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German Pages 316 Year 1989
ARNO SCHERZBERG
Grundrechtsschutz und „Eingriffsintensität"
Schriften zum Öffentlichen Recht Band 573
Grundrechtsschutz und „Eingriffsintensität 66 Das Ausmaß individueller Grundrechtsbetroffenheit als materiellrechtliche und kompetenzielle Determinante der verfassungsgerichtlichen Kontrolle der Fachgerichtsbarkeit im Rahmen der Urteilsverfassungsbeschwerde
Von Dr. Arno Scherzberg
Duncker & Humblot * Berlin
CIP-Titelaufnahme der Deutschen Bibliothek Scherzberg, Arno: Grundrechtsschutz und „Eingriffsintensität": das Ausmass individueller Grundrechtsbetroffenheit als materiellrechtliche und kompetenzielle Determinante der verfassungsgerichtlichen Kontrolle der Fachgerichtsbarkeit im Rahmen der Urteilsverfassungsbeschwerde / von Arno Scherzberg. - Berlin: Duncker u. Humblot, 1989 (Schriften zum Öffentlichen Recht; Bd. 573) Zugl.: Münster (Westfalen), Univ., Diss., 1989 ISBN 3-428-06748-7 NE: GT
Alle Rechte vorbehalten © 1989 Duncker & Humblot GmbH, Berlin 41 Satz: Hagedornsatz, Berlin 46 Druck: Werner Hildebrand, Berlin 65 Printed in Germany ISSN 0582-0200 ISBN 3-428-06748-7
Meinen Eltern und Mira
Vorwort Die vorliegende Arbeit ist im Sommersemester 1989 von der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster als Dissertation angenommen worden. Sie geht auf eine Anregung von Herrn Professor Dr. Hans-Uwe Erichsen zurück, der ihren Fortgang mit kritischem Rat betreut und vielfaltig gefördert hat. Dafür sei ihm auch an dieser Stelle herzlich gedankt. Für ihre stete Diskussionsbereitschaft und eine Reihe von weiterführenden Hinweisen bin ich ferner vor allem Herrn Professor Dr. Walter Krebs, dem auch für die rasche Erstellung des Zweitgutachtens zu danken ist, und Herrn Professor Dr. Dirk Ehlers sehr verbunden. Rechtsprechung und Literatur sind für die Drucklegung auf den Stand von Anfang August 1989 gebracht worden. Die Sammlung der Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts ist bis einschließlich Band 78 ausgewertet. Münster, im August 1989 Arno Scherzberg
Inhaltsverzeichnis Voibemerkimg Α. Begriffliches
17
Β. Eingriffsintensität und Grundrechtsschutz
18
C. Zum Gang der Untersuchung
20
7. Kapitel Das Meikmal der Eingriffsintensität im Spiegel von Rechtsprechung und Literatur A.Einleitung
22
B. Die Grundlagen der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts
23
I. Der verfassungsrechtliche Ausgangsbefund
23
1. Zur Aufgabe der Verfassungsgerichtsbarkeit im Rechtsschutzsystem . . .
23
2. Grundrechtsverstoß und Gesetzesverstoß
25
II. „Spezifisches Verfassungsrecht" als Maßstab der verfassungsgerichtlichen Kontrolle 26 III. Die Unzulänglichkeit der Formel vom „spezifischen Verfassungsrecht"
..
28
1. Die Auslegung und Anwendung unterverfassungsrechtlicher Rechtssätze
29
2. Die Tatsachenfeststellung
35
3. Die Kontrollpraxis bis zum Patent-Beschluß
36
IV. Die Erweiterung der Formel im Patent-Beschluß C. Die Rechtsprechung zum Merkmal der Eingriffsintensität
37 41
I. Die Leitentscheidungen
41
1. Der DGB-Beschluß
41
2. Der Echternach-Beschluß
43
3. Das dreistufige Kontrollmodell
44
II. Die weitere Rechtsprechung zu Eingriffen in die Meinungs-, Presse-, Rundfunk· und Kunstfreiheit 45
Inhaltsverzeichnis
10
1. Fälle hoher EingrifFsintensität
46
2. Fälle geringer Eingriffsintensität
51
3. Entscheidungen ohne Berücksichtigung des Merkmals
55
ΙΠ. Zwischenergebnisse und Kritik der Rechtsprechung zu Art. 5 GG
60
1. Die Grundkonzeption
60
2. Der Anwendungsbereich des Merkmals der Eingriffsintensität
60
3. Die zur Feststellung der Eingriffsintensität im Einzelfall gebildeten Fallgruppen 62 4. Die grundsätzliche Korrelation von Eingriffsintensität und Kontrolldichte 63 5. Die „Ersetzung der fachgerichtlichen Wertung" als Kennzeichen höchster Kontrolldichte 64 6. Die Unterscheidung „grundlegender" und „einfacher" Auslegungsfehler als Gradmesser der Kontrolldichte 68 7. Eingriffsintensität und Tatsachenkontrolle
72
IV. Verifikation der Ergebnisse anhand der übrigen Rechtsprechung
74
1. Der Anwendungsbereich des Merkmals der Eingriffsintensität
74
2. Die Bestimmung der Eingriffsintensität im Einzelfall
77
3. Die zweifache Abstufung der Kontrolldichte
79
4. Die Verschärfung der auf erster Stufe ausgeübten Kontrolle
80
V. Zusammenfassung und Ergebnis
81
1. Die Voraussetzungen einer Verknüpfung von Eingriffsintensität und Kontrolldichte 81 2. Die Vereinfachung des Kontrollmodells 3. Die Akzessorietät der Tatsachenkontrolle
83 84
4. Die Anknüpfung an die Eingriffsintensität als Mittel zur Kompensation fehlender Maßstäbe für die Bestimmung der Grenzen materiell-grundrechtlicher Steuerung im Bereich des „objektiven" Freiheits- und Rechtsgüterschutzes 84 D. Das Merkmal der Eingriffsintensität in der Literatur
86
I. Die These von der Identität von Entscheidungs- und Kontrollnorm
87
1. Die „materiellrechtliche Verfassungsreduktion" 2. Das restriktive Verständnis des Begriffs der Grundrechtsverletzung II. Funktionsrechtlich orientierte Ansätze
87 ...
88 88
1. Die Abstufung anhand des Abstraktionsniveaus
90
2. Der Rückgriff auf das Revisionsrecht
91
Inhaltsverzeichnis 3. Die Unterscheidung mittelbarer und unmittelbarer Grundrechtsverletzung 92 4. Die Parallele zur verwaltungsrechtlichen Ermessensfehlerlehre
92
5. Die Anknüpfung an die EingrifFsintensität
93
III. Die Verbindung materiellrechtlicher und funktionsrechtlicher Kriterien ..
94
1. Die Ablehnung einer Abstufung der Kontrolldichte
95
2. EingrifFsintensität und Verfahrensfunktionen
95
IV. Fazit und weitere Fragestellung
96
2. Kapitel Materiellrechtliche and kompetenzielle Grenzen der veifàssungsgerichtlichen Kontrolle der Fachgerichtsbaikeit A. Die Unterscheidung von Entscheidungs- und Kontrollnorm bei der Urteilsverfassungsbeschwerde 98 I. Rechtsbindung als Voraussetzung rechtlicher Kontrolle
98
II. Zum Umfang der Rechtsbindung durch das Grundgesetz
99
1. Normativität und Bestimmtheit der Verfassung
99
2. Normtheoretische Prämissen zur Reichweite staatlicher Rechtsbindung 103 3. Die Grenzen der Normativität des Grundgesetzes
105
4. Der Rahmencharakter des Grundgesetzes
114
III. Das Grundgesetz als Maßstab der verfassungsgerichtlichen Kontrolle 1. Textbefund 2. Zielsetzung und Wirkungsweise (verfassungs-)rechtlicher Kontrolle
115 116 . . . 117
3. Verfassungsgerichtliche Kontrollkompetenz und verfassungsrechtlicher Kontrollmaßstab — zum Verhältnis von Entscheidungs- und Kontrollnorm bei der Überprüfung fachgerichtlicher Entscheidungen 121 B. Das Zusammenwirken materiellrechtlicher und kompetenzieller Bestimmungsfaktoren der verfassungsgerichtlichen Kontrolle 135 I. Die Ergänzungsfunktion funktionsrechtlicher Kriterien II. Die Kompensationsfunktion funktionsrechtlicher Kriterien III. Die Bestimmung der Kontrolldichte als integraler Prozeß
135 136 136
12
Inhaltsverzeichnis 3. Kapitel Eingriflsintensitat als MaBstab des sog. „objektiven" grundrechtlichen Freiheitsschutzes
A. Zur Bedeutung der Grundrechte als „objektive" Wert- und Steuerungsvorgaben 139 I. Die Unzulänglichkeit des liberalen, durch „Eingriffs- und Schrankendenken" geprägten Konzepts des grundrechtlichen Freiheitsschutzes 139 1. Bürgerlich-rechtsstaatliches Freiheitsverständnis und grundgesetzlicher Freiheitsbegriff 139 2. Ansätze zur Erweiterung des „Eingriffs- und Schrankendenkens"—Darstellung und Kritik 144 Π. Bedeutung und Regelungsgegenstand des „objektiven" grundrechtlichen Freiheitsschutzes 153 B. Gegenwärtige Konzeptionen des „objektiven" grundrechtlichen Freiheitsschutzes 155 I. Die Grundrechte als Wertordnung 1. Eignung und Ertrag des Wertbegriffs
155 155
2. Das Konzept der Güter- und Interessenabwägung als Konsequenz eines wertorientierten Grundrechtsverständnisses 158 3. Gefahren und Grenzen der Wertordnungslehre
162
4. „Objektive" Wertentscheidung und subjektives Grundrecht
166
II. Die Grundrechte als „Prinzipien" — zum Verständnis der Grundrechte als Gebote zur Optimierung realer Freiheit 169 1. Die Prinzipienlehre Alexys
169
2. Die Grundrechte als Optimierungsgebote
172
3. Folgerungen für den „objektiven" Schutzgehalt der Grundrechte
173
4. Die Relativierung der Optimierungsthese
174
5. Zur Eignung des Obermaßverbots als Steuerungsmechanismus des „objektiv-grundrechtlichen" Freiheitsschutzes 177 C. Die Wirkkraft der Grundrechte als Garanten „realer Freiheit"
183
I. „Objektiv-grundrechtlicher" Freiheitsschutz als Paradigma „weicher" verfassungsrechtlicher Steuerung 183 1. Die Begrenztheit der normativen Reichweite „objektiv-grundrechtlicher" Regelung 183 2. Die Appellfunktion „objektiv-grundrechtlicher" Regelung
186
3. Grundrechte als komparative Rechtssätze
187
Inhaltsverzeichnis II. „Objektiv-grundrechtlicher" Freiheitsschutz als Paradigma „strikter" verfassungsrechtlicher Steuerung 193 1. Die grundrechtlichen Schutzpflichten bei freiheitswidrigen Beeinträchtigungen durch Dritte 194 2. Die Grundrechte als Organisations- und Verfahrensgarantien
198
3. Grundrechte und „mittelbar-faktische" Beeinträchtigungen
203
4. Die Grundrechte als Untermaßverbot
208
III. „Objektiv-grundrechtlicher" Freiheitsschutz und subjektives Grundrecht .. 211 1. Subjektives und objektives Recht
212
2. Unterlassungspflichten und Wertvorgaben als Formen objektiver grundrechtlicher Verhaltenssteuerung 213 3. Die Notwendigkeit einer Überwindung der Jellinekschen Statuslehre .. 214 4. Der positive Status des Grundrechtsträgers
216
5. Status und Abwehrrecht
217
6. Grundrechtlicher Freiheitsschutz als Abwehr von Verletzungen der Grundrechtsnorm 218 7. Folgerungen D. Ergebnis
219 222
4. Kapitel Eingriffsintensität als kompetenzieller Steueiungsfaktor der verfassungsgerichtlichen Kontrolle A. Die Kontrolle der Wahrung der grundgesetzlichen Maßstabsfunktion I. Das Grundgesetz als „Maßstabsnorm"
224 224
II. Die funktionsgerechte Zuordnung der Kompetenz zur letztverbindlichen Wahrnehmung der grundgesetzlichen Maßstabsfunktion 225 1. Die inzidente Normenkontrolle
225
2. Die verfassungskonforme Auslegung
227
B. Die Kontrolle der Wahrung der grundgesetzlichen Erschließungsfunktion I. Das Grundgesetz als „Erschließungsnorm"
. . . 231 231
1. Restriktive Ansätze
231
2. Die Reichweite des Grundgesetzes als „Erschließungsnorm"
233
14
Inhaltsverzeichnis II. Die funktionsgerechte Zuordnung der Kompetenz zur letztverbindlichen Wahrnehmung der grundgesetzlichen Erschließungsfunktion 234 1. Die Kontrolle anhand strikter verfassungsrechtlicher Entscheidungsmaßstäbe 234 2. Die Kontrolle anhand „weicher" verfassungsrechtlicher Entscheidungsmaßstäbe 257 III. Zum Verhältnis von Maßstabs- und Erschließungsfunktion des Grundgesetzes 262 1. Das Gebot zur Unterscheidung von Maßstabs- und Erschließungsfiinktion 263 2. Die Unterscheidung im einzelnen
264
C. Die Kontrolle der Tatsachenermittlung
267
I. Der normative Ausgangsbefund
267
II. Tatsachenkontrolle und „spezifisches Verfassungsrecht"
269
1. Gesetzmäßigkeitsprinzip und Tatsachenfeststellung
269
2. Die formale und materiale verfassungsrechtliche Steuerung der Tatsachenerhebung 270 III. Eingriffsintensität und Tatsachenkontrolle
273
D.Ergebnis
275
Zusammenfassende Hiesen
277
Literaturverzeichnis
288
Sachregister
313
Abkürzungen AK BK BMI diss. op. DJT FG FS GS Hrsg. s. S. sog. VerwArch. WDStRL WRV zit. ZgesStW
Alternativkommentar (Grundgesetz-Kommentar, Reihe Aiternati vkommentare, nähere Angaben s. Literaturverzeichnis) Kommentar zum Bonner Grundgesetz (Bonner Kommentar, nähere Angaben s. Literaturverzeichnis) Der Bundesminister des Inneren dissenting opinion (Sondervotum) Deutscher Juristentag Festgabe Festschrift Gedächtnisschrift Herausgeber siehe Seite sogenannt(e/er) Verwaltungsarchiv Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer Die Verfassung des Deutschen Reiches (Weimarer Reichsverfassung) zitiert Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft
Wegen der übrigen Abkürzungen wird auf Kirchner, Abkürzungsverzeichnis der Rechtssprache, 3. Aufl. Berlin u.a. 1983 verwiesen.
Vorbemerkung Α. Begriffliches Die Aufnahme des in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts geprägten Begriffs der „Eingriffsintensität" 1 hat sich zweier denkbarer Mißverständnisse zu erwehren. Ihr liegt keine Rezeption des klassischen grundrechtlichen Eingriffsbegriffs zugrunde, der die grundrechtliche Schutzwirkung auf die Abwehr von imperativen Einwirkungen, also von Beeinträchtigungen grundrechtlich geschützter Güter durch (rechtlichen) Befehl 2 oder unmittelbar gegenüber dem Betroffenen ausgeübten (tatsächlichen, von einem fiktiven Duldungsgebot begleiteten) Zwang 3 beschränkte. Sie stellt auch keine vorweggenommene Parteinahme im Streit um den grundrechtlichen Freiheitsbegriff und die Angemessenheit des traditionellen „Eingriffs- und Schrankendenkens" für das Verständnis der Wirkungsweise der grundrechtlichen Gewährleistungen dar. 4 Nach dem vom Bundesverfassungsgericht eingeführten Sprachgebrauch, an den hier angeknüpft werden soll, ist der Begriff der „Eingriffsintensität" vielmehr untechnisch zu verstehen. Er impliziert weder eine Beeinträchtigung des Schutzbereichs des betroffenen Grundrechts 5 noch etwa deren Verfassungswidrigkeit, sondern bezeichnet lediglich das Ausmaß der durch einen staatlichen Ausgangsakt bewirkten Minderung grundrechtlich geregelter Freiheit oder Lebensgüter. 6 Im gleichen Sinne ließe sich vom Grad der individuellen Betroffenheit im grundrechtlich thematisierten Lebensbereich sprechen.
1
BVerfGE 42, 143, 149. Hierzu Gallwas, Faktische Beeinträchtigungen S. 12, 21; Grabitz, Freiheit S. 24ff.; Bleckmann, Staatsrecht II S. 335 ff. 3 Entgegen verbreiteter Auffassung schloß das klassische, auf der Statuslehre G. Jellineks basierende Grundrechtsverständnis auch den Schutz vor den heute sog. unmittelbarfaktischen Beeinträchtigungen — etwa durch polizeilichen Schlagstockeinsatz — ein; zur Behandlung derartiger Maßnahmen als Verwaltungsakte s. etwa W. Jellinek, Verwaltungsrecht, S. 258; dazu auch Bleckmann, Staatsrecht II S. 337. 4 Dazu einerseits Häberle, Wesensgehaltgarantie S. 145 ff.; andererseits Schlink, EuGRZ 1984, 457 ff.; vermittelnde Position bei Lerche, DÖV 1965, 212, 213 f. 5 Zur Unterscheidung von Schutzbereich und Norm- oder Regelungsbereich s. Erichsen, Staatsrecht I S. 7 f. 6 Vgl. auch BVerfGE 75, 201, 221: „Ausmaß der Grundrechtsbeeinträchtigung". 2
2 Scherzberg
Vorbemerkung
18
Β. Eingriffsintensität und Grundrechtsschutz Der Eingriffs- oder Betroffenheitsintensität kommt in mehrfacher Hinsicht Steuerungsfunktion für die Reichweite und den Inhalt des grundrechtlichen Freiheits- und Rechtsgüterschutzes zu. Sie kann zunächst einen wesentlichen Bestimmungsfaktor für Gegenstand und Reichweite der grundrechtlichen Gewährleistungen darstellen. So war der Enteignungstatbestand des Art. 14 Abs. 3 GG nach der früheren Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts durch die Schwere und Tragweite einer Eigentumsbeeinträchtigung gekennzeichnet7 und setzt die Grundrechtserheblichkeit sog. mittelbar-faktischer Beeinträchtigungen grundrechtlicher Individualrechtsgüter nach heute verbreiteter Ansicht eine gewisse Intensität der abzuwehrenden Einwirkung voraus. 8 Auch im Bereich der Verfahrensgrundrechte soll der Regelungszweck der Verfassungsgarantien nach Ansicht der Rechtsprechung nur Beeinträchtigungen jenseits einer bestimmten Erheblichkeitsschwelle erfassen. 9 Die Intensität der grundrechtlichen Betroffenheit im Einzelfall kann ferner für den Inhalt der grundrechtlichen Regelungsanordnung maßgeblich sein. Die im Übermaßverbot für imperative Beeinträchtigungen grundrechtlich geschützter Güter zusammengefaßten Handlungsmaßstäbe knüpfen maßgeblich an die Intensität der jeweiligen Einwirkung auf die Individualsphäre an. Sowohl die im Rahmen der Gebote der Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit 10 staatlichen Verhaltens notwendigen Abwägungen als auch die von der Wesensgehaltsgarantie des Art. 19 Abs. 2 GG gesetzten Grenzen werden durch die Schwere des Eingriffs determiniert. 11 Entsprechendes gilt für das Gebot der Gewährung effektiven Rechtsschutzes gem. Art. 19 Abs. 4 GG, das nach Ansicht des 7
Vgl. BVerwGE 5,143,145; 7, 297, 299; 32,173,179; 52,122,125; anders nunmehr in Anlehnung an die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts BVerwGE 77, 295, 297 f. 8 Vgl. etwa BVerwG NVwZ 1984,514,515; Ramsauer, VerwArch. 72 (1981), 89,104f.; Erichsen, Jura 1987, 367, 369; ausführlich dazu unten 3. Kapitel C II 3. 9 In diesem Sinne dürfte etwa BVerfGE 75, 302, 312 ff. zu verstehen sein. Nicht jede fehlerhafte Anwendung zivilprozessualer Präklusionsnormen beeinträchtigt danach den Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs. Die Schwelle einer Verletzung des Art. 103 Abs. 1 GG ist erst erreicht, wenn sich eine Anhörung auch als verfassungsrechtlich erforderlich darstellt. Dies kann sich nur nach der Intensität der Beeinträchtigung der Möglichkeiten zur rechtserheblichen Äußerung im Verfahren bestimmen lassen; s. auch BVerfGE 54, 117, 124; 60, 305, 310; 74, 228, 233. 10 Verhältnismäßigkeit wird hier im engeren Sinne als die im Rahmen der Prüfung des Übermaßverbots festzustellende Proportionalität von Handlungsziel und -mittel verstanden. 11 Vgl. etwa BVerfGE 17,232,242; 17,306,314; 20,150,159; 44,105,121; 47,198,234; 51, 324, 346; 54,100, 114; 57, 121, 136; 70, 297, 315; zur Verhältnismäßigkeit i.e.S. auch Grabitz, AöR 98 (1973), 568, 575ff., 581; zum Verhältnis von Übermaßverbot und Wesensgehaltsgarantie im einzelnen unten 3. Kapitel Β I 2a; C II 4.
Β. Die Funktion des Kriteriums der Eingriffsintensität
19
Bundesverfassungsgerichts um so mehr an Gewicht gewinnt und eine um so weitergehende gerichtliche Kontrolle des Sofortvollzugs von Verwaltungsakten erfordert, je schwerwiegender die dem Bürger auferlegte Belastung wirkt. 1 2 Die Intensität der jeweiligen Betroffenheit grundrechtlich geschützter Positionen ist ferner ein wesentlicher Entscheidungsmaßstab auch für die außerhalb der Beurteilung staatlichen Handelns — vornehmlich bei der Feststellung der Wirkkraft der Grundrechte zwischen Privaten — erforderlichen Güterabwägungen.13 Auch die Reichweite und inhaltlichen Anforderungen der grundgesetzlichen Gesetzesvorbehalte werden nach heute herrschender Auffassung vornehmlich anhand der Bedeutung der Regelung für die Grundrechtsausübung und damit nach der Intensität der Grundrechtsberührung bestimmt. 14 Der Grad der Grundrechtsrelevanz ist hier vor allem für den Umfang der Delegationsmöglichkeit des Gesetzgebers, also für die Reichweite des sog. „Parlamentsvorbehalts" maßgebend.15 Die Intensität der Beeinträchtigung grundrechtlich geschützter Güter gilt aber auch als Bestimmungsfaktor für die Grenzen der Befugnis zu richterlicher Rechtsfortbildung. 16 Fehlt eine verfassungsrechtlich geforderte Rechtsgrundlage, wird bei der Zubilligung von Übergangsfristen an den Gesetzgeber wiederum nach Maßgabe der Schwere des Eingriffs differenziert. 17 Das Maß der Eingriffsintensität soll indes nicht nur den Inhalt der formalen und materialen grundgesetzlichen Handlungsmaßstäbe und damit die die rechtssetzenden und rechtsanwendenden Organe im Einzelfall verpflichtenden verfassungsrechtlichen Entscheidungsnormen 18 determinieren. Das Bundesverfassungsgericht zieht die Intensität der Grundrechtsbetroffenheit auch zur Feststellung der Grenzen seiner Kompetenz zur Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit von Rechtssetzung und Rechtsanwendung heran 19 und bemißt danach den 12
BVerfGE 35, 382, 402; 57, 295, 320f.; 67, 43, 59; 69, 315, 363. Vgl. etwa BVerfGE 35, 202, 226, 239. 14 S. etwa BVerfGE 33,125,160; 38,373,381; 49,89,127; 58,257,268,274; 71,162,172; 76, 1, 75; 76, 171, 184 f. 15 Dazu BVerfGE 57, 295, 321; 58, 257, 268, 274; 76, 171, 184f.; Erichsen, in: FS Juristische Gesellschaft S. 113, 121 ff.; ders., Staatsrecht I S. 92. 16 Vgl. BVerfGE 59, 330, 334. 17 BVerfGE 51, 268, 288. 18 Mit dem Begriff der Entscheidungsnorm wird in Anlehnung an F. Müller, Methodik S. 145, 172f., die eine konkrete Fallentscheidung ermöglichende, konkretisierte Form eines Rechtssatzes als Handlungsmaßstab verstanden, dessen „von einem bestimmten Fall her auf seine verbindliche Lösung hin abschließend individualisierter Aggregatzustand". 19 Mit Kontrolle soll der Vorgang des Messens der angegriffenen Entscheidung anhand der dafür vorgesehenen Kontrollmaßstäbe einschließlich der als Ergebnis dieses Prozesses ergehenden Entscheidung bezeichnet werden. Als Kompetenz wird im folgenden die einem Staatsorgan zugewiesene Zuständigkeit und Handlungsbefugnis verstanden. Der Begriff der Kontrollkompetenz gilt der (dem Bundesverfassungsgericht) eingeräumten Handlungsmacht zur Überprüfung und ggf. Verwerfung oder Korrektur staatlichen Handelns; 13
2*
20
Vorbemerkung
Umfang seiner Befugnis zur letztverbindlichen Konkretisierung der als Kontrollmaßstab einschlägigen Verfassungsnormen. 20 Als ein wesentlicher Bestimmungsfaktor für die „Dichte" der verfassungsgerichtlichen Kontrolle, und damit für das Maß des den kontrollierten Organen bei Bildung der fallbezogenen Kontrollnorm 21 durch das Bundesverfassungsgericht eingeräumten Auslegungs- oder Abwägungsspielraums, findet das Merkmal der Eingriffsintensität neben ersten Ansätzen in der Normenkontrolle 22 vor allem im Rahmen der Urteilsverfassungsbeschwerde, also bei der Überprüfung von Entscheidungen der Fachgerichte 23 , Berücksichtigung. Der Intensität der Grundrechtsbetroffenheit wird damit offenbar eine Doppelfunktion als materiellrechtliche und kompetenzielle Determinante der Kontrolltätigkeit des Bundesverfassungsgerichts beigemessen.
C. Zum Gang der Untersuchung Als ein den Umfang der verfassungsgerichtlichen Nachprüfung steuerndes Kriterium wird das Merkmal der Eingriffsintensität zugleich bestimmend für das Maß des im Verfahren der Urteilsverfassungsbeschwerde gewährten Individualrechtsschutzes. Zur wissenschaftlichen Aufarbeitung dieser Verknüpfung von Eingriffsintensität und Grundrechtsschutz bedarf es zunächst einer Bestandsaufnahme der Kontrollpraxis der Rechtsprechung und ihrer Rezeption in der Literatur (1. Kapitel). Nach grundsätzlicher Klärung des Stellenwerts materiellrechtlicher und kompetenzieller Bestimmungsfaktoren für die Reichweite der verfassungsgerichtlichen Kontrolle gegenüber der Fachgerichtsbarkeit (2. Kapitel) wird der Zusammenfassung von „objektiv-grundrechtlichem" Freiheitsschutz und der Intensität der Grundrechtsbetroffenheit dargestellt (3. Kapitel). Die folgenden Erörterungen sind der kompetenziellen Bedeutung zum Kontrollbegiiff Krebs, Kontrolle S. 4 ff.; zum Kompetenzbegriff Stettner, Grundfragen S. 31 ff., 35; s. auch K. Hesse, Grundzüge Rdn. 491; Wolff / Bachof, Verwaltungsrecht II, §72 I c i . 20 Als Kontrollmaßstab wird die Gesamtheit der Rechtssätze verstanden, anhand derer das Bundesverfassungsgericht die Überprüfung der jeweiligen staatlichen Maßnahme vornimmt. 21 Als Kontrollnorm soll — in Anknüpfung an den Begriff der Entscheidungsnorm — das Ergebnis der fallbezogenen Konkretisierung der als Kontrollmaßstab zur Verfügung stehenden Rechtssätze bezeichnet werden. 22 BVerfGE 50, 290, 332f.; ähnlich BVerfGE 76, 1, 50 ff. zur verfassungsgerichtlichen Kontrolle ermessenslenkender Verwaltungsvorschriften und Mahrenholz, diss, op., in: BVerfGE 77, 170, 234, 236 f. zur Kontrolle der Wahrung der grundrechtlichen Schutzpflichten durch die Bundesregierung. 23 Der Verfasser folgt hiermit der Wortwahl des Bundesverfassungsgerichts. Er verkennt dabei nicht, daß — wie im folgenden zu zeigen sein wird — auch das Bundesverfassungsgericht ein „Fachgericht", d. h. ein Gericht mit einer auf ein bestimmtes Rechtsgebiet bezogenen Zuständigkeit ist.
C. Zum Gang der Untersuchung
21
des Maßstabs der Eingriffsintensität für die Nachprüfung fachgerichtlicher Entscheidungen im Verfahren der Urteilsverfassungsbeschwerde gewidmet (4. Kapitel). Die wesentlichen Erkenntnisse der Arbeit werden abschließend in Thesenform zusammengefaßt.
Î. Kapitel
Das Merkmal der Eingriffsintensität im Spiegel von Rechtsprechung und Literatur A. Einleitung Die zutreffende Bestimmung von Umfang und Grenzen der verfassungsgerichtlichen Kompetenz, auf Verfassungsbeschwerden hin in fachrichterliche Entscheidungen einzugreifen, bildet seit der Einführung der Verfassungsbeschwerde im Jahre 1951 eine der zentralen Fragestellungen im Verhältnis des Bundesverfassungsgerichts zu den Fachgerichten. Das Bundesverfassungsgericht hat sich hierzu im Laufe der Rechtsprechungsentwicklung immer wieder um angemessene Lösungen bemüht und allgemeingültige Formeln zu entwickeln versucht, um Gleichmaß und Vorhersehbarkeit seiner Entscheidungstätigkeit zu gewährleisten. In jüngerer Zeit wird dem Merkmal der Eingriffsintensität dabei eine herausragende Bedeutung zugemessen. Die Bedeutung der Intensität der durch die angegriffene Entscheidung bewirkten Beeinträchtigung grundrechtlich geschützter Güter für die Kontrolltätigkeit des Bundesverfassungsgerichts wurde in zwei Beschlüssen des Ersten Senats vom 11.5. 19761 zum ersten Mal ausdrücklich herausgestellt und im DGB-Beschluß wie folgt umschrieben: „Das Bundesverfassungsgericht kann einer rechtskräftigen zivilgerichtlichen Entscheidung nicht schon dann entgegentreten, wenn es selbst bei der Beurteilung widerstreitender Grundrechtspositionen die Akzente anders gesetzt und daher anders entschieden hätte. Die Schwelle eines Verstoßes gegen objektives Verfassungsrecht, den das Bundesverfassungsgericht zu korrigieren hat, ist vielmehr erreicht, wenn die Entscheidung der Zivilgerichte Auslegungsfehler erkennen läßt, die auf einer grundsätzlich unrichtigen Auffassung von der Bedeutung eines Grundrechts, insbesondere vom Umfang seines Schutzbereichs beruhen und auch in ihrer materiellen Bedeutung für den konkreten Rechtsfall von einigem Gewicht sind (BVerfGE 18, 85 [93]). Je nachhaltiger ferner ein zivilgerichtliches Urteil im Ergebnis die Grundrechtssphäre des Unterlegenen trifft, desto strengere Anforderungen sind an die Begründung dieses Eingriffs zu stellen und desto weiterreichend sind folglich die Nachprüfungsmöglichkeiten des Bundesverfassungsgerichts; in Fällen höchster Eingriffsintensität (vgl. etwa BVerfGE 35, 202 — Lebach —) ist es durchaus befugt, die von den Zivilgerichten vorgenommene Wertung durch seine eigene zu ersetzen." 2 1
BVerfGE 42, 143 ff. — DGB —; 42, 163 ff. — Echternach —.
Β. Die Grundlagen der Rechtsprechung
23
Im Echternach-Beschluß vom gleichen Tage stellte das Gericht zusammenfassend fest: „Je mehr eine zivilgerichtliche Entscheidung grundrechtsgeschützte Voraussetzungen freiheitlicher Existenz und Betätigung verkürzt, desto eingehender muß die verfassungsgerichtliche Prüfung sein, ob eine solche Verkürzung verfassungsrechtlich gerechtfertigt ist." 3 Seit seiner Einführung im Jahre 1976 fand das Merkmal der Eingriffsintensität in der Rechtsprechungspraxis bei der Bestimmung der Grenzen der verfassungsgerichtlichen Kontrolle im Verfahren der Urteilsverfassungsbeschwerde verbreitet Berücksichtigung. Es wurde jedoch fast ausnahmslos in Entscheidungen herangezogen, die eine Auseinandersetzung mit den Inhalten der fachgerichtlichen Judikate enthielten und blieb bei der Überwachung des gerichtlichen Verfahrens weitgehend außer Betracht. 4 Auch in Entscheidungen zu sog. „verdeckten Rechtssatzverfassungsbeschwerden" 5, bei denen es ausschließlich um eine Überprüfung von Maßnahmen des Gesetz- oder Verordnungsgebers geht, findet sich kein Bezug auf den Maßstab der Eingriffsintensität. 6 Die folgende Untersuchung konzentriert sich folglich auf die Bedeutung des Merkmals der Eingriffsintensität als Steuerungsfaktor für die Kontrolle der fachrichterlichen Auslegung und Anwendung des materiellen Rechts.
B. Die Grundlagen der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts I. Der verfassungsrechtliche Ausgangsbefund 1. Zur Aufgabe der Verfassungsgerichtsbarkeit
im Rechtsschutzsystem
Nach der in Art. 19 Abs. 4, 20 Abs. 2 und 3, 92ff., 95, 100 Abs. 1 GG teils vorausgesetzten, teils ausdrücklich verankerten gegenwärtigen Gerichtsorganisation liegt die Gewährung individuellen Rechtsschutzes und damit die Anwendung und Auslegung der einschlägigen Normen des einfachen Rechts 2
BVerfGE 42, 143, 148 f. BVerfGE 42, 163, 168 unter Bezugnahme auf die zuvor zitierte Passage. 4 Zur Kontrolle des gerichtlichen Verfahrens seit dem DGB-Beschluß vgl. BVerfGE 42, 212,218 ff.; 42,364,367 f.; 44,302,305 ff.; 46,325,333 ff.; 48,246,254 ff.; 49,252,256 f.; 50, 32, 35ff.; 52, 131,157f.; 53,115,127ff.; 53,148, 151; 54, 80, 83 ff.; 55, 95, 98ff.; 64, 135, 143ff.; 65,171,174ff.; 65, 317, 322ff.; 69,126,138ff.; 71, 276, 292ff; 74, 220, 224ff.; 75, 183, 188ff.; 77, 275, 284ff.; 78, 88, 96ff.; BVerfG NJW 1989, 1147f.; ausdrücklich etwa BVerfGE 75, 302, 314: „Unterschiede in der Prüfungsintensität können sich nur daraus ergeben, daß die angewandten einfachrechtlichen Normen unterschiedliche Grundrechtsrelevanz haben"; abweichend nur BVerfGE 59, 330, 334. 5 Dazu Steinwedel, Spezifisches Verfassungsrecht S. 24; Schumann, Verfassungsbeschwerde S. 119 f. 6 Vgl. etwa BVerfGE 46,224,233 ff.; 49,343,352ff.; 51,1,16ff.; 52,369,373 ff.; 53,135, 143 ff; 53, 224, 245 ff.; 58, 283, 290; 59, 302, 314; 63, 88, 108 ff.; 74, 33, 38; dazu auch Schiaich, Bundesverfassungsgericht S. 149 f. 3
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1. Kap.: Eingriffsintensität in Rechtsprechung und Literatur
und des Verfassungsrechts primär in den Händen der Fachgerichtsbarkeit. 7 Die Aufgabe letztinstanzlicher Norminterpretation und die Wahrung der Einheitlichkeit der Rechtsprechung ist gem. Art. 95 Abs. 1 und 3 GG den obersten Gerichtshöfen des Bundes zugewiesen, die in ihrer Funktion als Revisionsgerichte über das Vorliegen von Gesetzesverletzungen und damit über die zutreffende Auslegung materiellrechtlicher wie verfahrensrechtlicher Vorschriften des einfachen Rechts abschließend zu befinden haben. M i t der Eröffnung der Verfassungsbeschwerde in §§ 90 ff. BVerfGG, Art. 93 Abs. 1 Nr. 4 a GG (auch) gegenüber Akten der rechtsprechenden Gewalt ist dem Bundesverfassungsgericht die Kontrolle der fachrichterlichen Rechtsprechungstätigkeit übertragen. Nicht ausdrücklich geregelt ist dabei jedoch, in welchen Fällen ihm damit Eingriffsbefugnisse eingeräumt werden. 8 Das Bundesverfassungsgericht entscheidet über Verfassungsbeschwerden, die mit der Behauptung erhoben werden können, in einem Grundrecht oder einem grundrechtsähnlichen Recht verletzt zu sein. M i t dem in § 90 Abs. 1 BVerfGG enthaltenen und von Art. 93 Abs. 1 Nr. 4 a GG aufgenommenen Tatbestandsmerkmal der „Grundrechtsverletzung" wird nicht nur eine Zugangsanforderung für diesen besonderen Rechtsbehelf bezeichnet, sondern ist gleichzeitig auch auf Maßstab und Grenze der verfassungsgerichtlichen Beurteilung hingewiesen.9 Vergegenwärtigt man sich zudem, daß § 95 Abs. 1 S. 1 BVerfGG für stattgebende Entscheidungen die Feststellung der durch die beanstandete Maßnahme verletzten Vorschrift des Grundgesetzes vorsieht, wird deutlich, daß dem Bundesverfassungsgericht nicht die Aufgabe letztinstanzlicher, auch nichtverfassungsrechtliche Fragen einschließender Kontrolle der Fachgerichtsbarkeit übertragen sein kann, bei der es deren Subsumtion und Verfahrenshandlungen umfassend nachzuvollziehen und ggf. zu korrigieren hätte. §§90 ff. BVerfGG, Art. 93 Abs. 1 Nr. 4 a GG deuten vielmehr auf die Notwendigkeit einer Unterscheidung von verfassungsrechtlicher und einfachrechtlicher Komponente der fachgerichtlichen Rechtsfindung. Nur auf letztere erstreckt sich der Rechtsschutzauftrag des Bundesverfassungsgerichts. Diesem obliegt deshalb nicht die Korrektur eines jeden, dem Fachgericht unterlaufenden „error in procedendo" oder „in iudicando". 10 Die verfassungsgerichtliche Kontrolle ist vielmehr auf die Wahrung der dem Beschwerdeführer 7
S. dazu etwa BVerfGE 42, 243, 248 f.; 47, 182, 191; 49, 252, 258; 63, 77, 79; 73, 322, 327 f.; Bryde, Verfassungsentwicklung S. 316ff. 8 Angesichts der ständigen Wortwahl des Bundesverfassungsgerichts — vgl. etwa BVerfGE 18, 85, 92; 30, 173, 187f.; 42, 143 (LS); 67, 213, 223 — sollen die Begriffe der Eingriffs- und Nachprüfungsbefugnis im folgenden Text synonym verwandt werden; dabei wird nicht verkannt, daß erst die Nachvollziehung der fachgerichtlichen Subsumtionsvorgänge einen der Korrektur bedürftigen Fehler erkennbar werden läßt, dem Bundesverfassungsgericht also die Befugnis zur „Nachprüfung" in diesem Sinne unbegrenzt zustehen muß; vgl. auch Lincke, EuGRZ 1986, 60, 63 f., 73. 9 So auch Schumann, Verfassungsbeschwerde S. 39. 10 BVerfGE 5, 9, 12; 7, 327, 329; Schumann, Verfassungsbeschwerde S. 195
Β. Die Grundlagen der Rechtsprechung
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zustehenden Grundrechte und daran anknüpfend auf die Auslegung und Fortbildung der einschlägigen Maßstäbe des objektiven Verfassungsrechts beschränkt. 11 Kommt dem Bundesverfassungsgericht damit nicht die Stellung einer „Superberufungs- oder -revisionsinstanz" zu, hat es im Rahmen der Urteilsverfassungsbeschwerde die Richtigkeit der Auslegung und Anwendung des einfachen Rechts und der Feststellung und Würdigung des Tatbestandes grundsätzlich nicht zu prüfen. 12 2. Grundrechtsverstoß
und Gesetzesverstoß
Grundrechte werden indes in aller Regel bei der Anwendung oder Anwendungskontrolle einfachen Rechts verletzt. 13 Sie garantieren nach heute ganz überwiegender Auffassung auch die Gesetzmäßigkeit der in den grundrechtlichen Schutzbereich eingreifenden exekutiven und judikativen Rechtsanwendung. 14 Das Gebot richtiger Rechtsanwendung durch Verwaltung und Rechtsprechung ist danach nicht nur ein in Art. 20 Abs. 3 GG verankerter objektivrechtlicher Verfassungsgrundsatz. Gesetzmäßigkeit wird auch zu einer Bedingung für die Verfassungsmäßigkeit eines Grundrechtseingriffs. 15 Folgt man dieser Annahme jedenfalls im Grundsatz 16 , stellt sich jedes insoweit rechtswidrige Fachurteil auch als grundrechtswidriges Urteil dar und begründet eine Grundrechtsverletzung im Einzelfall. 17 11
BVerfGE 7,198,207; 33,247,258 f.; 40,88,94; 42,143,148; 50,166,174; 75,201,221; 75, 302, 313 f.; zum Verhältnis von „subjektiver" und „objektiver" Rechtsschutzfunktion der Verfassungsbeschwerde BVerfGE 51,130,139 und ausführlich unten 4. Kapitel Β II 1 d aa. 12 BVerfGE 3, 213, 219f.; 11, 343, 349; 19, 303, 310; 18, 85, 92; 21, 209, 216; 28, 151, 160ff.; 34,269,279f.; 34,369, 379; 34, 384, 397; 36,264,271; 49,168,185; 49,304,314; 65, 297, 303; 75, 302, 313; dazu Schumann, Verfassungsbeschwerde S. 197ff.; Schiaich, Bundesverfassungsgericht S. 134ff.; Papier, in: Bundesverfassungsgericht und Grundgesetz I S. 432f.; Schenke, Verfassungsgerichtsbarkeit S. 27f. 13 Zacher, in: Bundesverfassungsgericht und Grundgesetz I S. 396, 399 f. 14 BVerfGE 9, 83, 88; 56,249,262f.; Rupp-v. Brünneck, diss, op., in: BVerfGE 30,173, 219; Schumann, Verfassungsbeschwerde S. 196 f.; Papier, in: Bundesverfassungsgericht und Grundgesetz I S. 432, 434; Erichsen, Staatsrecht I S. 20; Grimm, NVwZ 1985, 865, 868 f.; Roellecke, in: Handbuch des Staatsrechts II, § 54 Rdn. 25. 15 Dies gilt für die speziellen Freiheitsrechte ebenso wie für Art. 2 Abs. 1 GG, ist also entgegen gelegentlich vertretener Auffassung nicht durch die im Anschluß an das ElfesUrteil des Bundesverfassungsgerichts — BVerfGE 6, 32, 36 ff. — herrschende, weite Auslegung von Tatbestand und Schranken des Art. 2 Abs. 1 GG bedingt; vgl. Bryde, Verfassungsentwicklung S. 314f.; Schwabe, DÖV1973,623,626; anders aber etwa Krauß, Prüfung S. 29 ff.; Schiaich, Bundesverfassungsgericht S. 134. 16 An dieser Stelle soll offen bleiben, ob schlechthin jeder Gesetzesverstoß zur Begründung einer Grundrechtsverletzung geeignet sein kann oder diese nicht darüber hinaus — wie jüngst mehrfach gefordert — einen Rechtswidrigkeitszusammenhang zwischen einfachgesetzlichem Rechtsverstoß und der Beeinträchtigung der grundrechtlich geschützten Freiheit voraussetzt, vgl. dazu Krebs, in: FS für Menger S. 191, 203 ff.; Erichsen, in: Handbuch des Staatsrechts VI, § 152 Rdn. 18 sowie unten 3. Kapitel A12 b aa (2).
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1. Kap.: Eingriffsintensität in Rechtsprechung und Literatur
Kann sich ein Grundrechtsverstoß deshalb bereits aus der Fehlerhaftigkeit der Anwendung einfachen Rechts ergeben, erweist sich die der ausdrücklichen grundgesetzlichen Aufgabenzuordnung zugrundeliegende Unterscheidung von einfachrechtlichen und verfassungsrechtlichen Entscheidungsvorgaben unter einem ersten wichtigen Gesichtspunkt als unzureichend. Wäre dem Bundesverfassungsgericht die umfassende Kompetenz zur Korrektur von Grundrechtsverletzungen zugewiesen, müßte dies — die Einbeziehung der Gesetzmäßigkeit des Eingriffs in die grundrechtliche Gewährleistung unterstellt — zu einer unbeschränkten Nachprüfung fachgerichtlicher Entscheidungen führen. Das materielle Recht bietet „keinen sicheren Halt" vor der Übernahme der Aufgaben einer Superrevisionsinstanz durch das Bundesverfassungsgericht. 18 Die dem Grundgesetz prima facie zu entnehmende Kompetenzordnung bedarf deshalb weiterer Ergänzung. Einen ersten Versuch der Präzisierung des ihm durch Art. 93 Abs. 1 Nr. 4 a GG, §§ 90 ff. BVerfGG erteilten Rechtsschutzauftrags unternahm das Bundesverfassungsgericht mit der Beschränkung seiner Kontrolle auf die Verletzung „spezifischen Verfassungsrechts". II. „Spezifisches Verfassungsrecht" als Maßstab der verfassungsgerichtlichen Kontrolle Aus der Erkenntnis, daß die Verfassungsbeschwerde „dem Staatsbürger als besonderes Rechtsschutzmittel zur prozessualen Durchsetzung der Grundrechte oder der diesen gleichgestellten Rechte gewährt" ist 1 9 , folgerte das Bundesverfassungsgericht zunächst, es habe „eine rechtskräftige Entscheidung nicht allgemein, sondern nur daraufhin zu prüfen, ob der Beschwerdeführer durch das Urteil unmittelbar in seinen verfassungsmäßigen Grundrechten verletzt worden ist". 2 0 Dieser Abgrenzungsversuch wurde bald präzisiert. In seiner Entscheidung zum Ahndungsgesetz21 meinte das Gericht, die einschlägigen Grundrechte aus Art. 2 Abs. 2 und 104 Abs. 1 GG seien von vornherein durch die auf einem Gesetz beruhende, in gesetzmäßigem Verfahren ergehende richterliche Entscheidung begrenzt. „Die Gestaltung des Verfahrens, die Feststellung und Würdigung des Tatbestandes, die Auslegung der Gesetze und ihre Anwendung auf den einzelnen Fall" seien daher der Nachprüfung des Bundesverfassungsgerichts entzogen, es sei denn, daß „spezifisches Verfassungsrecht" verletzt sei. 17
Vgl. Ossenbühl, in: FS für H. P. Ipsen S. 129,137 f.; Bryde, Verfassungsentwicklung S. 314; Schiaich, Bundesverfassungsgericht S. 134; a. A. Seuffert, NJW 1969,1369,1371; Steinwedel, Spezifisches Verfassungsrecht S. 58ff., 61. 18 Ossenbühl, in: FS für H. P. Ipsen S. 129, 137. 19 BVerfGE 1, 4, 5. 20 BVerfGE 1, 7, 8. 21 BVerfGE 1, 418, 420.
Β. Die Grundlagen der Rechtsprechung
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Auch wenn ihre Verknüpfung mit einem derartigen Rechtsanwendungsvorbehalt heute kaum noch auf Zustimmung stoßen dürfte 22 , liegt die damit entwickelte Formel vom „spezifischen Verfassungsrecht" in der Sache bis heute der verfassungsgerichtlichen Kontrolle der Fachgerichtsbarkeit zugrunde 23 und wird in Entscheidungen des Zweiten Senats noch bis in die jüngste Zeit auch ausdrücklich verwandt. 24 Sie zielt nicht nur auf eine Unterscheidung von Verfassungsrecht und einfachem Gesetzesrecht. 25 Als solche wäre die Verwendung des Begriffs „spezifisch" in der Tat mißglückt. 26 Das Bundesverfassungsgericht hat den Sinn der Formel bei späterer Gelegenheit vielmehr wie folgt präzisiert: „Spezifisches Verfassungsrecht ist... nicht schon dann verletzt, wenn eine Entscheidung, am einfachen Recht gemessen, objektiv fehlerhaft ist; der Fehler muß gerade in der Nichtbeachtung von Grundrechten liegen." 27 Eine unbeschränkte rechtliche Nachprüfung solle nicht deshalb in Anspruch genommen werden, weil „eine unrichtige Entscheidung möglicherweise Grundrechte des unterlegenen Teils berührt." 28 Nicht jedes an unterverfassungsrechtlichen Normen gemessen rechtswidrige Urteil soll demnach eine rügbare Grundrechtsverletzung enthalten. Ausgenommen sind Fälle unrichtiger Auslegung und Anwendung des einfachen Rechts. M i t der Formel vom „spezifischen Verfassungsrecht" klammert das Bundesverfassungsgericht also Verstöße gegen den in Art. 20 Abs. 3 GG normierten Grundsatz vom Vorrang des Gesetzes — sowie den durch die falsche Rechtsanwendung je nach Betrachtungsweise gleichfalls verletzten Gleichheitssatz29 — aus seiner Kontrolltätigkeit aus. 30 Es beschränkt seine Kontrolle auf „spezifische Verletzungen von Verfassungsrecht" 31, d. h. auf Auslegungsfehler, die ihren 22
Vgl. etwa Henke, DÖV 1984, 1, 9. Vgl. etwa BVerfGE 2,336, 339 („typisches Verfassungsrecht"); 12,1, 5; 15,245,247; 17,302,305; 18,85,92; 21,209,216; 25,230,233; 28,151,160; 34,384,397; 50,256,264; 50, 287, 289; 52, 42, 54; 52, 131, 157; 53, 207, 211; 57, 250, 272; 60, 175, 214; 65, 196, 211; ausführliche Nachweise bei Steinwedel, Spezifisches Verfassungsrecht S. 33 ff.; Ossenbühl, in: FS für H. P. Ipsen S. 129, 132. 24 Vgl. BVerfGE 72, 105, 117; 76, 143, 161; 77, 1, 59; BVerfG DVB1. 1988, 782, 783 (Kammer); BVerfG NJW 1988, 2945 (Kammer). 25 So aber wohl Stern, in: BK, Art. 93 Rdn. 686; Schiaich, JuS 1982, 278. 26 So Schiaich, JuS 1982, 278; krit. auch etwa Zuck, DVB1. 1979, 383, 387f. 27 BVerfGE 18, 85, 92f.; vgl. auch BVerfGE 4, 52, 58; 20, 323, 330f. 28 BVerfGE 18, 85, 92. 29 Dazu einerseits BVerfGE 19,38,47; 69,248,254; 70,93,97; 74,102,127; andererseits etwa Bryde, Verfassungsentwicklung S. 314. 30 Ausdrücklich etwa BVerfGE 73, 261, 269: „Eine Prüfung unmittelbar am Maßstab des Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 20 Abs. 3 GG hat das Bundesverfassungsgericht lediglich in Fällen richterlicher Rechtsfortbildung vorgenommen." Der Übergang zur Verkennung des Vorbehalts des Gesetzes ist allerdings fließend, vgl. etwa BVerfGE 19, 166, 176; 22, 114, 122; 41, 231, 242. Zur Kontrolle richterlicher Rechtsfortbildung s. unten Fn. 41. 23
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1. Kap.: Eingriffsintensität in Rechtsprechung und Literatur
Grund gerade in einem falschen Verständnis grundgesetzlicher Vorgaben finden. 32 Eine verfassungsrechtsdogmatisch eindeutige Begründung für diese Eingrenzung seines Kontrollmaßstabs hat das Bundesverfassungsgericht nicht gegeben. Während es teilweise davon ausging, daß „Verfassungsrecht... nicht schon dann verletzt [sei], wenn eine Entscheidung, am einfachen Recht gemessen, objektiv unrichtig sein mag" 3 3 , Verstöße gegen einfaches Recht also abweichend von dem heute herrschenden Verfassungsverständnis 34 als nicht grundrechtswidrig ansah und damit eine materiellrechtliche Kontrollgrenze behauptete, stützte es sich überwiegend auf eine an seiner Aufgabenstellung orientierte Betrachtung und ging damit von einer kompetenziellen Begrenzung seiner Kognition 3 5 aus. 36 So wies das Gericht im Patent-Beschluß ausdrücklich darauf hin, daß die unbegrenzte Nachprüfung auch der Gesetzmäßigkeit einer gerichtlichen Entscheidung „dem Sinn der Verfassungsbeschwerde und der besonderen Aufgabe des Bundesverfassungsgerichts nicht gerecht" würde 37 , und bekräftigte später im Ostland-Beschluß, daß eine Einbeziehung von Verstößen gegen formell- und materiellrechtliche Bestimmungen des einfachen Rechts in die verfassungsgerichtliche Kontrolle „den besonderen Funktionen des Bundesverfassungsgerichts und seiner Stellung innerhalb der rechtsprechenden Gewalt" widerspräche. 38 I I I . Die Unzulänglichkeit der Formel vom „spezifischen Verfassungsrecht" Die Eingrenzung des Kontrollmaßstabs auf „spezifisches Verfassungsrecht" könnte zu einer befriedigenden Abgrenzung der Entscheidungsbefugnis des 31
Schumann, Verfassungsbeschwerde S. 195; Steinwedel, Spezifisches Verfassungsrecht S. 58; Bryde, Verfassungsentwicklung S. 318. 32 Etwa BVerfGE 3, 213, 219f.; 7,198, 207; 12, 113,124; 17, 337, 346; 28, 151, 162ff.; jüngst BVerfGE 75, 302, 313 f.; weitergehend BVerfGE 9, 89, 104f. Ein gewisses Mindestmaß an Kontrolle der Wahrung der Gesetzmäßigkeit der Entscheidung übt das Bundesverfassungsgericht darüber hinaus bei der Überprüfung der Einhaltung des Willkürverbots aus, vgl. etwa BVerfGE 11,343,348 ff.; 23,85,92 ff.; 42,64,72ff.; 52,131, 157f.; 54,117,125; 58,163,167; 62,189,191 ff.; 64, 389,394; 66,199,206; 66,324, 330; 70, 93, 97ff.; BVerfG NJW 1989, 1917f. 33 BVerfGE 19,290,303; 30,173,197; s. auch BVerfGE 35,311,316: „ Rechtswidrigkeit und Verfassungswidrigkeit einer Maßnahme fallen nicht notwendig zusammen." 34 Dazu soeben I 2. 35 Hier verstanden als Überprüfungsbefugnis und -pflicht; ebenso Steinwedel, Spezifisches Verfassungsrecht S. 33. 36 Ausdrücklich im Sinne einer Kompetenzgrenze etwa BVerfGE 11, 343, 349; 18, 85, 92; 21,209, 216; 22,93,97f.; 28,151,160; 52,131,157; vgl. auch Rupp-v. Brünneck, diss, op., in: BVerfGE 30, 173, 219; Papier, in: Bundesverfassungsgericht und Grundgesetz I S. 432, 451 f. 37 BVerfGE 18, 85, 92; s. auch BVerfGE 52, 131, 157. 38 BVerfGE 28, 151, 160.
Β. Die Grundlagen der Rechtsprechung
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Bundesverfassungsgerichts führen, wenn die fachgerichtliche Rechtsfindung regelmäßig auf der Ebene des einfachen Rechts verbliebe und sich — abgesehen vom verfassungsrechtlichen Gesetzmäßigkeitsgebot — verfassungsrechtliche und einfachrechtliche Erwägungen nur ausnahmsweise berührten. Nur wenige die individuelle Rechtssphäre betreffende Bestimmungen des Grundgesetzes enthalten indes eine die staatliche Tätigkeit unmittelbar und abschließend determinierende Regelung. 39 Die verfassungsrechtlichen Gewährleistungen sind regelmäßig einfachrechtlicher Ausgestaltung und Beschränkung zugänglich und bedürftig. Im Hinblick auf deren Ausführung garantieren die Grundrechte nicht nur die Gesetzmäßigkeit der den grundrechtlichen Schutzbereich berührenden exekutiven und judikativen Rechtsanwendung. Sie wirken nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts und der ihm folgenden Lehre vielmehr auch auf den Inhalt des entscheidungsnäheren, nachrangigen Rechts ein und erhalten so eine dessen Auslegung und Anwendung mitgestaltende Funktion. Diese weitere grundlegende Verknüpfung verfassungsrechtlicher und einfachrechtlicher Rechtsgehalte führt auf der Grundlage der Formel vom „spezifischen Verfassungsrecht" zu einer erheblichen Erweiterung der verfassungsgerichtlichen Einwirkungsmöglichkeiten auf die fachgerichtliche Rechtsfindung. 40 Dies betrifft sowohl den Bereich der Auslegung und Anwendung unterverfassungsrechtlicher Rechtssätze als auch mittelbar die fachrichterliche Tatsachenfestellung und -Würdigung.41 i. Die Auslegung und Anwendung unterverfassungsrechtlicher
Rechtssätze
Die Einwirkung des Verfassungsrechts auf die unterverfassungsrechtliche Normfindung und -anwendung läßt sich in verschiedener Weise systematisieren. 42 Einigkeit dürfte im Grundsatz jedoch darüber herzustellen sein, daß der Verfassung für die Auslegung und Anwendung einfachen Rechts eine 39
So vor allem die Verfahrensgarantien der Art. 19 Abs. 4,101 Abs. 1 S. 2,103 Abs. 1, 103 Abs. 3 GG, denen das Bundesverfassungsgericht detaillierte, die Auslegung und Anwendung des Verfahrensrechts weitgehend determinierende Grundsätze und damit verfassungsunmittelbare Maßstäbe auch für die Überprüfung des gerichtlichen Verfahrens im Einzelfall entnimmt; dazu Stern, in: BK, Art. 93 Rdn. 688; zur Rechtsprechung vgl. die Nachweise oben Fn. 4. 40 Vgl. nur Papier, in: Bundesverfassungsgericht und Grundgesetz I S. 432, 442 ff. 41 Im Rahmen der Kontrolle der fachrichterlichen Rechtsfortbildung nimmt das Bundesverfassungsgericht hingegen keine Prüfungsbeschränkung auf die Beachtung spezifischen Verfassungsrechts vor und erstreckt seine Kontrolle auch auf die durch das Gesetzmäßigkeitsprinzip gezogenen Grenzen, vgl. BVerfGE 18, 224, 236; 22, 114,119ff.; 65, 182, 190ff.; 73, 261, 269; 74, 129, 152ff.; der Bereich richterlicher Rechtsfortbildung kann daher im folgenden außer Betracht bleiben. 42 Vgl. einerseits Burmeister, Verfassungsorientierung S. 27: einheitliches Prinzip vertikaler Normendurchdringung; andererseits F. Müller, Methodik S. 88f.: Unterscheidung von Kontroll- und Sachnorm.
