, sondern ein ungebundener Freigeist bleiben. Statt sich also mit der inzwischen eingetretenen beruflichen Absicherung zufrieden zu geben, fühlte er sich in allem plötzlich eingeengt: durch den wenig abwechslungsreichen Achtstundentag in der Bibliothek, die bürgerliche Konventionalität seiner Kollegen, die spießigen Kleinbürgervillen seiner Umgebung, den erforderlichen Small Talk mit den Nachbarn und auch durch ein inzwischen eingegangenes Liebesverhältnis, das schließlich am 23. Juni 1950 zu einer von ihm nie ins Auge gefassten Eheschließung führte. All das erschien ihm schon kurze Zeit nach seiner Anstellung so unaufregend, so philiströs, so zukunftslos, dass er, sofern sich ihm eine Möglichkeit geboten hätte, schnurstracks nach Wien zurückgekehrt wäre. Ja, er wagte diesen Schritt sogar, doch nur um dort sein Jurastudium abzuschließen und einen Doktor der Jurisprudenz zu erwerben, obwohl er damit keinerlei Berufsaussichten verband. Schließlich hätte ihm ein solcher Universitätsgrad in den USA ohnehin nichts genützt. Ja, war er nicht inzwischen ein Buchmensch geworden, den es – wie schon in seinen 134
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Abb. 14: Felix Pollak: Der Pudel will nicht im „Hotel Spitz“ wohnen (1955)
jungen Jahren – unwiderstehlich zu einem der Literatur gewidmeten Leben drängte? Deshalb bewarb er sich kurzentschlossen um ein relativ unbegrenztes Stipendium, das ihm ermöglicht hätte, in Wien ein Buch über seinen früheren Abgott Karl Kraus zu schreiben. Doch diese Bewerbung wurde von den zuständigen Stellen als irrelevant abgelehnt. Was nun? Pollak blieb weiterhin Bibliothekar und blieb auch weiterhin verheiratet, zog sich aber – nun schon perfekt zweisprachig – zusehends aus der äußeren Umwelt in jenes „Haus der Sprache“ zurück, in dem er bis zum Ende seines Lebens als Doppelgänger oder besser dichterisch versonnener Emigrant – welchem die Fremde nicht zur Heimat und die Heimat zur Fremde geworden war – auszuharren versuchte.
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III Kurzum: Pollak begann, sofern es ihm seine Bibliotheksarbeit und sein Ehestand erlaubten, in frustrierter, wenn auch selbstgewählter Einsamkeit wieder zu schreiben, und zwar Gedichte in englischer und Aphorismen in deutscher Sprache. Doch wo ließen sich solche mit höchstem Anspruch geschriebenen literarischen Kleinformen publizieren? Lebte er nicht in einem Land, das ihm, wie vielen europäischen Refugees, als völlig kulturlos erschien und daher für solche Texte überhaupt kein Verständnis aufbringen würde? Waren nicht die meisten bedeutsameren Lyriker der Vereinigten Staaten wie Thomas Stearns Eliot und Ezra Pound lieber als Expatriots nach Europa ausgewichen, wo man sie eher geschätzt hatte? Ja, hatte nicht in diesem Land ein Kritiker wie H. L. Mencken bereits in den späten zwanziger Jahren im Hinblick auf den in den USA herrschenden niveaulosen Bestsellerrummel erklärt: „No one ever went bankrupt in this country, underestimating the taste of the general public.“8 Deshalb begann sich Pollak in den fünfziger Jahren vor allem für jene amerikanischen Autoren und Autorinnen zu interessieren, die in den USA als zu „arty“, wenn nicht gar als „literary aliens“ galten und demzufolge ihre Werke weitgehend im Ausland veröffentlichen mussten. Und hierbei stieß er – unter anderem – auf Anaïs Nin, deren Romane wegen ihrer als pornographisch geltenden Direktheit zum Teil nur unterm Ladentisch verkauft werden konnten. Schon in den frühen fünfziger Jahren erwarb daher Pollak Teile ihrer Manuskripte für die Northwestern Library und begann zugleich einen diesbezüglichen Briefwechsel mit ihr, der im Laufe der Zeit immer persönlicher wurde und schließlich die Form einer selbst intime Bekenntnisse nicht ausschließenden Freundschaft annahm. Ja, Pollak lud Nin im Mai 1955 sogar zu einer Lesung aus ihren Werken nach Evanston ein, die sie – sich ebenfalls vereinsamt fühlend – nur allzu gern annahm. In seiner längeren, geradezu meisterlich verfassten Einführung stellte er sie den verdutzt, wenn nicht gar konsterniert blickenden Zuhörern und Zuhörerinnen als eine Autorin vor, „who spurns the dualism and dichotomies, 136
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in manichean antagonisms of flesh and spirit, love and sex, body and soul, pure emotions and impure emotions, and all the other dogmas of those who labor under the Puritan strain“. „She believes in Eros“, fuhr er fort, „which includes both sex and love inseparably welded together.“ Und Pollak stellte diese Haltung als ein spezifisch „European“ wirkendes Konzept hin, für das man in den USA noch immer kein Verständnis aufbringe,9 weshalb die „thoroughly commercialized practices of book publishing, book reviewing, book selling, and the standardized tastes of the reading public“ in den Vereinigten Staaten mit Anaïs Nins Büchern nicht viel anfangen könnten.10 Der Beifall nach seiner Einführung und ihrer Lesung fiel dementsprechend recht dünn aus. Hingegen wurde der Ton jener Briefe, die Pollak und Nin danach wechselten, ständig vertraulicher und annäherungsbedürftiger. Und zwar stimmten sie, wie erwartet, vor allem in drei Dingen rückhaltslos überein: in ihrer Abneigung gegen alle philiströs verklemmten Moralvorstellungen, ihrer Sympathie für das, was ihnen als alteuropäisch erschien, sowie ihrer Verachtung für das in den USA herrschende Verlagswesen. Besonders in Fragen der Erotik nahmen beide kein Blatt vor den Mund. So teilte ihm Nin mit, dass sie bereits seit vielen Jahren mit zwei Männern liiert sei, im Winter in New York mit Hugo Guiler und im Sommer in Kalifornien mit Rupert Pole, während ihr Pollak ebenso aufrichtig mitteilte, wie frustriert er sich durch sein mit 40 Jahren eingegangenes monogames Verhältnis zu seiner Frau Sara fühle, die zudem noch einen dreizehnjährigen Sohn in die Ehe eingebracht habe, was ihn obendrein zu einer ihm unvertrauten Vaterrolle zwinge. Sobald dagegen beide auf ihre vor 1939 in Europa verbrachten Jahre – sie in Paris und er in Wien – zu sprechen kamen, hellte sich der Ton ihrer Briefe sofort auf. „We remain emotionally bound to our roots“, schrieb ihm Nin erinnerungssüchtig, „and our adopted countries or families will never take the place of the original ones.“11 „I still get illuminated by the fire and richness of life in Paris,“ wie es in einem anderen ihrer Briefe heißt.12 Und auch Pollak beteuerte ihr immer wieder, dass er „hopelessly European“ sei 137
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und weiterhin halbwegs „adolescent, immoral and irresponsible“ von einem Leben in Wien träume, und zwar am liebsten „near a good bordello, with just enough money to live without going to work, meet people to talk and play chess with, and feel free to prowl the streets and pick up strange women for wonderfully fulfilled life-filled, mystery-filled encounters“.13 In den Vereinigten Staaten herrsche dagegen, wie er schrieb, trotz aller Bekenntnisse zum „individualism“ im Berufs- und Geschlechtsverkehr lediglich eine lähmende „conformity“. „Oh, if I could fly to Europe instead“, schließt demzufolge eine seiner Lamentationen über den eintönigen Funktionalismus in sämtlichen amerikanischen Lebensbereichen, den man mit heuchlerischer Miene als den alle Menschen beglückenden „American Dream“ ausgebe. Kein Wunder daher, dass sowohl Nin als auch Pollak für das Verlagswesen der Vereinigten Staaten in ihren Briefen eine höhnische Missbilligung an den Tag legten. Ja, sie bezogen ihre Selbstachtung vor allem daraus, einzelgängerische, den älteren Idealen der Boheme anhängende „non-commercial writers“ zu sein.14 Im Gegensatz zu Europa, wo das Ökonomische auf diesem Gebiet nicht so stark im Vordergrund stehe, wie sie behaupteten, gebe im amerikanischen Verlagswesen nur der Verkaufswert der jeweils herausgebrachten Bücher den entscheidenden Ausschlag. „No writer with any inner richness can be liked in America“, heißt es bei Nin einmal apodiktisch, „they have chosen to live as an aggluminated mass, blind, deaf and dumb to individual growth.“15 Konsequenterweise schrieben demzufolge viele der hiesigen Autoren nur das, was als „good reading for the millions“ gelte.16 Nin verband solche Äußerungen zu diesem Zeitpunkt meist mit ihren vergeblichen Bemühungen, einen verständnisvollen Verleger für ihren gerade fertig gestellten Roman Seduction of the Minotaur zu finden, während Pollak ihr schrieb, dass sich niemand für seine 700 auf deutsch geschriebenen Aphorismen interessiere, obwohl er viele davon schon ins Englische übersetzt habe. Und auch für seine auf Englisch geschriebenen Gedichte könne er keinen Verleger finden, weshalb er sich entschlossen habe, einzelne von ihnen jenen „Little Magazines“ anzubieten, die ihm als die geeignetste Form einer massenverachtenden „Underground Literature“ erschienen, in 138
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denen auch nonkonformistischen Autoren die Chance geboten würde, sich dichterisch zu äußern. Nach einigen Anläufen in dieser Richtung, fand er es geradezu „utterly incredulous“, dass einige seiner Gedichte, „that don’t cater to the millions“,17 die seitdem in den besagten Magazines erschienen waren, sogar aufmerksame Leser, darunter Robert Frost, Henry Miller, Carl Sandburg, Wallace Stevens sowie den ihm besonders sympathischen William Carlos Williams, gefunden hätten, der ihn 1957 im Arizona Quarterly als eine bedeutsame literarische Neuentdeckung öffentlich gelobt habe. Und das beflügelte Pollak schließlich, sich trotz seiner untergründig weiter bestehenden Fernwehgefühle mit seiner Berufssituation und Ehebindung abzufinden und seine Englischkenntnis so weit zu vervollkommnen, dass es ihm gelingen würde, sich in der von ihm als allein maßgeblich angesehenen „Underground Press“ der „Little Magazines“ als Lyriker durchzusetzen und angesehen zu werden. Eine sich als günstig erweisende Chance wurde ihm dafür geboten, als er 1959 als bibliophiler Kenner der Weltliteratur und Spezialist der amerikanischen „Little Magazines“ als Curator of Rare Books an die Memorial Library der University of Wisconsin in Madison berufen wurde, die einen wesentlich bedeutenderen Ruf als die Bibliothek in Evanston besaß und bereits eine von Marvin Sukov begonnene stattliche Sammlung derartiger „Magazines“ besaß, die Pollak im Laufe seiner dortigen Tätigkeit auf 30 000 Exemplare erweiterte. Doch nicht nur das. In Madison geriet er zum ersten Mal in einen Kreis verständnisvoller deutsch- und englischsprechender Kollegen und Literaten, konnte öffentliche Poetry Readings halten und Beziehungen zu lokalen „Little Magazine“-Verlegern anknüpfen, die gern bereit waren, seine frühen Gedichte in ihre Publikationen aufzunehmen. Demzufolge ließ er seine umfangreiche deutschsprachige Aphorismensammlung, die ihn wegen ihrer vielen linguistischen Doppeldeutigkeiten, versteckten Anspielungen und idiomatischen Wendungen kaum übersetzbar erschien, erst einmal liegen und feilte lieber so lange an seinen auf englisch geschriebenen Gedichten herum, bis er sie für druckfertig hielt. Nachdem zahlreiche dieser Gedichte in von Pollak hochgeschätzten „Little Magazines“ wie The Smith, Poetry 139
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Northwest, Shenandoah, Epoch, Elizabeth, Northeast und Massachusetts Review erschienen waren, brachte er sie schließlich auch in vier, zum Teil in mehreren Auflagen publizierten Sammelbänden unter den Titeln The Castle and the Flaw (1963), Say When (1969), Ginkgo (1973) und Subject to Change (1978) heraus, wodurch sich der Kreis seiner lyrikbegeisterten Afficionados ständig erweiterte. Wie nicht anders zu erwarten, lag den meisten dieser Gedichte die gleiche Gefühlslage zugrunde, die Pollak bereits in seinen frühen Briefen an Anaïs Nin auszudrücken versuchte. So wie er dort von seinem ihn ständig heimsuchenden „longing to go to Europe“ gesprochen hatte,18 beschwor er in ihnen, wie in seinem Gedicht What it always comes down to, weiterhin den gleichen „hunger / from being elsewhere / from where“.19 Und auch die Sehnsucht nach all dem Ungelebten, Unerfüllten, Unerreichbaren, die sich schon dort findet, ist in diesen Gedichten immer wieder spürbar – ob nun nach einem reicheren Liebesleben, wie überhaupt nach einem erlebniserfüllteren Dasein, das nicht im Zeichen ständiger Hemmungen und Frustrierungen stehen würde. Lediglich in manchen ins Utopische überhöhten Traumbildern schimmert dabei zuweilen noch die Hoffnung auf, sein Leben nicht nur als arbeitssamer amerikanischer Librarian zu verbringen, sondern zugleich ein europäischer Bohemien zu bleiben, wenn auch dieses Verlangen ständig durch die Einsicht abgedämpft wird, ein in fremden Verhältnissen lebender Emigrant zu sein, den die Weltläufe gezwungen hätten, sich mit einer vereinsamten Ichexistenz abzufinden. Was daher in diesen Gedichten als Grundstimmung überwiegt, ist weithin eine unerfüllbare Sehnsucht nach dem Unmöglichen jenseits aller langsam verblassenden Horizonte einer vormals erhofften Daseinsfülle. Aus ihnen spricht ein Ich, das sich zusehends auf sich selbst zurückgeworfen sieht, da ihm die Heimat, wie gesagt, zur Fremde und die Fremde nicht zur Heimat geworden sei, wie es in Anlehnung an seinen ebenfalls exilierten Leidensgenossen Alfred Polgar immer wieder heißt.
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IV Als ich Pollak Mitte der sechziger Jahre in Madison kennenlernte, konnte ich anfangs mit derartigen Gedichten nicht viel anfangen. Ich hatte zwar 1958 als Achtundzwanzigjähriger mein Heimatland – wenn auch aus anderen politischen Gründen – ebenfalls verlassen müssen, wovon ich später in meinem Buch Zuhause und anderswo. Erfahrungen im Kalten Krieg (2001) Zeugnis ablegte, fühlte mich jedoch in den USA nicht im Exil, sondern blieb durch meine auf deutsch geschriebenen Publikationen, mehrere Gastsemester und zahlreiche Vortragsreisen den beiden damals existierenden deutschen Staaten – teils kritisch, teils liebevoll – weiterhin zutiefst verbunden. Was mich dennoch an Pollak sofort beeindruckte, war nicht nur seine verständnisvolle Menschlichkeit, sondern auch seine weltliterarische Belesenheit und sprachliche Virtuosität. Noch immer an einer perfekten Zweisprachigkeit zweifelnd und mich selbst in einem unbeholfenen „Pidgin English“ ausdrückend, war ich erst einmal verblüfft, mit welcher Meisterschaft Pollak sowohl das Deutsche als auch das Englische beherrschte. Und wir fanden auch schnell Gesprächsthemen, die uns beide interessierten, woraus sich eine bis zu seinem Tode andauernde Freundschaft entwickelte. Wie gesagt, seine rein ichbezogenen Gedichte blieben mir anfangs fremd. Und auch seine Vorliebe für die von ihm hochgeschätzten „Little Magazines“, deren „spirit“ er 1962 im Arizona Quarterly als „a stubborn refusal to conform to conventions and mores“, ja, als „a fervid antagonism against fetters and trammels and chains and strings of any kind, resistance against the theory and practice of censorship and taboo“ bezeichnet hatte, erschien mir allzu elitär oder zumindest abwegig.20 Doch von dieser Sicht ließ sich Pollak nicht abbringen. Im Gegensatz zu der amerikanischen Maxime „Bigger is better“ sowie der daraus selbst im Verlagswesen der USA vorherrschenden Massenbezogenheit sah er in ihnen jene „artistic and ideological manifestos“, deren Herausgeber sich nach wie vor weigerten, ins Philisterhafte auszuweichen.21 Dementsprechend setzte Pollak – unter Berufung auf T. S. Eliot, Robert Frost, H. L. Mencken und William Carlos Williams – damals 141
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„littleness“ noch höchst selbstbewusst mit „aesthetic elitism“ gleich und sah in dieser Einstellung eine sich von den Weltanschauungen der breiten Massen distanzierende Haltung, die er als die einzige Form einer literarischen Selbstbewahrung empfand.22 Dass selbst Pollak im Laufe der späten sechziger Jahre Zweifel an einer derart radikalen Ichbezogenheit bekam, hing weitgehend mit den auch in Madison in diesem Zeitraum stattfindenden Protestaktionen gegen den Vietnamkrieg zusammen, die ihn zwar nicht veranlassten, sich rückhaltslos den Parolen der „New Left Movement“ anzuschließen,23 aber ihn dennoch bewegten, sich in Gedichten wie Speaking: The Hero, Scruples in El Salvador sowie The Junta Issues Guidelines on Torture erstmals gegen die amerikanische Außenpolitik zu wenden. Ja, sein Gedicht Speaking: The Hero trug er sogar – mit einem Bullhorn bewaffnet – bei mehreren studentischen Protestveranstaltungen vor. Und es erfüllte ihn durchaus mit Genugtuung, dass dieses Gedicht sogar in sieben Sprachen, darunter Russisch und Japanisch, übersetzt und abgedruckt wurde. Allerdings vermied er bei solchen Auftritten – aufgrund seiner nie verleugneten liberalistischen Außenseiterposition – jeden Hinweis auf irgendwelche realpolitischen Alternativvorstellungen, weshalb er mir sein Büchlein über die „Little Magazines“ zwar in „alter und neuer Verbundenheit“ widmete, aber dabei zugleich die „vielfach unterschiedliche Sicht“ unserer politischen Anschauungen betonte. Nachdem er sich viele Jahre unter der Dunstwolke des Kalten Kriegs auf sein eigenes Ich zurückgezogen hatte, empfand er alles Linksorientierte weiterhin als totalitaristisch und befürwortete daher wie Herbert Marcuse lediglich eine Randgruppenstrategie, die jede massenbezogene Weltanschauung von vornherein als „illiberal“ ablehnte. Er wollte sich als Einzelner empören und sich nicht in irgendwelche revoltierenden Marschkolonnen einreihen. Die gleiche Haltung bezog Pollak im Hinblick auf die durch die Hippie Movement und die New Left in Gang gekommene Enttabuisierung aller in den USA herrschenden moralischen Zwangsvorstellungen, die er als unpuritanisch eingestellter „Europäer“ schon vorher als lächerlich empfunden hatte. Allerdings schloss er sich auch in dieser Hinsicht nicht einfach dem 142
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damals aufkommenden Trend an, ständig mit schockierender Absicht Worte wie „cock“, „cunt“ oder „fuck“ zu gebrauchen, um sich als ungehemmter Rocker aufzuspielen, sondern versuchte diese „night words“, wie er sie nannte, vor der allgemeinen Vulgarisierung zu retten. Dafür spricht sein 1970 veröffentlichter Essay Pornography. A Trip Around a Halfworld, in dem er für den Schutz jener geheiligen „taboo words“ in die Schranken trat, die eine wichtige Rolle im Seelenhaushalt aller einzelpersönlich empfindenden Menschen spielten und die man nicht leichtfertig profanieren solle.25 Statt solche Wörter wie die landläufigen „Ehekrüppel“ schamhaft zu vermeiden oder sie wie Ed Sanders in seinem Journal Fuck you ins helle Tageslicht einer total entzauberten Welt zu ziehen,26 würde es sich empfehlen, wie er beteuerte, sie lieber nur dann zu stammeln, wenn zwei spontan entzückte Menschen den Zustand der höchsten Ektase erreicht hätten. Ansonsten würden sie auf das entwürdigende Niveau jenes abgebrühten Soldaten herabsinken, der einmal gegen Ende des Zweiten Weltkriegs während seiner Armeedienstzeit in einer kleinen Stadt, wie er mir erzählte, zu ihm gesagt habe: „You can’t get a decent fuck in this fucking town.“ Obwohl also Pollak nach wie vor für eine erotische Freizügigkeit jenseits aller staatlichen und religiösen Bevormundungen eintrat, vermied er daher in seiner Lyrik alle derartigen Wörter. Was er nach wie vor unter sexueller Entzückung verstand, war weder die ins Massenhafte zielende Hippieparole „Make Love, Not War“ noch das krude Sexgehabe mancher damaligen Rockgruppen, sondern jene Erotikvorstellung, wie sie sich bei seinem Idol Karl Kraus oder jenem von ihm ebenso verehrten Wiener Bohemien Peter Altenberg finde, der für die höchst sensible Anziehungskraft zwischen zwei Menschen gern den Begriff „Flugerl“ verwendet habe, um damit auf höchst impressionable Weise das Zärtlich-Aufflammende, aber zugleich Flüchtige in den jeweiligen Liebesbeziehungen auszudrücken. Und Pollak bemühte sich 1969 in einem seiner Lyrikbändchen, dem er den anspielungsreichen Titel Say When gab, dieses nicht zu unterdrückende und sich doch nur selten erfüllbare erotische Verlangen mit seiner inzwischen geläufigen poetischen Finesse so vielversprechend wie möglich, aber zugleich mit einer ins 143
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Unerreichbare entrückten Melancholie in bittersüß klingende Worte zu fassen. Dementsprechend heißt es in einem der kurz darauf geschriebenen Gedichte Of Love: „O the unbridgeable / one-way distances!“ Ja, im gleichen Gedicht finden sich – im Gegensatz zu aller hippieartigen Naivität – die im Hinblick auf sexuelle Erfüllung an „blackness“ kaum zu überbietenden Zeilen: „Hurts like hell und doesn’t / turn into poetry either.“27
V Daher gaben selbst die ideologischen Hoffnungen, die damals viele Anhänger der New Left Movement oder Sexual Revolution bewegten, Pollak keinen wirklichen Auftrieb. Er blieb, was er war: Ein weiterhin unangepasster Emigrant, der sich trotz seiner allmählich steigenden Anerkennung als „a poet’s poet“ nach wie vor menschlich und beruflich fehl am Platze fühlte. Was ihn fernerhin bedrückte, war die Einsicht, dass sich sein Wunschbild „Wien“ in immer weitere Fernen verlor und in ihm eher schmerzliche als nostalgisch-beglückende Empfindungen auslöste. „Though my / roots are / cut off“, heißt es dementsprechend in seiner 1973 herauskommenden Gedichtsammlung Ginkgo, „here, they / hurt like / an old / scar when / it rains.“28 Hätte er in den fünfziger Jahren nicht doch nach dorthin zurückkehren sollen, fragte er sich jetzt immer wieder, statt sich in den USA beruflich und eheverpflichtet „einzuordnen“, wie er das nannte. Und er gab sich in seinem Gedicht I Got Myself Trapped, das erstmals 1978 in seinem Lyrikbändchen Subject to Change erschien, die ernüchternde Antwort: „It was easy, / I took one right step / after another.“29 Nun schon in seinen späten Sechzigern und das Lebensende vorhersehend, zog sich deshalb Pollak zusehends in das von ihm ständig beschworene „Haus der Sprache“ zurück, feilte weiter an seinen Gedichten, übersetzte Texte von Robert Musil, Rainer Maria Rilke und Frank Wedekind ins Englische, traf sich immer häufiger mit mir sowie meinen deutschsprachigen Kollegen und gab sich dabei nach außen hin möglichst umgänglich und gelassen, obwohl er innerlich einer fortschreitenden Resignation verfiel. Und 144
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zwar spielte er dabei im sprachlichen Umgang häufig den witzig-raunzenden Wiener, gebrauchte als Füllworte gern „eh“ und „halt“, versuchte fast jedem seiner Sätze eine ins Bonmotartige oder Aphoristische tendierende Wendung à la Karl Kraus oder Peter Altenberg zu geben und betonte uns politisch weiterhin hoffnungsvoll gestimmten „Reichsdeutschen“ gegenüber, dass er als Österreicher – in habsburgischer Tradition – die allgemeine Lage zwar „hoffnungslos, aber nicht ernst“ empfinde. In Gesprächen mit ihm ging es dabei meist um die uns alle in die USA Verschlagenen interessierenden Themen, ob nun den Nazifaschismus, das Los der aus Deutschland und Österreich Vertriebenen sowie jene kulturelle Entfremdung, die sich danach bei vielen Exilierten in den Vereinigten Staaten eingestellt habe. Und bei einem dieser „Luncheon Meetings“ drückte mir Pollak ein kürzeres, auf deutsch geschriebenes Manuskript in die Hand, das mich sicher ansprechen würde, obwohl es sich dabei um eine noch unreife, im Sommer 1939 in New York geschriebene „Juvenalia“ handele, wie er ironisch lächelnd erklärte. Ich las es noch am gleichen Nachmittag. Besonders die ausführliche Hafenszene bewegte mich sehr. Schließlich hatte er damals – angesichts der sich nach Europa einschiffenden Queen Mary – geschrieben: „Ja, sie sticht in See, aber es sticht auch ins Herz. Plötzlich spürst du es, plötzlich bricht das Gefühl aus, das dich schon die ganze Zeit über dumpf erregt und beunruhigt hat, das Gefühl, dieses Schiff hier fährt nach Hause, nach Europa (Cherbourg – Paris – Semmering – Wien!), dorthin, wo du hingehörst und du stehst hier am Ufer, in der Fremde, siehst es wegfahren und kannst nicht mit! Und etwas würgt dich in der Kehle, doch mit ‚Heimweh‘ ist das nicht zu erklären, Heimlosigkeitsweh, das ist es schon eher …“30 Ich rief darum Pollak noch am gleichen Abend an und sagte ihm, dass ich dieses Manuskript wegen seiner Authentizität für ein besonders beeindruckendes Exildokument halte und es am liebsten sofort in einer westdeutschen Zeitschrift unterbringen möchte. Und er stimmte diesem Vorschlag zwar zögernd, aber innerlich sicher beglückt zu. Daher schickte ich diesen Text umgehend an Hans Bender, einen der zwei Herausgeber der damals 145
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in der BRD als bedeutsam geltenden Zeitschrift Akzente, der es auch sofort annahm und es 1979 im Juniheft dieser Zeitschrift herausbrachte.31 Was kurz danach geschah, werde ich nie vergessen. Als die Sonderdrucke dieses Hefts in Madison eintrafen, rief mich Pollak sofort an, traf sich wenige Stunden später mit mir, umarmte mich begeistert und erklärte, sich zum ersten Mal in seinem Leben als ein wahrer Autor zu fühlen. Auf meinen Einwand, doch in den USA bereits als ein angesehener Lyriker zu gelten, erwiderte er lediglich schroff, dass ihm das gar nichts bedeute. In Deutschland, im „Land der Kultur“, gedruckt zu werden, beteuerte er, erst das mache ihn zu einem vollgültigen Schriftsteller. In den Vereinigten Staaten, unter all diesen „Barbaren“ anerkannt zu sein, sei doch für einen Europäer lediglich ein Kinderspiel. Hier brauche man nur ein paar gute Gedichte zu schreiben, sagte er mit hyperbolischer Anmaßung, und schon rissen die wenigen Menschen, die dafür überhaupt ein Interesse aufbrächten, sofort Mund und Nase auf. Und ich ließ Pollak bei diesem Glauben. Schließlich wurde er im Laufe der siebziger Jahre – wegen einer sich langsam einstellenden Erblindung – in seinen Äußerungen immer reizbarer, ja manchmal geradezu erratisch. Während ihm die selbstgewählte Einsamkeit – angesichts der Banalität seiner Umwelt – bisher als eine willkommene Fluchtmöglichkeit erschienen war, empfand er sie jetzt, wo er immer weniger sehen konnte, als eine logische Konsequenz seines Emigrantendaseins, das sich als unabänderlich erwiesen habe. Um jedoch nicht völlig im Dunkel einer solchen Existenz zu versinken, ließ er sich wenigstens von einigen meiner deutschstämmigen Doktoranden die jeweiligen bundesrepublikanischen und österreichischen literarischen Neuerscheinungen vorlesen. Doch sprachlich feinfühlig, wie er nun einmal war, mokierte er sich anschließend meist über deren reichsdeutsche Intonation. Ich war daher froh, als ich ihm endlich einen geborenen Österreicher vermitteln konnte. Doch schon nach der ersten „Vorlesung“ dieses Studenten war er wiederum nicht zufrieden. „Er ist halt ein Grazer“, erklärte er mir mit säuerlich verzogener Miene.
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Ich selbst hatte damals die Aufgabe übernommen, für die hundertbändige in New York erscheinende German Library die bereits existierenden Meisterübersetzungen der Lyrik Heinrich Heines zusammenzustellen. Eine solche Auswahl erschien mir – angesichts der zahlreichen Translations seiner Gedichte – nicht besonders zeitraubend zu sein. Doch nach einer genaueren Durchsicht dieser meist viktorianischen Elaborate sah ich ein, dass es sich dabei weitgehend um unironische, ja, ins Versüßlichte tendierende Übertragungen handelte, also man diese Gedichte neu übersetzen müsse. Und wer wäre dafür besser geeignet, dachte ich, als Pollak, der sich mit meinem Kollegen Reinhold Grimm damals gerade auf höchst sensible Weise mit Übersetzungsproblemen befasste.32 Ich war daher bass erstaunt, dass er diesen Vorschlag als jüdischer Lyriker so kurz angebunden wie nur möglich ablehnte. „Rilke und Wedekind, ja“, erklärte er mir, „aber nicht Heine!“, den schon Karl Kraus 1910 in seiner Schrift Heine und die Folgen als einen ständig ins Journalistische abgleitenden „Verhunzer der deutschen Sprache“ bezeichnet habe. Doch ich ließ nicht locker und las ihm einige von Heines späten Gedichten vor, die ihn – nach Überwindung seines anfänglichen Unwillens – wegen der in ihnen ausgedrückten Stimmung einer vereinsamten Emigrantenexistenz in der Pariser Matratzengruft zutiefst beeindruckten. Daher ließ er sich dann doch in ihren Bannkreis ziehen, worauf ich ihm bei unseren regelmäßigen „Luncheon Meetings“ jeweils ein Heine-Gedicht mehrfach vorlas, er es memorierte und dann eine Woche später die fertige meisterliche Übersetzung mitbrachte. Was ihm besonders gelang, waren – neben der von ihm erstmals unübertrefflich übersetzten Loreley – vor allem ins Englische übertragene Fassungen von halb erotisch anmutenden, halb schwermütigen Gedichten wie Das Hohe Lied, Die Lotosblume, Als ich euch meine Schmerzen geklagt, Wie langsam kriechet sie dahin, Der Abgekühlte, Rückschau und Die Welt ist dumm. Und schließlich waren es 13 solcher Übertragungen, die dann die Höhepunkte der von mir getroffenen Auswahl für die German Library bildeten.33 Seine eigenen Gedichte, die Pollak im gleichen Zeitraum als „Abgesang“ eines Erblindenden verfasste, erschienen 1984 in einem Sammelband mit 147
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dem Titel Tunnel Visions,34 den er mir mit den Worten widmete: „Von Felix, der es vorgezogen hätte, keine Ursache zu haben, diese Gedichte zu schreiben.“ In ihnen erscheint das einst so bittersüß geliebte Wien nur noch als eine ins Dunkel verschwindende Traumvision. Aus dieser Stadt musste ich fliehen, heißt es an einer Stelle, dadurch wurde ich ein „Alien“ und „I have remained so all these years“.35 Von irgendwelchen andersgearteten Hoffnungen war jetzt nirgends mehr die Rede. Stattdessen lesen wir hier: „There are no visions / inside a black bag“ oder ebenso düster: „Absence / makes the heart grow / absent.“36 Nicht einmal der Rückgriff auf die Bibel ermöglicht dem hinter diesen Zeilen stehenden Ich irgendwelche tröstende Lichtblicke. Daher schließt dieser Band mit dem erschütternden dreistrophigen Gedicht Reading the Bible in Braille: „And God said / Let there be light! / And there was darkness. // And God said / Lift thine eyes unto me! / And there was darkness. // And God said / I cannot help thee.“37 Dennoch war Pollak zutiefst beglückt, dass der auf ihn aufmerksam gewordene Hans Magnus Enzensberger einige dieser Gedichte ins Deutsche übersetzte und sie in der Zeitschrift Neue Rundschau abdrucken ließ. Ja, Pollak raffte sich danach noch einmal auf und fasste die Mehrzahl seiner Gedichte in einem Sammelband unter dem Titel Benefits of Doubt zusammen.38 Als er mir zum gleichen Zeitpunkt von einer möglichen, wahrscheinlich letzten Reise nach Europa erzählte, bat ich umgehend einige meiner dort mit mir befreundeten Germanisten, ihn unbedingt zu Poetry Readings einzuladen, was Jochen Vogt in Essen, Helmut Kreuzer in Siegen und Günter Oesterle in Gießen dann auch taten. Und alle, die zu diesen Readings kamen, die letztlich gar keine Vorlesungen waren, sondern wo sie sich einem Erblindeten gegenüber sahen, der seine Gedichte mit nach innen gekehrten Augen auswendig vortrug, zutiefst beeindruckte. Ja, in Gießen war eine zufällig im Saal anwesende Lektorin des S. Fischer Verlags anschließend so bewegt, dass sie ihm versprach, sich dafür einzusetzen, seine dort vorgetragenen Gedichte mit den jeweils dazugehörenden Übersetzungen ins Deutsche als Buch herauszubringen.
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Abb. 15: Felix Pollak (1983)
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Pollak kam daher von dieser Reise mit einem Vertrauen in sich selbst zurück, das er vorher schon fast aufgegeben hatte. Doch dieser Aufschwung sollte sich als eine kurzlebige Euphorie erweisen. Die in ihm lauernde Leukämie war inzwischen schon so übermächtig geworden, dass man ihn im November 1987 ins Krankenhaus bringen musste, wo er am 19. des gleichen Monats – noch die Korrekturbögen seines Buchs Benefits of Doubt in den Händen haltend, obwohl er sie nicht mehr lesen konnte – verstarb. Da ich erst einige Tage nach seinem Tod – von einer Deutschlandreise zurückkehrend – in Madison eintraf, konnte ich an seiner Bestattung nicht mehr teilnehmen. Und zwar hatte er angeordnet, dass man ihn verbrennen und danach seine Asche in alle vier Winde streuen solle, damit sie sich mit der Asche von Auschwitz vereinigen würde, wie mir seine Frau Sara kurze Zeit später erzählte. Und so war er letztlich weder in Wien noch in Madison gestorben, sondern hatte die Heimatlosigkeit und den Tod der vielen europäischen Juden als seinen letzten „Ort“, ja, als die Ultima ratio seines gesamten Lebens erkannt.39
VI Das Buch Benefits of Doubt, dem Pollak das von Gottfried Benn entlehnte Motto „Art is the opposite of well-meant“ vorangestellt hatte, kam 1988 bei einem der von ihm so hochgeschätzten Kleinverlage, der Spoon River Poetry Press in Peoria, Illinois, heraus, der es als ein „carefully crafted result of a life devoted to the art of poetry“ anpries. Zugleich wies der Verlag auf der hinteren Umschlagseite dieses Bands auf all jene Kritiker hin, die Pollak bereits vorher in Choice, dem Small Press Review, dem Library Journal, der Partisan Review und dem American Book Review als einen „poet’s poet“, „who relishes and revels in the English language“, ja, als einen „major American writer“ herausgestrichen hatten, den man noch in „ten or twenty years“ mit Genuss lesen werde. Dass Pollak in erster Linie unter seinem reduzierten Emigrantendasein gelitten hatte, wurde dagegen von diesen Kritikern entweder gar nicht erkannt oder bewusst übersehen. 150
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Die durch den S. Fischer-Band, der 1989 unter dem Titel Vom Nutzen des Zweifels herauskam, in Westdeutschland einsetzende Wirkung Pollaks hatte dagegen eine völlig andere Note. Schon dass den englischsprachigen Texten auf der linken Seite dieses Buchs stets auf der rechten Seite die von Pollak selbst vorgenommenen Übersetzungen ins Deutsche sowie einige Übertragungen von Hans Magnus Enzensberger, Reinhold Grimm und Klaus Reichert gegenüber standen, machte die dortigen Leser sofort auf den Exilcharakter dieser Gedichte aufmerksam, die sich weder ausschließlich in die amerikanische noch in die deutsche Literatur einordnen ließen. Einer, der das sofort erkannte, war der 1979 aus der DDR in die westdeutsche Bundesrepublik emigrierte Günter Kunert, der dieses Buch am 25. August 1989 im Wochenblatt Die Zeit in einer längeren Besprechung als einen der „gegenwärtig wesentlichsten Gedichtbände auf dem Buchjahrmarkt der Eitelkeiten“ pries. Er strich nicht nur heraus, dass Pollak „wie kein Zweiter die fremde Sprache in sich aufgenommen habe, um sich in ihr zu bewegen als sei sie die ihm ursprüngliche“, sondern der zugleich ein „Zeuge all jener ungeheuerlichen Verluste“ sei, der seine Leser ständig an die Massen jener Vertriebenen, Verschwundenen und Ermordeten erinnern wollte, denen er in seinen Gedichten ein „unüberhörbares Memento mori“ aufgerichtet habe. Und auch andere westdeutsche Kritiker, darunter Walter Hinck in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung sowie Michael Santak in der Frankfurter Rundschau, gingen in ihren Würdigungen dieses Bands unter Titeln wie Das fremde Wort als Heimat. Felix Pollak meistert in seinen Gedichten ein zweifaches Exil oder Posthume Rückkehr. Die Gedichte des Exilautors Felix Pollak sowohl auf die poetische Könnerschaft als auch auf jene durch die erzwungene Emigration bewirkte Vereinsamung Pollaks ein, die ihn immer wieder bewogen habe, das polgarsche Motto zu zitieren: „The foreign land has not become home, but home a foreign land“.40 Ja, Reinhold Grimm versuchte dieser nach Pollaks Tod einsetzenden Wirkung noch einen weiteren Auftrieb zu geben, indem er 1991 mit Hilfe von Pollaks Frau Sara auch dessen umfangreiche, weitgehend auf Deutsch geschriebene Aphorismensammlung bei einem Wiener Verlag herausbrachte. 151
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Aber dieser Band löste bei weitem nicht so viele kritische Reflexionen aus wie der zwei Jahre zuvor erschienene Band Vom Nutzen des Zweifels. Schließlich erinnerten diese bereits in den fünfziger Jahren verfassten Spruchweisheiten noch allzu sehr an die Aphorismen von Karl Kraus sowie die um 1900 beliebten „Splitter“ von Peter Altenberg41 und bezogen sich noch nicht auf jene allmählich immer stärker werdende vereinsamte Emigrantenstimmung, welche seinen späteren Gedichten jene kaum auslotbare Tiefe gibt, die auf jeden Gleichgestimmten bis heute erschütternd oder zumindest bewegend wirkt. Zugegeben, auch in ihnen finden sich viele philosophische und psychologische Weisheiten sowie interessant formulierte kakanische Spracheigentümlichkeiten, aber letztlich versucht sich in ihnen ein Aphoristiker auszudrücken, der aufgrund seiner Jugendlichkeit manchmal noch allzu verspielt wirkt, ja sogar zu einem nicht verleugneten Machismo neigt. Was daher von Pollaks vielfältigen Schreibversuchen bedeutsam bleibt, ist weniger seine nur selten unterdrückte Neigung zum Exhibitionistischen, die er mit vielen Menschen teilt, als sein unbeirrbares Bestreben, selbst in einem ihm fremd bleibenden Land, selbst im Bemühen um eine ihm vorher nicht geläufige Sprache, selbst in der Einsamkeit einer amerikanischen Provinzstadt wie Madison, Wisconsin, kurzum: selbst auf „verlorenem Posten“ ein deutsch und zugleich englisch schreibender Poet zu werden und zu bleiben, der sich in diesen ihm aufgezwungenen Verhältnissen dennoch, trotz alledem, ein Höchstes an sprachlichen und dichterischen Leistungen abzuringen versuchte. Und das macht ihn zu einem einmaligen Fall unter den schon in jungen Jahren von den Nazifaschisten aus ihrem Heimatland vertriebenen deutschen und österreichischen Exildichtern.
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Total Assault Against Daddy’s World. Der SceneJargon der jugendlichen Poprebellen der siebziger Jahre I Fast alle rebellischen Bewegungen, die sich gegen die Missstände innerhalb bestimmter Gesellschaftsformationen aufzulehnen versuchten, bedienten sich dabei nicht nur widersetzlicher Ideen, sondern drückten diese zumeist auch in einer gegen die in dieser Gesellschaft herrschenden sprachlichen Gepflogenheiten verstoßenden Diktion aus. Vor allem im deutschen Sprachbereich, wo man seit alters her irgendwelchen Fremdwörtern oder Neologismen nur wenig Widerstand entgegengesetzt hatte, lassen sich solche Vorgänge besonders leicht verfolgen. Das beweisen schon die sich aus scholastischer Schwerverständlichkeit zu einer größeren Geistesklarheit durchringende Sprache der deutschen Aufklärer des 18. Jahrhunderts, der gegen die weimarsche „Kunstperiode“ und das altdeutsche Innerlichkeitspathos der Romantik frondierende liberalistische Espritton der Jungdeutschen, die im Berliner Dialekt ausgedrückte gesellschaftliche Aufmüpfigkeit Adolf Glaßbrenners, der mit seiner Bevorzugung soziolektischer Sprachsorten gegen den wilhelminischen Hofton zu Felde ziehende Naturalismus sowie die explosionsartigen Wortballungen, mit denen die Expressionisten ihrer revolutionären Gesinnung die nötige Intensität zu geben versuchten. Doch halten wir uns nicht beim längst Vergangenen auf. Gab es denn danach keine sprachlichen Wandlungsprozesse mehr, mit denen avantgardistisch eingestellte Bewegungen ihre rebellische Andersartigkeit herauszustreichen versuchten? Dass der Nazifaschismus nicht dazu gehörte, geht schon aus seinem regressiven Bemühen um eine verstärkte „Muttersprachlichkeit“ hervor, in dem sich eher ein zähes Beharren auf dem Traditionsbewussten als ein revolutionärer Umsturz der bestehenden sozioökonomischen 153
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und kulturellen Verhältnisse manifestiert. Adjektive wie „avantgardistisch“, „utopisch“ oder „demokratisch“ tauchen daher in seinen ideologischen Proklamationen nie auf.1 Man hätte darum erwartet, dass nach dem totalen Kollaps des Dritten Reichs im Mai 1945, wie schon nach dem Zusammenbruch des Zweiten Kaiserreichs im November 1918, wiederum ein dem Expressionismus vergleichbarer revolutionärer Wortschwall ausgebrochen wäre. Doch nichts dergleichen geschah.2 Was diesmal eintrat, war nicht der nach wilden ideologischen Richtungskämpfen erreichte Aufbruch in eine sozialliberale Republik, sondern ein lähmender Besatzungszustand, in dem allein die vier Siegermächte das Sagen hatten, die alle mit ihrer Politik nicht übereinstimmenden Ansichten von vornherein zu unterdrücken suchten. Gut, die Resterscheinungen des Nazifaschismus wurden anfangs konsequent beseitigt. Und das betraf nicht nur die Hauptverantwortlichen sowie die vielen Mitläufer dieses Regimes, sondern auch die von ihnen zuvor favorisierte Sprachgebung. Im Hinblick auf den im Dritten Reich bevorzugten Wortschatz nahm man dabei vor allem die zwischen 1933 und 1945 als „völkisch“ ausgegebene Muttersprachlichkeit sowie den unbarmherzigen Jargon der „Ausmerzung“ alles Andersrassigen aufs Korn. Dafür sprechen, um wenigsten zwei Beispiele zu erwähnen, Bücher wie LTI (Lingua Tertii Imperium). Sprache des Dritten Reichs (1947) von Victor Klemperer und die von Dolf Sternberger, Gerhard Storz und Wilhelm Emanuel Süskind verfassten Beiträge Aus dem Wörterbuch des Unmenschen, die zum gleichen Zeitpunkt in der Monatsschrift Die Wandlung erschienen. Doch irgendwelche gegenläufigen, das heißt avantgardistischen Sprachbemühungen blieben in diesen Jahren aufgrund der mangelnden politischen Bewegungsfreiheit selbst innerhalb der sich zum „Kulturbund zur demokratischen Erneuerung Deutschlands“ bekennenden Intellektuellenschichten noch aus. Was daher in den auf politische Umbesinnung drängenden Kreisen sprachlich vorherrschte, war weniger eine aufrührerische als eine humanistisch gereinigte Sprachgebung, die sich vornehmlich auf goethezeitliche Vorbilder stützte. So rief etwa ein Historiker wie Friedrich Meineke schon 1947 zur Gründung sogenannter Goethe-Gemeinden auf, 154
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die sich um die Wiederbelebung der Sprache der Weimarer Klassik bemühen sollten.3 Ihren Höhepunkt erlebten derartige Bestrebungen dann im Herbst 1949, als im Restterritorium des ehemaligen Dritten Reichs allerorten Feiern zum 200. Geburtstag Goethes stattfanden, bei denen man sich um die Tilgung einer von allen nazifaschistischen Restelementen gereinigten Sprachgebung bemühte. Und daran änderte sich auch in den fünfziger Jahren, ob nun in der im Herbst 1949 gegründeten BRD und der unmittelbar danach entstandenen DDR, nicht viel. Obwohl sich beide Staaten in die durch den Kalten Krieg zwischen den USA und der UdSSR vorgegebenen ideologischen Parameter, das heißt hie kapitalistisch, hie sozialistisch, einordneten, wirkte sich das anfangs auf die offizielle Sprachgebung kaum aus. Selbst die in der frühen BRD vorübergehend aufflackernde Halbstarken-Bewegung als auch die Proteste gegen die Wiederbewaffnung und die von Konrad Adenauer geforderte atomare Ausrüstung der Bundeswehr blieben weitgehend deutschsprachlich, ja, flauten nach dem 1959 von der SPD verkündeten Godesberger Programm, das nicht nur die Wiederbewaffnung, sondern auch die soziale Marktwirtschaft befürwortete, wieder schnell ab. Was sich stattdessen in der BRD ideologisch durchsetzte, war jene Wirtschaftswunder-Gesinnung, die sich gern auf die Maxime „Wir sind wieder wer!“ berief und demzufolge im Alltagsumgang auf sprachliche Anleihen aus dem Wortschatz der Westmächte noch weitgehend verzichtete. Auch in der frühen DDR kam es aufgrund der Parole „Sozialistisch im Inhalt, national in der Form“ kaum zu Entlehnungen aus dem Vokabular der sowjetischen „Brudernation“. Was hier – neben der Sprache der marxistischen Klassiker – weithin tonangebend blieb, war die von Anfang an bevorzugte Sprache der Weimarer Klassik. Ja, Walter Ulbricht erklärte als Erster Staatssekretär sogar mehrfach, dass der in der DDR angestrebte Sozialismus letztlich eine in die gesellschaftliche Praxis übertragene Verwirklichung des goethezeitlichen Humanismus sei. Er bediente sich daher in seinen parteiamtlichen Proklamationen – trotz seiner im Moskauer Exil
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angeeigneten Russischkenntnisse – fast nie irgendwelcher Entlehnungen aus dieser der DDR-Bevölkerung weitgehend unverständlichen Sprache.
II So viel – dem Duktus einleitender Bemerkungen entsprechend etwas pauschalisierend formuliert – zur sprachgeschichtlichen Situation der Nachkriegszeit und der fünfziger Jahre, in denen sowohl der Einfluss des Amerikanischen als auch des Russischen auf die Sprachgebung der meisten Deutschen noch eine relativ unbedeutende Rolle spielte und eher das Beharren auf dem älteren deutschen Sprachgebrauch dominierend blieb. Gewisse Änderungen in dieser Hinsicht – wenn auch nur in der BRD – traten erst in den frühen sechziger Jahren ein. Doch auch sie blieben vorerst eher randständig – und das trotz der Zunahme jener kritischen Stimmen, die sich zusehends gegen die autoritären Formen des Adenauer-Regimes der „einsamen Entschlüsse“ wandten und im Sinne der von Willy Brandt ausgegebenen Parole „Mehr Demokratie wagen“ für eine verstärkte Mitbestimmung der unteren Bevölkerungsschichten eintraten. Dass diese Forderungen von der Mehrheit der westdeutschen Bevölkerung zu Anfang kaum wahrgenommen wurden, hängt zum Teil damit zusammen, weil sich die Mehrheit der linksliberalen Intellektuellen, darunter Wolfgang Abendroth, Jürgen Habermas, Alexander Mitscherlich, Georg Picht sowie die meisten Mitglieder der „Gruppe 47“ in ihren mit derartigen Parolen übereinstimmenden Proklamationen weitgehend jener seit der deutschen Aufklärung üblichen theoretischen Überhöhungen bediente, wodurch ihre Schriften zwar unter den akademisch Gebildeten das nötige Aufsehen erregten, aber die sogenannten breiten Massen kaum erreichten. Das änderte sich erst, als es in der BRD , wo bisher in ökonomischer Hinsicht ein ungebrochener Wohlstandsoptimismus geherrscht hatte, im Jahr 1966 plötzlich zu einer tiefgehenden Wirtschaftskrise kam, die auf politischer Ebene zu einem dramatisch verlaufenden Stimmungsumschwung führte. Angesichts dieser Situation entschloss sich die CDU/CSU mit der 156
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SPD zu einer Großen Koalition zusammen, um überhaupt noch Herr der Lage zu bleiben, ja, verabschiedete sogar eine Reihe von Notstandsgesetzen, um so einem Ausbruch anarchischer Zustände vorzubeugen. Ebenso drastisch verliefen die Gegenreaktionen auf derartige Maßnahmen. Im rechten Lager kam es zur Gründung der Nationaldemokratischen Partei Deutschlands (NPD), im linken zur Gründung der Deutschen Kommunistischen Partei (DKP). Doch nicht nur das. Die sich von all diesen Parteien nicht repräsentiert Fühlenden bekannten sich geradezu über Nacht zu einer Außerparlamentarischen Opposition, kurz APO genannt, die das gesamte gesellschaftliche System durch Straßendemonstrationen, Flugblätter und Wandinschriften in Frage zu stellen versuchte.4 Die ideologische Orientierung der als APO bezeichneten Gruppen war dabei so vielfältig, dass man kaum von einer einheitlichen Bewegung sprechen kann. Neben marxistischen Anschauungen gab es hier zugleich Tendenzen ins Anarchistisch-Chaotische, Kommunitaristische oder auch Popkulturelle, die sich entweder untereinander bekriegten oder auch teilweise ineinander übergingen, so dass sich im Hinblick auf ihre politischen Zielsetzungen jede pauschalisierende Vereinheitlichung von vornherein verbieten sollte. Auch das Bemühen, das Ganze schlechthin als die Achtundsechziger-Bewegung hinzustellen, bleibt letztlich recht vage. Dazu war das weltanschauliche Spektrum der sich damals als „widersetzlich“ verstehenden Gruppen, Roten Zellen oder Kommunen einfach zu breit. Und zwar lässt sich das nicht nur an ihren manifestartigen Erklärungen, sondern auch an der in ihnen herrschenden Sprachgebung ablesen, um die es im Folgenden vornehmlich gehen soll. In den Schriften und Wandsprüchen der spezifisch linksorientierten Gruppen dominierte damals weiterhin jener Wortschatz, der sich schon bei den kritisch gesinnten Liberalen der frühen sechziger Jahre findet – allerdings zusehends mit hegelianischen oder marxistischen Begriffen wie „Aufhebung“, „Verdinglichung“ oder „Entfremdung“ durchsetzt, mit denen sich diese Gruppen zu einem innerdeutschen Widerstand gegen die Auswüchse der sogenannten spätkapitalistischen Wirtschaftsordnung der BRD 157
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zu bekennen versuchten. Dem setzten sie zumeist ein auf „Wirkungen in der Praxis“ bedachtes proletarisches Klassenbewusstsein entgegen, das sich zwar politisch höchst radikal gab, aber sprachlich so hochgestochen blieb, dass sie die von ihnen ins Auge gefassten gesellschaftlichen Unterschichten, welche sich bereits im Zustand einer halbwegs saturierten Verkleinbürgerlichung befanden, weitgehend verfehlten. Und so erwiesen sich diese teils marxistisch, teils maoistisch orientierten Gruppen schließlich als eine zwar in theoretischer Hinsicht bedeutsame Avantgarde, lösten sich aber – trotz der von ihnen angeregten „Werkkreise zur Literatur der Arbeitswelt“ sowie von der DKP unterstützten Publikationen wie Kürbiskern oder tendenzen – im Laufe der späten siebziger Jahre wieder auf. Nicht viel anders erging es in der BRD jener studentischen Protestbewegung, die sich als die Achtundsechziger-Bewegung verstand.5 Sie griff zwar ideologisch wesentlich breiter aus und setzte sich neben marxistischen Forderungen auch für linksbürgerliche Zielsetzungen, ob nun pazifistischer, antiautoritärer, medienkritischer oder feministischer Art, ein. Doch auch sie blieb letztlich – gesamtgesellschaftlich gesehen – ein Randphänomen, da sie sich vornehmlich gegen den „Muff von tausend Jahren unter den Talaren“ ihrer Professoren wandte, das heißt sich als universitäres Phänomen verstand und zugleich einem sprachlichen Habitus huldigte, der für die Mehrheit der westdeutschen Bevölkerung ebenso unverständlich blieb wie der marxistische Jargon der Roten Zellen innerhalb der Geisteswissenschaften. Als daher die auf „Ruhe und Ordnung“ drängende SPD-Regierung all diesen linken oder linksliberalen Gruppenbildungen in den frühen siebziger Jahren mit einer Reihe von Radikalenerlassen und Berufsverboten entgegentrat und zugleich die mörderischen Attacken der Roten Armee Fraktion, kurz RAF genannt, innerhalb breiter Bevölkerungsschichten heftige Affekte gegen alles „Linke“ auslösten, flauten auch die Aktivitäten der sogenannten Achtundsechziger wieder erheblich ab.