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1. Kap.: Eingriffsintensität in Rechtsprechung und Literatur
Doppelfunktion zukommt 4 3 : als „Maßstabs"- oder „Prüfungsnorm" entscheidet sie über die Gültigkeit des fraglichen Rechtssatzes, als „Erkenntnisoder „Erschließungsnorm" nimmt sie Einfluß auf dessen Auslegung und Anwendung im Einzelfall. 44 a) Bereits als Maßstab für die Gültigkeit eines unterverfassungsrechtlichen Rechtssatzes hat das Grundgesetz inhaltsbestimmende Funktion für die fachgerichtliche Rechtsfindung. Der gem. Art. 20 Abs. 3,97 Abs. 1 GG unmittelbar an die Verfassung gebundene Richter hat die Übereinstimmung der einschlägigen einfachrechtlichen Bestimmungen mit dem Grundgesetz selbst zu überprüfen. Zur Nichtanwendung oder Vorlage des betreffenden Rechtssatzes ist er dabei nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts nur befugt, wenn zuvor der Versuch der Aufrechterhaltung der Norm im Wege der verfassungskonformen Auslegung unternommen und fehlgeschlagen ist. 45 Läßt eine Norm nach den üblichen Interpretationsregeln mehrere Auslegungsmöglichkeiten zu, sind nach dem Gebot der verfassungskonformen Auslegung diejenigen auszuscheiden, die der Verfassung widersprechen. 46 Das Grundgesetz nimmt so bereits als „Prüfungsnorm" unmittelbaren Einfluß auf das Verständnis des einfachrechtlichen Normgehalts und verbietet eine Gesetzesinterpretation, die dem Rechtssatz einen „verfassungswidrigen Sinn" unterstellt. 47 Inhaltsbestimmende Funktion kann der Verfassung allerdings nur im Rahmen der Gesetzmäßigkeit des gewählten Normverständnisses zukommen. Das einfache Recht bildet demgemäß, bestimmt durch Wortsinn und Gesetzeszweck, Grundlage und Grenze der verfassungskonformen Auslegung. 48 Die Beachtung der Maßstabsfunktion der Verfassung kann deshalb ihrerseits eine umfangreiche Analyse des fraglichen unterverfassungsrechtlichen Rechtssatzes bedingen 49 , bei der sich das Bundesverfassungsgericht im Rahmen der Urteilsver43 Vgl. BVerfGE 75, 201, 218; Mertens, JuS 1962, 261, 263; Steinberger, diss, op., in: BVerfGE 70,35,63; K. Hesse, Grundzüge Rdn. 80; Wank, Rechtsfortbildung S. 97,104f.; Simon, EuGRZ 1974,85,86; Seetzen, NJW 1976,1997,1999; Schmidt-Salzer, DÖV 1969, 97, 99; Burmeister, Verfassungsorientierung S. 27 Fn. 95. 44 Zur Abgrenzung beider Funktionen im einzelnen s. unten 4. Kapitel Β III 2. 45 S. etwa BVerfGE 22,373,377; 48,40,45 f.; 66,313,319; 68,337,344; 70,134,137; 78, 20, 24; s. dazu auch Simon, EuGRZ 1974, 85, 88. 46 Vgl. etwa BVerfGE 19,1,5; 30,129,148; 32,373,383; 46,166,184; 48,40,45; 66,313, 319; 69,1, 55; 74,297, 346, 355; Bettermann, Verfassungskonforme Auslegung S. 19; krit. etwa Burmeister, Verfassungsorientierung S. 62ff., l l l f . 47 Vgl. etwa BVerfGE 3, 213, 219f.; 17, 337, 346; 21, 73, 86f.; 51, 304, 323. 48 BVerfGE 18, 97,111; 47, 46, 82; 55,134,143; 64,180,187; 71, 81,105; 72, 278, 295; Simon, EuGRZ 1974, 85,90; Zippelius, in: Bundesverfassungsgericht und Grundgesetz II S. 108, 115 f.; dazu auch Koch/ Rüßmann, Begründungslehre S. 268 f.; krit. zur Rechtsprechungspraxis Bettermann, Verfassungskonforme Auslegung S. 22f. 49 Vgl. etwa Burmeister, DVB1. 1969, 605, 608; dies gilt für Fälle der Urteilsverfassungsbeschwerde — dazu BVerfGE 9,123,126ff.; 21, 271,280ff.; 26,215, 221 ff.; 59, 336,
Β. Die Grundlagen der Rechtsprechung
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fassungsbeschwerde — ebenso wie bei der Normenkontrolle — ungeachtet der Formel vom „spezifischen Verfassungsrecht" die Letztentscheidungsbefugnis vorbehält. 50 b) Während das Grundgesetz als Prüfungsmaßstab für die Gültigkeit unterverfassungsrechtlicher Rechtssätze an deren generell-abstrakten Regelungsgehalt anknüpft und die Pflicht zur Beachtung der grundgesetzlichen Maßstabsfunktion damit bei Norminterpretation wie bei Normsetzung in gleicher Weise zu beachten ist, hat die Erschließungsfunktion des Grundgesetzes die Einwirkung der Verfassung auf die fallorientierte Konkretisierung und Anwendung des einfachen Rechts zum Gegenstand und richtet sich demgemäß ausschließlich an den Rechtsanwender. Diesem ist — wie in Abgrenzung zur verfassungskonformen Auslegung häufig definiert wird — die Pflicht zur verfassungsorientierten Auslegung und Anwendung unterverfassungsrechtlicher Rechtssätze auferlegt. 51 Die Pflicht zur Verfassungsorientierung der Rechtsanwendung setzt die Verfassungsmäßigkeit der anzuwendenden Norm voraus. 52 Bleibt die richterliche Gesetzesbindung mangels Verfassungsverstoßes bestehen, bildet auch hier das einfache Recht Grundlage und Grenze der verfassungsrechtlichen Einwirkung. Eine verfassungsorientierte Auslegung kommt deshalb nur im Rahmen der Offenheit des einfachen Rechts für die Aufnahme verfassungsrechtlicher Steuerungsimpulse in Betracht und ist damit vornehmlich abhängig vom Ausmaß der Unbestimmtheit der entscheidungserheblichen Rechtsnorm. Besondere Bedeutung kommt ihr deshalb für Regelungen zu, die in Tatbestand oder Rechtsfolge der Ausfüllung im Wege einer Güter- oder Interessenabwägung bedürfen. 53 Das Gebot zur Verfassungsorientierung der Rechtsanwendung setzt die Möglichkeit eines „Hineinwirkens" verfassungsrechtlicher Rechtsgehalte in die 3 50 ff. — in gleicher Weise wie für Fälle der konkreten Normenkontrolle nach Art. 100 Abs. 1 GG — dazu BVerfGE 7, 45, 50; 8, 210, 217; 18, 70, 80; 25, 371, 390; 51, 304, 313; Berkemann, AöR 99 (1974), 54, 60 ff. 50 Vgl. aus neuerer Zeit BVerfGE 73, 206, 242; 75, 183, 191 ff.; 75, 201, 221 ff.; einschränkend aber BVerfGE 78, 58, 75 f. 51 Vgl. etwa Schiaich, Bundesverfassungsgericht S. 187 f.; Simon, EuGRZ 1974,85, 86; Wank, JuS 1980, 545, 547f.; Seetzen, NJW 1976,1997,1999; Stern, Staatsrecht I, § 4 III 8 (S. 136); Krauß, Prüfung S. 183,188,191 f.; der Sache nach auch Skouris, Teilnichtigkeit S. 117 f.; die Terminologie ist allerdings uneinheitlich, vgl. etwa Burmeister, Verfassungsorientierung S. 37 f., 49 und Ramsauer, AöR 111 (1986), 501,529 ff., die auch insoweit von verfassungskonformer Interpretation sprechen. Gegen eine Unterscheidung von verfassungskonformer und verfassungsorientierter Auslegung ferner Göldner, Verfassungsprinzip S. 43 ff. 52 Vgl. etwa BVerfGE 28, 191, 201; 42, 133, 140, 141 f. 53 Vgl. etwa BVerfGE 21, 306, 308 f. zu § 9 Abs. 1 Nr. 1 GrdstVG; BVerfGE 35, 202, 224f. zu § 23 KUG; BVerfGE 36,264, 271 ff. zu § 121 Abs. 1 StPO; BVerfGE 42,133,141 zu § 23 Abs. 1 BetrVG 72.
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1. Kap.: Eingriffsintensität in Rechtsprechung und Literatur
Regelungsanordung des einfachen Rechts voraus. Hierfür haben Rechtsprechung und Literatur vor allem zwei Instrumentarien entwickelt. aa) Nach der in der Sache bis auf das Lüth-Urteil 5 4 zurückführbaren, heute ganz herrschenden Auffassung können sich Eingriffe in den grundrechtlichen Schutzbereich im Einzelfall als verfassungswidrig darstellen, obwohl eine den grundrechtlichen Maßstäben entsprechende normative Grundlage an sich vorliegt. 55 Das ist der Fall, wenn es aufgrund der Umstände des Einzelfalls an der Höherwertigkeit der mit der Maßnahme verfolgten Schutzzwecke fehlt. 56 Grundrechtseingriffe stehen damit unter dem verfassungsrechtlichen Vorbehalt einer auf den Einzelfall bezogenen, konkreten Abwägung der sich gegenüberstehenden Güter. Eine auf der Ebene der Rechtsanwendung vorzunehmende Güterabwägung sieht das Bundesverfassungsgericht nicht nur im Rahmen der für Art. 5 Abs. 2 GG postulierten sog. Wechselwirkung zwischen Verfassung und einfachem Recht 57 als verfassungsrechtlich geboten an. Vielmehr ist jedes freiheitsbeschränkende Gesetz im Hinblick auf die grundlegende Bedeutung des betreffenden Grundrechts auszulegen und anzuwenden58 und steht die Rechtsfindung damit grundsätzlich — das Gericht unterscheidet insoweit in der Sache nicht 5 9 — unter dem Vorbehalt einer am Übermaßverbot orientierten Auslegung. 60 Dem Übermaßverbot kommt Erschließungsfunktion nicht nur bei der Bildung normkonkretisierender Obersätze 61, sondern auch für die Subsumtion des jeweiligen Sachverhalts 62 und die Bestimmung der Rechtsfolgen im Einzelfall zu. 6 3 Steht die Bedeutung des mit der Maßnahme verfolgten Allgemeininteresses außer Verhältnis zu der Beeinträchtigung, die die 54
BVerfGE 7, 198, 208 ff.; die Grundsätze wurden bald auch auf das Staat-BürgerVerhältnis übertragen, vgl. BVerfGE 16, 194, 201 f. und 17, 108, 117. 55 Vgl. etwa BVerfGE 16, 194, 202; 17, 108, 117; 27, 88, 102; 67, 157, 172 f.; 71, 162, 181 ff. 56 Vgl. etwa BVerfGE 15, 288, 294f.; 17,108,117ff.; 20,162, 186f.; 35, 382, 400f.; 67, 157, 172f.; 71, 162, 181; 77, 346, 359. 57 Dazu BVerfGE 7,198,208 ff.; 20,162,176f.; 25,44,55; 28,191,201 f.; 44,197,202f.; 50, 234, 241; 59, 231, 265; 71, 206, 214; 74, 297, 337. 58 Vgl. etwa BVerfGE 17,108,117 zu Art. 2 Abs. 2 S. 1,3 GG; BVerfGE 27,88,102; 67, 157, 172 f. zu Art. 10 Abs. 2 S. 1 GG; BVerfGE 69, 315, 349 zu Art. 8 Abs. 1, 2 GG. 59 Vgl. BVerfGE 17,108,117; 59,231,270f.; 67,157,172f.; 69,315,349; 71,162,180f.; 77, 65, 75; s. auch Erichsen, Staatsrecht I S. 29 f. 60 Die Terminologie des Bundesverfassungsgerichts ist allerdings uneinheitlich; es spricht häufig vom Grundsatz der Verhältnismäßigkeit — vgl. BVerfGE 27,211, 219; 69, 315, 349; 76, 363, 389 — oder stellt Übermaßverbot und Verhältnismäßigkeitsprinzip nebeneinander, s. etwa BVerfGE 22, 114, 123; 76, 1, 50. 61 Vgl. etwa BVerfGE 21, 306, 308ff.; 28, 215, 222ff.; 36, 264, 271 ff.; 69, 315, 354ff. 62 Vgl. etwa BVerfGE 42, 133, 142; 60, 79, 93 ff.; 71, 162, 181; 77, 346, 359. 63 Vgl. etwa BVerfGE 16,194,202f.; 26,215,228; 27, 344, 352ff.; 34,238,250; 64,261, 280ff.; 66, 337, 366ff.; 72, 26, 33 ff.
Β. Die Grundlagen der Rechtsprechung
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Individualrechtssphäre durch den Eingriff erleidet, überschreitet der Rechtsanwender nicht nur die Grenzen der gesetzlichen Ermessensnorm, sondern verstößt auch gegen ein Verfassungsgebot. 64 Das Übermaßverbot zwingt so zur verfassungsorientierten Bewertung der Angemessenheit von Zwecken und Mitteln und fordert eine am verfassungsrechtlichen Gewicht der beteiligten Interessen orientierte, erschöpfende Abwägung. 65 Die Anwendung unterverfassungsrechtlicher Rechtssätze ist im Geltungsbereich des Übermaßverbots umfassend verfassungsrechtlich determiniert. bb) Auch außerhalb des durch staatliche Zwangsausübung gekennzeichneten Eingriffsbereichs hat sich die Rechtsanwendung an den Grundrechten zu orientieren. Nach einer vom Bundesverfassungsgericht vertretenen und in der Literatur weithin geteilten Auffassung enthalten die Grundrechte auch „objektivrechtliche' Wert- und Steuerungsvorgaben. 66 Ungeachtet erheblicher Unterschiede in der dogmatischen Herleitung und terminologischen Behandlung dieses Phänomens67 besteht doch weitgehende Einigkeit darüber, daß die Grundrechte nicht nur als Schranken gegenüber staatlichem Eingriff, sondern auch als Leitprinzipien für Normgebung und Rechtsanwendung im übrigen wirken und dem Staat insoweit ihre fortlaufende Verwirklichung auferlegen. 68 (1) Eine die unterverfassungsrechtliche Rechtsanwendung steuernde Funktion kommt den Grundrechten danach vor allem im Rahmen der Entscheidung privatrechtlicher Streitigkeiten zu. Das Bundesverfassungsgericht geht — mittlerweile auch explizit 69 — davon aus, daß die Grundrechte zwischen den Bürgern nicht als Abwehrrechte Geltung beanspruchen. 70 Privatrechtliche Rechtsbeziehungen sollen jedoch der Ausstrahlungswirkung der Grundrechte als „Elemente objektiver Wertordnung" 64 Vgl. etwa BVerfGE 35, 382, 400 f.; 49, 220, 226; 64, 261, 280 f.; Verfassungsrang erhält das Übermaßverbot nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts aus den Grundrechten — BVerfGE 19,342,348 f.; 65,1,44; 76,1,50 f. — und dem Rechtsstaatsprinzip — BVerfGE 17, 306, 313f.; 23, 127, 133; 35, 382, 400f.; 38, 348, 368; 61, 126, 134. 65 S. beispielsweise BVerfGE 23, 127, 133f.; 27, 344, 352f.; 77, 65, 75f.; dazu auch Erichsen, Staatsrecht I S. 14. 66 Ständige Rspr., vgl. etwa BVerfGE 6, 55, 71; 7,198, 205; 21, 362, 371 f.; 35, 79,114; 39,1,41 f.; 49,89,141 ; 73,261,269; 76,1,49; aus der Literatur vgl. Scheuner, VVDStRL 22 (1965), 1, 33ff, 58f.; Häberle, Wesensgehaltgarantie S. 70ff, 96ff.; Grabitz, Freiheit S. 235 ff., 252f.; Rupp, AöR 101 (1976), 161,165 ff.; Ossenbühl, NJW 1976, 2100, 2101 f.; K. Hesse, Grundzüge Rdn. 290ff.; ders., EuGRZ 1978, 427, 431 ff.; Jarass, AöR 110 (1985), 363ff.; Friesenhahn, in: Verhandlungen des 50. DJT, II G1, 5f.; Stern, Staatsrecht III/1, § 69 I, II 2 (S. 890ff.); Erichsen, Staatsrecht I S. 76f.; Alexy, Theorie S. 71 ff., 133; krit. Schlink, EuGRZ 1984, 457, 463 ff.; Schwabe, Probleme S. 286 ff. 67 Zur „objektivrechtlichen" Regelungskomponente der Grundrechte ausführlich unten 3. Kapitel A I, II. 68 Vgl. etwa Rupp-v. Brünneck, AöR 102 (1977), 1, 13f. 69 Vgl. BVerfGE 73,261,269; für Art. 5 Abs. 1 GG auch bereits BVerfGE 66,116,135. 70 BVerfGE 7,198, 204 ließ dies ausdrücklich offen. Auch späterhin erfolgte zunächst keine ausdrückliche Ablehnung einer „unmittelbaren Drittwirkung". 3 Scherzberg
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1. Kap.: Eingriffsintensität in Rechtsprechung und Literatur
unterworfen sein. 71 Soweit Rechtssätze des Privatrechts als Rechtsgrundlage für richterliche Beschränkungen der grundrechtlich geschützten Freiheitsbereiche in Betracht kommen, ist bei ihrer Auslegung und Anwendung somit der spezifische Wertgehalt der einschlägigen Grundrechte zu beachten. Stehen sich bei privatrechtlichen Streitigkeiten stets beiderseitig grundrechtlich umhegte Interessen gegenüber, bedarf es zur Lösung dieser Spannungslage wiederum einer Güterabwägung. 72 Auch sie umfaßt nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts nicht nur die abstrakte Wertigkeit der sich gegenüberstehenden Rechtsgüter, sondern auch deren konkretes, anhand der Umstände des Einzelfalls zu bestimmendes Gewicht. 73 (2) Die Ausstrahlungswirkung der Grundrechte ist aber nicht nur bei der Entscheidung bürgerlich-rechtlicher Streitigkeiten, sondern auch im Rahmen der zwischen Staat und Bürger bestehenden Rechtsbeziehungen zu beachten. Bei imperativem Handeln kommt ihr vor allem Bedeutung zu, soweit der abwehrrechtlichen Funktion der Grundrechte selbst Maßstäbe für staatliches Verhalten nicht entnommen werden können. Die grundrechtliche Wertordnung ist etwa geeignet, die Gewichtung der bei Anwendung des Übermaßverbots abzuwägenden Güter und Interessen zu bestimmen 74 oder im Rahmen des Gleichheitssatzes die rechtliche Bewertung mehrerer Sachverhalte im Hinblick auf die Zulässigkeit von Differenzierungen zu steuern. 75 Ihre wertsetzende Bedeutung entfalten die Grundrechte aber vor allem außerhalb des auf die Abwehr staatlicher Zwangsausübung zugeschnittenen subjektiven Grundrechtsschutzes. 76 Ihre „Ausstrahlungswirkung" auf die unterverfassungsrechtliche Rechtslage ist nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts etwa bei der Auslegung und Anwendung des grundrechtsrelevanten Organisations- und Verfahrensrechts 77, insbesondere der die grundrechtlichen Schutzpflichten verwirklichenden Rechtssätze78, oder bei der Beurteilung nicht finaler, mittelbarer Grundrechtsbeeinträchtigungen 79 zu berück71 BVerfGE 7,198,205 f.; 25,256,263; 34,269,280; 52,131,165 f.; 60,234,240; 73,261, 268 f.; dazu etwa K. Hesse, Privatrecht S. 23 ff. 72 Vgl. etwa BVerfGE 7, 198, 210f.; 30, 173, 195ff. 73 S. etwa BVerfGE 7, 198, 210f.; 24, 278, 282; dazu auch Faller, in: FS für Löffler S. 43, 48 f. 74 Vgl. etwa BVerfGE 7,377,404f.; 16,214,219; 23,127,134; 36,264,273 f.; 42,95,101; 69,315,349; Jakobs, DVB1.1985,97,98; dens., Verhältnismäßigkeit S. 24f.; Wendt, AöR 104 (1979), 414, 456ff.; im Ansatz auch bereits Lerche, Übermaß S. 224f. 75 BVerfGE 13, 290, 295f.; 17, 210, 217; 18, 257, 269; 36, 321, 330ff.; 49, 280, 283; 65, 104, 113; BVerfG EuGRZ 1988, 427f.; im Ergebnis auch BVerfGE 76, 1, 72f. 76 Ausführlich Jarass, AöR 110 (1985), 363, 365, 376ff. 77 Vgl. etwa BVerfGE 35,348,362; 35,382,406,408; 42,64,76; 46,325,334ff.; 49,220,
226. 78 79
BVerfGE 53, 30, 65 f. S. etwa BVerfGE 19, 394, 396; 51, 386, 396ff.; 76, 1, 49ff.
Β. Die Grundlagen der Rechtsprechung
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sichtigen. Sie wird aber auch bei der Beurteilung anderer staatlicher Maßnahmen mit Grundrechtsbezug herangezogen. 80 (3) Das Ausmaß der durch die wertsetzende Einwirkung der Grundrechte vermittelten Verfassungsbindung ist allerdings bislang noch nicht präzise bestimmt. So hat das Bundesverfassungsgericht zwar einerseits festgestellt, daß „soweit die Einwirkung des Grundrechts auf privatrechtliche Vorschriften in Frage steht,... ihm im Hinblick auf die Eigenart der geregelten Rechtsverhältnisse andere, unter Umständen engere Grenzen gezogen sein [können] als in seiner Bedeutung als Abwehrrecht gegen staatliche Eingriffe." 81 Es hat der grundrechtlichen Wertordnung aber andererseits in einer Reihe von Entscheidungen detaillierte, die einfachrechtliche Rechtsanwendung in umfassendem Maße determinierende Vorgaben entnommen. 82 2. Die Tatsachenfeststellung Die Einwirkung des Verfassungsrechts auf die fachrichterliche Entscheidungsfindung ist nicht auf die Auslegung und Anwendung unterverfassungsrechtlicher Rechtssätze beschränkt. Sie betrifft in zweifacher Hinsicht auch die Ordnungsmäßigkeit der Tatsachenfeststellung und -Würdigung. 83 Das vom Bundesverfassungsgericht aus den Einzelgrundrechten sowie aus Art. 19 Abs. 4 GG entwickelte Prozeßgrundrecht auf ein faires, rechtsstaatliches Verfahren enthält bestimmte Mindestanforderungen an die fachgerichtliche Wahrheitserforschung. 84 Die Tatsachenermittlung muß umfassend sein; sie darf den Vortrag der Parteien nicht außer Betracht lassen85, sich nicht auf die Zugrundelegung der behördlichen Feststellungen beschränken 86 und hat stets alle nach der rechtlichen Bewertung maßgeblichen Umstände des Einzelfalls einzubeziehen.87 Jedenfalls in Fällen erheblicher Grundrechtsbetroffenheit soll sich das Fehlen einer hinreichenden Tatsachenfeststellung nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts auch als Verfassungsverstoß darstellen. 88 Fachge80
Vgl. etwa BVerfGE 17, 99, 108 (Namensänderung). BVerfGE 66, 116, 135; zustimmend Canaris, JuS 1989, 161, 168. 82 Vgl. etwa BVerfGE 7,198, 214ff.; 12,113,124ff.; 43,130,137ff.; 54,129,136ff.; 61, 1, 13; 75, 369, 376 ff. 83 S. etwa Faller, in: FS für Löffler S. 43, 45; Ossenbühl, in: FS für H. P. Ipsen S. 129, 134 f. 84 Vgl. etwa BVerfGE 70, 297, 308; s. auch BVerfGE 8, 81, 84; 17, 224, 227; 57, 250, 274ff.; 58, 208, 220f.; zum Ausmaß der Aufklärungspflichten im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes s. BVerfGE 35, 382, 401 ff.; 67, 43, 61 f.; 69, 315, 363 ff. 85 BVerfGE 22, 267, 274; 52, 131, 156 f. 86 Vgl. etwa BVerfGE 21, 191, 194ff.; 63, 45, 71 f. 87 Vgl. BVerfGE 7,198,212, wonach die zum Ausgleich gegenläufiger Grundrechtspositionen notwendige Güterabwägung „nur aus einer Gesamtschau des Einzelfalls unter Beachtung aller wesentlichen Umstände getroffen werden" könne; BVerfGE 27,211, 219; s. auch Ossenbühl, in: Bundesverfassungsgericht und Grundgesetz I S. 458, 493. 81
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1. Kap.: Eingriffsintensität in Rechtsprechung und Literatur
richtliche Sachverhaltsfeststellungen können somit bereits in verfahrensrechtlicher Hinsicht verfassungsrechtlich bedenklich sein. Daneben kann sich auch ein Fehler im Bereich der „Rechtsfindung" auf die Sachverhaltsermittlung auswirken. 89 Für die Auswahl der erheblichen Tatsachen und der maßgeblichen Gesichtspunkte für ihre Würdigung kommt es auf die zutreffende Zusammenstellung der entscheidungsrelevanten rechtlichen Aspekte des Einzelfalls an. 9 0 Grundrechte können die Tatsachenwürdigung aber auch inhaltlich steuern. 91 Die unzureichende Berücksichtigung materiell-verfassungsrechtlicher Entscheidungsvorgaben kann so die Unvollständigkeit oder Unrichtigkeit der Tatsachenermittlungen nach sich ziehen. 92 3. Die Kontrollpraxis
bis zum Patent-Beschluß
Auf der Grundlage der Formel vom „spezifischen Verfassungsrecht" sah sich das Bundesverfassungsgericht vor allem in den ersten Jahren seiner Rechtsprechungstätigkeit zur unbeschränkten Überprüfung der Einhaltung der skizzierten verfassungsrechtlichen Determinanten der fachrichterlichen Entscheidungsfindung befugt. So hielt es in einer Reihe von Fällen die Sachverhaltsfeststellung aus verfassungsrechtlicher Sicht für unzureichend und ersetzte oder ergänzte sie durch eigene Erhebungen. 93 Auch fachgerichtliche Auslegungs- oder Abwägungsergebnisse korrigierte es vielfach durch eigene Erwägungen und entwickelte dabei detaillierte verfassungsrechtliche Maßstäbe sowohl für die Beurteilung der Obersätze des richterlichen Subsumtionsvorgangs als auch für die Gewichtung der Umstände des Einzelfalls. 94 In einigen Fällen, in denen das Fachgericht die Notwendigkeit einer konkreten, verfassungsorientierten Güterabwägung verkannt hatte, nahm das Bundesverfassungsgericht diese abschließend selbst vor. 9 5 Die mit der Formel vom „spezifischen Verfassungsrecht" beabsichtigte Begrenzung der verfassungsgerichtlichen Kontrolle auf die Wahrung der Verfassungsordnung erwies sich damit als wenig wirkkräftig. Die Kontrollpraxis der Rechtsprechung rief dementsprechend ein kritisches Echo in der Literatur hervor. Zum einen wurde darauf hingewiesen, daß die Verfassung 88 89 90 91 92 93
227 f.
BVerfGE 70, 297, 319f.; s. auch BVerfGE 28, 151, 162; 52, 131, 164. Dazu Steinwedel, Spezifisches Verfassungsrecht S. 161 ff. S. etwa BVerfGE 51, 324, 350f. S. etwa BVerfGE 43,130,146; 54,129,137; 60, 234,242f.; 61,1, 7f.; 67, 213, 228ff. Vgl. etwa BVerfGE 26, 215, 226f.; 27, 344, 354f.; 67, 213, 229. Vgl. etwa BVerfGE 7,198,216ff.; 8, 81, 84ff.; 9,174,182ff.; 15,249, 253ff.; 17,224,
94 Vgl. etwa BVerfGE 7,198,228ff.; 7,230,234f.; 12,113,128ff.; 15,226,234; 15,288, 293ff.; 16, 194, 201 ff.; 16, 214, 216ff.; 17, 108, 118ff. 95 Vgl. BVerfGE 7, 198, 214ff.; 12, 113, 128ff.; 16, 194, 201 ff.; teilweise eigene Abwägung auch in BVerfGE 17,108,119f.; anders aber BVerfGE 15, 288, 297f.; 16, 214, 220.
Β. Die Grundlagen der Rechtsprechung
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keine gesicherten Maßstäbe für die bei der Anwendung des einfachen Rechts geforderten Güterabwägungen aufweise 96 und die Erhaltung des Systemzusammenhangs des einfachen Rechts durch die verfassungsgerichtliche „Ausstrahlungsthese" gefährdet sei. 97 Vor allem aber wurde gerügt, daß sich das Bundesverfassungsgericht angesichts der vielfaltigen Verflechtungen verfassungsrechtlicher und einfachrechtlicher Rechtsgehalte bei konsequenter Befolgung der Formel vom „spezifischen Verfassungsrecht" mit einer Fülle von Rechtsfragen zu befassen habe, die bei der Anwendung von nachrangigem Recht entstehen und zum originären Aufgabenkreis der Fachgerichte gehören. 98 IV. Die Erweiterung der Formel im Patent-Beschluß Seit dem Patent-Beschluß99 begegnet das Bundesverfassungsgericht der durch die aufgezeigten Verflechtungen von Verfassungsrecht und einfachem Recht bedingten und allein auf der Grundlage der Formel vom „spezifischen Verfassungsrecht" nicht zu bewältigenden Abgrenzungsproblematik mit einer ausdrücklichen Inanspruchnahme richterlichen Ermessens bei der Wahrnehmung seiner Kontrollfunktion und in dessen Ausübung mit einer deutlichen Auflockerung der Intensität seiner Nachprüfung 100 : „Freilich sind die Grenzen der Eingriffsmöglichkeiten des Bundesverfassungsgerichts nicht immer allgemein klar abzustecken; dem richterlichen Ermessen muß ein gewisser Spielraum bleiben, der die Berücksichtigung der besonderen Lage des Einzelfalls ermöglicht. Allgemein wird sich sagen lassen, daß die normalen Subsumtionsvorgänge innerhalb des einfachen Rechts so lange der Nachprüfung des Bundesverfassungsgerichts entzogen sind, als nicht Auslegungsfehler sichtbar werden, die auf einer grundsätzlich unrichtigen Anschauung von der Bedeutung eines Grundrechts, insbesondere vom Umfang seines Schutzbereichs beruhen und auch in ihrer materiellen Bedeutung für den konkreten Rechtsfall von einigem Gewicht sind." 1 0 1 Damit modifiziert das Bundesverfassungsgericht den mit der Formel vom „spezifischen Verfassungsrecht" zunächst verfolgten Ansatz, die Grenzen seiner 96
Vgl. Wank, Rechtsfortbildung S. 101; Steinwedel, Spezifisches Verfassungsrecht S. 129ff.; Η. H. Klein, Staat 10 (1971), 145,152ff.; grundsätzlicher Wahl, Staat 20 (1981), 485, 502ff.; krit. auch K. Hesse, Grundzüge Rdn. 72. 97 Wank, Rechtsfortbildung S. 102. 98 S. etwa Papier, in: Bundesverfassungsgericht und Grundgesetz I S. 432, 445, 450; Burmeister, DVB1. 1969, 605, 606; s. auch Η. H. Klein, Staat 10 (1971), 145, 172. 99 BVerfGE 18, 85, 93; vgl. weiter BVerfGE 42, 143, 148; 54, 129, 134f. 100 Ausgenommen ist dabei — wie bereits bei der Formel vom „spezifischen Verfassungsrecht" — wiederum die Kontrolle der Wahrung des Gebots der verfassungskonformen Auslegung. 101 BVerfGE 18, 85, 93; Hervorhebung vom Verfasser.
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1. Kap.: Eingriffsintensität in Rechtsprechung und Literatur
Kontrolle allein durch Einschränkung seines Kontrollmaßstabs zu bestimmen, und folgt in der Sache der in der Literatur verbreiteten Unterscheidung zwischen dem für die verfassungsgerichtliche Nachprüfung durchgängig geltenden Kontrollmaßstab und der die Intensität der Nachprüfung im Einzelfall bezeichnenden, flexibel gestalteten Kontrolldichte, 102 Das Bundesverfassungsgericht verzichtet zugleich auf eine abstrakte und aligemeingültige Bestimmung der Grenzen seiner Kontrollkompetenz. Die Inanspruchnahme eines Entscheidungsspielraums erlaubt es nunmehr, den Umfang seiner Nachprüfung von den im Einzelfall für kontrollrelevant erachteten Umständen abhängig zu machen. Im Regelfall soll allerdings nur eine grundsätzliche Verkennung „spezifischen Verfassungsrechts" der Korrektur durch das Bundesverfassungsgericht zugänglich sein. Der Fehler muß überdies hinreichendes Gewicht für den betreffenden Rechtsstreit aufweisen, sich also als entscheidungserheblich darstellen. 103 Grundlage dieser weiteren Präzisierung des Umfangs seiner Kontrolle gegenüber der Fachgerichtsbarkeit ist wiederum das Funktionsverständnis des Bundesverfassungsgerichts. Daß eine unzureichende Berücksichtigung verfassungsrechtlicher Vorgaben auch unterhalb der nunmehr eingezogenen „Erheblichkeitsschwelle" die materiellrechtlichen Voraussetzungen einer Grundrechtsverletzung erfüllen kann, wird nicht in Frage gestellt. Eine Korrektur derartiger Verfassungsverstöße erscheint dem Gericht aber mit „dem Sinn der Verfassungsbeschwerde und der besonderen Aufgabe des Bundesverfassungsgerichts" unvereinbar. 104 Dient die Beschränkung seiner Eingriffsbefugnis damit — wie bereits die Begrenzung des Kontrollmaßstabs auf „spezifisches Verfassungsrecht" 105 — der Verhinderung eines Übergriffs in die den Fachgerichten übertragene Rechtsschutzfunktion, läßt sie sich in Anlehnung an einen in der Literatur verbreiteten Sprachgebrauch als „funktionell" 1 0 6 oder funktionsrechtlich kennzeichnen. 107 Die Ermessensformel des Patent-Beschlusses ist als allgemeine Regel für die Überprüfung fachgerichtlicher Entscheidungen formuliert. Nicht nur in ursprünglich zivilrechtlichen Streitigkeiten, sondern auch in Entscheidungen zu Urteilen der Verwaltungs- oder Finanzgerichte wird auf den Patent-Beschluß Bezug genommen. 108 Eine ausdrückliche Inanspruchnahme des postulierten 102 Zu entsprechenden Auffassungen in der Literatur unten D U ; zum Begriff der Kontrolldichte oben Vorbemerkung B. 103 So auch das Verständnis der zitierten Kontrollformel bei Lincke, EuGRZ 1986, 60, 63. 104 BVerfGE 18, 85, 92. 105 Vgl. soeben II. 106 So etwa K. Hesse, in: FS für Huber S. 261 ff.; ähnlich Schuppert, AöR 103 (1978), 43 ff. und ders., DVB1. 1988, 1191: „funktionell-rechtlich". 107 Zum hierbei zugrundegelegten Funktionsbegriff und dem Verhältnis von Kompetenz und Funktion eines Staatsorgans s. unten 2. Kapitel A III 3 a, b.
Β. Die Grundlagen der Rechtsprechung
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Ermessens oder eine explizite Beschränkung der Kontrolle auf das Vorliegen grundlegender verfassungsrechtlicher Fehleinschätzungen läßt sich in der auf den Patent-Beschluß folgenden Rechtsprechung allerdings fast ausschließlich bei Entscheidungen feststellen, die einen Ausgleich widerstreitender Interessen der Bürger untereinander vorzunehmen hatten. 109 Das Bundesverfassungsgericht machte von der im Patent-Beschluß eröffneten Möglichkeit zur Einschränkung seiner Nachprüfung — jedenfalls ausdrücklich — also im wesentlichen bei der Kontrolle der Zivilgerichtsbarkeit Gebrauch. 110 Dies könnte eine Anknüpfung der Kontrollintensität danach andeuten, ob die zugrundeliegende Streitigkeit die Beziehungen zwischen Grundrechtsträgern oder das Staat-Bürger-Verhältnis betrifft. 111 Andererseits zeigte sich das Bundesverfassungsgericht bei der tatsächlichen Wahrnehmung seiner Kontrollkompetenz teilweise auch dann zurückhaltend, wenn es um die Abwägung fallspezifischer Umstände nach Maßgabe des Übermaßverbots ging und ließ vielfach genügen, daß die gebotenen Abwägungen überhaupt vorgenommen und die verfassungsrechtlich geforderten Bewertungsmaßstäbe dabei wenigstens annähernd zutreffend bestimmt waren. Vor allem bei der Überprüfung strafverfahrensrechtlicher Entscheidungen beschränkte sich das Gericht teilweise auf eine bloße Vertretbarkeitskontrolle und verzichtete auf eine abschließende verfassungsrechtliche Beurteilung. 112 Die Rechtsprechungspraxis war jedoch wenig homogen. Während einige Entscheidungen eine noch weitergehende Beschränkung der Nachprüfung bis hin zur bloßen Willkürkontrolle erkennen lassen 113 , nahm das Verfassungsgericht in einer Vielzahl von Fällen eigene Sachverhaltswürdigungen 114 und 108 Vgl. BVerfGE 21,209,216; 25,28,35; 43,291,376; 44,197,202; 48,102,113; 50,256, 264; s. auch BVerfGE 19, 303, 310. 109 Vgl. etwa BVerfGE 19,73,74f.; 22,93,99f.; 30,173,196f.; 32,311,316; 34,269,280; 35, 202, 219. 110 Nur eine scheinbare Ausnahme bilden BVerfGE 25, 28, 35; 25, 309, 312; 26, 327, 334: In diesen Fällen war nur ein Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG zu untersuchen, der in seiner Auslegung als Willkürverbot von vornherein nur grundlegende Unrichtigkeiten erfaßt. In BVerfGE 36,264,271 beschränkt sich das Gericht zwar verbal auf die Kontrolle „grundsätzlich unrichtiger Anschauung" von Bedeutung und Tragweite des betroffenen Grundrechts, nimmt in der Sache aber eine erschöpfende Abwägung der beteiligten Interessen vor — s. die inhaltlich übereinstimmende Entscheidung BVerfGE 20,45,49 ff., in der es an einer entsprechenden Einschränkung der Kontrolldichte fehlt. 111 Erst in jüngerer Zeit findet sich eine Beschränkung der Kontrolle auf grundlegende Auslegungsfehler auch in einigen das Staat-Bürger-Verhältnis betreffenden Entscheidungen, s. etwa BVerfGE 72, 105, 115; 76, 363, 388 f.; dazu unten C IV 1 a. 112 BVerfGE 20,162, 214, 219ff. — anders aber die dissentierenden Richter S. 198ff.; 23,127,133f.; 27, 211, 219f.; 27, 344, 352f.; 28, 264, 280f.; 34, 369, 380; 35, 311, 316f. — anders aber die dissentierenden Richter S. 320ff.; strengere Kontrolle dagegen bei BVerfGE 27, 71, 85ff.; 27, 104, 108ff.; 35, 5, 11; ausführlich zur Rechtsprechungspraxis Steinwedel, Spezifisches Verfassungsrecht S. 129 ff., 142 ff. 113 BVerfGE 35, 307, 309f.; 35, 311, 316f.; s. auch BVerfGE 34, 369, 380f. 114 S. etwa BVerfGE 22, 114, 123 f.; 32, 87, 97; 35, 202, 226ff.; 35, 382, 404f.
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1. Kap.: Eingriffsintensität in Rechtsprechung und Literatur
Abwägungen anhand einer eigenen Einschätzung der Umstände des Einzelfalls v o r 1 1 5 und ersetzte die angegriffene Entscheidung, ohne eine grundlegende Verfehlung der verfassungsrechtlichen Vorgaben darzulegen. 116 In einigen Fällen kam es gerade im Hinblick auf die zutreffende Bestimmung der Kontrolldichte zu nicht zu überwindenden Meinungsverschiedenheiten innerhalb des zuständigen Senats. 117 Auch die Versuche einer abstrakten Umschreibung der maßgeblichen Prüfungskriterien läßt die Unsicherheiten der Rechtsprechung deutlich werden. So ging das Gericht im Anschluß an den Patent-Beschluß vielfach davon aus, daß zu prüfen sei, ob der Richter überhaupt erkannt hat, daß es sich um eine Abwägung widerstreitender Grundrechtsbereiche handelt, und ob die Entscheidung auf einer grundsätzlich unrichtigen Anschauung von der Bedeutung eines Grundrechts beruht. 118 Damit wird maßgeblich auf die Begründung der Entscheidung abgestellt. In anderen Fällen erstreckt das Gericht seine Nachprüfung auch darauf, ob das Auslegungs- bzw. das Entscheidungsergebnis die geltend gemachten Grundrechte verletzt, ohne dabei eine grundsätzliche Verkennung der grundrechtlichen Vorgaben vorauszusetzen. 119 Im MephistoBeschluß werden beide Formeln als bedeutungsgleich nebeneinander verwandt. 120 Nach den Ausführungen im Lebach-Urteil ist das fachgerichtliche Urteil schließlich auch dann zu beanstanden, wenn das Gericht bei Anwendung der „typischen Kriterien, die sich aus der Ausstrahlung der Grundrechte ... ergeben", nicht zu dem gefundenen Ergebnis hätte gelangen können. 121 Diese in ihrem Verhältnis untereinander unklaren 122 , teilweise im Sinne einer allmählichen Verschärfung der Kontrolldichte verstandenen Formulierungen 123 zeigen an, wie wenig dem Gericht bis zu diesem Zeitpunkt die Herausarbeitung einer operablen Regel zur Bestimmung des Umfangs seiner Eingriffsbefugnis gegenüber fachgerichtlichen Entscheidungen gelungen war. 115
S. BVerfGE 21, 306, 310f.; 24,278,285ff.; 25,256,263ff.; 28, 55,64f.; 32, 87,96ff.; 32,98,107 ff.; 34,205,209 f.; 34,238,249 ff.; 35,35,39 f.; 35,202,239 ff.; 39,276,299 ff.; 42, 95, lOOff.; 42, 133, 142. 116 So etwa BVerfGE 20, 45,49ff.; 24, 278, 281 ff.; 28, 55, 63 ff.; 32, 98,107ff.; 37,132, 146ff.; 38, 398, 401, 403. 117 BVerfGE 30, 173, 187ff., 200ff., 219ff; 35, 311, 315ff, 320f. 118 BVerfGE 30, 173, 197; 49, 304, 314. 119 BVerfGE 21,209,216; 30,173,188 und Rupp-v. Brünneck, diss, op., ebenda S. 221; 32, 311, 316; 34, 269, 280; 35, 202, 219; 52, 131, 166. 120 Vgl. BVerfGE 30, 173, 197 und 188; krit. Rupp-v. Brünneck, diss, op., ebenda S. 220f. 121 BVerfGE 35,202,219; dazu Steinwedel, Spezifisches Verfassungsrecht S. 148,153 f.; Lincke, EuGRZ 1986, 60, 65 f. 122 S. einerseits Schiaich, Bundesverfassungsgericht S. 141: „Das Entscheidungsergebnis verletzt eigenständig Grundrechte praktisch nur, wenn gegen das Willkürverbot verstoßen wurde"; andererseits Lincke, EuGRZ 1986, 60, 66. 123 Vgl. Steinwedel, Spezifisches Verfassungsrecht S. 148 f.
C. Die Kontrollpraxis des BVerfG
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C. Die Rechtsprechung zum Merkmal der Eingriffsintensität I. Die Leitentscheidungen In den bereits eingangs 124 zitierten Beschlüssen vom 11.5.1976 125 entwickelt das Bundesverfassungsgericht mit dem Merkmal der Eingriffsintensität das erste und bislang einzige allgemeingültige Kriterium für die Ausfüllung des im Patent-Beschluß in Anspruch genommenen Entscheidungsspielraums. 1. Der DGB-Beschluß In dem dem DGB-Beschluß 126 zugrundeliegenden Zivilprozeß war dem Beschwerdeführer durch das Landgericht unter Androhung eines Ordnungsmittels untersagt worden, das von der Deutschland-Stiftung herausgegebene „Deutschland-Magazin" wörtlich oder sinngemäß als ein „rechtsradikales Hetzblatt" zu bezeichnen. Das Berufungsgericht hob die erstinstanzliche Verurteilung nur insoweit auf, als sie sich auf das Aufstellen einer entsprechenden sinngemäßen Behauptung bezog, und meinte, in der Verbindung der Worte „rechtsradikal" und „Hetzblatt" liege der Vorwurf bedenken- und gewissenloser Agitation für verfassungsfeindliche Ziele. Die Richtigkeit dieses Vorwurfs könne aus den dem Gericht vorliegenden Exemplaren des Magazins jedoch nicht entnommen werden. Das Ansehen der Deutschland-Stiftung in der Öffentlichkeit werde deshalb in einer Weise herabgewürdigt, die durch berechtigte Interessen des Beschwerdeführers nicht gedeckt sei. Gegen eine in sachlichere Worte gefaßte Kritik bestünden hingegen keine Bedenken, auch wenn damit in der Sache das gleiche zum Ausdruck gebracht würde. Bei der einleitenden Umschreibung des Umfangs seiner Nachprüfung gibt das Bundesverfassungsgericht dem Merkmal der Eingriffsintensität einen scheinbar zweifachen Gehalt. Es wiederholt zunächst die im Patent-Beschluß entwickelte Formel 1 2 7 , wonach nur solche Auslegungsfehler verfassungsgerichtliche Eingriffsmöglichkeiten begründen, die auf einer grundsätzlich unrichtigen Auffassung von der Bedeutung des Grundrechts beruhen. Zur weiteren Kennzeichnung der Eingriffsintensität wird neben der Schwere des Auslegungsfehlers („ferner") auf den Grad der durch das Entscheidungsergebnis bewirkten Beeinträchtigung der individuellen Grundrechtssphäre hingewiesen. Die Formulierungen des Gerichts lassen die Deutung zu, daß sowohl das Ausmaß der Verkennung grundrechtlicher Maßstäbe bei der Entscheidungsfindung als auch die durch das Entscheidungsergebnis bewirkte Beeinträchtigung der grundrechtlichen Freiheitssphäre als Bestimmungsfaktoren für den Grad der im Einzelfall vorliegenden Eingriffsintensität in Betracht zu ziehen sind. 128 124 125 126 127
Oben A. BVerfGE 42, 143 ff. — DGB —; 42, 163 ff. — Echternach —. BVerfGE 42, 143 ff. Vgl. oben Β IV.
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1. Kap.: Eingriffsintensität in Rechtsprechung und Literatur
Bei der Feststellung des Ausmaßes der grundrechtlichen Betroffenheit des Beschwerdeführers folgt das Bundesverfassungsgericht zunächst dem vom Berufungsgericht zugrundegelegten Ansatz und unterscheidet zwischen dem Verbot der Kundgabe einer Meinung und anderen Behinderungen der Meinungsfreiheit, die lediglich die Form der Äußerung betreffen, die Befugnis zum Ausdruck der dahinterstehenden sachlichen Aussage jedoch nicht beschränken. Nur im ersteren Fall liege ein empfindlicher Eingriff vor. Da sich der Beschwerdeführer nur gegen das Verbot wörtlicher Wiederholung seiner Äußerung wandte, konnte im Hinblick auf die nachteiligen Wirkungen der Entscheidung kein Fall hoher Eingriffsintensität vorliegen. Damit steht für das Bundesverfassungsgericht der Umfang seiner Kontrolle indes bereits fest, ohne daß die Bedeutung der Grundrechte für die Fallentscheidung bereits entfaltet und damit eine Grundlage für die Beurteilung der Schwere einer möglichen Verkennung der verfassungsrechtlichen Vorgaben in der Entscheidungsbegründung geschaffen wäre. Das Maß der Eingriffsintensität wird also ausschließlich anhand des Gewichts der durch den Entscheidungsausspruch im Ergebnis bewirkten Beeinträchtigung grundrechtlich geschützter Rechtsgüter bestimmt. Angesichts der geringen Betroffenheit des Beschwerdeführers enthält sich das Bundesverfassungsgericht einer eigenen Wertung des ehrverletzenden Charakters der Äußerung des Beschwerdeführers. Ihre Einstufung als eine im Wege der Beweiserhebung nachprüfbare Tatsachenbehauptung sieht es zwar als bedenklich, jedoch nicht als Fehler von hinreichendem verfassungsrechtlichen Gewicht an. Auch das Abwägungsergebnis, dem Achtungsanspruch der Herausgeber des „Deutschland-Magazins" sei auch unter Berücksichtigung der Meinungsfreiheit des Beschwerdeführers der Vorzug zu geben, nimmt es trotz Bedenken hin und beschränkt sich auf die allgemeine Feststellung, das Recht zur Aufrechterhaltung einer bestimmten, ehrverletzenden Formulierung sei auch unter dem Gesichtspunkt des „Rechts zum Gegenschlag" verfassungsrechtlich nicht geschützt. Das Bundesverfassungsgericht nimmt damit weder eine vollständige Überprüfung der in die Abwägung einfließenden Erwägungen noch eine eigenständige Kontrolle des Ergebnisses der Abwägung des Fachgerichts vor. Daran übt das zum DGB-Beschluß ergangenen Sondervotum 129 deutliche Kritik. Bei der Abwägung zwischen der Meinungs- und Pressefreiheit der Beschwerdeführer und dem Rechtsgut der persönlichen Ehre handele es sich um „spezifisches Verfassungsrecht", das der vollen verfassungsgerichtlichen Kontrolle unterliege. Eine Entscheidung müsse deshalb schon dann aufgehoben werden, wenn das Fachgericht bei Zugrundelegung der grundsätzlich zutreffen128 129
So auch Lincke, EuGRZ 1986, 60, 67. Rupp-v. Brünneck, diss, op., in: BVerfGE 42, 143, 154 ff.
C. Die Kontrollpraxis des BVerfG
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den Auflassung vom Schutzbereich der Grundrechte niemals zu dem gefundenen Ergebnis hätte gelangen dürfen. Auch sei das von der Senatsmehrheit aufgestellte Kriterium zur Ausfüllung der Intensitätsformel ergänzungsbedürftig. Nicht nur die gegenwärtige Beeinträchtigung des Beschwerdeführers, sondern auch die Wirkung des Grundrechtseingriffs auf die künftige Ausübung des Grundrechts durch die Beteiligten wie auch durch andere Bürger müßten berücksichtigt werden. 2. Der Echternach-Beschluß
130
Dem gleichzeitig veröffentlichten Echternach-Beschluß liegt ein im Wege der einstweiligen Verfügung erwirktes Verbot zugrunde, einige als Verstoß gegen Ehrschutzbestimmungen eingestufte, die Deutschland-Stiftung und ihren Geschäftsführer betreffende Werturteile und Tatsachenbehauptungen wörtlich oder sinngemäß zu verbreiten. In dem Verbot der Äußerung bestimmter Gedankeninhalte sieht das Bundesverfassungsgericht entsprechend der im DGB-Beschluß entwickelten Differenzierung einen Fall hoher Eingriffsintensität. Bei dieser Sachlage könnten auch Fehler, die nicht auf einer grundsätzlich unrichtigen Anschauung von der Bedeutung des Grundrechts beruhen, bei der verfassungsgerichtlichen Prüfung nicht außer Betracht bleiben. Der restriktive Maßstab des Patent-Beschlusses ist damit aufgehoben: nur im Falle geringer Eingriffsintensität ist die verfassungsgerichtliche Kontrolle auf grundlegende Fehler in der fachrichterlichen Entscheidungsfindung beschränkt. Bei stärkerer Betroffenheit wird die Prüfung auch auf einzelne Auslegungsfehler erstreckt und bleibt auch eine unmittelbare Kontrolle des Entscheidungsergebnisses vorbehalten. Das Gericht orientiert sich bei der Bestimmung seiner Eingriffsbefugnis wiederum ausschließlich am Ausmaß der durch das Entscheidungsergebnis bewirkten Beeinträchtigung grundrechtlich geschützter Rechtspositionen. Die Intensität der Grundrechsbetroffenheit bildet den Maßstab dafür, welche fachgerichtlichen Fehler einer Korrektur durch das Bundesverfassungsgericht zugänglich sein sollen. Die Schwere des Auslegungsfehlers dient dabei als Bezugsgröße für die Abstufung der Kontrolldichte. Das Zivilgericht hatte die Zulässigkeit ehrverletzender Werturteile im politischen Meinungskampf daran gebunden, daß dem Leser gleichzeitig Tatsachen mitgeteilt werden, die ihm eine kritische Beurteilung der Äußerung ermöglichen. Dem tritt das Bundesverfassungsgericht entgegen. Bei der zu beurteilenden Erklärung handele es sich um einen Beitrag zum geistigen Meinungskampf in einer die Öffentlichkeit wesentlich berührenden Frage. Die Zulässigkeit derartiger Äußerungen könne auch dann nicht von der gleichzeitigen Wiedergabe von Tatsachenmaterial abhängig gemacht werden, wenn die geäußerte Kritik die 130
BVerfGE 42, 163 ff.
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1. Kap.: Eingriffsintensität in Rechtsprechung und Literatur
Nebenwirkung einer Ehrverletzung enthalten sollte. Der vom OLG für die fallbezogene Abwägung gebildete Obersatz wird damit aus verfassungsrechtlicher Sicht korrigiert. Auch nimmt das Gericht eine abweichende tatsächliche Würdigung eines Teils der geäußerten Kritik vor, die sich nicht als Tatsachenbehauptung, sondern als ironisch-spöttische Polemik darstelle. 3. Das dreistufige
Kontrollmodell
Das in den skizzierten Beschlüssen entwickelte Kontrollmodell weist folgende Grundstruktur auf: — bei geringer Eingriffsintensität bleibt es bei der im Patent-Beschluß geforderten Beschränkung der Kontrolle auf die Korrektur grundsätzlicher Fehleinschätzungen von der Bedeutung der betroffenen Grundrechte (Kontrolle erster Stufe); — bei hoher Eingriffsintensität sind dagegen auch einzelne Auslegungsfehler zu korrigieren (Kontrolle zweiter Stufe); — auf der dritten Stufe „höchster Eingriffsintensität" steht auch die von den Zivilgerichten vorgenommene Güterabwägung unbegrenzter Nachprüfung offen. Die für diese Verknüpfung von Kontrolldichte und Eingriffsintensität gegebene Begründung bleibt vage. Bei einem nachhaltigen Grundrechtseingriff seien — so das Gericht im DGB-Beschluß — an die Begründung des Eingriffs strengere Anforderungen zu stellen, folglich reichten die Nachprüfungsmöglichkeiten des Bundesverfassungsgerichts hier weiter. 131 Dieser Hinweis auf erhöhte Anforderungen an die Begründung der fachgerichtlichen Entscheidung könnte zunächst ausschließlich verfahrensrechtlich zu verstehen sein. Auch wenn man dem Gericht aber insoweit folgt und für gravierende Beeinträchtigungen grundrechtlich geschützter Güter von einer verschärften prozessualen Begründungspflicht ausgeht 132 , vermag dies allein die Forderung nach einer verstärkten Kontrolltätigkeit des Bundesverfassungsgerichts nicht zu begründen. In der Literatur sind die Äußerungen des Gerichts deshalb auch als Hinweis auf „die materielle Rechtslage" verstanden worden. 133 Der Abstufung der Kontrolldichte könnte insoweit die Überlegung zugrundeliegen, daß sich die an eine Grundrechtsbeeinträchtigung zu stellenden materiellrechtlichen Anforde131
BVerfGE 42, 143, 149. In diesem Sinne etwa BVerfGE 70, 297, 316; vgl. auch BVerfGE 17, 306, 314; 20, 150, 159: „Je mehr ... der gesetzliche Eingriff elementare Äußerungsformen der menschlichen Handlungsfreiheit berührt, um so sorgfaltiger müssen die zu seiner Rechtfertigung vorgebrachten Gründe gegen den grundsätzlichen Freiheitsanspruch des Bürgers abgewogen werden." 133 So Lincke, EuGRZ 1986, 60, 67. 132
C. Die Kontrollpraxis des BVerfG
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rangen mit zunehmender Eingriffsintensität verschärfen und die Wahrung der erhöhten grundgesetzlichen Eingriffsvoraussetzungen dem Bundesverfassungsgericht zugewiesen ist. Damit würde zunächst an die im Rahmen von Übermaßverbot und „Wechselwirkung" entwickelte Abwägungsrechtsprechung angeknüpft, wonach Eingriffe in den grundrechtlichen Schutzbereich einen die Beeinträchtigung rechtfertigenden, entsprechend gewichtigen Schutzzweck voraussetzen. 134 Neu ist jedoch die damit verbundene Folgerung für die Eingriffsbefugnis des Bundesverfassungsgerichts: die steigenden materiellrechtlichen Anforderungen an die Gewichtigkeit des Gutes, dem der Eingriff dient, sollen eine intensivierte Kontrolle nach sich ziehen. Eine ausdrückliche verfassungsrechtsdogmatische Begründung für eine solche Kompetenzregel gibt das Gericht nicht. Die Anknüpfung an den im PatentBeschluß postulierten Ermessensspielraum läßt aber erkennen, daß es sich auch insoweit von funktionsrechtlichen Erwägungen leiten läßt. 1 3 5 Der dabei möglicherweise verfolgte gedankliche Ansatz ist von K. Hesse wie folgt umschrieben worden: „Je intensiver eine Regelung oder Maßnahme den personalen Kern der Grundrechte ergreift, desto mehr gewinnt der dem Bundesverfassungsgericht aufgetragene Schutz an Notwendigkeit und Gewicht, desto umfassender ist das Gericht zur Nachprüfung verpflichtet, ob jene Regelung oder Entscheidung vor dem Grundgesetz Bestand haben kann." 1 3 6 II. Die weitere Rechtsprechung zu Eingriffen in die Meinungs-, Presse-, Rundfunk- und Kunstfreiheit Das Merkmal der Eingriffsintensität wurde im Rahmen der Kontrolle anhand der Grundrechte des Art. 5 Abs. 1 GG entwickelt. Auch für seine weitere Entfaltung sind vor allem die zur Meinungs- und Presse- sowie der Kunstfreiheit ergangenen Entscheidungen wegweisend geworden. 137 134
Vgl. oben Β III 1 b aa; allgemein zur Güterabwägung auch unten 3. Kapitel Β I 2. So ausdrücklich Rupp-v. Brünneck, diss, op., in: BVerfGE 42, 143, 154: „Ein Zuwenig an verfassungsgerichtlicher Prüfung kann die Effektivität des Grundrechtsschutzes beeinträchtigen, ein Zuviel die angemessene Funktionsteilung im Verhältnis des Bundesverfassungsgerichts zu den anderen Gerichten stören...". 136 K. Hesse, in: FS für Huber S. 261, 266. 137 Vgl. hierzu vor allem Lincke, EuGRZ 1986, 60, 67ff.; dort S. 61 ff. auch zu einigen zeitlich vor dem DGB-Beschluß ergangenen Entscheidungen, die vermuten lassen, daß das Ausmaß der individuellen Betroffenheit für den Umfang der verfassungsgerichtlichen Kontrolle bereits mitentscheidend gewesen sein könnte, so etwa BVerfGE 7, 198 ff.; 12, 113 ff.; 35, 202 ff.; tendenziell anders aber etwa BVerfGE 21, 209, 216. Da der grundsätzliche Bezug zwischen Kontrolldichte und Individualrechtsbetroffenheit vor dem DGB-Beschluß jedoch noch nicht hergestellt war, lassen sich aus den genannten Entscheidungen Aufschlüsse zu Inhalt und Grundlage des Merkmals der Eingriffsintensität in seiner heutigen Ausprägung nicht gewinnen. 135
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1. Kap.: Eingriffsintensität in Rechtsprechung und Literatur
1. Fälle hoher Eingriffsintensität a) Im Beschluß vom 7.12.1976 1 3 8 — politisches Flugblatt — führt der Erste Senat das Merkmal der Eingriffsintensität erstmals zur Bestimmung der Kontrolldichte auch gegenüber einer strafrechtlichen Verurteilung ein. In der Verhängung einer Geldstrafe wegen politischer übler Nachrede sieht das Gericht einen Fall hoher Eingriffsintensität. Eine Bestrafung als Sanktion kriminellen Unrechts sei bereits für sich genommen von größerer Intensität als eine zivilgerichtliche Verurteilung. Hinzu komme die Besonderheit des vorliegenden Falles: der Beschwerdeführer hatte behauptet, er sei für eine Äußerung bestraft worden, die er nicht getan habe. Damit wird nach Ansicht des Gerichts ein Eingriff in den Kern der grundrechtlich geschützten Persönlichkeitssphäre geltend gemacht. Überdies weist der Senat im Anschluß an das zum DGBBeschluß ergangene Sondervotum auf die Auswirkungen der Entscheidung auf die generelle Ausübung des Grundrechts hin. Wegen der einschüchternden Wirkung des staatlichen Vorgehens werde die Meinungsfreiheit insgesamt empfindlich getroffen. In die demnach auf zweiter Stufe auszuübende Kontrolle bezieht das Gericht auch Fehler bei der Feststellung und Würdigung des Tatbestandes ein. In Fällen hoher Eingriffsintensität habe das Bundesverfassungsgericht die Feststellung und Würdigung des Tatbestandes im einzelnen auf ihre Vereinbarkeit mit den Grundrechten zu überprüfen. Das Grundrecht der Meinungsfreiheit wirke bereits auf die zur Ermittlung der Inhalts der fraglichen Äußerung verwandten Kriterien ein. So dürfe die Auslegung einer Erklärung und die Feststellung einer in ihr enthaltenen „versteckten Behauptung" nicht aufgrund eines allein am Ehrschutz ausgerichteten Maßstabs erfolgen. Ferner verbiete Art. 5 GG, den Inhalt einer Information anhand ihrer Aufnahme durch einen „flüchtigen Leser" zu bestimmen, wenn sie sich erkennbar an politisch interessierte und aufmerksame Leser wendet. b) Dem Beschluß vom 13. 5. 1980 139 — Kunstkritik — liegt die Verurteilung zweier Kunstkritiker zur Zahlung von Schmerzensgeld zugrunde. Die Beschwerdeführer hatten einen Referenten der „Römerberg-Gespräche" 1974 in Rundfunksendungen als „bornierten Oberlehrer" und „Provinzdemagogen" bezeichnet, dessen Ausführungen in den Bereich nationalsozialistischen Gedankenguts gehörten. Die Auferlegung eines Schmerzensgeldes stellt nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts wegen der damit verbundenen Behinderung eines Beitrags zur freien geistigen Auseinandersetzung und der nachteiligen Wirkungen auf die künftige Bereitschaft zu kritischer Meinungsäußerung einen Eingriff von hoher Intensität dar, bei dessen Kontrolle auch einzelne Auslegungsfehler nicht außer Betracht bleiben könnten.
138 139
BVerfGE 43, 130 ff. BVerfGE 54, 129 ff.
C. Die Kontrollpraxis des BVerfG
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Einen derartigen Fehler sieht das Bundesverfassungsgericht zunächst in einer unzutreffenden Sachverhalts Würdigung des OLG. Den Beschwerdeführern sei es nicht um eine persönliche Herabsetzung des Referenten, sondern um die Auseinandersetzung über eine bestimmte geistige Richtung gegangen. Ferner hätte das Zivilgericht bei seiner Abwägung die Einschränkungen des Ehrschutzes durch das Recht auf scharfe Reaktion in einem schwebenden öffentlichen Meinungskampf berücksichtigen müssen. Ein derartiges „Recht zum Gegenschlag" wollte das OLG nur für die Reaktion auf persönlich diffamierende Äußerungen gelten lassen. Nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts ist hingegen darauf abzustellen, ob der Betroffene seinerseits am Prozeß öffentlicher Meinungsbildung teilgenommen und sich dadurch eines Teils seiner schützenden Privatsphäre begeben hat. Zwar enthält sich das Gericht einer abschließenden Abwägung anhand der danach für die Entscheidung des Zivilrechtsstreits maßgeblichen Gesichtspunkte. Angesichts der Präzisierung der Bedeutung des „Rechts zum Gegenschlag" für die vorliegende Fallgestaltung verblieb dem Fachgericht jedoch praktisch kein Abwägungsspielraum. c) Im Wallraff-Beschluß vom 25.1.1984 1 4 0 geht es um die verfassungsrechtliche Beurteilung der Veröffentlichung von Informationen aus dem redaktionellen Bereich eines Presseorgans, die sich ein Journalist unter Täuschung über seine Identität und seine Absichten verschafft hatte. Das betroffene Pressehaus war letztinstanzlich mit seinem Begehren unterlegen, dem Journalisten die Veröffentlichung einzelner Textpassagen zu untersagen. Eine intensivierte, der zweiten Kontrollstufe zuzuordnende Prüfung hält das Bundesverfassungsgericht bei der Abweisung des ersten, auf Unterlassung der Verbreitung von Inhalten einer Redaktionskonferenz gerichteten Klageantrags für geboten. Zur Begründung weist es auf die elementare Bedeutung der redaktionellen Vertraulichkeit für die Tätigkeit der Presseunternehmen hin. Die verfassungsgerichtliche Prüfung wird demgemäß nicht nur auf die Wahrung der bei der Bestimmung der Schutzwürdigkeit der sich hier gegenüberstehenden Formen grundrechtlicher Betätigung zu beachtenden allgemeinen Grundsätze, sondern auch auf die Abwägung der Umstände des Einzelfalls erstreckt. Sowohl das Anliegen des Journalisten als auch das Gewicht des bei der Informationserlangung verwirklichten Unrechts unterzieht das Bundesverfassungsgericht einer eigenen verfassungsrechtlichen Würdigung und ersetzt dabei weitgehend die Abwägung des Fachgerichts: angesichts des Umstandes, daß keine rechtswidrigen Praktiken aufgedeckt wurden, habe der BGH dem mit der Veröffentlichung verfolgten Anliegen, einen Beitrag zum geistigen Meinungskampf zu leisten, ein zu hohes, dem Einbruch in die Sphäre des Beschwerdeführers und den für die Rechtsordnung aus der Folgenlosigkeit der Rechtsverletzung erwachsenden Nachteilen ein zu geringes Gewicht zuerkannt. Der in der angegriffenen 1 0
BVerfGE
, 16ff.
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1. Kap.: Eingriffsintensität in Rechtsprechung und Literatur
Entscheidung gesuchte Ausgleich der beteiligten Interessen habe zu einem „Mißverhältnis" geführt. 141 Die Intensität der Beeinträchtigung der Pressefreiheit durch die Gestattung des Abdrucks einer originalen, vom Journalisten verfaßten und vom Chefreporter handschriftlich korrigierten Manuskriptseite (dritter Klageantrag) bleibt im Senat umstritten. Vier Richter vertreten die Auffassung, die Vertraulichkeit der Redaktionsarbeit werde hier nur in geringerem Maße betroffen, die Voraussetzungen einer intensivierten Nachprüfung werden folglich verneint. 142 Die vier anderen Richter wollen den Abdruck der Manuskriptseite dagegen im gleichen Umfang wie die Schilderung des Ablaufs der Redaktionskonferenz dem Vertraulichkeitsschutz der Redaktionsarbeit unterstellen. Einigkeit besteht im Senat hingegen darüber, daß die fachgerichtliche Billigung der wörtlichen Wiedergabe von Äußerungen des Chefreporters gegenüber dem Journalisten und der allgemeinen, gegen die Praktiken des Presseorgans gerichteten Kritik (zweiter und vierter Klageantrag) keinen Anlaß zu intensivierter Prüfung bietet. Dennoch qualifiziert das Gericht die kritischen Äußerungen des Journalisten selbständig als Werturteil und geht insoweit über die im DGB-Beschluß praktizierte Kontrolle hinaus. Es nimmt auch die Befugnis zur Überprüfung der Einhaltung der zur Beurteilung herabsetzender Äußerungen aufgestellten allgemeinen Grundsätze wie des „Rechts zum Gegenschlag" in Anspruch. Lediglich die tatsächliche Würdigung des Fachgerichts, es handele sich nicht um einen Fall der sog. „Schmähkritik", bei dem die genannten Grundsätze nicht gelten könnten, wird keiner Kontrolle unterzogen. Der Wallraff-Beschluß zeigt die Schwierigkeit einer zutreffenden Einschätzung der im Einzelfall verwirklichten Eingriffsintensität auf. Die im DGBBeschluß unterschiedenen drei Intensitätsstufen erlauben in Grenzfallen offenbar keine eindeutige, im Rahmen des richterlichen Diskurses konsensfähige Subsumtion. Der Wallraff-Beschluß begründet aber auch im übrigen Zweifel an der Praktikabilität des dreistufigen Kontrollmodells des Bundesverfassungsgerichts. So nimmt das Gericht auch im Hinblick auf den ersten Klageantrag zwar keinen Fall höchster Eingriffsintensität an, bei dem es nach den Ausführungen im DGB-Beschluß 143 die fachgerichtliche Güterabwägung durch eigene Wertungen vollständig ersetzen könnte, und entwickelt auch zunächst nur die für die fachrichterliche Abwägung maßgeblichen verfassungsrechtlichen Obersätze. Es bezieht dann jedoch auch deren konkrete Umsetzung in seine Nachprüfung ein und stützt die Aufhebung der angegriffenen Entscheidung auf die am Einzelfall orientierte Erwägung, daß die Veröffentlichung insoweit keine rechtswidrige Praxis aufgedeckt habe und das Publizitätsinteresse daher geringer wiege, sowie 141 142 143
BVerfGE 66, 116, 140. BVerfGE 66, 116, 144. BVerfGE 42, 143, 149; dazu soeben I 1.
C. Die Kontrollpraxis des BVerfG
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auf eine eigene Einschätzung des Gewichts des bei der Informationserlangung begangenen Rechtsbruchs. Für eine abweichende Wertung des BGH verbleibt so kein Raum. Die fachgerichtliche Güterabwägung wird damit bereits in einem Fall lediglich hoher Eingriffsintensität einer unbeschränkten Nachprüfung unterzogen und im Ergebnis durch eine eigene Würdigung des Bundesverfassungsgerichts ersetzt. d) Der Beschluß vom 17. 7.1984 1 4 4 hat die verfassungsrechtliche Beurteilung einer 1980 veranstalteten Aufführung des sog. „anachronistischen Zugs" zum Gegenstand, mit dem die Organisatoren in Anlehnung an ein Gedicht von Brecht auf gegenwärtige Erscheinungen des Rechtsradikalismus aufmerksam machen wollten. I m letzten Wagen des Zuges wurde der damalige Kanzlerkandidat der C D U / C S U mit Figuren aus der NS-Zeit in Beziehung gesetzt. Nach Auffassung der Strafgerichte erfüllte dies den Tatbestand der Beleidigung. In Anknüpfung an den Flugblatt-Beschluß 145 stellt das Bundesverfassungsgericht fest, daß eine strafrechtliche Verurteilung einen intensiveren Eingriff als etwa die Auferlegung einer zivilrechtlichen Schadensersatz- oder Unterlassungspflicht darstelle und weist zur Begründung auch auf die negativen Auswirkungen einer Verurteilung für die generelle Ausübung des Freiheitsrechts in der Zukunft hin. Die verfassungsrechtlichen Genzen der Kunstfreiheit waren hier nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts nicht zutreffend bestimmt. Die Kritik des Gerichts richtet sich vor allem gegen den von der angegriffenen Entscheidung zugrundegelegten Interpretationsmaßstab, setzt also ähnlich wie im FlugblattBeschluß bei der Sachverhaltswürdigung des Fachgerichts an. Dieses habe verkannt, daß bei der Interpretation künstlerischer Äußerungen von einer Gesamtbetrachtung des Kunstwerks auszugehen sei. Dabei würden sich mehrere Möglichkeiten der Interpretation der mit der Darstellung des Politikers verbundenen Aussage ergeben. Den Maßstab eines „naiven, flüchtigen Beobachters", den das Fachgericht herangezogen hatte, hält das Bundesverfassungsgericht für nicht angemessen. Vielmehr müsse auf einen „besonnenen Passanten" abgestellt werden, der bereit ist, den gesamten Zug und die Aufführung des Gedichts von Brecht zu berücksichtigen. Danach kämen auch strafrechtlich nicht relevante Deutungen in Betracht, die das Bundesverfassungsgericht beispielhaft erläutert. A^cJjynsoweit verblieb dem Fachgericht nach der Zurückverweisung kein R a u n ^ y abweichender Beurteilung. e) M i t der durch Beschluß vom 3. 6. 1987 146 — Strauß-Karikatur — beschiedenen Verfassungsbeschwerde wurde ebenfalls ein Strafurteil wegen Beleidigung angegriffen. Der Beschwerdeführer hatte mehrere Zeichnungen veröffentlicht, die den ehemaligen bayerischen Ministerpräsidenten in 144 145 146
BVerfGE 67, 213 ff. — anachronistischer Zug '80 —. BVerfGE 43, 130ff.; dazu soeben a). BVerfGE 75, 369 ff.
4 Scherzberg
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1. Kap.: Eingriffsintensität in Rechtsprechung und Literatur
verschiedenen Zusammenhängen als ein sich sexuell betätigendes Schwein darstellten. Das Bundesverfassungsgericht bestätigt seine bisherige Rechtsprechung, wonach strafrechtliche, die Meinungs- oder Kunstfreiheit berührende Sanktionen eine erhöhte Eingriffsintensität begründen. Seiner Kontrolle unterliege deshalb nicht nur die grundsätzlich zutreffende Bestimmung des grundrechtlichen Schutzbereichs. Vielmehr sei auch zu überprüfen, ob das Strafgericht die Darstellung anhand der der Kunst eigenen Strukturmerkmale beurteilt und auf dieser Grundlage die der Kunstfreiheit gesetzten Grenzen im einzelnen zutreffend gezogen habe. Das Bundesverfassungsgericht nimmt damit für sich in Anspruch, die Kollision von Kunstfreiheit und allgemeinem Persönlichkeitsrecht abschließend zu beurteilen. Es hält die an die Beurteilung der Karikaturen angelegten Maßstäbe des OLG allerdings für zutreffend und folgt ihm auch bei der Abwägung der sich konkret gegenüberstehenden verfassungsrechtlichen Schutzgüter: bei einer die Menschenwürde beeinträchtigenden Darstellung liege stets eine schwerwiegende Beeinträchtigung des Persönlichkeitsrechts vor, die durch die Freiheit künstlerischer Betätigung nicht mehr gedeckt sein könne. f) Auch der Beschluß vom 3.11.1987 147 hat eine die Kunstfreiheit berührende strafrechtliche Sanktion zum Gegenstand. Die Beschwerdeführer waren nach verschiedenen Werbeaktionen für die Aufführung eines der FDJ gewidmeten Theaterstücks von Brecht wegen der Verwendung von Kennzeichen einer verfassungswidrigen Organisation verurteilt worden. Angesichts der Intensität des damit verbundenen Eingriffs erstreckt das Bundesverfassungsgericht seine Kontrolle wiederum „auch darauf, ob die Auslegung einfachen Rechts auch in ihren Einzelheiten grundrechtskonform ist". So beanstandet es die ungenügende Berücksichtigung des Annexcharakters der Werbung für das betreffende Kunstwerk. Es weist ferner auf die unzutreffende Verarbeitung der vorinstanzlichen Tatsachenfeststellungen in einer der angegriffenen Revisionsentscheidungen hin. Dabei ging es um die von den Beschwerdeführern mit ihrer Werbeaktion verfolgte Zielsetzung und damit um einen für die verfassungsrechtliche Bewertung wesentlichen Umstand. „Wegen der eingangs dargelegten Prüfungsintensität" müsse auch dieser Fehler zur Aufhebung der Revisionsentscheidüng führen. Eine abschließende Entscheidung darüber, ob und ggf. welche verfassungsrechtlich geschützten Rechtsgüter bei richtiger Tatsachengrundlage eine Beschränkung der Kunstfreiheit rechtfertigen könnten, trifft das Bundesverfassungsgericht nicht. Es fordert allerdings mehrfach zu „realistischer Einschätzung" der mit den Werbemaßnahmen verbundenen nachteiligen Folgen auf und läßt damit seine generellen Bedenken gegen eine Verurteilung erkennen. 145 147 148
BVerfGE 77, 240 ff. — Herrnburger Bericht —. BVerfGE 77, 240, 255, 258.
C. Die Kontrollpraxis des BVerfG
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2. Fälle geringer Eingriffsintensität a) Im Beschluß vom 13.2.1982 149 war über die Bedeutung der Rundfunkfreiheit für die arbeitsrechtliche Behandlung von Mitarbeitern einer Rundfunkanstalt zu befinden. Deren Honorarverträge hatten den Hinweis enthalten, daß es sich bei der vereinbarten Tätigkeit um „freie Mitarbeit" handele. Die Arbeitsgerichte gingen demgegenüber vom Bestehen unbefristeter Beschäftigungsverhältnisse aus und wiesen zur Begründung auf die persönliche Abhängigkeit der Mitarbeiter von der Rundfunkanstalt hin. Der Erste Senat sieht hier zu intensiver Nachprüfung keinen Anlaß und beschränkt sich unter Hinweis auf den Patent-Beschluß auf die Feststellung einer grundsätzlichen Fehleinschätzung von der Einwirkung der Grundrechte auf die einschlägigen einfachrechtlichen Maßstäbe. 150 Die angegriffenen Urteile hätten verkannt, daß der den Rundfunkanstalten zukommende Grundrechtsschutz auch den Abschluß von unbefristeten Beschäftigungsverhältnissen einschließt. Dieser grundrechtlich geschützten Freiheit könne gegenüber dem gleichfalls verfassungsrechtlich legitimierten Bestandsschutz des Arbeitsrechts auch ein höheres Gewicht einzuräumen sein. Die arbeitsgerichtlichen Entscheidungen seien nicht zu einem verhältnismäßigen Ausgleich der beteiligten Belange gelangt. Die Notwendigkeit der Herstellung eines solchen Ausgleichs hatte das BAG allerdings nicht übersehen. Die Abstimmung von arbeitsrechtlichem Bestandsschutz und Rundfunkfreiheit war von ihm lediglich mit abweichendem Ergebnis vorgenommen worden. Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts korrigiert diese Güterabwägung und legt die Anforderungen des Verfassungsrechts an die richterliche Gewinnung des entscheidungsleitenden Obersatzes abschließend selbst fest: die Bedeutung der Rundfunkfreiheit sei nicht erst durch eine Erleichterung von Kündigungsrechten gegenüber festangestellten Mitarbeitern, sondern bereits bei der Beurteilung der Art des bestehenden Arbeitsverhältnisses als freie Mitarbeit oder Festanstellung zu berücksichtigen. b) Der Beschluß vom 20. 4. 1982 151 — Kredithai — hat die Einwirkung der Pressefreiheit auf die Beurteilung einer zivilrechtlichen Klage auf Unterlassung rufschädigender Äußerungen zum Gegenstand. Der Beschwerdeführer hatte in einem Zeitungsartikel vor unseriösen Geschäftemachern im Kreditverleihwesen gewarnt und war zur Unterlassung der generellen Bezeichnung von Kreditvermittlern als „Kredithaie" verurteilt worden. Die Berufung auf die Wahrnehmung berechtigter Interessen hatte das OLG wegen des Charakters dieser Bezeichnung als Formalbeleidigung und im Hinblick auf das Fehlen einer durchgängigen Unterscheidung zwischen seriösen und unseriösen Geschäfts149 BVerfGE 59, 231 ff. — Rundfunkmitarbeiter — ; vgl. im Anschluß daran auch BVerfGE 64, 256 ff. 150 BVerfGE 59, 231, 269; nicht eindeutig insoweit allerdings S. 256f. 151
4*
BVerfGE 60, 234 ff.
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1. Kap.: Eingriffsintensität in Rechtsprechung und Literatur
Praktiken ausgeschlossen und gemeint, das klagende Unternehmen müsse eine solch scharfe Sprache jedenfalls dann nicht hinnehmen, wenn es zu kritischer Beurteilung keinen Anlaß gegeben habe. Das Bundesverfassungsgericht nimmt hier keinen Fall hoher Eingriffsintensität an, hält jedoch die Bedeutung der Pressefreiheit für grundlegend verkannt. Bei Kritik an Mißständen eines ganzen Wirtschaftszweiges handele es sich um einen Beitrag zu einer die Öffentlichkeit wesentlich berührenden Frage, an dessen Zulässigkeit keine überhöhten Anforderungen gestellt werden dürften. Entgegen der Auffassung des OLG komme der Gesichtspunkt der Wahrnehmung berechtigter Interessen als Anknüpfungspunkt für die Berücksichtigung dieser grundrechtlichen Maßstäbe auch durchaus in Betracht. Entscheidend für diese Einschätzung wird die abweichende Sachverhaltswürdigung des Bundesverfassungsgerichts. Es stellt ausdrücklich fest, daß die vom OLG beanstandeten Tatsachenbehauptungen im Kern nicht unzutreffend gewesen seien und kritisiert, daß allein die Wahl der Formulierung „Kredithaie" eine Bewertung der Kritik als Formalbeleidigung nicht trage. Für die dem OLG verbleibende Abwägung zwischen dem Aufklärungsrecht der Presse und den Erfordernissen einer seriösen Berichterstattung wird auf die Gefahr übersteigerter Anforderung an Nachforschung und Darstellung in einer Pressekritik hingewiesen. c) Im Beschluß vom 22.7.1982 152 — Europawahl—geht es um die Bedeutung des Grundrechts der freien Meinungsäußerung für die Beurteilung herabsetzender Äußerungen über eine politische Partei im Wahlkampf. Der Beschwerdeführer hatte auf Veranstaltungen zur Europawahl die CSU als die „ N P D von Europa" bezeichnet und war zur Unterlassung dieser als Tatsachenbehauptung gewerteten Äußerung verurteilt worden. Das Bundesverfassungsgericht läßt offen, ob damit nur die gebrauchte Formulierung oder der Gedankeninhalt selbst untersagt werden sollte und damit ein Fall vorliegt, der das Gericht zu intensiverer Nachprüfung veranlassen könnte. Es hält das Grundrecht der Meinungsfreiheit für grundlegend verkannt, übt also im Ergebnis lediglich eine Kontrolle auf erster Stufe aus. Auch in diesem Fall setzt seine Kritik allerdings bei der Tatsachenwürdigung des Fachgerichts an. Die angegriffene Äußerung sei angesichts ihrer Substanzarmut und polemischen Zielsetzung als Meinungsäußerung zu behandeln, deren tatsächlicher Gehalt gegenüber der Wertung in den Hintergrund trete. Das O L G könne sich dieser verfassungsrechtlichen Bewertung nicht durch die zivilrechtliche Behandlung als unrichtige Tatsachenbehauptung entziehen. Auch die vom O L G vorgenommene Abwägung zwischen Meinungsfreiheit und Ehrschutz wird korrigiert. Hier hätte berücksichtigt werden müssen, daß es sich um eine Wahlkampfaußerung und damit um einen Beitrag zum politischen 152
BVerfGE 61, Iff.
C. Die Kontrollpraxis des BVerfG
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Meinungskampf gerade auch mit der von der Äußerung betroffenen Partei gehandelt habe. Diesen Gesichtspunkt hatte das O L G indes nicht völlig außer acht gelassen, sondern die Grenzen der Meinungsfreiheit im Hinblick auf das Vorliegen von „Schmähkritik" lediglich bereits überschritten gesehen. Die gegenteilige Würdigung des Bundesverfassungsgerichts beruht auf einer abweichenden Einschätzung der Zwecke der angegriffenen Formulierung und einer eigenen Bestimmung der Grenzen der konfligierenden Grundrechtsgüter, nach der dem Fachgericht praktisch kein Entscheidungsspielraum verblieb. 153 d) Im Beschluß vom 15.2.1982 1 5 4 — Boykottaufruf — befindet das Bundesverfassungsgericht über mehrere Verfassungsbeschwerden gegen ein wettbewerbsrechtliches Verbot von Boykottaufforderungen. Der von den Beschwerdeführern betriebene Informationsdienst hatte Fachhändler dazu aufgefordert, Hersteller von Bedarfsgegenständen zu nennen, die wegen des günstigen Verkaufs an Verbrauchermärkte von einer gleichzeitigen Belieferung des Fachhandels über Einkaufsverbände und Genossenschaften ausgeschlossen werden sollten. Diese Aktion erfüllte nach Auffassung der Zivilgerichte den Tatbestand des Boykotts und war als sittenwidrig zu beurteilen. Vom Vorliegen eines Boykottaufrufs geht auch das Bundesverfassungsgericht aus, das sich in diesem Fall zu intensiver Nachprüfung und damit zu einem Eingriff in die tatsächlichen Feststellungen der Fachgerichte nicht veranlaßt sieht. Es legt die für die verfassungsrechtliche Beurteilung derartiger Maßnahmen entwickelten Grundsätze dar, wonach an Motive und Mittel der Durchsetzung eines Boykotts bestimmte Anforderungen zu stellen sind. Bei der Würdigung der streitbefangenen Maßnahmen geht das Bundesverfassungsgericht davon aus, daß es sich nicht um einen Meinungsstreit zu einer die Allgemeinheit wesentlich berührenden Frage, sondern um eine Auseinandersetzung zweier Interessengruppen auf wirtschaftlichem Gebiet handele. Auch die verfassungsrechtlich gebotene Bewertung der Angemessenheit der durch die Veröffentlichung bewirkten Beeinträchtigung der Betroffenen nimmt es selbst vor. Trotz Annahme eines Falles minderer Eingriffsintensität hält sich das Bundesverfassungsgericht hier also offenbar zur abschließenden Würdigung der verfassungsrechtlich geforderten Zuordnung der beteiligten Interessen für befugt 155 , wobei es sich im Ergebnis allerdings nicht zu einer Aufhebung der angegriffenen Urteile veranlaßt sieht. 153 BVerfGE 61,1,13: „Bei dieser Sachlage spricht vieles dafür, daß sie (die CSU) auch scharfe, von einer demokratischen Partei mit Recht als herabsetzend empfundene ... Polemik hinnehmen mußte, zumal sie die Möglichkeit hatte, sich politisch zu wehren ..." 154 BVerfGE 62, 230 ff. 155 BVerfGE 62, 230, 247: „Aus den vorstehenden Darlegungen folgt zugleich, daß die Veröffentlichung der Ziele des Verrufers und die Beeinträchtigung der Betroffenen... nicht in einem angemessenen Verhältnis standen."
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1. Kap.: Eingriffsintensität in Rechtsprechung und Literatur
e) M i t Beschluß vom 24. 9.1984 1 5 6 — Hessenlöwe — lehnt ein Vorprüfungsausschuß gem. § 93 a BVerfGG a. F. die Annahme einer Verfassungsbeschwerde, die sich gegen eine strafrechtliche Verurteilung wegen Verunglimpfung eines Bundeslandes richtete, mangels Erfolgsaussichten ab. Die Beschwerdeführer hatten Plaketten mit einem dem hessischen Wappentier nachgestalteten Löwen getragen, der mit Polizeihelm und blutbeschmiertem Schlagstock ausgestattet war, und wollten damit auf den übertriebenen Einsatz der hessischen Polizei anläßlich von Demonstrationen hinweisen. Im Hinblick auf die Geringfügigkeit der ausgesprochenen Geldstrafen und angesichts des Umstandes, daß ihnen lediglich ein die Form der Meinungsäußerung betreffendes Verbot zugrundelag, soll es sich hier um einen Fall geringer Eingriffsintensität handeln. Das Bundesverfassungsgericht sieht sich folglich nur veranlaßt zu prüfen, ob die Einwirkung der Grundrechte auf das Strafrecht verkannt oder fehlerhaft gewürdigt worden sei. Das wird verneint. Die Entscheidungsgründe lassen allerdings nicht erkennen, welche Erwägungen des Fachgerichts dabei einer Nachprüfung unterzogen wurden. f) Der Beschluß vom 31. 10.1984 157 hat die Bedeutung der Meinungsfreiheit für ein zivilrechtliches Verbot ironisch-kritischer Veröffentlichungen zum Gegenstand. Die Beschwerdeführer hatten auf einer Postkartenserie über Münchner Verhältnisse den ehemaligen Wachmann eines privaten Sicherheitsdienstes abgebildet und auf der Rückseite der Karte die Aufschrift „Recht & Ordnung — München 1980" angebracht. Sie waren wegen Verletzung des Rechts des Bewachungsunternehmers auf Selbstdarstellung im geschäftlichen Bereich zur Unterlassung des Vertriebs verurteilt worden. Das Bundesverfassungsgericht geht davon aus, daß nur eine grundsätzlich unrichtige Auffassung von der Bedeutung der Pressefreiheit zu korrigieren sei, nimmt also einen Fall geringer Eingriffsintensität an. 1 5 8 Bei der fraglichen Veröffentlichung handele es sich um einen Beitrag zum geistigen Meinungskampf in einer die Öffentlichkeit wesentlich berührenden Frage. Der kommerzielle Zweck des Kartenvertriebs wird — abweichend von der Einschätzung des Zivilgerichts — als nachrangig beurteilt. Ob das Persönlichkeitsrecht des Unternehmers durch die Darstellung überhaupt beeinträchtigt sein konnte, läßt das Bundesverfassungsgericht offen. Dieser habe jedenfalls durch die Ausrüstung seiner Wachmänner selbst Anlaß zur kritischen Diskussion gegeben. Nach den vom Bundesverfassungsgericht für derartige Konstellationen entwickelten Abwägungsgrundsätzen könne der Position des Kritisierten in einem solchen Fall kein Vorrang gegenüber der Meinungsfreiheit zukommen. Entgegen der wiederholt aufgestellten These, eine vollständige Ersetzung der fachrichterlichen Wertung komme nur in Fällen höchster Eingriffsintensität in 156 157 158
BVerfG NJW 1985, 263 f. BVerfGE 68, 226ff. — schwarzer Sheriff—. BVerfGE 68, 226, 230.
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C. Die Kontrollpraxis des BVerfG
Betracht 159 , nimmt das Bundesverfassungsgericht damit auch hier eine sowohl die Tatsachenwürdigung als auch die Güterabwägung umfassende Korrektur des angegriffenen Urteils vor. g) Im Beschluß vom 15. 7.1987 1 6 0 lehnt die 2. Kammer des Ersten Senats die Annahme einer Verfassungsbeschwerde, die sich gegen verschiedene versammlungsrechtliche Auflagen und ihre verwaltungsgerichtliche Bestätigung richtete, mangels Erfolgsaussicht ab. Die angegriffenen Maßnahmen betrafen einen anläßlich der Wahl des Bundespräsidenten 1979 veranstaltenen Aufzug, der das Gedicht „Der anachronistische Zug" zum Gegenstand hatte und unter dem Motto „ M i t Bertolt Brecht nach Bonn gegen Carstens" durchgeführt werden sollte. Die Beschwerdeführer wandten sich vor allem gegen die Bewertung der mit der Veranstaltung bezweckten künstlerischen Aussage. Das Bundesverfassungsgericht weist demgegenüber daraufhin, daß eine Korrektur der ihm unterbreiteten Tatsachenwürdigung in der Regel nur in Betracht komme, wenn diese auf einer grundsätzlichen Fehleinschätzung der Kunstfreiheit beruht, und eine weitergehende Prüfung nur bei hoher Eingriffsintensität geboten sei. Damit zieht die Kammer — soweit ersichtlich erstmals — das Merkmal der Eingriffsintensität zur Bestimmung der Kontrolldichte auch gegenüber einer verwaltungsgerichtlichen Entscheidung heran. 3. Entscheidungen ohne Berücksichtigung
des Merkmals
a) Dem Beschluß des Zweiten Senats vom 2.3.1977 1 6 1 liegt die Verfassungsbeschwerde eines Soldaten zugrunde, der innerhalb der Dienstgebäude eine Unterschriftenliste gegen den Bau eines Atomkraftwerks verbreitet hatte und dafür disziplinarrechtlich bestraft worden war. Ohne Rückgriff auf den Maßstab der Eingriffsintensität verweist der Senat einleitend auf den PatentBeschluß und prüft, ob das Truppendienstgericht bei der Anwendung des Soldatengesetzes dem Grundrecht der Meinungsfreiheit „angemessen Rechnung getragen" habe. Die ausgesprochene Strafe wird am Gebot der Verhältnismäßigkeit gemessen, wobei sich das Gericht jedoch einer eigenen Würdigung der tatsächlich durch das Verhalten des Soldaten eingetretenen Störung der Gemeinschaft enthält. Die der Entscheidung beigefügten Sondervoten 162 heben demgegenüber unter Hinweis auf die Entscheidungen vom 11.5.1976 bzw. 7.12.1976 1 6 3 den hohen 159
Vgl. BVerfGE 42, 143, 149; 54, 208, 216; 66, 116, 132. BVerfG NJW 1988, 328 f. — anachronistischer Zug '79 —. 161 BVerfGE 44, 197 ff. — Solidaritätsadresse —. 162 Hirsch, diss, op., in: BVerfGE 44,197,209; s. auch Rottmann, diss, op., in: BVerfGE 44, 197, 205. 163 BVerfGE 42, 163 ff.; 43, 130 ff. 160
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1. Kap.: Eingriffsintensität in Rechtsprechung und Literatur
Eingriffswert der Disziplinarstrafe hervor, die einen Beitrag zum geistigen Meinungskampf in einer die Öffentlichkeit wesentlich berührenden Frage sanktioniere, und rügen das Fehlen einer einzelfallbezogenen Abwägung zwischen Grundrecht und gesetzlichem Schutzgut durch das Truppendienstgericht, das den Beschwerdeführer allein im Hinblick auf den politischen Charakter seiner Betätigung verurteilt hatte. In Fällen hoher Eingriffsintensität könne das Verfassungsgericht auch eigene Feststellungen dazu treffen, ob das inkriminierte Verhalten überhaupt geeignet war, den Schutzzweck der das Grundrecht einschränkenden Norm zu verletzen. 164 b) Der Beschluß des Zweiten Senats vom 4. 10. 1977 165 hat die vorläufige Dienstenthebung eines beamteten Lehrers zum Gegenstand. Im eingeleiteten Disziplinarverfahren waren ihm unter anderem die Mitwirkung an der Gründung eines „Komitees gegen Berufsverbote" und die Veröffentlichung dienstlicher Schreiben als Pflichtverstoß vorgeworfen worden. Die einschlägige Disziplinarordnung sah für den Fall der Einleitung des Disziplinarverfahrens die Möglichkeit einer vorläufigen Dienstenthebung vor. Ihre Anwendung steht nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts jedoch unter dem Gebot der Verhältnismäßigkeit. Ohne Hinweis auf die maßgebliche Kontrolldichte und damit wiederum ohne Berücksichtigung der Eingriffsintensität nimmt das Gericht die danach erforderliche Abwägung zwischen Individualrecht und dienstlichen Interessen selbst und unter Einbringung eigener, im gerichtlichen Verfahren bis dahin nicht angestellter Erwägungen vor: es sei eine schwerwiegende Störung des Schulbetriebs zu erwarten, weil die dem Betroffenen vorgeworfenen Aktivitäten befürchten ließen, er werde das gegen ihn schwebende Verfahren zum Gegenstand der Diskussion im Unterricht machen. c) Gegenstand des Beschlusses vom 14. 2. 1978 166 — Wahlspot — ist die Reichweite der Befugnis von Rundfunkanstalten, die Ausstrahlung von Wahlsendungen wegen Verstoßes gegen Strafgesetze zu verweigern. Das Bundesverfassungsgericht geht davon aus, daß die Bestimmungen der Rundfunkgesetze, wonach sich Sendungen im Rahmen der verfassungsmäßigen Ordnung halten müssen, angesichts des Parteienprivilegs des Art. 21 Abs. 2 GG einschränkend auszulegen sind. Eine Zurückweisung von Wahlspots komme nur bei einem evidenten und nicht geringen Verstoß gegen Strafrechtsnormen in Betracht. Die administrative Prüfungsbefugnis der Intendanten sei dabei eine andere als die der Strafgerichte. Je nachhaltiger der Grundrechtseingriff wirke, desto strengere Anforderungen seien an seine Voraussetzungen und Begründung zu stellen. 167 164 Hirsch, diss, op., in: BVerfGE 44,197,210; s. auch Rottmann, diss, op., in: BVerfGE 44, 197, 208. 165 BVerfGE 46, 17 ff. 166 BVerfGE 47, 198 ff. 167 BVerfGE 47, 198, 234.
C. Die Kontrollpraxis des BVerfG
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M i t dieser Formulierung knüpft der Zweite Senat zwar an die grundlegenden Äußerungen des Ersten Senats im DGB-Beschluß an. Im vorliegenden Zusammenhang dient das Merkmal der Eingriffsintensität jedoch allein zur Bestimmung der Prüfungsbefugnis des Intendanten. Folgerungen für die Kontrolldichte im verfassungsgerichtlichen Verfahren werden daraus nicht abgeleitet. Waren die angegriffenen Urteile in diesem Fall bereits wegen Verkennung der Reichweite der Kontrollkompetenz des Intendanten aufzuheben, kommt es im Beschluß vom 25. 4. 1985 168 zur Prüfung der Voraussetzungen der Evidenz der Verletzung strafrechtlicher Vorschriften. Das Bundesverfassungsgericht weist hier auf die zwischen Strafgesetz und Meinungsfreiheit herzustellende Wechselwirkung hin und nimmt die abschließende Würdigung des Aussagegehalts des fraglichen Wahlwerbungsspots selbst vor. d) Der Beschluß des Ersten Senats vom 10. 5. 1983 169 — Chiffreanzeige — betrifft die Verfassungsmäßigkeit der Verhängung eines Ordnungsgeldes gegenüber einem Presseangehörigen. Dieser hatte Angaben über den Auftraggeber einer Chiffreanzeige verweigert und sich dabei auf das Bestehen eines Zeugnisverweigerungsrechts berufen. § 53 Abs. 1 Nr. 5 StPO sieht ein solches Recht jedoch nur im Hinblick auf Veröffentlichungen im redaktionellen Teil von Presseerzeugnissen vor. Nach Auffassung des Strafgerichts kann sich ein Zeugnisverweigerungsrecht für Angaben über den Anzeigenteil einer Zeitung zwar im Einzelfall auch unmittelbar aus dem Grundrecht der Pressefreiheit ergeben. Im vorliegenden Fall liege in der Verpflichtung, gegenüber den Ermittlungsbehörden das Chiffregeheimnis aufzudecken, jedoch nur ein geringfügiger, durch das Interesse an der Verfolgung standeswidriger Verhaltensweisen im Pressewesen gedeckter Eingriff. Nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts gebietet der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit den Schutz der Anonymität auch des Anzeigenteils von Presseerzeugnissen, soweit dieser für die meinungsbildende oder kontrollierende Funktion der Presse von Bedeutung ist. Dies wird für den vorliegenden Fall verneint. Die Anforderungen des Übermaßverbots werden dabei abschließend konkretisiert. e) Der Beschluß des Ersten Senats vom 19.11.1985 170 — Frischzellentherapie — hat die Einwirkung des Grundrechts der Meinungsfreiheit auf die Auslegung des standesrechtlichen Werbeverbots für Ärzte zum Gegenstand. Der Beschwerdeführer war von einem Berufsgericht wegen mehrerer Veröffentlichungen zur Zahlung einer Geldbuße verurteilt worden. Als standeswidrig wurden vor allem ein autobiographisch angelegtes Buch, das auch eine Darstellung der von ihm entwickelten Therapie enthielt, mehrere Pressemitteilungen und ein als Hauszeitschrift seines Sanatoriums konzipiertes Journal beurteilt. 168 169 170
BVerfGE 69, 257, 269 ff. BVerfGE 64, 108 ff. BVerfGE 71, 162 ff.
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1. Kap.: Eingriffsintensität in Rechtsprechung und Literatur
Hinsichtlich der zuletzt genannten Publikationen nimmt das Bundesverfassungsgericht auf die Formel des Patent-Beschlusses Bezug und beschränkt seine Kontrolle auf Auslegungsfehler, die auf einer grundlegenden Verkennung des grundrechtlichen Schutzbereichs beruhen. Nach diesem Maßstab bestünden gegen die Einschätzung des Fachgerichts, bei Presseinformationen und Journal handele es sich um eine standeswidrige Werbung, keine Bedenken. Die Verurteilung wegen der Buchveröffentlichung wird dagegen — wiederum ohne Hinweis auf das Maß der Eingriffswirkung — in vollem Umfang auf ihre Vereinbarkeit mit dem Gebot der Verhältnismäßigkeit untersucht. Die Berufsordnung müsse im Lichte der Meinungsfreiheit ausgelegt werden. Daher verbiete sich eine undifferenzierte Anwendung des Werbeverbots, bei der der Schutz der Meinungsfreiheit ohne jede Güterabwägung bereits aufgrund des Werbeeffekts einer Veröffentlichung preisgegeben werde. Ein Verbot von Büchern der vorliegenden Art stelle einen schweren Eingriff in die Meinungsfreiheit dar. Der mit dem Werbeverbot verfolgte Zweck stehe dazu jedenfalls dann nicht in angemessenem Verhältnis, wenn es — wie hier — auf Veröffentlichungen erstreckt werde, mit denen sich ein gewisser Werbecharakter zwangsläufig und unvermeidbar verbinde. Trotz der restriktiven Bestimmung der Kontrolldichte kommt das Bundesverfassungsgericht damit aufgrund eigener Erwägungen — das angegriffene Urteil enthielt keine eigene Güterabwägung — zu einer abschließenden Beurteilung der Verhältnismäßigkeit der standesrechtlichen Maßnahmen. f) Dem Beschluß vom 1. 10. 1987 171 liegt eine Verfassungsbeschwerde des Z D F gegen die strafprozessuale Beschlagnahme von nicht veröffentlichtem Filmmaterial zugrunde. Das Bundesverfassungsgericht bestätigt die in der angegriffenen Entscheidung vertretene Rechtsauffassung, daß sich das in §§ 97 Abs. 5, 53 Abs. 1 Nr. 5 StPO angeordnete Beschlagnahmeverbot nicht auf selbstrecherchiertes Redaktionsmaterial der Medien erstrecke und diese Einschränkung mit dem Grundrecht der Rundfunkfreiheit vereinbar sei. Es stellt mit ausführlicher, eigener Begründung fest, daß die von den Fachgerichten unternommene Abwägung zwischen Strafverfolgungsinteresse und Grundrechtsgut dem verfassungsrechtlichen Gewicht der beteiligten Belange gerecht werde. Die Entscheidung enthält keine Anhaltspunkte für eine Anknüpfung der Kontrolldichte an die Intensität des in der angegriffenen Maßnahme liegenden Eingriffs. g) Gleiches gilt für die Überprüfung der strafrechtlichen Verurteilung eines Pressegrossisten, dem die Verbreitung jugendgefährdender Schriften vorgeworfen worden war. I m Beschluß vom 13.1.1988 172 stellt das Bundesverfassungsgericht fest, daß die fachrichterliche Auslegung und Anwendung der einschlägigen Vorschriften des Jugendschutzes dem Grundrecht der Pressefreiheit nicht 171 172
BVerfGE 77, 65 ff. BVerfGE 77, 346 ff.
C. Die Kontrollpraxis des BVerfG
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hinreichend Rechnung getragen habe und an die Kontrollpflicht des Großhändlers unverhältnismäßig hohe Anforderungen gestellt worden seien. Die Sache wurde zur abschließenden Würdigung der Umstände des Einzelfalls an das Strafgericht zurückverwiesen. h) Auch im Kammerbeschluß vom 6. 6. 1988 173 , der die disziplinarische Ahndung einer öffentlichen Meinungsäußerung von Richtern und Staatsanwälten zum Gegenstand hat, nimmt das Bundesverfassungsgericht nicht auf das Merkmal der Eingriffsintensität Bezug. Ob den Beschwerdeführern wegen der Veröffentlichung einer Anzeige unter der Überschrift „35 Richter und Staatsanwälte ... gegen Raketenstationierung" eine Verletzung von Dienstpflichten vorgeworfen werden könne, sei eine Frage der Auslegung und Anwendung einfachen Rechts. Das Bundesverfassungsgericht prüfe nur, ob die zuständigen Verwaltungsgerichte dabei spezifisches Verfassungsrecht verletzt hätten. Die verfassungsrechtlichen Vorgaben für die einfachrechtliche Rechtsfindung werden dabei abschließend bestimmt, ohne daß das Bundesverfassungsgericht im Ergebnis Anlaß zur Korrektur des angegriffenen Urteils sieht. i) In ähnlicher Weise geht das Gericht im Kammerbeschluß vom 4.10. 1988 174 vor. Der Beschwerdeführer, der ehemalige Datenschutzbeauftragte des Bundes, hatte in einer wissenschaftlichen Veröffentlichung Äußerungen des damaligen Präsidenten des Bundeskriminalamtes wiedergegeben, die diesen als uneingeschränkten Befürworter der Rasterfahndung erscheinen ließen. Vor den Zivilgerichten war ihm die Verbreitung der entsprechenden Textpassagen als unrichtige Tatsachenbehauptung letztinstanzlich untersagt worden, ohne daß dabei eine erschöpfende Zuordnung der grundrechtlich geschützten Interessen erfolgt wäre. Ohne Rückgriff auf das Maß der Eingriffsintensität stellt das Bundesverfassungsgericht die fehlende Erfolgsaussicht der Verfassungsbeschwerde fest. Schon im Regelfall verdiene eine unwahre Tatsachenbehauptung keinen verfassungsrechtlichen Schutz. Das gelte um so mehr, wenn sie in das allgemeine Persönlichkeitsrecht der zitierten Person eingreife und der Beschwerdeführer sein Anliegen auch in anderer Weise hätte zum Ausdruck bringen können. Es sei verfassungsrechtlich untersagt, die eigene Interpretation einer Äußerung eines anderen als wörtliche Äußerung dieser Person darzustellen, selbst wenn sie der Interpretierende für inkonsequent oder nicht nachvollziehbar hält. Damit werden die verfassungsrechtlichen Maßgaben für die Streitentscheidung wiederum abschließend durch das Bundesverfassungsgericht selbst konkretisiert.
173 174
BVerfG DVB1. 1988, 782 ff. BVerfG NJW 1989, 1789 f.
60
1. Kap.: Eingriffsintensität in Rechtsprechung und Literatur
I I I . Zwischenergebnisse und Kritik der Rechtsprechung zu Art. 5 GG 1. Die Grundkonzeption Das in den Beschlüssen vom 11.5.1976 entwickelte dreistufige Kontrollmodell fand in relativ hohem Maße Eingang in die zu Art. 5 Abs. 1 und Abs. 3 GG ergangenen Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts. Ihm liegt die bereits im Patent-Beschluß175 verfolgte Unterscheidung von Kontrollmaßstab und Kontrolldichte zugrunde. Nunmehr soll sich die verfassungsgerichtliche Kontrolle allerdings nicht mehr grundsätzlich auf die Korrektur gravierender Fehler des Fachgerichts bei der Auslegung und Anwendung von Verfassungsrecht beschränken, sondern wird in ihrer Intensität anhand der Schwere der durch die angegriffene Entscheidung bewirkten Beeinträchtigung der Grundrechtssphäre des Beschwerdeführers abgestuft. Die dieser Verknüpfung von Kontrolldichte und Eingriffsintensität zugrundeliegenden normativen Prämissen werden in der Rechtsprechung nur unzulänglich erkennbar. Auch in der auf die Leitentscheidungen vom 11. 5. 1976 folgenden Judikatur bleibt offen, welchen Bezug das Gericht zwischen den für nachhaltige Grundrechtseingriffe geforderten ,,strengere[n] Anforderungen ... an die Begründung dieses Eingriffs" 176 und der Dichte seiner Kontrolle im Rahmen der Urteilsverfassungsbesch werde herzustellen beabsichtigt. Allerdings deutet der wiederholte Rückgriff auf den Patent-Beschluß darauf hin, daß das Merkmal der Eingriffsintensität den dort für die Festlegung des Umfangs der verfassungsgerichtlichen Kontrolle postulierten Ermessensspielraum ausfüllen soll. Nahm das Bundesverfassungsgericht die Kompetenz zur flexibelen Handhabung der Kontrolldichte im Patent-Beschluß unter Hinweis auf seine Rechtsschutzfunktion und die Notwendigkeit einer fallbezogenen Begrenzung seiner Entscheidungstätigkeit in Anspruch, legt das die Annahme nahe, daß es sich nunmehr auch bei dem Merkmal der Eingriffsintensität um einen funktionsrechtlich begründeten Maßstab handeln soll. 177 2. Der Anwendungsbereich des Merkmals der Eingriffsintensität Das Merkmal der Eingriffsintensität wurde zunächst im Rahmen der Überprüfung zivilgerichtlicher Urteile entwickelt und fand bei der Kontrolle der die Abgrenzung der Rechtssphäre der Bürger untereinander betreffenden Entscheidungen auch durchweg Berücksichtigung. Hingegen unterblieb ein Bezug zur Eingriffsintensität regelmäßig bei der verfassungsrechtlichen Beurteilung von Rechtsbeziehungen zwischen Grund175 176 177
Auf BVerfGE 18, 85, 93 Bezug nehmend vor allem BVerfGE 42, 143, 148. BVerfGE 42, 143, 149. Dazu bereits oben C I 3.
C. Die Kontrollpraxis des BVerfG
61
rechtsträgern und Staat. 178 Einzig im Kammerbeschluß vom 15. 7.1987 1 7 9 wird das Merkmal der Eingriffsintensität zur Festlegung der Kontrolldichte auch gegenüber einer verwaltungsgerichtlichen Entscheidung herangezogen. I m übrigen sah sich das Bundesverfassungsgericht offenbar — insbesondere im Hinblick auf die Durchsetzung des Übermaßverbots — zu grundsätzlich unbeschränkter Nachprüfung berufen 180 , ohne eine Begründung für diese — teilweise bereits vor Einführung des Merkmals der Eingriffsintensität anklingende 1 8 1 — Differenzierung erkennen zu lassen. Als gänzlich uneinheitlich stellt sich die Kontrollpraxis gegenüber strafgerichtlichen Entscheidungen dar. Im Flugblatt-Beschluß, der Entscheidung zum „anachronistischen Zug '80" und im Karikatur-Fall legt das Bundesverfassungsgericht bei der Festlegung der jeweils gebotenen Kontrolldichte das dreistufige Kontrollmodell des DGB-Beschlusses zugrunde. 182 Auch in diesen Fällen war allerdings — im Rahmen der Anwendung der §§ 185ff. StGB durch die Strafgerichte — die Gewichtung und Zuordnung zweier grundrechtlich geschützter Individualrechtspositionen zu beurteilen; die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts hatten deshalb—wie die zu zivilrechtlichen Streitigkeiten ergangenen Beschlüsse vom 11. 5. 1976 — vornehmlich die richtige Bestimmung der Grenzen der Rechtssphäre der Bürger untereinander zum Gegenstand. Im Chiffreanzeigen-Fall 183 hingegen, in dem es um die Beurteilung eines auf die Sicherung der Funktionsfahigkeit der Rechtspflege gerichteten, also die staatliche Interessensphäre schützenden Eingriffs ging, wird die dem Beschwerdeführer auferlegte Ordnungsstrafe uneingeschränkt auf ihre Vereinbarkeit mit dem Übermaßverbot überprüft. Ebenso wie bei der Nachprüfung disziplinarund standesrechtlicher Strafmaßnahmen 184 bleibt das Merkmal der Eingriffsintensität hier unerwähnt. Gleiches gilt für den Beschluß zur Einschränkung der Pressefreiheit durch Vorschriften des Jugendschutzes.185 Schließlich nimmt das Bundesverfassungsgericht auch die bei der verfassungsrechtlichen Würdigung der Beschlagnahme des ZDF-Filmmaterials 186 erforderliche Abwägung zwi178
Vgl. BVerfGE44,197ff.; 46,17ff.; 64,108ff.; 71,162ff.; 77,65,81; s. auch BVerfGE 47, 198 ff.; 69, 257 ff.; zu den Besonderheiten bei der Kontrolle strafgerichtlicher Entscheidungen s. sogleich. 179 BVerfG NJW 1988, 328 f. — anachronistischer Zug '79 —. 180 Bei den das Staat-Bürger-Verhältnis betreffenden Entscheidungen zu Art. 5 Abs. 1 und 3 GG wird auf das Merkmal der Eingriffsintensität nur im Sondervotum des Richters Hirsch — BVerfGE 44, 197, 210 — Bezug genommen. 181 Dazu oben Β IV. 182 BVerfGE 43,130,135 f.; 67,213,222 f.; 75,369,376; dazu im einzelnen oben II 1 a, d, e. 183 BVerfGE 64, 108 ff.; dazu oben II 3 d. 184 BVerfGE 44, 197ff.; 71, 162ff; BVerfG DVB1. 1988, 782, 783 (Kammer). 185 BVerfGE 77, 346, 359; dazu oben II 3 g. 186 BVerfGE 77, 65, 81 ff.; dazu oben II 3 f.
62
1. Kap.: Eingriffsintensität in Rechtsprechung und Literatur
sehen staatlichen Interessen und den Belangen der Fernsehanstalt ohne Hinweis auf eine Korrelation von Kontrolldichte und Eingriffsintensität selbst vor. Aber auch die sich damit andeutende Unterscheidung nach der Rechtsnatur der das streitige Rechtsverhältnis regelnden unterverfassungsrechtlichen Rechtssätze hat sich in der Rechtsprechung nicht uneingeschränkt durchgesetzt. So wird das Merkmal der Eingriffsintensität auch im Beschluß zum Herrnburger-Bericht 187 und im Hessenlöwe-Fall 188 zur Bestimmung der Kontrolldichte herangezogen, obwohl dort über die Anwendung einer die staatliche Ordnung schützenden Strafrechtsnorm und damit über die richtige Zuordnung von staatlicher und privater Interessensphäre zu entscheiden war. 3. Die zur Feststellung der Eingriffsintensität Fallgruppen
im Einzelfall
gebildeten
Das Bundesverfassungsgericht geht von einer mehrfachen Stufung der Eingriffsintensität aus. Das Maß der grundrechtlichen Betroffenheit im Einzelfall wird aufgrund eigener Wertungen des Gerichts bestimmt. Es lassen sich insoweit Erwägungen zu Art und Ausmaß der Betroffenheit des Beschwerdeführers von Prognosen über die Auswirkung der Entscheidung auf das künftige Verhalten auch anderer Grundrechtsträger unterscheiden. 189 Auf derartige „generalpräventive" Gesichtspunkte hat sich das Gericht allerdings in keinem Falle ausschließlich oder auch nur vorrangig gestützt. Gelegentlich wird bei der Bestimmung des Maßes der Eingriffsintensität auch auf die besondere Bedeutung des betroffenen Grundrechts hingewiesen.190 Allgemeingültige Maßstäbe für die Feststellung der Intensität der mit der angegriffenen Entscheidung für den Beschwerdeführer jeweils verbundenen Nachteile nennt das Bundesverfassungsgericht nicht. Es unterscheidet lediglich zwischen Beschränkungen, die den „Kern" des geschützten Rechts und anderen, die das Grundrecht lediglich „am Rande" betreffen. 191 Die dabei zugrundegelegten Kriterien lassen sich nur durch eine Gegenüberstellung sachverhaltsähnlicher Konstellationen und damit fallgruppenweise ermitteln. Als Fälle von hoher Eingriffsintensität wurden bestimmt: — das Verbot der Äußerung bestimmter Gedankeninhalte, im Gegensatz zur Untersagung der Wiederholung bestimmter Formulierungen; 192 187
BVerfGE 77, 240, 250f.; dazu oben II lf. BVerfG NJW 1985, 263 f.; vgl. oben II 2 e. 189 Zu letzterem etwa BVerfGE 43, 130, 136; 67, 213, 223; vgl. auch bereits Rupp-v. Brünneck, diss, op., in: BVerfGE 42, 143, 156. 190 So BVerfGE 42, 163, 169 zum hohen Rang der Meinungsfreiheit als eines die freiheitlich demokratische Staatsordnung schlechthin konstituierenden Grundrechts; BVerfGE 67, 213, 223 zur Kunstfreiheit. 191 Vgl. BVerfGE 42, 163, 169; 43, 130, 136; 54, 208, 216. 192 BVerfGE 42, 143, 149f.; 42, 163, 168f.; 61, 1, 6; BVerfG NJW 1985, 263f. 188
C. Die Kontrollpraxis des BVerfG
63
— die Abweisung der Unterlassungsklage gegen die Verbreitung einer Publikation, die die Vertraulichkeit der Redaktionsarbeit empfindlich beeinträchtigt, im Gegensatz zu Veröffentlichungen, die die Vertraulichkeit in geringerem Maße betreffen; 193 — nachträgliche, an eine Meinungsäußerung geknüpfte Sanktionen, insbesondere wenn sie — wie die Verurteilung zu einem Schmerzensgeld — mit einem subjektiven Schuldvorwurf verbunden sind, aber auch Verurteilungen zum Widerruf, im Gegensatz zur schlichten Untersagung künftiger Äußerungen; 194 — strafrechtliche Verurteilungen, jedenfalls bei Vorliegen weiterer qualifizierender Umstände wie der Gefahr negativer Auswirkungen auf die künftige Wahrnehmung des betreffenden Grundrechts durch Dritte. 1 9 5 Für die Bestimmung des Grades der individuellen Betroffenheit sind demnach im wesentlichen zwei Kriterien maßgeblich: die Schwere der den Beschwerdeführer treffenden Sanktion und das Maß der damit verbundenen Minderung der grundrechtlich geregelten Freiheit. 4. Die grundsätzliche
Korrelation
von Eingriffsintensität
und Kontrolldichte
Stellt man den den Fachgerichten bei der verfassungsgerichtlichen Überprüfung eingeräumten Auslegungs- und Abwägungsspielraum und die zur Eingriffsintensität getroffenen Feststellungen des Bundesverfassungsgerichts gegenüber, läßt sich, bezogen auf die Kontrolle der rechtlichen Erwägungen des angegriffenen Urteils 1 9 6 , jedenfalls im Grundsatz eine Korrelation beider Größen erkennen. So stellt das Bundesverfassungsgericht etwa in den Fällen „Echternach" und „Kunstkritik" ausdrücklich fest, daß das Fachgericht an die Zulässigkeit der geäußerten öffentlichen Kritik überhöhte Anforderungen gestellt habe und die Äußerungen der Beschwerdeführer nicht an die in der angegriffenen Entscheidung aufgestellten Voraussetzungen gebunden werden durften. Hier bleibt für eine Aufrechterhaltung des — als eingriffsintensiv qualifizierten — fachgerichtlichen Verbots der jeweiligen Meinungsäußerung kein Raum. Gleiches gilt nach der im Wallraff-Beschluß geäußerten Kritik an der vom BGH zum ersten Klageantrag vorgenommenen Gewichtung der konfligierenden Interessen. Auch im Karikatur-Fall trifft das Bundesverfassungsgericht die abschließende Bewertung selbst, wonach eine die Menschenwürde beeinträchtigende Darstellung auch im Wege der Güterabwägung nicht als verfassungsrechtlich unbedenklich beurteilt werden könne. 193
BVerfGE 66, 116, 131 f., 143 f. BVerfGE 42, 143, 151; 54, 129, 135f. 195 Vgl. BVerfGE 43, 130, 136; 67, 213, 223; 75, 369, 376; 77, 240, 250; BVerfG NJW 1985, 263 f. 196 Zur Kontrolle der Tatsachenfeststellung s. unten 7. 194
64
1. Kap.: Eingriffsintensität in Rechtsprechung und Literatur
Demgegenüber wird in Fällen geringer Eingriffsintensität — wie etwa im DGB-Beschluß — die Abwägung der grundrechtlich geschützten Güter weitgehend dem Fachgericht überlassen oder bleibt — wie bei der Entscheidung zum Arbeitsschutz der Rundfunkmitarbeiter oder der Stellungnahme zum zweiten Klageantrag im Falle „Wallraff' — zumindest die abschließende Würdigung der Umstände des Einzelfalls verfassungsgerichtlich unentschieden. Auch im Kredithai-Fall beläßt das Bundesverfassungsgericht dem O L G nach der Zurückverweisung die Befugnis zur letztverbindlichen Bestimmung der an eine seriöse Presseberichterstattung zu stellenden Anforderungen. In den Fällen „Boykottaufruf', „Schwarzer Sheriff" und „Europawahl" nimmt es die verfassungsrechtlich gebotene Abwägung allerdings trotz Annahme geringer Eingriffsintensität weitgehend oder abschließend selbst vor. 5. Die „Ersetzung der fachgerichtlichen Wertung" höchster Kontrolldichte
als Kennzeichen
a) In Fällen geringer Eingriffsintensität sieht das Bundesverfassungsgericht seine Kontrollkompetenz auf die Korrektur grundlegender Fehleinschätzungen von der Bedeutung der betreffenden Grundrechte für die fachgerichtliche Entscheidungsfindung beschränkt. Auf der zweiten Kontrollstufe sollen die Auslegungsvorgänge des Fachgerichts dagegen auch im Detail auf ihre Vereinbarkeit mit den grundrechtlichen Vorgaben überprüft werden. Insoweit handelt es sich um eine abgestuft ausgeübte „Begründungskontrolle". In Fällen höchster Eingriffsintensität behält sich das Gericht demgegenüber vor, „die von den Zivilgerichten vorgenommene Wertung durch seine eigene zu ersetzen". 197 Seine Kontrolle erstreckt sich damit nicht nur auf die zutreffende Ermittlung der für die fachrichterliche Rechtsfindung maßgeblichen verfassungsrechtlichen Maßstäbe, sondern hat auch das Ergebnis der abschließenden Güterabwägung zum Gegenstand. Es handelt sich insoweit nicht mehr um eine „Begründungs-", sondern um eine „Ergebniskontrolle", bei der das Bundesverfassungsgericht für sich die Befugnis zu einer eigenen, abschließenden Fallentscheidung in Anspruch nimmt. 1 9 8 Zur Unterscheidung der Kontrolle auf erster und zweiter Stufe stellt das Gericht auf das Gewicht des seiner Korrektur jeweils zugänglichen Fehlers bei der Auslegung der einschlägigen Verfassungsnormen ab. Die auf oberster Stufe wahrzunehmende Kontrolle ist hingegen durch eine Erweiterung des Prüfungsgegenstandes gekennzeichnet. Soll hier auch die anhand der richtig bestimmten verfassungsrechtlichen Vorgaben zu treffende abschließende Fallentscheidung der Nachprüfung und Ersetzung durch das Bundesverfassungsgericht unterworfen sein, muß sich das Gericht in Fällen geringerer Eingriffsintensität — so ist im Gegenschluß zu folgern — einer abschließenden Bewertung der im Einzelfall 197 198
So BVerfGE 42, 143, 149. Vgl. BVerfGE 42, 143, 149; vgl. auch BVerfGE 54, 208, 216; 66, 116, 132.