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III So bedenkenswert das ideologische Fazit all dieser Protestbewegungen auch war, im Hinblick auf einen sprachlichen Wandel, um den es in diesem Aufsatz in erster Linie gehen soll, bewirkten sie kaum etwas. Fast alle ihre Schriften und Wandsprüche bewegten sich weitgehend, wie gesagt, im Rahmen jenes linksliberalen oder auch marxistischen Vokabulars, dessen sich schon ähnlich geartete Gruppen in den frühen sechziger Jahren vor ihnen bedient hatten und das bereits damals wegen seiner hohen Intellektualisierung politisch oder zumindest kulturell unwirksam geblieben war. Um breitere Gesellschaftsschichten zu einer wie auch immer gearteteten Umsturzgesinnung zu animieren, dazu bedurfte es einer wesentlich populäreren Sprachgebung als jener, welche die meisten Vertreter der Roten Zellen oder anderer Organisationen innerhalb der Achtundsechziger-Bewegung wegen ihrer radikalen Begrifflichkeit als spezifisch „rebellisch“ empfunden hatten. Eine völlig neue, andersgeartete, sich ebenfalls als „protestlerisch“ ausgebende Sprache, um endlich zum zentralen Anliegen dieses Aufsatzes zu kommen, entwickelte sich dagegen im gleichen Zeitraum im Bereich jener Poprebellion, die sich weder politische noch sozioökonomische Ziele setzte, sondern so vulgär und daher so effektiv wie nur möglich eine verstärkte Selbstrealisierung und damit größere Lebenslust erwecken wollte. Ihre Befürworter waren weniger Studenten als von den Segnungen des westdeutschen Wirtschaftswunders affizierte Teens und Twens im außeruniversitären Bereich, welche die in den sechziger Jahren in Gang gekommene linksliberale Protestbewegung eher als eine ins Narzisstische tendierende Steigerung ihrer persönlichen Lustempfindungen auslegten, als damit irgendwelche politisch motivierten Reformbemühungen ins Auge zu fassen. Ihnen ging es fast ausschließlich um die Entfesselung ihres eigenen Ichbewusstseins, das heißt um eine subjektive Selbstrealisierung im Rahmen jener mittelständischen Wohlstandsgesinnung, die sich endlich aller noch aus der spartypischen Gesinnung der Nachkriegsära stammenden, jedoch inzwischen als überfällig empfundenen, sie lediglich einengenden 159
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Moralkonventionen entledigen wollten. Und zwar bedienten sie sich dabei nicht jener „abgehobenen“ Begriffe, welche die theorieüberfrachteten Traktate der Roten Zellen oder studentischen Achtundsechziger so „kopflastig“ gemacht hatten, sondern griffen sprachlich unter dem Motto „Geil dich rein!“ lieber zu allem, was sie als unmittelbar luststeigernd empfanden. Und dazu gehörten vor allem die kaufanreizenden Slogans der marktwirtschaftlichen Werbetexter, die Lyrics der angloamerikanischen Rockmusik, die Night Words der Pornoindustrie, die bisher im hochsprachlichen Bereich verpönten Fäkalwörter sowie die Underground-Vokabeln der amerikanischen Beatnik-Szene, kurzum: all das, worin sie einen Affront gegen die gesellschaftlichen Allüren ihrer noch immer in altbürgerlichen Anschauungen befangenen Eltern sahen, deren Sprache ihnen als hoffnungslos veraltet, ja, geradezu „archaisch“ erschien.6 Zugegeben, auch viele der studentischen Achtundsechziger hatten mit antiautoritären Gefühlen gegen die Welt ihrer ehemals nazifaschistisch gesinnten Eltern und Professoren aufgemuckt. Aber das war zumeist im Zuge einer innerdeutschen „Vergangenheitsbewältigung“ geschehen. Eine derartige, ins Politische eingreifende Haltung interessierte jedoch die jugendlichen Poprebellen um 1970 kaum noch. Sie sahen – unter Berufung auf die damals aufkommende amerikanische Parole „Don’t trust anyone over thirty“ – in allen Oldies lediglich Gruftis, Ich-Leichen, Klemmchauvis, Schlaffis, müde Typen oder Zombies, die sie als Youngsters, das heißt Noch-nicht-Zombies, für hoffnungslos „uncool“ hielten. Als aufmüpfig gesinnte Spontis hatten sie endlich „Null Bock“ auf das „Gesülze jener Alten“, welche lediglich danach strebten, innerhalb der nach festen Regeln ablaufenden Geschäftswelt möglichst viel Kohle zu „bunkern“. Worum es also den Dropouts, Freaks, Poppers, Prolos, Punks und Rollers innerhalb dieser Bewegung vor allem ging, war ein „Total Assault Against Daddy’s World“, in der lediglich eine auf erotischem Frust gegründete Geschäftigkeit und daher eine „funlose Zombie-Scheiße“ herrsche.7
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Abb. 16: Ali und Hexe am Kottbusser Platz in Westberlin (1983)
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Ja, selbst die inzwischen einige Jahre älter gewordenen Achtundsechziger erschienen vielen dieser Popisten bereits als „APO-Opas“, deren orthodoxe „Trockendiskussionsabende“ sie von Anfang an als „lustabtötendes Gelaber“ empfunden hatten. Überhaupt lehnten sie es ab, sich für irgendwelche programmatischen Forderungen zu engagieren oder sich sogar parteipolitisch einzuordnen. Dafür sprechen vor allem Wandkritzeleien wie „Kannst du nicht mal Basic quatschen?“, „Das Polit-Gelaber ist doch alles kalte Asche“, „High sein, frei sein, bloß in keiner Partei sein“, „Ich bin nicht rechts, ich bin nicht links, ich bin untendurch“, „Politik macht krank – wir machen Punk!“ oder „Wir haben keine Ahnung, was wir wollen, aber das mit ganzer Kraft!“, um nur ja nicht den Eindruck zu erwecken, „abgefuckte Politmacker“ oder Mitglieder irgendwelcher Roten Zellen zu sein. Statt sich mit anderen zu verbünden oder gar solidarisch zu erklären, wollten sie in erster Linie ichbezogene Subjekte sein. Für sie gab es demzufolge, wenn man ihren Wandsprüchen glauben soll, erst einmal nur das eigene Selbst – und dann erst den Rest der Welt. In ihrem Wortschatz wimmelte es deshalb ständig von Wörtern und Ausdrücken wie sich zu „autonomisieren“, sich „ultrahigh fühlen“, einen „Kick“ auf alles haben, was „affengeil“ macht, was „dich antörnt“, was „echt in“ und „hot thrillt“, was „positive Vibrations“ auslöst, was dir „Wow-Gefühle“ verleiht, was dich zu „Äktchen anpowert“, kurzum: was dich „happy und wahnsinnig easy stimmt‘“, um nur ja keiner jener „straighten Typen“ zu werden, die sich irgendwelchen gesellschaftlichen Zwängen unterwerfen. Und das lief konsequenterweise meist auf jene Gesinnung hinaus, die sich in ideologischer Eindeutigkeit kaum überbieten lässt, nämlich „Ich liebe mich“, „Ich wäre gern anders, ich wäre gern ich“, „Jedem das seine – mir das meiste“ oder „We are made for each other: you love me, and I love me, too.“ Als Negativvokabeln dieser Revolte gegen die Welt der altersschwachen Gruftis tauchten dabei meist Wörter wie „abgetörnt“, „ausgepowert“, „sexless“ oder schlichtweg „downst“ auf, mit denen sie den Zustand jener Mumien über Dreißig charakterisierte, die keinen Bock auf eine ins „HighSein“ gesteigerte Lebenslust mehr hätten. 162
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IV So viel erst einmal – wiederum etwas verkürzt – zu dem Wortschatz des „angetörnten“ Ichbewusstseins jener Teens und Twens der frühen siebziger Jahre, die sich als die maßgeblichen Vertreter einer wahrhaft neuen Lebensgesinnung aufzuspielen versuchten, in der es keine einengenden Zwänge mehr geben würde, sondern jeder nur noch sein eigenes Auslebeverlangen im Auge hat. Das klang auf Anhieb wie ein universal gemeinter Umschwung in allen Daseinsbereichen, lief aber letztlich als subjektbezogener Jugendlichkeitskult von vornherein auf vier von dieser Bevölkerungsschicht als zentral empfundene gesellschaftliche Umfelder hinaus: 1. den Affekt gegen die konventionellen Verhaltensweisen der Oldies innerhalb des herrschenden Establishments, 2. die radikale Verwerfung aller von den Gruftis aufgestellten Normen im Schulwesen, an den Universitäten und in dem darauf folgenden als „Arbeitsmühle“ empfundenen Berufsleben, 3. die Auflehnung gegen monogame Ehevorstellungen und die sich daraus ergebenden sexuellen Frustrierungen sowie 4. das höhnische Gelächter über all das anspruchsvolle E-Kultur-Gehabe jener sich als die Gralshüter des klassischen Erbes aufspielenden Repräsentanten innerhalb der Bildungsbourgeoisie, die immer noch nicht gemerkt hätten, dass sich auf der „Cultural Scene“, vor allem im Bereich der Musik, längst ein Paradigmenwechsel ins Leichteingängige, triebhaft Luststeigernde, wenn nicht gar „Affengeile“ vollzogen habe. Zu Punkt 1: Den Affekt gegen die Welt der „Alten“. Wie bereits ausgeführt sahen die meisten Vertreter dieser Poprevolte in allen „Ollen“ über Dreißig vornehmlich Gruftis, Mumien oder Zombies, das heißt angepasste Systemgläubige, frustrierte Middle-Class-Typen oder abgefuckte Philister, bei denen „nichts mehr läuft“, die sich nicht „bekiffen“, die tagsüber ständig „busy“ sind, die abends zwei bis drei Stunden „stumpfsinnig fernsehen“, statt in eine Disko zu gehen oder „herumzuvögeln“, mit anderen Worten: die als „trottelhafte Leisetreter“ völlig „zubetoniert“ sind, die keinen Sinn für „alternative Lebensformen“ aufbringen und ihre durch die gesellschaftlichen Normen aufgezwungenen Frustrierungen bereits so weit verinnerlicht 163
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haben, dass sie gar nicht mehr merken, worauf sie als „kopflastige Blödies“ in ihrem Leben an möglichen Lustmöglichkeiten verzichtet haben. Zu Punkt 2: Die grundsätzliche Verwerfung aller von dieser Schicht aufgestellten Normen im schulischen und universitären Erziehungswesen sowie den darauf folgenden Arbeitsverhältnissen. Unter dem Motto „Keine Macht für niemand“ dominierte auch in diesem Bereich stets das Antiautoritäre. So sahen etwa die Teenager innerhalb dieser Poprevolte in den von den systemkonformen „Oldies“ eingerichteten Schulen lediglich „Streberkasernen“ oder „Zuchtanstalten“, bezeichneten die jeweiligen Direktoren als „Big Brothers“, empfanden die Klassenarbeiten als „Idiotentests“, erklärten: „Nach der Penne bin ich jedesmal frustriert“ oder „Lieber eine 5 als gar keine persönliche Note“, wehrten sich gegen bestimmte „Homework“-Verpflichtungen und machten sich gern über jene bildungsbeflissenen Schüler lustig, die sich als „schleimige Profis“ auszuzeichnen versuchten. Ähnliche Sprüche kursierten damals unter jenen erstsemestrigen Studenten, die sich in ihrer Verweigerungshaltung durch die von Herbert Marcuse ausgegebene Parole des „Great Refusal“ bestätigt fühlten. Wie die Poprebellen unter den Schülern der höheren Lehranstalten protestierten damals auch viele Vertreter dieser Schicht gegen jeden als übermäßig empfundenen „Leistungsdruck“ und bekannten sich lieber mit Sprüchen wie „Was möcht der Student? Studieren die niederen Triebe der höheren Töchter“ zu einer von allen Examensängsten befreiten Lustmoral, um nur ja keine systemimmanenten „Zombies“ zu werden. Zu „büffeln“, „Seminarpaper“ zu schreiben oder sich tagelang auf Prüfungen vorzubereiten, erschien diesen Studenten – angesichts der vielen weit aufstehenden Cafés und Diskos – geradezu widersinnig, wenn nicht gar „hirnrissig“. Sie wollten sich ständig „antörnen“, sich „ausleben“, sich „selbstrealisieren“, das heißt keine philiströsen Streber, sondern erlebnishungrige Chaoten, Freaks, Punks oder Spontis sein. Manche Angehörige dieser Gruppen verließen daher kurzentschlossen die angeblich „heil’gen Hallen“ der Universitäten, schmierten vor ihrem Abgang noch Sprüche wie „Sei schlau, bleib dumm“ oder „Wo gestern noch der Goethe stand, pennt heute Dieter Kunzelmann“ an die 164
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Abb. 17: Kommune I. Uschi Obermaier und Rainer Langhans (1969)
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Wand und verkrümelten sich dann als „Hausbesetzer“ in irgendwelche leerstehenden Altbauten, wo sie sich – nach dem Vorbild von Fritz Teufel und Rainer Langhans – mit ihren „Girls“ zu lustbetonten Wohngemeinschaften zusammenschlossen, sich ihrer Kleidung entledigten, ihre „Joints“ rauchten oder sich irgendeinen billigen Fusel genehmigten, um ständig „high“ zu sein. Sich um einen karrierebetonten „Job“ zu bewerben, lehnten die meisten unter ihnen von vornherein ab. „Wozu arbeiten?“, hieß es in diesen Kreisen emphatisch, wenn man sich das jeweils Nötige auch illegal beschaffen kann. Zu ihren Lieblingsmaximen gehörten daher Sprüche wie „Lieber im Supermarkt zum Nulltarif einkaufen“, „Lieber einen Laden abräumen“ sowie „Lieber klauen als bezahlen zu müssen.“ In dieselbe Richtung zielten Slogans wie „Lieber krank sein als gesund schuften“, „Lieber ein Dropout sein als ein unentwegt strebsamer Macker zu werden“, „Arbeit ist echt heavy“, „Arbeit ist ein Job ohne Vibes“ oder „Arbeit ist das Ende einer lebenswerten Existenz“, das heißt letztlich: „Arbeit ist eine Maloche“, die eine Abtötung aller spontan beglückenden Emotionen bewirkt und damit die ihr frönenden Menschen in stumpfsinnig dahinvegetierende Zombies verwandelt. Zu Punkt 3: Um sich aus dem Zustand einer solchen immer stärker ins Mechanisierte übergehenden „Entmenschung“ zu befreien, beschworen daher die meisten dieser Poprevoluzzer geradezu unentwegt jene Spontaneität, wie sie vor allem in den ständig aufflackernden sexuellen Regungen zum Ausdruck komme, welche von den staatlichen und religiösen Autoritäten seit Jahrhunderten unterdrückt oder in gesetzlich geregelte Formen gelenkt worden seien. Um derartigen Bevormundungen ein für alle Mal so entschieden wie nur möglich entgegenzutreten, zogen demzufolge viele der aufmüpfig gesinnten Teens und Twens der frühen siebziger Jahre alle nur denkbaren Register. Was sie als besonders lustabtötend empfanden, waren die staatlich sanktionierte Monogamie oder irgendwelche sich über Jahre hinausziehende „Beziehungen“. „Die Ehe gilt als eine wunderbare Institution“, lautete einer ihrer Sprüche, „aber wer möchte schon in einer Institution leben“, in der jedes „Feeling“, jedes „Herzflimmern“, jede
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Abb. 18: Die „Scorpions“ (Mitte der siebziger Jahre)
„Lustempfindung“, jede „Vibration“ im Laufe der Zeit notwendig abschwäche und schließlich ganz aufhöre. Was diese Schichten derartigen Schrumpfungsvorgängen in möglichst aufsässiger, ja provozierender Form entgegensetzten, waren vor allem „Speed Quickies“, das heißt spontane „Blitzbums“ oder „Schnellficks“, und zwar gleichgültig ob nun „vaginal, anal oder ödipal“. Auf diesem Gebiet, erklärten sie, dürfe es in Zukunft keine Tabus mehr geben. Selbst die alten Inzest-Verbote müssten endlich abgeschafft werden. Sprüche wie „Inzest – ein Spiel für die ganze Familie“ oder „Call it incest – but I want my mummy“ waren daher in diesen Jahren keine Seltenheit. Selbst vor Aufforderungen wie „Macht Kinder glücklich – unterstützt Pädophilie“ schreckten manche dieser Popisten nicht zurück. Überhaupt sollten es alle, wenn es nach ihnen gegangen wäre, stets mit allen anderen „treiben“: die „Boys“ mit den „Schnallen“, „Tittis“, „Torties“ und „Tussis“, die „Gammelgirls“ mit den „Freaks“, „Spontis“ und „Lustprovotariern“, die „Kids“ mit allen anderen Kids und die „Twens“ mit jedem erreichbaren Sexualobjekt, um im Bereich von „fuck bis suck, 167
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von prick bis pussy“ so oft wie möglich jenen „ultraoberaffentittengeilen Wow-Zustand“ zu erreichen, in dem alle bisherigen Frustrationen von selbst verschwinden würden. Erst wenn alle mit allen Anderen „vögeln“ würden, wie es dementsprechend in diesem Umkreis immer wieder hieß, wäre das Paradies auf Erden endlich „pärfäkt“.8 Nun, das wären die ersten drei lauthals verkündeten Forderungen. Inwieweit sie in den gesellschaftlichen Umgangsformen wirklich durchgesetzt wurden, sei dahingestellt. Was sich dagegen als höchst erfolgreich erwies, um auf Punkt 4 zu kommen, waren die popkulturellen Begleiterscheinungen dieser Teenie- und Twen-Rebellion, also die neuen Formen des „Outfits“ und der immer lautstärker anschwellenden Rockmusik, zumal sich die verschiedenen Branchen der Kleidungs- und Musikindustrie davon sofort höchst lukrative Einnahmequellen versprachen. Und diese Erwartungen, die unter anderem von der Jugendzeitschrift BRAVO angeheizt wurden, welche gegen Ende der siebziger Jahre eine Auflage von fast zwei Millionen erreichte, erfüllten sich dann auch vollauf. Um möglichst „up to date“, „with it“ oder „youthful“ zu erscheinen, wollten nämlich schon in den frühen siebziger Jahren die meisten Kids und dann auch Twens plötzlich Stonewashed Blue Jeans, Parkas sowie T-Shirts mit Aufschriften wie „Chicago Bulls“, „Coca Cola“ oder „Make Love“ tragen, sich „Buttons“ anstecken oder „Bags“ umhängen, um sich so markant wie möglich von der geschniegelten Welt jener Grufties in „Germoney“ mit ihren dreiteiligen Anzügen, Krawatten und Aktentaschen abzusetzen, die stets so aussähen, als befänden sie sich auf dem Weg zu einer von ihnen als wichtig erachteten, aber letztlich bedeutungslosen akademischen Tagung oder Managerkonferenz. Die gleiche Haltung bezogen diese im Laufe der Jahre ständig größer werdende Provotarierschichten gegen alle hochgestochenen Formen der älteren E-Kultur.9 Statt sich wie die von ihnen als „Untote“ empfundenen Vertreter der älteren Bildungsbourgeoisie in Symphoniekonzerten zu langweilen, bei Museumsführungen an „Art Appreciation“-Kursen teilzunehmen, sich an tragisch umwitterten Opern zu erbauen oder im stillen Kämmerlein kunstvoll geschriebene Romane und Novellen zu „rezipieren“, um so aus der Welt 168
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Abb. 19: Graffiti in Berlin-Kreuzberg (frühe siebziger Jahre)
der ihnen auferlegten sexuellen Frustrationen in die Bereiche ästhetischer Kompensationen zu entfliehen, gaben sie sich auch in dieser Hinsicht ausschließlich dem Brüskierenden oder Lustversprechenden hin, ob nun dem Spaß an bewusst provozierenden Graffiti sowie jener dröhnenden Rock ’n’ Roll-Musik mit ihrer pausenlos aufpeitschenden Rhythmik, die ihnen wie das Pendant zu einem unentwegten Sexgerammel erschien.10 Auf diesen zwei Gebieten war daher, wie in erotischer Hinsicht, die Fülle bewusst aufreizender Sprüche besonders groß. Anstatt im Bereich der bildenden Künste wie die älteren „Ölgötzen“ weiterhin in Museen zu pilgern oder in üppig ausgestatteten Monographien der als bedeutsam geltenden Künstler herumzublättern, erschien ihnen – von einigen Werken der amerikanischen Pop-Art einmal abgesehen – nur jene „Spray Art“ als relevant, wie sie sich gegen Ende der sechziger Jahre in New York entwickelt hatte und kurz darauf auch viele westdeutsche Jugendliche dazu bewog, unter 169
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dem Motto „Graffiti, Macht für die Machtlosen“ nun auch hierzulande mehr und mehr Wände mit ihren Sprüchen und knallbunten Kitzeleien zu verunzieren. Ebenso beliebt wurde es im gleichen Zeitraum, sogenannte „Graphic Novels“ oder „Comics“ wie Superman, Frankenstein, Barbarella oder Phoebe Zeit-Geist mit möglichst schockierenden Motiven auf den Markt zu bringen, die vor allem die lesemüden Jugendlichen sofort ansprachen. Die gleiche, wenn nicht noch größere Wirkung ging, wie gesagt, von jener Rockmusik aus, die ebenfalls bereits in den sechziger Jahren aus dem angloamerikanischen Bereich in die BRD hinübergeschwappt war. Ja, schon damals hatte sie in diesem Land einen wahren Beatles- und Elvis Presley-Kult ausgelöst, die beide in der Folgezeit immer breitere Schichten von Jugendlichen in ihren Bannkreis zogen. Wie zu erwarten, bewirkte das unter dem Motto „Roll over Beethoven“ unter vielen Teens und Twens einen ständig zunehmenden Affekt gegen jene klassisch-romantische Konzerthausmusik, welche ihnen wegen ihrer hochkulturellen Intonationen als zu „arty“ oder zu „heavy“, das heißt bürgerlich-affirmativ und damit nicht mehr „up to date“ erschien. Mit Sprüchen wie „Hail! Hail! Rock ’n’ roll – Deliver me from the days of old“ oder „Ohne Rock kein Bock!“ begrüßten deshalb in den siebziger Jahren viele Jugendliche all jene Bands, welche einem Acid Rock, Boogie Rock, Electronic Rock, Hard Rock, Jazz Rock, Pop Rock, Punk Rock, Westcoast Rock oder auch Glitter Sound, Reggae und Rhythm ’n’ Blues huldigten, dem sich damals – neben den Beatles und den Stones – vor allem Solisten und Ensembles wie Chuck Berry, Fats Domino sowie die Beach Boys, die Diamonds, die Doors, Pink Floyd, die Platters und The Who verschrieben. Statt wie die „Plastic People des Establishments“, die „anständigen Christdemokraten“ und die „untoten Gruftis“ der älteren Generation ständig des Abends als sich langweilende „Couch Potatoes“ in den „Frustrationskarton in der Wohnzimmerecke“ zu starren, ließen sie sich lieber von jener Musik „volldröhnen“, die ihnen gar nicht „laut genug“ sein konnte. Und diese Art von Musik boten ihnen sowohl die Hitparaden des amerikanischen Soldatensenders AFN als auch das englische Programm von Radio Luxemburg, „the biggest commercial radio on planet earth“, wie 170
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sie diesen Sender nannten. Ja, manche erklärten sogar: „Wer diese beiden nicht reinkriegt, sollte lieber umziehen oder sich einen Walkman anschaffen“, um wenigstens damit in die stets ersehnten „High“-Zustände „abzudriften“ oder „wegzufliegen“. Im Gegensatz zu den verschiedenen Formen der Rockmusik brachten die meisten dieser Teens und Twens irgendwelchen literarischen Ausdrucksmöglichkeiten kein besonders intensives Interesse entgegen. Sich in problemgeladene Texte zu vertiefen, erschien ihnen von vornherein zu „heavy“. Sie wollten unmittelbare Gratifikationen erleben, wie sie ihnen das Sprayen aufreizender Wandsprüche oder die sie physisch und psychisch stimulierende Rockmusik boten, aber sich nicht mit langwierigen Leseprozessen abplagen, die keine unmittelbar sinnlichen Befriedigungen bewirkten. Schließlich ging es ihnen stets um den Ist-Zustand des „Here and Now“ und nicht um irgendwelche langwierigen ästhetischen Verwortungen, die ein als bürgerlich-versnobt empfundenes Bildungsniveau voraussetzten. Was daher manche ihrer Vertreter auf diesem Gebiet als Vorbilder anerkannten, waren lediglich jene kurzen Beatnik-Statements, Comic-Strip-Texte oder Cut-up-Gedichte, die Rolf Dieter Brinkmann und Ralf Rainer Rygulla schon 1969 in ihrem knallig aufgemachten Sammelband Acid. Neue amerikanische Szene anzupreisen versuchten. Statt in diesen Band auch irgendwelche „Beiträge mit ausschließlich politischem Inhalt aufzunehmen, die keineswegs jene Relevanz besäßen, wie es das Klischee wahrhaben möchte“, setzten sich ihre beiden Herausgeber lediglich für eine „Aktivierung jener neuen Verhaltensweisen“ ein, wie sie sich bei den amerikanischen Jugendlichen anzudeuten begännen.12 Den Werken der „avantgardistischen und modern-gesellschaftskritischen Nachkriegsliterstur der BRD “, die wegen ihrer „Betonung des Inhaltlichen notwendig langweilig“ seien, wurden deshalb in diesem Band vornehmlich jene amerikanischen Literaturprodukte und programmatischen Statements eines subjektbezogenen „Postmodernismus“ entgegengestellt, in denen man endlich aufgehört habe, irgendwelche „großen Dinge“ zu verarbeiten. Als besonders eklatante Beispiele mussten dafür vor allem die „Fuck 171
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you“-Gedichte von John Giono, Tuli Kupferberg, Michael McClure und Ed Sanders, die rabiaten Angriffe Frank Zappas gegen die „verfaulten Arschlöcher“ der mumienhaft erstarrten „Oldies“, das „Yeah, yeah, yeah-Gestammel“ der Lyrics der Rockmusik, Jan Cremers gegen die „Phonies“ innerhalb der älteren Generation aufbegehrender Roman Made in USA (1969) sowie Leslie A. Fiedlers Manifest The New Mutants (1967) herhalten, in dem er die Jugendlichen aller Länder aufgefordert hatte, sich endlich so schamlos wie möglich an Big Macs, Coca Cola, Underground Pornos und Western Movies zu delektieren, statt sich weiterhin um die Aufrechterhaltung einer heuchlerischen E-Kultur zu bemühen, in der lediglich der Frust umhergehe, kurzum: die „instinktabtötend“ sei. Und die Wirkung solcher Vorbilder ließ selbst im Bereich der westdeutschen Literatur nicht lange auf sich warten.13 Ob nun in der Cut-up-Lyrik von Rolf Dieter Brinkmann, dem bewusst obszönen Roman Die Rennstrecke (1969) von Renate Rasp, den Pop-Texten von Herbert Achternbusch, Hubert Fichte, Jürgen Ploog und Fred Viebahn sowie auf den Bühnen der radikalen Anti-Theater dieser Jahre machte sich daher geradezu über Nacht ein literarischer Exhibitionismus breit, der sich durchaus mit den Hard-Boiled-Produkten der Fugs oder ähnlicher amerikanischer Popisten vergleichen lässt. „Da ging die Kunst drauf“, schrieb demzufolge Reinhard Baumgard angesichts dieser literarischen Popwelle lobend im Spiegel, „hier ist einfach alles ‚da‘. Keine Ideologie könnte sich daran Herz oder Hände wärmen.“14 Wohl eines der besten Beispiele für diese ungehemmte „Freude am Es“ und die sich daraus ergebende Verherrlichung einer genussreichen Unkultur sind jene „Stereotexte“ Vom Leben und Lernen (1969) von Peter O. Chotjewitz, wo es an einer Stelle in einem imaginierten Dialog mit dem Hamburger Dozenten für nichtnormative Ästhetik Bazon Brock heißt: „Nie wieder Kultur! Macht alles: Hässlicher, zahlreicher, wertloser, verfluchter, sittenwidriger, billiger, bunter und traditionsloser.“15 Nur da, wo Unkultur herrsche, behauptete Chotjewitz, gebe es ein Dasein, das sinnlich gelebt werde. Er schwärmte daher als überzeugter Pop-Fanatiker für Comics und Kintoppfilme, für Drive-Ins und Beat-Schuppen, ja, hielt Donald Duck 172
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für wichtiger als Oskar Matzerath. Statt sich weiterhin von altmodischen Geboten wie „Ordnung und Obrigkeit“ gängeln zu lassen und sich für eine hochgestochene E-Kultur einzusetzen, forderte Chotjewitz, in Zukunft lieber etwas zur „Aktivierung der Bisexualität beider Geschlechter“ beizutragen sowie die „Erprobung von Drogen für jedermann“ zu gestatten. Kein Wunder daher, dass er den revolutionärsten aller revolutionären Akte darin sah, auf die gegenwärtig bestehende Gesellschaft einfach zu „scheißen“.16
V Um endlich zum Schluss zu kommen: All diese zum Teil ins Maßlose gesteigerten Proklamationen – je nach ideologischer Orientierung – entweder mit progressiv gestimmter Emphase als gerechtfertigten Ausdruck einer „Zweiten Kultur“ hinzustellen17 oder das Ganze aufgrund reaktionärer Anschauungen von vornherein als anarchistisch, wenn nicht gar chaotisch zu charakterisieren, wäre sicher verfehlt. Schließlich haben zu diesem „Assault Against Daddy’s World“ eine stattliche Reihe höchst verschiedener Tendenzen und Impulse beigetragen: Einerseits die Forderungen nach einer wahrhaft „kritischen Öffentlichkeit“ von Seiten der Linksliberalen der frühen sechziger Jahre, die antiautoritäre Gesinnung der studentischen Achtundsechziger-Bewegung, die vielen Demos und Sit-ins sowie die provokanten Hausbesetzungen und Wohngemeinschaften, andererseits die durch die Wirtschaftswundermentalität ausgelöste Konsumfreudigkeit der finanziell bessergestellten Bevölkerungsschichten, die durch die Antibabypille ermöglichte sexuelle Promiskuität, die schlagartig einsetzende Zunahme pornographischer Szenen in den Massenmedien, der Wegfall der Antiabtreibungs- und Antischwulenparagraphen, die von der Musikindustrie geförderte Beatlemanie, der maßlos überzogene Elvis-Presley-Kult, die vielen Spielhöllen und Diskos wie überhaupt eine fortschreitende Lockerung sämtlicher zwischenmenschlichen Beziehungen. In all diesen Phänomenen lediglich eine neue „Jugendkultur“ zu sehen,18 wie es damals häufig geschah, wäre demnach viel zu eindimensional. In 173
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ihnen äußerte sich zugleich ein weiterer sogenannter Modernisierungsschub innerhalb jener marktwirtschaftlichen Gesellschaftsordnung, deren sozioökonomische und kulturelle Grundimpulse von Anfang an auf dem Konzept der Selbstrealisierung des Einzelnen und nicht auf irgendwelchen gesamtgesellschaftlich verstandenen, das heißt kommunitaristischen Solidaritätsvorstellungen beruht hatten. Unter den nur halbwegs „entwickelten“ Produktionsbedingungen der Vergangenheit war jedoch dieser Vorgang lange Zeit noch nicht wirklich zu sich selbst gekommen. Um die Forderung einer schrankenlosen Selbstrealisierung aufzustellen, dazu hatte es des sogenannten erhardschen „Wirtschaftswunders“ der fünfziger und frühen sechziger Jahre bedurft. Erst im Zuge dieses ökonomischen Auftriebs konnten daher im Rahmen der in der BRD herrschenden Gesellschaftsverhältnisse, durch die der Mittelstand immer größer geworden war, jene auf eine verstärkte „Liberalisierung“ drängenden Bevölkerungsschichten auf allen Gebieten ein größeres Selbstbestimmungsrecht und ein verstärktes Auslebeverlangen einfordern. Dass sie sich hierbei, wie wir gesehen haben, vieler aus dem Amerikanischen entlehnten Wörter und Slogans bedienten, war einerseits als Opposition gegen die als „rassistisch“ verstandene Muttersprachlichkeit des Nazifaschismus zu verstehen, hing jedoch andererseits mit der immer stärker werdenden Integration der Bundesrepublik in jenen als „westlich“ ausgegebenen Wirtschafts- und Medienverbund zusammen, durch den das „Deutsche“ seine bisher als selbstverständlich angenommene Rolle einzubüßen begann. So gesehen, ist die Sprache der sich rebellisch gebenden Popisten der siebziger Jahre nicht nur ein Zeichen des Protests, sondern zugleich ein Symptom für den dominierenden Einfluss der Vereinigten Staaten auf alle in der NATO zusammengeschlossenen westeuropäischen Länder, wirkte sich aber in Westdeutschland, wie gesagt, aufgrund der nazifaschistischen Vergangenheit und der damit verbundenen Diffamierung irgendwelcher nationalistischen Tendenzen besonders stark aus. Man hat das im Hinblick auf spätere Entwicklungstendenzen – ideologisch neutralisierend – häufig als fortschreitende „Globalisierung“ charakterisiert, sollte aber dafür lieber 174
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einen Begriff wie „Amerikanisierung“ gebrauchen. Schließlich waren es keine aus dem Französischen, Italienischen oder Spanischen stammenden Sprachpartikel, sondern fast ausschließlich aus dem Amerikanischen übernommene oder umgeformte Wörter, die damals die westdeutsche Sprache zu überfluten begannen. Dafür spricht obendrein, dass es sich dabei vornehmlich um Wörter handelte, die aus jenen Massenmedien stammten, von denen sich die endlich auf vollen Touren laufenden Branchen der Unterhaltungsindustrie ihre größten Gewinne versprachen: die amerikanischen Songs der Hitparaden, die Hollywoodfilme sowie die Advertisements der großen US -Konzerne, mit denen man auch in der BRD die vielfältigen Vermarktungsbemühungen der dort hergestellten Produkte ständig neu anzukurbeln versuchte. Es waren daher nicht nur die Teens und Twens, sondern auch die Vertreter der sich schnell vergrößernden Schicht der Manager und Junior Executives, die sich geradezu unentwegt amerikanischer Wörter bedienten und zusehends von „Cash Value“, „Leasing Improvements“ und „Money Lending“ sprachen. Ja, manche der vormals eher bildungsbetonten Sprachschulen lockten schon damals ihre prospektiven Kunden nicht mehr mit dem Versprechen einer verstärkten Literarisierung an, sondern erklärten höchst unverblümt: „Learn English, learn Wall Street English!“ Doch nicht nur das. Auch im Hotelwesen und im Flugverkehr, den Menükarten der Restaurants, den Supermärkten und Department Stores und schließlich im Zuge der von den Vereinigten Staaten ausgehenden Digitalisierung setzten sich immer stärker amerikanische Wörter und Abkürzungen sowie englischsprachige Neubildungen wie „Handy“ oder „Powergirl“ durch. Unter dieser Perspektive betrachtet, ist deshalb auch der zu Beginn der siebziger Jahre einsetzende „Assault Against Daddy’s World“ lediglich eines der vielen Symptome, dass die jeweils vorherrschende Sprache stets die Sprache der Herrschenden ist. Und das waren zu diesem Zeitpunkt vor allem die führenden Wirtschaftskreise der USA sowie die mit ihnen liierten CEOs der bundesrepublikanischen Großkonzerne. Wenn daher viele der westdeutschen Jugendlichen ständig danach strebten, sich „cool“ oder 175
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„high“ zu empfinden, sich einen „Big Mac reinzudrücken“, sich „Stonewashed Blue Jeans“ oder „T-Shirts“ zu kaufen, sich Baseball-Kappen aufzusetzen, sich mit den Songs der Beach Boys, der Doors oder Frank Zappas „anzutörnen“ und zugleich die obligaten „Joints“ zu rauchen, glaubten sie zwar die als hoffnungslos verkalkt empfundenen „Oldies“ zu irritieren, wenn nicht gar zu erschüttern, ordneten sich jedoch in Wirklichkeit in jene Modernisierungsschübe ein, mit denen die Vereinigten Staaten und die ihren Marketingstrategien nacheifernden westdeutschen Konzerne sowohl auf wirtschaftlichem als auch auf kulturellem Gebiet ihre verbilligten, das heißt auf Massenabsetzbarkeit hergestellten Produkte weltweit in Umlauf zu bringen versuchten. Als demzufolge die hier ins Auge gefasste Poprebellion um 1980 allmählich abebbte, wurden in der BRD die sprachlichen Entlehnungen aus dem Amerikanischen keineswegs seltener, ja, nahmen auf wirtschaftlichem und massenmedialem Sektor sogar weiterhin zu, was dazu führte, dass sich in der westdeutschen und nach 1989 gesamtdeutschen Sprache immer mehr amerikanische Wörter, Redewendungen und Abkürzungen einbürgerten, die man als „denglisch“ bezeichnete. Selbst die in den frühen achtziger Jahren gegen die Hochrüstungsbemühungen der USA gerichtete Friedensbewegung änderte daran nicht viel. Ja, nach dem Sieg der Vereinigten Staaten über die Sowjetunion und die mit ihr verbündeten osteuropäischen Länder verstärkte sich diese sprachliche Einflussnahme sogar noch. Doch damit setzte eine Entwicklung ein, welche die in diesem Aufsatz ins Auge gefassten ideologischen und sprachlichen Verschiebungen während der siebziger Jahre weit überschreitet und deren Folgen in einem weiteren Kapitel behandelt werden sollen.