C. Die Kontrollpraxis des BVerfG
65
konfligierenden grundrechtlich geschützten Güter und Interessen enthalten. Die insoweit ausgeübte Kontrolle kann sich nur auf die zutreffende Ermittlung der für die Bewertung gleichgelagerter Kollisionslagen allgemein geltenden verfassungsrechtlichen Maßstäbe und damit auf die vom Fachgericht gebildeten verfassungskonkretisierenden Obersätze beziehen. Die bei höchster Eingriffsintensität gebotene Nachprüfung unterscheidet sich von der im übrigen für angemessen erachteten Kontrolle damit vornehmlich durch das Abstraktionsniveau, auf dem die maßgeblichen fachgerichtlichen Wertungen ersetzt werden können. Indes ist zweifelhaft, ob das Abstraktionsniveau der zu überprüfenden Erwägungen ein praktikables Kriterium zur Trennung verschiedener Stufen unterschiedlicher Kontrolldichte darstellt. Der stärkste vorstellbare Eingriff in die fachgerichtliche Rechtsfindung liegt vor, wenn die zur Entscheidung des Rechtsstreits für maßgeblich erachtete Erwägung korrigiert und dem Fachgericht insoweit kein Spielraum für eine abweichende Auffassung zugebilligt wird. Bei einer juristischen Entscheidungsbegründung ist es indes methodisch nicht vorgegeben, auf welcher Abstraktionsebene die für entscheidungserheblich erachteten Wertungen einfließen. Die Methodenlehre hat bislang keine allgemein anerkannten Regeln dafür entwickelt, auf welche Weise der Rechtsanwender die Annäherung der Norm an den unterbreiteten Sachverhalt zu unternehmen hat. So kann er zwischen abstraktem Rechtssatz und subsumtionsfahiger Entscheidungsnorm 199 normkonkretisierende Obersätze verschiedener Abstraktionshöhe einfügen, kann die gebotenen Differenzierungen aber auch im Wege ausschließlich fallbezogener Gewichtung bei der Gewinnung des Untersatzes vornehmen. 200 Steht es den Gerichten demnach frei, auf welcher Abstraktionsstufe sie die aus ihrer Sicht fallentscheidenden Wertungen in die Rechtsfindung einbringen, können auch die von ihnen aufgestellten entscheidungsleitenden Obersätze bereits das Ergebnis einer fallbezogenen, abschließenden Güterabwägung enthalten. So hatte das O L G in der dem Echternach-Beschluß zugrundeliegenden Entscheidung angenommen, die Zulässigkeit ehrverletzender Kritik setze die Mitteilung von Bezugspunkten tatsächlicher Art voraus, die dem Leser eine Auseinandersetzung und Überprüfung der vorgenommenen Äußerungen ermögliche. 201 Diese — abstrakte — Güterabwägung wurde auch fallentscheidend und läßt sich problemlos als ausschließlich auf den Einzelfall bezogene Wertung formulieren. Gleiches gilt etwa für die vom Bundesverfassungsgericht 199
Zum Begriff der Entscheidungsnorm s. Vorbemerkung Fn. 18. Zum Stand der Methodendiskussion vgl. Larenz, Methodenlehre S. 262ff., 276ff., 298ff; Fikentscher, Methoden IV S. 180ff., 371 ff.; Zippelius, in: FS für Huber S. 143, 149ff.; ders., Methodenlehre S. 65 ff., 90ff.; Engisch, Die Idee der Konkretisierung S. 178 ff.; F. Müller, Methodik S. 168 ff.; zur juristischen Begründungslehre Alexy, Argumentation S. 273ff.; Koch/Rüßmann, Begründungslehre S. 112ff.; vgl. weiter Wank, JuS 1980, 545, 550; Krauß, Prüfung S. 115. 201 BVerfGE 42, 163, 165, 170 f. 200
5 Scherzberg
66
1. Kap.: Eingriffsintensität in Rechtsprechung und Literatur
im Falle „Wallraff" vorgetragene, vom BGH nicht geteilte Überlegung, ein Bruch der Vertraulichkeit der Redaktionsarbeit rechtfertige sich nur bei Aufdeckung gravierender Mißstände im Bereich des kritisierten Presseorgans. Lassen sich die bei der Entscheidungsfindung für maßgeblich erachteten Wertungen grundsätzlich sowohl in die Form generell-abstrakter Entscheidungsregeln kleiden als auch erst im Rahmen einer fallorientierten Betrachtung einführen, ist die Abstraktionshöhe, auf der eine fachgerichtliche Erwägung ersetzt wird, kein geeignetes Kriterium zur Messung der Kontrollintensität. Dies gilt um so mehr, als die Rechtsprechung häufig allgemeine Abwägungsregeln auf der Grundlage einst fallbezogen gewonnener Erkenntnisse entwickelt. War etwa die Notwendigkeit der Berücksichtigung des vorangegangenen Verhaltens eines im öffentlichen Meinungskampf Kritisierten im Schmid/SpiegelBeschluß 202 als fallbezogene Erwägung eingeführt worden, wurde das daraus entwickelte „Recht zum Gegenschlag" in nachfolgenden Urteilen zu einem auch bei nicht intensivierter Kontrolle zu wahrenden allgemeinen Grundsatz. 203 b) Praktische Bedeutung hat die bei höchster Eingriffsintensität geforderte Ergebniskontrolle in der Rechtsprechungspraxis zu Art. 5 GG bislang nicht erlangt. Als Beispiel für eine „Ersetzung der fachgerichtlichen Wertung" wird im DGB-Beschluß lediglich auf das Lebach-Urteil 204 aus dem Jahre 1973 hingewiesen.205 Darin nahm das Bundesverfassungsgericht eine von der fachrichterlichen Einschätzung abweichende Gewichtung der konfligierenden Rechtsgüter vor: eine nicht mehr durch das aktuelle Informationsinteresse gedeckte Berichterstattung über eine schwere Straftat sei unzulässig, wenn sie die Resozialisierung des Täters gefährde. Abgesehen von der Notwendigkeit einer tatsächlichen Würdigung von Art und Ausmaß der durch die beabsichtigte Fernsehsendung bewirkten Gefahrdung der Wiedereingliederung des Täters beließ dieser Rechtssatz für die Entscheidung des Falles keinen weiteren Spielraum. 206 Vor allem bei der auf mittlerer Stufe durchgeführten Kontrolle kam es in der Folgezeit jedoch häufig zu einer ähnlich weitgehenden Ersetzung der fallentscheidenden Erwägungen des Fachgerichts: — Im Wallraff-Beschluß 207 stellt das Bundesverfassungsgericht ausdrücklich ein „Mißverhältnis" in der Gewichtung von Publikationsinteresse des Journalisten einerseits und Eigenwert der Verbindlichkeit des Rechts andererseits fest 202
BVerfGE 12, 113, 130 f. Vgl. BVerfGE 54, 129, 138; 61, 1, 13; 66, 116, 151; 68, 226, 232. 204 BVerfGE 35, 202ff. 205 vgl. BVerfGE 42, 143, 149; vgl. auch — ohne ausdrückliche Bezugnahme — BVerfGE 66, 116, 132. 203
206
238 ff.
Das Bundesverfassungsgericht entschied daher abschließend, vgl. BVerfGE 35,202,
207 BVerfGE 66,116,140, hier hinsichtlich des als eingriffsintensiv eingeschätzten Teils der angegriffenen Entscheidung, vgl. dazu oben II 1 c.
C. Die Kontrollpraxis des BVerfG
67
und begründet dies mit der Notwendigkeit einer verstärkten Berücksichtigung des Unrechtsgehalts der fraglichen Informationsbeschaffung. Damit wird die fallentscheidende Abwägung des Fachgerichts durch eigene Erwägungen des Bundesverfassungsgerichts ersetzt und der Ausgang des Rechtsstreits abschließend determiniert. Im Europawahl-Fall 208 kritisiert das Gericht neben der Tatsachenwürdigung des OLG vor allem die mangelhafte Berücksichtigung der Besonderheiten des politischen Meinungskampfes. Indes hatte das OLG die verfassungsrechtliche Tragweite dieses Gesichtspunkts nicht generell übersehen, sondern lediglich die Grenzen der Meinungsfreiheit insoweit bereits für überschritten gehalten. Die als „Begründungskontrolle" angelegte Überprüfung mündet demnach auch hier in eine Ersetzung der fallbezogenen fachrichterlichen Wertung. Ebenso wird im Karikatur-Fall 2 0 9 das Ergebnis der abschließenden Abwägung einer uneingeschränkten Überprüfung unterzogen. — Auch im Beschluß „Schwarzer Sheriff" 210 — einem Fall geringer Eingriffsintensität — beschränkt sich das Bundesverfassungsgericht nicht auf die Entwicklung der bei der Fallentscheidung zu beachtenden allgemeinen Grundsätze für die Abwägung von Persönlichkeitsrecht und Meinungsfreiheit. Obwohl es sich auch insoweit lediglich zur Korrektur grundlegender Fehleinschätzungen veranlaßt sieht, beläßt es dem Fachgericht bei der Zuordnung der konfligierenden Rechtsgüter keinen Entscheidungsraum, sondern stellt die Unbedenklichkeit der Darstellung des Bewachungsunternehmens durch den Beschwerdeführer ausdrücklich fest und entscheidet den Rechtsstreit damit abschließend selbst. — Im Boykottaufruf-Fall 211 folgt das Bundesverfassungsgericht zwar im Ergebnis der angegriffenen Entscheidung. Trotz geringer Eingriffsintensität nimmt es dabei aber die Befugnis zu einer eigenen Bewertung der Angemessenheit des Ausgleichs der grundrechtlich geschützten Interessen in Anspruch und bezieht auch die fallbezogene Abwägung des Fachgerichts in seine Nachprüfung vollständig ein. Das Bundesverfassungsgericht nimmt fallentscheidende, dem Fachgericht keinen Spielraum belassende Abwägungen also auch im Rahmen lediglich erhöhter und sogar in einigen Fällen geringer Eingriffsintensität vor und ersetzt die aus seiner Sicht unzutreffenden fachgerichtlichen Wertungen unabhängig davon, welches Maß an Abstraktion ihnen zugrundeliegt. Die Unterscheidung von Begründungs- und Ergebniskontrolle erweist sich damit auch nach der bisherigen Rechtsprechungsprajcw als nicht praktikabel. 212 Eine befriedigende 208
BVerfGE 61, 1, 11 ff.; dazu oben II 2 c. BVerfGE 75, 369, 377 ff. 210 BVerfGE 68, 226, 229 ff. 211 BVerfGE 62, 230, 243 ff. 212 Die strikte Unterscheidung von Begründungs- und Ergebniskontrolle wurde auch bereits im Sondervotum des DGB-Beschlusses — allerdings soweit ersichtlich ohne Resonanz in der späteren Rechtsprechung — ausdrücklich kritisiert. Danach sollte sich 209
*
68
1. Kap.: Eingriffsintensität in Rechtsprechung und Literatur
Abgrenzung der in Fällen „hoher" und „höchster" Eingriffsintensität gebotenen Kontrolldichte ist dem Gericht nicht gelungen. 6. Die Unterscheidung „,grundlegender" und „einfacher" Gradmesser der Kontrolldichte
Auslegungsfehler
a) Zur Kennzeichnung der auf erster und zweiter Stufe angemessenen Kontrolldichte stellt das Bundesverfassungsgericht auf die Schwere des seiner Korrektur jeweils zugänglichen Fehlers bei der Ermittlung und Anwendung der einschlägigen verfassungsrechtlichen Maßstäbe ab. Handhabbare Unterscheidungskriterien für die danach erforderliche Qualifizierung des Gewichts eines Verfassungsverstoßes benennt das Gericht nicht. Die Einschätzung der Schwere des jeweiligen Fehlers entzieht sich deshalb weitgehend rationaler Nachprüfung. Die Unterscheidung „grundlegender" und „einfacher" Auslegungsfehler legt lediglich nahe, daß es dabei auf den Grad der Abweichung der Rechtsauffassung des Fachgerichts von derjenigen des Bundesverfassungsgerichts ankommen soll. Geht man von dieser Prämisse aus, läßt sich eine Parallele zu der für die Normenkontrolle entwickelten Unterscheidung von Evidenz-, Vertretbarkeits- und Richtigkeitsprüfung erkennen. 213 Ein „grundlegender" Fehler müßte sich stets auch als „evident" darstellen und das Urteil „nicht mehr vertretbar" auslösen, während ein schlichter Auslegungsfehler nur im Rahmen einer umfassenden Richtigkeitskontrolle korrigiert werden könnte. 2 1 4 Eine derartige Abstufung der Kontrolldichte läßt sich bei den Leitentscheidungen vom 11.5. 1976, die beide ein Verbot von Beiträgen zur öffentlichen Meinungsbildung zum Gegenstand hatten, auch durchaus feststellen. Im DGBBeschluß 215 weist das Bundesverfassungsgericht lediglich auf die Notwendigkeit einer konkreten Abwägung zwischen Ehrschutz und Meinungsfreiheit hin, ohne diese Abwägung selbst vorzunehmen. Es deutet zwar Zweifel an der Angemessenheit des vom Fachgericht hergestellten Ausgleichs der beteiligten Interessen an, nimmt die Einschätzung des Fachgerichts aber nicht zum Anlaß, das angegriffene Urteil aufzuheben. Vergleichbare, ebenfalls nicht als evident verfassungswidrig zu qualifizierende Erwägungen zur Einschränkung der Meinungsfreiheit werden im Echternach-Beschluß 216 hingegen unter Hinweis auf die in diesem Fall höhere Betroffenheit des Beschwerdeführers korrigiert. auch die Begründungskontrolle stets darauf erstrecken, ob die als hinreichend erkannten Erwägungen zum grundrechtlichen Schutzbereich das Entscheidungsergebnis überhaupt tragen können; Rupp-v. Brünneck, diss, op., in: BVerfGE 42,143,155 f.; vgl. bereits dies., diss, op., in: BVerfGE 30, 173, 220; BVerfGE 35, 202, 219. 213 Dazu BVerfGE 50, 290, 333; s. auch BVerfGE 76, 1, 50 ff. 214 So wohl auch Krauß, Prüfung S. 199. 215 BVerfGE 42, 143, 152 f. 216
BVerfGE 42, 163, 170 ff.
als
C. Die Kontrollpraxis des BVerfG
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In der Folgezeit sieht sich das Gericht allerdings verschiedentlich auch in Fällen geringer Eingriffsintensität zur Korrektur lediglich gradueller Auslegungsfehler des Fachgerichts veranlaßt. So soll nach der Entscheidung zum Arbeitnehmerstatus von Rundfunkmitarbeitern 217 die von den Arbeitsgerichten vorgenommene Zuordnung von Arbeitsschutz und Rundfunkfreiheit auf einer grundlegenden Verkennung der Bedeutung des Grundrechts beruhen. Der Streit darüber, ob die Rundfunkfreiheit hier bereits der Annahme unbefristeter Beschäftigungsverhältnisse entgegensteht oder lediglich bei der Anwendung von Kündigungsschutzvorschriften zu beachten ist, deutet aber wohl kaum auf eine grundlegende Meinungsverschiedenheit beider Gerichte über die Reichweite der grundrechtlichen Einwirkung auf das maßgebende Arbeitsrecht hin. 2 1 8 Jedenfalls entspricht der bei der Feststellung der Evidenz des Fehlers angelegte Maßstab nicht dem des DGB-Beschlusses. Auch die Entscheidung zur Europawahl 219 legt eine Gegenüberstellung mit der Kontrolldichte des DGB-Beschlusses nahe. In beiden Fällen ging es um die Beurteilung herabsetzender Äußerungen im Rahmen politischer Auseinandersetzungen. Während die Annahme einer Ehrverletzung im DGB-Beschluß keiner Überprüfung unterzogen wurde, stellt das Bundesverfassungsgericht im Europawahl-Fall ausdrücklich fest, daß das OLG dem Charakter der Äußerung als Beitrag zum politischen Meinungskampf nicht den zutreffenden Stellenwert beigemessen habe. Dabei läßt sich auch insoweit kaum von einer evidenten Verkennung der maßgeblichen verfassungsrechtlichen Maßstäbe sprechen, hatte das OLG doch lediglich die Genzen der Zulässigkeit derartiger Wahlkampfbeiträge enger gezogen und bereits für überschritten gehalten. Im Fall „Schwarzer Sheriff' 2 2 0 wird schließlich entscheidungserheblich, daß das Fachgericht den zeitkritischen Aspekt der fraglichen Darstellung gegenüber ihrem kommerziellen Zweck bei seiner Güterabwägung vernachlässigt hatte. Auf der Grundlage einer entsprechenden eigenen Tatsachenwürdigung nimmt das Bundesverfassungsgericht auch hier die abschließende Güterabwägung selbst vor, obwohl sich die vom OLG vorgenommene Gewichtung kommerzieller und gesellschaftskritischer Zwecke der Darstellung kaum als unvertretbar bezeichnen lassen dürfte. Während also im DGB-Beschluß ein unzutreffender oder jedenfalls für bedenklich erachteter Ausgleich der betroffenen Grundrechtsgüter nicht zur Annahme eines grundlegenden Auslegungsfehlers führte, wird bei den Entscheidungen zum Arbeitsschutz und zur Europawahl auch ein nur graduell abweichendes Abwägungsergebnis als gravierende Fehleinschätzung der einschlägigen verfassungsrechtlichen Maßstäbe korrigiert. Aus der Sicht des Europawahl217 218 219 220
BVerfGE 59, 231, 268 ff. So auch Krauß, Prüfung S. 218. BVerfGE 61, 1, 7 ff. BVerfGE 68, 226, 229 ff.; dazu oben II 2f.
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1. Kap.: Eingriffsintensität in Rechtsprechung und Literatur
Beschlusses hätte auch im DGB-Fall Anlaß zum Eingreifen des Bundesverfassungsgerichts bestanden, vom Standpunkt der DGB-Entscheidung hätte es im Europawahl-Beschluß einer Entscheidung bedurft, ob durch das fachgerichtliche Urteil die Untersagung lediglich einer bestimmten Formulierung oder auch ein Verbot der Meinungsäußerung als solcher ausgesprochen werden sollte. Auch die Entscheidung „Schwarzer Sheriff deutet auf eine allmähliche Verschärfung der verfassungsgerichtlichen Kontrolle hin und läßt es fraglich erscheinen, ob sich das Bundesverfassungsgericht bei der Unterscheidung der Kontrollstufen allein am Grad der Abweichung der Erörterungen des Fachgerichts von seiner eigenen Rechtsauffassung und damit an der Schwere oder Evidenz des Auslegungsfehlers orientiert. b) Dies gilt um so mehr, wenn man den zu Fällen geringer Eingriffsintensität ergangenen Beschlüssen einige Beispiele für die auf zweiter Stufe durchgeführte Kontrolle gegenüberstellt. Dabei lassen sich kaum Unterschiede im Gewicht des jeweils korrigierten Fehlers feststellen. So wertet es das Bundesverfassungsgericht als einfachen Auslegungsfehler, daß das Fachgericht — im Fall „Echternach" die Zulässigkeit ehrverletzender Äußerungen an die gleichzeitige Mitteilung von Tatsachen gebunden hatte, die dem Leser eine kritische Beurteilung der Wertung ermöglichen, — im Kunstkritik-Beschluß das „Recht zum Gegenschlag" nur bei gegenseitigen Diffamierungen im politischen Meinungskampf gewähren wollte und damit den grundrechtlichen Schutz auch der Form einer Äußerung verkannt hatte und — im Fall „Wallraff" dem Anliegen des Journalisten ein zu hohes und dem Unrechtsgehalt der Beschaffung der Information ein zu geringes Gewicht beigemessen hatte; demgegenüber soll es eine grundlegende Verkennung der grundgesetzlichen Einwirkung darstellen, daß das Fachgericht — bei der Abwägung zwischen Rundfunkfreiheit und sozialstaatlichem Arbeitsschutz einen Ausgleich vornahm, der eine Begrenzung der arbeitsrechtlichen Grundsätze durch die Rundfunkfreiheit erst bei der Anwendung von Kündigungsmöglichkeiten und nicht bereits bei der Entscheidung über den Arbeitnehmerstatus vorsah, — im Europawahl-Fall in der Benennung der CSU als „ N P D von Europa" eine den Bereich zulässiger Wahlkampfmethoden überschreitende Wertung der Partei als verfassungsfeindlich und rechtsradikal sah, damit aber dem Schutz von Äußerungen im politischen Meinungskampf nicht den zutreffenden Stellenwert zukommen ließ und — im Kredithai-Fall eine durchgängige Differenzierung zwischen seriösen und unseriösen Kreditvermittlern für nötig hielt und ein Recht auf die verwandte scharfe Sprache im Hinblick darauf verneinte, daß das klagende Unternehmen zu kritischer Beurteilung keinen Anlaß gegeben hatte.
C. Die Kontrollpraxis des BVerfG
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c) Einige Entscheidungen lassen demgegenüber auf eine andere „Gesetzmäßigkeit" schließen, die die Anknüpfung an die Schwere der Fehleinschätzung bei der Unterscheidung der auf erster und zweiter Kontrollstufe gebotenen Nachprüfung im Laufe der Rechtsprechungsentwicklung überlagert haben könnte. In den auf den DGB-Beschluß folgenden Entscheidungen konnte das Bundesverfassungsgericht zunehmend auf allgemeine, in der vorangehenden Rechtsprechungspraxis herausgearbeitete Grundsätze zur Bewertung der Schutzwürdigkeit einer Grundrechtsausübung oder zur Abwägung gegenläufiger Grundrechtspositionen zurückgreifen. So wiederholt es im BoykottaufrufFall seine im Lüth- und Blinkfüer-Urteil entwickelte Auffassung zu Voraussetzungen und Grenzen einer Boykottaufforderung und weist im KredithaiBeschluß, zum letzten Klageantrag des Falles „Wallraff '' oder im EuropawahlFall auf die Besonderheiten des Grundrechtsschutzes für Beiträge zum öffentlichen Meinungskampf hin. Im Fall „Schwarzer Sheriff" bezieht es sich auf das zuvor entwickelte „Recht zum Gegenschlag", dem ausgesetzt sei, wer durch vorangehendes Verhalten zu einem abwertenden Urteil Anlaß gegeben habe. I m Karikatur-Beschluß greift es auf die in der Entscheidung zum anachronistischen Zug '80 entwickelten Grundsätze zur Abwägung von Kunstfreiheit und Persönlichkeitsrecht zurück. Diese im Laufe der Rechtsprechungsentwicklung herausgebildeten allgemeinen Regeln für die Lösung bestimmter, häufig wiederkehrender Grundrechtskonflikte bezieht das Bundesverfassungsgericht uneingeschränkt auch in die auf erster Stufe vorgenommene Überprüfung ein. Unter den soeben genannten Entscheidungen finden sich deshalb einige der markantesten Beispiele für die bei geringer Eingriffsintensität festzustellende Verschärfung der verfassungsgerichtlichen Kontrolle. Das Bundesverfassungsgericht beschränkt sich insoweit nicht auf die Korrektur gravierender Fehleinschätzungen der entwickelten Kollisionsregeln, sondern wertet jede Verkennung der sich daraus für den Einzelfall ergebenden Folgerungen bereits als grundlegenden, seine Eingriffsbefugnis auslösenden Fehler. Dies läßt sich nicht nur anhand seiner abweichenden Bewertung der Grenzen des politischen Meinungskampfes im Europawahl-Fall 221 und der Korrektur der vom Fachgericht an die Zulässigkeit von Presseveröffentlichungen gestellten Anforderungen im Kredithai-Fall 222 erweisen. Auch im Beschluß zum „Boykottaufruf 4 2 2 3 legt das Bundesverfassungsgericht eine eigene, abweichende Entscheidungsbegründung vor, ohne daß die Erwägungen des Fachgerichts als „evident" unzutreffend bezeichnet werden konnten. Sie waren indes insoweit unvollständig, als der BGH die vom Bundesverfassungsgericht entwickelten 221 222 223
Vgl. BVerfGE 61, 1, 13. Vgl. BVerfGE 60, 234, 240, 242 f. BVerfGE 62, 230, 245 ff.; dazu oben II 2 d.
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1. Kap.: Eingriffsintensität in Rechtsprechung und Literatur
Besonderheiten des Grundrechtsschutzes für Beiträge zu einer den öffentlichen Meinungskampf betreffenden Frage offenbar nur am Rande erwähnt hatte. Es finden sich daher deutliche Hinweise dafür, daß sich das Bundesverfassungsgericht bei der Feststellung der Voraussetzungen seines Eingreifens nicht nur an der Schwere der Abweichung der im angegriffenen Urteil geäußerten Rechtsauffassung von seiner eigenen Einschätzung orientiert, sondern vornehmlich auf das Maß der Konkretisierung abstellt, die die jeweils einschlägigen verfassungsrechtlichen Bewertungsmaßstäbe in der vorangehenden Rechtsprechungsentwicklung gefunden haben. Je mehr sich das Bundesverfassungsgericht für seine abweichende Bewertung der Schutzwürdigkeit der konkreten Grundrechtsausübung auf präjudizielle Entscheidungen zu stützen vermag, desto eher besteht die Neigung, auch bei lediglich gradueller Abweichung eine grundlegende Verkennung der einschlägigen verfassungsrechtlichen Maßstäbe zu behaupten. 7. Eingriffsintensität und Tatsachenkontrolle Ließen sich im Rahmen der Rechtskontrolle Anhaltspunkte für eine grundsätzliche Korrelation von Eingriffsintensität und Kontrolldichte aufzeigen, erweist sich die Entscheidungspraxis im Hinblick auf die Kontrolle von Tatsachenfeststellung und -Würdigung als weitaus weniger einheitlich. Die Unsicherheiten der Rechtsprechung werden bereits bei der abstrakten Umschreibung der Reichweite der verfassungsgerichtlichen Kontrolle erkennbar. Sah das Bundesverfassungsgericht im Patent-Beschluß noch „Feststellung und Würdigung des Tatbestandes" der Nachprüfung „entzogen" 224 , soll dies nach der Formulierung im Flugblatt-Fall nunmehr nur „grundsätzlich" gelten. 225 Nach dem Beschluß zum „anachronistischen Zug '80" ist die „Schwelle eines Verstoßes gegen objektives Verfassungsrecht, den das Bundesverfassungsgericht zu korrigieren hat" dagegen bereits erreicht, wenn die überprüfte Entscheidung „Fehler bei der Tatsachenfeststellung" erkennen läßt, die auf einer „grundsätzlich unrichtigen Auffassung" von der Bedeutung eines Grundrechts beruhen. 226 In einzelnen Fällen geringer Eingriffsintensität geht das Gericht tatsächlich von einer eingeschränkten Überprüfbarkeit der Tatsachenfeststellungen aus und legt die Ausführungen des Fachgerichts bei seiner Entscheidung ausdrücklich zugrunde. 227 Auf eine Abstufung der Kontrolldichte anhand der Eingriffsintensität deutet es ferner hin, wenn der Erste Senat im DGB-Beschluß der Würdigung der verbotenen Äußerung durch das Fachgericht als Tatsachenbehauptung trotz Bedenken nicht entgegentritt 228 , während eine vergleichbare 224 225 226 227 228
BVerfGE 18, 85, 92. BVerfGE 43, 130, 135; vgl. bereits BVerfGE 1, 418, 420; dazu oben Β II. BVerfGE 67, 213, 223. S. BVerfGE 62, 230, 243; 66, 116, 151. BVerfGE 42, 143, 152.
C. Die Kontrollpraxis des BVerfG
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Fehleinschätzung des Aussagegehalts eines Presseartikels im Falle „Echternach" und die einseitige Interpretation eines Kunstwerks im Fall „anachronistischer Zug '80" zur Korrektur der Sachverhaltswürdigung führt. 2 2 9 Ebenso wird die Befugnis zur Kontrolle der fachgerichtlichen Einschätzung einer herabsetzenden Meinungsäußerung als Schmähkritik im Beschluß vom 13. 5. 1980 230 — einem Fall hoher Eingriffsintensität — bejaht, ein Eingriff anläßlich einer der als nicht gravierend eingestuften Beeinträchtigungen im Falle „Wallraff" hingegegen vermieden. 231 In anderen Entscheidungen läßt sich ein solcher Zusammenhang von Eingriffsschwere und Kontrollintensität hingegen nicht erweisen. So kritisiert das Bundesverfassungsgericht im Kredithai-Fall 232 trotz Annahme geringer Eingriffsintensität die Qualifizierung der rufschädigenden Äußerungen als Formalbeleidigung und nimmt eine eigene Würdigung der mit ihnen verbundenen Zwecksetzung vor. Im Gegensatz zum DGB-Beschluß sieht es im Falle „Wallraff" 2 3 3 die Beurteilung der umstrittenen Äußerung als Tatsachenbehauptung und im Europawahl-Beschluß 234 auch ihre Einschätzung als Schmähkritik als eine auf der Ebene des Verfassungsrechts zu entscheidende, seiner Prüfung unterliegende Frage an. Erst seine insoweit abweichende tatsächliche Würdigung eröffnet ihm hier den Zugang zu der vom Fachgericht — aus seiner Sicht folgerichtig — unterlassenen Berücksichtigung der Besonderheiten des politischen Meinungskampfes. Ebenso hält sich das Bundesverfassungsgericht auch bei der als nicht eingriffsintensiv eingeschätzten Verurteilung im Fall „Schwarzer Sheriff zu einer eigenen Würdigung der Zwecke des Postkartenvertriebs befugt und bewertet dessen kommerzielle Komponente als gegenüber der Meinungskundgabe nachrangig. 235 Auch in diesem Fall ermöglicht erst die abweichende Tatsachenwürdigung die aus seiner Sicht gebotene Korrektur der fachgerichtlichen Güterabwägung. Zu einem Eingriff in die Tatsachenerhebungen der Fachgerichte kam es in den letztgenannten Fällen also auch dann, wenn das Fachgericht die aus Sicht des Bundesverfassungsgerichts entscheidungserheblichen Gesichtspunkte nicht untersucht oder diese unzutreffend gewürdigt hatte. 2 3 6 Dies deutet darauf hin, daß sich das Bundesverfassungsgericht stets zur Kontrolle derjenigen Tatsachenfeststellungen berechtigt sieht, die für die 229
BVerfGE 42, 163, 171 f.; 67, 213, 228 ff. BVerfGE 54, 129, 137 f. 231 BVerfGE 66, 116, 151. 232 BVerfGE 60, 234, 239 ff. 233 Zum 4. Klageantrag vgl. BVerfGE 66, 116, 149 f. 234 BVerfGE 61, 1, 7 ff. 235 BVerfGE 68, 226, 232 f. 236 Ähnlich die Feststellungen Steinwedels zu der bis zum DGB-Beschluß gängigen Kontrollpraxis, vgl. ders., Spezifisches Verfassungsrecht S. 175, 179, 182f. 230
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1. Kap.: Eingriffsintensität in Rechtsprechung und Literatur
Subsumtion unter die seiner Kontrolle auf der jeweiligen Kontrollstufe zugänglichen materiellrechtlichen Entscheidungsvorgaben erforderlich sind. Sollen Erhebung und Würdigung des Sachverhalts der verfassungsgerichtlichen Korrektur insoweit in vollem Umfang unterliegen, wird dem Merkmal der Eingriffsintensität für den Bereich der Tatsachenkontrolle keine eigenständige Bedeutung zuerkannt. Dieser Befund wird auch durch die Behandlung der das Staat-BürgerVerhältnis betreffenden Streitigkeiten bestätigt. Hier nimmt das Bundesverfassungsgericht — wie gezeigt — vielfach eine umfassende Kontrollkompetenz in Anspruch. Dem entspricht es, daß sich das Gericht auch insoweit unbeschränkt zu eigenen tatsächlichen Erwägungen 237 und zu einer Ersetzung der fachrichterlichen Sachverhaltswürdigung 238 befugt sieht. IV. Verifikation der Ergebnisse anhand der übrigen Rechtsprechung Das Merkmal der Eingriffsintensität hat auch außerhalb der zu Art. 5 GG ergangenen Rechtsprechung Eingang in die verfassungsgerichtliche Praxis gefunden. Das Fallmaterial ist hier allerdings weit weniger homogen. Sachverhaltsähnliche Konstellationen, die einen Vergleich der jeweiligen Kontrolldichte erlaubten und an denen sich Entwicklungslinien aufzeigen ließen, finden sich nur vereinzelt. Eine umfassende Darstellung der Entscheidungspraxis des Bundesverfassungsgerichts verspräche daher keinen Ertrag. Ihre Wiedergabe wird deshalb auf diejenigen Fälle beschränkt, an denen sich die im Rahmen der Rechtsprechung zu Art. 5 GG vorgefundenen Tendenzen bestätigen oder widerlegen lassen. 1. Der Anwendungsbereich des Merkmals der Eingriffsintensität a) Während das Bundesverfassungsgericht den Umfang seiner Kompetenz zur Überprüfung zivilgerichtlicher Urteile überwiegend anhand der Intensität der grundrechtlichen Betroffenheit des Beschwerdeführers bestimmt 239 , bleibt das Merkmal der Eingriffsintensität bei der Kontrolle strafgerichtlicher Judikate weitgehend unberücksichtigt. Dies gilt für die zum Strafprozeß- und -vollstreckungsrecht ergangenen wie auch für die die Auslegung und Anwendung des materiellen Strafrechts betreffenden Entscheidungen. 240 237
Vgl. etwa BVerfGE 46, 17, 27 f. S. etwa BVerfGE 69, 257, 269ff.; BVerfGE 71, 162, 181 f. 239 Vgl. etwa BVerfGE 54, 148, 151 f.; 54, 208, 215; 55,171, 181; 60, 79, 90f.; 68, 176, 190; 68, 256, 270; 72, 122, 138; 75, 201, 221; BVerfG EuGRZ 1988, 529, 533; unklar BVerfGE 73, 261, 269; es finden sich allerdings auch einige Entscheidungen, die ohne Hinweis auf das Merkmal der Eingriffsintensität an die im Patent-Beschluß begründete, restriktive Kontrollformel anknüpfen, vgl. etwa BVerfGE 52, 131, 166; 56, 363, 394; 68, 361, 372; BVerfG NJW 1989, 969f.; BVerfG NJW 1989, 970, 971 und 972f. 238
C. Die Kontrollpraxis des BVerfG
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Stellvertretend für diese sei nur auf das Sitzblockaden-Urteil des Ersten Senats vom 11. 11. 1986 verwiesen. 241 Hier kam es nach der die Entscheidung tragenden Auffassung auf die Verfassungsmäßigkeit der Auslegung und Anwendung der Verwerflichkeitsklausel des § 240 Abs. 2 StGB durch die Strafgerichte an. Einigkeit besteht im Senat darüber, daß diese Klausel als Ausdruck des verfassungsrechtlichen Verbots übermäßigen Strafens 242 nicht durch ein weites Verständnis des Merkmals der „Gewalt" in § 240 Abs. 1 StGB und die Anerkennung seiner indiziellen Bedeutung für die Rechtswidrigkeit der Tat gem. § 240 Abs. 2 StGB unterlaufen werden dürfe. Inwieweit das Bundesverfassungsgericht die zur Feststellung der Verwerflichkeit demnach gebotene Abwägung von Zwecken und Mittel der Blockadeaktionen einer verfassungsrechtlichen Überprüfung unterziehen darf, bleibt dagegen umstritten. Die die Entscheidung tragende Auffassung beruft sich auf „die ständige Rechtsprechung" des Gerichts, wonach Auslegung und Anwendung verfassungsrechtlich unbedenklicher Vorschriften des einfachen Rechts nur auf Auslegungsfehler zu überprüfen seien, die auf einer grundsätzlich unrichtigen Auffassung von der Bedeutung eines Grundrechts beruhen. 243 Das Bundesverfassungsgericht könne den Strafgerichten deshalb keine bestimmte Abwägung vorschreiben. Die vier anderen Richter befürworten hingegen — ebenfalls ohne Hinweis auf die mit einer strafgerichtlichen Verurteilung verbundene hohe Eingriffsintensität 244 —eine intensivere Kontrolle und halten eine Einbeziehung auch der von den Demonstranten verfolgten Fernziele in die vom Übermaßverbot geforderte Abwägung für geboten. 245 Auch bei den übrigen das Staat-Bürger-Verhältnis betreffenden Streitigkeiten findet das Merkmal der Eingriffsintensität überwiegend keine Berücksichtigung. So nimmt das Bundesverfassungsgericht die Kontrolle der zutreffenden Beachtung der Einwirkung der Grundrechte auf die die Handlungspflichten oder Eingriffsbefugnisse des Staates gegenüber dem Bürger regelnden Normen etwa des Steuerrechts 246, des zivilprozessualen Vollstreckungsrechts 247 und des Ausländerrechts 248 sowie auf die den Schutz von Ehe und Familie 2 4 9 , die 240
S. etwa BVerfGE 42,229, 232ff.; 44, 353, 372ff.; 47, 239, 246, 248; 48,118,124; 51, 324, 345ff.; 53,152,158ff.; 64, 261, 280ff.; 72,105,114f.; 73, 206, 239ff.; 74, 257, 259ff.; 74, 358, 369ff.; 76, 211, 215 ff.; 76, 363, 388 ff.; 77,1, 57ff.; 78, 391, 395ff.; BVerfG NJW 1988, 2945 (Kammer). 241 BVerfGE 73, 206ff.; fortgeführt in BVerfGE 76, 211, 215ff. 242 Zum Verhältnis von Schuldgrundsatz und Übermaßverbot BVerfGE 73, 206, 253 unter Hinweis auf BVerfGE 50, 205, 215. 243 BVerfGE 73, 206, 260. 244 Grundlegend BVerfGE 43, 130, 135 ff. 245 BVerfGE 73, 206, 257 ff. 246 BVerfGE 42, 374, 384; 48, 102, 114ff. 247 BVerfGE 52, 214, 219f.; 75, 318, 326ff.; 76, 83, 88ff. 248 BVerfGE 49,168,184ff.; 50,166,174; 51, 386,396ff.; 74, 51, 56ff.; 76,143,161 f.; s. auch BVerfGE 76, 1, 50 ff. und BVerfG DVB1. 1989, 712, 713, wo zur Bestimmung der
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1. Kap.: Eingriffsintensität in Rechtsprechung und Literatur
Berufsfreiheit 250 oder das Eigentumsrecht 251 betreffenden Vorschriften regelmäßig ohne Hinweis auf einen Zusammenhang von Kontrolldichte und Betroffenheitsintensität vor. 2 5 2 Die fachgerichtlichen Entscheidungen werden vielfach — insbesondere im Anwendungsbereich des Übermaßverbots — einer umfassenden Kontrolle unterzogen, bei der den Fachgerichten häufig nur ein geringer Entscheidungsspielraum etwa bei der abschließenden Würdigung der tatsächlichen Umstände des Einzelfalls verbleibt. 253 Die Rechtsprechungspraxis ist allerdings recht uneinheitlich. Aber auch soweit das Bundesverfassungsgericht in Anlehnung an den Patent-Beschluß zwischen Kontrollmaßstab und Kontrolldichte unterscheidet und seine Korrektur auf eine grundsätzlich unrichtige Anschauung von der Bedeutung der betroffenen Grundrechte 254 oder auf die bei der Abwägung zugrundegelegten Bewertungsmaßstäbe 255 beschränkt, nimmt es auch in Fällen eindeutig hoher Eingriffsintensität keine Verschärfung seiner Nachprüfung im Sinne des im DGB-Beschluß entwickelten Kontrollmodells vor. 2 5 6 b) Dies könnte wiederum die Folgerung nahelegen, das Bundesverfassungsgericht begrenze den Anwendungsbereich des Merkmals der Eingriffsintensität auf Streitigkeiten, die die Abgrenzung der Rechtssphäre der Bürger untereinander betreffen. Dem stehen jedoch eine Reihe abweichender Entscheidungen entgegen. So nimmt das Gericht vor allem bei den das Recht der elterlichen Sorge betreffenden Beschlüssen durchweg auf das Maß der Betroffenheit des Beschwerdeführers Bezug. 257 Zwar steht auch in diesen Fällen stets die EntscheiKontrolldichte zwar auf „Rang und Bedeutung" des betroffenen Grundrechtsgutes abgestellt wird, das Maß der Eingriffsintensität aber gleichfalls außer Betracht bleibt. 249 BVerfGE 52, 223, 254; 61, 18, 25; 74, 244, 250ff.; 76, 126, 128ff. 250 BVerfGE 43,34,45f.; 43,79,89ff.; 43,291,376; 44,105,122; 54,173,196ff.; 59,172, 211; 65, 116, 129f.; 66, 337, 366 ff.; 72, 26, 32ff. 251 BVerfGE 55, 249, 260f.; BVerfG NJW 1989, 1271, 1272f. 252 Das Merkmal der Eingriffsintensität findet nur bei Hirsch, diss, op., in: BVerfGE 57, 170, 193 Berücksichtigung. 253 Vgl. etwa BVerfGE 42,229,232ff.; 43,291,376; 44,353,372 ff.; 48,118,124; 49,168, 184ff.; 51, 324, 349ff.; 52, 214, 219ff.; 53, 152, 158ff.; 59,172, 211 ff.; 64, 261, 280ff.; 66, 337, 366ff.; 72, 26, 32ff; 74, 244, 250ff.; 74, 257, 261 f.; 78, 391, 395ff. 254 Vgl. BVerfGE 42,374, 384; 45,422,429f.; 57,170,177f.; 61,18,25; 65,116,129; 72, 105, 115. 255 So BVerfGE 76, 363, 389; 77, 1, 59f.; BVerfG NJW 1988, 2945 (Kammer). 256 Vgl. etwa BVerfGE 72,105,115ff.: Aussetzung einer Strafvollstreckung gegenüber einem bereits 87 Jahre alten und 22 Jahre inhaftierten Gefangenen; BVerfGE 76, 363, 389: Anordnung von Beugehaft; BVerfGE 45, 422, 429f.: Amtsenthebung eines Notars; BVerfGE 57, 170, 177f.: Briefkontrolle in Untersuchungshaft; krit. zur geringen Kontrolldichte hier Hirsch, diss, op., in: BVerfGE 57, 170, 193. 257 BVerfGE 55,171,181; 60, 79, 90f.; 68,176,190; 72,122,138; 75,201, 221; BVerfG EuGRZ 1988, 529, 533.
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C. Die Kontrollpraxis des BVerfG
dung eines Zivilgerichts zu beurteilen. Indes handelt es sich bei der zu überprüfenden Entscheidung über die Übertragung oder den Entzug des elterlichen Sorgerechts um die Ausübung von Hoheitsgewalt, so daß der Rückgriff auf die Eingriffsintensität zur Bestimmung der Kontrolldichte insoweit auf eine Ausdehnung des Anwendungsbereichs dieses Merkmals hindeutet. Eine das Staat-Bürger-Verhältnis betreffende Streitigkeit war auch im Mühlheim-Kärlich-Beschluß vom 20.12.1979 zu beurteilen. 258 Hier ging es um den Umfang der Vorwirkungen des Grundrechtsschutzes für das atomrechtliche Genehmigungsverfahren. Das Bundesverfassungsgericht hält auch in diesem Fall eine Abstufung der Kontrolldichte anhand der Intensität der gerügten Grundrechtsbeeinträchtigung grundsätzlich für geboten und verneint einen Fall hoher Grundrechtsbetroffenheit unter Hinweis darauf, daß der Betroffene bei einer im Eilverfahren ergangenen Entscheidung seine Rechte zunächst im Verfahren der Hauptsache weiterverfolgen könne. 259 2. Die Bestimmung der Eingriffsintensität
im Einzelfall
Zu einer differenzierten Einschätzung der individuellen Grundrechtsbetroffenheit kam es in zwei am 3. 6.1980 ergangenen Beschlüssen des Ersten Senats. Im Falle „Eppler" 2 6 0 fühlte sich der Beschwerdeführer durch eine von politischen Gegnern verbreitete Musterrede in seinem personalen Achtungsanspruch beeinträchtigt und behauptete, die ihm dabei in den Mund gelegte Äußerung, man müsse die Belastbarkeit der Wirtschaft prüfen, habe er weder wörtlich noch sinngemäß jemals abgegeben. Die Abweisung seiner Unterlassungsklage vor den Zivilgerichten gibt dem Bundesverfassungsgericht keinen Anlaß zu intensivierter Kontrolle. Im Falle „ B o l l " 2 6 1 war dem Beschwerdeführer in einem Fernsehkommentar unter Bezugnahme auf einige wörtliche Zitate der Vorwurf geistiger Miturheberschaft des Terrorismus gemacht worden. Hier hält das Bundesverfassungsgericht die Grundrechtssphäre durch die Abweisung seines Schmerzensgeldbegehrens für nachhaltig betroffen und weist zur Begründung auf die diskriminierende Wirkung der angeblichen Zitate und die besondere Breitenwirkung des Fernsehens hin. Stellt man beide Sachverhalte gegeneinander, erscheint die Annahme unterschiedlicher Eingriffsintensität angesichts der verstärkten Öffentlichkeitswirkung und des erheblich ehrverletzenden Charakters der Vorwürfe im 258
BVerfGE 53, 30, 61 f. BVerfGE 53, 30, 62; abw. insoweit Simon/Heußner, diss, op., in: BVerfGE 53, 30, 69, 79; vgl. auch BVerfGE 69, 315, 364 f. 260 BVerfGE 54, 148 ff. 259
261
BVerfGE 54, 208 ff.
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1. Kap.: Eingriffsintensität in Rechtsprechung und Literatur
Falle „Boll" durchaus nachvollziehbar. 262 Zugleich wird damit deutlich, daß es für eine zutreffende Beurteilung der grundrechtlichen Betroffenheit im Einzelfall stets einer Gesamtbetrachtung aller die Grundrechtssphäre berührenden Umstände bedarf. Ausdrücklich nennt das Gericht das „sachliche Gewicht der vom Beschwerdeführer geltend gemachten Grundrechtsverletzungen" als Grundlage für die Bemessung der Eingriffsintensität. Dabei kommt es, wie insbesondere der Eppler-Beschluß nahelegt, auch für die Bestimmung der Schwere eines Eingriffs in das allgemeine Persönlichkeitsrecht auf eine vom subjektiven Empfinden des Betroffenen losgelöste, objektivierende Betrachtung an. Auch bei den zum Elternrecht ergangenen Entscheidungen kam es zu unterschiedlichen Einschätzungen der Betroffenheit der jeweiligen Beschwerdeführer. Einen Fall hoher Eingriffsintensität nimmt das Bundesverfassungsgericht bei einer nach Scheidung des Beschwerdeführers getroffenen Sorgerechtsentscheidung an, die diesem unter Hinweis auf seine mangelhafte Eignung zur Kindeserziehung die elterliche Gewalt über sein Kind entzogen hatte. 263 Dabei wird auf das Lebach-Urteil sowie auf den DGB- und den Echternach-Beschluß verwiesen, so daß die Vermutung naheliegt, daß das Gericht auch die Annahme eines Falles höchster Eingriffsintensität nicht ausschließt. 264 Der Ausschluß des Umgangsrechts eines Vaters mit seinem nichtehelichen Kind gibt dem Gericht im Urteil vom 24.3.1981 265 demgegenüber keinen Anlaß zu intensiverer Nachprüfung. Das Bundesverfassungsgericht folgt hier offenbar der vom Gesetzgeber in § 1711 BGB getroffenen und verfassungsrechtlich nicht beanstandeten Grundentscheidung, wonach dem Umgangsinteresse des Vaters ein gegenüber möglichen Gefahrdungen des Kindeswohls geringeres Gewicht zukommt. Einen Fall hoher Eingriffsintensität hält es dagegen im Beschluß vom 17.2.1982 266 bei Entzug der elterlichen Sorge für ein eheliches Kind für gegeben. Dabei handele es sich um den stärksten vorstellbaren Eingriff in das Elternrecht, der in gleicher Intensität auch das Kind selbst treffe. Der erstmaligen Trennung von Eltern und Kind wird im Beschluß vom 17. 10. 1984 die Anordnung des Verbleibs eines Kindes bei seinen Pflegeeltern gleichgesetzt.267 Auch eine gegen den Willen des Kindes verfügte Herausgabe von einer Pflege- an eine Adoptivfamilie soll wegen der „existenziellen Bedeutung" dieser Entscheidung für die Zukunft des Kindes einen Fall hoher Eingriffsintensität begründen. 268 262
Zustimmend auch Krauß, Prüfung S. 203 ff. BVerfGE 55, 171, 181. 264 Das Lebach-Urteil wurde im DGB-Beschluß als Fall höchster Eingriffsintensität benannt; vgl. BVerfGE 42, 143, 149. 265 BVerfGE 56, 363, 394. 266 BVerfGE 60, 79, 91 ff.; ebenso BVerfGE 68, 176, 187. 267 BVerfGE 68,176,187,190; vgl. auch BVerfGE 72,122,138: hohe Eingriffsintensität bei der Anordnung des Verbleibs im Familien verbünd. 263
C. Die Kontrollpraxis des BVerfG
79
3. Die zweifache Abstufung der Kontrolldichte Auch außerhalb der Art. 5 GG betreffenden Entscheidungen geht das Bundesverfassungsgericht grundsätzlich von dem im DGB-Beschluß entwickelten dreistufigen Kontrollmodell aus. Neben der Korrektur einer grundsätzlichen Verkennung grundrechtlicher Vorgaben 269 und der Berücksichtigung auch einzelner Auslegungsfehler 270 nennt es — etwa im Falle Boll 2 7 1 — die vollständige Ersetzung der fachgerichtlichen Entscheidung als weitestgehende Eingriffsmodalität. 272 In der Praxis läßt sich diese zweifache Abstufung wiederum nicht verifizieren. So soll es sich etwa im Böll-Beschluß um eine Kontrolle auf mittlerer Stufe handeln. Tatsächlich folgt der einleitenden Erörterung zum Prüfungsumfang indes eine umfassende eigene Güterabwägung des Gerichts. Meinungsfreiheit und allgemeines Persönlichkeitsrecht werden dahingehend abgewogen, daß die Wiedergabe einer vertretbaren Interpretation mehrdeutiger Äußerungen des Kritisierten die Angabe voraussetzt, daß es sich um eine Interpretation des Kritikers handelt. Damit ist eine abschließende Bewertung des Falles erfolgt. 273 Zwar läßt das Gericht bei seiner Zurückverweisung an den BGH ausdrücklich offen, ob nunmehr eine Verletzung des Persönlichkeitsrechts Bolls anzunehmen ist. Da in den Urteilsgründen aber ausdrücklich festgestellt wird, daß sich jede falsche Wiedergabe von Äußerungen als Verletzung des Grundrechts des Kritisierten darstellt, und das Bundesverfassungsgericht zugleich die Qualifikation der Äußerungen als „richtig" durch das Fachgericht als verfassungsrechtlich nicht haltbar zurückweist, verbleibt dem Fachgericht kein Entscheidungsspielraum. Auch in den Entscheidungen zum elterlichen Sorgerecht legt das Bundesverfassungsgerichts das dreistufige Kontrollmodell des DGB-Beschlusses im Ergebnis nicht zugrunde. So geht es im Beschluß vom 17. 2. 1982 274 zwar vom Vorliegen des „stärkste(n) vorstellbare(n) Eingriffs) in das Elternrecht" aus, erwähnt die Möglichkeit einer Ersetzung der fachgerichtlichen Entscheidung aber nicht und setzt die angegriffenen Beschlüsse lediglich einer „auch einzelne Auslegungsfehler" einbeziehenden Kontrolle aus. Auch die Beschlüsse vom 18. 6.1986,14. 4.1987 und 12.10.1988 275 enthalten trotz des Hinweises auf die für die Zukunft des Kindes „existenzielle(n) Bedeutung" der angegriffenen Sorge268
BVerfG EuGRZ 1988, 529, 533. Vgl. etwa BVerfGE 54, 148, 151 f.; 56, 363, 394. 270 Vgl. etwa BVerfGE 54, 208, 216 f. 271 BVerfGE 54, 208, 216. 272 Vgl. auch BVerfGE 53, 30, 61 f. 273 Dazu Lincke, EuGRZ 1986, 60, 71; s. auch jüngst BVerfG NJW 1989, 1789 (Kammer). 274 BVerfGE 60, 79, 91. 275 BVerfGE 72, 122, 138 f.; 75, 201, 221 f.; BVerfG EuGRZ 1988, 529, 533. 269
80
1. Kap.: Eingriffsintensität in Rechtsprechung und Literatur
rechtsentscheidung eine derartige, auf mittlerer Stufe verbleibende Nachprüfung. Dennoch nimmt das Gericht in der erstgenannten Entscheidung wiederum die Tatsachenwürdigung und die abschließende Güterabwägung selbst vor. Das angegriffene Urteil habe die verfassungsrechtlichen Anforderungen an Einschränkungen des elterlichen Sorgerechts gem. §§ 1666, 1666 a BGB verkannt. Eine Trennung des Kindes von seinen Eltern könne nur bei schwerwiegendem Fehlverhalten der Eltern und einer akuten und erheblichen Gefährdung des Kindeswohls verfassungsrechtlich gerechtfertigt sein. Abweichend von der fachgerichtlichen Einschätzung geht das Bundesverfassungsgericht angesichts des bisherigen Verhaltens der Eltern davon aus, daß der Erfolg milderer Mittel nicht ausgeschlossen sei. Sieht man von der dem OLG eröffneten Möglichkeit zu zusätzlicher Tatsachenfeststellung ab, kommt die Zurückverweisung einer Ersetzung der angegriffenen Entscheidung gleich. Gleiches gilt für den Beschluß vom 14. 4.1987. 276 Auch hier kritisiert das Bundesverfassungsgericht nicht nur die Rechtsanwendung des Fachgerichts, sondern wendet sich auch gegen die tatsächliche Würdigung der Umstände des Einzelfalls und stellt ihr seine eigene Einschätzung entgegen. 4. Die Verschärfung
der auf erster Stufe ausgeübten Kontrolle
Außerhalb der zu Art. 5 G G ergangenen Entscheidungen erlauben vor allem die sachverhaltsähnlichen Fälle „ B o l l " 2 7 7 und „Eppler" 2 7 8 eine Gegenüberstellung der auf erster und zweiter Stufe ausgeübten Kontrolle. In beiden Beschlüssen war darüber zu entscheiden, inwieweit die Beschwerdeführer über das von ihnen durch Zitate gezeichnete Persönlichkeitsbild selbst bestimmen durften. Während es im Böll-Beschluß um eine konkrete mehrdeutige Äußerung ging, die in einer einseitigen Interpretation des Kritikers zitiert wurde, hatte die Beweiswürdigung des OLG im Falle „Eppler" ergeben, daß sich verschiedene Äußerungen des Beschwerdeführers im Sinne des Zitats verstehen ließen, so daß dieses zwar nicht wörtlich, aber doch in der Sache den Standpunkt des Beschwerdeführers zutreffend wiedergab. Nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts umfaßt das allgemeine Persönlichkeitsrecht auch den Schutz gegen das Unterschieben nicht getaner Äußerungen. Ein Zitat müsse stets die einwandfreie Wiedergabe des Geäußerten darstellen. Damit ist insoweit eine abschließende Zuordnung der Reichweite von Persönlichkeitsschutz und Freiheit der Meinungsäußerung vorgenommen. Im Böll-Beschluß wird es demgemäß als ein nur bei intensiver Nachprüfung feststellbarer, einfacher Auslegungsfehler korrigiert, daß die Wiedergabe der 276 277 278
BVerfGE 75, 201, 221 ff. BVerfGE 54, 208 ff. BVerfGE 54, 148 ff.
81
C. Die Kontrollpraxis des BVerfG
mehrdeutigen Äußerungen nicht unter den Vorbehalt einer Verdeutlichung des interpretativen Charakters der Zitate gestellt worden war. Aber auch im gleichzeitig entschiedenen Fall „Eppler" legt das Bundesverfassungsgericht — wenn auch in einem obiter dictum — die gewonnene Verfassungskonkretisierung uneingeschränkt zugrunde und kritisiert, daß sich das OLG bei der Beurteilung der Richtigkeit der unterstellten Äußerung nicht ausschließlich an dem vom Beschwerdeführer selbst entworfenen Persönlichkeitsbild orientiert habe. Die Abwägung zwischen Persönlichkeitsrecht und Meinungsfreiheit wird damit auch hier abschließend durch das Bundesverfassungsgericht selbst vorgenommen. Auch der Eppler-Beschluß läßt sich insoweit als Hinweis auf die bereits festgestellte Verschärfung der Kontrolldichte auf der ersten Kontrollstufe werten. Wie im Rahmen der zu Art. 5 GG ergangenen Entscheidungen wird auch hier die Neigung des Bundesverfassungsgerichts erkennbar, die im Zuge der Verfassungsentwicklung gewonnenen Konkretisierungen der einschlägigen Verfassungsvorgaben unabhängig von der Eingriffsintensität in vollem Umfang seiner Nachprüfung zugrunde zu legen. V. Zusammenfassung und Ergebnis Die Anknüpfung der verfassungsgerichtlichen Kontrolle an die Intensität der grundrechtlichen Betroffenheit des Beschwerdeführers stellt den bislang letzten Versuch des Bundesverfassungsgerichts dar, einen allgemeingültigen Maßstab für die Reichweite seiner Kontrollbefugnis gegenüber der Fachgerichtsbarkeit zu entwickeln. Das Gericht unterscheidet zunächst drei Kontrollstufen und knüpft zu ihrer Kennzeichnung an die Schwere des zu berichtigenden Auslegungsfehlers und den Abstraktionsgrad der einer Korrektur zugänglichen Erwägungen an. Die diesem Konzept im Grundsatz folgende Rechtsprechung bietet kein einheitliches Bild. Einerseits ist bei einer Vielzahl von Entscheidungen das Bemühen um die Fortführung des im DGB-Beschluß entwickelten Kontrollmodells festzustellen. Anderseits läßt die neuere Entscheidungspraxis einige Entwicklungen erkennen, die mit dem ursprünglichen Ansatz des Bundesverfassungsgerichts nicht zu vereinbaren sind. 1. Die Voraussetzungen einer Verknüpfung Eingriffsintensität und Kontrolldichte
von
Dies betrifft zunächst den Anwendungsbereich des Merkmals der Eingriffsintensität. Als ein kompetenzieller, auf Wahrung des Rechtsschutzauftrags von Fach- und Verfassungsgerichtsbarkeit zielender Maßstab müßte es die Kontrolldichte unabhängig von der Rechtsnatur der zu entscheidenden Streitigkeit steuern und damit einheitlich für die Überprüfung zivil-, straf- und verwaltungsgerichtlicher Entscheidungen gelten. 6 Scherzberg
82
1. Kap.: Eingriffsintensität in Rechtsprechung und Literatur
Das Bundesverfassungsgericht zieht das Merkmal der Eingriffsintensität als Maßstab zur Bestimmung seiner Kontrollkompetenz indes nahezu ausnahmslos bei Entscheidungen heran, die die Abgrenzung der Rechtssphäre der Bürger untereinander betreffen. Verwaltungs- und überwiegend auch strafgerichtliche Judikate, die über die durch das Übermaßverbot geprägten Rechtsbeziehungen zwischen Staat und Bürger befinden, werden demgegenüber ohne Rücksicht auf die Intensität der grundrechtlichen Betroffenheit des Beschwerdeführers einer meist vollständigen, gelegentlich allerdings auch eingeschränkten Kontrolle ihrer Vereinbarkeit mit dem Grundgesetz unterzogen. Einen ausdrücklichen Bezug zwischen Eingriffsintensität und Kontrolldichte stellt das Gericht allerdings auch im Mühlheim-Kärlich-Beschluß her, der einen das Staat-Bürger-Verhältnis betreffenden Rechtsstreit zum Gegenstand hatte. Dabei lag indes eine besondere Konstellation zugrunde. Die Grundrechte des Beschwerdeführers waren hier nicht in ihrer abwehrrechtlichen Funktion betroffen. Es ging vielmehr um die Einwirkung ihres sog "objektivrechtlichen" Gehalts auf die Auslegung von Verfahrensregeln, die der Gesetzgeber in Erfüllung grundrechtlicher Schutzpflichten erlassen hatte. 279 Vergegenwärtigt man sich, daß die nach Maßgabe der Eingriffsintensität überprüften zivil- und strafrechtlichen Entscheidungen regelmäßig die Zuordnung der Rechtssphäre der Bürger untereinander zum Gegenstand hatten und insoweit ebenfalls der „objektiven" Regelungskomponente der Grundrechte unterlagen, legt dies die Vermutung nahe, daß das Bundesverfassungsgericht den Anwendungsbereich des Merkmals der Eingriffsintensität nicht nach Maßgabe der Rechtsnatur der zu beurteilenden Streitigkeit, sondern anhand der als Kontrollmaßstab einschlägigen Vorgaben bestimmt und bei der Bestimmung der angemessenen Kontrolldichte danach unterscheidet, ob die Grundrechte in ihrer Funktion als Abwehrrechte oder in ihrer Eigenschaft als „objektive" Wertund Steuerungsvorgaben zugrunde zu legen sind. Eine solche These läßt sich vor allem anhand der zum Elternrecht ergangenen Beschlüsse belegen. Bei der richterlichen Entscheidung über das Sorgerecht handelt es sich zwar um die Ausübung von Staatsgewalt. Das dem Staat in Art. 6 Abs. 2 S. 2 GG zugewiesene „Wächteramt" dient jedoch nicht der Verfolgung originär staatlicher Interessen, sondern zielt auf die Wahrung der in Art. 6 Abs. 2 S. 1 G G konstituierten, am Wohl des Kindes zu orientierenden „Elternverantwortung". 280 Die vom Zivilgericht zu treffende Entscheidung hat demnach lediglich die sachgerechte Abgrenzung von Elternrecht und Kindeswohl zum Gegenstand. 281 Damit ist auch hier der verfassungsrechtlich vorgesehene Ausgleich innergesellschaftlicher Interessen herzustellen und eine — nach 279
77.
280 281
Vgl. BVerfGE 53, 30, 57 sowie Simon/Heußner, diss, op., in: BVerfGE 53, 30, 71, Ausführlich Erichsen, Elternrecht S. 47 ff. Vgl. etwa BVerfGE 68, 176, 191 f.; 72, 122, 138 f.
C. Die Kontrollpraxis des BVerfG
83
Auffassung des Bundesverfassungsgerichts — lediglich „mittelbarer Grundrechtsgeltung" unterliegende Rechtsbeziehung zwischen Bürgern zu regeln. 282 Daß das Bundesverfassungsgericht abweichend vom Regelfall einer die Ausübung von Hoheitsgewalt betreffenden Streitigkeit gerade in diesen Fällen eine Verknüpfung von Eingriffsintensität und Kontrolldichte vornimmt, bietet einen deutlichen Anhaltspunkt dafür, daß es einen Zusammenhang zwischen Eingriffsintensität und Kontrolldichte stets, aber auch nur dann herstellt, wenn die Bedeutung des „objektivrechtlichen" Grundrechtsgehalts auf das streitige Rechtsverhältnis zu entfalten ist. 2 8 3 Diesen Befund zugrundegelegt, kommt dem Merkmal der Eingriffsintensität entgegen den Verlautbarungen der Rechtsprechung regelmäßig keine Doppelfunktion zu. 2 8 4 Geht man davon aus, daß grundsätzlich nur die zwischen Staat und Bürger bestehenden Rechtsbeziehungen durch die strikten Anforderungen der Äquivalenz von Zweck und Mittel aus dem Übermaßverbot geprägt sind 2 8 5 und sich damit inhaltlich nach Maßgabe der Eingriffsintensität gestalten 286 , findet die Eingriffsintensität als kompetenzielles Kriterium gerade dort Anwendung, wo sie als materiellrechtlicher Entscheidungsmaßstab nicht heranzuziehen ist. 2. Die Vereinfachung
des Kontrollmodells
Auch im Hinblick auf die Abstufungen der Kontrolldichte und die zur Charakterisierung der Kontrollstufen genannten Kriterien läßt die Rechtsprechungspraxis erhebliche Abweichungen vom ursprünglichen Konzept des Bundesverfassungsgerichts erkennen. Zwar unterscheidet das Gericht im Anschluß an den DGB-Beschluß auch in der Folgezeit gelegentlich zwischen einer auf die „grundlegende Verkennung" der grundrechtlichen Vorgaben beschränkten Kontrolle, der auch „einzelne Auslegungsfehler" einschließenden Nachprüfung und der „vollständigen Ersetzung" des fachgerichtlichen Abwägungsergebnisses. Eine Kontrolle auf der letztgenannten obersten Stufe übt das Bundesverfassungsgericht indes auch 282
Vgl. Erichsen, Elternrecht S. 17. In diese Richtung weist auch BVerfGE 76,143,161 f., wo — in einem obiter dictum — eine Einschränkung der Dichte der verfassungsgerichtlichen Kontrolle auf die Korrektur lediglich einer grundsätzlich unrichtigen Anschauung von der Bedeutung der Grundrechte — an die die Intensitätsformel ja anknüpft — auf Fälle beschränkt wird, in denen die Ausstrahlungswirkung der Grundrechte als Kontrollmaßstab herangezogen wird. . 2 8 4 Vgl. eingangs Vorbemerkung B. 285 So BVerfGE 30, 173, 199; s. auch unten 3. Kapitel Β II 5; anders für einzelne Sachbereiche BVerfGE 32, 311, 318; 35,202,232; 59,231,270; 68,361, 373; damit ist aber wohl keine generelle Geltung des Übermaßverbots zwischen Privaten behauptet, vgl. etwa BVerfGE 66, 116, 135, dazu bereits oben Β III 1 b bb (3). 286 Dazu eingangs Vorbemerkung B. 283
6*
84
1. Kap.: Eingriffsintensität in Rechtsprechung und Literatur
dann nicht aus, wenn es die angegriffene Entscheidung als stärksten möglichen Eingriff in das betroffene Grundrecht charakterisiert. Zugleich findet eine vollständige oder sehr weitgehende Ersetzung der fachrichterlichen Würdigung der Umstände des Einzelfalls aber auch bei einer Reihe von Sachverhalten mit mittlerer Eingriffsintensität statt. Das läßt sich als Anhaltspunkt dafür werten, daß das Gericht das im DGB-Beschluß entwickelte dreistufige Kontrollmodell nicht mehr aufrechterhält und nur noch zwischen der uneingeschränkten und einer auf grundlegende Auslegungsfehler beschränkten Nachprüfung differenziert. Soweit das Gericht zur Unterscheidung der auf erster und zweiter Stufe gebotenen Kontrollintensität auf die Schwere des der Korrektur jeweils zugänglichen Fehlers des Fachgerichts abstellt, wird ein Kriterium verwandt, das sich objektiver Analyse weitgehend entzieht. Bei der gebotenen Vorsicht bestehen aber auch insoweit Zweifel an der Fortführung des ursprünglichen Ansatzes. Eine Reihe von Entscheidungen, die trotz Annahme geringer Eingriffsintensität einen weitgehenden Eingriff in die fachrichterliche Abwägung aufweisen, deuten darauf hin, daß sich das Gericht zumindest auch vom Maß der Konkretisierung leiten läßt, die die zur Beurteilung der Schutzwürdigkeit der betreffenden Grundrechtsausübung einschlägigen verfassungsrechtlichen Vorgaben im Laufe der Rechtsprechungsentwicklung erfahren haben, und insoweit nicht nur eine gravierende, sondern jegliche Abweichung von den sich daraus für den Einzelfall ergebenden Folgerungen korrigiert. Damit ist eine allmähliche Verschärfung der auf erster Stufe ausgeübten Kontrolle verbunden. 3. Die Akzessorietät der Tat Sachenkontrolle Während sich im Rahmen der Kontrolle der rechtlichen Erwägungen des Fachgerichts im Grundsatz eine Korrelation von grundrechtlicher Betroffenheit und Kontrolldichte erkennen ließ, bestehen für den Bereich der Tatsachenkontrolle erhebliche Zweifel an einem solchen Zusammenhang. Hier orientiert sich das Bundesverfassungsgericht vielfach an der Reichweite seiner Rechtskontrolle und unterzieht die Sachverhaltswürdigung des Fachgerichts auch in Fällen geringer Eingriffsintensität bereits dann einer vollständigen Überprüfung, wenn erst der Eingriff in die Tatsachenfeststellung eine zutreffende Subsumtion unter die aus seiner Sicht maßgeblichen — und seiner rechtlichen Kontrolle zugänglichen — materiellrechtlichen Vorgaben ermöglicht. 4. Die Anknüpfung an die Eingriffsintensität als Mittel zur Kompensation fehlender Maßstäbe für die Bestimmung der Grenzen materiell-grundrechtlicher Steuerung im Bereich des „objektiven" Freiheits- und Rechtsgüterschutzes Wird das Merkmal der Eingriffsintensität im wesentlichen bei der Rechtskontrolle und insoweit nahezu ausschließlich bei der Nachprüfung anhand der „objektivrechtlichen" Regelungskomponente der einschlägigen Grundrechte
C. Die Kontrollpraxis des BVerfG
85
verwandt, ist es damit auf Sachverhalte bezogen, über deren verfassungsrechtliche Determinierung besondere Unklarheit herrscht. Auf Unsicherheiten über die „Dichte" der grundrechtlichen „Ausstrahlung" auf die Rechtsanwendung weist vor allem die bereits zitierte Äußerung im Wallraff-Beschluß hin, wonach der Einwirkung der Grundrechte auf privatrechtliche Streitigkeiten „unter Umständen engere Grenzen gezogen sein" könnten als ihrer Bedeutung als Abwehrrechte gegenüber staatlichen Eingriffen. 287 Das Fehlen eindeutiger Maßstäbe für die Bestimmung der grundrechtlichen Regelungskraft wird auch erkennbar, wenn das Gericht im DGB-Beschluß ausdrücklich darauf hinweist, daß es im Grundgesetz nicht vorgeschrieben sei, „wie die „richtige" Lösung einer bürgerlich-rechtlichen Streitigkeit konkret auszusehen h a t " 2 8 8 , während es die Anwendung der §§ 823, 1004 BGB bereits im Echternach-Beschluß weitgehend durch verfassungsrechtliche Wertungen determiniert sieht. Besteht ein Bedürfnis zur Abstufung der Kontrolldichte anhand der Eingriffsintensität demnach offenbar vor allem dort, wo Unklarheit über das Ausmaß der normativen Bindungskraft des Grundgesetzes als Handlungsmaßstab herrscht, wird damit eine der Wurzeln des im DGB-Beschluß entwickelten Kontrollmodells erkennbar. Dabei ist zunächst zu vergegenwärtigen, daß sich das Bundesverfassungsgericht kompetenziell auf die Kontrolle der Einhaltung verfassungsrechtlicher Vorgaben beschränkt sieht. Fehlen im Anwendungsbereich des „objektivgrundrechtlichen" Freiheits- und Rechtsgüterschutzes jedoch bislang sichere Maßstäbe zur Feststellung der Grenzen der grundrechtlichen Einwirkung auf die einfachrechtliche Rechtslage, lassen sich verfassungsrechtliche und einfachrechtliche Komponente der Rechtsfindung hier nicht mit Bestimmtheit unterscheiden. Sind die Grenzen der verfassungsgerichtlichen Kontrolle aber auf der Ebene des materiellen Verfassungsrechts nicht befriedigend bestimmbar, liegt es nahe, sich bei der Entwicklung von Kriterien zur Sicherung von Rationalität und Vorhersehbarkeit der Nachprüfung aus dem Bereich des materiellen Rechts zu lösen. Die Einführung einer zweiten argumentativen Ebene, der der Kontrolldichte, und die Abstufung der Kontrolldichte anhand der Eingriffsintensität kompensieren dergestalt den Mangel an allgemeingültigen Maßstäben zur Feststellung des Ausmaßes der verfassungsrechtlichen Steuerung der einfachrechtlichen Streitentscheidung. Ob diese Vorgehensweise indes mit dem dem Bundesverfassungsgericht in §§ 90 ff. BVerfGG, Art. 93 Abs. 1 Nr. 4 a GG erteilten Rechtsschutzauftrag vereinbar ist, erscheint zweifelhaft. Ein Ermessensspielraum bei der Festlegung der Intensität seiner Kontrolle wird dem Gericht danach —jedenfalls ausdrück287 288
Vgl. BVerfGE 66, 116, 135; dazu bereits oben Β III 1 b bb (3). BVerfGE 42, 143, 148.
86
1. Kap.: Eingriffsintensität in Rechtsprechung und Literatur
lieh — nicht zuerkannt. Auch knüpft die in den genannten Vorschriften enthaltene Aufgabenzuweisung an die Unterscheidung verfassungsrechtlicher und einfachrechtlicher Regelungsgehalte an und legt deshalb zunächst das Bemühen um die materiellrechtlichen Grenzen der verfassungsgerichtlichen Kontrolle nahe. Es erscheint somit im Hinblick auf die Gesetzesgebundenheit auch des höchsten deutschen Gerichts nicht bedenkenfrei, wenn das Bundesverfassungsgericht bei der Bemessung des von ihm gewährten individuellen Grundrechtsschutzes einen „Handlungsspielraum" in Anspruch nimmt und diesen nach Maßgabe einer dem materiellen Verfassungsrecht entnommenen Entscheidungsregel ausfüllt 289 , anstatt zunächst Maßstäbe zur Feststellung der Grenzen des grundrechtlichen Regelungsanspruchs zu entwickeln und zuvorderst diese bei der Bestimmung der Reichweite seiner Kontrolle zugrunde zu legen. 290 Dabei hat das Bundesverfassungsgericht das maßgebliche Kriterium möglicherweise bereits aufgezeigt, das die Steuerungskraft des in seiner Regelungswirkung zweifelhaften „objektivrechtlichen" Grundrechtsgehalts bestimmt: das Merkmal der Eingriffsintensität.
D. Das Merkmal der Eingriffsintensität in der Literatur Die wissenschaftliche Auseinandersetzung um den Umfang der verfassungsgerichtlichen Nachprüfung im Rahmen der Urteilsverfassungsbeschwerde konzentrierte sich zunächst auf die sachliche Richtigkeit und die dogmatischen Grundlagen der Eingrenzung des Kontrollmaßstabs auf „spezifisches Verfassungsrecht". Die hierzu entwickelten Auffassungen sind erst jüngst in zutreffender Weise systematisiert worden. 291 Sie sind für das Anliegen der hier vorgenommenen Untersuchung nur insoweit von Bedeutung, als darin zugleich Grundpositionen zum Verhältnis von Entscheidungs- und Kontrollnorm 2 9 2 im Verfassungsrecht bezogen und damit zugleich allgemeine Kriterien zur Bestimmung des Umfangs der verfassungsgerichtlichen Kontrolle bezeichnet werden. Hierzu sind im Schrifttum drei grundsätzliche Ansätze erarbeitet worden, an die auch bei der Bewertung des im DGB-Beschluß 293 entwickelten, an der Eingriffsintensität orientierten Kontrollmodells angeknüpft wird. 289 Vgl. zur materiellrechtlichen Bedeutung der Eingriffsintensität eingangs Vorbemerkung B. 290 So aber etwa BVerfGE 75, 301, 314 zu Art. 103 Abs. 1 GG, wo das Gericht die Prüfungsintensität anhand der „Grundrechtsrelevanz" der einfachrechtlichen Normen bestimmt und sich um eine Feststellung der Grenzen des verfassungsrechtlichen Regelungsanspruchs bemüht. 291 Krauß, Prüfung S. 94ff.; s. auch Stern, in: BK, Art. 93 Rdn. 700ff. 292 Zu den Begriffen vgl. eingangs Vorbemerkung Fn. 18, 21. 293 Dazu ausführlich oben C I 1.
D. Stellungnahmen der Lehre
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I. Die These von der Identität von Ëntscheidungs- und Kontrollnorm Ein Teil der Literatur befürwortet die strikte Anbindung der verfassungsgerichtlichen Kontrolle an Inhalt und Umfang der materiellen Vorgaben des Verfassungsrechts. Die Vorstellung einer nach ihrer jeweiligen Funktion als Handlungsmaßstab für den Rechtsanwender und als Kontrollmaßstab für das Bundesverfassungsgericht differenzierenden Wirkkraft der Verfassungsnormen wird abgelehnt. Die Dichte der verfassungsgerichtlichen Kontrolle soll vielmehr der Regelungsdichte der maßgeblichen Verfassungsbestimmungen, vornehmlich also der der Grundrechte, entsprechen. Ëntscheidungs- und Kontrollnorm sind danach identisch. 294 1. Die „materiellrechtliche
Verfassungsreduktion"
Einer derartigen Konzeption folgen alle jene Autoren, die im Rahmen der um den Begriff des „spezifischen Verfassungsrechts" geführten Diskussion das Maß der materiell-verfassungsrechtlichen Steuerung der einfachrechtlichen Rechtsanwendung in einer gegenüber der Auffassung des Bundesverfassungsgerichts engeren Weise zu bestimmen suchen und darin auch den Weg zu einer zutreffenden Beschränkung der Reichweite der verfassungsgerichtlichen Kontrolle erkennen. 295 Im Sinne einer solchen „materiellrechtlichen Verfassungsreduktion" üben etwa Bettermann und H. H. Klein Kritik an der zu Art. 5 Abs. 1 und 2 GG entwickelten Wechselwirkungstheorie und dem vom Bundesverfassungsgericht damit verknüpften Gebot konkreter Einzelfallabwägung 296 und bezweifelt Papier den Verfassungsrang der vom Bundesverfassungsgericht zur Bestimmung der Grundrechtsschranken generell für erforderlich gehaltenen Güterund Interessenabwägung. 297 M i t ähnlicher Zielsetzung wird ferner vorgeschlagen, die Ausstrahlungswirkung der Verfassung auf den Prozeß der Auslegung des einfachen Rechts zu beschränken und die grundrechtlichen Wertentscheidungen nicht in den davon zu scheidenden Prozeß der fachgerichtlichen Gesetzesanwendung hineinwirken zu lassen. 298 Vor allem im Bereich „mittelba294 So etwa Korinek, VVDStRL 39 (1981), 7, 26 ff.; zust. Böckenförde, VVDStRL 39 (1981), 200 (Diskussionsbeitrag); Wahl, Staat 20 (1981), 485, 501 f.; Schiaich, Bundesverfassungsgericht S. 229; krit. gegenüber einem verselbständigten Maßstab der Kontrolldichte auch ders., VVDStRL 39 (1981), 99,112,124f.; zu Schiaich ausführlich unten III 1. 295 Vgl. etwa Papier, in: Bundesverfassungsgericht und Grundgesetz I S. 432, 451; H. H. Klein, Staat 10 (1971), 145, 172; Wahl, Staat 20 (1981), 485, 502ff. 296 Bettermann,JZ1964,601,602; H. H. Klein, Staat 10(1971), 145,152ff., 172; s. auch etwa Herzog, in: Maunz/Dürig, Art. 5 Abs. I, II Rdn. 260. 297 Papier, in: Bundesverfassungsgericht und Grundgesetz I S. 432,445 ff., 452f.; krit. auch Wahl, Staat 20 (1981), 485, 503 f. 298 R. Schneider, DVB1.1969,325, 332f.; s. auch den Versuch zur Unterscheidung von Auslegung und Anwendung des einfachen Rechts bei Kölz, ZSR 95,1. Halbb. (1976), 29, 50.
88
1. Kap.: Eingriffsintensität in Rechtsprechung und Literatur
rer Grundrechtswirkung", und damit in den für die Verwendung des Merkmals der Eingriffsintensität wesentlichen Fällen, soll sich die Verkennung des grundrechtlichen Einflusses auf die anzuwendenden unterverfassungsrechtlichen Rechtssätze lediglich als Fehlinterpretation einfachen Rechts darstellen. 299 2. Das restriktive
Verständnis des Begriffs
der Grundrechtsverletzung
Einen allein am materiellen Recht orientierten Ansatz verfolgen auch diejenigen Autoren, die eine Neubestimmung des Begriffs der Grundrechtsverletzung fordern. 300 Während etwa Seuffert vorschlägt, hierbei sämtliche Fehler bei der Anwendung und Auslegung gültiger einfachrechtlicher Normen auszuklammern 3 0 1 , will dies Steinwedel jedenfalls für solche Gesetzesverstöße gelten lassen, die sich nur im Ergebnis auf die Ausübung eines Grundrechts nachteilig auswirken. Nur diejenigen Fehler, die gerade auf der Verkennung eines betroffenen Grundrechts beruhen, sollen danach als materiellrechtliche, vom Bundesverfassungsgericht zu korrigierende Grundrechtsverletzungen anzuerkennen sein. 302 Eine darüber hinausgehende Einschränkung des Prüfungsumfangs auf der Ebene der Kontrolldichte, und damit eine Divergenz von Handlungs- und Kontrollnorm im Verfassungsrecht, wird von den Vertretern beider Varianten dieser Konzeption hingegen unter Hinweis auf mangelnde Rechtssicherheit und Vorhersehbarkeit und das Gebot der Einheitlichkeit des Prüfungsumfangs abgelehnt 303 , eine weitere materiellrechtliche Differenzierung nicht für möglich gehalten. 304 II. Funktionsrechtlich orientierte Ansätze Dem Vorschlag einer strikten Anbindung der verfassungsgerichtlichen Kontrolle an die Regelungsdichte der als Kontrollmaßstab fungierenden Verfassungsbestimmungen stehen verschiedene „funktionsrechtlich" orientierte Ansätze gegenüber, die auf einer grundsätzlichen Trennung von Entscheidungsund Kontrollnorm im Verfassungsrecht beruhen. 305 299
Papier, in: Bundesverfassungsgericht und Grundgesetz I S. 432,447; Merten, NJW 1972, 1799; lediglich die Verletzung des subjektiven Grundrechts wird verneint von Erichsen, Staatsrecht I, 2. Aufl. 1976 S. 65; unter funktionsrechtlichen Gesichtspunkten krit. zur „Ausstrahlungstheorie" etwa auch Menger, VerwArch. 71 (1980), 175, 179. 300 Steinwedel, Spezifisches Verfassungsrecht S. 58 ff.; Seuffert, NJW 1969,1369,1371; ähnlich wohl Stern, Staatsrecht III/1, § 75 IV 7 (S. 1507). 301 Seuffert, NJW 1969, 1369, 1371. 302 Steinwedel, Spezifisches Verfassungsrecht S. 61. 303 Steinwedel, Spezifisches Verfassungsrecht S. 159 Fn. 449 a; s. auch Schumann, Bundesverfassungsgericht S. 46, der meint, die Kompetenz eines staatlichen Organs könne nur vom generell-abstrakten Gesetz, nicht vom Einzelfall abhängen. 304 S. etwa Henke, DÖV 1984, 1, 10; Papier, in: Bundesverfassungsgericht und Grundgesetz I S. 432, 452.
D. Stellungnahmen der Lehre
89
Die Reichweite der verfassungsgerichtlichen Überprüfung ist danach unmittelbar durch Rückgriff auf die Grenzen der Kontrollkompetenz des Bundesverfassungsgerichts zu bestimmen. Als maßgebliche Kompetenzregel soll dabei vor allem das Gebot der Funktionswahrung gelten. Danach hat jedes staatliche Organ die Grenzen der ihm von der Verfassung aufgetragenen Funktionen zu achten und darf bei seiner Tätigkeit nicht in die Aufgabenerfüllung der übrigen staatlichen Gewalten übergreifen. 306 Bei der Ermittlung der für die verfassungsgerichtliche Kontrolle der Fachgerichtsbarkeit dergestalt postulierten funktionsrechtlichen und damit zugleich auch kompetenziellen Grenzen wird an Wesen und Funktion der Verfassungsbeschwerde 307 und die Aufgabenstellung von Bundesverfassungsgericht und Fachgerichtsbarkeit angeknüpft. 3 0 8 Ging es auch bei dem Bemühen um eine funktionsorientierte Bestimmung der Grenzen der verfassungsgerichtlichen Kontrolle zunächst — wie etwa bei der Entwicklung der „Schumannschen Formel" 309 — wiederum um die Festlegung des Kreises der im Rahmen der Urteilsverfassungsbeschwerde generell rügbaren Rechtsverletzungen und damit um eine zutreffende Bestimmung des der Aufgabe des Bundesverfassungsgerichts entsprechenden Kontrollmaßstabs, wurde der funktionsrechtliche Ansatz in der Folge auch zur Trennung von Kontrollmaßstab und Kontrolldichte und zu deren näherer Ausgestaltung herangezogen. Neben der allgemeinen — im Rahmen der Urteilsverfassungsbeschwerde allerdings seltener als bei der Normenkontrolle erhobenen — Forderung nach „judicial self-restraint" 310 sind dabei verschiedene Versuche einer konkreten Regelbildung unternommen worden, die sich sowohl in dem dabei zugrundegelegten Verständnis von Funktion und Aufgabe des Bundesverfassungsgerichts als auch in ihren Ergebnissen unterscheiden. 305 Vgl. etwa K. Hesse, in: FS für Huber, S. 261,262ff.; Bryde, Verfassungsentwicklung S. 315 ff.; Krebs, Kontrolle S. 99ff.; Ossenbühl, in: FS für H. P. Ipsen S. 129,137; s. auch Herzog, AöR 86 (1961), 194, 212 Fn. 77. 306 Dazu vor allem K. Hesse, in: FS für Huber S. 261, 262, 265 f. 307 Schumann, Verfassungsbeschwerde S. 198; Schmidt-Bleibtreu, in: Maunz/ Schmidt-Bleibtreu/Klein/Ulsamer, § 90 Rdn. 141. 308 Schuppert, AöR 103 (1978), 43 ff.; Gündisch, NJW 1981, 1813, 1819; Schenke, Verfassungsgerichtsbarkeit S. 29 ff. 309 Schumann, Verfassungsbeschwerde S. 207: „Eine Interpretationsverfassungsbeschwerde ist erfolgreich, wenn der angefochtene Richterspruch eine Rechtsfolge annimmt, die der einfache Gesetzgeber nicht als Norm erlassen dürfte"; grundsätzlich zustimmend Steinwedel, Spezifisches Verfassungsrecht S. 64ff.; Schuppert, AöR 103 (1978), 43, 59f.; Schnapp, JuS 1989, 1, 8; einschränkend Krauß, Prüfung S. 108f.; ablehnend Zuck, Verfassungsbeschwerde Rdn. 482. 310 S. etwa Stürner, NJW 1979, 2334, 2338; Stern, Staatsrecht I I I / l , § 75 IV 7 (S. 1507f.); krit. zum Stellenwert dieses Postulats dag. K. Hesse, in: FS für Huber S. 261, 263f.; Schiaich, Bundesverfassungsgericht S. 219f.; Bryde, Verfassungsentwicklung S. 308 f.; vgl. auch Murswiek, DÖV 1982, 529, 531 ff.
90
1. Kap.: Eingriffsintensität in Rechtsprechung und Literatur
1. Die Abstufung anhand des Abstraktionsniveaus Ausgehend von der Überlegung, daß eine weitgehende Festschreibung der richtigen fallbezogenen Auslegung und Anwendung des einfachen Rechts im Rahmen der verfassungsgerichtlichen Kontrolle einer angemessenen Funktionsteilung zwischen Fach- und Verfassungsgerichtsbarkeit entgegensteht, schlägt Schuppert 311 eine Differenzierung der Kontrolldichte anhand der verschiedenen Elemente des richterlichen Entscheidungsprozesses vor. Die Reichweite der Prüfungsbefugnis des Bundesverfassungsgerichts wird dabei mit dem Abstraktionsniveau des jeweils überprüften Rechtsfindungselements verknüpft. Einer umfassenden Inhaltskontrolle unterliege die Bildung von Obersätzen bei der Auslegung des einschlägigen unterverfassungsrechtlichen Rechtssatzes. Bei Abwägungen sei zu unterscheiden: soweit das Abwägungsergebnis als Obersatz zur Konkretisierung einfachrechtlicher, unbestimmter Rechtsbegriffe oder Generalklauseln fungiere, lasse es sich selbständig und ohne fallspezifische Bezüge formulieren und in einen abstrakten Normsatz umdenken, der einer vollen inhaltlichen Überprüfung unterzogen werden könne. Bei überwiegend fallbezogenen Abwägungen fehle dagegen ein derart isolierbares Rechtsfindungselement. Zur Wahrung der Eigenständigkeit der Fachgerichte soll sich die Kontrolle hier auf die Einhaltung bestimmter Mindeststandards bei der Entscheidungsfindung beschränken. 312 Gegenüber der fachrichterlichen Feststellung und Würdigung des Sachverhalts empfiehlt Schuppert die völlige Zurückhaltung des Bundesverfassungsgerichts. Eine solche, am Rechtsfindungsprozeß anknüpfende Betrachtungsweise müßte bei konsequenter Befolgung zu einer vom Ausmaß der Grundrechtsberührung im Einzelfall unabhängigen Prüfungsintensität führen. Demgegenüber lehnt Schuppert — ohne dies allerdings gesondert zu begründen — die an das Maß der Eingriffsintensität anknüpfende Rechtsprechungspraxis nicht gänzlich ab, sondern hält eine Ausweitung der Kontrolle bei hoher Grundrechtsbetroffenheit „in echten Ausnahmefallen" für geboten, in denen der Grundrechtsverletzung mit einer restriktiven Nachprüfung nicht beizukommen sei. 313
311
Schuppert, AöR 103 (1978), 43, 55ff.; im Ansatz ähnlich H. P. Schneider, NJW 1980, 2103, 2110; zustimmend auch Rinken, in: AK, Art. 93 Rdn. 67ff.; teilweise auch Krauß, Prüfung S. 114ff., 157ff, 161 f.; krit. Gusy, Verfassungsbeschwerde Rdn. 91; Waldner, ZZP 98 (1985), 200, 207 ff. 312 Die Kontrolle soll sich hierbei im wesentlichen darauf beziehen, ob das als Normsatz vorliegende Abwägungsergebnis „lege artis" zustandegekommen ist, worunter Schuppert die zutreffende Zusammenstellung und hinreichend konkrete Abwägung der maßgeblichen Fallösungsgesichtspunkte verstanden wissen will; vgl. Schuppert, AöR 103 (1978), 43, 63, 69. 313 Schuppert, AöR 103 (1978), 43, 68; Rinken sieht das Intensitätskriterium dagegen durch die Rechtsschutzaufgabe des Bundesverfassungsgerichts legitimiert, vgl. ders., in: AK, Art. 93 Rdn. 69.
D. Stellungnahmen der Lehre
2. Der Rückgriff
91
auf das Revisionsrecht
Ein weiterer Versuch, die Prüfungskompetenz des Bundesverfassungsgerichts prozessual zu bestimmen, ist von Wank vorgelegt worden. 314 Während der ganz überwiegende Teil der Literatur — ebenso wie das Bundesverfassungsgericht — um die Vermeidung einer Ausweitung der verfassungsgerichtlichen Kontrolle in Richtung auf eine revisionsähnliche Überprüfung bemüht ist 3 1 5 , geht Wank von der Vergleichbarkeit der Aufgabenstellung des Bundesverfassungsgerichts mit derjenigen der Revisionsinstanz in Zivilsachen aus. 316 Die verfassungsgerichtliche Kontrolle diene ebenso wie eine Revisionsentscheidung sowohl dem Allgemeininteresse an Rechtseinheit und Rechtsfortbildung als auch dem Parteiinteresse an gerechter Einzelfallentscheidung. Ebenso wie bei der Zulassung der Revision nach §§ 554 b, 546 ZPO —jedenfalls nach den Intentionen des Gesetzgebers — vorrangig die grundsätzliche Bedeutung der Sache zu berücksichtigen und der Aspekt der Einzelfallgerechtigkeit zu vernachlässigen sei 3 1 7 , müsse der objektive Zweck des Verfahrens auch für den Umfang der verfassungsgerichtlichen Nachprüfung bei der Urteilsverfassungsbeschwerde maßgebend sein. Angesichts der Notwendigkeit einer Selektion der Verfassungsbeschwerden könne das Bundesverfassungsgericht ohnehin nicht über jede Grundrechtsverletzung entscheiden, deshalb sei auch für die Abgrenzung seiner Kompetenzen gegenüber der Fachgerichtsbarkeit auf das Einzelfallkriterium zu verzichten. Wank sieht die Zuständigkeit des Bundesverfassungsgerichts daher auf die Klärung von Fragen mit grundsätzlicher verfassungsrechtlicher Bedeutung beschränkt. In Anlehnung an Schuppert schlägt er darüber hinaus eine Eingrenzung der Kontrolle auf die durch das Fachgericht gebildeten Auslegungsobersätze vor. Die Schwere der grundrechtlichen Betroffenheit im Einzelfall bleibt demgegenüber für den Umfang der verfassungsgerichtlichen Überprüfung ohne Belang. 318 314
Wank, JuS 1980, 545ff.; krit. dazu Krauß, Prüfung S. 122; Wahl, Staat 20 (1981), 485, 503 (Fn. 61); Stern, in: BK, Art. 93 Rdn. 706. 315 So ist das Wort, das Bundesverfassungsgericht sei keine „Superrevisions-" oder „Superberufungsinstanz", in aller Munde, dazu bereits oben Β I 1; zur Rechtsprechung vgl. etwa BVerfGE 7, 198, 207; 42, 143, 148; aus der Literatur dazu wohl zuerst Geiger, BVerfGG, § 90 Anm. 6 e; ferner etwa Schumann, Verfassungsbeschwerde S. 42, 197; Burmeister, DVB1. 1969, 605ff.; Erichsen, Staatsrecht I S. 20f., 53f.; Papier, in: Bundesverfassungsgericht und Grundgesetz I S. 432, 433; Schenke, Verfassungsgerichtsbarkeit S. 27f.; Schiaich, Bundesverfassungsgericht S. 134; Bryde, Verfassungsentwicklung S. 315; Schmidt-Bleibtreu, in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Ulsamer, § 90 Rdn. 17; anders im Ergebnis wohl nur Pelka, DVB1. 1970, 887, 890 f. 316 Wank, JuS 1980, 545, 549; zustimmend insoweit auch Schiaich, VVDStRL 39 (1981), 99, 122 f. 317 Teilweise anders allerdings die verfassungskonforme Auslegung des § 554 b ZPO durch BVerfGE 49, 148, 156ff., 161 f. 318 Wank, JuS 1980, 545, 550 f.
92
1. Kap.: Eingriffsintensität in Rechtsprechung und Literatur
3. Die Unterscheidung mittelbarer
und unmittelbarer
Grundrechtsverletzung
Unter Berufung auf funktionsrechtliche Erwägungen wird die Kontrollkompetenz des Bundesverfassungsgerichts teilweise auch unter Rückgriff auf die Unterscheidung von unmittelbarer und mittelbarer Verletzung der Grundrechte bestimmt. 319 So geht etwa Waldner im Anschluß an das Sondervotum Rupp-v. Brünnecks im DGB-Beschluß 320 davon aus, daß dem Bundesverfassungsgericht eine Kontrolle lediglich in Fällen obliege, „in denen die Rechtsanwendung notwendig eine Abwägung zwischen dem betreffenden Grundrecht und anderen Rechtsgütern verlangt". 321 Hiervon seien diejenigen Konstellationen zu scheiden, in denen „eine sich zunächst allein im Zivilrechtsbereich bewegende Rechtsanwendung nur im Ergebnis Auswirkungen auf den Grundrechtsbereich" hat. Soweit danach eine verfassungsgerichtliche Überprüfung erforderlich ist, wird von Vertretern dieser Ansicht überwiegend eine umfassende, nicht an der Eingriffsintensität orientierte Kontrolle befürwortet. 322 4. Die Parallele zur verwaltungsrechtlichen
Ermessensfehlerlehre
Demgegenüber schlägt Schenke für die als „unmittelbare" Grundrechtsverletzungen einzustufenden Fälle eine weitere Differenzierung vor und orientiert sich dabei an der verwaltungsrechtlichen Ermessensfehlerlehre. 323 Die Kontrolle der Wahrung der grundgesetzlichen Einwirkung auf die fachrichterliche Rechtsanwendung und die Überprüfung der Beachtung verwaltungsrechtlicher Ermessensregeln begründen nach Auffassung Schenkes ein strukturell gleichgeartetes Kompetenzproblem. In beiden Fällen sei das handelnde Organ mehreren, in einem Rangverhältnis zueinander stehenden Vorgaben unterworfen, von denen jeweils nur eine als Kontrollmaßstab zur Verfügung stehe. Während die fachgerichtliche Entscheidung die verfassungsrechtlichen Steuerungsimpulse und den Regelungsgehalt des einfachen Rechts zu berücksichtigen habe, stehe das Verwaltungshandeln unter den Bindungen der Ermessensgrundsätze und des Gebots der Zweckmäßigkeit. Die für die Kontrollinstanz maßgeblichen Vorgaben könnten den überprüften Entscheidungsprozeß jeweils nur dirigieren, ohne ihn im vollen Umfang zu determinieren. Diese Parallele lege nahe, bei der Konturierung der verfassungs319
Waldner, Probleme S. 268 ff.; ders., ZZP 98 (1985), 200,210ff.; Rosenberg-Schwab, Zivilprozeßrecht, § 17 III 1 c; Schenke, Verfassungsgerichtsbarkeit S. 31; wohl auch Schmidt-Bleibtreu, in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Ulsamer, §90 Rdn. 141 ff.: „Direkte Grundrechtsverletzung". 320 Rupp-v. Brünneck, diss, op., in: BVerfGE 42, 143, 155. 321 Waldner, Probleme S. 268ff.; ders., ZZP 98 (1985), 200, 210f. 322 S. etwa Rosenberg-Schwab, Zivilprozeßrecht, § 17 III; krit. gegenüber der Verwendung des Merkmals der Eingriffsintensität auch Waldner, ZZP 98 (1985), 200, 206 f. 323 Schenke, Verfassungsgerichtsbarkeit S. 46ff.; krit. hierzu Sendler, DVB1.1988, 370; abl. Zuck, Verfassungsbeschwerde Rdn. 487.
D. Stellungnahmen der Lehre
93
gerichtlichen Überprüfungsbefugnis an das bewährte Modell der Ermessensfehlerlehre anzuknüpfen. 324 Wie bei den die Ermessensausübung determinierenden Normen sieht Schenke auch durch die grundrechtlich vorgegebenen Abwägungsgesichtspunkte einen Entscheidungsspielraum eröffnet, in den die kontrollierende Instanz nicht einzugreifen befugt sei. 325 Dieser Entscheidungsspielraum verenge sich jedoch — ähnlich wie im Fall der Ermessensschrumpfung — beim Vorliegen besonders schwerwiegender Grundrechtsbeeinträchtigungen. M i t der wachsenden Bedeutung der grundrechtlichen Ausstrahlungswirkung auf die Abwägung des Einzelfalles müsse auch die Kontrollbefugnis des zum Grundrechtsschutz berufenen Bundesverfassungsgerichts zunehmen. Die Abstufung der Kontrolldichte anhand der Eingriffsintensität erscheint daher als zutreffend. 326 5. Die Anknüpfung an die Eingriffsintensität Während die soeben dargestellten Lehrmeinungen — mit Ausnahme der letztgenannten — der Verknüpfung von Kontrolldichte und Eingriffsintensität als Mittel zur Sicherung einer angemessenen Aufgabenverteilung zwischen Fachund Verfassungsgerichtsbarkeit durchweg kritisch gegenüberstehen, finden sich im Schrifttum eine Reihe von Stimmen, die eine an der Schwere der grundrechtlichen Betroffenheit des Beschwerdeführers orientierte Abstufung der verfassungsgerichtlichen Kontrolle aus funktionsrechtlicher Sicht grundsätzlich befürworten. 327 Zur Begründung wird dabei vornehmlich auf die Rechtsschutzfunktion der Verfassungsbeschwerde verwiesen. a) So läßt das Gebot der Funktionswahrung nach Ansicht von K. Hesse die Entwicklung einer „stets und gleichmäßig feststehenden Grenze verfassungsge324 Schenke, Verfassungsgerichtsbarkeit S. 48; ähnlich Roellecke, in: Handbuch des Staatsrechts II, § 54 Rdn. 27. So nimmt Schenke entsprechend den Grundsätzen über den Ermessensfehlgebrauch einen zur Aufhebung führenden Verfassungsverstoß an, wenn der Fachrichter die Bedeutung der Grundrechte für die Entscheidung vollständig verkannt oder nicht hinreichend beachtet oder die erforderliche Abwägung im Einzelfall unterlassen hat und dies für das Ergebnis der Entscheidung erheblich gewesen sein könnte. Insoweit besteht im Ergebnis Übereinstimmung mit der Auffassung Schupperts, der die verfassungsgerichtliche Überprüfung auf die Wahrung eines „Mindeststandards" der Entscheidungsfindung beschränkt; s. dazu oben 1. 325 Schenke, Verfassungsgerichtsbarkeit S. 52. 326 Schenke, Verfassungsgerichtsbarkeit S. 53. 327 K. Hesse, in: FS für Huber S. 261, 267; Ossenbühl, in: FS für H. P. Ipsen S. 129, 137f.; Gündisch, NJW 1981,1813,1819; Krebs, Kontrolle S. 101 f.; Stern, Staatsrecht II, § 44 II 3 f (S. 964); ders., Staatsrecht III/1, § 75 IV 5 b (S. 1501); W. Schmidt, NJW 1980, 2066, 2067; grundsätzlich zustimmend auch Lerche, in: Grundrechtsverständnis und Normenkontrolle S. 24, 41 f., 45; Lincke, EuGRZ 1986, 60, 72f.; Zuck, Verfassungsbeschwerde Rdn. 488ff.; s. aber etwa Prümm, Verfassung S. 156f., der angesichts der Rechtsschutzfunktion der Verfassungsbeschwerde jede Beschränkung der Kontrolle auf das Vorliegen einer grundsätzlichen Verkennung der grundrechtlichen Vorgaben ablehnt.
94
1. Kap.: Eingriffsintensität in Rechtsprechung und Literatur
richtlicher Nachprüfung" nicht zu, sondern zwingt zur Erarbeitung mehrschichtiger, differenzierter normativer Grundsätze, die erst in ihrer Gesamtheit die funktionellen Grenzen der Verfassungsgerichtsbarkeit markieren könnten. 328 Dabei seien vor allem zwei Grundzusammenhänge maßgebend: der Grundsatz der Gewaltenteilung und die Rechtsschutzfunktion des Bundesverfassungsgerichts. Die vorrangige Aufgabe des Bundesverfassungsgerichts liege in der Wahrung der Verfassung sowohl im Sinne objektiven wie auch subjektiven Rechtsschutzes. Diese Aufgabe gewinne um so mehr an Notwendigkeit und Gewicht, je mehr ein Akt öffentlicher Gewalt die zu schützenden Verfassungsgüter treffe, je intensiver also etwa die Maßnahme in den personalen Kern der Grundrechte eingreife. Daraus folgert Hesse die Verpflichtung des Gerichts zu einer entsprechend intensivierten Kontrolle bei hoher Eingriffsintensität. 329 b) Ausgangspunkt für die Bestimmung der Kontrollbefugnis des Bundesverfassungsgerichts ist für Krebs die Einbettung von Verfassungs- und Fachgerichtsbarkeit in ein kompetenzielles Gesamtgefüge. 330 Dieses sei durch die wechselseitige Kompetenzbegrenzung der staatlichen Funktionsträger gekennzeichnet, die einem starren, allgemeingültigen Kompetenzschema entgegenstehe und eine an der jeweiligen Aufgabenstellung orientierte Erarbeitung der kompetenziellen Grenzen bei der Entscheidungsfindung erfordere. Während die fachgerichtliche Ëntscheidungs- und Kontrollkompetenz in besonderem Maße durch den subjektiv-rechtlichen Rechtsschutzauftrag des Art. 19 Abs. 4 GG geprägt sei, sieht Krebs die primäre Aufgabe des Bundesverfassungsgerichts in der Wahrung des objektiven (Verfassungs-)Rechts. Daher könne nicht jede Beeinträchtigung individueller Rechte eine umfassende verfassungsgerichtliche Kontrolle auslösen. 331 Im Regelfall habe sich das Verfassungsgericht auf die Überprüfung des Entscheidungsprozesses zu beschränken und von einer vollständigen Ergebniskontrolle abzusehen. Unter Hinweis darauf, daß der Verfassungsgerichtsbarkeit jedoch auch der Schutz subjektiver Grundrechte aufgetragen sei, hält Krebs eine Intensivierung der Kontrolle bei hoher Eingriffsintensität dennoch für zutreffend. 332 I I I . Die Verbindung materiellrechtlicher und funktionsrechtlicher Kritierien Der jüngste in der Literatur entwickelte Ansatz geht von der Notwendigkeit einer „Verbindung materiellrechtlicher und funktionaler Kriterien" 3 3 3 bei der Bestimmung der Kontrolldichte aus. 328 329 330 331 332 333
K. Hesse, in: FS für Huber S. 261, 264ff. K. Hesse, in: FS für Huber S. 261, 266, 267 Fn. 23. Krebs, Kontrolle S. 100. Krebs, Kontrolle S. 101 f. Krebs, Kontrolle S. 101. So Krauß, Prüfung S. 141.
D. Stellungnahmen der Lehre
95
1. Die Ablehnung einer Abstufung der Kontrolldichte Schiaich hält die Gewährleistung einer sinnvollen Arbeitsteilung innerhalb der Gerichtsbarkeit zwar einerseits für ein „funktionellrechtliches Problem" 3 3 4 , befürwortet aber andererseits die aus seiner Sicht in ihren „Grundlinien" vom materiellen Verfassungsrecht her geprägte Prüfungspraxis des Bundesverfassungsgerichts. 335 Wenn das Gericht etwa das fachgerichtliche Verfahren anhand des Art. 103 Abs. 1 G G in weitem Umfang nachprüfe und auch die durch öffentlich-rechtliche Normen geprägten Entscheidungen strenger kontrolliere als ein Zivilurteil, spiegele dies die unterschiedliche Grundrechtsbetroffenheit des Bürgers in den verschiedenen Rechtsmaterien wider. So sei im Zivilprozeß nicht die Reichweite des grundrechtlichen Schutzes gegenüber staatlichem Eingriff zu beurteilen, sondern eine Streitentscheidung zwischen Privaten zu treffen, für die die Grundrechte nur „mittelbar" Geltung beanspruchten. Ihre geringere Regelungsdichte im Bereich des Privatrechts hindere das Bundesverfassungsgericht an einer umfassenden inhaltlichen Überprüfung des Zivilurteils. Demgegenüber erhebt Schiaich erhebliche Einwände gegen eine darüber hinausgehende Abstufung der Kontrolldichte nach Maßgabe der Eingriffsintensität. 3 3 6 Darin liege eine bedenkliche Verselbständigung gegenüber dem Verfassungstext. 337 Ein — nicht verfassungskonformes — Gerichtsurteil könne danach lediglich deshalb als verfassungsgemäß bestätigt werden, weil nicht eingehend geprüft werde. Das materielle Prüfungsergebnis werde also weitgehend vom Prüfungsumfang bestimmt. Damit seien jedoch die Maßstäbe verwischt. Soweit das Bundesverfassungsgericht nicht umfassend kontrollieren wolle, solle es von einer Kontrolle völlig absehen.338 2. Eingriffsintensität
und Verfahrensfunktionen
Zur Ermittlung des angemessenen Umfangs der verfassungsgerichtlichen Kontrolle hält auch Krauß eine Kombination funktionsrechtlicher und materiellrechtlicher Kriterien für erforderlich. 339 Der geeignete materiellrechtliche Maßstab ist für ihn ähnlich wie für Schiaich „die Stärke der Ausstrahlung des Grundrechts auf das einfache Recht bzw. das Gewicht des in die Abwägung einzustellenden Grundrechts". 340
334
Schiaich, Bundesverfassungsgericht S. 150. Schiaich, Bundesverfassungsgericht S. 150f.; ders., JuS 1982, 278, 281. 336 Schiaich, Bundesverfassungsgericht S. 144f.; ders., VVDStRL 39 (1981), 99,124f. 337 Schiaich, VVDStRL 39 (1981), 99, 124 f. 338 Schiaich, Bundesverfassungsgericht S. 145; zust. Löwer, in: Handbuch des Staatsrechts II, § 56 Rdn. 165 (Fn. 754). 339 Krauß, Prüfung S. 141. 340 Krauß, Prüfung S. 143. 335
96
1. Kap.: Eingriffsintensität in Rechtsprechung und Literatur
Die Kontrollpraxis des Bundesverfassungsgerichts hält Krauß danach grundsätzlich für zutreffend. Der Stärke der Ausstrahlung eines Grundrechts und seinem Gewicht im Rahmen einer Güterabwägung entspreche die Intensität des Grundrechtseingriffs, der aus einer Verkennung dieser Ausstrahlung oder aus einer Vernachlässigung des Grundrechts bei der Abwägung resultiere. 341 Eine Abstufung der Prüfungstätigkeit des Gerichts nach der Schwere der Folgen der Grundrechtsverletzung für den Beschwerdeführer werde zudem von der subjektiv-individuellen Rechtsschutzfunktion der Verfassungsbeschwerde gerechtfertigt. 342 Bei einer generellen Beschränkung der Kontrolle auf grundsätzliche Fehler bei der Anwendung der Grundrechte könne das Bundesverfassungsgericht überdies auch seiner Aufgabe als Hüter des objektiven Verfassungsrechts nicht gerecht werden. Zur Fortbildung des Verfassungsrechts und Stärkung der Wirkkraft der Grundrechte durch exemplarische, vorbildhafte Entscheidungen sei das Gericht nur in der Lage, wenn es in bestimmten Fällen, für die die Intensität des Grundrechtseingriffs ein adäquates Auswahlkriterium darstelle, selbst detailliert abwäge und werte. 343 IV. Fazit und weitere Fragestellung Das Schrifttum läßt im wesentlichen zwei Begründungsmöglichkeiten für eine Abstufung der Kontrolldichte anhand des Ausmaßes der grundrechtlichen Betroffenheit im Einzelfall erkennen: aus funktionsrechtlicher Sicht ist es vor allem die subjektive Rechtsschutzfunktion der Verfassungsbeschwerde, die als Anhalt für die Richtigkeit der an der Eingriffsintensität orientierten Rechtsprechung dienen könnte. Aber auch vom Standpunkt der traditionellen Lehre, die von der Identität von Entscheidungs- und Kontrollnorm im Verfassungsrecht ausgeht, ließe sich angesichts der Hinweise von Schiaich und Krauß 344 eine Anknüpfung der Kontrolldichte an die Eingriffsintensität jedenfalls bei der Überprüfung bestimmter grundrechtsrelevanter Entscheidungen denken. Sie könnte für die Überprüfung der Wahrung der grundrechtlichen Ausstrahlungswirkung auf die einfachrechtliche Rechtsanwendung zutreffend sein, wenn bei steigender Betroffenheit der geschützten Rechtsposition eine Verstärkung der grundrechtlichen Wirkkraft festzustellen wäre. Beide Ansätze sind in der bisherigen Diskussion allerdings weder in sich befriedigend ausgearbeitet, noch ist ihr Verhältnis zueinander hinreichend 341
Krauß, Prüfung S. 143, 197. Krauß, Prüfung S. 148, 161, 197; aus der „subjektiv-generellen" Funktion der Verfassungsbeschwerde und ihrer „objektiven" Bedeutung für die Wahrung und Fortbildung des Verfassungsrechts leitet Krauß darüber hinaus weitere Kriterien für eine Abstufung der Kontrolldichte ab: die Abstraktheit und die Exemplarität des jeweiligen Prüfungsgegenstandes; dazu Krauß, Prüfung S. 152 ff., 161 f. 343 Krauß, Prüfung S. 200. 344 S. soeben III 1, 2. 342
D. Stellungnahmen der Lehre
97
geklärt. So sind vor allem die normativen Grundlagen für die Einführung funktionsorientierter Gesichtspunkte bislang nicht überzeugend dargelegt. I m Rahmen funktionsrechtlicher Argumentation konnte zudem weder Einigkeit über die Rechtsschutzfunktion der (Urteils-)Verfassungsbeschwerde erzielt werden, noch herrscht Einvernehmen über die dem Bundesverfassungsgericht bei der Kontrolle der Fachgerichte obliegende Aufgabe. Bemerkenswert ist ferner, daß die Vertreter des funktionsrechtlich orientierten Ansatzes einer Abstufung der Kontrolldichte anhand der Eingriffsintensität eher ablehnend gegenüberstehen, soweit sie eine an der Aufgabenstellung von Fach- und Verfassungsgerichtsbarkeit orientierte Zuordnung der jeweiligen Kompetenzen unternehmen, während die Rechtsprechungspraxis eher als zutreffend erscheint, wenn hierbei auf die Rechtsschutzfunktion der Verfassungsbeschwerde abgestellt wird. Aber auch wesentliche Grundlagen der materiell- und funktionsrechtliche Kriterien verknüpfenden Auffassung sind bislang offengeblieben. So ist die Abhängigkeit der grundrechtlichen Ausstrahlungswirkung von der Intensität der individuellen Betroffenheit lediglich behauptet, nicht jedoch nachgewiesen worden. Vor allem aber wird die Forderung nach einer — nicht näher spezifizierten — „Kombination" materiellrechtlicher und funktionsrechtlicher Gesichtspunkte weder dem Bedürfnis nach Methodenklarheit gerecht, noch vermag sie die von Vertretern der traditionellen, allein auf die Regelungsdichte abstellenden Sicht zu Recht eingeforderte Eindeutigkeit und Vorhersehbarkeit des Prüfungsumfanges im Einzelfall zu vermitteln. Ob und in welchem Ausmaß materiellrechtliche und funktionsrechtliche Bestimmungsfaktoren die Grenzen der verfassungsgerichtlichen Kontrolle steuern, muß nach dem derzeitigen Erkenntnisstand demnach als weitgehend ungeklärt gelten. Für die weitere Untersuchung gilt es, dieses Defizit zu beheben und zunächst die verfassungsrechtlichen Determinanten aufzuzeigen, denen das Bundesverfassungsgericht bei der Entfaltung der für die Entscheidung über die Urteilsverfassungsbeschwerde maßgeblichen verfassungsrechtlichen Vorgaben unterliegt. Sollten sich daraus Einschränkungen der Kontrollkompetenz des Gerichts und damit das Gebot zur Unterscheidung von Ëntscheidungs- und Kontrollnorm 3 4 5 bei der Überprüfung fachgerichtlicher Urteile ergeben, ist sodann nach dem Stellenwert materiellrechtlicher und funktionsrechtlicher Steuerungsfaktoren für die Bildung der Kontrollnorm zu fragen. Erst nach einer solchen Grundlegung kann eine methodisch befriedigende Auseinandersetzung mit der in der Rechtsprechung praktizierten Kontrollabstufung gelingen.
345
Zu den Begriffen s. Vorbemerkung Fn. 18 und 21.
7 Scherzberg
2. Kapitel
Materiellrechtliche und kompetenzielle Grenzen der verfassungsgerichtlichen Kontrolle der Fachgerichtsbarkeit A. Die Unterscheidung von Entscheidungs- und Kontrollnorm1 bei der Urteilsverfassungsbeschwerde I. Rechtsbindung als Voraussetzung rechtlicher Kontrolle Zur Durchführung von „Kontrolle" bedarf es des Vergleichs zweier Phänomene, des durch das Kontrollobjekt bezeichneten „Ist-Werts" und des durch den Kontrollmaßstab bestimmten „Soll-Werts". 2 Als Vergleich von Entscheidungsalternativen mit Entscheidungsmaßstäben bewirkt Kontrolle die Erhöhung der Rationalität staatlicher Entscheidungsprozesse und dient zugleich der Sicherung der inhaltlichen Richtigkeit der Entscheidungsergebnisse.3 Ist die Kontrolle — in Form inbesondere der gerichtlichen Kontrollen — als nachgängiger Vergleich anhand rechtlicher Kriterien ausgestaltet, dient sie vor allem der Wahrung und Effektivierung der zur Gewährleistung der Sachrichtigkeit der Entscheidung aufgestellten normativen Maßstäbe. Rechtliche Kontrolle setzt deshalb das Bestehen derartiger verbindlicher Handlungsmaßstäbe für das kontrollierte Organ voraus. Nur die für das jeweils überprüfte Verhalten verbindlichen Regeln kommen auch als Kontrollmaßstäbe in Betracht. 4 Ist rechtliche Kontrolle auf die Durchsetzung der das kontrollierte Handeln betreffenden rechtlichen Bindungen beschränkt, ist damit das Ausmaß der handlungsanleitenden Wirkkraft der einschlägigen Rechtsquellen als eine ihrer wesentlichen Determinanten bestimmt. Zur Ermittlung des Umfangs der auf die Wahrung der Vorgaben des Grundgesetzes bezogenen Kontrolle des Bundesverfassungsgerichts ist deshalb zunächst die Reichweite der normativen Bindungskraft des Grundgesetzes als Handlungsmaßstab festzustellen.