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Das Eigene im Fremden. Zur Sprache der deutschen Türken
I Da es im Zuge des erhardschen „Wirtschaftswunders“ bereits Mitte der fünfziger Jahre in der westdeutschen Bundesrepublik – trotz des unverminderten Zustroms ostdeutscher Flüchtlinge – zu einem merklichen Arbeitskräftemangel kam, schloss die dortige Regierung in den folgenden Jahren zuerst mit Italien und dann mit Spanien und Griechenland sogenannte Anwerbeabkommen ab, die es den in diesen drei Ländern lebenden Arbeitslosen oder Kurzzeitbeschäftigten ermöglichen sollten, sich als Leih- oder Gastarbeiter in den Fabriken oder im Dienstleistungsgewerbe der BRD das zu ihrem Lebensunterhalt erforderliche Auskommen zu verschaffen. Doch diese Maßnahmen erwiesen sich schon kurz danach als nicht ausreichend. Ja, als sich am 13. August 1961 die DDR-Regierung durch den Bau der Berliner Mauer entschloss, der massenhaften Abwanderung ihrer Bürger, darunter vieler Facharbeiter, endlich ein Ende zu bereiten, da dies zu einer wirtschaftlichen Schwächung ihres Staats und einer Stärkung des „Industriestandorts BRD“ geführt hatte, verabschiedete der westdeutsche Bundestag bereits am 30. Oktober 1961 ein weiteres Anwerbeabkommen mit der Türkei, um möglichst viele Arbeitskräfte für jene unterbezahlten „Drecksarbeiten“ zu gewinnen, welche die meisten BRD -Bürger und -Bürgerinnen aufgrund des steigenden Wohlstands nicht mehr übernehmen wollten. Doch dieses Abkommen wurde keineswegs von allen Westdeutschen begrüßt. Während die dortigen Industrieverbände darin einen höchst willkommenen Anlass zu herabgesetzten Lohnvergütungen sahen, empfanden die eher konservativ eingestellten Mittelschichten die türkischen Gastarbeiter – im Gegensatz zu den ihnen eher vertrauten aus den EG-Ländern angeworbenen „Dienstleistern“ – vielfach als orientalische Fremdlinge, denen 177
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man keinen ständigen Aufenthalt erlauben solle. Um derartigen Befürchtungen entgegenzusteuern, erklärte daher der damalige Minister für Arbeit und Sozialordnung Theodor Blank schon am 15. Juni 1962: „Die Bundesrepublik kommt leider wegen der hohen Bevölkerungsdichte als Einwanderungsland nicht in Betracht. Den augenblicklichen Arbeitskräftemangel kann sie daher nur durch eine zeitlich begrenzte Hereinnahme von Ausländern beheben.“1 Im Jahr 1964 entschied sich demzufolge die CDU/FDP-Koalition, den Aufenthalt von türkischen Arbeitskräften – im Gegensatz zu ihren aus den EG-Ländern stammenden Arbeitskollegen, denen man eine wesentlich größere Freizügigkeit einräumte – auf jeweils zwei Jahre zu begrenzen. Doch auf Drängen der Industrieverbände, die derartige sich mit Niedriglöhnen abfindende Arbeitskräfte dringend benötigte, kam es schon zwei Jahre später zu einer neuen Gesetzgebung in dieser Hinsicht, die selbst den türkischen Gastarbeitern einen fünfjährigen Aufenthalt ermöglichte und ihnen nach diesem Zeitraum sogar die Aussicht auf eine Verlängerung der von ihnen unterschriebenen Arbeitsverträge in Aussicht stellte. Aber schon 1967, als in der BRD eine wirtschaftliche Rezession einsetzte, verschlechterte sich die Lage der „türkischstämmigen“ Arbeiter, wie sie jetzt hießen, wieder. Während sich ein Jahr später der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) sowie linksgerichtete Gruppen der studentischen Achtundsechziger – trotz des Rückgangs innerhalb der Industrieproduktion – für ein Bleiberecht und eine soziale Gleichstellung der türkischen Gastarbeiter einsetzten, drängten eher rechtsorientierte Gruppen und Verbände darauf, die Türken zur Rückkehr in ihr Heimatland zu bewegen, wofür sich jedoch die meisten wegen der dort herrschenden Armut nicht entschließen konnten und sich lieber mit den kümmerlichen Mindestlöhnen in der BRD begnügten, die immerhin fünf- bis achtmal höher waren als jene Löhne, die man ihnen in den gleichen oder ähnlichen Arbeitsverhältnissen in der Türkei gezahlt hätte. Also blieben sie, obwohl sie sich als „konjunkturelle Reservearmee“, das heißt als „Lückenbüßer der bundesrepublikanischen Wohlstandsgesellschaft“ damit begnügen mussten, als „unterste soziale Schicht“, wenn nicht gar als 178
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„Sklaven“ behandelt zu werden, wie der Soziologe Karl Bingemer 1970 unter der Überschrift Komm, komm, komm – geh, geh, geh mit kritisch gestimmten Äußerungen im Spiegel erklärte.2 Als es daher 1973 im Gefolge der weltweiten Ölkrise auch in der BRD zu einer erneuten wirtschaftlichen Stagnation kam, beschloss der Bundestag sogar einen neuen Anwerbestop.3 Doch kaum hatte sich die ökonomische Situation wieder gebessert, setzte ein neuer Zustrom türkischer Gastarbeiter ein, wodurch sich die BRD aus einem Arbeitsaufenthaltsland immer stärker in ein Einwanderungsland verwandelte. Und das wurde in den späten siebziger Jahren von der SPD/ FDP -Koalition – trotz mancher besorgten Statements Helmut Schmidts – im Sinne einer von ihr begünstigten Integrationspolitik auch durchaus gutgeheißen, was zu einem verstärkten Familiennachzug und einer damit verbundenen Sesshaftwerdung dieser allmählich immer größer werdenden Bevölkerungsschicht führte, während die CDU /CSU eher dafür eintrat, dass die Türken weiterhin an ihrer Sprache und ihren Traditionen festhalten sollten, um nicht den Anschluss an ihre frühere Heimat zu verlieren und, falls es sich so ergeben würde, eventuell wieder dahin zurückzukehren.4 Um derartigen Anschauungen entgegenzutreten, entschied sich die SPD/ FDP-Koalition im Jahr 1978, dem größten Teil der türkischen Gastarbeiterfamilien das Recht auf eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis zu verleihen.5 Allerdings hörten damit die Auseinandersetzungen im Hinblick auf die sogenannte „Türkenfrage“, wie es jetzt hieß, keineswegs auf. Konfrontiert mit einer immer größer werdenden Anzahl türkischer Einwanderer, von denen sich manche bereits als Ladenbesitzer etablierten oder in besser bezahlte Berufe aufstiegen, kam es in der Folgezeit erneut zu höchst kontrovers geführten Diskussionen über die sich daraus ergebenden Konsequenzen, wobei sich die Einen energisch gegen eine islamische „Überfremdung“ der bundesrepublikanischen Gesellschaft aussprachen, der man von staatlicher Seite her entgegentreten solle, während die Anderen die dadurch entstehende „multikulturelle“ Vielfalt – nach den rassistischen Verfehlungen des Dritten Reichs – durchaus begrüßten.
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Auf politischer Ebene hatte das folgende Konsequenzen. Die Sozialdemokraten und die Grünen traten weiterhin dafür ein, dieser neuen Bevölkerungsschicht die vollen Bürgerrechte zu verleihen, statt in ihr nach wie vor lediglich eine mit Billiglöhnen abzufindende industrielle Reservearmee von Fremdarbeitern zu sehen, die man in wirtschaftlichen Krisenzeiten notfalls wieder „abschieben“ könne. Vor allem die 500.000 illegal eingeschleusten türkischen Leiharbeiter, die unter geradezu menschenunwürdigen, ja, zum Teil lebensgefährlichen Umständen die niedrigsten Drecksarbeiten ausführen müssten, wie das Günter Wallraff 1985 in seiner vielbeachteten Reportage Ganz unten anprangerte, sollten nach Meinung dieser beiden Parteien endlich aus ihrer „Fron“ erlöst werden.6 Doch auch allen anderen Türken, hieß es in liberal eingestellten Kreisen, dürfe man nicht länger verwehren, in der BRD eine sinnvolle Lebensperspektive ins Auge zu fassen, statt sie weiterhin zu ghettoisieren oder gar völlig auszugrenzen. Dennoch sprach sich die Mehrheit der Westdeutschen – Meinungsumfragen zufolge – zu diesem Zeitpunkt weiterhin dafür aus, die Zahl der türkischen Einwanderer in der BRD durch staatliche Erlasse gesetzlich einzuschränken. Und auch Helmut Kohl, der 1982 nach dem Wahlsieg der CDU/CSU das Kanzleramt übernommen hatte, plante zu Beginn seiner Regierungszeit eine massive „Rückführung“ der Türken in ihr Heimatland, das heißt ihre Zahl um 50 Prozent zu verringern, da die Türken, wie er erklärte, im Gegensatz zu anderen Gastarbeitern aus einer völlig andersartigen, sprich: islamischen Kultur kämen und daher nur schwer zu integrieren seien. Sein am 28. November 1983 verkündetes Programm, den Türken ein Abschiedsgeld von jeweils 10.500 D-Mark anzubieten, erwies sich jedoch als nicht sehr erfolgreich. Nur rund 100.000 Türken gingen darauf in ihr Heimatland zurück, während die Zahl der Neueinwanderer – auf Drängen der westdeutschen Industrieverbände sowie der weiterhin bestehenden ökonomischen Misere in der Türkei – wieder schnell anstieg. Eine gewisse Wende in dieser spannungsgeladenen Situation trat erst ein, als es 1989 in der BRD zu einer rot-grünen Koalitionsregierung kam, die sich für eine verstärkte Integration der türkischen Minderheit einsetzte, die 180
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inzwischen auf über zwei Millionen angewachsen war. Immer mehr Türken beantragten daraufhin – unter Verzicht auf eine mögliche Rückkehr in ihr ehemaliges Heimatland – die deutsche Staatsbürgerschaft und versuchten, ohne ihre muslimische Religion oder ihre angestammten Familientraditionen aufzugeben, vollgültige Mitglieder der bundesrepublikanischen Gesellschaft zu werden. Allerdings sahen sich dabei viele einer nicht nachlassenden Fremdenfeindlichkeit gegenüber, die auch in der Folgezeit keineswegs nachließ, ja, zum Teil sogar höchst gefährliche Formen annahm. Nicht nur im Rahmen der vieldiskutierten „Kopftuchfrage“ kam es immer wieder zu antiislamischen Gegenreaktionen, auch im Alltagsleben sahen sich viele Türken weiterhin, und zwar nicht nur in den „Neuen Bundesländern“, wo es vor 1989 kaum „Ausländer“ gegeben hatte, sondern auch in Westdeutschland häufig von rechtsradikalen Gruppen bedroht, die sie auf offener Straße anpöbelten oder gar, wie bereits 1992 in Mölln und 1993 in Solingen, ihre Häuser und Läden in Brand steckten. Ein besonderes Aufsehen erregten dabei die Anschläge jener braunen Terrorzelle, die inzwischen unter der Bezeichnung „Nationalsozialistischer Untergrund“ (NSU) in die deutsche Geschichte eingegangen ist.7 Ihre Hauptziele waren von Anfang an rassistischer Natur. Voller Wut gegen die verhassten „Ausländer“ erschossen ihre Mitglieder zwischen 2000 und 2008 neun Türken und verletzten bei Bombenschlägen 20 weitere, um so eine Gesinnung durchzusetzen, die wieder auf „Blut und Ehre“ beruhen würde. Allerdings wurden derart brutale Attentate, wie schon die rassistischen Parolen der Nationaldemokratischen Partei Deutschlands (NPD) sowie der „Deutschen Volksunion“ (DVU), von der Mehrheit der deutschen Bevölkerung indigniert abgelehnt. Eher diskussionswürdig empfanden dagegen manche Bundesbürger und -bürgerinnen das im Jahr 2010 erschienene Buch Deutschland schafft sich ab. Wie wir unser Land aufs Spiel setzen von Thilo Sarrazin, das in kurzer Zeit in 10 Auflagen herauskam und eine „Ausländerdebatte“ auslöste, die es bis dahin in dieser Breite und Öffentlichkeit kaum gegeben hatte. Indem es eine radikale Beschränkung der Zuwanderungsmöglichkeit muslimischer Migranten forderte, fand es zwar bei den Rechten eine lebhafte 181
Das Eigene im Fremden. Zur Sprache der deutschen Türken
Zustimmung, wurde jedoch von den Liberalen als „politically incorrect“ und von den Linken als „faschistoid“ abgelehnt. Sarrazins Buch beruhte weitgehend auf der These, dass der Geburtenreichtum der türkischen Einwanderer gegenüber dem Geburtenschwund der Deutschen dazu führen könne, dass sich Deutschland im Laufe der kommenden Jahrzehnte allmählich in eine türkische Kolonie verwandeln würde. Er schlug daher mit einer fast an eugenische Maßnahmen der NS-Vergangenheit erinnernden Nachdrücklichkeit vor, die Kinderzahl der klugen Deutschen, dass heißt der Akademikerinnen im gebärfähigen Alter, durch staatliche Prämien von je 50.000 Euro pro Kind erheblich zu steigern, um so zu einer Optimierung des deutschen „Humankapitals“ beizutragen und damit ein sinkendes Intelligenzniveau zu verhindern. Wie fast alle anderen Kritiker der nach Deutschland eingewanderten Türken wandte sich Sarrazin außerdem gegen die mangelnde Integrationsfähigkeit dieser Bevölkerungsgruppe. Was er dieser Schicht in aller Entschiedenheit vorwarf, war ihr hartnäckiges Festhalten an der heimatlichen Sprache und Religion, ihre überproportionale Quote von Transferleistungsempfängern, ihr Unverständnis für das deutsche Bildungswesen sowie ihre überdurchschnittliche Beteiligung an Gewaltverbrechen. Um dem entgegenzutreten, berief er sich in einer zwar sachlich unterkühlten, aber letztlich doch beschwörenden Weise auf nationale „Wir“-Begriffe wie „das deutsche Volk“ oder „unsere deutsche Nation“, um so auf die Dringlichkeit der von ihm aufgestellten Forderungen hinzuweisen, ohne allerdings wirklich erklären zu können, worin diese als positiv hingestellte „Deutschheit“ eigentlich bestehe. Doch trotz dieser ideologischen Unklarheit löste Sarrazin damit eine Debatte aus, die auch in der Folgezeit nicht wieder verstummte. Vor allem die vielfach diskutierte Frage einer möglichen „Islamisierung“ Deutschlands blieb weiterhin auf der Tagesordnung, zumal die in den nächsten Jahren einsetzende Migrantenwelle aus Syrien, Afghanistan, Palästina, dem Irak und den nordafrikanischen Ländern bisher ungeahnte Ausmaße annahm und der Furcht vor einer religiösen „Überfremdung“ Deutschlands ständig neue Auftriebe gab. Um dieser „Gefahr“ so scharf wie möglich entgegentreten zu 182
Das Eigene im Fremden. Zur Sprache der deutschen Türken
Abb. 20: Pegida-Demonstration in München am 13. September 2015
können, entstand im Jahr 2014 die Bewegung „Patriotische Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes“, kurz „Pegida“ genannt, die sich nicht nur gegen eine unkontrollierte Zuwanderung aus den Ländern des Nahen Ostens und Nordafrikas wandte, sondern zugleich ein striktes Aufenthaltsverbot für islamische Fanatiker, eine sofortige Abschiebung aller abgelehnten Asylbewerber und eine Pflicht zur bedingungslosen Integration aller bereits in Deutschland ansässigen „Ausländer“ forderte.8 Fast die gleichen Stimmen wurden in der zum gleichen Zeitpunkt gegründeten Partei „Alternative für Deutschland“ (AfD) laut, die sich ebenfalls zu rechtspopulistischen und islamfeindlichen Anschauungen bekannte. Auch sie sprach sich gegen jede Form der Massenzuwanderung sowie den Bau von Moscheen und Minaretten für die nach Deutschland eingeströmten Koran-Gläubigen aus. Manche ihrer Mitglieder schreckten dabei sogar in der Öffentlichkeit nicht davor zurück, die von ihnen als fremdartig empfundenen Muslime als „Kümmeltürken“ oder „Kameltreiber“ hinzustellen.9 Ja, selbst einige führende Vertreter der CDU und CSU traten zum gleichen 183
Das Eigene im Fremden. Zur Sprache der deutschen Türken
Zeitpunkt – trotz vieler Beschwichtigungsversuche von Seiten Angela Merkels – als Verfechter einer mit allen Mitteln aufrechtzuerhaltenden „christlichen Leitkultur“ auf,10 während sich die Führungsspitzen der SPD, der Grünen und der Linken weiterhin für eine im Grundgesetz der BRD verankerte humanitär gesinnte Asylpolitik engagierten. Durch alle diese Vorgänge und die durch sie ausgelösten Konfrontationen, welche durch Attentate von IS-Anhängern und sexuelle Übergriffe nordafrikanischer Männer auf deutsche Frauen ständig neu angeheizt wurden, verlor die bis dahin im Vordergrund stehende „Türkenfrage“ zusehends an Bedeutung und machte einer höchst erregten Diskussion über die von den neuen Zuwanderern ausgehende Islamisierung und Kriminalisierung Deutschlands Platz, welche die Bundesregierung, um dem bedrohlichen Anwachsen der AfD-Partei Paroli zu bieten, dazu bewegte, im Hinblick auf mögliche „Gefährder“ von Seiten der IS-Bewegung mit neuen Gesetzgebungen entgegenzutreten sowie sich um eine verstärkte Integration der unzähligen Asylsuchenden zu bemühen. Und damit trat die Diskussion um die bereits in Deutschland ansässigen Menschen mit familiären Wurzeln in der Türkei, deren Zahl bis zum Jahr 2015 inzwischen auf rund 2,6 Millionen angewachsen war, von denen bereits 1,9 Millionen die deutsche Staatsbürgerschaft oder eine doppelte Staatsangehörigkeit besaßen, wie gesagt, allmählich in den Hintergrund.