1
Zu den Begriffen vgl. oben Vorbemerkung Fn. 18 und 21. Vgl. Krebs, Kontrolle S. 4ff., 14ff.; Brunner, Kontrolle S. 74ff.; zu den Begriffen .Kontrolle" und „Kontrollmaßstab" bereits oben Vorbemerkung Fn. 19, 20. 3 Krebs, Kontrolle S. 34ff., 41 ff., 50f. 4 Krebs, Kontrolle S. 55. 2
Α. Materiell- und funktionsrechtliche Determinanten
99
II. Zum Umfang der Rechtsbindung durch das Grundgesetz 1. Normativität
und Bestimmtheit der Verfassung
Die Dichte der verfassungsgerichtlichen Kontrolle wird in der Literatur vielfach an die Regelungsdichte der Verfassung als Handlungsmaßstab gebunden.5 Mit dem Begriff der Regelungsdichte wird dabei auf die „Justiziabilität" der Verfassungsnormen Bezug genommen und das Maß der Konkretheit der für die Entscheidung im Einzelfall geltenden verfassungsrechtlichen Verhaltensmaßstäbe bezeichnet.6 Teils unausgesprochen, teils ausdrücklich wird auf diese Weise ein Zusammenhang zwischen dem Ausmaß der die Verfassungsadressaten treffenden rechtlichen Bindung und der Bestimmtheit der Normvorgaben behauptet.7 Der hinter dieser Begrifflichkeit stehende Ansatz läßt sich auf ein positivistisches Rechtsverständnis zurückführen. 8 Rechtliche Bindung tritt danach nur insoweit ein, als eine Norm rationale Maßstäbe für die Beurteilung der von ihr geregelten Sachverhalte aufweist. So endet nach Kelsen der Bereich der Rechtsanwendung und damit zugleich die rechtliche Bindung des Normadressaten dort, wo „freies Ermessen" besteht oder die Wahl zwischen verschiedenen — zu ergänzen wohl: in gleicher Weise plausiblen — Interpretationsmöglichkeiten zu treffen ist. 9 Auch normative Postulate der Verwirklichung etwa von „Freiheit", „Gleichheit" oder „Billigkeit", die zur Ausfüllung so entstehender Spielräume dienen könnten, haben für ihn mangels hinreichender Bestimmtheit der darin zum Ausdruck gebrachten Anschauungen keinen rechtlich bindenden Gehalt. 10 Im gleichen Sinne betont auch Hart den außerrechtlichen Charakter der zur Ausfüllung von Vagheitsspielräumen und bei der Entscheidung von Normkollisionen erforderlichen Wertungen. 11
5
Vgl. etwa Gusy, Gesetzgeber S. 143; Merten, DVB1. 1980, 773, 777; ferner die Nachweise oben 1. Kapitel Fn. 294. 6 S. etwa Korinek, VVDStRL 39 (1981), 7, 27. 7 Vgl. etwa Korinek, VVDStRL 39 (1981), 7, 27; zust. E.-W. Böckenförde, VVDStRL 39 (1981), 200 f. (Diskussionsbeitrag); Haller, ZSR 97, 1. Halbb. (1978), 501, 521; W. Böckenförde, Gleichheitssatz S. 77f.; wohl auch Fuß, in: FS für Schack S. 11,14f.; Η. P. Ipsen, in: Die Grundrechte II S. 111,156 f.; vgl. auch Leibholz, Strukturprobleme S. 168, 177 f., der Rechtsbindung verneint, wenn „rational standards" fehlen, mit deren Hilfe eine Norm einer „rechtlich-vernünftigen" Deutung fähig und zugänglich ist; ebenso ders., DVB1. 1974, 396, 397 f. 8 Vgl. zum positivistischen Rechtsbegriff Dreier, NJW 1986, 890 ff. 9 Kelsen, VVDStRL 5 (1929), 30, 68f.; ders., Reine Rechtslehre S. 346ff., 351; innerhalb des durch Normtext und Normzweck gewährten Rahmens liegt für Kelsen „authentische Interpretation" und damit Rechtserzeugung vor; vgl. dazu Ebsen, Bundesverfassungsgericht S. 115 ff. 10 Kelsen, VVDStRL 5 (1929), 30, 69; vgl. auch Fuß, in: FS für Schack S. 11, 14f. 11 Hart, Concept S. 121, 124ff., 249. 7*
100
2. Kap.: Bestimmungsfaktoren der Kontrolldichte
Ansatzpunkte für ein solches Verständnis finden sich auch in der aktuellen bundesdeutschen Literatur. So deutet sich die Vorstellung eines durch die Bestimmtheit der Norm gekennzeichneten „Rahmens, der den Bereich rechtlicher Determinierung von demjenigen rechtspolitischer Entscheidung sondert" 12 sowohl bei Vertretern eher traditioneller Orientierung 13 als auch bei neueren Kritikern der Methodik des Bundesverfassungsgerichts 14 an, wenn für die Unterscheidung von Recht und Politik verschiedentlich auf das Maß rechtlicher Ableitbarkeit der Entscheidung aus vorgegebenen Normen abgestellt und so die im Rahmen von Auslegung und Abwägung zwischen mehreren plausiblen Ergebnissen zu treffende Auswahl jedenfalls teilweise nicht mehr als Vollzug eines normativen Programms gewertet wird. 1 5 Indes hat sich die Unterscheidung von bestimmten und unbestimmten Rechtsbegriffen — sieht man von den seltenen Fällen tatbestandlicher Anknüpfung an absolute Maßeinheiten ab — rechtstheoretisch längst als eine lediglich graduelle erwiesen. So stützen die Ergebnisse der heutigen Methodendiskussion die Feststellung Göldners, daß „(prinzipiell gesehen) jeder Rechtsbegriff unbestimmt ist." 1 6 Kann die normative Kraft eines Rechtssatzes als solche damit nicht an die Bestimmtheit seiner Regelungsanordnung gebunden sein, ist auch der Grad der inhaltlichen Präzision einer Norm schwerlich geeignet, das Maß der durch sie vermittelten rechtlichen Gebundenheit widerzuspiegeln. Eine Anknüpfung der Wirkkraft der Verfassung an das Maß der Inhaltsbestimmtheit der maßgeblichen Verfassungsnorm, wie sie in der Staatsrechtslehre teilweise bereits zur Weimarer Zeit vertreten wurde 17 , müßte auch im Hinblick auf den hohen Abstraktionsgrad vieler im Grundgesetz enthaltener Rechtsbegriffe und die weiten Bereiche unsicherer verfassungsrechtlicher Determinierung bei grundrechtlich geforderten Abwägungen 18 zu einer weitgehenden Einschränkung der Verfassungsbindung führen. Dem steht jedoch die unter dem Grundgesetz vollzogene Wendung zu einer (auch) materiellen, „Sinnprinzipien" 12
So prägnant Ebsen, Bundesverfassungsgericht S. 119. Fuß, in: FS für Schack S. 11,14f.; H. P. Ipsen, in: Die Grundrechte II S. 111,157; s. auch Zeidler, DÖV 1971, 6, 12. 14 Schlink, EuGRZ 1984, 457, 462. 15 Explizit Schlink, EuGRZ 1984, 457, 462; Haller, ZSR 97, 1. Halbb. (1978), 501, 518 f., 521; ähnlich Gusy, Gesetzgeber S. 143; zusammenfassend zu entsprechenden Ansätzen Ebsen, Bundesverfassungsgericht S. 106 f. 16 Göldner, Verfassungsprinzip S. 39; ebenso etwa Engisch, Einführung S. 108; Esser, Vorverständnis S. 62; Krebs, Kontrolle S. 76; Ehmke, Ermessen S. 29; W. Schmidt, Gesetzesvollziehung S. 135; Schmidt-Aßmann, in: Maunz/Dürig, Art. 19 Abs. IV Rdn. 183; Erichsen, DVB1. 1985, 22. 17 Anschütz, WRV S. 514ff.; C. Schmitt, in: Handbuch des Deutschen Staatsrechts II S. 572, 597ff., 603. 18 Hierzu Ebsen, Bundesverfassungsgericht S. 48 ff.; Schlink, Abwägung S. 134ff., 152; allgemein auch Koch, EuGRZ 1986, 345, 356 ff. 13
Α. Materiell- und funktionsrechtliche Determinanten
101
vorgebenden und damit inhaltlich bestimmten Rechtsstaatlichkeit 19 und der gleichzeitig in Art. 20 Abs. 3 und 1 Abs. 3 GG zum Ausdruck gebrachte Wille zu unbedingter Normativität auch derart abstrakt formulierter Verfassungsprinzipien entgegen.20 Das Grundgesetz zielt — wie sich etwa in der Verpflichtung aller Staatsgewalt auf die Menschenwürde und in ihrer Bindung an materiale Zielbestimmungen wie das Sozialstaatsprinzip erweist — nicht nur auf die Errichtung eines „formellen Organisationsstatuts", sondern beansprucht darüber hinaus, auch inhaltliche Maßstäbe für die Ordnung des Gemeinwesens aufzustellen. 21 Die daraus folgende, in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts in vielfaltiger Form akzentuierte Verpflichtung staatlichen Handelns auf materiale Prinzipien oder Werte 22 ist vom Standpunkt des positivistischen Rechtsverständnisses — jedenfalls in seiner oben gekennzeichneten Variante — nicht einzufangen. 23 Eine materiale Verfassungsordnung bedingt — nicht zuletzt angesichts der Veränderlichkeit und Komplexität der betroffenen Lebensverhältnisse — eine zumindest teilweise sprachlich „offene", d.h. von konkreter Konfliktlösung abstrahierende und deshalb konkretisierungsbedürftige, gleichwohl aber verbindliche Regelbildung. 24 Zur Sicherung uneingeschränkter „Verfassungsverwirklichung" enthält sie den Auftrag, auch den abstrakten, unbestimmt formulierten Verfassungsnormen ein bestimmtes Maß an verbindlicher Wirkkraft abzugewinnen. Im Sinne dieser vom Grundgesetz selbst initiierten Verfassungsentwicklung haben etwa die Gebote der Menschenwürde und der Gleichheit ebenso wie die Grundsätze der Rechts- und Sozialstaatlichkeit einzelne verbindliche, überwiegend im Konsens der Verfassungsinterpreten erzielte Konkretisierungen erfahren. Während das Rechtsstaatsprinzip nach heutigem Verständnis neben den im Grundgesetz eigenständig angesprochenen Elementen auch durch die Gebote der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes, die Verpflichtung zu 19 Scheuner, DJT-Festschrift II S. 229, 247ff.; E.-W. Böckenförde, in: FS für Arndt S. 53, 72ff.; Schmidt-Aßmann, in: Handbuch des Staatsrechts I, § 24 Rdn. 29; Benda, in: Handbuch des Verfassungsrechts S. 477, 478 ff.; Grimm, AöR 97 (1972), 489, 491 ff.; Lipphardt, EuGRZ 1986, 149, 154; s. auch Hollerbach, in: Ideologie und Recht S. 37, 45ff.; J. P. Müller, ZSR Bd. 92, 2. Halbb. (1973), 687, 719, 721. 20 Göldner, Verfassungsprinzip S. 30 ff.; zum Charakter des Grundgesetzes als „normativer" Verfassung Bryde, Verfassungsentwicklung S. 27f., 37ff., 83. 21 Vgl. etwa Erichsen, in: Handbuch des Staatsrechts VI, § 152 Rdn. 5 ff.; Bryde, Verfassungsentwicklung S. 70ff.; Grimm, AöR 97 (1972), 489, 499f.; Kimminich, in: FS für Geiger S. 277, 281 ff.; s. auch Rupp, in: Handbuch des Staatsrechts I, § 28 Rdn. 35 ff. 22 Dazu im einzelnen unten 3. Kapitel Β I 1,2. 23 So auch Dreier, NJW 1986, 890, 892. 24 K. Hesse, Grundzüge Rdn. 23 ff.; Bryde, Verfassungsentwicklung S. 80ff.; BMI/Sachverständigenbericht Rdn. 23 f.; Stern, Staatsrecht I, § 4 III 3 (S. 128); krit. E.W. Böckenförde, AöR 106 (1981), 580, 598 f.
102
2. Kap.: Bestimmungsfaktoren der Kontrolldichte
fairem Verfahren und durch das Übermaßverbot gekennzeichnet ist 2 5 , wird dem Gebot der Wahrung der Menschenwürde in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip die Verpflichtung zur Gewährung eines — ggf. auch durch die Gerichte zahlenmäßig spezifizierbaren — Mindestsatzes an Sozialhilfe entnommen. 26 Daß solche Konkretisierungen jedenfalls nicht allein auf autonomer Rechtssetzung der beteiligten Organe beruhen, sondern die gefundenen Ergebnisse in „unfertigem Zustand" in der Verfassungsnorm selbst angelegt sein müssen, zeigt sich an ihrer Teilhabe an deren (Verfassungs-)Rang. Können aber auch unbestimmte Rechtssätze des Verfassungsrechts auf die Hervorbringung konkreter handlungsanleitender Maßstäbe zielen und diese der Rechtsentwicklung auferlegen, ist der Grad der Normativität der Verfassungsnormen grundsätzlich offen 27 und entspricht nicht dem Stand der durch Normbestimmtheit und Normkonkretisierung zu einem bestimmten Betrachtungszeitpunkt erreichten Regelungsdichte.28 Ist die Bestimmtheit der Verfassungsnormen danach kein geeignetes Kriterium zur Feststellung von Reichweite und Grenzen der Normativität des Grundgesetzes, kann die Anknüpfung an die verfassungsrechtliche Regelungsdichte das Maß der den Verfassungsadressaten treffenden rechtlichen Bindung nicht zutreffend bezeichnen.29 Im folgenden ist daher ohne Rückgriff auf den Abstraktionsgrad der Norm unmittelbar vom Ausmaß ihrer Normativität im Sinne ihrer Steuerungskraft als verbindliche Verhaltensanordnung für den Verfassungsadressaten zu sprechen und ihr so verstandener Gehalt als Handlungsmaßstab ihrer noch zu entwickelnden Wirkkraft als Kontrollmaßstab für das Bundesverfassungsgericht gegenüberzustellen.
25 Dazu Scheuner, DJT-FS II S. 229, 253 f.; Schmidt-Aßmann, in: Handbuch des Staatsrechts I, § 24 Rdn. 81 ff., 87; zur Verankerung des Übermaßverbots im Rechtsstaatsprinzip und in den Grundrechten s. BVerfGE 19, 342, 348; 61, 126, 134; 76, 1, 50 f. Zum Gebot fairen Verfahrens s. BVerfGE 26, 66, 71; 38, 105, 111; 65, 171, 175; 70, 297, 308. 26 BVerfGE 40, 121, 133f.; Dürig, in: Maunz/Dürig, Art. 1 Abs. I Rdn. 43f.; Breuer, in: BVerwG-FG S. 89, 95 f.; Bryde, Verfassungsentwicklung S. 306; s. auch Lücke, AöR 107 (1982), 15, 48 m.w.N. in Fn. 194. 27 Zu Einschränkungen der Konkretisierbarkeit lückenhafter Verfassungsbestimmungen s. aber unten II 3 c bb. 28 Zur Offenheit der Verfassung „in der Zeit" vgl. etwa K. Hesse, Grundzüge Rdn. 23; Häberle, Verfassung S. 59, 67ff.; Schenke, AÖR 103 (1978), 566, 576ff., 585ff.; Rupp, AöR 101 (1976), 161, 163 f.; zu Formen des Verfassungswandels ausführlich Bryde, Verfassungsentwicklung S. 283 ff.; s. auch die Kritik von Bachof, VVDStRL 39 (1981), 192 (Diskussionsbeitrag) an Korinek, VVDStRL 39 (1981), 7, 26 ff. 29 So im Ergebnis auch Krebs, Kontrolle S. 99f.; krit. zur Gleichsetzung von Verfassungsbindung und Justiziabilität auch Bryde, Verfassungsentwicklung S. 305; zur entsprechenden Diskussion im Verwaltungsrecht vgl. Krebs, Kontrolle S. 71 ff.; Beckmann, Rechtsschutz S. 97f., 130ff.
Α. Materiell- und funktionsrechtliche Determinanten
2. Normtheoretische
103
Prämissen zur Reichweite staatlicher Rechtsbindung
Wenn die zur Verfügung stehenden Handlungsmaßstäbe die Schlußfolgerung auf ein bestimmtes Verhalten als im Einzelfall gesollt nicht oder nicht eindeutig zulassen, entstehen Entscheidungsalternativen. 30 Stellen Abstraktheit und Unbestimmtheit einer Verfassungsnorm nach dem oben Gesagten keine prinzipielle Grenze der durch sie vermittelten Rechtsbindung dar, kann der Verfassung normative Kraft als Handlungsmaßstab auch dort zukommen, wo sie rationale Maßstäbe zur Reduzierung von Entscheidungsalternativen nicht im einzelnen bereits „präfixiert" 3 1 hat. Dieser Befund hat in der Literatur Anlaß gegeben, das Bestehen von Grenzen der verfassungsrechtlich vermittelten Rechtsbindung überhaupt zu bezweifeln. 32 Weist das Verfassungsrecht als Handlungsmaßstab danach unbegrenzte Wirkkraft auf, können sich aus der Reichweite der Rechtsbindung auch für die verfassungsgerichtliche Kontrolle keine Grenzen ergeben. 33 Allein mit dem Hinweis auf die Untauglichkeit der Verknüpfung von Normativität und Regelungsdichte der Verfassung ist die Unbegrenztheit der Rechtsbindung der verfassungsgebundenen Organe, die Annahme einer prinzipiellen Reduktion der Entscheidungsalternativen auf eine einzige rechtmäßige Entscheidung, indes noch nicht hinreichend begründet. Vielmehr ist zu fragen, ob in die Reduktion von Entscheidungsalternativen zumindest auch rechtlich nicht verbindliche, selbstbestimmte Maßstäbe 34 einfließen können und sich die Entscheidungsfindung zumindest in diesem Maße als ungebunden darstellt. Die Existenz solcher „außerrechtlichen" Maßstäbe hat Krebs unter Hinweis darauf in Frage gestellt, daß es angesichts der vielfaltigen Inkorporierung etwa politischer, sozialer oder kultureller Entscheidungsmaßstäbe in die positive Rechtsordnung keine ihrer Natur nach „außerrechtlichen" Maßstäbe geben könne. Auch für die Rechtsfindung im Einzelfall lasse sich kein Kriterium benennen, mit dessen Hilfe die vom Rechtsanwender heranzuziehenden Entscheidungsmaßstäbe in rechtlich verbindliche und unverbindliche unterteilt werden könnten. Da die Vagheit des Rechtssatzes den Rechtsanwender gerade erst zu eigener Maßstabbildung zwinge, könne der Rechtssatz selbst dieses Kriterium schwerlich liefern. 35 Grenzen der rechtlichen Determinierung staatlicher Entscheidungprozesse ließen sich daher nicht nachweisen. Dies soll auch für das Verfassungsrecht gelten. 36 30 31 32
304 f. 33
Krebs, Kontrolle S. 75. So anschaulich Krebs, Kontrolle S. 75 f. Krebs, Kontrolle S. 71 ff., 100; wohl auch Bryde, Verfassungsentwicklung S. 94,
In diesem Sinne Krebs, Kontrolle S. 99 f. Ossenbühl, Verwaltungsvorschriften S. 322 und Stüer, DVB1. 1974, 314, 316ff. sprechen von autonomen Bestandteilen der Handlungsnorm. 35 Krebs, Kontrolle S. 76f. 34
104
2. Kap.: Bestimmungsfaktoren der Kontrolldichte
Die These von der Unendlichkeit der verfassungsrechtlich vermittelten Bindung der Staatsorgane wird insoweit vornehmlich als rechtstheoretische Prämisse eingeführt. 37 Soweit sich Krebs zu ihrer Absicherung auf das Fehlen von Kriterien stützt, mit deren Hilfe rechtliche und außerrechtliche Verhaltensmaßstäbe voneinander geschieden werden könnten, vermag dies indes nicht zu überzeugen. Haben nach dem oben Gesagten Entscheidungsvorgaben auch dann als normativ verbindlich zu gelten, wenn sie, ohne durch den Normtext bereits eindeutig bestimmt zu sein, ihre Entfaltung erst im Zuge der Rechtskonkretisierung finden, muß die damit verbundene Relativierung der Anforderungen an die Bestimmtheit und Eindeutigkeit normativer Determinierung auch für diejenigen Normbestandteile gelten, die etwaige Grenzen der Normwirkung regeln. Daß derartige Normgrenzen abstrakt fixiert werden können, dürfte deshalb normtheoretisch nicht zu fordern sein. Läßt sich die Begrenztheit der Regelungsintention einer Norm feststellen, ist deren adäquate Umsetzung vielmehr eine an die Rechtsdogmatik zu stellende Forderung. Selbst wenn sie sich als nur eingeschränkt erfüllbar erwiese, kann dies, auch im Hinblick darauf, daß juristisches Verstehen als Verfahren geisteswissenschaftlicher Erkenntnis 38 grundsätzlich einen mathematischer Genauigkeit entsprechenden Grad an „Sicherheit" nicht zu erreichen vermag 39 , weitere normtheoretische Folgerungen nicht stützen. 40 Insoweit bleibt jedoch zu fragen, ob normativen Vorgaben allgemein eine Gesetzmäßigkeit innewohnt, die der Existenz außerrechtlicher Entscheidungsmaßstäbe prinzipiell entgegensteht. Die Unbegrenztheit normativer Bindungswirkung wird nun allerdings nur für solche Rechtssätze behauptet, die das Verhalten des Staates regeln. 41 Für die Privatrechtsordnung dürfte die These vom Ausschluß außerrechtlicher Entscheidungsmaßstäbe angesichts der Bedeutung der Selbstbestimmung der Entscheidungsträger in diesem Bereich dagegen auch kaum Plausibilität beanspruchen können. Auch der umfassende Vorbehalt einer sozial angemessenen Rechtsausübung in § 242 BGB vermag—etwa bei der Auswahl eines Vertragspartners oder der Wahl des Vertragsgegenstandes — die grundsätzliche Befugnis zu willkürlicher Entscheidung nicht zu beseitigen.42 Im Sinne einer umfassenden Disziplinierung des Staates soll hingegen vor allem das Willkürverbot der Annahme eines Bereichs rechtlich ungebundener Entscheidungsfindung entgegenstehen.43 36
Krebs, Kontrolle S. 100. Krebs, Kontrolle S. 71 ff., 74. 38 Vgl. Larenz, Methodenlehre S. 90ff., 174; Engisch, Einführung S. 71; vgl. aber auch F. Müller, Methodik S. 126 f., 164ff 39 F. Müller, Methodik S. 165; Tettinger, Einführung S. 124. 40 Anders Krebs, Kontrolle S. 77 mit Fn. 168 unter Hinweis auf das Fehlen eines Konsenses über die Methoden der Norminterpretation. 41 Krebs, Kontrolle S. 72 42 Zum Verhältnis derartig zwingender Grenzen der Rechtsausübung im Privatrecht zur dort grundsätzlich geltenden Autonomie vgl. auch unten 3. Kapitel Β II 5 b. 37
Α. Materiell- und funktionsrechtliche Determinanten
105
Ob es sich bei einer solchen Annahme allerdings noch um eine normtheoretische Prämisse handeln kann, erscheint zweifelhaft. Die das staatliche Verhalten regelnden Rechtssätze des öffentlichen Rechts unterscheiden sich von denjenigen des Privatrechts nach heute herrschendem Verständnis nicht in einer prinzipiellen Andersartigkeit ihrer Rechtsfolgen, sondern nur im Hinblick auf ihre unterschiedlichen Zuordnungssubjekte. 44 Ein Rechtssatz kann deshalb sowohl an Privatrechtssubjekte als auch an Hoheitsträger adressiert sein, ohne daß dies Auswirkungen auf seinen Regelungsinhalt zeitigen müßte. 45 Wird die Unbegrenztheit rechtlicher Bindung nur zu Lasten der insoweit geregelten staatlichen Entscheidungsprozesse angenommen, kann die behauptete infinite Normwirkung demnach nicht allgemeinen normtheoretischen Gesetzmäßigkeiten folgen, sondern entspringt, worauf auch der Verweis auf das Willkürverbot deutet, der Annahme eines spezifischen Bedürfnisses zu staatsgerichteter Disziplinierung. Inhalt und Reichweite eines solchen, nicht apriorisch fixierten, sondern etwa auf den Bereich von Grundrechtsbeschränkungen begrenzbaren, erhöhten Bedarfs staatlicher Rechtsbindung und seine materiellrechtliche Umsetzung unterliegen jedoch wiederum ausschließlich dogmatischer Betrachtung. Die Annahme einer prinzipiellen Unbegrenztheit normativer Maßstäbe vermag auf normtheoretischer Ebene demnach nicht zu überzeugen. Die Feststellung von Reichweite und Grenzen staatlicher Verfassungsbindung verbleibt deshalb als Aufgabe von Verfassungstheorie und -dogmatik. 3. Die Grenzen der Normativität
des Grundgesetzes
a) Die Annahme der Unendlichkeit verfassungsrechtlicher Bindungen wirft zunächst Zweifel aus verfassungstheoretischer Sicht auf. Die Unbegrenztheit der verfassungsrechtlichen Gebundenheit der Staatsorgane kann nur bedeuten, daß die Verfassung die von ihr thematisierten Sachbereiche — angesichts ihrer abstrakten Fassung dürfte sich hier allerdings kaum ein Wirklichkeitsausschnitt ausnehmen lassen — in abschließender Weise selbst regelt oder die Möglichkeit der Gewinnung einer solchen Regelung in sich birgt. Wäre die Wirkkraft der Verfassung als Maßstab staatlichen Handelns dabei „unendlich", müßte sich jede verfassungsgemäße — etwa durch unterverfassungsrechtlichen Rechtssatz getroffene — sachliche Regelung zugleich auch auf Verfassungsrecht zurückführen lassen. Würde die Verfassung der einfachrechtlichen Rechtsgestaltung aber keine Entscheidungsmöglichkeiten eröffnen, erschiene jedes dabei erzielte Ergebnis — sofern verfassungsgemäß — zugleich 43
Krebs, Kontrolle S. 78; s. zur Bedeutung des Willkürverbots unten II 3 c bb (3). Vgl. Wolff/ Bachof, Verwaltungsrecht I, § 22 II c (S. 99); Erichsen, Verwaltungsrecht S. 27 ff.; Ehlers, Verwaltung S. 61 f. 45 Umstritten ist insoweit nur die Zuordnung eines solchen Rechtssatzes zum öffentlichen oder privaten Recht, vgl. einerseits Ehlers, Verwaltung S. 60; andererseits Erichsen, Jura 1982, 537, 541. 44
106
2. Kap.: Bestimmungsfaktoren der Kontrolldichte
stets auch als verfassungskräftig geboten. Als solches müßte es am Rang der Verfassung als höchster innerstaatlicher Rechtsquelle teilhaben. Die Unbegrenztheit der Verfassungsbindung mündet somit in deren Ausschließlichkeit. Nicht nur würde die unterverfassungsrechtliche Rechtsordnung aus dieser Sicht weitgehend auf Verfassungsrecht gründen. 46 Auch die in ihr enthaltenen Sollensanordnungen erschienen damit verfassungskräftig festgeschrieben und ließen sich nur im Zuge einer vornehmlich dem Gesetzgeber aufgegebenen, stetigen „Verfassungsentwicklung" reformieren. Das so entstehende Übermaß verfassungsrechtlicher Rechtsbindung könnte nur durch die Zuweisung erheblicher Freiheiten bei der Verfassungskonkretisierenden Feststellung der jeweiligen Vorgaben und ihrer Fortschreibung bewältigt werden. Dies müßte jedoch dem Anliegen der angesichts Art. 20 Abs. 3,79 Abs. 2 und 3 GG im Grundsatz „rigiden", ihre Fortbildung nicht in die Disposition des einfachen Gesetzgebers stellenden grundgesetzlichen Verfassungsordnung 47 zuwiderlaufen. Eine gleichermaßen „totale" wie damit notwendigerweise zugleich auch „fließende" Verfassung könnte zudem nicht mehr gewährleisten, was nach heutigem, materiell-normativem Verfassungsverständnis 48 Sinn und Inhalt von Verfassungsrecht bildet: die Konstituierung von herausgehobener, spezifischer Gebundenheit an ein als grundlegend betrachtetes Reglement des Staates.49 b) Das Grundgesetz ist zu Recht als eine von problem- und fallspezifischer Anordnung weitgehend gelöste, wissenschaftlich-systematisch orientierte Kodifikation beschrieben worden, die erhebliche Abstraktionen aufweist und dabei auf die Verwendung flexibler und konkretisierungsbedürftiger Normsätze angewiesen ist. 5 0 Soweit daraus allerdings gefolgert werden sollte, daß sich — auch insoweit kontinentaler Tradition folgend — in einer derartigen Regelungsstruktur die Unbegrenztheit ihres Bindungsanspruchs dokumentiert 51 , stehen dem die Umstände ihrer Entstehung entgegen. Verfassungsgeschichtliche Untersuchungen haben gezeigt, daß die Übernahme abstrakter Grundsätze und Prinzipien in das Grundgesetz vor allem aus dem 46
Krit. demgegenüber auch Wahl, NVwZ 1984, 401, 406 ff. Dazu Bryde, Verfassungsentwicklung S. 45, 57 f. 48 Dazu Kägi, Verfassung S. 49; Hollerbach, in: Ideologie und Recht S. 37, 45 ff.; Isensee, in: Handbuch des Staatsrechts I, § 13 Rdn. 129,139; Kirchhof, in: Handbuch des Staatsrechts I, § 19 Rdn. Iff.; J. P. Müller, ZSR 92, 2. Halbb. (1973), 687, 719, 721. 49 S. dazu bereits Emer de Vattel, zit. bei Isensee, in: Handbuch des Staatsrechts I, § 13 Rdn. 139; ferner Schmitt Glaeser, AöR 107 (1982), 337, 340; Grimm, AöR 97 (1972), 489, 507; Stern, Staatsrecht I, § 3 II 3, 4 (S. 74ff.); krit. gegenüber einer Überfrachtung der Verfassung mit inhaltlichen Konzeptionen vor allem Hennis, Verfassung S. 19 ff.; weitgehend zustimmend dazu K. Hesse, AöR 96 (1971), 137, 138 f. 50 S. soeben 1.; vgl. auch Stern, Staatsrecht I, § 3 III 3 a (S. 83 f.); Bryde, Verfassungsentwicklung S. 89 ff. 51 Bryde, Verfassungsentwicklung S. 85. 47
Α. Materiell- und funktionsrechtliche Determinanten
107
Bemühen um die Erzielung von Konsens erfolgte, der für konkretere Vorgaben etwa zur Arbeits- und Sozialordnung angesichts des Gleichgewichts der großen politischen Strömungen im Parlamentarischen Rat nicht zu erzielen war. 5 2 Waren die Beteiligten dabei vornehmlich um eine Offenhaltung ihrer Gestaltungsmöglichkeiten für den Fall eines späteren Wahlsieges bemüht 53 , weist dies daraufhin, daß mit der Einigung auf jene Abstraktionen nicht die Schaffung von Verfassungsrechtssätzen mit unbegrenzter Bindungskraft und damit eine vollständige verfassungsimmanente Reduktion der nach dem Normtext verbleibenden Entscheidungsalternativen intendiert war. 5 4 c) Einem auf Totalität der verfassungsrechtlich vermittelten Rechtsbindung zielenden Verfassungsverständnis wäre auch die in Art. 20 Abs. 3, 79 Abs. 1 und 2 sowie Art. 100 Abs. 1 S. 1 und 2 GG verfassungsrechtlich akzentuierte Unterscheidung von verfassungsrechtlicher und unterverfassungsrechtlicher Normwirkung entgegenzuhalten. Es würde zudem die Bedeutung verkennen, die das Grundgesetz dem einfachen Gesetzesrecht bei der Verwirklichung der von ihm intendierten Ordnung zuweist. Das Grundgesetz konstituiert einen demokratisch verfaßten Staat. Die durch das Demokratieprinzip geforderte und in Art. 20 Abs. 2 S. 2 GG bestätigte zentrale Bedeutung der Wahlentscheidung für die Ordnung eines solchen Gemeinwesens wäre bei Annahme unbegrenzter verfassungsrechtlicher Gebundenheit der gesetzgebenden Organe weitgehend aufgehoben. Sozialgestaltung wäre auf Verfassungserkenntnis und -Vollzug beschränkt, für eine — wenn auch verfassungsrechtlich begrenzte — rechtlich nicht vorentschiedene, politische Gestaltung bliebe kein Raum. 55 Nicht nur das demokratische Prinzip fordert jedoch derartige Freiräume. 56 Auch in vielen Einzelvorschriften des Grundgesetzes ist die Eigenständigkeit unterverfassungsrechtlicher Normsetzung, sei es derjenigen der gesetzgebenden oder der einer satzungsbefugten Gewalt 5 7 , vorausgesetzt. So wird dem Gesetzgeber häufig durch die Formulierung „Das Nähere regelt ein Bundesgesetz" eine eigene Gestaltung vorbehalten 58 oder ihm in anderer Form ausdrücklich die Befugnis zur Entscheidung über bestimmte Maßnahmen eingeräumt. 59 Selbst 52 Dazu Mayer/Stuby, Entstehung S. 128ff.; W. Weber, Staat 4 (1965), 409, 41 Iff.; Altendorf, ZParl 1979, 405, 410; Gusy, Gesetzgeber S. 94 f. 53 Gusy, Gesetzgeber S. 95. 54 So auch Gusy, Gesetzgeber S. 95. 55 Gusy, JöR 33 (1984), 105,117; vgl. auch Fikentscher, Methoden IV S. 171; K. Hesse, AöR 96 (1971), 137, 139; krit. auch Scheuner, in: FS für Forsthoff S. 325, 326f. 56 Gusy, JöR 33 (1984), 105, 117; Grimm, in: Sozialwissenschaften S. 83, 95 ff. 57 Vgl. Art. 28 Abs. 2 S. 1 GG: „Den Gemeinden muß das Recht gewährleistet sein, alle Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft ... in eigener Verantwortung zu regeln." 58 Vgl. nur Art. 21 Abs. 3,26 Abs. 2,38 Abs. 3,45 b S. 2,45 c Abs. 2,48 Abs. 3 S. 3, 54 Abs. 7, 94 Abs. 2, 104 Abs. 2 S. 4, 106 Abs. 3 S. 3 GG. 59 So etwa in Art. 24 Abs. 1 GG.
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2. Kap.: Bestimmungsfaktoren der Kontrolldichte
einen so sensiblen Bereich wie den der Freiheitsbeschränkung öffnet die Verfassung, wie das Nebeneinander von Grundrechten mit und ohne Gesetzesvorbehalt erkennen läßt, teilweise nicht nur verfassungsimmanenter, sondern auch gesetzlicher Maßstabbildung. 60 Im Falle des Eigentums wird die Ausgestaltung der Verfassungsgarantie in gewissem Umfang explizit dem Gesetzgeber übertragen. Für eine Reihe von Grundrechten geht das Grundgesetz mit seiner Unterscheidung von Grundrechtseinschränkungen „durch oder aufgrund Gesetzes" zudem von der — wenn auch beschränkten — Möglichkeit zur Delegation der Entscheidung über grundrechtsbeeinträchtigende Maßnahmen aus. Dieser Befund erlaubt zwei Folgerungen: aa) Als eine Verfassung, die sich abschließender eigener Regelung vielfach enthält und diese der politischen Entscheidungsfindung überläßt, zielt das Grundgesetz nicht auf die Aufstellung lückenloser Handlungsmaßstäbe, sondern macht von der jeder Kodifikation offenstehenden Möglichkeit zu tatbestandlicher Unvollständigkeit 61 Gebrauch. 62 Setzt es in vielfaltigen Zusammenhängen die Eigenständigkeit unterverfassungsrechtlicher Rechtssetzung voraus, birgt es nicht die gesamte Rechtsordnung „in nuce" in sich 63 und bildet insoweit nicht Grund, sondern Grenze des einfachen Rechts. 64 Der Vorrang der Verfassung und die Eigenständigkeit des Gesetzesrechts sind unter dem Grundgesetz damit in ein dialektisches Spannungsverhältnis eingebunden: endet einerseits die Eigenständigkeit des Gesetzesrechts an den Vorgaben der Verfassung, bewahrt diese andererseits ihre Bedeutung als grundlegende Ordnungsmaxime nur, wenn sie Raum für originäre gesetzgeberische Entscheidungen beläßt. 65 bb) Die Lückenhaftigkeit der grundgesetzlichen Handlungsvorgaben 66 läßt es fraglich erscheinen, ob die Verfassung selbst dort, wo sie bindende Vorgaben enthält, grundsätzlich unbegrenzt konkretisierungsfähige Rechtsfolgenanordnungen aufweist. Wäre dies der Fall, ließen sich die tatbestandlichen Grenzen einzelner Verfassungsnormen durch den Rückgriff auf abstrakte Verfassungs60
Vgl. auch Rupp, in: Verhandlungen des 46. DJT I, 3 A S. 165, 206, 208. Dazu Larenz, Methodenlehre S. 354ff., 360; Engisch, Einführung S. 141 f.; Fikentscher, Methoden IV S. 164ff.; Canaris, Lücken S. 39f. 62 Zur bewußten Unvollständigkeit der Regelungen zur „Wirtschaftsverfassung" etwa BVerfGE 50, 290, 336 ff.; K. Hesse, Grundzüge Rdn. 22; krit. zum Begriff, aber im Ergebnis zust. auch Scheuner, Einwirkung S. 23 ff., 28 f. m.w.N.; weitere Beispiele für eine bewußte Zurückhaltung grundgesetzlicher Regelung bei Schmitt Glaeser, AöR 107 (1982), 337, 341; Gusy, Verfassungspolitik S. 33 ff. 63 So auch Wahl, NVwZ 1984, 401, 409. 64 Vgl. auch etwa Stern, Staatsrecht I, § 3 III 3 b; Roellecke, VVDStRL 34 (1976), 7, 35ff.; Wahl, NVwZ 1984, 401, 406ff.; E.-W. Böckenförde, NJW 1976, 2089, 2091, 2099. 65 So im Ansatz auch J. Ipsen, Richterrecht S. 185. 66 Zur Unterscheidung der den Tatbestand der Verfassungsnormen betreffenden „Lückenhaftigkeit" von ihrer „Offenheit" als Eigenschaft der Rechtsfolgenanordnung vgl. Gusy, JöR 33 (1984), 105, 106. 61
Α. Materiell- und funktionsrechtliche Determinanten
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prinzipien überspielen und bliebe die durch die Lückenhaftigkeit des Grundgesetzes geschaffene Öffnung zu verfassungsrechtlich nicht determinierter Rechtsgestaltung wirkungslos. 67 Der Annahme prinzipieller „Endlichkeit" der Normativität des Grundgesetzes, also der Begrenztheit seiner Entscheidungsalternativen reduzierenden Wirkkraft, kann auch im Rahmen einer rechtsdogmatischen Betrachtung nicht entgegengehalten werden, daß sich solche Grenzen der vagen Rechtsnorm in abstrakter Form nicht bezeichnen lassen.68 Geht die Verfassung — wie das Bestehen bewußter tatbestandlicher Regelungslücken erweist — von der prinzipiellen Unterscheidbarkeit unvollständiger und unbestimmter Normbefehle aus, kann auch der mangelnde Konsens über die Methoden der Norminterpretation, auf den sich zur Begründung verweisen ließe 69 , das Bemühen um diese Unterscheidung und die Zuordnung des jeweiligen Rechtssatzes im Einzelfall nicht erübrigen. Soweit der Verfassungstext die Reichweite des normativen Regelungsanspruchs nicht mit hinreichender Sicherheit erkennen läßt, können dazu Regelungsstruktur und -systematik und möglicherweise auch Zielsetzung und Gegenstand der fraglichen Verfassungsbestimmungen Hinweise geben.70 Im Bereich der das staatliche Handeln gegenüber dem Bürger inhaltlich bestimmenden Normen finden sich Verfassungsbestimmungen von ganz unterschiedlicher Regelungsstruktur. Allein die Grundrechtsnormen weisen im Verständnis des Bundesverfassungsgerichts und der ihm folgenden Lehre neben ihrem Gehalt als subjektive Abwehrrechte die Eigenschaft „wertentscheidender Grundsatznormen" und teilweise auch die Bedeutung von institutionellen
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So müßte die in Art. 38 Abs. 3 GG enthaltene Verweisung auf eine gesetzliche Ausgestaltung des Wahlrechts leerlaufen, würde aus abstrakteren Verfassungsgrundsätzen wie etwa der Wahlrechtsgleichheit, dem Demokratieprinzip oder gar dem allgemeinen Gleichheitssatz auf ein bestimmtes Wahlrechtssystem als allein verfassungsgemäß geschlossen; dazu auch unten Fn. 79. 68 Dazu aus rechtstheoretischer Sicht bereits oben II 2. 69 Vgl. Krebs, Kontrolle S. 77 Fn. 168. 70 Anhand des Regelungsgegenstandes lassen sich wenigstens drei Gruppen verfassungsrechtlicher Maßstäbe unterscheiden: Normen mit einer die staatliche Entscheidung sachlich-inhaltlich prägenden Kraft, organisations- und verfahrensbezogene und schließlich zuständigkeitsbegründende Rechtssätze. Möglicherweise läßt sich bei der Feststellung der Reichweite des grundgesetzlichen Regelungsanspruchs insoweit eine Typenbildung vornehmen. So dürfte im Bereich der Zuständigkeitsnormen angesichts des rechtsstaatlichen Gebots normativer Aufgabenzuweisung von einer unbegrenzten Regelungsintention, im von weitgehender Delegation der Regelungsbefugnis gekennzeichneten Bereich des Verfahrensrechts — vgl. etwa Art. 4 Abs. 3 S. 2, 29 Abs. 7 S. 2, 54 Abs. 7, 95 Abs. 3 S. 2 GG — und dem weitgehend der politischen Praxis überlassenen Organisationsrecht — vgl. Art. 62, 65, 69 GG zur Zusammensetzung der Regierung und Art. 63, 67, 68 GG zum Verhältnis von Regierung und Parlament — dagegen von einer bloßen Rahmensetzung auszugehen sein. Im Ansatz ähnlich Steinberg, JZ 1980, 385, 387; s. auch E.-W, Böckenförde, NJW 1976, 2089, 2099.
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2. Kap.: Bestimmungsfaktoren der Kontrolldichte
Gewährleistungen oder Institutsgarantien auf. 71 Daneben enthält das Grundgesetz Gesetzgebungsaufträge und Staatszielbestimmungen. Betrachtet man diese Regelungstypen in ihrem systematischen Zusammenhang, lassen sich ihnen bestimmte Grenzen der jeweils intendierten Rechtsbindung zuordnen, so daß die Regelungssystematik des Grundgesetzes auf das Bestehen verfassungsimmanenter „Konkretisierungsverbote" weist. 72 Das soll an einigen Beispielen verdeutlicht werden: (1) Die grundrechtlichen Eingriffsverbote zielen — ihrer Funktion als Mittel zur Sicherung der Individualsphäre gemäß — auf eine vollständige Bindung staatlichen Handelns. 73 Sie sind deshalb grundsätzlich einer unbegrenzten Konkretisierung anhand der Umstände des Einzelfalls zugänglich und bedürftig. Jenseits der durch das Übermaßverbot und seine sachbereichsspezifischen Ausprägungen gezogenen Grenzen 74 beschränken sich die Grundrechte allerdings regelmäßig auf die Begründung der Zuständigkeit des Gesetzgebers zur Wahl des mit dem Eingriff verfolgten Regelungsziels und räumen diesem damit eine „Zwecksetzungskompetenz" ein. 75 Sie enthalten insoweit kein zur Herstellung umfassender Bindung geeignetes Normprogramm, lassen also ein Spektrum verfassungsrechtlich unbedenklicher Eingriffszwecke zu. Dieser in der Unterscheidung von qualifiziertem und einfachem Gesetzesvorbehalt angelegten Regelung würde nun aber ein Verständnis der Grundrechte als „objektive", wertentscheidende Grundsatznormen zuwiderlaufen, nach dem sich der Gesetzgeber bei der Auswahl des im Einzelfall verfolgten Regelungsziels nicht nur an einer Wertordnung zu orientieren, sondern dieser im Sinne einer Wertrangordnung auch eine bestimmte Gewichtung der mit dem Eingriff verfolgten öffentlichen oder privaten Belange zu entnehmen hätte, die seine Entscheidung weitgehend oder vollständig determiniert. 76 (2) Nicht nur bei den die Staatstätigkeit begrenzenden, auch im Bereich der den Staat positiv verpflichtenden Regeln lassen sich entsprechende Grenzen der Konkretisierbarkeit von Verfassungsrecht erkennen. (a) Das Grundgesetz enthält eine Reihe von Gesetzgebungsaufträgen, die die Regelung bestimmter Vorhaben oder Sachfragen oder den Erlaß von Normen 71
Vgl. etwa jüngst BVerfGE 76, 1, 41 zu Art. 6 Abs. 1 GG. So im Ergebnis, wenn auch funktionsrechtlich ansetzend, auch Gusy, JöR 33 (1984), 105, 126ff; ders., Gesetzgeber S. 143. 73 Roellecke, Politik S. 165; Gusy, Gesetzgeber S. 146 f. 74 So beschränkt das Übermaßverbot die Auswahl des Regelungsziels, wenn ein Mittel außer Verhältnis zum verfolgten Zweck steht, ein anderes Mittel aber nicht in Betracht kommt — vgl. Grabitz, AöR 98 (1973), 568, 602. 75 Hierzu Grabitz, AöR 98 (1973), 568, 602ff, 608; dort auch genauer zu den Abstufungen der Verfassungsbindung des Gesetzgebers bei der Qualifikation öffentlicher Interessen. 76 Zur Wertordnungslehre und ihren Grenzen ausführlich unten 3. Kapitel Β I 3. 72
Α. Materiell- und funktionsrechtliche Determinanten
111
für einzelne Lebensbereiche anordnen. 77 Derartige Bestimmungen weisen teilweise — wie etwa Art. 21 Abs. 3, 38 Abs. 3 oder Art. 41 Abs. 3 GG — keine näheren inhaltlichen oder modalen Vorgaben auf. 78 Sind in der den Handlungsauftrag erteilenden Verfassungsnorm keine inhaltsbestimmenden Maßstäbe für dessen Ausführung vorgesehen, muß der Versuch, übergeordnete grundgesetzliche Leitprinzipien dahingehend zu konkretisieren, daß sie Entscheidungsalternativen bei der Wahrnehmung der Staatsaufgabe von vornherein auf die Auswahl einer bestimmten Maßnahme reduzieren, im Hinblick auf die verfassungsrechtliche Regelungssystematik Bedenken erwecken. 79 Die Notwendigkeit zur Schaffung eines Gesetzgebungsauftrags resultiert gerade aus der Erkenntnis, daß die zu regelnde Materie unmittelbar anwendbarem Verfassungsrecht nicht unterfallt. 80 Jene allgemeinen Regeln können deshalb nur den Rahmen für seine Ausführung bilden. 81 (b) Staatszielbestimmungen wie das in Art. 20 Abs. 1 und 28 Abs. 1 GG verankerte Sozialstaatsprinzip oder der Auftrag zur Wahrung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts aus Art. 109 Abs. 2 GG sind Verfassungsnormen mit rechtlich bindender Wirkung, die der Staatstätigkeit die fortdauernde Beachtung oder Erfüllung bestimmter Aufgaben vorschreiben. 82 Sie legen ein Ziel staatlichen Handelns fest, lassen die Wege, Mittel und den Grad ihrer Verwirklichung aber offen. 83 Die Begrenztheit der etwa dem Sozialstaatsprinzip eigenen Rechtsbindung zeigt sich bei einem Vergleich mit den verfassungsrechtlich vereinzelt verankerten sozialen Grundrechten. Während Art. 6 Abs. 4 GG ein bestimmtes Maß an positiven, aus sich heraus vollziehbaren Leistungsansprüchen gewährt, birgt das Prinzip der Sozialstaatlichkeit die Verwirklichung seiner Zielsetzung nicht als „seif executing" in sich, sondern ordnet sie der nicht näher eingegrenzten, gestaltenden Aktivität staatlicher Instanzen zu. 8 4 Ist nach der Regelungs77 Zu diesem Regelungstypus vgl. Scheuner, in: FS für Forsthoff S. 325, 333 f.; Gusy, Gesetzgeber S. 148 ff.; BMI/Sachverständigenbericht Rdn. 8; s. auch bereits Lerche, AöR 90 (1965), 341, 354ff. 78 Vgl. Gusy, Gesetzgeber S. 150f.; Denninger, JZ 1966, 767, 770ff.; Wienholtz, Verfassung S. 34f., 66ff.; anders aber Art. 6 Abs. 5 GG, für den angesichts seiner inhaltlichen Bestimmtheit besondere Grundsätze gelten können, vgl. BVerfGE 8,210,216; 17, 280, 284; 25, 167, 173 ff.; Wienholtz, Verfassung S. 49fT.; dag. aber Schenke, Rechtsschutz S. 178 ff. 79 So schließt etwa Art. 38 Abs. 3 GG ein Verständnis des Grundsatzes der Gleichheit der Wahl aus, das nur das Verhältniswahlrecht als verfassungskonform zuließe; dazu nur Bryde, Verfassungsentwicklung S. 296. 80 Vgl. auch Gusy, Gesetzgeber S. 159. 81 S. auch Lerche, AöR 90 (1965), 341, 354ff. 82 Zum Begriff BMI/Sachverständigenbericht Rdn. 7. 83 Vgl. BMI/Sachverständigenbericht Rdn. 7, 29, 60. 84 Bieback, EuGRZ 1985, 657, 658, 663 ff.; Stern, Staatsrecht I, §21 III 3; E.-W. Böckenförde, in: Soziale Grundrechte S. 7,11 f.; BMI/Sachverständigenbericht Rdn. 29.
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2. Kap.: Bestimmungsfaktoren der Kontrolldichte
systematik des Grundgesetzes damit zwischen Handlungsauftrag und verfassungsunmittelbarer Gewährung zu unterscheiden und deutet die Entstehungsgeschichte insoweit auf eine bewußte Differenzierung des Parlamentarischen Rates hin 8 5 , verbietet sich eine dies nivellierende, auf bestimmte Formen einfachgesetzlicher sozialer Absicherung oder gar auf die Begründung verfassungsimmanenter Leistungsansprüche zielende Konkretisierung der abstrakten Verfassungsnorm. 86 Eine vollständige Reduktion der sich dem Gesetzgeber bietenden Entscheidungsalternativen bei der Regelung von Voraussetzungen, Inhalt und Umfang sozialer Leistungsrechte intendiert das Grundgesetz mit seinem Bekenntnis zur sozialen Verpflichtung der Staatsgewalt nicht. 87 So ist etwa ein subjektives „Recht auf Arbeit" unter dem Grundgesetz lediglich politisches Programm.** Auch die den Staatszielbestimmungen eigene Normstruktur entfaltet demnach Sperrwirkung gegenüber einer unbegrenzten Gewinnung verfassungskräftiger Konkretisierungen. (3) Als die Staatsgewalt unbegrenzt verpflichtende Verfassungsanordnungen ließen sich allenfalls solche Rechtsgrundsätze denken, die — ohne durch Regelungsstruktur oder -systematik bedingte Einschränkungen aufzuweisen — staatliches Verhalten generell zu prägen bestimmt sind. Unbegrenzte Bindungswirkung könnte zum einen dem aus Art. 3 Abs. 1 GG abgeleiteten Willkürverbot 8 9 , zum anderen einem allgemeinen verfassungsrechtlichen „Gerechtigkeitspostulat" zukommen. Zu Recht ist darauf hingewiesen worden, daß das Willkürverbot als verfassungsrechtlich unmittelbar verpflichtende Regelung jede inhaltlich im übrigen nicht gebundene Auswahl zwischen Entscheidungsalternativen zu steuern geeignet ist. 9 0 Willkürlich ist die Auswahl nach der allgemein hierzu verwandten 85
v. Doemming/Füßlein/Matz, JöR 1 (1951), 58, 61 f., 95f.; Weber, Staat 4 (1965), 409, 412 ff. 86 Breuer, in: BVerwG-FG S. 89, 92f.; J. P. Müller, ZSR 92, 2. Halbb. (1973), 687, 879 f.; allgemein auch Benda, in: Handbuch des Verfassungsrechts S. 477,511,517; zu dem aus dem Gebot des Schutzes der Menschenwürde folgenden Anspruch auf staatliche Hilfeleistung zur Sicherung des Existenzminimums vgl. aber Breuer, in: BVerwG-FG S. 89,95 f. sowie die Nachweise oben Fn. 26; für eine weitergehende Konkretisierung und Versubjektivierung des Sozialstaatsprinzips allerdings Lücke, AöR 107 (1982), 15, 48 f., 53 ff. 87 K. Hesse, Grundzüge Rdn. 215; E.-W. Böckenförde, NJW 1974, 1529, 1538; Bieback, EuGRZ 1985,657,666; s. auch Scheuner, in: FS für Forsthoff S. 325,336,339f.; allgemein auch BMI/Sachverständigenbericht Rdn. 25. 88 S. auch Zacher, in: Handbuch des Staatsrechts I, § 25 Rdn. 28; Scholz, in: Soziale Grundrechte S. 75, 82. 89 Daß der Gleichheitssatz mit seinem über das Willkürverbot hinausgehenden Gebot, sachlich gleiche Tatbestände gleich zu behandeln, eine solche von tatbestandlicher Einschränkung unabhängige Wirkkraft nicht aufweisen kann, zeigt sein Angewiesensein auf vergleichbare vorgängige Regelungen, s. Dürig, in: Maunz/Dürig, Art. 3 Abs. I Rdn. 295 f. 90 Krebs, Kontrolle S. 78.
Α. Materiell- und funktionsrechtliche Determinanten
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Formel indes nur, wenn die vorgenommene Gleich- oder Ungleichbehandlung nicht auf vernünftigen, sachgerechten Erwägungen beruht. 91 Das Willkürverbot zielt nach dieser Formulierung nicht auf eine vollständige Reduktion von Entscheidungsalternativen. Es erschöpft sich vielmehr in der Anordnung einer an der Sache orientierten Verwirklichung des gewählten Regelungsziels.92 Ihm wohnt also lediglich Sperrwirkung im Hinblick auf bestimmte, die Auswahl leitende Kriterien inne. Seinen Anforderungen ist mit der Wahl einer adäquaten Verhaltensalternative Genüge getan. In diesem Sinne herrscht heute weitgehend Einigkeit darüber, daß das Willkürverbot den betreffenden Staatsorganen ihre anderweitig eröffnete Zwecksetzungs- und Gestaltungsfreiheit grundsätzlich beläßt. 93 Über das Bestehen einer allgemeinen, aus Art. 20 Abs. 3 G G und dem Rechtsstaatsprinzip folgenden 94 , aber auch in Art. 3 Abs. 1 GG angelegten95 Verpflichtung der Staatsorgane auf das Postulat gerechter Entscheidung besteht unter dem Grundgesetz kein Streit. 96 Ob das Gebot der Beachtung dieses Grundanliegens allen Rechts seinen Adressaten aber ein zusätzliches Maß an verfassungsrechtlicher Rechtsbindung zu vermitteln geeignet ist, erscheint fraglich. Das Grundgesetz zielt mit einer Vielzahl das staatliche Verhalten materiell steuernden Regelungen darauf ab, zumindest für den Regelfall das Postulat der Gerechtigkeit selbst einzulösen.97 Im Grundsatz zutreffend ist deshalb festgestellt worden, daß die Idee der Gerechtigkeit „ i n dem Umfang und in der Weise [gilt], wie sie das Grundgesetz rezipiert und verwirklicht". 98 Unabhängig davon, ob danach ein Auseinanderfallen von „Gesetz und Recht" unter dem Grundgesetz überhaupt möglich erscheint 99 , darf das 91
Vgl. etwa BVerfGE 1,14, 52; 4,144,155; 10, 234,246; 49,192, 209; 61,138,147; 68, 237, 250; 71, 39, 53; 75, 108, 157; 76, 256, 329; Leibholz, Gleichheit S. 72ff.; Dürig, in: Maunz/Dürig, Art. 3 Abs. I Rdn. 338 f. für den Gleichheitssatz als Kontrollmaßstab; ebenso K. Hesse, Grundzüge Rdn. 438 f. 92 BVerfGE 17, 381, 388f. 93 BVerfGE 4,7,18; 17,122,130; 36,102,117; 60,16,42f.; 64,158,169; 69,150,159f.; Gubelt, in: v. Münch I, Art. 3 Rdn. 19f.; Gusy, NJW 1988, 2505, 2507f., 2509f.; grundsätzlich auch Dürig, in: Maunz/Dürig, Art. 3 Abs. I Rdn. 295. 94 BVerfGE 3, 225, 237f.; 7,194, 196; 25, 269, 290; 38,105, 115; 49, 148,164; 60, 253, 268; Stern, Staatsrecht I, § 20 III 1; Robbers, Gerechtigkeit S. 72 ff. 95 BVerfGE 21, 362, 372; 23, 98, 106f.; 23, 353, 372f.; 26, 228, 244; K. Hesse, Grundzüge Rdn. 438. 96 Vgl. etwa Erichsen, Staatsrecht II S. 25; Schulze-Fielitz, Gesetzgebung S. 227 f. m.w. N.; BVerfGE 3, 225, 237f.; 44, 125, 142; 60, 253, 268; 76, 130, 139. 97 Herzog, in: Maunz/Dürig, Art. 20 VI. Rdn. 54; ähnlich Schmidt-Aßmann, in: Handbuch des Staatsrechts I, § 24 Rdn. 42,45; Schulze-Fielitz, Gesetzgebung S. 227; vgl. auch BVerfGE 25, 352, 364 (diss. op.). 98 Gusy, JuS 1983,189,193; vgl. auch Robbers, Gerechtigkeit S. 151 f.; Schulze-Fielitz, Gesetzgebung S. 227. 99 Dazu einerseits Gusy, JuS 1983, 189, 193 f. und Schulze-Fielitz, Gesetzgebung S. 227; andererseits BVerfGE 1, 14, 18 (LS 27); 3, 225, 233; 34, 269, 286 f. und Stern, 8 Scherzberg
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2. Kap.: Bestimmungsfaktoren der Kontrolldichte
verfassungsimmanente Gerechtigkeitsgebot jedenfalls nicht in einen Gegensatz zum übrigen positiven Verfassungsrecht gestellt werden. Wie Formulierung und Entstehungsgeschichte des Art. 1 Abs. 1 - 3 GG zeigen, öffnet sich das Grundgesetz derart weitgehender, naturrechtlich begründeter Relativierung nicht. 1 0 0 Dem Bekenntnis zu naturrechtlichen Wertvorstellungen in Art. 1 Abs. 2 GG und der Verankerung der Grundrechte in ihnen ist die konkrete verfassungsrechtliche Bindungsanordnung des Art. 1 Abs. 3 GG zur Seite gestellt. Die ausdrückliche Unterscheidung von „Bekenntnis" und „Bindung" weist dabei darauf hin, daß die Verfassung eine unmittelbare Rezeption naturrechtlicher Vorstellungen im „juristischen Alltag" gerade nicht intendiert. 101 Sind es aber die Methoden und Institutionen des positiven Verfassungsrechts, mit deren Hilfe die Verwirklichung des Gerechtigkeitspostulats anzustreben ist 1 0 2 , sind auch die oben anhand der Regelungssystematik aufgezeigten Grenzen verfassungsunmittelbarer Rechtsbindung zu achten, die Bereiche aufzeigen, in denen sich das Grundgesetz einer eigenen abschließenden Festlegung des als „gerecht" Erachteten ausdrücklich enthält. 4. Der Rahmencharakter des Grundgesetzes Ist das im Grundgesetz enthaltene Normprogramm tatbestandlich lückenhaft und auch in seiner die verbleibenden Entscheidungsalternativen bei der Rechtsfolgenbestimmung reduzierenden Wirkkraft begrenzt, kommt der Verfassung der Charakter einer Rahmenordnung zu. Als solche öffnet sie den zum Handeln berufenen Organen durch die Endlichkeit der in ihr verfügbar und verbindlich gemachten Rechtsmaßstäbe Gestaltungsraum 103 und determiniert staatliche Entscheidungen nicht allein durch materielle Vorgaben, sondern durch ein System kompetenzrechtlicher, verfahrensmäßiger und (beschränkter) inhaltlicher Bestimmungen. Angesichts ihres Rahmencharakters verbietet sich die unbegrenzte verfassungskräftige „Konkretisierung" materiellrechtlicher Verfassungsvorgaben 104 und sind ebenso einerrichterlichen Verfassungsfortbildung Grenzen gesetzt.105 Bei der Auslegung verfassungsrechtlicher HandStaatsrecht I, § 20 IV 4 a. Zur Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ausf. Robbers, Gerechtigkeit S. 23 ff. 100 Zur Entstehungsgeschichte vgl. v. Doemming/Füsslein/Matz, JöR 1 (1951) S. 50ff. 101 Dazu Denninger, JZ 1982,225,226 f.; ähnlich v. Münch, in: v. Münch I, Art. 1 Rdn. 36: „Art. 1 II enthält also sowohl eine rechtsphilosophische Feststellung als auch eine politische Handlungsanleitung". 102 Schmidt-Aßmann, in: Handbuch des Staatsrechts I, § 24 Rdn. 41 f.; Schulze-Fielitz, Gesetzgebung S. 227. 103 Aus systemtheoretischer Sicht dazu Hufen, AöR 100 (1975), 193, 227 f. 104 E.-W. Böckenförde, NJW 1976, 2089, 2099; ders., VVDStRL 39 (1981), 200f. (Diskussionsbeitrag); Wahl, NVwZ 1984, 401, 406ff.; ders., Staat 20 (1981), 485, 505 ff.; Steinberg, JZ 1980, 385, 387f.; J. Ipsen, Richterrecht S. 183ff. 105 Hierzu auch J. Ipsen, Richterrecht S. 185 ff.; krit. auch Kriele, Rechtsgewinnung S. 256.
Α. Materiell- und funktionsrechtliche Determinanten
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lungsmaßstäbe ist vielmehr stets zu fragen, inwieweit eine bestimmte unterverfassungsrechtliche Rechtsgestaltung als verfassungsrechtlich gefordert angesehen werden muß oder sie der Entscheidung der zuständigen Instanzen überlassen bleiben soll. 1 0 6 Welche Grenzen das Grundgesetz der Gewinnung verfassungskräftiger Regelungsgehalte dabei im einzelnen zieht, läßt sich nur durch eine Untersuchung von Regelungsstruktur und -systematik der einzelnen Verfassungsnorm, nicht aber abstrakt feststellen. Die Begrenztheit der durch das Grundgesetz vermittelten Bindung gebietet es jedenfalls, auch terminologisch die Normkonkretisierung auf der Ebene des Verfassungsrechts von der gestaltenden Rechtssetzung mit unterverfassungsrechtlicher Wirkkraft zu unterscheiden. 107 Die weiteren, nicht zuletzt auch verfassungsmethodischen Implikationen 108 eines solchen, heute durchaus herrschenden Verfassungsverständnisses 109 sind an dieser Stelle nicht zu entfalten. Jedenfalls weist die Verfassung, ist sie als Handlungsmaßstab für Rechtssetzung und Rechtsanwendung von nur beschränktem Regelungsanspruch, auch in ihrer Eigenschaft als Kontrollmaßstab entsprechende Grenzen auf. 1 1 0 Der Umfang der verfassungsgerichtlichen Kontrolle ist durch den Rahmencharakter des Grundgesetzes deshalb in materiellrechtlicher Hinsicht begrenzt. I I I . Das Grundgesetz als Maßstab der verfassungsgerichtlichen Kontrolle M i t der Feststellung, daß rechtliche Kontrolle stets nur im Rahmen der Rechtsbindung der kontrollierten Organe in Betracht kommt 1 1 1 , ist das Ausmaß der tatsächlich gebotenen Nachprüfung allerdings noch nicht endgültig ermittelt. Zu bestimmen bleibt, ob sich die vorgesehene Kontrolle tatsächlich auf die Beachtung sämtlicher handlungsanleitender Maßstäbe erstreckt und dem Kontrollorgan dabei auch stets die Kompetenz zur letztverbindlichen Entscheidung über deren zutreffende Umsetzung im Einzelfall zukommt. Fraglich ist damit, ob Inhalt und Umfang der Maßstabsfunktion des Grundgesetzes für die verfassungsgerichtliche Kontrolle seiner Bindungswirkung als Ëntscheidungsmaßstab für die Fachgerichtsbarkeit in vollem Umfang entspricht. 106 V g l 107
Wahl? Staat
20 (1981), 485, 507.