II So viel erst einmal – in kursorischer Zusammenfassung – zu der in den frühen sechziger Jahren beginnenden Einwanderung von Türken in die alte bzw. neue Bundesrepublik sowie den vielfältigen parteipolitischen Reaktionen auf diese Migrationswelle von Seiten der verschiedenen im Bundestag vertretenen Parteien, anderen gesellschaftlichen Gruppenbildungen oder den sich mit solchen Problemstellungen auseinandersetzenden Autoren. Doch nun zu der ebenso wichtigen oder vielleicht sogar noch wichtigeren Frage: Wie verhielten sich eigentlich die anfänglich angeworbenen und dann aus 184
Das Eigene im Fremden. Zur Sprache der deutschen Türken
freiem Willen nach Deutschland eingewanderten Türken nicht nur im Hinblick auf die bereits geschilderten parteipolitischen Entscheidungen sowie die mannigfachen Gegenreaktionen rechtsorientierter Gruppenbildungen, sondern auch im Hinblick auf die zum Teil unwürdigen Arbeitsbedingungen, die nur schwer zu überwindende Sprachbarriere, den Verlust ihrer Heimat, die völlig neue Umwelt, der sie sich gegenübersahen, sowie die mangelnde Akzeptanz von Seiten weiter Schichten der deutschen Bevölkerung? Allerdings sollten wir uns nicht allein damit begnügen. Um nicht Opfer eines der gängigen Vorurteile zu werden, denen man in dieser Hinsicht immer wieder begegnet, empfiehlt es sich, dabei mit der Frage zu beginnen: Gibt es denn die Türken oder die Deutschen überhaupt? Zugegeben, zu Anfang handelte es sich bei der Schicht der türkischen Einwanderer um eine relativ homogene Bevölkerungsgruppe von für Niedriglöhne arbeitende Leih- oder Gastarbeiter, die zumeist aus den ärmeren Gebieten Anatoliens stammten, denen man lediglich zeitlich begrenzte Aufenthaltsgenehmigungen ausstellte und die weitgehend unter sich blieben. Doch im Laufe der Jahre kamen dazu immer mehr Türken, die langfristig bleiben konnten, die sogar ihre Familien nachholten und denen man schließlich gestattete, sich um die deutsche Staatsbürgerschaft zu bewerben. Ja, nach dem im Jahr 1971 in der Türkei erfolgten Militärputsch sowie späteren politischen Umbrüchen kamen dazu auch politisch verfolgte Asylsuchende aus Istanbul und anderen türkischen Städten in die westdeutsche Bundesrepublik, die sich nicht nur um besser bezahlte Stellungen bewarben, sondern – nach der Überwindung der anfänglichen Sprachbarriere – sogar bemühten, in den deutschen Kultur- und Mediensektor einzudringen. Doch dabei handelte es sich weitgehend um Ausnahmen. Die Mehrheit der in die BRD eingewanderten Türken, von denen die meisten keine höhere Schulbildung besaßen und erhebliche Schwierigkeiten beim Erlernen der deutschen Sprache hatten, blieb lange Zeit in ghettoartigen Ansiedlungen nach wie vor unter sich. Die bekanntesten Beispiele waren dafür Berlin Kreuzberg, Berlin-Neukölln sowie Köln-Ehrenfeld, während sich eine verstreutere Ansiedlung dieser Einwanderungsgruppen erst in den neunziger 185
Das Eigene im Fremden. Zur Sprache der deutschen Türken
Jahren zu entwickeln begann. In derartigen Enklaven sprach man in den ersten zwei bis drei Jahrzehnten fast nur türkisch, hielt eisern an den bisherigen familiären, religiösen und kulturellen Gepflogenheiten fest, kaufte Lebensmittel lediglich in türkischen Geschäften, las fast ausschließlich türkische Tageszeitungen wie Türliye, Hürriyet, Milli Gazete, Tercüman und Zamen, hörte türkische Rundfunksendungen wie Radyo Metropol und Köln Radyosu und schaltete, falls man es sich leisten konnte, das türkische TRT-Int-Fernsehen und danach auch türkischsprachige Privatsender wie Tele On, TGRT, NTV oder TV 8 an.11 Demzufolge nahmen die Deutschkenntnisse innerhalb der ersten türkischen Einwanderungswellen nur langsam zu. Während sich die vielen Polen, die um 1900 aus den östlichen Teilen Preußens als Grubenarbeiter ins Ruhrgebiet gekommen waren und kurz vor dem Ersten Weltkrieg in manchen der dortigen Städte 40 Prozent der Bevölkerung bildeten, aufgrund ihres Katholizismus und ihrer, wenn auch beschränkten Deutschkennisse relativ schnell an ihre neue Umwelt gewöhnt hatten, empfanden sich die islamgläubigen und nicht deutschsprechenden Türken – trotz der ihnen gewährten Arbeitsbedingungen sowie unbegrenzten Aufenthaltsgenehmigungen – lange Zeit als zwar geduldete, aber von vielen Deutschen nicht erwünschte „Ausländer“. Also blieben sie, wie gesagt, unter sich, ja, schotteten sich vorerst gegen alles Fremdartige ab, das heißt blieben weiterhin Türken, schickten ihre Kinder in Koran-Schulen, hielten eisern an ihren als Ehrenkodex erachteten Familienbindungen fest und sahen es gern, wenn ihre Frauen und Töchter die altgewohnten Kopftücher trugen, kurzum: wollten in erster Linie Türken bleiben, statt sich an eine ihnen nicht entgegenkommende Umwelt anzupassen oder gar den Schritt in die totale Integration zu wagen. Selbst mit ihren Kindern, die sich in den Schulen bereits die nötigen Deutschkenntnisse erwarben, sprachen sie zu Hause meist Türkisch, um sie nicht völlig an das „Deutschtum“ zu verlieren. Und das blieb sogar bis zur Jahrhundertwende so, als immer noch 10 Prozent dieser Bevölkerungsschicht nur türkische Medien nutzten, während lediglich zwei Prozent 186
Das Eigene im Fremden. Zur Sprache der deutschen Türken
Abb. 21: Janitscharen-Umzug am „Türkischen Tag“ in Berlin am 1. Januar 2003
ausschließlich deutsche Zeitungen lasen, das deutsche Fernsehen anschalteten oder deutsche Radiosendungen hörten. Den einschlägigen Statistiken zufolge beherrschte daher noch im Jahr 2010 jeder fünfte türkischstämmige Staatsbürger in der BRD die deutsche Sprache nur mangelhaft oder gar nicht. Ja, 26 Prozent aller türkischen Jugendlichen gelang nicht einmal ein Schul- oder Berufsabschluss. Noch geringer war die Zahl derer, nämlich 14 Prozent, welche nach dem Abitur die Hochschulzugangsberechtigung erhielten. Und zwar waren daran fast immer ihre mangelnden Deutschkenntnisse schuld. Nicht nur die älteren, auch die jüngeren in der BRD lebenden Türken sprachen lange Zeit ein Gastarbeiter- oder Pidgindeutsch, wofür sich Bezeichnungen wie Türkenslang, Türkenjargon oder Kiezdeutsch einbürgerten. Noch gebräuchlicher wurde dafür zeitweilig der Ausdruck „Kanak Sprach“, der vor allem durch das 1995 von Feridun Zaimoglu publizierte Buch Kanak Sprach. 24 Mißtöne am Rande der Gesellschaft 187
Das Eigene im Fremden. Zur Sprache der deutschen Türken
in Umlauf kam.12 Darunter verstand man weithin jene Sprachmischung, die von türkischstämmigen Jugendlichen der zweiten oder dritten Einwanderungswelle gesprochen wurde, die weder das Türkische noch das Deutsche korrekt beherrschten und sich in Redewendungen wie „Hab ich gesehen mein Kumpel“, „Willst mit mir malocken“, „Du Türke sein“ oder „Bista schönes Mann“ ausdrückten.13
III Doch trotz der weiter bestehenden ökonomischen Nischensituation und der damit zusammenhängenden mangelnden Sprachangleichung der meisten in die BRD eingewanderten oder bereits dort geborenen Türken erregten solche Themen in den letzten Jahren in den deutschen Medien nicht mehr jene Aufmerksamkeit wie noch in den Jahrzehnten zuvor. Was danach im Vordergrund stand, war die immer wieder beschworene Gefahr einer schleichenden Islamisierung, die seit der im Jahr 2015 einsetzenden Fluchtbewegung aus den Ländern des Nahen Ostens und Nordafrikas ganz neue Dimensionen angenommen hat. Während die christlichen Einwanderer aus Italien, Spanien oder dem Balkan kaum Widerständen begegnet waren, stieß dieser neue Einwanderungsschub, wie schon vorher bei den Türken, zum Teil auf heftige Gegenreaktionen. Vor allem die Pegida-Bewegung, die Alternative für Deutschland und andere rechtspopulistische Gruppen, ja, selbst Intellektuelle wie Henryk M. Broder, Thilo Sarrazin und Uwe Tellkamp sprachen sich in letzter Zeit nachdrücklich gegen eine derartige „Überfremdung“ Deutschlands aus. Ihnen traten jedoch bei solchen Ausein andersetzungen nach wie vor jene liberal oder humanitär gesinnten Gruppen und Intellektuellen entgegen, die schon seit den achtziger Jahren in dem Zustrom korangläubiger Islamisten keine Gefahr, sondern eher die Chance einer verstärkten „Multikulturalität“ der BRD gesehen hatten. Diese Gruppen begrüßten es daher weiterhin, dass dadurch eine größere Vielfalt innerhalb der bisher in religiöser und kultureller Hinsicht vorwaltenden Homogenität eintreten würde, die durchaus der heutigen Weltlage und 188
Das Eigene im Fremden. Zur Sprache der deutschen Türken
ihrer Tendenz ins Kosmopolitische jenseits der älteren nationalstaatlichen Strukturen entspreche. Besonders im Hinblick auf die in der BRD erscheinende deutsch-türkische Literatur hatte diese „Liberalität“ bereits in den achtziger Jahren vorgeherrscht. Wie wäre es sonst zu einer zunehmenden Beachtung all jener Gedichte, Erzählungen, Romane, Filme und Dramen nach Deutschland eingewanderter oder bereits dort geborener türkischer Autoren und Autorinnen gekommen, welche in der von ihnen nur mühsam erlernten deutschen Sprache auf die ihnen in diesem Land zugemuteten Verhältnisse eingegangen waren? Schon die deutschsprachigen Werke der ersten türkischen Einwanderergeneration, die sich in Form von Lyrik und Kurzprosa primär mit der eigenen, oft als entwürdigend erlebten Situation als Leih- oder Gastarbeiter beschäftigt hatten, fanden daher, wie die von Irmgard Ackermann herausgegebenen Bände In zwei Sprachen leben. Erzählungen und Gedichte von Ausländern (1983) sowie Türken deutscher Sprache. Berichte, Erzählungen, Gedichte (1984), schnell Verleger und wurden auf liberaler Seite durchaus wahrgenommen sowie in zahlreichen literaturinteressierten Zeitungen und Zeitschriften meist wohlwollend rezensiert.14 Wie gesagt, herrschte in ihnen, wie in den Werken der bereits in der Türkei als Schriftsteller hervorgetretenen Autoren wie Fakir Boykurt oder Aras Ören meist der Ton persönlicher Betroffenheit von zwar benötigten, aber von vielen Deutschen letztlich als fremd empfundenen Arbeitsemigranten vor. Das gilt – neben den Werken von Güney Dal und Yüksel Pazarkaya – vor allem für die 1986 vom linksgerichteten Polikunst-Verein beim Malik-Verlag herausgegebene Anthologie Südwind gastarbeiterdeutsch, auf die umgehend weitere Publikationen dieser Art folgten.15 Obwohl diese Art von Literatur – aufgrund der sich nur langsam wandelnden ökonomischen Nischensituation vieler türkischer Einwanderer – auch in der Folgezeit durchaus weiter erschien, setzte im Laufe der neunziger Jahre in den Werken deutschschreibender türkischer Autoren und Autorinnen, die sich nicht nur vorwiegend mit Gastarbeiterproblemen beschäftigten, sondern auch subjektiv erfahrene Fremdheitsgefühle thematisierten, eine 189
Das Eigene im Fremden. Zur Sprache der deutschen Türken Abb. 22: Aras Ören (2017)
wesentlich größere Vielfalt literarischer Ausdrucksformen ein, in denen der kaum zu überwindende Kulturschock, das Problem der Zweisprachigkeit sowie die sich daraus ergebende Identitätskrise im Vordergrund standen. Im Hinblick auf die sprachlichen Schwierigkeiten, denen sich die in die BRD eingewanderten Türken gegenübersahen, erregte anfangs vor allem das bereits erwähnte Buch Kanak Sprach. 24 Mißtöne am Rande der Gesellschaft (1995) von Feridun Zaimoglu das nötige Aufsehen, in dem er die von vielen fremdenfeindlich eingestellten Bundesrepublikanern für die sich nur mühsam auf Deutsch ausdrückenden türkischen Einwanderer abwertende Bezeichnung „Kanaksprache“ in bewusst provozierender Weise als einen subversiven Jargon verwandt hatte, um damit auf ihre nach wie vor bestehende Situation als soziokulturelle Außenseiter hinzuweisen. So sagt hier etwa der türkische Flohmarkthändler Okay, der bereits Deutsch sprechen, aber noch nicht schreiben kann, auf kanakisch: „Klar hab ich was anzubieten, was feiner noch dazu, aber nicht wie der dumme rest, schimmelmarok oder roten libanesen oder was auch immer die verscherbeln, wenn’s um’s 190
Das Eigene im Fremden. Zur Sprache der deutschen Türken
abzocken geht, muß ja jeder sehen, wo er bleibt, illegal is nur auf die länge ‘n bißchen knechtmaloche, und wenn der gendarm dir auf den fersen ist, bist du pur zombie, weil du a krumm bist und immer schön an der wand klebst, bevor der handel in die gänge kommt, und’s geschäft blüht und rankt bis zum großen bang.“16 Und das machte zeitweilig Furore. Dieser Band wurde sogar dramatisiert und auch als Hörspiel gesendet. Sein zweites Erzählwerk, der Roman Abschaum. Die wahre Geschichte von Ertan Ongun (1997), in dem es abermals um Außenseiterexistenzen ging, erschien daher nicht nur als vielbeachtetes Buch, sondern wurde drei Jahre später unter dem Titel Kanak Attack ebenso erfolgreich verfilmt. Aufgrund dieser Erfolge stieg Zaimoglu schnell zu einem preisgekrönten Autor auf, dessen weitere Werke sowohl auf deutsch als auch auf englisch, italienisch, spanisch, bulgarisch und türkisch herauskamen. Doch es war nicht allein Zaimoglu, der seit Mitte der neunziger Jahre unter den Literaturinteressenten in der BRD das nötige Aufsehen erregte. Man denke an deutsch-türkische Autoren und Autorinnen wie Nuran David Calis, Aysel Özakin, Akif Pirinecci und Alev Tekinay, die sich in der Folgezeit mit Romanen, Dramen, Gedichten, Hörspielen, Filmen, Drehbüchern, Reportagen, Krimis sowie Kinder- und Jugendbüchern als freie Schriftsteller etablierten, wodurch die sogenannte Migrantenliteratur, die sich lange Zeit, wie gesagt, vornehmlich mit der Arbeitssituation türkischer Gastarbeiter und Gastarbeiterinnen auseinandergesetzt hatte, in immer größere Problemfelder wie kulturelle Entfremdung, Religionsverlust, feministische Selbstbestimmung, Integrationshemmungen sowie Fragen des sprachlichen Ausdrucksvermögens übergriff, das heißt wo neben der ökonomischen Notsituation zusehends auch subjektverhaftete Fragen in den Vordergrund traten.17 Wohl die meiste Beachtung innerhalb dieser Richtung erfuhr Emine Sevgi Özdamar, die bereits 1965 als neunzehnjährige Fabrikarbeiterin nach Westberlin gegangen war, dann jedoch nach Istanbul zurückkehrte, wo sie eine Schauspielausbildung erhielt, bis sie nach dem Militärputsch von 1971 als „Linke“ in der Türkei aus dem Kulturleben ausgeschlossen wurde. Darauf 191
Das Eigene im Fremden. Zur Sprache der deutschen Türken
ging sie 1976 zuerst als Regieassistentin an die Ostberliner Volksbühne unter Benno Besson und erhielt dann ein Festengagement am Bochumer Schauspielhaus unter Claus Peymann. 1986 inszenierte sie in Frankfurt ihr Stück Karagöz in Alamania, spielte anschließend in verschiedenen Filmen mit und brachte 1990 ihren ersten Erzählband unter dem Titel Mutterzunge heraus.18 Wie sich schon aus diesen wenigen Fakten ergibt, stand also bei Özdamar – trotz ihrer frühen Gastarbeiterinnenerfahrung – von vornherein das Bemühen im Vordergrund, sich im bundesrepublikanischen Theater- und Literaturbetrieb als gleichberechtigte „Kulturschaffende“ durchzusetzen. In einem Land aufgewachsen, wo ihr Großvater noch Arabisch gesprochen hatte, jedoch 1927 das Türkische als Nationalsprache eingeführt worden war, lebte sie jedoch seit den späten siebziger Jahren in einem Staat, wo fast niemand Arabisch oder Türkisch verstand, sie sich aber als deutschschreibende Autorin einen Namen machen wollte. Daher empfand sie – neben ihrer ideologischen Orientierung – erst einmal die ihr in der BRD aufgezwungene Sprachsituation als ihr Hauptproblem. Demzufolge nannte Özdamar ihren ersten Erzählband, der sich vorwiegend mit dieser Fragestellung beschäftigt, zu Recht Mutterzunge. Auf die ihr gestellte Frage, was sie eigentlich in Deutschland mache, antwortete sie hier, als ob es keine weiteren Probleme gebe, unverhohlen: „Ich bin Wörtersammlerin.“19 Ja, an anderer Stelle heißt es sogar noch unverblümter, dass ihr die Sätze ihrer Heimatsprache immer stärker wie „eine von mir gut gelernte Fremdsprache“ vorkämen20 und sie sich kaum noch erinnere, „in welchem Moment ich meine Mutterzunge verloren habe“.21 Erst in ihrem im Jahr 2001 erschienenen Erzählband Der Hof im Spiegel, als die politischen Konfrontationen des Kalten Kriegs allmählich nachließen, äußerte sie sich in diesem Punkt wesentlich konkreter. In ihm erklärte sie in aller Offenheit, dass sie wegen des 1971 in der Türkei erfolgten Militärputschs als schutzsuchende Asylantin erst einmal in die DDR , das Land Bertolt Brechts, gegangen sei. „Hier“, schrieb sie, „habe ich gar nicht darüber nachgedacht, in welcher Sprache ich schreiben sollte. Ich drehte meine Zunge ins Deutsche, und plötzlich war ich glücklich.“22 192
Das Eigene im Fremden. Zur Sprache der deutschen Türken
Im Gegensatz zu den meisten in die BRD eingewanderten Türken fühlte sich daher Özdamar immer weniger als Migrantin, sondern eher als freischwebende Schriftstellerin, deren literarische Erfolge und zahlreiche Preisverleihungen sie befähigten, ein in Deutschland und Frankreich ereignisreiches, immer stärker ins Kosmopolitische tendierendes Leben zu führen. Daher heißt es in ihrem Erzählband Der Hof im Spiegel in unverhüllter Abwendung von ihren früheren politischen Überzeugungen: „Ich bin ein Mensch vom Weg, am liebsten ist mir, im Zug sitzen zwischen den Ländern. Der Zug ist ein schönes Zuhause.“23 Wie in fast allen Asyl- oder Exilerfahrungen schwingt selbstverständlich sogar in solchen Sätzen noch immer eine gewisse Trauerarbeit über die fortschreitende Heimatlosigkeit mit, die sich aber nicht mehr mit der Stimmungslage in der früheren Gastarbeiterliteratur vergleichen lässt, in der zumeist ein nur schwer zu unterdrückender Affekt gegen die kaum zu ertragende Fremdheit innerhalb der neuen Lebensverhältnisse vorherrschte. Was sich in den letzten Jahrzehnten in den Werken vieler bereits in der BRD geborener türkischstämmiger Autoren und Autorinnen durchgesetzt hat, ist demzufolge, wie schon bei Özdamar, eher eine ins Literarische gewendete, zumeist autobiographische Erzählweise, in der nicht mehr das Gefühl der Entfremdung, sondern immer stärker das Bewusstsein der Assimilation, wenn nicht gar der Wendung ins Kosmopolitische den Ton angibt und die von vielen bundesrepublikanischen Lesern und Leserinnen deshalb kaum noch als „nichtdeutsch“ empfunden wird. Ja, im Gefolge der seit 2015 anwachsenden Migrationswellen aus anderen Ländern des Nahen Osten und Nordafrikas, durch die eine Fülle zuvor ungeahnter neuer sozialer und sprachlicher Integrationsprobleme entstanden sind, ist die spezifische Beachtung, welche die deutsch-türkische Literatur bisher in der BRD gefunden hat, allmählich zurückgegangen. Ob es auch den auf deutsch geschriebenen Werken der neuen Zuwanderer in Zukunft ähnlich ergehen wird, bleibt vorerst abzuwarten. Die rechtspopulistisch orientierten Kreise werden sie sicher als ebenso „fremdländisch“ ablehnen wie die zuvor erschienenen deutsch-türkischen Romane, 193
Das Eigene im Fremden. Zur Sprache der deutschen Türken Abb. 23: Emine Sevgi Özdamar (2016)
Erzählungen oder Gedichte. Die humanitär eingestellten Liberalen, denen es nicht mehr ausschließlich um ihr „Deutschsein“ geht, werden sie dagegen eher als Symptome einer sich verstärkenden Transkulturalität empfinden und dementsprechend begrüßen. Doch das wird sicher noch nicht die letzte Auseinandersetzung sein. Alles Weitere in dieser Hinsicht hängt davon ab, wie sich eine zukünftige Regierungsmehrheit des „Industriestandorts Deutschland“ zu den Integrationsbemühungen innerhalb der Europäischen Union sowie den sich verstärkenden Globalisierungstendenzen verhalten wird, was nicht nur politische und sozioökonomische, sondern auch sprachliche Konsequenzen haben könnte.
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Amerikanismen und denglodeutsche Neubildungen. Abschied von der „Muttersprache“? I Nach dem allmählichen Abflauen der sich in den frühen siebziger Jahren in der BRD wie ein Lauffeuer ausbreitenden Poprevolte, die mit aus den USA überschwappenden Slogans wie „Don’t trust anyone over thirty“ und „The personal is the political“ gegen das herrschende Establishment von „Daddy’s Culture“ aufbegehrt hatte, glaubten manche westdeutschen Soziologen und Linguisten, dass in den achtziger Jahren auch sprachlich wieder „normale Zustände“ eintreten würden. Schließlich erfolgte gegen Ende dieses Jahrzehnts jene seit langem erwartete Wiedervereinigung, durch die sich unter dem Motto „Wir sind ein Volk!“ vor allem im Osten Deutschlands, aber auch innerhalb der konservativ gesinnten Bevölkerungsschichten links der Elbe ein merkliches Anwachsen nationalistischer Ideologiekomplexe anzudeuten schien. Doch das Gegenteil trat ein. Wie so oft erwies sich auch diesmal die Macht des Ökonomischen als wesentlich stärker als alle politischen Schönredereien. Die maßgeblichen Sieger dieser „Wende“ waren letztlich nicht die sogenannten breiten Massen, sondern die westdeutschen Konzerne, Banken und Medienverbände, welche sich die von ihnen als marode oder stasiverseucht hingestellte DDR einfach einverleibten. Und das führte in der Folgezeit zu einer ständig anwachsenden Machtstellung jener Schichten innerhalb des „Industriestandorts Deutschland“, wie sich dieser Staat jetzt offiziell gern ausgab, die im Rahmen der Europäischen Union zusehends eine zwar meist unausgesprochene, aber aufgrund ihrer wirtschaftlichen Stärke höchst reale Führungsrolle beanspruchten. All das hatte nicht nur ökonomische, sondern auch weitreichende ideologische, massenmediale und linguistische Auswirkungen. Schließlich spielte 195
Amerikanismen und denglodeutsche Neubildungen
sich dieser Aufstieg der BRD zu einer führenden Industrienation im Rahmen jenes nordatlantischen Bündnissystems ab, in dem die USA, die aus dem über 40 Jahre anhaltenden Kalten Krieg gegen die UdSSR und den mit ihr liierten Ländern des sogenannten Ostblocks als die führende Weltmacht hervorgegangen waren und welche demzufolge auf die mit ihr politisch verbündeten und wirtschaftlich vernetzten Staaten einen ständig wachsenden Einfluss auszuüben begannen. „The American Way of Life“, das heißt die Durchsetzung eines durch nichts eingeschränkten persönlichen Bereicherungsdrangs im Rahmen einer marktwirtschaftlichen Konkurrenzgesellschaft, galt deshalb auch in der BRD sowie den anderen Ländern der NATO im Zuge der von diesen Staaten ausgehenden Globalisierung und der mit ihr verbundenen digitalisierten Produktions- und Marketingsprozesse in weiten Teilen der Welt geradezu zwangsläufig als die einzig erstrebenswerte Wirtschaftsform, was nicht nur, wie gesagt, zu einem ökonomischen, sondern auch zu einem sprachlichen Anpassungsverhalten führte.
II Im Hinblick auf die BRD könnte man das als die „Phase II“ der fortschreitenden Amerikanisierung bezeichnen. Schließlich hatte dieser Prozess – nach einem häufig als „fordistisch“ charakterisierten Vorspiel in den mittzwanziger Jahren der Weimarer Republik – schon in den langen Jahren der adenauerschen Regierungszeit von 1949 bis 1963 durch die massive „Westbindung“ der BRD in Form des Marshall-Plans, des erhardschen „Wirtschaftswunders“ sowie der Aufstellung einer westdeutschen Armee begonnen, mit dem die USA diesen Staat in ein Bollwerk gegen den östlichen Kommunismus verwandelt hatten. Ja, dieser Trend war durch die massenmediale Überflutung mit amerikanischen Filmen, Musicals und Popmusik sowie die seit den späten sechziger Jahren auftretenden westdeutschen Beatnik-, Hippie-und Poprebellen sogar noch verstärkt worden, was sowohl auf die Lebensweise als auch die sprachlichen Ausdrucksformen breiter Jugendschichten übergegriffen hatte. 196
Amerikanismen und denglodeutsche Neubildungen
Bereits in diesem Zeitraum waren daher über 1000 Amerikanismen in die westdeutsche Sprache eingedrungen, worüber es eine Reihe höchst akribisch durchgeführter Studien gibt, die zwischen 1960 und 1980 erschienen sind.1 In ihnen wurde in dieser Hinsicht meist auf die Vorreiterrolle überregionaler Presseorgane wie Der Spiegel, Die Welt, die Frankfurter Allgemeine Zeitung sowie die Süddeutsche Zeitung hingewiesen.2 Allerdings drückten sich ihre Verfasser im Hinblick auf diesen Vorgang noch weitgehend amerikafreundlich aus. Als lexikographisch orientierte Fachwissenschaftler ging es ihnen vornehmlich um statistisch nachweisbare Phänomene, ohne dabei eine widersetzliche Haltung gegenüber den in den fünfziger und sechziger Jahren noch weithin als vorbildlich hingestellten Vereinigten Staaten einzunehmen. Und doch waren schon ihre Erhebungen höchst aufschlussreich. Schließlich wiesen sie nach, dass sich die meisten Amerikanismen oder besser Anglizismen, wie es damals noch hieß, in der „Phase I“ der Bundesrepublik auf den Gebieten Politik, Wirtschaft, Werbung und massenmedialer Vermittlung finden ließen, womit sie indirekt belegten, dass es sich dabei vorwiegend um politische oder zumindest ideologische Beeinflussungen gehandelt hatte. Gehen wir auf diese Bereiche anhand besonders signifikanter Beispiele einmal etwas kritischer ein, statt lediglich sprachtheoretisch zu argumentieren. Auf politischem Gebiet lassen sich für derartige Entlehnungen schon in der Frühzeit der BRD folgende aus dem britischen und dann immer stärker aus dem amerikanischen Vokabular stammende Ausdrücke nachweisen. Besonders häufig tauchten damals, wie zu erwarten, diesbezügliche Wörter in Wahlreden, Parteiprogrammen, Bundestagsreden sowie den Leitartikeln der Tagespresse auf.3 Man erinnere sich an Amerikanismen wie „Appeasement“, „Co-Existence“, „Containment“, „Eastblock“, „Fellow Traveler“, „Free World“, „Hardliner“, „Leadership“, „Lefty“, „Liberation“, „Non-Alignment“, „Pinko“, „Waffendeal“ und „We in the West“, die sich fast alle auf die ideologisch aufgeheizte Stimmung des Kalten Kriegs bezogen und bis zum Zusammenbruch der Sowjetunion in den Jahren 1989/90 höchst virulent bleiben sollten. 197
Amerikanismen und denglodeutsche Neubildungen
Da jedoch, wie gesagt, das Wirtschaftliche fast immer der aller Politik zugrunde liegende Impuls ist, kam es auch auf diesem Gebiet zu einer kaum übersehbaren Fremdwortbereicherung, um auch Westdeutschland und dann die nach 1990 erweiterte Bundesrepublik im Laufe der Jahrzehnte immer stärker in das transatlantische Bündnis- und Wirtschaftssystem einzubinden. Vielleicht genügt es in dieser Hinsicht, wenigstens auf einige der inzwischen vielen Deutschen geläufigen Direktübernahmen aus dem angloamerikanischen Geschäftsbereich hinzuweisen: „Banker“, „Broker“, „Budget“, „Business“, „Career Opportunities“, „Consulting“, „Developer“, „Export Boom“, „Floatende Wechselkurse“, „Global Players“, „Holding Companies“, „Hot Jobs“, „Joint Ventures“, „Investment“, „Leasing“, „Lobby“, „Manager“, „Mobbing“, „New Economy“, „Pressure Group“, „Prime Rate“, „Service Providers“, „Shareholder Value“, „Splittingverfahren“, „Task Force“ und Ähnliches mehr. Aufs Engste verbunden waren damit alle angloamerikanischen Fremd- oder Lehnwörter, denen sich die verschiedenen, auf eine größere Profitrate drängenden bundesrepublikanischen Firmen in ihrer von Jahr zu Jahr zunehmenden Werbung auf Plakaten, Ladenschildern, Litfaßsäulen, Postwurfsendungen, Anzeigen in lokalen Zeitungen, Fernsehsendungen oder im Radio zum Kauf anreizender Werbespots bedienten. Überall gaben sich seit den achtziger Jahren die bisherigen Firmen, Großmärkte und Einzelhandelsgeschäfte plötzlich als „Anzug-Outlets“, „Back Shops“, „Beauty Salons“, „Bratwurst-Points“, „Car Wash Anlagen“, „Catering Services“, „Copy Shops“, „Department Stores“, „Discount Centers“, „Drugstores“, „Duty Free Shops“, „Hair & Nail Styling“, „Karstadt Kids World“, „McPaper Läden“, „McClean“, „Rent a Car“, „Schlecker for you“, „Second Hand Shops“, „Snack Bars“, „Talk Cafes“ oder „American Boutiques“, „Outfit Geschäfte“, „Shoe Marts“ oder „Textile Stores“ aus, die sich nicht nur an Teens und Twens, sondern an alle Bevölkerungsschichten wandten. Was man in ihnen erstehen konnte, waren entweder „American Style Pancakes“, „Big Macs“, „Business Lunches“, „Chips“, „Coffee to go“, „Crackers“, „Delicious Brötchen fresh belegt“, „Frozen Erfrischungsdrinks“, „Hot Dogs“, 198
Amerikanismen und denglodeutsche Neubildungen
Abb. 24: Back Shop in Berlin (2015)
„Lebkuchen & more“, „Sandwiches“, „Softeis“, „Wraps“ oder auch „Baggy Hosen“, „Coats“, „Long Jackets“, „Sportswear“, „Stonewashed Jeans“, „Stylische Hosen“, „T-Shirts“ mit aufgedruckten amerikanischen Slogans sowie Produkte der Underwear-Industrie. Das Gleiche gilt für die vielen Werbespots, mit denen Autofirmen, Baumärkte, Gift Shops, Schuhgeschäfte oder Souvenierläden neue Kunden anzulocken versuchten, die sich ebenfalls bemühten, ihren Produkten einen amerikanischen „Touch“ zu geben.4 Fast dieselbe Entwicklung lässt sich selbst im Hinblick auf das seit alters her eher traditionsbewusste Buchwesen beobachten. Statt Kurzgeschichte sagt man hier schon seit vielen Jahren häufig „Short Story“, statt Erfolgsschlager „Bestseller“, statt Druckvorlage „Layout“, statt Buchmesse „Book Fair“, statt Taschenbuch „Paperback“, statt Handlung „Plot“ oder „Storyline“, statt Inhaltsverzeichnis „Table of Contents“, statt Umbruch „Galley Proofs“ oder statt Urheberrecht „Copyright“. Ja, selbst in den ehemals ach so „heil’gen Hallen“ der deutschen Universitäten hat diese Amerikanisierung 199
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inzwischen erheblich zugenommen. So ist in den einzelnen „Departments“, wie die verschiedenen Disziplinen jetzt heißen, im Rahmen der Bachelorund Masterprogramme mit ihren verschiedenen „Modulen“ immer häufiger von „Bewerbungs-Coaching“, „Evaluations“, „Hearings“, „Lectures“, „Workshops“ oder „Profs“ die Rede, die man in ihren „Office Hours“ aufsucht. Ja, in den „Natural Sciences“, aber auch auf anderen Gebieten werden viele Vorlesungen nicht mehr auf Deutsch, sondern auf Englisch gehalten.5 Soviel zu einigen Bereichen der Politik, Wirtschaft, Werbung sowie dem Buch- und Universitätswesen. Doch wenn es nur das wäre, könnte man den Gebrauch all dieser Amerikanismen noch als vorübergehendes Politikgeschwafel, modischen Banker- und Werbejargon, elitäres Imponiergehabe oder vorübergehendes Anpassungsverhalten abtun. Doch das wäre etwas zu kurzschlüssig. Schließlich sind derartige und unzählige andere Amerikanismen bereits tief in das Alltagsbewusstsein fast aller deutschen Bevölkerungsschichten eingedrungen und werden dort schon längst nicht mehr als etwas Fremdes oder gar Exotisches empfunden. So spricht man heute selbst im Intimbereich nicht mehr von Vati oder Mutti, sondern von „Daddy“ und „Mom“, singt bei Geburtstagen „Happy Birthday to You“, frequentiert „Partys“, versieht Hochzeitskutschen mit dem Spruch „Just Married“, gibt Neugeborenen Vornamen wie Andy, Ben, Charles, Chuck, Kevin, Liz, Mike, Nick, Pamela, Patrick, Tom oder Wendy und bezeichnet Kinder gern als Kids, Teenager oder Youngsters. Und auch die Singles unter den Twens haben keine Rendevous mehr, sondern verabreden mit ihren Tussis in „kuhlen“ Cafés vielversprechende „Dates“, suchen sowohl in den Krimis der Fernsehsendungen als auch in der Realität irgendwelche „Eros Centers“ auf oder picken nach dem Einnehmen von „Ecstasy Pills“ in lautstarken Klubs eins der dortigen „Girls“ auf. Außerdem machen sie häufig „Jogging“, frequentieren „Fitness Centers“ oder spielen „Bowling“, um lustabtötende „Burnouts“ zu vermeiden und sich stets möglichst „fit“, „happy“, „high“ oder „top“ zu fühlen, um nur ja keine „Losers“ oder „Nerds“ zu werden. Auch in den meisten ihrer anderen Freizeitvergnügungen, zu denen vor allem Fernsehen, Musikhören, Sportereignisse und Touristikerlebnisse 200
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gehören, hat die Häufigkeit angloamerikanischer Lehnwörter ständig zugenommen. Doch das stört weite Bevölkerungsschichten schon seit langem nicht mehr. Die meisten Radio- oder TV -User nehmen es einfach als modern oder zeitgemäß hin, dass in diesen Medien ständig von „Action Movies“, „Casting“, „Doku-Highlights“, vollgeilem „Editing“, „Ermittlerteams“, „High Fidelity“, „Kulturtalk“, „Late Night Shows“, „Livekommentierung“, „Moderators“, „Mega-Stars“, „News“, „Playlists“, „Prime Time“, „Public Viewing“, „Soundtracks“, „Scriptwritern“, „Showmasters“, „Talkshows“, „Topbesetzung“, „Trailers“ oder schlichtweg „Entertainment“ die Rede ist, was in gleichem Maße für den Wortschatz von Programmheften wie TV -Guide, City oder Tip gilt. Besonders im Hinblick auf Musiksendungen, aber auch auf „Open Air Festivals“ und ähnliche „Events“ haben sich solche aus dem Angloamerikanischen stammenden Wörter ausgebreitet. Dafür sprechen längst eingebürgerte Begriffe wie „anturnende Music“, „Band“, „Chart“, „Hiphop“, „Hit Tunes“, „Longplaying Discs“, „Medleys“, „Oldies“, „Rap“, „Punk“, „Remakes“, „Rock ’n’ Roll“, „Song“, „Sound“, „gefakte Videos“ usw. usw. Sogar im Hinblick auf massenmedial vermittelte Sportveranstaltungen, wo man es – wegen der oft ins Nationalistische tendierende Gefühlsaufwallungen – an sich weniger vermuten würde, gebrauchen Fernsehansager und Zeitungsreporter immer häufiger Wörter wie „Champion“, „Coach“, „Downhill“, „Dribbling“, „Fan-Club“, „Foul“, „German Open“, „Grand Slam“, „Kickerteam“, „Matchwinner“, „Penalty“, „Play-off“, „Skateboarding“, „Super Team“, „Tiebreak“, „Trainer“ oder „World Cup“. Fast noch amerikanisierter wirken die zu einer eventerfüllten Urlaubszeit anreizenden Broschüren vieler „Travel Agencies“. Sie versprechen ihren Kunden meist „Adventure Weeks“, „Camping“, „billige Charterflüge“, „Endless Surfing in California“, „Feel Free-Erlebnisse“, „Lazy Days“, „Fun und Lifestyle total“, „Magic Moments auf der Piste“, „Nature & Adventure“, „Shopping Touren“, „Salt Water Canoeing“, „Ski & More“, „Sightseeing“, „Urlaubsparties“ oder „Vitale Wellness-Wochen“, und das zu „highly recommended Discount-Preisen“, um möglichst viele „Funsuchende“ in ihren Bannkreis zu ziehen. 201
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Ja, alle diese fremdsprachlichen Überflutungen haben durch die seit der in den achtziger Jahren von den Vereinigten Staaten ausgehenden Digitalisierung solche Ausmaße angenommen, dass sie kaum noch zu überschauen sind. Während man all diesen Wörtern bis dahin fast ausschließlich in gesendeter oder gedruckter Form oder im Alltagsgebrauch begegnet war, tauchen sie seitdem zugleich im Internet und den sogenannten „Social Media“ auf, die für immer mehr Menschen zu den wichtigsten Kommunikationsformen und Informationsquellen geworden sind. Und damit hat sich noch ein weiteres Einfallstor für die aus dem Angloamerikanischen übernommenen Lehnwörter aufgetan. Seitdem wird auf allen Computern ständig „gegoogelt“, „gemailt“, „gepostet“, „gesurft“ und „upgedatet“, seitdem liest man „Tweets“ und „SMSs“, seitdem „ordert“ oder bezahlt man „online“, seitdem „surft“ oder „chattet“ man im Internet, seitdem gebraucht man „Apps“, seitdem weiß man, was „Software“ ist und „switcht“ von einem Programm ins andere, um nur ja ständig „with it“ zu sein.
III Dass diese ständig zunehmende Überfremdung der deutschen Sprache mit angloamerikanischen Lehnwörtern oder direkt übernommenen Redewendungen zwangsläufig zu mehr oder minder scharfen Gegenreaktionen führen würde, war angesichts weiter bestehender Selbstwertgefühle innerhalb des konservativ gesinnten Flügels der intellektuellen Elite der BRD vorherzusehen. Allerdings lassen sich dabei eine Reihe deutlich unterschiedener Spielarten erkennen, die man nicht ohne Weiteres auf einen gemeinsamen Grundnenner zurückführen kann. Besonders zahlreich meldeten sich in dieser Hinsicht einige Sprachwissenschaftler zu Wort. Doch auch sie waren selten einer Meinung, sondern sahen in der verstärkten Zunahme angloamerikanischer Lehnwörter entweder ein fachwissenschaftliches Problem, indem sie im Hinblick auf derartige Übernahmen meist nur irgendwelche sprachlichen Verballhornungen bemängelten oder indem sie darin mit
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Abb. 25: Friedrich Retkowski: Restdeutsche Impressionen. Karikatur auf einer Ausstellung des „Vereins Deutsche Sprache“ (2017)
ideologisch akzentuierter Abwehrhaltung eine Bedrohung der deutschen Muttersprache befürchteten. Die eher semantisch oder grammatikalisch orientierten Linguisten wiesen dabei vor allem auf falsche oder allzu plumpe Direktübertragungen aus dem amerikanischen Englisch hin, wofür sie als Beispiele meist Sätze oder Redewendungen wie „Das habe ich nicht richtig realisiert“ (statt begriffen), „Ich erinnere“ (statt Ich erinnere mich), „Ich sehe dich“ (statt Auf Wiedersehen), „Das macht Sinn“, „Das macht mir keinen Unterschied“ oder „Wie heißt das in Deutsch?“ anführten, um sich so über Begriffsverschiebungen, den Wegfall von Reflexivpronomina oder ähnliche von ihnen als „fehlerhaft“ charakterisierte Sprachdefekte zu mokieren, aber noch ohne darin bereits eine schwerwiegende Bedrohung des deutschen Sprachgefüges zu sehen. Zu eher energischen, ja geradezu pamphletisch formulierten Gegenreaktionen auf das verstärkte Überhandnehmen angloamerikanischer Lehnwörter 203
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in weiten Bereichen von Politik, Wirtschaft, Werbung, Massenmedien, Lebensmitteln, Kleidermoden, Sportereignissen, Touristik und vor allem im Hinblick auf die sich rapide ausbreitende Digitalisierung kam es erst seit den neunziger Jahren, die auch in der Folgezeit keineswegs verstummten. Seitdem liest man in diesbezüglichen Publikationen – wie Rudolf Lubeleys Streitschrift Sprechen Sie Engleutsch? Eine scharfe Lanze für die deutsche Sprache (1993), Dieter E. Zimmers Aufsatz Neoanglodeutsch. Über die Pidginierung der Sprache, der in seinem Buch Deutsch und anders (1997) erschien, Gerhard Illgners Buch Die deutsche Sprachverwirrung. Lächerlich und ärgerlich. Das Kauderwelsch (2000), Walter Krämers Aufsatz Der 51. Bundesstaat. Die deutsche Sprache als Opfer der Selbstverleugnung, in dem von Gabi Erlberg herausgegebenen Band Deutsch 2000 (2000), dem von Helmut Glück und Walter Krämer herausgegebenen Pamphlet Die Zukunft der deutschen Sprache. Eine Streitschrift (2000), dem Wörterbuch überflüssiger Anglizismen von Rudolf Bartzsch, Reiner Pogarell und Markus Schröder (2001) sowie dem von Hermann Zabel herausgegebenen Buch Denglisch, nein danke! Zur inflationären Verwendung von Anglizismen und Amerikanismen in der deutschen Gegenwartssprache (2001) – immer wieder, dass sich in „unserem Land“, wie es gern heißt, ein sprachliches „Kauderwelsch“,6 eine „Pidginsprache“ bzw. ein „Schimpansendeutsch“ ausgebreitet habe,7 gegen das man unbedingt ankämpfen müsse. Während sich um 1900 nur 392 Anglizismen in der deutschen Sprache nachweisen ließen, behauptete der gegen diese Entwicklung empört argumentierende Gerhard Illgner, sei diese Zahl inzwischen auf 6500 angestiegen und vermehre sich weiterhin geradezu von Jahr zu Jahr.8 Um mit derartigen Angriffen und statistischen Hinweisen nicht in den Verdacht zu geraten, verbohrte „Puristen“ oder gar Anhänger des nazifaschistischen Bemühens um eine rassistisch motivierte „Muttersprachlichkeit“ zu sein, griffen im Rahmen solcher Polemiken manche Vertreter dieser Richtung lieber auf das zwar ebenfalls national gesinnte, aber ideologisch unverbindlich klingende Konzept des unbedingt zu bewahrenden „kulturellen Erbes“ zurück. Doch welche Kultur man dabei im Auge hatte, wurde 204
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selten oder nie erwähnt. Schließlich war dieses „kulturelle Erbe“ inzwischen schon zu großen Teilen in den ins Populäre, wenn nicht gar Triviale tendierenden Fluten der alles überspülenden Massenmedien untergegangen. Um sich demzufolge nicht als hohlklingende Phrasenhelden bloßzustellen, mussten sich deshalb einige dieser Sprachschützer etwas konkreter ausdrücken. Und hierfür bot sich zwangsläufig die immer stärker werdende „politwirtschaftliche Dominanz der USA “ an.9 Manche Vertreter dieser national gefärbten Abwehrhaltung gegenüber der zunehmenden Amerikanisierung der Bundesrepublik zögerten deshalb keineswegs, im Hinblick auf die fortschreitende Sprachverwirrung von „Amerikomanie“ oder „gleichmacherischer Nachahmung und Selbstkolonisierung“ der BRD zu sprechen, die sich zusehends in einen semikolonialen Satellitenstaat oder ein „Little America“ zu verwandeln drohe,10 was zwangsläufig zu einem Selbstmord der deutschen Sprache führen würde. Schließlich dringe diese „linguistic submissiveness“ – weit über den wirtschaftlichen Sektor hinaus – sogar in steigendem Maße immer stärker in die Intim- und Alltagssprache ein.11 Nicht nur die Jugendlichen, sondern auch die Erwachsenen, heißt es bei den Vertretern derartiger Anschauungen, gebrauchten heutzutage bei Flüchen, Begrüßungen oder beim „Small Talk“ schon fast in jedem dritten oder vierten Satz sprachliche Floskeln wie „Bye-Bye“, „Bullshit“, „Cool“, „Excuse me“, „Fuck“, „Hello“, „Hey“, „Never mind“, „Let’s do it“, „No Problem“, „Okay“, „Sorry“, „Super“ sowie „Wow“, um nicht länger als „Nurdeutsche“ zu gelten. Und auch Verben wie „ausflippen“, „canceln“, „checken“, „fighten“, „jobben“, „kidnappen“, „killen“, „liften“, „outen“, „promoten“, „relaxen“, „scannen“, „shoppen“, „timen“, „tunen“ und so weiter erfreuten sich leider einer großen Beliebtheit. Um diesem zunehmenden „Sprachverfall“ entgegenzutreten, der wegen seiner „linguistic submissiveness“ bereits den Spott anderer Länder der Europäischen Union hervorrufe, forderten daher diese auf Sprachbewahrung drängenden Kreise, die vor allem im „Verein Deutsche Sprache“ aktiv wurden,12 ihre Leser und Leserinnen auf, der deutschen Sprache den ihr seit alters her gebührenden Rang zurückzuerstatten, anstatt in ihr weiterhin 205
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Abb. 26: Web-Aktion „Deutsch retten!“ im „Stern“ vom 17. Mai 2014
lediglich ein überflüssiges Vehikel aus der „vormodernen“, das heißt noch nicht den Gesetzen der sich globalisierenden Weltsituation zu sehen. Schließlich seien die über 100 Millionen deutschsprechenden Menschen innerhalb der Europäischen Union nach wie vor die weitaus größte Sprachgemeinschaft dieses Kontinents, die sich ihrer Sprache keineswegs zu schämen brauchten, statt sich angesichts der führenden Wirtschaftsmacht der USA einem vorzeitigen Sprachdefaitismus hinzugeben.
IV So viel erst einmal zu all jenen national bewussten Sprachwissenschaftlern, die sich bereits in der frühen und dann mit wesentlich größerem Nachdruck in der wiedervereinigten Bundesrepublik mit der zunehmenden „Überfremdung“ der deutschen Sprache durch angloamerikanische Einsprengsel auseinandergesetzt haben. Zu Anfang, als kritische Äußerungen gegenüber den USA noch weitgehend tabuisiert waren, verfuhren sie dabei, wie 206
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gesagt, eher lexikographisch konstatierend, ohne damit irgendwelche ideologischen Werturteile zu verbinden. Erst seit den neunziger Jahren, als die Auswirkungen der von den Vereinigten Staaten ausgehenden Globalisierung und Digitalisierung immer offensichtlicher wurden, kam es selbst innerhalb dieser Schichten zu schnell anwachsenden Gegenreaktionen, die über den relativ eng begrenzten Bereich fachwissenschaftlicher Debatten hinaus auch führende Politiker, Reporter und Zeitungsredakteure zu beschäftigen begannen. Dafür wenigstens einige Beispiele, in denen die ins Nationale bzw. Internationale tendierenden Intentionen derartiger Auseinandersetzungen besonders deutlich zum Ausdruck kamen. Vor diesem Zeitpunkt sah man auf Seiten einiger Politiker in der steigenden Verwendung angloamerikanischer Lehnwörter weder das Eine noch das Andere, sondern – durch die damit bewirkte Spaltung in eine Englisch verstehende Bildungsschicht und die diese Sprache nicht verstehende breite Masse der Bevölkerung – eher eine Gefahr für die mühsam errungene Demokratisierung der frühen BRD. So erklärte etwa 1973 der damals amtierende Bundespräsident Gustav Heinemann in einer Rede in der Schillerstadt Marbach: „Die seit Kriegsende bei uns in alle Bereiche des Lebens eingedrungene Flut von Amerikanismen muß endlich wieder zurückgedrängt werden. Das zu sagen, hat nicht das geringste mit Antiamerikanismus zu tun. Es geht allein um die Verpflichtung gegenüber unserer eigenen Sprache. Diese Verpflichtung verlangt von uns ganz allgemein, den gedankenlosen Gebrauch von Fremdwörtern zu überwinden. Dabei handelt es sich um nichts geringeres, als um den mir wichtig erscheinenden Auftrag, die Sprachkluft zwischen den sogenannten gebildeten Schichten und den breiten Massen unserer Bevölkerung zu überwinden, die für eine Demokratie so gefährlich ist.“13 Ein solches „Statement“, wie man später gesagt hätte, hatte damals noch durchaus seine Berechtigung. Schließlich besaßen Anfang der siebziger Jahre nur rund fünf bis acht Prozent der westdeutschen Bevölkerung ausreichende Englischkenntnisse, während gegen Ende des Jahrhunderts dieser Prozentsatz durch den verstärkten Englischunterricht in den Schulen auf über 80 207
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Prozent anstieg. Deshalb nahm die Debatte über diese Problemstellung danach völlig andere Formen an. Dafür spricht eine am 23. November 2000 gehaltene Rede des damaligen Bundespräsidenten Johannes Rau, in der er sich zwar auch, wenn auch in wesentlich vorsichtigerer Form, zu dieser Frage äußerte, aber dabei eher auf den kulturpolitischen Aspekt der damit verbundenen Wandlungsprozesse einging. Rau gab zwar zu, dass durch den vermehrten Gebrauch des Internets das Angloamerikanische inzwischen zur „vorherrschenden neuen globalen Kommunikationssprache“ geworden sei und dass auch sonst „viele Amerikanismen“ in die deutsche Sprache eingedrungen seien, lehnte es jedoch entschieden ab, diesen Vorgängen mit einer prononcierten „Deutschtümelei“ entgegenzutreten. Dennoch warnte er davor, mit „unserer eigenen Sprache“ in Zukunft nicht weiterhin „lieblos“, wenn nicht gar „dumm“ umzugehen. Da sich „Kultur“, wie er erklärte, auch im Umgang mit dem geschriebenen oder gesprochenen Wort ablesen lasse, solle man sich verstärkt um eine Bereicherung der deutschsprachlichen „Ausdrucksfähigkeit“ bemühen, um so einen Ausschluss „vieler älterer, aber auch jugendlicher Menschen“ aus dem gesellschaftlichen Gesamtverband zu vermeiden.14 Allerdings meldeten sich zum gleichen Zeitpunkt immer mehr Politiker, Journalisten und Sprachwissenschaftler zu Wort, die zwar das fortgesetzte Eindringen von Amerikanismen in die deutsche Sprache nicht offenherzig begrüßten, es jedoch – unter den Voraussetzungen der zunehmenden Globalisierung und Digitalisierung – als unvermeidlich hinstellten, das heißt es als „organische“ Weiterentwicklung der deutschen Sprache charakterisierten und damit den Zorn der eher nationalgesinnten Philologen und Linguisten oder der sich ihnen anschließenden Kreise hervorriefen. So wandte sich etwa Detlef Gürtler im September 2006 in der Welt gegen jene Vertreter der „Aktion lebendiges Deutsch“, die Wörter wie „Fast Food“, „Airbag“ oder „Brainstorming“ unbedingt durch sprachliche Eindeutschungen wie „Schnellkost“, „Prallkissen“ oder „Denkrunde“ ersetzen wollten. Wie unsinnig derartige Bemühungen seien, versuchte er mit dem Argument zu entwerten, dass Deutschland nun einmal seit alters her ein 208
Amerikanismen und denglodeutsche Neubildungen
„Ein- und Durchwanderungsland“ sei, welches schon viele solcher „Einwortungen“, wie die aus dem Französischen, überstanden habe. Statt also aus dem Deutschen wieder eine „Großmuttersprache“ zu machen, solle man, wie er erklärte, in der zunehmenden Amerikanisierung lieber eine „Bereicherung für die deutsche Sprache“ sehen.15 Ähnliche Argumente finden sich in dem Aufsatz Von free-floatendem Kapital, Hardlinern und Instructions. Linguistische Anmerkungen zur populären Anglizismenkritik (2006) des Sprach- und Medienwissenschaftlers Jan Georg Schneider. Auch er wandte sich entschieden gegen den vom „Verein Deutsche Sprache“ vertretenen philologischen Purismus und trat im Sinne einer „gebrauchsorientierten, ‚liberalen‘ Sprachauffassung“ dafür ein, sich nicht durch Bücher wie Denglisch, nein danke! (2001) von Hermann Zabel beirren zu lassen und sich weiterhin für ein „semantisches Eigenleben“ der deutschen Sprache einzusetzen.16 In die gleiche Kerbe haute 2003 in einem Spiegel-Interview der Sprachwissenschaftler Karl-Heinz Göttert, der kurz zuvor ein Buch unter dem provozierenden Titel Abschied von der Mutter Sprache herausgebracht hatte. Auch er wies darauf hin, dass solche sprachlichen Übernahmeprozesse an sich nichts Neues seien, ja, dass das Englische im Mittelalter ein Drittel seiner Wortbildungen aus dem Französischen entlehnt habe und das Japanische zu 50 Prozent aus dem Chinesischen stamme. Daher lehnte Göttert jeden Sprachpurismus im Sinne des „Vereins Deutsche Sprache“ so eindeutig wie möglich ab, da er nur allzu leicht sein „eigentliches Ziel überschreite und in einen Nationalismus oder gar Chauvinismus münden“ könne.17 Mit ähnlichen Argumenten wandte sich im gleichen Jahr auch der Philologe Rudolf Hoberg gegen die Ansicht, dass die Amerikanismen eine „Bedrohung“ der deutschen Sprache bildeten, da sich im Duden lediglich 3,5 Prozent derartiger Wörter nachweisen ließen. Ebenso entschieden verwarf Hoberg irgendwelche gesetzlich geregelten Sprachquoten oder gar Verfassungsänderungen in dieser Hinsicht, die sich selbst in sprachbewussten Ländern wie Frankreich, Österreich und Polen als erfolglos erwiesen hätten.18
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Amerikanismen und denglodeutsche Neubildungen
Wohl am nachdrücklichsten setzte sich im Dezember 2014 das FDP M itglied Alexander Graf Lambsdorff aufgrund finanz- und wirtschaftspolitischer Erwägungen in der Welt für die Duldung, wenn nicht gar die verstärkte Übernahme amerikanischer Lehnwörter in die deutsche Sprache ein, statt wie die nationalgestimmte CSU weiterhin die „Populismuskeule“ zu schwingen. Um das auf der Zunahme von englischsprechenden Managern und Facharbeitern beruhende „Wohlstandsniveau“ in der BRD aufrechtzuerhalten oder gar zu erhöhen, forderte er die dafür verantwortlichen Behörden auf, sich für eine nicht an der deutschen Sprache festhaltende „Willkommenskultur“ einzusetzen, um so möglichst viele, bereits mit der englischen Sprache vertraute „leistungsbereite Zuwanderer“ anzuwerben und ihnen ihren Fähigkeiten entsprechende Jobs anzubieten. Ja, er bestand sogar darauf, dass das Angloamerikanische in Deutschland endlich die maßgebliche „Verwaltungs- oder gar Amtssprache“ werden solle, um nicht den Anschluss an die „globale Verkehrssprache“ zu verpassen. Nur so, schloss er seine Argumentation, könne der „Industriestandort Deutschland“, wie es bei ihm und manchen Anderen, die vornehmlich wirtschaftliche Aspekte im Auge haben, gern heißt,19 ein „weltoffenes, attraktives und wettbewerbsfähiges Land“ bleiben.20
V Doch schon ein Jahr später flauten durch die aus den Ländern der Nahen Ostens und Nordafrikas stammenden Flüchtlingswellen, die plötzlich die BRD überfluteten, derartige Auseinandersetzungen wieder merklich ab. Jetzt stand in den Massenmedien nicht mehr die als bedrohlich oder bereichernd empfundene sprachliche Amerikanisierung, sondern eher die Frage einer möglichen Islamisierung auf der Tagesordnung. Vor allem die nationalgesinnten oder die um ihre Jobs, Renten und Altersversicherungen besorgten ärmeren Bevölkerungsschichten schlossen sich danach plötzlich der Pegida-Bewegung, der Alternative für Deutschland sowie anderen rechtsgerichteten Gruppen oder Parteien an, die sich in mehreren Landesteilen der 210
Amerikanismen und denglodeutsche Neubildungen
BRD zusehends einer breiten Unterstützung erfreuten. Um solchen Affekten oder auch Besorgtheiten entgegenzutreten, versuchte zwar die CDU unter dem von Angela Merkel propagierten Motto „Wir schaffen das!“ derartigen Reaktionen von staatlicher Seite her entgegenzutreten, indem sie sich bemühte, diese Asylsuchenden als den deutschen Arbeitsmarkt keineswegs gefährdende, sondern – im Gegenteil – für den „Industriestandort Deutschland“ höchst erwünschte zusätzliche Arbeitskräfte auszugeben, ja, sogar ihre Verankerung im islamischen Glauben als eine multikulturelle, wenn nicht gar transkulturelle Bereicherung hinzustellen. Wohin diese liberal gesinnte Freizügigkeit führen wird, das heißt ob sich dadurch eine „weltoffene“ Gesamtstimmung erreichen lässt, ob man dadurch die deutsch-amerikanische Sprachmengerei, die bereits einen gewissen Absättigungsgrad erreicht hat, zurückdrängen kann oder ob dadurch in der BRD das Deutsche weiterhin die dominierende Hauptsprache bleiben wird, darüber lässt sich momentan noch nicht spekulieren. Schließlich hängt das nicht allein von innerdeutschen Vorgängen, sondern auch von der gesamten Weltlage ab, in der sich nicht nur in den sogenannten „unterentwickelten“ Ländern, sondern auch in den hochindustrialisierten Staaten so viele politische, wirtschaftliche, ökologische und klimabedingte Krisen abzuzeichnen beginnen, dass jede Propheterei von vornherein sinnlos wäre.
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Anmerkungen Die sorgfältige Computisierung meines Manuskripts besorgte Justin Court, während mir Carol Poore und Brian Wilt bei den Korrekturen halfen. Allen Dreien sei auch an dieser Stelle noch einmal aufrichtig gedankt.
Der Einbruch des Französischen in die „Sprachmengerey“ des Heiligen Römischen Reichs Unteutscher Nation. Un résumé compact 1
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V gl. zum Folgenden die umfangrei- 4 che lexikographische Erfassung der im späten 16. und frühen 17. Jahrhundert aus dem Französischen entlehnten Wörter in William Jervis Jones: Lexicon of French Borrowings in the German Vocabulary (1575–1648), Berlin 1976. V gl. dazu u. a. Karl F. Otto: Die Sprachgesellschaften im Deutschland des 17. Jahrhunderts, Stuttgart 5 1972, Christoph Stoll: Sprachgesellschaften im Deutschland des 17. Jahrhunderts, München 1973, Wolfgang Huber: Kulturpatriotismus und Sprachbewußtsein. Studien zur deutschen Philologie des 17. Jahrhunderts, Frankfurt a. M. 1984, S. 243 ff. und mein Buch: Die deutschen Dichterbünde von den Meistersingern bis zum PEN-Club, Köln 1998, S. 22–40. Vgl. Peter von Polenz: Deutsche Sprachgeschichte vom Spätmittelalter bis zur Gegenwart, Bd. II, 17. 6 und 18. Jahrhundert, Berlin 1994, S. 114 ff.