J. Ipsen, Richterrecht S. 183 f.; bedenklich deshalb der zwiespältige Konkretisierungsbegriff bei Schulze-Fielitz, Gesetzgebung S. 232. 108 Dazu Gusy, JöR 33 (1984), 105,122 f.; E.-W. Böckenförde, NJW 1976,2089,2091 ff. 109 Vgl. — mit teilweise allerdings gegenüber dem obigen Text engerem Verständnis — E.-W. Böckenförde, in: FS für Scupin S. 317, 321 f.; ders., NJW 1976, 2089, 2091, 2098 f.; K. Hesse, Grundzüge Rdn. 21; Wahl, NVwZ 1984, 401, 406ff.; Wahl/Rottmann, in: Sozialgeschichte S. 339,369; Grimm, AöR 97 (1972), 489, 503; Gusy, Gesetzgeber S. 93 f.; Isensee, in: Handbuch des Staatsrechts I, § 13 Rdn. 142; Rupp, AöR 101 (1976), 161,174 f.; Schmitt Glaeser, AöR 107 (1982), 337, 340; Steinberg, JZ 1980, 385, 387; Stern, Staatsrecht I, § 3 III 3 a (S. 84). 110 Zur Abhängigkeit des Kontrollmaßstabs vom Umfang der handlungsanleitenden Vorgaben s. oben I. 111 S. oben I. *
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2. Kap.: Bestimmungsfaktoren der Kontrolldichte
1. Textbefund Anhaltspunkte für die zutreffende Bestimmung der Reichweite des Grundgesetzes als Kontrollmaßstab könnten sich vor allem aus den den Zugang zum Bundesverfassungsgericht regelnden, in der Literatur teilweise als „KontrollerÖffnungsnormen" 112 bezeichneten Verfahrensbestimmungen ergeben. Wird die Verfassungsbeschwerde gegen Akte der rechtsprechenden Gewalt in §§90 ff. BVerfGG, Art. 93 Abs. 1 Nr. 4 a GG zur Abhilfe von Grundrechtsverletzungen eröffnet und ist gemäß § 95 Abs. 1 S. 1 BVerfGG bei ihrer Stattgabe die Feststellung der verletzten Vorschrift des Grundgesetzes vorgesehen, weist dies zunächst auf eine anhand des Verfassungsrechts als der höchsten innerstaatlichen Rechtsquelle durchzuführende Kontrolle. 1 1 3 Die Bezugnahme auf das Merkmal der Grundrechts- bzw. Grundgesetzverletzung läßt im übrigen aber offen, unter welchen Voraussetzungen das Bundesverfassungsgericht eine solche Verletzung festzustellen hat. Maßgebend hierfür ist das materielle Verfassungsrecht. Hier sind es zunächst Art. 1 Abs. 3, 20 Abs. 3 und 97 Abs. 1 GG, die in Verbindung mit den gegenständlichen Anforderungen des Grundgesetzes — wie etwa den Grundrechten — Art und Umfang der Verfassungsbindung bestimmen. Wird in den genannten Vorschriften nicht nach Stellung oder Funktion der verpflichteten Staatsorgane differenziert, entfalten die grundrechtlichen Anordnungen grundsätzlich gegenüber Fachgerichten und Bundesverfassungsgericht in gleicher Weise unbedingte Verbindlichkeit. Diese Feststellung schließt indes nicht aus, daß sich die den gegenständlichen Vorgaben des Verfassungsrechts innewohnende Wirkkraft danach bemißt, ob sie sich als Handlungsmaßstab an Gesetzgeber und Fachgericht oder als Kontrollmaßstab an das Bundesverfassungsgericht wenden. 114 Angesichts des Fehlens von verfassungstextlichen Anhaltspunkten für eine solche doppelte Maßstabbildung wäre diese allerdings einer anderweitigen verfassungsrechtlichen Begründung bedürftig. Hierzu kommen vornehmlich zwei Ansätze in Betracht. Zum einen könnte die Notwendigkeit einer Unterscheidung von Handlungs- und Kontrollmaßstab aus der spezifischen — verfassungsrechtlich vorausgesetzten — Zielsetzung rechtlicher Kontrolle folgen. Zum anderen könnte sie sich aus einer Einschränkung der Kompetenz des Bundesverfassungsgerichts zur letztverbindlichen Konkretisierung der handlungsanleitenden Vorgaben des Grundgesetzes ergeben.
112 Hoppe, in: BVerwG-FG S. 295, 296; ders., in: Bundesverfassungsgericht und Grundgesetz I S. 663, 671 f.; Stüer, DVB1. 1974, 314, 318. 113 S. bereits 1. Kapitel Β I 1. 114 Vgl. hierzu zunächst Schiaich, Bundesverfassungsgericht S. 224ff.
Α. Materiell- und funktionsrechtliche Determinanten
2. Zielsetzung und Wirkungsweise
(verfassungs-)rechtlicher
117
Kontrolle
Ein Auseinanderfallen der handlungsanleitenden Wirkkraft eines Rechtssatzes und seiner normativen Bindungskraft als Kontrollmaßstab könnte durch die besondere Zielsetzung rechtlicher Kontrollen bedingt sein. Rechtliche Kontrolle hat stets die Feststellung der Wahrung oder Überschreitung rechtlicher Grenzen zum Gegenstand. Möglicherweise ist sie deshalb ein auf die Feststellung der Falsifizierbarkeit der Art und Weise der Umsetzung handlungsanleitender Rechtsmaßstäbe durch die kontrollierten Organe gerichteter Vorgang. 115 Wäre die verfassungsgerichtliche Kontrolle auf die Falsifizierung der überprüften Maßnahme anhand des Grundgesetzes beschränkt und die dabei gebotene Verfassungsauslegung von der vorgängigen, auf positive Verwirklichung verfassungsrechtlicher Vorgaben gerichteten, erstmaligen Entfaltung der einschlägigen Entscheidungsmaßstäbe zu unterscheiden, würde sich dies auch auf die Wirkkraft des Grundgesetzes als Kontrollmaßstab auswirken. So könnte vor allem die Wahrnehmung des durch die relative Unbestimmtheit grundgesetzlicher Handlungsmaßstäbe entstehenden Spielraums dem handelnden Organ zugewiesen sein und sich die Eignung unbestimmter Verfassungsbestimmungen zur Entfaltung verfassungskonkretisierender, fallbezogener Kontrollnormen auf die (Grenz-)Bereiche „sicherer" Determinierung beschränken. 1 1 6 Ein vergleichbarer Ansatz dürfte der verwaltungsrechtlichen Lehre vom „Beurteilungsspielraum" zugrundeliegen. 117 Zutreffend wird insoweit festgestellt, daß sich bei der Subsumtion unbestimmter, insbesondere wertausfüllungsbedürftiger Rechtsbegriffe regelmäßig mehrere Deutungen als vertretbar bezeichnen lassen. 118 Die Behauptung jedoch, die Befugnis zu letztverbindlicher Erkenntnis müsse in diesen Fällen in bestimmten Grenzen stets der Verwaltung zugewiesen werden, läßt sich, wie bereits Rupp dargetan hat 1 1 9 , weder unter Hinweis auf deren besonderen Sachverstand 120 noch unter Einbeziehung ihrer besonderen Folgen Verantwortlichkeit 121 überzeugend begründen. Sie dürfte 115
So etwa Haverkate, Rechtsfragen S. 295 f.; J. Ipsen, Richterrecht S. 158 f.; s. auch ders., Rechtsfolgen S. 204; Rupp, VVDStRL 34 (1976), 286,288 (Diskussionsbeitrag); für den Bereich der Wertentscheidungen auch Zippelius, Wertungsprobleme S. 198 f., 204f. 116 In diesem Sinne etwa J. Ipsen, Richterrecht S. 158f.; Rupp, VVDStRL 34 (1976), 286, 288 (Diskussionsbeitrag). 117 Grundlegend Bachof, JZ 1955, 97, 98ff.; ders., JZ 1972, 208 ff.; Ule, in: GS für W. Jellinek S. 309, 323ff.; Jesch, AöR 82 (1957), 163, 229ff. 118 Bachof, JZ 1955,97,99; ders., JZ 1972,208 f.; Ule, in: GS für W. Jellinek S. 309,326; Erichsen, VerwArch. 63 (1972), 337, 342. 119 Rupp, Grundfragen S. 213 ff.; Erichsen, DVB1. 1985, 22, 26; Beckmann, Rechtsschutz S. 115f. 120 So aber Ule, in: GS für W. Jellinek S. 309, 326. 121 So aber Bachof, JZ 1955,97,100; Ossenbühl, DVB1.1974,309, 313; ders., in: FS für Menger S. 731, 736 f.
118
2. Kap.: Bestimmungsfaktoren der Kontrolldichte
eher auf einem schon Ende des letzten Jahrhunderts von Bernatzik eingeführten Gedanken beruhen, wonach es „auf allen Gebieten geistiger Tätigkeit eine Grenze [gebe], über welche hinaus Dritte die Richtigkeit oder Unrichtigkeit der gezogenen Schlüsse nicht mehr constatieren können". 1 2 2 Sie könnten dann zwar anderer Auffassung über das Verständnis eines unbestimmten Rechtsbegriffes sein, ihnen gelänge indes nicht, die Ansicht des anderen als „falsch" zu widerlegen. 123 Erst die Vorstellung einer derart auf Widerlegung beschränkten Zielrichtung rechtlicher Kontrolle macht die Annahme eines der gerichtlichen Nachprüfung unabhängig von spezieller gesetzlicher Regelung verschlossenen Spielraums der Verwaltung bei der Anwendung unbestimmter Rechtsbegriffe plausibel. 124 So unterscheidet etwa Bachof ausdrücklich zwischen der mit originärer Rechtsanwendung und der mit nachträglicher Rechtskontrolle verbundenen Entscheidungszuständigkeit und meint, eine Richtigkeitskontrolle am Maßstab des Rechts werde sinnlos, wenn die Kontrolle wegen der begrenzten Aussagekraft der anzuwendenden Rechtssätze ein „Mehr" an wahrscheinlicher Richtigkeit nicht erbringen könne. 125 Eine allgemeingültige methodische Grundlage für eine derartige Sicht ist in jüngster Zeit von v. Savigny und Schlink angeboten worden. 126 Ausgangspunkt ist dabei die wissenschaftstheoretische Erkenntnis, daß sich Aussagen über eine in sich unabgeschlossene Wirklichkeit durch Erfahrungen grundsätzlich nicht als wahr erweisen, sondern lediglich falsifizieren lassen. 127 Daraus folge die Notwendigkeit einer systematischen Unterscheidung zwischen dem methodisch nicht völlig strukturierbaren Vorgang der Findung vorläufiger Hypothesen und dem Prozeß ihrer Prüfung oder Rechtfertigung anhand bestimmter Kriterien der Falsifikation. Auch Aussagen der Rechtswissenschaft, etwa die Sätze der Auslegung und die Norm- und Sachhypothesen bei der Subsumtion, sollen sich als Aussagen über eine unabgeschlossene Wirklichkeit lediglich dadurch bewähren können, daß sie nicht an falsifizierenden Kriterien scheitern, als die Schlink — wenn auch mit Vorbehalten — die herkömmlichen juristischen Auslegungsmittel benennt. 128 122 Bernatzik, Rechtsprechung S. 43; dazu Rupp, Grundfragen S. 215 f.; s. auch Bachof, JZ 1955, 97, 99. 123 Bernatzik, Rechtsprechung S. 43. 124 Vgl. zur Unterscheidung von Rechtsanwendungs- und Rechtskontrollkompetenz etwa Wolff/Bachof, Verwaltungsrecht I, § 311 c (S. 190); Bachof, JZ 1972,641,644; ders., JZ 1972, 208; im Ergebnis auch Erichsen, VerwArch. 63 (1972), 337, 343. 125 Bachof, JZ 1972, 641, 644 f. 126 v. Savigny, in: Dogmatik S. 120, 130ff.; Schlink, Staat 19 (1980), 73, 87ff. 127 v. Savigny, in: Dogmatik S. 120, 127ff; Schlink, Staat 19 (1980), 73, 88. 128 Schlink, Staat 19 (1980), 73, 90ff., lOOff; im Ergebnis ähnlich auch F. Müller, Methodik S. 276; krit. zur Übertragung des Falsifikationsmodells auf die Rechtswissenschaft aus wissenschaftstheoretischer Sicht aber Koch, ARSP 18 (1977), 355, 364 ff. und EuGRZ 1986, 345, 355 f.
Α. Materiell- und funktionsrechtliche Determinanten
119
Eignet sich juristische Methode aber nur zur Falsifikation vorangehender Auslegungsbemühungen, dann könnte — so ließe sich der Gedankengang fortführen — eine methodengerechte und methodengebundene Rechtskontrolle stets auf die Falsifikation der zur Überprüfung gestellten Ergebnisse beschränkt und das kontrollierende Organ damit von vornherein mit engerer Entscheidungszuständigkeit ausgestattet sein, als dies für das handelnde Organ bei seiner methodisch nicht strukturierbaren, also normativ lediglich unvollkommen angeleiteten Entscheidungsfindung gilt. 1 2 9 In diesem Sinne folgt die Richtigkeit des Verständnisses des Grundgesetzes als einer Rahmenordnung für Schlink aus der Begrenztheit der Möglichkeit zur Falsifikation etwa einer gesetzgeberischen Entscheidung. 130 Ist das Grundgesetz in den durch seinen Rahmencharakter gezogenen Grenzen grundsätzlich konkretisierungsbedürftig und entwicklungsoffen, steht dies dem Versuch einer endgültigen Verifikation bestimmter Auslegungsergebnisse per se entgegen. Dies bestätigt die These von der mangelnden (endgültigen) Verifizierbarkeit verfassungsrechtlicher Ableitungen. Zweifelhaft ist nur, ob daraus ein Zurückbleiben rechtlicher Kontrolle hinter der überprüften Rechtsfindung folgt. Rechtliche, insbesondere gerichtsförmige Kontrolle hat, worauf besonders Krebs hingewiesen hat, nicht nur machthemmende und -beschränkende Wirkung. 1 3 1 Sie ist darüber hinaus ein Mittel zur Sicherung der Rechtskonformität staatlicher Entscheidungen und zielt als solches auf die Effektivierung der zur Gewährleistung ihrer Sachrichtigkeit aufgestellten rechtlichen Vorgaben. 132 Sie setzt damit nicht nur die Sammlung der den Entscheidungsprozeß determinierenden Maßstäbe voraus. Ihre funktionsgerechte Wahrnehmung bedarf vor allem der eigenständigen Feststellung der darin getroffenen inhaltlichen Anordnungen. Dem bei der Kontrolle anzustellenden Vergleich geht deshalb notwendig eine eigene Rechtsermittlung durch das Kontrollorgan voran, die—nach den obigen Ausführungen ihrerseits nicht vollständig methodisch determiniert — regelmäßig ohne einen kreativen Entscheidungsanteil der zuständigen Instanz nicht denkbar ist. Dies wird anhand der in besonderem Maße anpassungs- und entwicklungsfähigen, andererseits aber vielfach auch erst nach einer Konkretisierung handhabbaren, abstrakten Vorgaben des Grundgesetzes besonders deutlich. Läßt sich Kontrolle hier überhaupt erst im Anschluß an eine konkretisierende Entfaltung der einschlägigen Kontrollmaßstäbe durch das Kontrollorgan vornehmen, kann sie nicht von vornherein auf die Prüfung der Bewährung der durch das handelnde Organ vorgelegten Auslegungshypothesen beschränkt sein.
129 130 131 132
So im Ergebnis auch J. Ipsen, Richterrecht S. 159 und ders., NJW 1977,2289,2290 f. Schlink, Staat 19 (1980), 73, 105; im Ergebnis auch Gusy, Gesetzgeber S. 143. Krebs, Kontrolle S. 41 ff, 49 f. Krebs, Kontrolle S. 56 ff, dazu bereits oben I.
120
2. Kap.: Bestimmungsfaktoren der Kontrolldichte
Verfassungsrechtliche Kontrolle setzt vielmehr stets die Bildung eigener Auslegungshypothesen und ihre Gegenüberstellung mit der in der überprüften Entscheidung geleisteten Norminterpretation voraus. Bleibt die im Rahmen der verfassungsgerichtlichen Kontrolle gebotene Verfassungskonkretisierung damit grundsätzlich nicht hinter der bei der vorgängigen Rechtsanwendung durch das kontrollierte Organ vorgenommenen Rechtsfindung zurück, kommt den einschlägigen Entscheidungsmaßstäben eine gegenüber Kontrollorgan und kontrolliertem Organ grundsätzlich gleiche Wirkkraft zu. Die Unzulänglichkeiten juristischer Methodik bei der Anleitung des Vorgangs der Verfassungskonkretisierung treffen die handelnde und die kontrollierende Staatsgewalt in gleicher Weise. Beide haben das Ergebnis ihres Rechtsfindungsprozesses auch anschließender methodischer Falsifikation zu unterwerfen. Fraglich kann insoweit nur sein, ob „Kontrolle" notwendig endet, wenn danach nicht falsifizierbare, jedoch divergierende Ergebnisse verbleiben. Das Grundgesetz ist, wie oben gezeigt, vom Willen zur Normativität auch abstrakter Verfassungsprinzipien getragen. Ist die Bestimmtheit grundrechtlicher Vorgaben deshalb kein Maßstab für die Reichweite ihrer Normativität 1 3 3 , muß der aus der methodischen Unzugänglichkeit abstrakter Verfassungsbegriffe folgende Spielraum von der Begrenztheit des grundrechtlichen Regelungswillens unterschieden werden und kann die Wirkkraft der Verfassung über den feststellbaren Bereich „sicherer Determinierung" hinausreichen. 134 Mangelnde Falsifizierbarkeit steht damit der Qualifikation einer staatlichen Maßnahme als verfassungswidrig nicht von vornherein entgegen. Dies muß angesichts der Anordnung genereller Justiziabilität grundrechtlicher Handlungsmaßstäbe135 grundsätzlich auch im Rahmen der verfassungsgerichtlichen Kontrolle gelten. Bedarf es für deren Durchführung erst der konkretisierenden Entfaltung operabler Kontrollnormen, wird dem Bundesverfassungsgericht als dem zuständigen Kontrollorgan mit der Zuweisung der Kontrollkompetenz auch eine eigene Entscheidungszuständigkeit im Prozeß der Verfassungsentwicklung eingeräumt. 136 Führt der hier anzustellende Vergleich
133
Dazu oben II 1. Auch im Rahmen der Diskussion um die Auslegung unbestimmter Rechtsbegriffe des Verwaltungsrechts wird weitgehend die Meinung vertreten, daß (einfachrechtliche) Rechtsnormen auch jenseits der eindeutigen Feststellbarkeit ihres Inhalts auf vollständige Programmierung der zu treffenden Entscheidung zielen können; vgl. Schmidt-Aßmann, in: FS für Menger S. 107, 115; Krebs, Kontrolle S. 75 ff.; Weyreuther, BauR 1977, 293, 307f.; Grimm, in: Richterliches Handeln S. 44ff.; Beckmann, Rechtsschutz S. 113; Ossenbühl, DVB1. 1974, 309, 310. 135 S. hierzu Art. 1 Abs. 3, 20 Abs. 3 und Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG, der die uneingeschränkte Zuständigkeit äes Bundesverfassungsgerichts zur Entscheidung über „Meinungsverschiedenheiten ... über die ... Vereinbarkeit mit diesem Grundgesetz ..." begründet. Vgl. auch H. P. Schneider, NJW 1980, 2103,2104 und Bryde, Verfassungsentwicklung S. 94ff., 108 ff., 305. 134
Α. Materiell- und funktionsrechtliche Determinanten
121
der Auslegungshypothesen des Kontrollorgans mit denjenigen der kontrollierten Instanz zur Divergenz, ist die Feststellung eines Verfassungsverstoßes durch Zielsetzung und Struktur der angeordneten Kontrolle deshalb auch dann nicht ausgeschlossen, wenn sie auf einer methodisch nicht abschließend begründbaren Reduktion von Entscheidungsalternativen durch das Kontrollorgan beruht und sich die ersetzte Rechtsauffassung im Spektrum „vertretbaren" Verfassungsverständnisses hält. 1 3 7 Verfassungsrechtliche Kontrolle kann demnach als „totale Kontrolle" ausgestaltet sein. Die erneute und letztverbindliche Vornahme sämtlicher Entscheidungsvorgänge ist andererseits kein notwendiges Merkmal rechtlicher Kontrolle. 1 3 8 Sie kann auch mit der Zielsetzung einer Korrektur lediglich der als „unvertretbar" angesehenen Auslegungshypothesen durchzuführen sein. Eine derartige Beschränkung der Befugnis zur letztverbindlichen Entscheidung ist nach dem Gesagten jedoch durch Struktur und Wirkungsweise rechtlicher Kontrolle nicht impliziert. Grenzen der rechtlichen Kontrolle können insoweit nur aus einer Einschränkung der dem Kontrollorgan bei der Kontrolleröffnung zugewiesenen Kontrollkompetenz folgen. 139 3. Verfassungsgerichtliche Kontrollkompetenz und verfassungsrechtlicher Kontrollmaßstab — zum Verhältnis von Ëntscheidungs- und Kontrollnorm 140 bei der Überprüfung fachgerichtlicher Entscheidungen Explizite verfassungsrechtliche Anordnungen über die Reichweite der Kontrollkompetenz des Bundesverfassungsgerichts fehlen. Während daraus teilweise auf die Unbegrenztheit seiner Befugnis zur Durchsetzung des eigenen Verfassungsverständnisses geschlossen wird, weist die Gegenauffassung auf funktionsrechtliche Grenzen hin, die sich aus der Einbindung des Gerichts in das verfassungsrechtlich konstituierte System des Zusammenwirkens der Staatsorgane ergeben könnten. 141 Sollten der verfassungsrechtlichen Funktionenordnung Einschränkungen der Befugnis des Bundesverfassungsgerichts zur letztverbindlichen Konkretisierung verfassungsrechtlicher Handlungsvorgaben zu entnehmen sein, würde sich daraus die Notwendigkeit einer qualitativen Unterscheidung von Ëntscheidungs- und Kontrollnorm ergeben. 142 136 Bryde, Verfassungsentwicklung S. 147; Böckenförde, VVDStRL 39 (1981), 172f. (Diskussionsbeitrag); wohl a. A. Gusy, Gesetzgeber S. 143 und Schiaich VVDStRL 39 (1981), 99, 112. 137 Krebs, Kontrolle S. 97; Brunner, Kontrolle S. 76 f. spricht insoweit von „subjektiver Kontrolle". 138 Krebs, Kontrolle S. 96 f. 139 Vgl. auch Zimmer, Funktion S. 66. 140 Zu den Begriffen oben Vorbemerkung Fn. 18, 21. 141 Vgl. die Literaturübersicht 1. Kapitel D. 142 Zur Unterscheidung von qualitativer und quantitativer Divergenz von Handlungsund Kontrollmaßstäben vgl. Krebs, Kontrolle S. 81.
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2. Kap.: Bestimmungsfaktoren der Kontrolldichte
a) M i t der Einrichtung einer Verfassungsgerichtsbarkeit als spezialisierter, selbständiger Kontrollinstanz weist das Grundgesetz eine auf Effektivierung der Verfassungsbindung und damit zugleich auf Machthemmung ausgerichtete Zuständigkeits- und Kompetenzordnung auf. Die organisatorische Trennung von vorgängig entscheidenden und nachträglich kontrollierenden Staatsorganen — selbst innerhalb der Gerichtsbarkeit — deutet darauf hin, daß den jeweiligen Trägern der Staatsgewalt ein eigenständiger Stellenwert, eine besondere Wirkungsweise im Prozeß der Verfassungsverwirklichung zukommen soll. Die verfassungsrechtlich vorgesehene Wirkform eines Staatsorgans, die von ihm erwartete spezifische „Leistung" im System der Verwirklichung verfassungsrechtlicher Ziele, läßt sich verbreitetem Sprachgebrauch folgend als seine „Funktion" bezeichnen.143 b) Die methodische Richtigkeit eines Rückgriffs auf die Funktion eines Staatsorgans zur Bestimmung der Reichweite seiner Kompetenzen wird in der Literatur allerdings vielfach in Frage gestellt. 144 Dabei wird daraufhingewiesen, daß dem Grundgesetz eine derartige, funktionelle Gesichtspunkte verselbständigende Sicht nicht eigen sei und auch die dazu bislang im Rahmen der Verfassungsdogmatik entwickelten Kriterien keine sicheren Anhaltspunkte zur Festlegung der Grenzen der Verfassungsgerichtsbarkeit erbracht hätten. 145 Umfang und Grenzen der Kontrollkompetenz des Bundesverfassungsgerichts seien vielmehr ausschließlich dem materiellen Verfassungsrecht zu entnehmen, das im Sinne eines sachgerechten Zusammenwirkens der Staatsgewalten gegebenfalls einer einschränkenden Auslegung unterzogen werden müsse. 146 Zur Sicherung der Eigenständigkeit der vom Bundesverfassungsgericht kontrollierten Organe wird so der Verfassungsrang des Gebots konkreter Güter- und Interessenabwägung bei der Feststellung der grundrechtlichen Ausstrahlungswirkung oder der Herstellung eines schonenden Ausgleichs unter kollidierenden Verfassungsgütern bezweifelt und sind auch die übrigen, eingangs dargestellten Ansätze zur „materiellrechtlichen Reduktion" grundgesetzlicher Handlungsmaßstäbe unternommen worden. 147 aa) Derartige, auf eine sachgerechte Beschränkung der verfassungsgerichtlichen Kontrolle gerichtete Auslegungsbemühungen führen allerdings zu Ein143
Zum Begriff der Funktion s. Brunner, Kontrolle S. 33 f.; Krebs, Kontrolle S. 23; Zimmer, Funktion S. 184f.; Krawietz, Funktion S. 39ff.; Roellecke, in: Handbuch des Staatsrechts II, § 53 Rdn. 35. 144 Krit. etwa Korinek, VVDStRL 39 (1981), 7, 27; Schiaich, VVDStRL 39 (1981), 99, 113 ff., 122f. sowie 208 (Diskussionsbeitrag); s. auch ders., Bundesverfassungsgericht S. 226f., 228; Wahl, Staat 20 (1981), 485, 501 f.; ausführlich dazu oben 1. Kapitel D I. 145 Schiaich, VVDStRL 39 (1981), 99, l l l f . , 124f.; ders., Bundesverfassungsgericht S. 228. 146 So etwa Wahl, Staat 20 (1981), 485, 501, 502ff. 147 Vgl. etwa Wahl, Staat 20 (1981), 485, 502ff.; Papier, in: Bundesverfassungsgericht und Grundgesetz I S. 432, 452 ff.; Steinwedel, Spezifisches Verfassungsrecht S. 58 ff, 61; ausführlich dazu oben 1. Kapitel D I.
Α. Materiell- und funktionsrechtliche Determinanten
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schränkungen der Normativität des Grundgesetzes als solcher, also auch zur Minderung seiner die handelnden Organe bindenden Wirkkraft. Sie laufen daher dem gerade auch abstrakte Wertprinzipien einschließenden Geltungsanspruch der Verfassung 148 zuwider. 149 Ob die einschränkende Auslegung der handlungsanleitenden Maßstäbe des Grundgesetzes einen angemessenen und verfassungsrechtlich haltbaren Weg zur Verwirklichung eines funktionsgerechten Zusammenwirkens der beteiligten Staatsorgane eröffnet, erscheint deshalb zweifelhaft. Gehört etwa die Verhältnismäßigkeit einer rechtssatzmäßigen Einschränkung bei den unter Gesetzesvorbehalt gewährleisteten Grundrechten nach allgemeinem, nicht zuletzt im Hinblick auf Art. 19 Abs. 2 GG zutreffenden Verfassungsverständnis 150 zu den verfassungsrechtlichen Grundbedingungen jeder gesetzlichen Regelung, muß die Herstellung eines schonenden Ausgleichs bei der Kollision vorbehaltloser Grundrechte erst recht als verfassungsrechtlich geboten gelten. Gibt das Grundgesetz ferner etwa mit dem Sozialstaatsprinzip oder der Verpflichtung auf die Wahrung der Menschenwürde Bedingungen und Ziele für die Ausgestaltung der unterverfassungsrechtlichen Ordnung vor und intendiert damit eine materiale „Verfassung" des gesamten Gemeinwesens, findet es notwendig Beachtung bei Anwendung und Auslegung auch des einfachen Rechts und kann seine „Ausstrahlungswirkung" auf die fachgerichtliche Rechtsfindung nicht ohne Widerspruch zu diesem Regelungsanspruch verneint werden. Die vorgeschlagene Reduktion der Verfassung müßte deshalb ihre normative Kraft gefährden. 151 bb) Daß sich eine funktionsgerechte Aufgabenverteilung zwischen dem Bundesverfassungsgericht und den kontrollierten Organen im Wege einer restriktiven Verfassungsinterpretation auch nicht ohne Widerspruch zur sachlichen Regelungsintention des Grundgesetzes sicherstellen ließe, mag etwa der Versuch einer Reduktion des materiellen Grundrechtsschutzes auf die Abwehr von Verstößen gegen „spezifisches Verfassungsrecht" verdeutlichen. 152 Neben der Zuweisung freiheitlicher Betätigung als „rechtliches Dürfen" des einzelnen enthalten die Grundrechte formelle und materielle Regeln für dessen Einschränkung durch den Gesetzgeber und damit Maßstäbe für eine verfassungsgemäße Abwägung zwischen Freiheitsinteresse und Eingriffsgut. Binden 148
Dazu oben A II 1 sowie unten 3. Kapitel Β I 1. Krit. deshalb etwa Bryde, Verfassungsentwicklung S. 304 f. 150 Zur Verknüpfung von Wesensgehaltsgarantie und Übermaßverbot vgl. Alexy, Theorie S. 267ff, 272; Erichsen, Staatsrecht I S. 201; ders, Jura 1988, 387f.; Krebs, Jura 1988,617,622; Häberle, Wesensgehaltgarantie S. 327f.; Dürig, AöR 81 (1956), 117,146f.; Zippelius, DVB1.1956, 353,354; krit. Grabitz, Freiheit S. 104 f.; a. Α. im Hinblick auf das Gebot der Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne Schlink, Abwägung S. 78 f , 152 f. 151 Bryde, Verfassungsentwicklung S. 304f. 152 Dazu oben 1. Kapitel D I 2; als weiteres Beispiel ließe sich die Reduktion des Gleichheitssatzes auf ein Willkürverbot nennen; vgl. dazu Bryde, Verfassungsentwicklung S. 305; K. Hesse, in: FS für Huber S. 261, 269; Dürig, in: Maunz/Dürig, Art. 3 Abs. I Rdn. 395. 149
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2. Kap.: Bestimmungsfaktoren der Kontrolldichte
sie die Vornahme einer solchen Abwägung überdies an eine durch oder aufgrund Gesetzes erfolgende Regelung, sind sie nicht nur auf eine inhaltliche, sondern auch auf eine kompetenzielle Disziplinierung staatlichen Handelns gerichtet. 153 Angesichts der Konkretisierungsbedürfigkeit materialer grundgesetzlicher Vorgaben kommt gerade der Wahrung der verfassungsrechtlichen Kompetenzordnung maßgebliche Bedeutung für die Verwirklichung des grundrechtlich intendierten Freiheits- und Rechtsgüterschutzes zu. Nicht nur der die gebotene gesetzliche Abwägung gänzlich entbehrende, sondern auch der ihr inhaltlich zuwiderlaufende, also insoweit gesetzwidrige Hoheitsakt stellt aber einen Verstoß gegen die zum Schutz der Grundrechtssphäre konstituierte verfassungsrechtliche Kompetenzordnung dar. Der grundrechtliche Freiheitsschutz zielt darauf ab, staatliches Handeln zu unterbinden, das die für die Einschränkung der grundrechtlichen Betätigung geltenden verfassungsrechtlichen Maßstäbe verkennt und damit diejenigen Regeln mißachtet, die den Hoheitsakt in bezug auf die fragliche Abwägung zwischen Schutz- und Eingriffsgut determinieren sollen. 154 Ist hierzu auch die grundrechtliche Kompetenzzuweisung an den Gesetzgeber zu rechnen, liegt auch in einer die gesetzliche Abwägung zwischen Allgemeininteresse und individuellem Freiheitsinteresse verkennenden Freiheitsbeeinträchtigung ein Grundrechtsverstoß 155 und stellt jedes insoweit gesetzwidrige Fachurteil auch eine Grundrechtsverletzung dar. Die angestrebte Beschränkung der verfassungsgerichtlichen Kontrolle auf die Wahrung der im Grundgesetz selbst enthaltenen oder aus ihm abzuleitenden Vorgaben und Wertungen läßt sich dem materiellen Verfassungsrecht ohne Widerspruch zur Zielsetzung des grundrechtlichen Freiheitsschutzes damit nicht entnehmen. cc) Die geschilderten Ansätze einer „materiellrechtlichen Verfassungsreduktion" beruhen auf dem als Prinzip der Verfassungsinterpretation allgemein anerkannten Gebot „funktioneller Richtigkeit". 1 5 6 Jede Auslegung des materiellen Verfassungsrechts muß danach die verfassungsrechtlich intendierte Ordnung des Zusammenwirkens der Träger staatlicher Funktionen wahren. Kriterien funktioneller Richtigkeit können dabei nur aus der Verfassung selbst folgen; folgerichtig sind die Vertreter einer funktionell orientierten Reduktion materiell-verfassungsrechtlicher Bindungen auch darum bemüht, ihre Auslegungsergebnisse unter Hinweis auf die im Grundgesetz vorgefundene Funktionenordnung zu begründen. 157 Die verfassungsrechtlich vorgesehene 153
Vgl. dazu soeben II 4 sowie unten 4. Kapitel Β I 1. Erichsen, Jura 1987, 367, 368; ders., in: Handbuch des Staatsrechts VI, § 152 Rdn. 18 m.w. N.; Krebs, in: FS für Menger S. 191, 203 f. 155 So auch Erichsen, Jura 1987, 367, 368; ders., in: Handbuch des Staatsrechts VI, §152 Rdn. 18; noch weitergehend die h. M., dazu bereits oben 1. Kapitel Β I 2. 156 Dazu K. Hesse, Grundzüge Rdn. 73; Ehmke, VVDStRL 20 (1963), 53, 73; F. Müller, Methodik S. 214f.; Bryde, Verfassungsentwicklung S. 303; Schuppert, Grenzen S. 4ff. 154
Α. Materiell- und funktionsrechtliche Determinanten
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Wirkform der am Prozeß der Verfassungsverwirklichung Beteiligten kann aber nicht als Anhaltspunkt für eine Einschränkung der normativen Bindungskraft der bei der Aufgabenerfüllung maßgeblichen materiellrechtlichen Entscheidungsvorgaben dienen, sondern allenfalls die Notwendigkeit einer funktionsgerechten Begrenzung der Befugnis zur Durchsetzung des Verfassungsverständnisses des jeweiligen Funktionsträgers begründen. Weitergehende Folgerungen auf die Reichweite der normativen Wirkkraft der Verfassung als solcher sind zur Wahrung funktioneller Richtigkeit weder erforderlich, noch wären sie — wie gezeigt — mit dem Geltungsanspruch des materiellen Verfassungsrechts vereinbar. dd) Die Versuche einer ausschließlich materiellrechtlich orientierten Bestimmung der Reichweite verfassungsgerichtlicher Kontrolle sind darüber hinaus auch methodischen Bedenken ausgesetzt. Enthält das Grundgesetz eine Vielzahl staatliches Entscheiden zwar anleitender, die Reduzierung von Entscheidungsalternativen im einzelnen jedoch nicht vollständig determinierender Maßstäbe 1 5 8 , birgt jede Feststellung der verfassungsrechtlichen Rahmenbedingungen ein Element konkretisierender „Verfassungsentwicklung" in sich. Derartige rechts- und damit mittelbar auch wirklichkeitsgestaltende Momente 1 5 9 sind der Rechtsfindung nicht nur im Bereich des Verfassungsrechts immanent; dessen vielfach abstrakte Fassung läßt vielmehr nur die Richtigkeit der allgemeinen Erkenntnis der neueren Methodenlehre hervortreten, daß sich Rechtsanwendung nicht in einer logisch-deduktiven Operation erschöpft 160 und methodengerechtes Verstehen nicht notwendig in der Erkenntnis eines bestimmten Auslegungsergebnisses als „einzig richtigem" mündet. 161 Ist der Konkretisierung gerade auch verfassungsrechtlicher Vorgaben aber ein methodisch nicht einzufangendes, kreatives Element eigen, läßt dies die Notwendigkeit einer weiteren, durch das materielle Verfassungsrecht nicht determinierten Entscheidung über die Zuweisung des damit eröffneten Entscheidungsraumes erkennen. 162 Feststellungen zum Umfang der dem Bundesverfas157 Vgl. etwa Papier, in: Bundesverfassungsgericht und Grundgesetz I S. 432, 451 ff.; Steinwedel, Spezifisches Verfassungsrecht S. 58ff.; Η. H. Klein, Staat 10 (1971), 145,172. 158 Dazu oben II 1. 159 Zur Rechtsgestalung als Wirklichkeitsgestaltung vgl. Zimmer, Funktion S. 154 f. 160 Vgl. bereits Ehmke, VVDStRL 20 (1963), 53, 55 ff.; ferner F. Müller, Methodik S. 168 ff.; Larenz, Methodenlehre S. 205 ff., 260ff.; Rhinow, Rechtssetzung S. 134f, 147f., 164ff.; Esser, Vorverständnis S. 74ff, 80; Η. P. Schneider, Richterrecht S. 24ff.; Grimm, JZ 1976, 697, 698; Berkemann, in: FS für Zeidler I S. 523, 538 ff. 161 Zimmer, Funktion S. 111 ff., 118; Larenz, Methodenlehre S. 281 ff.; Engisch, Einführung S. 133 ff.; F. Müller, Methodik S. 163 ff., 166; s. auch Roellecke, VVDStRL 34 (1976), 7, 38 und Starck, VVDStRL 34 (1976), 43, 49f.; speziell zum Verfassungsrecht Ebsen, Bundesverfassungsgericht S. 17ff., 22f.; Koch, EuGRZ 1986, 345, 359ff.; Göldner, Verfassungsprinzip S. 143 ff. 162 Bryde, Verfassungsentwicklung S. 89ff., 93,299ff.; Koch, EuGRZ 1986,345,359f.; Göldner, Verfassungsprinzip S. 147f.; s. auch Wahl, Staat 20 (1981), 485, 506; Η. P. Schneider, DÖV 1975, 443, 445 f.
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2. Kap.: Bestimmungsfaktoren der Kontrolldichte
sungsgericht zugewiesenen Entscheidungskompetenzen sind damit zur Bestimmung der Reichweite der verfassungsgerichtlichen Kontrolle unabweisbar. Mangels ausdrücklicher Anhaltspunkte in Gesetz und Verfassung ist dabei, dem Grundsatz der Einheit der Verfassung folgend, vor allem ein Rückgriff auf die verfassungsrechtlich intendierte Aufgaben- und Funktionenordnung geboten und zugleich geeignet, Aufschluß über die Reichweite der bei der Funktionswahrnehmung zugewiesenen Entscheidungsbefugnisse zu geben. Die funktionsrechtliche Gesichtspunkte gänzlich vernachlässigende Gegenauffassung erweist sich damit als Relikt der These von der „hermeneutischen Geschlossenheit" rechtlicher Maßstäbe. Nur unter der Prämisse eines ausschließlich hermeneutischen Entscheidungsverständnisses vermag eine allein am materiellen Recht und seinem methodengerechten Verstehen orientierte Vorgehensweise die Entscheidung über judikative Kompetenzen hinreichend anzuleiten. 163 Sind nach dem heutigen Stand rechtswissenschaftlicher Methodenerkenntnis Methoden demgegenüber zur Bestimmung der Reichweite richterlicher Entscheidungsbefugnisse generell unzureichend und ist insbesondere das Verfassungsrecht häufig mehreren lege artis erzielten Auslegungs- oder Abwägungsergebnissen zugänglich, bedarf es zur Bestimmung der Reichweite der verfassungsgerichtlichen Kontrolle stets auch einer Entscheidung über die der grundgesetzlichen Aufgaben- und Funktionenordnung angemessene Verteilung der Befugnis zur letztverbindlichen „Verfassungskonkretisierung" Jede Feststellung zum Verhältnis von Entscheidungs- und Kontrollnorm im Verfassungsrecht setzt damit notwendig eine an Aufgabe und Funktion der beteiligten Organe orientierte Feststellung der verfassungsrechtlich intendierten Verteilung der Kompetenz zur letztverbindlichen Konkretisierung der einschlägigen Verfassungsbestimmungen voraus. Der Einwand, die Verfassung kenne eine verselbständigte funktionelle Sicht nicht, vermag deshalb nicht zu überzeugen. 165 c) Kommt der Feststellung der Kontrollkompetenz des Bundesverfassungsgerichts demnach eigenständige Bedeutung für die Bestimmung des Umfangs seiner Kontrolle gegenüber der Fachgerichtsbarkeit zu und ist hierbei mangels ausdrücklicher Regelung ein Rückgriff auf die grundgesetzliche Aufgaben- und Funktionenordnung geboten, bleibt zu fragen, ob und inwieweit dem Bundesverfassungsgericht danach die Befugnis zur unbeschränkten Durchsetzung seines Verfassungsverständnisses gegenüber den Fachgerichten und damit zur abschließenden Konkretisierung der verfassungsrechtlichen Kontrollmaßstäbe zugewiesen ist. 163
Zimmer, Funktion S. 103 ff., 111 ff. S. etwa Schuppert, Kontrolle S. 161 f.; Dolzer, Stellung S. 65, 68 ff.; Schenke, NJW 1979, 1321, 1323; Grimm, JZ 1976, 697, 699f.; H. P. Schneider, NJW 1980, 2103, 2104. 165 Vgl. auch Rhinow, Rechtssetzung S. 181 f.; Selmer, VVDStRL 39 (1981), 184 (Diskussionsbeitrag). 164
Α. Materiell- und funktionsrechtliche Determinanten
127
aa) Einschränkungen der Entscheidungsbefugnis des Bundesverfassungsgerichts gegenüber der Fachgerichtsbarkeit können sich zunächst aus seiner Aufgabenstellung ergeben. (1) Wenn auch ein Rückschluß von Aufgaben auf Befugnisse allgemeinen organisationsrechtlichen Regeln zufolge nicht uneingeschränkt statthaft ist 1 6 6 , kann die einem Staatsorgan eingeräumte Entscheidungsmacht bei widerspruchsfreiem Rechtsverständnis doch nicht weiter reichen, als dies die ihm übertragene Aufgabe erfordert. 167 In diesem Sinne läßt sich — im Einklang mit der eingangs geschilderten Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts — der Verteilung der Aufgaben von Fach- und Verfassungsgerichtsbarkeit 168 eine Beschränkung der verfassungsgerichtlichen Kontrollzuständigkeit auf die Korrektur der Verkennung „spezifisch" verfassungsrechtlicher Vorgaben durch die Fachgerichte entnehmen. Ist die Auslegung und Fortbildung des einfachen Rechts allein Sache der Fachgerichte, bleibt die Gesetzmäßigkeit staatlichen Handelns der Beurteilungskompetenz des Bundesverfassungsgerichts grundsätzlich entzogen. Unterliegt die Wahrung des Gebots der Gesetzmäßigkeit der Rechtsprechung seiner Überprüfung nicht, geht die Verfassungsbindung der Fachgerichte über das Maß des verfassungsgerichtlich Nachprüfbaren hinaus und fallen verfassungsrechtlicher Entscheidungs- und Kontrollmaßstab damit auseinander. (2) Die verfassungsrechtliche Aufgabenverteilung zwischen dem Bundesverfassungsgericht und den von ihm kontrollierten Instanzen wird im übrigen von Art. 1 Abs. 3, 20 Abs. 3 GG bestimmt, wonach alle staatlichen Organe zur Beachtung des Verfassungsrechts und damit vorgängig zur inzidenten Feststellung der ihm innewohnenden Handlungsmaßstäbe aufgerufen sind. Daraus könnte eine Überschneidung der Aufgabenkreise von Gesetzgeber und Fachgerichten einerseits und Bundesverfassungsgericht andererseits bei der Wahrnehmung „spezifisch" verfassungsrechtlicher Vorgaben folgen. In der Literatur sind indes zwei Ansätze zur Trennung der Aufgaben des Bundesverfassungsgerichts von denjenigen der von ihm kontrollierten Organe entwickelt worden. (a) Anknüpfend an die traditionelle Gegenüberstellung von richterlicher Rechtsanwendung und politischer Willensbildung wird zum einen der Versuch einer inhaltlichen Unterscheidung der den beteiligten Staatsorganen zugewiesenen Aufgaben unternommen. Verfassungsgerichtliche Kontrolle wird als Zuständigkeit zur „Kognition" im Sinne abschließender Verfassungserkenntnis verstanden und diese der „Dezision" im Sinne von schöpferischer Rechtssetzung 166
S. vor allem Schlink, Amtshilfe S. 85 ff., 107ff. mit umfangreichen Nachweisen; ferner Stettner, Grundfragen S. 35, 44f.; Wolff / Bachof, Verwaltungsrecht II, § 72 I c 2 (S. 15). 167 Zimmer, Funktion S. 177 ff.; Schlink, Amtshilfe S. 108. 168 Dazu oben 1. Kapitel Β I 1, II.
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2. Kap.: Bestimmungsfaktoren der Kontrolldichte
gegenübergestellt. 169 Die Grenze der dem Bundesverfassungsgericht obliegenden Verfassungsauslegung sei erreicht, wenn für eine Entscheidung nicht mehr im Normprogramm zum Ausdruck gebrachte Gesichtspunkte benötigt werden. 170 Indes ist bereits festgestellt worden, daß auch im Rahmen verfassungsgerichtlicher Kontrolle eine methodisch nicht vollständig determinierte Bildung von Auslegungshypothesen vorzunehmen ist. Ist der Konkretisierung gerade auch verfassungsrechtlicher Vorgaben aber ein methodisch nicht einzufangendes, kreatives Element eigen, ist allen in Art. 1 Abs. 3, 20 Abs. 3 GG benannten Trägern der Staatsgewalt damit die Pflicht zur gestaltenden Entwicklung operabler verfassungsrechtlicher Maßstäbe auferlegt. Sind etwa die „objektiven" grundrechtlichen Wert- und Steuerungsvorgaben einer Konkretisierung zu fallbezogenen Entscheidungsnormen grundsätzlich zugänglich und zielen die Grundrechte mit ihrer Regelung insoweit nicht zuletzt auf eine „Verfassung" der einfachgesetzlichen Ordnung 1 7 1 , bedarf es gerade bei der fachgerichtlichen Umsetzung derartiger Steuerungsimpulse im Rahmen einfachrechtlicher Rechtsanwendung einer konkretisierenden Feststellung verfassungsrechtlicher Maßstäbe. Die Bindung an die Verfassung schließt hier sowohl für das handelnde als auch für das kontrollierende Organ die Zuständigkeit zu ihrer Konkretisierung und Fortbildung ein. 1 7 2 Der Versuch einer am Maß der Vollständigkeit des grundgesetzlichen Normprogramms anknüpfenden Differenzierung der Aufgaben von Bundesverfassungsgericht und Fachgerichten geht damit fehl. 173 (b) Im Hinblick auf den Rahmencharakter des Grundgesetzes wird ferner auf die Notwendigkeit einer gegenständlichen Abgrenzung der Aufgabenbereiche verwiesen. 174 Die Ausübung der durch die Endlichkeit verfassungsrechtlicher Maßstäbe eröffneten Gestaltungsfreiheit ist angesichts des Fehlens verfassungsrechtlicher Bindungen der Kontrolle des Bundesverfassungsgerichts entzogen. Die damit gewonnene Unterscheidung von verfassungsorientierter, unterverfassungsrechtlicher Rechtsbildung und verfassungskräftiger Konkretisierung trägt jedoch nur, soweit sich die Verfassung im Sinne der obigen Ausführungen einer 169
Für eine solche Unterscheidung etwa Merten, DVB1.1980, 773, 778; Zeidler, DÖV 1971,6,12; ähnlich Roellecke, Politik S. 118f.; Fuß, in: FS für Schack S. 11,14; dag. etwa Göldner, Verfassungsprinzip S. 166 f. 170 Steinberg, JZ 1980, 385, 387; Gusy, Gesetzgeber S. 143 f.; in der Sache bereits Leibholz, Strukturprobleme S. 168, 177f. und ders., DVB1. 1974, 396, 397f. 171 Dazu oben 1. Kapitel Β III 1 b bb und unten 3. Kapitel A I 1 b. 172 F. Müller, Methodik S. 121 f.; Bryde, Verfassungsentwicklung S. 301; s. auch BVerfGE 3, 225, 231. 173 Zur Parallelität der Aufgaben von Fach- und Verfassungsgerichtsbarkeit vgl. Bryde, Verfassungsentwicklung S. 301, 316f.; Zimmer, Funktion S. 381 f.; vgl. auch Krebs, Kontrolle S. 102. 174 Wahl/Rottmann,in: SozialgeschichteS. 339,368f.; Wahl, Staat20(1981),485,507; vgl. auch E.-W. Böckenförde, VVDStRL 39 (1981), 200f. (Diskussionsbeitrag).
Α. Materiell- und funktionsrechtliche Determinanten
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konkretisierenden Maßstabbildung verschließt. Die Zuständigkeit zur letztverbindlichen Feststellung der verfassungsrechtlichen Rahmenbedingungen und ihrer — wenn auch begrenzten — gestaltenden Konkretisierung bleibt hiernach gerade offen. bb) Ist damit von einer Aufgabenkonkurrenz zwischen dem Bundesverfassungsgericht und den von ihm kontrollierten Organen bei der Feststellung der verfassungsrechtlichen Rahmenvorgaben auszugehen, kommt es für die Wirkkraft der Verfassung als Kontrollmaßstab darauf an, ob und inwieweit dem Bundesverfassungsgericht nach der im Grundgesetz vorgesehenen Funktionenordnung die unbegrenzte Befugnis zur letztverbindlichen Feststellung der verfassungsrechtlichen Regelungsanordnung zugewiesen ist. (1) Rechtliche Kontrolle ist nach dem oben Gesagten nicht von vornherein auf den Bereich des methodisch eindeutig feststellbaren Norminhalts beschränkt; die Zuerkennung unbeschränkter Letztentscheidungsbefugnis an das Kontrollorgan ist andererseits mit der Institutionalisierung rechtlicher Kontrolle nicht notwendig verbunden. Für die verfassungsgerichtliche Kontrolle wird dies allerdings teilweise unter Hinweis auf den Vorrang des Verfassungsrechts bestritten. Diesem verfassungsrechtlichen Grundprinzip soll es zuwiderlaufen, die Konkretisierung des Grundgesetzes letztinstanzlich der Gesetzgebung und dem politischen Prozeß zu überlassen; die verbindliche Inhaltsfestlegung müsse allein der Verfassungsgerichtsbarkeit zukommen. 175 Das Gebot des Vorrangs des Verfassungsrechts kann jedoch Rechtsfolgen erst zeitigen, wenn und soweit die mit verfassungsrechtlichem Geltungsanspruch versehenen Entscheidungsmaßstäbe feststehen. Lassen sich Inhalt und Grenzen des vorrangigen Verfassungsrechts nicht mit Sicherheit bestimmen, bliebe seine herausgehobene Wirkkraft auch dann unangetastet, wenn eine der insoweit vertretbaren Auslegungshypothesen, etwa diejenige des Gesetzgebers, zugrunde zu legen wäre; auch für die Reichweite der Kontrollkompetenzen des Bundesverfassungsgerichts gegenüber der Fachgerichtsbarkeit vermag der Gesichtspunkt des Vorrangs der Verfassung keinen weiteren Aufschluß zu erbringen. (2) Die Annahme einer unbeschränkten Befugnis der gerichtlichen Kontrollorgane zur letztverbindlichen Auslegung der einschlägigen Entscheidungsvorgaben wird mangels ausdrücklicher verfassungsrechtlicher Anordnung auch auf Art. 19 Abs. 4 GG gestützt. 176 Dem Gebot lückenlosen und effektiven Rechtsschutzes ist nach heute ganz überwiegendem Verständnis indes nicht zu entnehmen, daß die Auswahl unter mehreren methodengerecht ermittelten Auslegungsmöglichkeiten letztverantwortlich vom Gericht getroffen werden 175
S. etwa E.-W. Böckenförde, AöR 106 (1981), 580, 599. Für das Verwaltungsrecht etwa Papier, in: FS für Ule S. 235, 245; Beckmann, Rechtsschutz S. 101; s. auch Lorenz, Rechtsschutz S. 18. 176
9 Scherzberg
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2. Kap.: Bestimmungsfaktoren der Kontrolldichte
muß. 1 7 7 Zudem läßt sich Art. 19 Abs. 4 GG, der nicht auf die Gewährleistung von Rechtsschutz gegen Akte der richterlichen Gewalt zielt 1 7 8 , für die Reichweite der verfassungsgerichtlichen Kontrolle gegenüber der Fachgerichtsbarkeit von vornherein keine Aussagekraft abgewinnen. 179 Dies gilt auch für den Versuch einer Übertragung der aus dem Verwaltungsrecht stammenden These, daß die bei der Gewährung von Rechtsschutz erforderliche Auslegung unbestimmter (Verfassungs-)Rechtsbegriffe — letztverbindlich — stets genuin richterlicher Entscheidung unterliege. 180 (3) Ist die Zuweisung der Befugnis zur letztverbindlichen Konkretisierung von Verfassungsrecht weder durch die Aufgabenverteilung zwischen den betreffenden Staatsorganen präjudiziert, noch ausdrücklicher verfassungsrechtlicher Kompetenzverteilung zu entnehmen, bleibt der im Rahmen systematischer Auslegung zulässige und vom Grundsatz der Einheit der Verfassung gebotene unmittelbare Rekurs auf den verfassungsrechtlich angeordneten Funktionszusammenhang, die vor allem in Art. 1 Abs. 3,19 Abs. 4,20 Abs. 3, 92 ff. und 100 GG vorgegebenen oder Vorausgesetzen Wirkungsbedingungen der beteiligten Staatsorgane. Der spezifische Zuschnitt etwa ihrer Organisation, Zusammensetzung und Verfahrensordnung bestimmt ihre Eignung zur Vornahme verantwortlicher, rationaler und sachgerechter Entscheidungen und läßt damit den ihnen zugewiesenen Stellenwert im Prozeß der „Verfassungsverwirklichung" erkennen. 181 (a) Stellung und Funktion der Fachgerichte sind wesentlich durch ihre Sachnähe und Sachkunde bei der Anwendung des einfachen Rechts bestimmt. Während das Bundesverfassungsgericht angesichts der Gestaltung der Rechtsschutzvoraussetzungen der Verfassungsbeschwerde regelmäßig nur mit einzelnen, oft außergewöhnlich gelagerten Fällen befaßt sein kann, liegt den Fachgerichten typischerweise eine große Zahl gleich- oder ähnlich gearteter Interessenkonflikte vor, anhand derer sie die Zielsetzungen des Gesetzgebers in differenzierter Weise umzusetzen und in eine in sich geschlossene Fachdogmatik zu transformieren haben. Im Interesse einer sachgerechten und gleichmäßigen Rechtsverwirklichung muß ihnen deshalb die letztverbindliche Interpretation des einfachen Rechts zustehen.182 Im Ergebnis zutreffend stellt das Bundesver177 BVerwGE 39, 197, 205; 59, 213, 216f.; 62, 330, 340f.; Schmidt-Aßmann, in: Maunz/Dürig, Art. 19 Abs. IV Rdn. 184ff.; Erichsen, DVB1. 1985, 22, 26; Bachof, JZ 1972, 208, 209; Krebs, Kontrolle S. 93 f.; Dolzer, Verfassungskonkretisierung S. 43 ff.; Sendler, in: FS für Ule S. 337, 341 f. 178 BVerfGE 4, 74, 96; 15, 275, 280; 49, 329, 340; 76, 93, 98; Schmidt-Aßmann, in: Maunz/Dürig, Art. 19 Abs. IV Rdn. 96ff. 179 Das Bundesverfassungsgericht verneint darüber hinaus auch die Einbeziehung von Gesetzgebungsakten in den Regelungsbereich des Art. 19 Abs. 4 GG, vgl. BVerfGE 24,33, 49; 25, 352, 365; 45, 297, 334. 180 So etwa Arndt, in: FS für Hirsch S. 423, 429. 181 Dazu Grimm, in: Sozialwissenschaften S. 83, 99f.; ausführlich Zimmer, Funktion S. 237ff.; s. auch E.-W. Böckenförde, NJW 1976, 2089, 2099.