V gl. Fritz Schramm: Schlagworte der Alamodezeit, Straßburg 1914, Richard Brunt: The Influence of the French Language on the German Vocabulary (1649–1745), Berlin 1983, und Volker Wittenauer: Im Dienste der Macht. Kultur und Sprache am Hof der Hohenzollern. Vom Großen Kurfürst bis zu Wilhelm II., Paderborn 2007. Vgl. Norbert Elias: Die höfische Gesellschaft, Darmstadt 1974, Hans-Jürgen Gabler: Machtinstru ment als Repräsentationsmittel. Rhetorik im Dienste der „Privatpolitic“. In: Rhetorik. Ein internationales Jahrbuch 1, 1980, S. 9–25, Georg Braungart: Hofberedsamkeit. Studien zur Praxis höfisch-politischer Rede im deutschen Territorialabsolutismus, Tübingen 1988, S. 137–148, und Peter von Polenz: Deutsche Sprachgeschichte (wie Anm. 3), S. 15 ff. Vgl. Manfred Beetz: Frühmoderne Höflichkeit. Komplimentierkunst und Gesellschaftsrituale im altdeut-
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Anmerkungen
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schen Sprachraum, Stuttgart 1990, S. 141 ff., und Volker Wittenauer: Im Dienste der Macht (wie Anm. 4), S. 35. Vgl. Peter von Polenz: Deutsche Sprachgeschichte (wie Anm. 3), S. 40–43, und Volker Wittenauer: Im Dienste der Macht (wie Anm. 4), S. 40–47. Vgl. Volker Wittenauer: Im Dienste der Macht (wie Anm. 4), S. 43 f. Vgl. hierzu Werner Bahner (Hrsg.): Sprache und Kulturentwicklung im Blickfeld der deutschen Spätauf-
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klärung. Der Beitrag Johann Christoph Adelungs, Berlin 1984. Das Deutsche Museum, 1778, Bd. I, S. 134. Zit. nach Ludwig Fink: Das Bild des Nachbarlandes, Leipzig 1905, S. 478. Jakob Michael Reinhold Lenz: Werke und Briefe in drei Bänden. Hrsg. von Sigrid Damm, München 1987, Bd. II, S. 778. Johann Gottfried Herder: Werke. Hrsg. von Eugen Kühnemann, Bd. V, 2, Stuttgart 1889, S. 466.
Zur Ideologie der Befreiungskriege. Friedrich Ludwig Jahns Programm einer konsequenten „Muttersprachlichkeit“ 1
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Vgl. zum Folgenden auch mein Buch: Verlorene Illusionen. Eine Geschichte des deutschen Nationalismus, Köln 2012, S. 74 ff. Vgl. Hans-Ulrich Wehler: Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. IV. Vom Feudalismus des Reiches bis zur Defensiven Modernisierung der Reformära, München 1987. Vgl. meinen Aufsatz: Der Königsberger Tugendbund. Eine antinapoleonische Geheimgesellschaft. In Jost Hermand und Sabine Mödersheim (Hrsg.): Deutsche Geheimgesellschaften. Von der Frühen Neuzeit bis zur Gegenwart, Köln 2013, S. 81–92. Vgl. zur Vorgeschichte dieser Ideologie Jost Hermand und Michael Niedermeier: Revolutio germanica. Die Sehnsucht nach der „alten
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Freiheit“ der Germanen, Frankfurt a. M. 2002. Vgl. Günter Jahn: Die Studentenzeit des Unitisten F. L. Jahn und ihre Bedeutung für die Vor- und Frühgeschichte der Burschenschaft 1796–1819. In Christian Hühnemörder und Günter Cerwinka (Hrsg.): Darstellungen und Quellen zur Geschichte der deutschen Einheitsbewegung im 19. und 20. Jahrhundert, Band XV, Heidelberg 1995, S. 1–129. Friedrich Ludwig Jahn: Bereicherung des Hochdeutschen Sprachschatzes, versucht auf dem Gebiet der Sinnverwandtschaft, Leipzig 1806, S. X. Ebd., S. XII. Ebd., S. XII, XXXI. Ebd., S. VII.
Anmerkungen 10 Ebd., S. XXXVI. 11 Ebd., S. 8. 12 Friedrich Ludwig Jahn: Deutsches Volksthum. Neue unveränderte Ausgabe, Leipzig 1817, S. XI. Im Folgenden im Text zitiert. 13 Vgl. Erwin Mehl: Jahn als Spracherzieher. In: Wissenschaftliche Reihe „Muttersprache“, Bd. 9, Wien 1978, S. 22–40. 14 Vgl. Michael Niedermeier: Philanthrop und Patriot. Kolbe als politischer (Sprach-)Lehrer. In Norbert Michels: Carl Wilhelm Kolbe D. Ä. (1759–1835), Petersberg 2009, S. 31–48. 15 Vgl. hierzu u. a. Hans-Joachim Bartmuß, Eberhard Kunze und Josef Ulfkotte (Hrsg.): „Turnvater“ Jahn und sein patriotisches Umfeld, Köln 2008. 16 Vgl. Karl Marx/Friedrich Engels: Briefwechsel, Berlin 1949, Bd. II, S. 279. 17 Eine ähnliche Gesinnung herrscht in dem kurz darauf erschienenen Buch von Joachim Campe: Wörterbuch der deutschen Sprache. Ergänzungsband. Wörterbuch zur Erklärung und Verdeutschung der unserer Sprache aufgedrungenen fremden Ausdrücke, Braunschweig 1819. 18 Vgl. Hans-Joachim Barthmuß und Josef Ulfkotte: Nach dem Turnver-
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bot. „Turnvater“ Jahn zwischen 1819 und 1852, Köln 2011, und Dieter Langewiesche: Vom Scheitern bürgerlicher Nationalhelden. Ludwig Uhland und Friedrich Ludwig Jahn. In: Historische Zeitschrift 278, 2004, S. 375–397. Vgl. Erwin Mehl: Jahn als Spracherzieher (wie Anm. 13), S. 6. Denselben Vorwurf musste sich auch Caspar David Friedrich gefallen lassen, der darauf 1819 auf seinem Bild „Zwei Männer bei Betrachtung des Mondes“, den als „Demagogen“ angegriffenen Jahn voller Sympathie für dessen Gesinnung bewusst provozierend in burschenschaftlicher Tracht darstellte. Vgl. Detlef Stapf: Caspar David Friedrichs verborgene Landschaften, Greifswald 2014, S. 152 ff. Vgl. Richard K. Sprenger: Die Jahn-Rezeption in Deutschland 1871–1933. Nationale Identität und Modernisierung, Schorndorf 1985. Vgl. Horst Überhorst: Friedrich Ludwig Jahn 1778/1978, München 1978, S. 98 f. Vgl. u. a. Carl Euler: Friedrich Ludwig Jahn. Sein Leben und Wirken, Stuttgart 1881, der daraufhin Jahns „Werke“ in drei Bänden (Hof 1884–1887) herausbrachte. Vgl. Horst Überhorst: Friedrich Ludwig Jahn (wie Anm. 21), S. 87.
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Anmerkungen
Dialekt als Waffe. Adolf Glaßbrenners plebejische Eckensteher, räsonnierende Guckkästner und aufmüpfige Kleinbürger 1
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Vgl. dazu auch mein Buch: Verlorene Illusionen. Eine Geschichte des deutschen Nationalismus, Köln 2012, S. 73 f. Theodor Fontane: Der Stechlin, Berlin 1918, S. 342. Adolf Glaßbrenner: Berliner Volksleben, Bd. II, Leipzig 1851, S. 200. Franz Diederich: Adolf Glaßbrenner. Ein Volksdichter aus der Zeit der deutschen Revolution. In Ders. (Hrsg.): Unterm Brennglas. Berliner politische Satire, Revolutionsgeist und menschliche Komödie, Berlin 1912, S. 7–65. Wilhelm Müller-Rüdersdorf (Hrsg.): Altes, lustiges Berlin, Berlin 1920, S. 11. Robert Rodenhauser: Adolf Glaßbrenner. Ein Beitrag zur Geschichte des Jungen Deutschland und der Berliner Lokaldichtung, Berlin 1912, S. 55. Klaus Gysi und Kurt Böttcher (Hrsg.): Unsterblicher Volkswitz. Adolf Glaßbrenners Werke in Auswahl, 2 Bde., Berlin 1954. Vgl. Adolf Glaßbrenner: Der politisierende Eckensteher. Hrsg. von Jost Hermand, Stuttgart 1969, Jost Hermand: Adolf Glaßbrenner: Berlin wie es ist und – trinkt (1832– 1850). In Ders.: Unbequeme Literatur. Eine Beispielreihe, Heidelberg 1971, S. 65–86, Heinz Bulmahn: Adolf Glaßbrenner. His Develop-
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ment from Jungdeutscher to Vormärzler, Amsterdam 1978, Ingrid HeinrichJost: Adolf Glaßbrenner, Berlin 1981, und Horst Denkler, Bernd Balzer, Wilhelm Große und Ingrid Heinrich-Jost (Hrsg.): Adolf Glaßbrenner. Unterrichtung der Nation. Ausgewählte Werke und Briefe, 3 Bde., Köln 1981. Vgl. zum Folgenden auch Ingrid Heinrich-Jost: Adolf Glaßbrenner (wie Anm. 8), S. 45 ff. Vgl. Heinrich Hubert Houben: Verbotene Literatur von der klassischen Zeit bis zur Gegenwart, Berlin 1914, Bd. I, S. 205, und das Vorwort zu dem Nachdruck von Glaßbrenners „Berlin wie es ist und – trinkt“ von Paul Thiel, Berlin 1987, S. VI. Vgl. Heinrich Hubert Houben: Verbotene Literatur (wie Anm. 10), S. 207. Ebd., S. 207. Vgl. Ingrid Heinrich-Jost: Adolf Glaßbrenner (wie Anm. 8), S. 127. Vgl. u. a. Agathe Lasch: Berlinisch. Eine berlinische Sprachgeschichte, Berlin 1928, und Heinz Gebhardt: Glaßbrenners Berlinisch, Berlin 1933. Zitiert wird im Text nach: Berlin wie es ist und – trinkt. Vollständiger Nachdruck. Hrsg. von Paul Thiel, Berlin 1987 (B) und Adolf Glaßbrenner: Berliner Volksleben,
Anmerkungen Leipzig 1847–1851 (V). 16 Vgl. hierzu auch Olav Briese (Hrsg.): Eckensteherliteratur. Eine humoristische Textgattung in Biedermeier und Vormärz, Bielefeld 2013.
17 Zit. in Horst Denkler et al. (Hrsg.): Adolf Glaßbrenner (wie Anm. 8), Bd. III, S. 238. 18 Heinrich Laube: Erinnerungen, Wien 1875, Bd. I, S. 218 f.
Phonographische Präzision. Soziolekt als Indiz milieubedingter Verhältnisse im deutschen Naturalismus des späten 19. Jahrhunderts 1
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Vgl. zum Folgenden auch mein Buch: Die Wenigen und die Vielen. Trägerschichten deutscher Kultur von den Anfängen bis zur Gegenwart, Köln 2017, S. 169 ff. Vgl. hierzu Richard Hamann und Jost Hermand: Naturalismus, Berlin 1959, S. 290 ff. Vgl. u. a. Helmut Scheuer: Arno Holz im literarischen Leben des ausgehenden 19. Jahrhunderts (1883–1896), München 1971, S. 115 f., und Hanno Möbius: Der Positivismus in der Literatur des Naturalismus. Wissenschaft, Kunst und soziale Frage bei Arno Holz, München 1980, S. 116 ff. Arno Holz: Das Werk, Berlin 1924, Bd. X, S. 271. Edgar Steiger: Das Werden des neuen Dramas, Bd. II. Von Hauptmann bis Maeterlink, Berlin 1898, S. 25. Otto Brahm: Kritische Schriften, Berlin 1913, Bd. I, S. 265. Arno Holz: Das Werk (wie Anm. 4), Bd. X, S. 254. Arno Holz und Johannes Schlaf: Neue Gleise, Berlin 1892, S. 8.
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Vgl. hierzu u. a. Klaus R. Scherpe: Der Fall Arno Holz. Zur sozialen und ideologischen Motivation der naturalistischen Literaturrevolution. In Gert Mattenklott (Hrsg.): Positionen der literarischen Intelligenz zwischen bürgerlicher Reaktion und Imperialismus, Kronberg 1973, S. 155 ff. Arno Holz: Das Werk (wie Anm. 4), Bd. X, S. 204. Ebd., S. 210. Vgl. Richard Hamann und Jost Hermand: Naturalismus (wie Anm. 2), S. 93. Hermann Conradi: Werke, München 1911, S. 1. Freie Bühne, 1893, S. 629. Ebd., S. 503. Arno Holz und Johannes Schlaf: Neue Gleise (wie Anm. 8), S. 94–104. Arno Holz: Das Werk (wie Anm. 4), Bd. X, S. 110. Ebd., Bd. X, S. 161 f. Arno Holz und Johannes Schlaf: Neue Gleise (wie Anm. 8), S. 93. Holz nannte daher später Hauptmanns Drama „Vor Sonnenauf217
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gang“ voller Ressentiments „ein Mischmasch aus Ibsen und Tolstoi, auf den unsere Sprache als drittes Element nur künstlich wie ein Pfropfreis gesetzt war“. Vgl. Arno Holz: Das Werk (wie Anm. 4), Bd. X, S. 278. Gerhart Hauptmann: Gesammelte Werke in acht Bänden, Berlin 1922, Bd. I, S. 13. Ebd., Bd. I, S. 31. Ebd., Bd. I, S. 41. Ebd., Bd. I, S. 50. Ebd., Bd. I, S. 49.
26 Ebd., Bd. I, S. 300, 348. 27 Ebd., Bd. I, S. 455, 457, 489, 461, 462. 28 Vgl. Rudolf Mittler: Theorie und Praxis des sozialen Dramas bei Gerhart Hauptmann, Hildesheim 1985, S. 140–151. 29 Gerhart Hauptmann: Gesammelte Werke (wie Anm. 21), Bd. IV, S. 437, 443, 425, 498, 445. 30 Ebd., Bd. IV, S. 457. 31 Ebd., Bd. IV, S. 477, 478. 32 Ebd., Bd. IV, S. 477, 446.
An den breiten Massen vorbei. Expressionistische Wortballungen 1
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Vgl. meinen Aufsatz: Expressionismus als Revolution. In Ders.: Von Mainz nach Weimar. Studien zur deutschen Literatur, Stuttgart 1969, 6 S. 289–355. Vgl. mein Buch: Kultur in finsteren Zeiten. Nazifaschismus. Innere Emigration. Exil, Köln 2010, S.77 f. 7 Georg Lukács: „Größe und Verfall“ des Expressionismus. In Ders.: Probleme des Realismus, Berlin 1955, S. 146–183. Hans-Jürgen Schmitt (Hrsg.): Die Expressionismus-Debatte. Materialien zu einer marxistischen Realismuskonzeption, Frankfurt a. M. 1973. Vgl. Dieter Schlenstedt: Doktrin und Dichtung im Widerstreit. Expressionismus im Literaturkanon der DDR. In Birgit Dahlke, Marti8 na Langermann und Thomas Ta-
terka (Hrsg.): LiteraturGesellschaft DDR, Stuttgart 2001, S. 200, S. 208–220. Lyrik des expressionistischen Jahrzehnts (1955). In Gottfried Benn: Sämtliche Werke. Hrsg. von Gerhard Schuster, Stuttgart 2001, Bd. VII, S. 208–220. Vgl. u. a. die Vorworte bzw. Auswahlkriterien in Kurt Pinthus (Hrsg.): Menschheitsdämmerung, Hamburg 1959, Paul Pörtner (Hrsg.) Literatur-Revolution 1910–1925, Darmstadt 1960, Karl Otten (Hrsg.): Ego und Eros. Meistererzählungen des Expressionismus, Stuttgart 1963, und Paul Raabe (Hrsg.): Die Zeitschriften und Sammlungen des literarischen Expressionismus 1910–1921, Stuttgart 1964. Vgl. dafür im Bereich der bildenden
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Kunst Werner Haftmann: Malerei im 20. Jahrhundert, München 1954, S. 117–214. Ilja Fradkin: Vor neuen Aufgaben. In: Kunst und Literatur 1, 1962, S. 1–5. Alfred Kurella: Den Blick nach vorn, auf das Neue richten. In ebd., S. 111–118. Vgl. u. a. Martin Reso (Hrsg.): Expressionismus. Lyrik, Berlin 1969. Vgl. Eva Kolinsky: Engagierter Expressionismus. Politik und Literatur zwischen Weltkrieg und Weimarer Republik. Eine Analyse expressionistischer Zeitschriften, Stuttgart 1970, und Karl-Heinz Hucke: Utopie und Ideologie in der expressionistischen Lyrik, Tübingen 1980. Rudolf Kayser: Literatur in Berlin. In Ders.: Das junge Deutschland, Berlin 1918, S. 41 f. Rudolf Kayser: Das Gedichtbuch des Ernst Blass. In: Die Aktion vom 12. Februar 1913, S. 205 ff. Franz Werfel: Die Versuchung, Leipzig 1915, S. 15. Carl Sternheim: Klagen eines Knaben, Leipzig 1913, S. 45. Franz Werfel: Die Versuchung (wie Anm. 15), S. 12. Ernst Wilhelm Lotz: Wolkenüberflaggt, Leipzig 1917, S. 53. Ebd., S. 53. Paul Boldt: Junge Pferde! Junge Pferde!, Leipzig 1914, S. 39. Ernst Wilhelm Lotz: Wolkenüberflaggt (wie Anm. 18), S. 56. Gottfried Kölwel: Gesänge gegen den Tod, Leipzig 1913, S. 15.
23 Franz Werfel: Gesänge aus den drei Reichen, Leipzig 1911, S. 19. 24 Kurt Liebmann: August Stramm. In: Der Sturm 12, 1921, S. 41 f. 25 Vgl. Martin Reso (Hrsg.): Expressionimus. Lyrik (wie Anm. 11), S. 282. 26 Walter Hasenclever: Der Sohn, Leipzig 1914, S. 7, 98. 27 Ebd., S. 29, 98. 28 Reinhard Johannes Sorge: Der Bettler. In Alfred Wolfenstein (Hrsg.): Die Erbebung. Jahrbuch für neue Dichtung und Wertung, Berlin 1919, S. 52 f. 29 Kurt Pinthus: Versuch eines zukünftigen Dramas. In: Die Schaubühne 10, 1914, S. 94. 30 Walter Hasenclever: Der Sohn (wie Anm. 26), S. 65, 83. 31 Kurt Hiller: Aufruf an das Genie Yadac. In: Die Aktion 1912, S. 400 f. 32 Ludwig Rubiner: Der Dichter greift in die Politik. In: Die Aktion 1912, S. 645 ff. 33 Kurt Hiller: Ein Deutsches Herrenhaus. In Ders.: Tätiger Geist. Zweites der Ziel-Jahrbücher 1917/18, S. 390 f. 34 Frederik van Eeden: Der Königliche Mensch. Ebd., S. 9–11. 35 Kasimir Edschmid: Über den dichterischen Expressionismus, Berlin 1917, S. 12, 27, 31, 55, 63, 66, 70. 36 Paul Hatvani: Versuch über den Expressionismus. In: Die Aktion, 1917, S. 277. 37 Iwan Goll: Appell an die Kunst. In: Die Aktion, 1917, S. 199 f. 38 Johannes R. Becher: Einleitung zu 219
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meinem neuen Versbuche. In: Die Aktion, 1917, S. 147. Ernst Wilhelm Lotz: Wolkenüberflaggt, Leipzig, 1917, S. 46, und Johannes R. Becher: Verbrüderung, Leipzig 1916, S. 9. Paul Kraft: Gedichte, Leipzig 1915, S. 19. Johannes R. Becher: Verbrüderung (wie Anm. 39), S. 10. Vgl. Martin Reso (Hrsg.): Expressionismus. Lyrik (wie Anm. 11), S. 459. Ebd., S. 321. Vgl. Kurt Pinthus (Hrsg.): Menschheitsdämmerung (wie Anm. 7), S. 213. Vgl. Martin Reso (Hrsg.): Expressionismus. Lyrik (wie Anm. 11), S. 404. Ernst Toller: Die Wandlung. Das Ringen eines Menschen, Potsdam 1924, S. 3 f. Ebd., S. 92 ff. Gottfried Benn: Gehirne, Leipzig 1916, S. 32. Carl Sternheim: Ulrike, Leipzig 1918, S. 38. Leonhard Frank: Der Mensch ist gut, Potsdam 1919, S. 139 f. Vgl. Paul Pörtner (Hrsg.): Literatur-Revolution (wie Anm. 7), S. 106, 132, 93, 309. Friedrich Wolf: Vom Untergang der Sprache. In: Die neue Schaubühne 1, 1919, S. 14. Ernst Toller: An die Sprache. In: Die Aktion, 1919, S. 297. Iwan Goll: Dithyramben, Leipzig 1919, S. 9. Vgl. Paul Pörtner (Hrsg.): Literatur-Revolution (wie Anm. 7), S. 105.
56 Kurt Pinthus (Hrsg.): Menschheitsdämmerung (wie Anm. 7), S. 261, 282, 301, 313. 57 Hanns Johst: Der junge Mensch, München 1919, S. 93. 58 Arnolt Bronnen: Vatermord, Berlin 1920, S. 80. 59 Vgl. Robert Müller: Wiedergeburt des Theaters. In Hugo Zehder (Hrsg.): Die neue Bühne, Dresden 1920, S. 80. 60 Martin Reso (Hrsg.): Expressionismus. Lyrik (wie Anm. 11), S. 467. 61 Alfred Wolfenstein (Hrsg.): Die Erhebung (wie Anm. 28), S. 304. 62 Vgl. Eva Kolinsky: Engagierter Expressionismus (wie Anm. 12), S. 126–263. 63 Ebd., S. 68 ff. 64 Georg Kaiser: Werke. Hrsg. von Walther Huder, Frankfurt a. M. 1971, Bd. I, S. 50, 58. 65 Curt Corrinth: Potsdamer Platz oder Die Nächte des neuen Messias, München 1919, S. 89. 66 Melchior Vischer: Sekunde durch Hirn, Hannover 1920, S. 46. 67 Vgl. dazu auch das Kapitel: Das Versagen der Literaten. In Richard Hamann und Jost Hermand: Expressionismus, Berlin 1975, S. 247–264. 68 Vgl. mein Buch: Deutsche Kulturgeschichte des 20. Jahrhunderts, Darmstadt 2006, S. 86. 69 Ernst Bloch: Diskussionen über Expressionismus. In Hans-Jürgen Schmitt: Die Expressionismusdebatte (wie Anm. 4), S. 191. 70 So Silvia Schlenstedt in ihrem
Anmerkungen Nachwort zu dem von Martin Reso 71 Zit. in Kurt Pinthus: Menschheitsdämmerung (wie Anm. 7), S. 10. herausgegebenen Band: Expressionismus. Lyrik (wie Anm. 11), S. 648.
Mastering two languages mit derselben poetischen Finesse. Der sich ins „Haus der Sprache“ zurückziehende Exildichter Felix Pollak 1
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Vgl. hierzu auch mein Buch: Kultur in finsteren Zeiten. Nazifaschismus, Innere Emigration, Exil, Köln 2010, S. 255–266, und meinen Aufsatz: Hoffnungsvoll Gescheiterte. Deutsche Künstler im Exil. In Heidi Beutin et al. (Hrsg.): Flucht, Exil, Migration von 1945 bis heute, Mössingen 2017, S. 255–266. Vgl. zum Folgenden auch Felix Pollak: Umrisse einer Autobiographie für junge Amerikaner (1980). In Ders.: Lebenszeichen. Aphorismen und Marginalien. Hrsg. von Reinhold Grimm und Sara Pollak, Wien 1992, S. 159–179, das Nachwort von Reinhold Grimm zu Felix Pollaks Lyrikanthologie „Vom Nutzen des Zweifels“, Frankfurt a. M. 1989, S. 205–210, und Viktoria Hertling: Felix Pollak. In: Deutschsprachige Exilliteratur seit 1933, Bd. III. Hrsg. von John M. Spalek, Konrad Feilchenfeldt und Sandra H. Hawrylchak, Bern 2000, S. 407–417. Vgl. ebd., S. 180. In Gesprächen mit dem Verfasser. Ebd. Vgl. Arrows of Longing. The Correspondence between Anaïs Nin und Felix Pollak. Hrsg. von Gregory H. Mason, Columbus, Ohio, 1998,
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S. 71. Vgl. Felix Pollak: New York, ein Schiff, ein Passagier. In: Akzente 26, 1979, H. 3, S. 314–320. Vgl. meinen Aufsatz: Neue Sachlichkeit. Stil, Wirtschaftsform oder Lebenspraxis? In Leslie Bodie et al. (Hrsg.): Weltbürger – Textwelten. Helmut Kreuzer zum Dank, Frankfurt a. M. 1995, S. 335. Vgl. Arrows of Longing (wie Anm. 6), S. 222. Ebd., S. 219. Ebd., S. 17. Ebd., S. 53. Ebd., S. 76. Ebd., S. 21. Ebd., S. 47. Ebd., S. 113. Ebd., S. 113. Ebd., S. 99. Felix Pollak: The Castle and the Flaw, New York 1963, S. 11. Felix Pollack: The Little-Mag Spirit. In Ders.: Prose and Cons, La Crosse, Wisconsin, 1983, S. 10. Ebd., S. 18. Ebd., S. 22. Vgl. hierzu Paul Buhle (Hrsg.): History and the New Left. Madison, Wisconsin, 1950–1970, Philadelphia, Pennsylvania, 1990. 221
Anmerkungen 24 Vgl. Felix Pollak: Pornography. A Trip Around the Halfworld. In Douglas A. Hughes (Hrsg.): Perspectives on Pornography, New York 1970, S. 170–196. 25 Vgl. dazu meinen Aufsatz: Blumiges und Unverblümtes. Zur Problematik des literarischen Bettgesprächs. In: Basis. Jahrbuch für deutsche Gegenwartsliteratur 6, 1976, S. 169. 26 Felix Pollak: Pornography (wie Anm. 24), S. 178, 193. 27 Felix Pollak: Ginkgo, New Rochelle, New York, 1973, S. 21. 28 Ebd., S. 50. 29 Felix Pollak: Subject to Change, La Crosse, Wisconsin, 1978, S. 8. 30 Felix Pollak: New York, ein Schiff, ein Passagier (wie Anm. 7), S. 315. 31 Ebd., S. 314–320. 32 Reinhold Grimm und Felix Pollak: Das Übersetzen deutscher Gedichte. Überlegungen unter vier Aspekten. In: geb.uni-giessen.de 33 Vgl. Heinrich Heine: Poetry and Prose. Hrsg. von Jost Hermand und
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Robert C. Holub. German Library, Bd. 32, New York 1982, S. 5, 7, 9, 13, 23, 27, 45, 75, 77, 95, 96, 103, 107. Felix Pollak: Tunnel Visions, Peoria, Illinois, 1984. Ebd., S. 16. Ebd., S. 7, 16. Ebd., S. 26. Felix Pollak: Benefits of Doubt, Peoria, Illinois, 1987. Vgl. dazu auch Klaus L. Berghahn: Von der Hinfälligkeit des Körpers und dem Triumph des Geistes. Anmerkungen zu Felix Pollaks „Galileo“. In KarlHeinz J. Schoeps und Christopher J. Wickham: „Was in den alten Büchern steht …“ Festschrift für Reinhold Grimm, Bern 1991, S. 139–150. Vgl. dazu u. a. seine Gedichte „A Matter of History“ und „Refugee“ in: Vom Nutzen des Zweifels (wie Anm. 2), S. 48 und 54. Felix Pollak: Lebenszeichen (wie Anm. 2), S. 198. Vgl. ebd., S. 114 f.
Total Assault Against Daddy’s World. Der Scene-Jargon der jugendlichen Poprebellen der siebziger Jahre 1
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Vgl. hierzu mein Buch: Der alte Traum vom neuen Reich. Völkische Utopien und Nationalsozialismus, 3 Frankfurt a. M. 1988, S. 210, 330. Vgl. meinen Aufsatz: Revolution und Restauration. Thesen zur politischen und ästhetischen Funktion 4 der Kunstismen nach 1918 und 1945. In Gerald Feldman et al. (Hrsg.):
Konsequenzen der Inflation, Berlin 1989, S. 331–350. Vgl. mein Buch: Die Wenigen und die Vielen. Trägerschichten deutscher Kultur von den Anfängen bis zur Gegenwart, Köln 2017, S. 248. Vgl. u. a. Jürgen Miermeister und Jochen Staadt (Hrsg.): Die Studenten- und Jugendrevolte in ihren
Anmerkungen
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Flugblättern 1965–1971, Darmstadt 1980. Vgl. u. a. Thomas P. Becker und Ute Schröder: Die Studentenbewegung der 60er Jahre. Archiv, Chronik, Bibliographie, Köln 2000. Die in den folgenden Abschnitten zitierten Wörter und Wandsprüche sind folgenden Büchern entnommen: Inge Kramer und Günter Zint (Hrsg.): Null Bock auf euer Leben. Momentaufnahmen aus der Jugendszene, Braunschweig 1983, Claus Peter Müller-Thurau: Laß uns mal ’ne Schnecke angraben. Sprache und Sprüche der Jugendszene, Düsseldorf 1983, Hans Gamber (Hrsg.): Was an deutschen Wänden steht, München 1983, Claudia Glismann (Hrsg.): Schülersprache. Ich denke, also spinn ich, München 1984, Ulrich Hoppe: Von Anmache bis Zoff. Ein Wörterbuch der Scene-Sprache, München 1984, Ralf Bülow (Hrsg.): Graffiti 2. Neues an deutschen Wänden, München 1984, Hans Gamber: Do you speak Sponti? Das Letzte aus der Scene, München 1984, Uwe Pörsken und Heinz Weber: Spricht die Jugend eine andere Sprache, Heidelberg 1984, Bernd Thomsen (Hrsg.): Poli-Graffiti & Demo- Sprüche, München 1985, Iris Blaschzok: Ächt ätzend. Gesprühte Graffiti-Sprüche mit Esprit, München 1985, Claus Peter Müller-Thurau: Lexikon der Jugendsprache, Düsseldorf 1985,
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und Hermann Ehmann: affengeil. Ein Wörterbuch der Jugendsprache, München 1993. Vgl. hierzu den Abschnitt „Schocker-Pop“ in meinem Aufsatz „Pop-Literatur“. In Jost Hermand (Hrsg.): Deutsche Literatur nach 1945. Themen und Genres. In: Neues Handbuch der Literaturwissenschaft, Bd. II, Wiesbaden 1979, S. 296–303. R. D. Brinkmann und R. R. Rygulla (Hrsg.): Acid. Neue amerikanische Szene, Darmstadt 1969, S. 418. Vgl. hierzu die Reaktion Martins Walsers in seinem Aufsatz „Die neueste Stimmung im Westen“. In: Kursbuch 20, 1970, S. 19–41. Vgl. meinen Aufsatz: Pop oder die These vom Ende der Kunst. In: Basis. Jahrbuch für deutsche Gegenwartsliteratur 1, 1970, S. 94–115. Vgl. u. a. Peter Rüttgers: Von Rock ’n’ Roll bis Hip-Hop. Geschlecht und Sexualität in Jugendkulturen, Wiesbaden 2016. Vgl. Marlies Ortner: Wortschatz der Pop-/Rockmusik, Düsseldorf 1982. R. D. Brinkmann und R. R. Rygulla (Hrsg.): Acid (wie Anm. 8), S. 225. Vgl. u. a. Moritz Baßler: Der deutsche Pop-Roman, München 2002, Heinz Ludwig Arnold und Jürgen Schäfer (Hrsg.): Pop-Literatur, München 2003, und Frank Degler und Ute Paulokat (Hrsg.): Neue deutsche Popliteratur, Paderborn 2008. Vgl. Spiegel 24, 1970 vom 13. April, S. 234. 223
Anmerkungen 15 Peter O. Chotjewitz: Vom Leben und Lernen, Darmstadt 1969, S. 25. 16 Ebd., S. 31. 17 Vgl. Thomas Daum: Die 2. Kultur. Alternativliteratur in der Bundesrepublik, Mainz 1981. 18 Vgl. Helmut Henne: Jugend und ihre Sprache. Darstellung, Materialien, Kritik, Berlin 1986, Barbara
David: Jugendsprache zwischen Tradition und Fortschritt, 1987, Peter Schlobinski, Gaby Kohl und Irmgard Ludewigt: Jugendsprache. Funktion und Wirklichkeit, Opladen 1993, und Eva Neuland: Jugendsprache. Eine Einführung, Tübingen 2008.
Das Eigene im Fremden. Zur Sprache der deutschen Türken 1
Zit. in Thorben Päthe: Vom Gastarbeiter zum Kanaken. Zur Frage der Identität in der deutschen Gegenwartsliteratur, München 2013, S. 22. 2 Karl Bingemer: Komm, komm, komm – geh, geh, geh. In: Spiegel vom 19. Oktober 1970, Nr. 43, S. 51. 8 3 Vgl. Thorben Päthe: Vom Gastarbeiter zum Kanaken (wie Anm. 1), S. 27 f. 4 Vgl. Klaudia Tietze: Friede, Freude, Gastarbeiter. Die Haltungen der Parteien gegenüber Ausländern in den Jahren 1955–1969, München 2006, S. 21. 5 Vgl. Günter Hofmann: Bürger statt 9 Gastarbeiter. In: Die Welt vom 7. September 1979, S. 37. 6 Vgl. meinen Aufsatz: Die da oben – wir da unten. Günter Wallraffs „Industriereportagen“ (1963–1985). In Ders.: Das liebe Geld. Eigentumsverhältnisse in der deutschen Literatur, Köln 2015, S. 260 f. 10 7 Vgl. Christian Fuchs und John Goetz: Die Zelle. Rechter Terror in Deutschland, Reinbek 2012,
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und meinen Aufsatz: Die „Döner Morde“. Der Nationalsozialistische Untergrund. In Jost Hermand und Sabine Moedersheim (Hrsg.): Deutsche Geheimgesellschaften. Von der Frühen Neuzeit bis zur Gegenwart, Köln 2013, S. 181–190. Wolfgang Benz: Auftrumpfendes Unbehagen. Der kurze Erfolg der Bewegung Pegida. In: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 63, 2015, S. 759–776, und Lars Georges, Stine Marg und Franz Walter: Pegida. Die schmutzige Seite der Zivilgesellschaft, Bielefeld 2015. Vgl. David Bebnowski: Die Alternative für Deutschland. Aufstieg und gesellschaftliche Repräsentanz einer rechten populistischen Partei, Wiesbaden 2015, und Alexander Häusler (Hrsg.): Die Alternative für Deutschland. Programmatik, Entwicklung und politische Verortung, Wiesbaden 2016. Vgl. mein Buch: Deutsche Leitkulturen von der Weimarer Klassik bis zur Gegenwart, Köln 2018, S. 268 f.
Anmerkungen 11 Vgl. Andreas Goldberg, Dirk Halm und Faruk Sen: Die deutschen Türken, Münster 2004, S. 133 ff. 12 Vgl. Doris Marszk: Kanak Sprach als Ausdruck sozialer Identität. In: wissenschaft.de, Bild der Wissenschaft vom 28. April 2000, und Hatice Deniz Canoglu: Kanak Sprach versus Kiezdeutsch. Sprachverfall oder sprachlicher Spezialfall? Eine ethnolinguistische Untersuchung, Berlin 2012. 13 Vgl. Uwe Hinrichs: Hab ich gesehen mein Kumpel. In: Spiegel, 2012, Nr. 7, S. 104 f. 14 Vgl. Ursula Reeg: Schreiben in der Fremde. Literatur nationaler Minderheiten in der Bundesrepublik Deutschland, Essen 1988, S. 45. 15 Vgl. u. a. Harald Weinrich: Gastarbeiterliteratur in der Bundesrepublik Deutschland. In: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 14, 1984, S. 12–22, Heimke Schierloh: Das alles für ein Stück Brot. Migrantenliteratur als Objektivierung des Gastarbeiterdaseins, Frankfurt a. M. 1984, Andrea Zielke: Standortbestimmung der „Gastarbeiter-Literatur“ in deutscher Sprache in der bundesrepublikanischen Literaturszene, Kassel 1985, Hartmut Heinze: Migrantenliteratur in der Bundesrepublik, Berlin 1986, Horst Hamm: Fremdgegangen – freigeschrieben. Einführung in die deutschsprachige Gastarbeiterliteratur, Würzburg 1988, S. 29 f., und Marilya Veteto-Conrad: Finding a Voice. Identity and
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the Works of German-Language Turkish Writers in the Federal Republic of Germany to 1990, New York 1996. Feridun Zaimoglu: Kanak Sprach. 24 Mißtöne am Rande der Gesellschaft, Hamburg 1995, S. 31. Vgl. Helmut Schmitz (Hrsg.): Von der nationalen zur internationalen Literatur. Transkulturelle deutschsprachige Literatur und Kultur im Zeitalter globaler Migration, Amsterdam 2009. Vgl. Annette Wierschke: Schreiben als Selbstbehauptung. Kulturkonflikt und Identität in den Werken von Aysel Özakin, Alev Tenkinay und Emine Sevgi Özdamar, Frankfurt a. M. 1996, S. 160–216, B. Venkat Mani: Cosmopolitical Claims. Turkish-German Literatures from Nadolny to Pamuk, Iowa City 2007, S. 87–117, Angela Weber: Im Spiegel der Migrationen. Transkulturelles Erzählen und Sprachpolitik bei Emine Sevgi Özdamar, Bielefeld 2009, und Jochen Neubauer: Türkische Deutsche, Kanakster und Deutschländer. Identität und Fremdwahrnehmung in Film und Literatur: Fatih Akin, Thomas Arslan, Emine Sevgi Özdamar, Zafer Senocak und Feridun Zaimoglu, Würzburg 2011, S. 339–395. Emine Sevgi Özdamar: Mutterzunge, Berlin 1990, S. 46. Ebd., S. 7. Ebd., S. 9. Emine Sevgi Özdamar: Der Hof im Spiegel, Köln 2001, S. 209. 225
Anmerkungen
Amerikanismen und denglodeutsche Neubildungen . Abschied von der „Muttersprache“? 1
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Vgl. u. a. Broder Carstensen: Englische Einflüsse auf die deutsche Sprache nach 1945, Heidelberg 1965, Wolfram Wilss: Der Einfluß der englischen Sprache auf die deutsche seit 1945. In: Beiträge zur Linguistik und Informationsverarbeitung 8, 1966, S. 30–48, Fritz und Ingeborg Neske: dtv-Wörterbuch englischer und amerikanischer Ausdrücke in der deutschen Sprache, München 1970, Barbara Engels: Gebrauchsanstieg der lexigraphischen und semantischen Amerikanismen in zwei Jahrgängen der „Welt“ (1954–1964), Frankfurt a. M. 1976, Karin Viereck: Englisches Wortgut, seine Häufung und Integration in der österreichischen und bundesdeutschen Pressesprache, Frankfurt a. M. 1980, und Wolfgang Viereck (Hrsg.): Studien zum Einfluß der englischen Sprache auf das Deutsche, Tübingen 1980. Vgl. u. a. Hermann Fink: Amerikanismen im Wortschatz der deutschen Tagespresse am Beispiel dreier überregionaler Zeitungen (Süddeutsche Zeitung, Frankfurter Allgemeine Zeitung, Die Welt), München 1970, und Broder Carstensen: „Spiegel“-Wörter, „Spiegel“ Worte. Zur Sprache eines deutschen Nachrichtenmagazins, München 1971.
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Vgl. Horst Zindler: Anglizismen in der deutschen Presse nach 1945, Kiel 1959. Vgl. Stephanie Bohmann: Englische Elemente im Gegenwartsdeutsch der Werbebranche, Frankfurt a. M. 1996. Vgl. Uwe Pörksen (Hrsg.): Die Wissenschaft spricht Englisch? Versuch einer Standortbestimmung, Göttingen 2005. Vgl. Gerhard Illgner: Die deutsche Sprachverwirrung. Lächerlich und ärgerlich: Das neue Kauderwelsch, Paderborn 2000. Klaus Gosmann: Pidgin im Reiseprospekt. Die Sprache der TUI in den FreeWorld-Katalogen. In Hermann Zabel (Hrsg.): Denglisch, nein danke! Zur inflationären Verwendung von Anglizismen und Amerikanismen in der deutschen Gegenwartsprache, Paderborn 2001, S. 143–152. Vgl. u. a. Walter Krämer: Modern Talking auf deutsch. Ein populäres Lexicon, München 2001, Ferris Goldenstein: Sag’s doch Denglisch! The Book for the Better Understanding. Basic Vocabulary, Frankfurt a. M. 2006, und Jan Melzer und Sören Sieg: Come in and burn out. Der Survival-Guide, München 2011. Vgl. Hermann Zabel (Hrsg.): Denglisch, nein danke! (wie Anm. 7), S. 230.
Anmerkungen 10 Gerhard H. Junker: Der Zeitgeist spricht Englisch. In: Ebd., S. 113. 11 Vgl. Spiegel Online vom 2. Oktober 2006. 12 Vgl. Hermann Zabel: Der Verein Deutsche Sprache (wie Anm. 7), S. 221–295. Vgl. dazu auch Andreas Hock: Bin ich denn der Einzigste hier, wo Deutsch kann. Über den Niedergang unserer Sprache, München 2015. 13 Zit. in Heinz-Günter Schmitz: Amerikanismen und Amerikanismus in der deutschen Sprache und Kultur. In: Ebd., S. 73. 14 Zit. in Hermann Zabel: Denglisch, nein danke! (wie Anm. 7), S. 7 f. 15 Detlef Gürtler: Lieber online als anschnur (2006). In: https//www. welt.de/102458194 (Zugriff: 10. 7. 2018)
16 Jan Georg Schneider: Von free-floatendem Kapital, Hardliners und Instructions (2006). In: Leo-Lingua et opinio. https://www. rlp-forschung.de/public/people/ Jan_Georg_Schneider/publications/78713 17 Karl-Heinz Göttert: Das Wort Blockbuster finde ich geschmacklos. In: Spiegel-online vom 21. November 2013. 18 Rudolf Hoberg: Deutsche Sprache nicht von Anglizismen bedroht. In: RP Online vom 5. Oktober 2013. 19 Vgl. Panorama vom 9. August 2013. 20 Alexander Graf Lambsdorff: Englisch muß unsere Verwaltungssprache werden. In: Die Welt vom 15. Dezember 2014.
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Gustav Könnecke (Hrsg.): Bilderatlas zur Geschichte der deutschen Nationalliteratur, Marburg, Elwertsche Buchhandlung, 1895 Archiv des Verfassers Archiv des Verfassers Archiv des Verfassers Archiv des Verfassers Archiv des Verfassers Arno Holz: Der geschundene Pegasus, Berlin, F. Fontane & Co., 1892, S. 9 Google images, ak-ansichtskarten.de Dr. Franz Stoedtner, Düsseldorf Google images, ghdi.ghi-dc.org VG Bild-Kunst, Bonn 2001 Archiv des Verfassers Wiki Commons Archiv des Verfassers Archiv des Verfassers Ästhetik und Kommunikation, 1983 Google images, http://allemagnehorslesmurs.blogs.rfi.fr/article/2011/01/19/ un-communard-dans-la-jungle.html (Zugriff: 10. 7. 2018) Google images, http://nightflight.com/take-off-to-european-rock-german-rockers-scorpions-will-rock-you-like-a-hurricane/ (Zugriff: 10. 7. 2018) alamy.com, „Mural, Graffiti, Cycle Store, Kreuzberg, Berlin“ Wiki Commons. Pegida Wiki Commons. Türken in Berlin Google images, http://www.deutschlandfunkkultur.de/aras-oeren-wir-neuen-europaeer-deutsch-tuerkischer-dialog.950.de.html?dram:article_id=390178 (Zugriff: 10. 7. 2018) Google images, Emine Sevgi Özdamar Google images, Lebkuchen & more Google images, Deutsche Sprache Screenshot, deutschretten.com (Zugriff: 10. 7. 2018)
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Personenregister A Abendroth, Wolfgang 156 Achternbusch, Herbert 172 Ackermann, Irmgard 189 Adelung, Johann Christoph 26, 27, 37, 38 Adenauer, Konrad 155, 156, 196 Alberti, Konrad 84 Altenberg, Peter 132, 143, 145, 152 Argental, Charles-Augustin de 41 Ariost, Ludovico 41 Arndt, Ernst Moritz 34–37, 39, 44, 45, 46, 52 Arnim, Achim von 44 B Bartzsch, Rudolf 204 Bassermann, Albert 130 Baumgard, Reinhard 172 Becher, Johannes R. 102, 110, 128 Beethoven, Ludwig van 170 Bender, Hans 145 Benn, Gottfried 99, 102, 112, 150 Bergner, Elisabeth 130 Berliner, Emil 86 Bernstein, Elsa 90 Berry, Chuck 170 Besson, Benno 192 Bingemer, Karl 179 Bismarck, Otto von 49, 81–83, 95 Blank, Theodor 178 Bleibtreu, Karl 84 Blei, Franz 118 Bloch, Ernst 98, 127, 128 Böhme, Adam Friedrich 37 Boie, Heinrich Christian 27 Boldt, Paul 103
Bölsche, Wilhelm 84 Börne, Ludwig 60, 61, 77 Bosse, Friedrich 83 Böttcher, Kurt 56 Boyen, Hermann von 33, 36 Boykurt, Fakir 189 Brahm, Otto 86 Brandt, Willy 156 Brecht, Bertolt 192 Brentano, Clemens 44 Brinkmann, Rolf Dieter 171, 172 Brock, Bazon 172 Broder, Henryk M. 188 Bronnen, Arnolt 119 Büchner, Georg 92 Bulmahn, Heinz 56 Bürger, Gottfried August 42 C Caesar 43 Calis, Nuran David 191 Cervantes, Miguel de 41 Chotjewitz, Peter O. 172, 173 Comte, Auguste 85 Conradi, Hermann 84, 90 Conrad, Michael Georg 84 Corrinth, Curt 124 Cremer, Jan 172 D Dahn, Felix 89 Dal, Güney 189 Dehmel, Richard 84 Denkler, Horst 56 Dietrich, Marlene 130 Domino, Fats 170
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Personenregister Dostojewski, Fjodor Michailowitsch 103 E Eberhard, Johann August 37, 38 Ebert, Friedrich 113, 122 Edschmid, Kasimir 107, 112 Ehrenstein, Albert 102 Eisler, Hanns 98 Eisner, Kurt 122 Eliot, Thomas Stearns 136, 141 Engels, Friedrich 45 Enzensberger, Hans Magnus 148, 151 Erlberg, Gabi 204 F Feuchtwanger, Lion 130 Fichte, Hubert 172 Fichte, Johann Gottlieb 34, 39, 40 Fiedler, Leslie A. 172 Fischer (Verlag) 148, 151 Follen, Karl 46 Fontane, Theodor 55 Fradkin, Ilja 99 Frank, Leonhard 112 Franz II., Kaiser des Heiligen Römischen Reichs 30 Franz I., Kaiser von Österreich 30, 31, 32 Franzos, Karl Emil 92 Freiligrath, Ferdinand 59 Friedrich II. von Preußen 27 Friedrich Wilhelm III. von Preußen 34, 51 Friedrich Wilhelm IV. von Preußen 48 Frost, Robert 139, 141 G Gellert, Christian Fürchtegott 43 Giono, John 172
232
Glaßbrenner, Adolf 51, 55–79, 153 Glück, Helmut 204 Gneisenau, August Wilhelm Neidhardt von 33, 36 Goethe, Johann Wolfgang 28, 39, 43, 154, 155, 164 Goll, Iwan 107, 118 Görres, Joseph 44 Göttert, Karl-Heinz 209 Grimm, Jakob 44 Grimm, Reinhold 147, 151 Gryphius, Andreas 18 Guarneri (Violinmacher) 132 Guiler, Hugo 137 Gürtler, Detlef 208 Gutzkow, Karl 57 Gysi, Klaus 56 H Habermas, Jürgen 156 Hagedorn, Friedrich von 43 Halbe, Max 90 Hardenberg, Karl August von 32, 33, 36, 45 Harsdörffer, Georg Philipp 18 Hasenclever, Walter 104, 105, 107, 119, 122 Hauptmann, Gerhart 84, 85, 86, 91, 92, 93, 94, 95 Hausmann, Raoul 125 Heckel, Erich 109 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 57, 66 Heine, Heinrich 60, 61, 147 Heinemann, Gustav 207 Henckell, Karl 84 Herder, Johann Gottfried 28, 34, 39 Herwegh, Georg 59, 60 Heym, Georg 103 Heynicke, Kurt 103, 107
Personenregister Hiller, Kurt 102, 105, 106, 114, 122 Hinck, Walter 151 Hitler, Adolf 98, 132, 133 Hoberg, Rudolf 209 Hofer, Andreas 31 Hoffmann von Fallersleben, August Heinrich 77 Hölderlin, Friedrich 103 Holtei, Karl von 69, 77 Holz, Arno 77, 84–92 Homer 41 Horaz 43 Hosemann, Theodor 65 I Ibsen, Henrik 84 Iffland, August Wilhelm 43 Illgner, Gerhard 204 Ißelburg, Peter 19 J Jahn, Friedrich Ludwig 29, 34–49, 52 Jérôme Bonaparte 31 Johst, Hanns 119 K Kaiser, Georg 110, 123, 128, 131 Kalisch, David 69 Karl der Große 11 Karl IV., Kaiser des Heiligen Römischen Reichs 11 Karl von Habsburg 31 Klabund (d. i. Alfred Henschke) 102 Kleist, Heinrich von 44, 87, 102 Klemm, Wilhelm 107 Klemperer, Otto 130 Klemperer, Victor 154 Klopstock, Friedrich Gottlieb 27, 39, 43 Kohl, Helmut 180
Kolbe, Carl Wilhelm 41 Kollwitz, Käthe 94 Korngold, Erich 130 Kortner, Fritz 130 Kotzebue, August von 46 Krämer, Walter 204 Kraus, Karl 132, 135, 143, 145, 147, 152 Kretzer, Max 84 Kreuzer, Helmut 148 Kunert, Günter 151 Kunzelmann, Dieter 164 Kupferberg, Tuli 172 Kurella, Alfred 98, 99 L Lambsdorff, Alexander von 210 Landauer, Gustav 122 Langhans, Rainer 165, 166 Laube, Heinrich 77 Lavant, Rudolf 83 Le Bon, Gustave 83 Leinsdorf, Erich 130 Lenz, Jakob Michael Reinhold 28 Leonhard, Rudolf 107, 116 Lessing, Gotthold Ephraim 27, 43, 77 Lichtenberg, Georg Christoph 43 Lichtwer, Magnus Gottfried 43 Liebknecht, Karl 112, 122 Lincoln, Abraham 48 Logau, Friedrich von 18 Lorre, Peter 130 Lotz, Ernst Wilhelm 103 Lubeley, Rudolf 204 Lucian 43 Ludwig, Emil 130 Ludwig XIV. von Frankreich 21 Lukács, Georg 98, 99, 127 Lünig, Johann Christian 24 Luther, Martin 12, 13, 27, 38
233
Personenregister Lützow, Adolf von 45 Luxemburg, Rosa 122 M Mann, Thomas 130 Marcuse, Herbert 142, 164 Marie-Luise von Habsburg 32 Marx, Karl 79 Maßmann, Hans Ferdinand 46 Mayer, Hans 127 McClure, Michael 172 Meidner, Ludwig 121 Meineke, Friedrich 154 Meisl, Karl 77 Mencken, H. L. 136, 141 Menzel, Wolfgang 46 Merkel, Angela 184, 211 Metternich, Klemens Wenzel von 31, 32, 45, 52 Meyer, Conrad Ferdinand 89 Mierendorff, Carlo 118 Miller, Henry 139 Mill, John Stuart 85 Mitscherlich, Alexander 156 Mommsen, Theodor 82 Moscherosch, Michael 18 Möser, Justus 28 Müller, Johannes von 43 Müller-Rüdersdorf, Wilhelm 56 Musil, Robert 144 N Napoleon Bonaparte 29–35, 42, 44, 45, 51 Nin, Anaïs 136, 137, 138, 140 Novalis (d. i. Friedrich von Hardenberg) 103
234
O Obermaier, Uschi 165 Oesterle, Günter 148 Opitz, Martin 15, 18 Ören, Aras 189, 190 Otto-Walster, August 83 Ovid 43 Özakin, Aysel 191 Özdamar, Emine Sevgi 191–194 P Paul, Jean 77 Pazarkaya, Yüksel 189 Pechstein, Max 115 Peroni, Adele 58, 59 Pestalozzi, Johann Heinrich 35 Peymann, Claus 192 Pfeffel, Gottlieb Konrad 43 Pfemfert, Franz 105, 122 Picht, Georg 156 Pindar 43 Pinthus, Kurt 104 Pirinecci, Akif 191 Piscator, Erwin 128 Pogarell, Reiner 204 Pole, Rupert 137 Polgar, Alfred 132 Pollak, Felix 129, 131–152 Pollak, Sara 137, 150, 151 Pound, Ezra 136 Presley, Elvis 170, 173 R Rasp, Renate 172 Rau, Johannes 208 Reclam, Philipp 59 Reichert, Klaus 151 Reinhardt, Max 132 Rein, Wilhelm 39 Retkowski, Friedrich 203
Personenregister Rheiner, Walter 118 Rilke, Rainer Maria 144, 147 Rimbaud, Arthur 103 Rist, Johann 18 Rodenhauser, Robert 56 Rohr, Julius Bernhard von 23, 24, 25 Rubiner, Ludwig 105 Rygulla, Ralf Rainer 171
Stevens, Wallace 139 Stieler, Caspar 18 Stieve, Gottfried 23 Storz, Gerhard 154 Stramm, August 104, 107 Strindberg, August 103 Sukov, Marvin 139 Süskind, Wilhelm Emanuel 154
S Sandburg, Carl 139 Sanders, Ed 143, 172 Santak, Michael 151 Saphir, Moritz 57 Sarrazin, Thilo 181, 182, 188 Scharnhorst, Gerhard Johann von 33, 36, 45 Schiller, Friedrich 28, 43, 67, 95, 96, 102 Schlaf, Johannes 78, 84, 85, 89, 90, 91 Schleiermacher, Friedrich Daniel 34, 35 Schlenstedt, Silvia 127 Schlözer, August Ludwig von 43 Schmidt, Helmut 179 Schmidt-Rottluff, Karl 117 Schnack, Anton 107 Schneider, Jan Georg 209 Schröder, Markus 204 Schütz, Sinold von 24 Seume, Johann Gottfried 39, 77 Shakespeare, William 41 Sophokles 43 Sorge, Reinhard Johannes 104 Stadion, Johann Philipp von 31 Steiger, Edgar 84, 86 Steinberg, Wilhelm 130 Stein, Heinrich Friedrich Karl vom und zum 32, 33, 36 Sternberger, Dolf 154
T Taine, Hippolyte 83, 85 Tasso, Torquato 41, 68 Tekinay, Alev 191 Tellkamp, Uwe 188 Terenz 43 Teufel, Fritz 166 Theokrit 43 Thomasius, Christian 23 Toller, Ernst 110, 111, 118, 122, 123, 128, 131 Trakl, Georg 103 Tucholsky, Kurt 79 U Ulbricht, Walter 155 Unruh, Fritz von 110 V Varnhagen von Ense, Karl August 58 Viebahn, Fred 172 Virgil 43 Vischer, Melchior 124 Vogt, Jochen 148 Voltaire (d. i. François-Marie Arouet) 41 Voß, Johann Heinrich 43 Voß, Julius von 69, 77
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Personenregister W Wallraff, Günter 180 Walter, Bruno 130 Weber, Max 82 Wedekind, Frank 144, 147 Weigel, Helene 130 Weill, Kurt 130 Werfel, Franz 130 Wille, Bruno 84 Williams, William Carlos 139, 141 Winterfeld, Friedrich Wilhelm 23 Wittich, Manfred 83 Wolfenstein, Alfred 103 Wolf, Friedrich 118 Wrangel, Friedrich Heinrich Ernst von 59, 76
236
Z Zabel, Hermann 204, 209 Zaimoglu, Feridun 187, 190, 191 Zappa, Frank 172, 176 Zech, Paul 107 Zesen, Philipp von 18 Ziegler, Adolf 98 Zimmer, Dieter E. 204 Zola, Émile 83 Zuckmayer, Carl 131 Zweig, Stefan 130