Α. Materiell- und funktionsrechtliche Determinanten
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fassungsgericht daher fest: „Die Auslegung und Fortbildung des einfachen Rechts ist allein Sache der zuständigen Gerichte". 183 Wirkt die Verfassung jedoch auf die Entscheidung etwa privatrechtlicher Streitigkeiten ein, ist die einfachrechtliche Rechtsanwendung stets auch im Hinblick auf und unter Entfaltung von verfassungsrechtlichen Vorgaben vorzunehmen. Folgt man der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, stehen sich bei jeder privatrechtlichen Streitigkeit grundrechtlich umhegte Interessen gegenüber und bedarf es bei einer richterlichen Streitentscheidung prinzipiell einer grundrechtlich geprägten Güterabwägung. 184 Die einfachrechtliche Rechtsfindung kann deshalb inhaltlich in weitem Umfang — je nach Reichweite des grundrechtlichen Regelungsanspruchs auch vollkommen — durch die grundgesetzlichen Vorgaben geprägt sein. 185 Einer auf die Entwicklung des einfachen Rechts bezogenen Fachdogmatik stellt sich deshalb stets auch die Aufgabe der homogenen und ausdifferenzierten Umsetzung verfassungsrechtlicher Steuerungsimpulse. Die Feststellung der grundgesetzlichen Rahmenbedingungen setzt nach dem oben Gesagten eine gestaltende Konkretisierung des Verfassungsrechts voraus, enthält also einen normativ nicht vollständig determinierten eigenen Entscheidungsanteil des Rechtsanwenders. Die Anwendung und Fortbildung des einfachen Rechts erfolgt deshalb notwendig in wertender Ausfüllung des durch die relative Unbestimmtheit der Verfassung eröffneten Entscheidungsraums. Fachrichterliche Fachdogmatik ist so stets auch Ausprägung des fachrichterlichen Verfassungsverständnisses. Das Bundesverfassungsgericht ist mit dem derart geformten System von Entscheidungsregeln stets nur punktuell konfrontiert. Angesichts seiner sachlich wie personell nur unvollkommenen Einbettung in die richterlich ausgeformte Dogmatik des einfachen Rechts 186 besteht die Gefahr einer mangelhaften Einpassung der auf der Grundlage isolierter Sachverhalte erzielten Entscheidungsergebnisse in die gewachsenen einfachrechtlichen Regelungszusammenhänge und Rechtsinstitute. 187 Diese Gefahr nimmt zu, je weiter die Befugnis 182
Ossenbühl, in: FS für Η. P. Ipsen S. 129, 130. BVerfGE 18, 85, 92. 184 Siehe oben 1. Kapitel Β III 1 b bb. 185 S. dazu das Beispiel von Krauß, Prüfung S. 129f. 186 Sachlich werden dem Gericht typischerweise singuläre, aus dem Überblick der Fachgerichte vielfach als Randfragen zu beurteilende Problemkonstellationen vorgelegt, aus denen heraus das Bundesverfassungsgericht jedoch verallgemeinerungsfahige, die gesamte Fachdogmatik betreffende Lösungen zu entwickeln geneigt ist; s. Schumann, Bundesverfassungsgericht S. 54; personell fehlt eine Einbindung angesichts der Zusammensetzung der Senate, deren Mitglieder gem. § 2 Abs. 3 S. 1 BVerfGG nur zu einer Minderheit aus der Zahl der Richter an den fünf — jeweils wiederum eigenständige Fachrichtungen vertretenden — obersten Bundesgerichten gewählt werden. 187 Zacher, in: Bundesverfassungsgericht und Grundgesetz I S. 396, 399f.; Schumann, Bundesverfassungsgericht S. 54ff.; Krauß, Prüfung S. 70f. Daß es sich hierbei nicht nur 183
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2. Kap.: Bestimmungsfaktoren der Kontrolldichte
zur Durchsetzung seines eigenen Verfassungsverständnisses reicht. Wäre dem Gericht der verfassungsrechtliche Konkretisierungsspielraum allein zugewiesen, könnte das fachdogmatisch ausgeprägte und ausdifferenzierte Wertungsgefüge überspielt werden, ohne daß sich das dabei zugrundeliegende Verfassungsverständnis als sachlich unzutreffend erwiesen haben müßte. 188 Zu Recht ist demgegenüber darauf hingewiesen worden, daß der Einbau verfassungsrechtlicher Vorgaben in das einfache Recht unter Achtung der „Integrität des konkreten Sach- und Rechtszusammenhangs"189 zu erfolgen hat, soll er nicht die gleichfalls verfassungsrechtlichem Schutz unterliegende Systemgerechtigkeit des einfachen Rechts sprengen. Setzt die Entwicklung eines einfachrechtlichen, die Wertungsprobleme sachgerecht und homogen bewältigenden Entscheidungssystems190 die gestaltende Integration der das einfache Recht betreffenden Verfassungsgebote voraus, hat diese deshalb in erster Linie „von unten", also durch die sachnäheren Instanzen zu erfolgen. 191 Das gilt um so mehr, wenn man sich vergegenwärtigt, daß sich die einfachrechtliche und die verfassungsbezogene Komponente des Auslegungsund Abwägungsvorgangs regelmäßig kaum trennen lassen und das Bild vom „Hin- und Herwandern des Blicks" 1 9 2 auch für die Berücksichtigung verfassungsrechtlicher „topoi" im Rahmen der Anwendung des einfachen Rechts gilt. 1 9 3 Soll die Ausprägung und Wahrung einer homogenen Fachdogmatik funktionell den Fachgerichten zugewiesen sein, muß dies auch die Befugnis zu eigener gestaltender Entwicklung der einschlägigen verfassungsrechtlichen Maßstäbe einschließen und ist die Kontrollkompetenz des Bundesverfassungsgerichts deshalb durch einen — in seiner Reichweite noch im einzelnen zu bestimmenden — fachrichterlichen Konkretisierungsprimat beschränkt. 194 (b) Zu den wesentlichen Wirkbedingungen fachgerichtlicher Verfassungsverwirklichung gehört es ferner, daß die konkretisierende Umsetzung grundgesetzum eine theoretische Befürchtung handelt, läßt eine Reihe von Entscheidungen erkennen, in denen das Bundesverfassungsgericht der einfachrechtlichen Regelungssystematik nicht gerecht geworden ist, s. etwa BVerfGE 59, 330 ff. zur Präklusion im zivilprozessualen Beschwerdeverfahren, dazu Schumann, NJW 1982,1609,1613, oder BVerfGE 52,131 ff. zum zivilprozessualen Beweisrecht, hierzu Menger, VerwArch. 71 (1980), 175, 179. 188 Dazu, daß sich die verfassungsgerichtliche Kontrolle nicht von vornherein auf „Falsifikation" beschränkt, s. oben III 2. 189 Zacher, in: Bundesverfassungsgericht und Grundgesetz I S. 396, 399. 190 Zu dieser Aufgabe juristischer Dogmatik vgl. Larenz, Methodenlehre S. 215 ff.; Esser, Vorverständnis S. 90 ff. 191 Bryde, Verfassungsentwicklung S. 324. 192 Zwischen Tatsachenermittlung und Normfindung, dazu Engisch, Studien S. 15. 193 Schuppert, AöR 103 (1978), 43, 55 f.; Zacher, in: Bundesverfassungsgericht und Grundgesetz I S. 396, 401. 194 So im Ansatz auch Bryde, Verfassungsentwicklung S. 323; s. auch Krebs, Kontrolle S. lOOf.
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licher Entscheidungsmaßstäbe im Rahmen unterverfassungsrechtlicher Rechtsgestaltung erfolgt. Feststellungen zu dem verfassungsrechtlich strikt Gebotenen, die Ausfüllung der grundgesetzlich eröffneten Wertungs- und Abwägungsspielräume und die Ermittlung einfachgesetzlicher Vorgaben fließen hier zusammen. Die Entfaltung der verfassungsrechtlichen Einwirkung auf das streitbefangene Rechtsverhältnis beansprucht keine Geltung über den Einzelfall hinaus, die fachgerichtliche Streitentscheidung verbleibt auf der Ebene des einfachen Rechts. 195 Die verfassungsgerichtliche Entscheidung hat dagegen — vergegenwärtigt man sich die Beschränkung des Kontrollmaßstabs auf „spezifisches Verfassungsrecht" — ausschließlich und unmittelbar die Feststellung von Verfassungsrecht zum Gegenstand. Dabei zeitigt sie, wenn man dem allerdings nicht unbestrittenen Verständnis des Bundesverfassungsgerichts zu § 31 Abs. 1 BVerfGG folgt 1 9 6 , auch in ihren „tragenden Gründen" Bindungswirkung für alle übrigen Staatsorgane; (nur) sie verpflichtet also auch den Gesetzgeber. 197 Sie hat dabei — soll diesem nicht freistehen, die in § 31 Abs. 1 BVerfGG angeordnete Bindung im Zuge einer dem Verfassungsverständnis des Bundesverfassungsgerichts in der Sache zuwiderlaufenden Regelung ausdrücklich oder stillschweigend abzubedingen — in ihrer Wirkkraft notwendig am Geltungsanspruch des Grundgesetzes teil. „Es ist deshalb immer ein Stück Verfassungsrecht, wenn das Bundesverfassungsgericht zu Grundrechtsnormen spricht oder schweigt." 198 Die Grenzen verfassungsunmittelbarer Rechtsbindung sind einer generellabstrakten Feststellung allerdings nur schwer zugänglich. Ist das Verwaltungsrecht „konkretisiertes Verfassungsrecht" 199, lassen sich Rechtsfragen des Verwaltungsrechts wie die Grundsätze zum Ermessen oder zu Widerruf und Rücknahme von Verwaltungsakten stets auch verfassungskräftigen Geboten zuordnen und ließe sich ihre Lösung auch auf der abstrakteren Ebene des 195
So ausdrücklich BVerfGE 7, 198, 205 f. Vgl. BVerfGE 1, 14, 37; 19, 377, 391 f.; 20, 56, 87; 40, 88, 93 f.; 69, 92, 103; zustimmend etwa Stern, Staatsrecht II, § 44 V 3 g (S. 1038 f.); E. Klein, AöR 108 (1983), 410,440ff.; Erichsen, Staatsrecht II S. 193; Lange JuS 1978,1,4f.; Zuck, NJW 1975,907, 908, 911; abw. Sachs, Bindung S. 131 ff. (Präjudizienbindung); einschränkend Vogel, in: Bundesverfassungsgericht und Grundgesetz I S. 568, 602 (Bindung an die konkrete Entscheidungsnorm); ähnlich Bryde, Verfassungsentwicklung S. 422ff.; krit. Gusy, Gesetzgeber S. 236ff.; Schenke, Verfassungsgerichtsbarkeit S. 61 ff.; Schiaich, Bundesverfassungsgericht S. 204ff. m.w.N.; zu § 31 Abs. 1 BVerfGG auch unten 3. Kapitel Β II 4. 197 Vgl. Schumann, Bundesverfassungsgericht S. 50 f.; Stern, Staatsrecht III /1, § 75IV 6 c (S. 1506); Η. H. Klein, NJW 1977, 679, 700; s. auch BVerfGE 1,15, 37; 20, 56, 87; 69, 92, 103 und insbesondere BVerfGE 40, 88, 93 f., wonach ein Abweichen von der Rechtsauffassung des Bundesverfassungsgerichts einen Verfassungsverstoß begründet; vgl. ferner BVerfGE 42, 258, 260; einschränkend zur Bindung des Gesetzgebers nach § 31 Abs. 2 BVerfGG bei Normwiederholung unter veränderten Wirklichkeitsbedingungen aber jüngst BVerfGE 77, 84, 103 f; dazu bereits Bryde, Verfassungsentwicklung S. 407. 198 Stern, Staatsrecht III/1, § 75 IV 6 c (S. 1506); ähnlich Bryde, Verfassungsentwicklung S. 428 f. 199 Werner, DVB1. 1959, 527. 196
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2. Kap.: Bestimmungsfaktoren der Kontrolldichte
Verfassungsrechts unternehmen. 200 Gleiches gilt für das „objektiv-grundrechtlicher" Einwirkung unterliegende Privatrecht. Soll sich die hier zu beachtende „Ausstrahlung" der grundrechtlichen Wertordnung von einer unmittelbaren Geltung der Grundrechte als Abwehrrechte zwischen Privaten qualitativ unterscheiden, können die Beziehung zwischen Privaten nicht ausschließlich grundrechtsgeprägt sein. Dem stünde — ebenso wie einer ausschließlichen Transformation verwaltungsrechtlicher Fragestellungen in Rechtsfragen des Verfassungsrechts — auch der Charakter des Grundgesetzes als einer zwar das gesamte Gemeinwesen betreffenden, jedoch insoweit nur rahmensetzenden Ordnung entgegen.201 Handelt es sich bei der Inhaltsbestimmung des Verfassungsrechts nach dem oben Gesagten um einen normativ nicht vollständig determinierten Vorgang, gilt dies erst recht für die Ermittlung derartiger Grenzen seines Regelungswillens. Wäre dem Bundesverfassungsgericht die Befugnis zur letztverbindlichen Entscheidung über diese Grenzen uneingeschränkt zugewiesen, müßte dies nicht nur zu einer Monopolisierung seines Verfassungsverständnisses führen, sondern würde zugleich die Gefahr einer verfassungsrechtlich nicht intendierten Hinzugewinnung von bindendem Verfassungsgehalt begründen. 202 Einem Übergriff des Gerichts in die der Rechtssetzung und Rechtsanwendung übertragene einfachrechtliche Verfassungsverwirklichung wären keine Grenzen gesetzt. Dirigiert das Grundgesetz staatliche Entscheidungen nicht nur durch materiale Regelungen, sondern durch ein System kompetenzrechtlicher, verfahrensmäßiger und (beschränkter) inhaltlicher Bindungen 203 und ist angesichts unzureichender methodischer Disziplinierung des Prozesses der Verfassungsinterpretation die Beachtung des Rahmencharakters des Grundgesetzes durch eine Verpflichtung auf das materielle Recht allein nicht sicherzustellen, kann der Begrenztheit des verfassungsrechtlichen Regelungsanspruchs nur durch eine Einschränkung der Entscheidungskompetenz des Bundesverfassungsgerichts bei der Feststellung der Grenzen der Wirkkraft des Grundgesetzes Rechnung getragen werden. (c) Die Funktionsbedingungen, unter denen fachgerichtliche Rechtsfindung und verfassungsgerichtliche Kontrolle stattfinden, lassen damit erkennen, daß dem Bundesverfassungsgericht keine umfassende Kompetenz zur letztverbindlichen Feststellung von Inhalt und Grenzen verfassungsrechtlicher Handlungsvorgaben zustehen kann. 200
Bryde, Verfassungsentwicklung S. 322; s. ferner Kopp, Verfassungsrecht S. 133f, 141 f , allgemein auch S. 5 ff. 201 Dazu ausführlich oben II 3, 4. 202 Dazu Stern, Staatsrecht III/1, § 75 IV 6 c (S. 1506); Ossenbühl, in: FS für H. P. Ipsen S. 129, 138 ff.; Schumann, Bundesverfassungsgericht S. 50f.; gegen die Anerkennung einer „Kompetenz-Kompetenz" des Bundesverfassungsgerichts allgemein auch Schenke, Verfassungsgerichtsbarkeit S. 54 ff. 203 Dazu oben II 4.
Β. Die integrale Bestimmung der Kontrolldichte
135
Ist seine Befugnis zur Entwicklung fallbezogener, die verfassungsrechtlichen Kontrollmaßstäbe konkretisierender Kontrollnormen damit zugunsten eines eigenen Entscheidungsanteils der Fachgerichte bei der Entfaltung entsprechender handlungsanleitender Maßstäbe beschränkt, nötigt dies zugleich zu einer grundsätzlichen Unterscheidung von Entscheidungs- und Kontrollnorm im Verfahren der Urteilsverfassungsbeschwerde. 204 B. Das Zusammenwirken materiellrechtlicher und kompetenzieller Bestimmungsfaktoren der verfassungsgerichtlichen Kontrolle Ergeben sich Grenzen der verfassungsgerichtlichen Kontrolle sowohl aufgrund der Endlichkeit des grundgesetzlichen Regelungsanspruchs als auch aus funktionsrechtlichen Einschränkungen der Letztentscheidungsbefugnis des Bundesverfassungsgerichts, fragt sich abschließend nach dem Verhältnis beider Faktoren bei der Bestimmung der Kontrolldichte im Verfahren der Urteilsverfassungsbeschwerde. I. Die Ergänzungsfunktion funktionsrechtlicher Kriterien Die Einbeziehung kompetenzieller, vornehmlich funktionsrechtlicher Gesichtspunkte bei der Bestimmung der Reichweite der verfassungsgerichtlichen Kontrolle erweist sich nach dem oben Gesagten vornehmlich wegen der methodisch nur unzureichenden Anleitung der Rechtsfindung im Verfassungsrecht als unabdingbar. Die unzureichende Determinationskraft des Grundgesetzes, die eine eindeutige Bestimmung seiner Regelungsintention und der Grenzen seines Regelungsanspruchs vielfach nicht zuläßt, macht eine gesonderte Entscheidung über die Zuordnung der Kompetenz zur letztverbindlichen Verfassungskonkretisierung nach Maßgabe der verfassungsrechtlichen Aufgaben· und Funktionenordnung erforderlich. Eine ausschließlich materiellrechtlich orientierte Bestimmung des Umfangs der verfassungsgerichtlichen Kontrolle würde demgegenüber in eine nicht reflektierte Zuweisung der Kompetenz-Kompetenz an das Bundesverfassungsgericht münden, das Enge und Weite der verfassungsrechtlichen Rechtsbindung im Rahmen seiner Kontrolltätigkeit letztlich selbst bestimmen und die gestaltende Verfassungskonkretisierung letztverbindlich selbst vornehmen könnte. 205 Erst die Einbeziehung des grundgesetzlich konstituierten Funktionszusammenhangs, der verfassungsrechtlich vorausgesetzten oder angeordneten Art des Zusammenwirkens der am Prozeß der Verfassungsverwirklichung beteiligten 204 Für eine solche Unterscheidung für das Verfassungsrecht bereits Forsthoff, in: GS für W. Jellinek S. 221, 232 f.; s. auch Bryde, Verfassungsentwicklung S. 306f.; Krebs, Kontrolle S. 99ff., 104; Rupp, AöR 101 (1976), 161, 175; Murswiek, DÖV 1982, 529, 534f.; Η. P. Schneider, NJW 1980, 2103, 2105ff. 205 Ossenbühl, in: FS für Η. P. Ipsen S. 129, 138 f.
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2. Kap.: Bestimmungsfaktoren der Kontrolldichte
Staatsorgane, erlaubt demgegenüber differenzierende Feststellungen zur verfassungsrechtlich intendierten Zuweisung der Befugnis zur letztverbindlichen Maßstabbildung. Funktionsrechtlichen Erwägungen kommt insoweit eine Ergänzungsfunktion bei der Bestimmung der Kontrolldichte zu, auf die zurückzugreifen ist, wenn und soweit das materielle Verfassungsrecht hinreichend sichere Folgerungen auf Inhalt und Grenzen seines Regelungsanspruchs nicht zuläßt. II. Die Kompensationsfunktion funktionsrechtlicher Kriterien Damit erschöpft sich die Bedeutung funktionsrechtlicher Betrachtung indes nicht. Die grundgesetzliche Aufgaben- und Funktionenordnung kann auch eine generelle Einschränkung der bei der verfassungsgerichtlichen Kontrolle verfügbaren Kontrollmaßstäbe erfordern. Das ist der Fall, soweit die unbeschränkte Durchsetzung aller handlungsanleitenden Vorgaben des Grundgesetzes durch das Bundesverfassungsgericht zu einem Einbruch in die Entscheidungskompetenzen anderer staatlicher Organe führen müßte. Die Einbeziehung funktionsrechtlicher Gesichtspunkte ist im Rahmen der Kontrolle der Fachgerichte insoweit zum Ausgleich der Weite des verfassungsunmittelbar gewährten Freiheits- und Rechtsgüterschutzes geboten, der grundsätzlich auch die Gesetzmäßigkeit eines Grundrechtseingriffs einschließt. Funktionsrechtliche Einschränkungen der Kontrolldichte haben insoweit Kompensationsfunktion. Eine ausschließlich an der verfassungsrechtlichen Funktionenordnung orientierte Bestimmung der Kontrolldichte, wie sie in der Literatur teilweise befürwortet w i r d 2 0 6 , würde allerdings die durch den Rahmencharakter des Grundgesetzes bedingten Begrenzungen der grundgesetzlichen Rechtsbindung verkennen. Kann das Bundesverfassungsgericht nur die spezifisch verfassungsgebotenen Wertungen und Abwägungsergebnisse durchsetzen und endet rechtliche Kontrolle überdies an den Grenzen der Verbindlichkeit handlungsanleitender Maßstäbe, bildet die Endlichkeit der Wirkkraft des materiellen Verfassungsrechts stets einen negativen Bestimmungsfaktor auch der verfassungsgerichtlichen Kontrolle. I I I . Die Bestimmung der Kontrolldichte als integraler Prozeß Die für den Umfang der verfassungsgerichtlichen Kontrolle maßgeblichen materiellrechtlichen und kompetenziellen, vornehmlich funktionsrechtlichen Verfassungsvorgaben stehen nicht isoliert nebeneinander, sondern erweisen sich als einander in besonderer Weise zugeordnet und miteinander verschränkt. 206 Dazu die Meinungsübersicht oben 1. Kapitel D II 1, 2, 3, 5; allgemein wohl auch Häberle, JZ 1975, 297, 302 ff.
Β. Die integrale Bestimmung der Kontrolldichte
137
So ist die Einbeziehung funktionsrechtlicher Gesichtspunkte zur Wahrung der Begrenztheit des verfassungsrechtlichen Regelungswillens und damit zugleich zur Sicherung des den kontrollierten Staatsorganen bei der verfassungsorientierten Rechtsgestaltung und -anwendung eingeräumten Entscheidungsraums geboten, soweit die Feststellung der Reichweite verfassungsrechtlicher Verhaltenssteuerung allein durch Auslegung des materiellen Rechts nicht mit hinreichender Sicherheit gelingt. Zugleich zielen funktionsrechtliche, die übrigen Wirkungsbedingungen der beteiligten Staatsorgane betreffende Vorgaben auf eine optimale Verwirklichung der materialen, die Gestaltung des Gemeinwesens betreffenden Entscheidungsmaximen, sind also in ihrer Bedeutung stets vor dem Hintergrund der von der Verfassung insgesamt in Anspruch genommenen sachlichen Ordnungs- und Gestaltungsfunktion zu verstehen. Hat die verfassungsrechtliche Funktionenordnung die sachgerechte Zuordnung der verfassungsrechtlich geregelten Gestaltungsaufgaben zum Gegenstand, eröffnet bereits die Feststellung der Endlichkeit des grundgesetzlichen Regelungsprogramms einen bei ausschließlich funktionsorientierter Betrachtung nicht erzielbaren Erkenntnisfortschritt für die Bestimmung der Kontrollgrenzen des Bundesverfassungsgerichts. Bezieht sich die funktionsrechtliche Fragestellung von vornherein nicht auf die Verteilung der Kompetenz zur konkretisierenden Umsetzung theoretisch unbeschränkter verfassungsrechtlicher Regelungsimpulse, sondern auf die Zuordnung auch und gerade der Befugnis zur Akzentuierung der Regelungsgrenzen der Verfassung, kann dies Auswirkungen nicht nur auf den Gegenstand, sondern auch auf Zielsetzung und maßgebliche Kriterien funktionaler Verfassungsinterpretation zeitigen. Besondere Bedeutung muß hierbei etwa der Eignung einer Entscheidung zukommen, einen allmählichen Hinzugewinn von — auch den Gesetzgeber verpflichtendem — bindendem Verfassungsgehalt zu bewirken. Die Aussagekraft des materiellen Verfassungsrechts nimmt zu, soweit es anhand der ihm immanenten Konkretisierungsverbote die Grenzen seines Regelungsanspruchs im Detail relativ eindeutig erkennen läßt. Funktionsrechtliche Gesichtspunkte gewinnen an Bedeutung, soweit das Grundgesetz inhaltlich offen und damit auch die Reichweite seiner Steuerungskraft der „Verfassungsentwicklung" überlassen ist. Aber auch darüber hinaus ist angesichts der systematischen Verschränkung materialer und funktionaler Verfassungsnormen deren stete Zusammenschau geboten. Erst diese erlaubt die Einbeziehung des Regelungsganzen der Verfassung und gewährleistet damit die für die Bestimmung der Grenzen der Kontrolle des Bundesverfassungsgerichts erforderliche umfassende Entscheidungsgrundlage. Die Reichweite der verfassungsgerichtlichen Kontrolle der Fachgerichte ist so in einem integralen, materiellrechtliche und funktionsrechtliche Faktoren umschließenden Prozeß zu bestimmen. Sind funktionsorientierte Vorgaben dabei stets auf die inhaltliche Gestaltungsfunktion der Verfassung bezogen, hat Ausgangspunkt und Grenze der Bestimmung der Kontrolldichte der Umfang der materiellen verfassungsrechtlichen Rechtsbindung zu sein.
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2. Kap.: Bestimmungsfaktoren der Kontrolldichte
Im folgenden ist deshalb zunächst die Beziehung von Eingriffsintensität und materiellem Verfassungsrecht zu klären. Das Merkmal der Eingriffsintensität fand nach den im ersten Kapitel getroffenen Feststellungen in der Kontrollpraxis des Bundesverfassungsgerichts nahezu ausschließlich im Anwendungsbereich der sog. „objektiven" Regelungskomponente der Grundrechte Berücksichtigung. Die Rechtsprechung hatte dabei im wesentlichen die Überprüfung der Wahrung des durch Art. 5 Abs. 1 und 3, Art. 6 und Art. 2 Abs. 1 GG gewährten Freiheitsschutzes zum Gegenstand. Damit ist die Bedeutung der Eingriffsintensität für Inhalt und Grenzen des „objektiv-grundrechtlichen" Freiheitsschutzes zum Gegenstand der weiteren Untersuchung bestimmt.
3. Kapitel
Eingriffsintensität als Maßstab des sog. „objektiven" grundrechtlichen Freiheitsschutzes A. Zur Bedeutung der Grundrechte als „objektive64 Wert- und Steuerungsvorgaben Daß die Grundrechte einen neben ihrer Schutzrichtung als Abwehrrechte stehenden, Rechtssetzung und Rechtsanwendung auf allen Gebieten des Rechts verpflichtenden, sog. „objektivrechtlichen" Gehalt aufweisen, wird heute vielfach bereits als gesicherte verfassungsrechtliche Erkenntnis betrachtet. 1 Als „objektiver" Grundrechtsgehalt soll dabei nicht die jedem subjektiven (Grund-) Recht zugrundeliegende objektive Sollensanordnung 2, sondern eine verfassungsrechtliche Steuerungsvorgabe bezeichnet werden, die der Verstärkung und Sicherung der individuellen Freiheit vor allem jenseits der Voraussetzungen des klassischen Grundrechtseingriffs dient. 3 I. Die Unzulänglichkeit des liberalen, durch „Eingriffs- und Schrankendenken" geprägten Konzepts des grundrechtlichen Freiheitsschutzes 1. Bürgerlich-rechtsstaatliches Freiheitsverständnis Freiheitsbegriff
und grundgesetzlicher
Nach traditionellem, der Staatsidee des bürgerlichen Rechtsstaats verpflichtetem, liberalen Grundrechtsverständnis beschränkt sich die Funktion des grundgesetzlichen Freiheitsschutzes darauf, staatliche Eingriffe in die als dem Staat vorausliegend gedachte Individualsphäre abzuwehren und diesem bei der Festlegung von Schranken des bürgerlichen Freiheitsgebrauchs Maßstäbe zu setzen.4 Grundrechte enthalten danach ausschließlich Zugriffsverbote auf die individuelle Freiheit 5 und verbürgen die Abwesenheit von staatlichem Zwang. 6 1
Vgl. etwa Pieroth, Arbeitnehmerüberlassung S. 49; Alexy, Theorie S. 447; vgl. auch die Nachweise oben 1. Kapitel Fn. 66. 2 Zum Verhältnis von subjektivem Recht und objektiver Verhaltenslenkung ausführlich unten C III 1. 3 S. etwa BVerfGE 7,198,204f.; 35, 79,114; 50,290, 337; Stern, Staatsrecht III /1, § 69 I, II (S. 890ff.); K. Hesse, Grundzüge Rdn. 293, 297; Jarass, AöR 110 (1985), 363, 368f.; Ossenbühl, NJW 1976, 2100, 2101 f.; Rupp, AöR 101 (1976), 161, 165ff. 4 Schlink, EuGRZ 1984, 457; H. H. Klein, Grundrechte S. 43ff., 62f. 5 Steinbeiß-Winkelmann, Grundrechtliche Freiheit S. 29. 6 H. H. Klein, Grundrechte S. 64; Haverkate, Rechtsfragen S. 73.
140
3. Kap.: Eingriffsintensität und materieller Freiheitsschutz
Für Grundrechtswirkungen außerhalb des dergestalt erfaßbaren Bereichs staatlich zu verantwortender rechtlicher oder unmittelbar tatsächlicher Beeinträchtigungen der geschützten Individualsphäre ist aus dieser Sicht kein Raum. 7 Der dabei zugrundegelegte, bürgerlich-liberale Freiheitsbegriff erschöpft sich in der Forderung nach Ausgrenzung einer von staatlichem Zwang freien Sphäre des Individuums. 8 Er läßt sich deshalb als formal und antistaatlich kennzeichnen. Zweifelhaft ist, ob ein solches Freiheitsverständnis auch unter dem Grundgesetz Bestand haben kann. 9 Das Grundgesetz enthält neben den in bürgerlich-liberaler Tradition formulierten Freiheitsrechten ein ausdrückliches Bekenntnis zum Sozialstaat. Während man vor allem im ersten Jahrzehnt der Verfassungsinterpretation die verfassungsrechtlichen Grundentscheidungen für Rechtsstaatlichkeit, individuellen Freiheitsschutz und Sozialstaatlichkeit als miteinander unvereinbar ansah und versuchte, die sich so ergebende Antinomie einseitig im Sinne eines bürgerlich-rechtsstaatlichen Verfassungsverständnisses zu lösen 10 , wird heute unter Hinweis auf das Gebot der Einheit der Verfassung zu Recht die Notwendigkeit betont, den grundgesetzlichen Freiheitsbegriff im Hinblick auf den engen Zusammenhang zwischen Freiheitsschutz, Sozialstaatlichkeit und Demokratie neu zu entwickeln. 11 Mit seinem ausdrücklichen Bekenntnis zur Sozialstaatlichkeit in Art. 20 Abs. 1 und 28 Abs. 1 GG hat sich das Grundgesetz der Erkenntnis geöffnet, daß die Wahrnehmung grundrechtlicher Freiheit unter den Bedingungen einer arbeitsteiligen, vielfaltige Abhängigkeiten erzeugenden Industriegesellschaft durch Staatsferne allein nicht gewährleistet werden kann und hat daher den Staat zur Schaffung und Erhaltung der Voraussetzungen grundrechtlicher Freiheitsausübung in die Verantwortung genommen. 12 Das Sozialstaatsprinzip birgt deshalb sowohl Ermächtigung als auch Verpflichtung des Staates zur Gestaltung des sozialen Lebens und der sozialen Absicherung der individuellen Freiheit. Dies erlaubt zwei Folgerungen: a) Können die der bürgerlichen Gesellschaft innewohnenden Ordnungsprinzipien der Rechtsgleichheit, Erwerbsfreiheit und des Eigentumsschutzes allein den von der Verfassung gewünschten Zustand sozial gerechter Verteilung der 7
Vgl. etwa Steinbeiß-Winkelmann, Grundrechtliche Freiheit S. 75ff. S. etwa Schlink, EuGRZ 1984, 457, 467; Haverkate, Grundfragen S. 73. 9 Hierzu auch Erichsen, in: Handbuch des Staatsrechts VI, § 152 Rdn. 2ff.; Gick, JuS 1988, 585, 586 f. 10 F. Klein, ZgesStW 106 (1950), 390,404; Forsthoff, VVDStRL 12 (1954), 8,19, 25 ff. 11 Erichsen, in: Handbuch des Staatsrechts VI, § 152 Rdn. 5; Häberle, Wesensgehaltgarantie S. 12ff., 178; ders., VVDStRL 30 (1972), 43, 66ff.; Krebs, Vorbehalt S. 53ff.; Würtenberger, Planung S. 381 f.; Grabitz, Freiheit S. 205ff., 237; Lipphardt, EuGRZ 1986, 149, 151 ff.; Bethge, Staat 24 (1985), 351, 374; Friauf, DVB1. 1971, 674, 676. 12 E.-W. Böckenförde, NJW 1974, 1529,1538; Häberle, Wesensgehaltgarantie S. 178; ders., in: FS für Küchenhoff II S. 453,466f., 470ff.; Friesenhahn, in: Verhandlungen des 50. DJT II G 1, 17; Erichsen, Staatsrecht I S. 46f., 68f.; s. auch BVerfGE 75, 40, 61 ff. 8
Α. Grundrechte als „objektive" Wert- und Steuerungsvorgaben
141
Freiheitschancen nicht bewirken, kann staatliche Intervention in den Prozeß gesellschaftlicher Selbstregulierung nicht von vornherein als freiheitsbeschränkend gelten, sondern ist gerade im Hinblick auf ihre freiheitsfördernde Wirkung geboten. Grundrechtlicher Freiheitsschutz schließt sozialgestaltendes Handeln durch und innerhalb staatlich gesetzten Rechts ein. Dies gilt zum einen, wenn man sich die Begrenztheit der Möglichkeiten des isolierten Individuums zur freiheitlichen Entfaltung vergegenwärtigt. Eine effektive Wahrnehmung der grundrechtlichen Freiheitschancen setzt überwiegend Bezug und Kontakt zu anderen voraus und ist auf Formen und Mittel zu Interaktion und Kommunikation angewiesen.13 Diese „soziale Dimension" freiheitlicher Entfaltung verlangt nach einer Rechtsordnung, die die grundrechtlich geschützte Betätigung der Bürger harmonisiert und Mechanismen zu ihrer interaktiven Betätigung gewährt. 14 Die Verpflichtung des Staates zur Herstellung freiheitsfördernder Bedingungen erstreckt sich deshalb auf die Bereitstellung verbindlicher „Stimmigkeits- und Konsistenzregeln" 15 sozialen Verhaltens. Die soziale Einbindung individueller Freiheitsausübung eröffnet jedoch nicht nur Möglichkeiten zu mehrseitiger Entfaltung. Sie birgt auch die Gefahr von Freiheitsminderung durch gesellschaftliche Macht. Wird der Staat als Garant sozial gerechter Verhältnisse benannt, obliegt ihm deshalb zum anderen der Ausgleich der durch die natürliche und besitzbestimmte Ungleichheit in der Gesellschaft entstandenen und entstehenden „sozialen Unfreiheit". 16 Die gegenüber staatlicher Macht gesicherte Freiheit würde sonst durch gesellschaftliche Fremdbestimmung beseitigt werden können. „Öffentliche und private Freiheit" sind jedoch nicht trennbar. 17 Der vom Staat bereitzustellende rechtliche Rahmen individueller Freiheitsbetätigung hat daher, soll er der Hervorbringung eigenbestimmter Entscheidungen dienen, auch dem individuellen Schutzbedürfnis im gesellschaftlichen Bereich Rechnung zu tragen. 18 Grundrechtliche Freiheit ist deshalb in doppelter Hinsicht als Freiheit innerhalb rechtlich geordneter „sozialer Lebensbereiche" 19 gewährleistet. 20 Sie verwirklicht sich nicht vor und außerhalb rechtlicher Regelungen, sondern in ihnen. 21 Sie ist eingebunden in und angewiesen auf eine „freiheitliche 13 14
22 f. 15
Suhr, EuGRZ 1984, 529, 534f.; ders., Entfaltung S. 78ff., 84f. Suhr, JZ 1980, 166, 173 f.; Erichsen, in: Handbuch des Staatsrechts VI, § 152 Rdn.
Suhr, JZ 1980, 166, 173 f. E.-W. Böckenförde, Staat und Gesellschaft S. 38. 17 K. Hesse, in: FG für Smend S. 71, 86. 18 Vgl. auch Gusy, JA 1980, 78, 79 f. 19 Suhr, Staat 9 (1970), 67, 83 ff.; E.-W. Böckenförde, Staat und Gesellschaft S. 38 f. 20 K. Hesse, in: FG für Smend S. 71, 87f.; Scheuner, VVDStRL 22 (1965), 1, 41; Grabitz, Freiheit S. 237f., 252ff.; Krebs, Vorbehalt S. 57ff. 21 E.-W. Böckenförde, Staat und Gesellschaft S. 39. 16
142
3. Kap.: Eingriffsintensität und materieller Freiheitsschutz
Gesamtordnung" 22 , die die Gestaltung der Rechtsbeziehungen zwischen Staat und Bürger ebenso einschließt wie die Formierung der Beziehungen zwischen den Gliedern der Gesellschaft. Sie ist deshalb nicht Ausgrenzung einer staatsfreien Sphäre, sondern rechtlich „verfaßte Freiheit". Steht grundrechtliche Freiheit stets in und unter den Bedingungen der rechtlichen Gesamtordnung, erschließt sich damit ein weiterer, die Disziplinierung staatlicher Grundrechtsewgnjfjfe im klassischen Sinne ergänzender Regelungsgehalt grundrechtlicher Freiheitsgarantien. Eine auf die effektive Verwirklichung individueller Entscheidungsfreiheit zielende Verfassung muß staatliche Rechtsgestaltung nicht nur im Hinblick auf die Erhaltung individueller Entscheidungsfreiräume, sondern ebenso bei der ihr obliegenden Ordnung der Rahmenbedingungen des sozialen Lebens auf die Wahrung der Grundrechte verpflichten. Die Wahrung und Förderung grundrechtlich geschützter Freiheit sind deshalb stets Zweck und Leitbild staatlicher Sozialgestaltung23 und damit ein dem Staat zur Verwirklichung aufgegebenes Ziel. 2 4 b) Soziale Unfreiheit bedeutet nicht Minderung der rechtlichen, sondern ist Verlust an tatsächlicher Autonomie des Individuums. Verpflichtet das Grundgesetz den Staat auf die Herstellung von freiheitsfördernden Bedingungen der Grundrechtswahrnehmung, nimmt es diesen Befund auf und macht auch die tatsächliche Sicherung der individuellen Freiheit zum Gegenstand seiner Regelung. Das verfassungsrechtlich intendierte Ineinandergreifen von rechtlicher Freiheitsgarantie und staatlicher Sozialgestaltung macht deutlich, daß die grundrechtlichen Gewährleistungen nicht allein auf die Einräumung von Freiheitsrechten, sondern auch auf die Eröffnung tatsächlich wahrnehmbarer Freiheitschancen zielen. Ein verfassungskonformes Freiheitsverständnis kann deshalb nicht allein die formale Abwesenheit von staatlichem Zwang zum Inhalt haben. Hat sich das Grundgesetz aus der bürgerlich-rechtsstaatlichen Fixierung auf den dem einzelnen hoheitlich gegenüberstehenden und nur insoweit grundrechtsverpflichteten Staat gelöst, wird dem nur ein umfassender, materialer Freiheitsbegriff gerecht. 25 Geht die Verfassung davon aus, daß die grundrechtlich gewährleistete Freiheit durch die Herstellung einer staatsfreien Sphäre allein nicht zu verwirklichen ist und verpflichtet den Staat deshalb auf aktive Freiheitsförde22 K. Hesse, in: FG für Smend S. 71, 86; Krebs, Vorbehalt S. 59; Erichsen, in: Handbuch des Staatsrechts VI, § 152 Rdn. 6. 23 Erichsen, Staatsrecht I S. 46f.; Herzog, in: Maunz/Dürig, Art. 20 VII. Rdn. 52; Würtenberger, Planung S. 396ff., 399fT. 24 Scheuner, in: FS für Forsthoff S. 325, 330; Erichsen, in: Handbuch des Staatsrechts VI, § 152 Rdn. 6; Krebs, Vorbehalt S. 91; Häberle, in: FS für Küchenhoff II S. 453,466f., 470ff.; Lipphardt, EuGRZ 1986, 149, 152; ausführlich Michel, Staatszwecke S. 211 ff., 240ff., 251 ff., zusammenfassend S. 261 ff.; im Ergebnis ebenso die „Werte-Rechtsprechung" des Bundesverfassungsgerichts, dazu unten B I 1. 25 S. auch Grimm, in: Grundrechte und soziale Wirklichkeit S. 39, 58 f.
Α. Grundrechte als „objektive" Wert- und Steuerungsvorgaben
143
rung, intendiert sie damit — wie auch Vertreter des traditionellen Grundrechtsverständnisses zubilligen 26 — die Ermöglichung und Sicherung „realer Freiheit". 21 Grundrechtlicher Freiheitsschutz schließt deshalb auch die tatsächlichen Voraussetzungen des Freiheitsgebrauchs ein. Dies hat Auswirkungen nicht nur auf die Ordnung innergesellschaftlicher Verhältnisse, sondern muß um so mehr für die Ausgestaltung der Beziehungen von Bürger und Staat gelten. Die Wahrnehmung des sozialstaatlichen Auftrags zu staatlicher Grundrechtsförderung bringt nicht nur die Eröffnung neuer Freiheitschancen mit sich, sondern führt zugleich mit der Ausweitung staatlicher Aktivität und Verantwortung, der Zunahme von Fürsorge-, Planungs- und Lenkungsmaßnahmen, zu Gefahren für die selbstverantwortliche Lebensgestaltung des einzelnen. Dessen Interessen werden durch vermehrte staatliche Einwirkung auf sein soziales, wirtschaftliches, lokales oder sonstiges Umfeld beschnitten.28 Durch die Überführung gesellschaftlicher Regulierungsmechanismen in staatliche Einrichtungen kann er zudem in Abhängigkeit von staatlicher Leistungsgewährung geraten. 29 Die Verpflichtung des Sozialstaates zur Förderung tatsächlicher Freiheitschancen, zu vorsorgendem Handeln und ausgleichender Intervention und Steuerung gesellschaftlicher Abläufe läßt staatlichen Freiheitsschutz und staatliche Freiheitsgefahrdung so in ein dialektisches Spannungsverhältnis eintreten. Ein nur die Abwehr von /tec/zteminderungen leistender Grundrechtsschutz könnte den genannten, staatlicher Zwangswirkung im Einzelfall durchaus gleichwertigen Gefahrdungen des selbstbestimmten Freiheitsgebrauchs nicht entgegenwirken. Die gegenüber der Aufgabenzuständigkeit des bürgerlichen Rechtsstaats eintretende Erweiterung des staatlichen Handlungsauftrags muß deshalb von einem entsprechenden Ausbau auch des verfassungsrechtlichen Freiheitsschutzes begleitet sein, der etwa auch die nicht-imperativen, dem Staat zurechenbaren, den einzelnen „mittelbar" und „faktisch" treffenden Freiheitsbeeinträchtigungen einschließt. Die damit gebotene Neubestimmung des traditionellen grundrechtlichen Freiheitsbegriffs führt nicht — wie gelegentlich eingewandt 30 — zu einer Schwächung der Effektivität der Grundrechte, sondern ist zur Wahrung und Verstärkung ihrer Wirkkraft unabdingbar. 31 26
Η. H. Klein, Grundrechte S. 48; s. auch Haverkate, Grundfragen S. 104ff. K. Hesse, in: FG für Smend S. 71,85 f.; Häberle, Wesensgehaltgarantie S. 15 f.; ders., VVDStRL 30 (1972), 43,68,96; Pieroth, Arbeitnehmerüberlassung S. 52; Bethge, Staat 24 (1985), 351, 375 f.; Alexy, Theorie S. 460f.; Würtenberger, Planung S. 381; Grabitz, Freiheit S. 206, 243; Gick, JuS 1988, 585, 589; so im Ergebnis auch die Rechtsprechung, die jedenfalls negatorischen Grundrechtsschutz auch gegenüber Beeinträchtigungen der tatsächlichen Voraussetzungen der Freiheitswahrnehmung gewährt, vgl. etwa BVerfGE 6, 55, 81 f.; 13, 230, 232f.; 38, 61, 85; 46, 120, 137f.; 47, 1, 21; 49, 24, 47f.; 76, 1, 49ff.; BVerwGE 71, 183, 193; BVerwG DVB1. 1988, 587, 588. 28 Vgl. auch BVerfGE 46, 120, 137 f. 29 S. etwa Erichsen, DVB1. 1983, 289, 290; Friauf, DVB1. 1971, 674, 675. 30 Η. H. Klein, Grundrechte S. 54ff., 63; Haverkate, Rechtsfragen S. 75; SteinbeißWinkelmann, Grundrechtliche Freiheit S. 642ff.; ähnlich Gusy, JA 1980, 78, 82. 27
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3. Kap.: Eingriffsintensität und materieller Freiheitsschutz
2. Ansätze zur Erweiterung des „Eingriffs- und Schrankendenkens" — Darstellung und Kritik Geht die freiheitsschützende Wirkung der Grundrechte über die Disziplinierung staatlicher Zwangswirkung hinaus, könnte dem durch die Erweiterung des herkömmlich im Begriff des „Grundrechtseingriffs" zusammengefaßten abwehrrechtlichen Freiheitsschutzes auf die übrigen grundrechtswidrigen Freihheitsgefahrdungen Rechnung zu tragen sein, ohne daß damit eine grundsätzliche Abkehr vom traditionellen, liberalen, den Kategorien von Eingriff und Schranken verpflichteten Grundrechtsdenken verbunden sein müßte. So geht etwa Schlink davon aus, daß die schrankenziehende und eingriffsabwehrende Wirkung der Grundrechte für den verfassungsrechtlichen Freiheitsschutz auch außerhalb des traditionellen Eingriffsbegriffs fruchtbar gemacht werden kann. 32 Auch Bleckmann / Eckhoff meinen, nicht-imperative Beeinträchtigungen der Ausübung grundrechtlicher Freiheit durch Ausweitung der abwehrrechtlichen Komponente des Freiheitsschutzes erfassen zu können. 33 Die Tauglichkeit derartiger, in der Literatur vielfach unkritisch übernommener Versuche 34 zur Bewältigung der mit der Verpflichtung des Staates auf „reale Freiheit" verbundenen Fragestellungen soll anhand zweier Problembereiche untersucht werden: dem Angewiesensein des Bürgers auf staatliche Leistung und der zunehmend in den Mittelpunkt der wissenschaftlichen Auseinandersetzung geratenden Frage nach dem Grundrechtsschutz gegenüber den mittelbar-faktischen Beeinträchtigungen der Freiheitsausübung. a) „Reale Freiheit" kann zum einen durch den Mangel an materiellem Substrat, durch die fehlende Verfügungsmöglichkeit über die zur Wahrnehmung des Freiheitsrechts im gewünschten Sinne erforderlichen Mittel beschränkt sein. Das erweiterte „Eingriffs- und Schrankendenken" sieht sich hier vor die Alternative gestellt, staatliche Gewährung freiheitsfördernder Leistungen aus dem verfassungsrechtlich geregelten Freiheitsschutz grundsätzlich auszuklammern 35 oder den grundrechtlichen Freiheitsgarantien die Verpflichtung des Staates zur Gewährung der zur gewünschten Freiheitsausübung erforderlichen Mittel zu entnehmen 36 und die Mißachtung dieser Verpflichtung als „ E i n g r i f f 31
Vgl. auch Grabitz, Freiheit S. 205 ff.; Grimm, in: Grundrechte und soziale Wirklichkeit S. 39, 64ff. 32 Schlink, EuGRZ 1984, 457, 462 ff. 33 Bleckmann/Eckhoff, DVB1. 1988, 373, 380 ff. 34 S. etwa die Verwendung des Eingriffsbegriffs außerhalb des Bereichs imperativer Einwirkungen bei Heintzen, DVB1. 1988, 621 ff; differenzierend demgegenüber LübbeWolff, Grundrechte S. 72f., 228 ff., 308 ff., die ohne Fixierung auf ein ausschließlich liberales Grundrechtsverständnis lediglich nach der konstruktiven Eignung der Regeln der Eingriffsdogmatik zur Bewältigung der mit staatlicher Leistungsgewährung verbundenen Grundrechtsbeeinträchtigungen fragt und daneben einen abweichend strukturierten, sog. präformierten Grundrechtsschutz anerkennt. 35 So Schlink, EuGRZ 1984, 457, 465f.; Haverkate, Grundfragen S. 104ff.
Α. Grundrechte als „objektive" Wert- und Steuerungsvorgaben
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verfassungsrechtlich sanktionierbar zu machen. Der erstgenannte Ansatz, der den Ausbau des die Grundrechtsausübung unterfangenden Netzes staatlicher Leistung, wie im übrigen auch die Gewährung von Organisations- und Verfahrensvorkehrungen, ausschließlich in den Bereich politischer Gestaltungsentscheidung verweist 37 , vermag die Verfassungskraft der Verpflichtung des Staates zu aktiver Grundrechtsförderung nicht einzufangen. Der zweitgenannten Auffassung steht die im Laufe der Diskussion über die Teilhabequalität der Grundrechte gewonnene Einsicht entgegen, daß die Ableitung verfassungsunmittelbarer Leistungsansprüche aus Grundrechten zu einer dem Rahmencharakter der Verfassung zuwiderlaufenden, politische Gestaltung weitgehend lähmenden, umfassenden verfassungsrechtlichen Bindung der verfügbaren Mittel führen und zugleich Prioritäten in der staatlichen Ausgabenwirtschaft erzwingen müßte, die den in Art. 109 Abs. 2 GG verankerten haushaltsrechtlichen Grundsätzen widersprechen. 38 Originäre subjektive Rechte des Bürgers auf positive Förderung der tatsächlichen Bedingungen seiner Freiheitsausübung können den Grundrechten deshalb in der Regel gerade nicht entnommen werden. 39 b) Eine Minderung „realer Freiheit" kann auch durch eine die Grundrechtssphäre des einzelnen nur mittelbar betreffende staatliche Aktivität bewirkt werden. In derartigen Fällen, etwa bei der Zulassung eines weiteren Gewerbebetriebes als Konkurrenten, dem Bau eines Flugplatzes in unmittelbarer Nähe eines Naherholungsgebietes oder der staatlichen Einwirkung auf die Verbraucher zur Meidung eines als umweltschädlich eingestuften Produkts hat das Verfassungsrecht zwei Sachfragen zu bewältigen. Zunächst stellt sich das Problem sachgerechter Zurechnung der für den Bürger nachteiligen, sich ihm jedoch erst durch einen weiteren Wirkungszusammenhang vermittelnden Handlungsfolgen. Mittelbar-faktische Einwirkungen werfen darüber hinaus jedoch auch eine weitere, verfassungsrechtlich bedeutsame Fragestellung auf. Sie beeinträchtigen typischerweise die Rahmenbedingungen der Grundrechtsausübung des einzelnen. Dem Grundrechtsträger erscheint — wie die genannten Beispiele deutlich machen — die Wahrnehmung seiner Berufsfreiheit, der allgemeinen Handlungsfreiheit oder der Vertragsfreiheit infolge der Veränderung der Ausübungsvoraussetzungen regelmäßig 36
So „im Grundsatz" Bleckmann/Eckhoff, DVB1. 1988, 373, 378. Schlink, EuGRZ 1984, 457, 465; Haverkate Grundfragen S. 105. 38 Vgl. etwa Erichsen, Staatsrecht I S. 71. 39 W. Martens, VVDStRL 30 (1972), 7,25ff.; Häberle, VVDStRL 30 (1972), 43 ff., 79f.; Rupp, AöR 101 (1976), 161,176 ff.; Friesenhahn, in: Verhandlungen des 50. DJT II G 1, 29ff.; K. Hesse, Grundzüge Rdn. 289; ders., EuGRZ 1978,427,434; v. Mutius, VerwArch. 64 (1973), 183,186ff.; Bethge, Staat 24 (1985), 351, 376f.; Starck, in: Bundesverfassungsgericht und Grundgesetz II S. 480, 516ff.; Ossenbühl, NJW 1976, 2100, 2104f.; Erichsen, Staatsrecht I S. 70 f. m.w.N. auch zur Gegenmeinung; weitergehend etwa Breuer, in: BVerwG-FG S. 89ff. 37
10 Scherzberg
146
3. Kap.: Eingriffsintensität und materieller Freiheitsschutz
nicht etwa gänzlich unmöglich, sondern meist nur nicht mehr in der gewünschten Weise vorteilhaft, gewinnversprechend oder interessengerecht. Soweit die betreffende Gewährleistung nicht eine Qualität der Persönlichkeit des einzelnen wie Menschenwürde, Leben und Gesundheit oder eines ihm zugeordneten objektiven Gutes zum rechtlich geschützten Interesse erhebt, sondern wie die genannten Freiheitsrechte oder das Eigentumsrecht 40 (auch) auf die Ausübung einer Freiheit durch den Grundrechtsträger zielt, haben mittelbarfaktische Beeinträchtigungen damit regelmäßig eine von imperativen Eingriffen zu unterscheidende Wirkung. Sie stellen sich regelmäßig als Verschlechterung der Möglichkeit zur gewünschten Interessenverfolgung dar. Hier fragt sich vornehmlich nach der sachlichen Reichweite des grundrechtlichen Schutzes der mit der Freiheitsausübung verbundenen Interessen und damit nach der verfassungsgemäßen Verteilung des Risikos interessengerechter Grundrechtsausübung. Die vorgeschlagene Ausweitung des subjektiven Grundrechtsschutzes auf mittelbar-faktische Beeinträchtigungen würde eine grundsätzliche Erweiterung des grundrechtlichen Schutzbereichs auf derartige Interessenbeeinträchtigungen bedeuten, sofern sie nur einem staatlichen Ausgangsakt zuzurechnen sind. 41 Gegen eine solche pauschale Ausweitung bestehen jedoch vor dem Hintergrund des „Hauptfreiheitsrechts" des Art. 2 Abs. 1 GG und im Hinblick auf die heute allgemein vorausgesetzte Struktur des „abwehrrechtlichen" Freiheitsschutzes erhebliche Bedenken. aa) In der Literatur sind allerdings — unter Berufung auf die Auffassung des Bundesverfassungsgerichts, Art. 2 Abs. 1 GG umfasse den grundrechtlichen Anspruch, „nicht mit einem Nachteil belastet zu werden, der nicht in der verfassungsmäßigen Ordnung begründet ist" 4 2 — einzelne Versuche unternommen worden, das Grundrecht der allgemeinen Handlungsfreiheit im Sinne einer Gewährleistung „allgemeiner Eingriffsfreiheit" auch gegenüber mittelbar-faktischen Beeinträchtigungen nutzbar zu machen. 43 Aus Art. 2 Abs. 1 GG wird ein Recht auf Freiheit von ungesetzlichen Nachteilen abgeleitet, die allgemeine Handlungsfreiheit damit als die umfassende Subjektivierung des in Art. 20 Abs. 3 GG enthaltenen Gesetzmäßigkeitsprinzips verstanden. 44 40 BVerfGE 50, 290, 340; 58, 137, 151; Böhmer, NJW 1988, 2561, 2563; Schoch, Jura 1989, 113, 114; krit. Leisner, DVB1. 1988, 555. 41 Zur Zurechnung s. Ramsauer, VerwArch. 72 (1981), 89, 99f.; Bleckmann/Eckhoff, DVB1. 1988, 373, 380; Schulte, DVB1. 1988, 512, 517. 42 BVerfGE 9, 83, 88; im Anschluß daran auch BVerwGE 30, 191, 198. 43 Vgl. Bernhardt, JZ 1963, 302, 306; R. Schmidt, NJW 1967, 1635, 1639; Zuleeg, DVB1. 1976, 509, 514; Herzog, AöR 86 (1961), 194, 202 Fn. 37; Hoffmann, Abwehranspruch S. 61 f.; Lipphardt, EuGRZ 1986, 149, 161; Beckmann, Rechtsschutz S. 184ff. m.w.N.; kritisch Pietzcker, in: FS für Bachof S. 131, 139ff.; Herdegen, in: Grundfragen des Öffentlichen Rechts S. 161,172 f.; das Diktum des Bundesverfassungsgerichts bezieht sich allerdings auf einen Fall unmittelbarer Rechtsbeeinträchtigung, vgl. BVerfGE 9, 83,
88.
Α. Grundrechte als „objektive" Wert- und Steuerungsvorgaben
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(1) M i t einer solchen Anknüpfung des Freiheitsschutzes an einen den Grundrechtsträger treffenden „Nachteil" lassen sich einschränkende Kriterien für die danach untersagten Interessenbeeinträchtigungen allerdings nicht verbinden. Gegenteilige Ansätze in der Literatur, eine Beschränkung des Abwehrrechts auf „schützenswerte faktische Interessen" 45 oder auf die Beeinträchtigung „eigener Angelegenheiten" des Betroffenen vorzunehmen 46 , sind unvereinbar mit der auch dort geteilten Annahme, daß Art. 2 Abs. 1 GG als umfassende Gewährleistung der Handlungsfreiheit jedes menschliche Verhalten erfaßt, also keine auf den Inhalt der Freiheitsbetätigung abstellende Begrenzung aufweist. 47 Folgt man dieser, im Hinblick auf die Entstehungsgeschichte des Grundrechts zutreffenden und von seinem uneingeschränkt auf „Entfaltung" zielenden Wortlaut nahegelegten, heute ganz herrschenden Meinung 4 8 , steht es dem Grundrechtsträger danach frei, welches Interesse er als „eigene Angelegenheit" benennt. Das Grundrecht weist aus diesem Grunde auch keine Maßstäbe für eine Differenzierung nach der „Schutzwürdigkeit" des Freiheitsgebrauchs auf. 49 Ein Rückgriff auf Art. 2 Abs. 1 GG zur Abwehr mittelbar-faktischer Beeinträchtigungen hätte deshalb notwendig die Einbeziehung jedes als eigenes geltend gemachten Interesses sowie jeder subjektiv empfundenen Einbuße in den Grundrechtsschutz zur Folge. Eine solche einseitige Zuweisung des Risikos interessengerechter Grundrechtsausübung an den Staat würde jedoch zu einem allgemeinen Anspruch des Bürgers auf rechtmäßiges Verhalten des Staates führen. 50 (a) Ein solcher verfassungsrechtlich verankerter Gesetzesvollzugsanspruch würde allerdings die vom Grundgesetz vorgefundene und von der Rechtsschutzgarantie des Art. 19 Abs. 4 GG rezipierte Mehrzahl unterverfassungsrechtlich begründeter Berechtigungen überflüssig erscheinen lassen und die Unterscheidung von einfachgesetzlicher Rechtswidrigkeit und Grundrechtsverletzung aufheben, auf der die Vorschriften über die Verfassungsbeschwerde — Art. 93 Abs. 1 Nr. 4 a GG, § 90 Abs. 1 BVerfGG — beruhen. (b) Eine umfassende Subjektivierung des Gebots der Gesetzmäßigkeit staatlichen Handelns müßte auch das die unterverfassungsrechtliche Rechtsordnung kennzeichnende Nebeneinander von subjektivem und objektivem Recht in Frage stellen. Jedes staatliche Verhalten zeitigt Auswirkungen auf die tatsäch44 Dürig, in: Maunz/Dürig, Art. 2 Abs. I Rdn. 26; Hoffmann, Abwehranspruch S. 50ff.; Herzog, AöR 86 (1961), 194, 202 Fn. 37. 45 Bernhardt, JZ 1963, 302, 306 f.; Bleckmann, VB1BW 1985, 361, 363; Beckmann, Rechtsschutz S. 188 f. 46 Bartlsperger, DVB1. 1970, 30, 32f.; ders., VerwArch. 60 (1969), 35, 47ff.; vgl. auch Henke, Recht S. 57 ff., der allerdings Art. 2 Abs. 1 GG nicht heranzieht. 47 BVerfGE 6, 32, 36 f. ; Erichsen, in: Handbuch des Staatsrechts VI, § 152 Rdn. 21. 48 Zum Meinungsstand vgl. Erichsen, Jura 1987, 367, 368 m.w.N. 49 S. dazu bereits Scherzberg, Jura 1988, 455, 456. 50 So auch Erichsen, Verwaltungsrecht S. 147. 10*
148
3. Kap.: Eingriffsintensität und materieller Freiheitsschutz
liehen Bedingungen grundrechtlicher Freiheitsausübung 51 und kann zu Beeinträchtigungen interessengemäßer Grundrechtsausübung führen. Ließe sich den Grundrechten ein allgemeiner Anspruch auf Gesetzmäßigkeit staatlichen Handelns entnehmen, käme dergestalt nahezu jeder einfache Gesetzesverstoß als möglicher Gegenstand einer auf Grundrechte gestützten Rüge in Betracht. Die durch den einfachen Gesetzgeber getroffene Entscheidung über den individualschützenden Charakter der verletzten Norm wäre damit überspielt. M i t der durch Art. 19 Abs. 4 GG vorgezeichneten 52 und im materiellen öffentlichen Recht wie dem zugehörigen Prozeßrecht 53 ausgeprägten Unterscheidung von objektivem Rechtsverstoß und subjektiver Rechtsverletzung ist die Vorstellung eines verfassungsrechtlich verankerten Gesetzesvollziehungsanspruchs demnach nicht vereinbar. Vor dem Hintergrund des einen lückenlosen Grundrechtsschutz gegenüber imperativen Einwirkungen gewährleistenden weiten Verständnisses des Art. 2 Abs. 1 GG als Garantie allgemeiner Handlungsfreiheit ist eine Ausdehnung des subjektiven Freiheitsschutzes auf die Abwehr von Beeinträchtigungen der bei der Freiheitsausübung verfolgten Interessen deshalb verfassungssystematisch nicht haltbar. (2) Die Annahme eines allgemeinen grundrechtlichen Abwehrrechts gegenüber ungesetzlichen Nachteilen müßte schließlich auch angesichts des Schutzzwecks der grundrechtlichen Freiheitsgarantien auf Bedenken stoßen. 54 Diese enthalten neben der Zuweisung freiheitlicher Betätigung als „rechtliches Dürfen" der Grundrechtsträger formelle und materielle Regeln für dessen Einschränkung durch den Gesetzgeber und damit Maßstäbe für eine verfassungsgemäße Abwägung zwischen Freiheitsinteresse und Eingriffsgut. Grundrechtlicher Freiheitsschutz ist darauf gerichtet, staatliches Handeln zu unterbinden, das diese Maßstäbe verkennt, also denjenigen Regeln zuwiderläuft, die den Hoheitsakt in bezug auf die fragliche Abwägung determinieren sollen. Nicht jeder objektive Rechtsverstoß, sondern nur die Mißachtung einer in diesem Sinne freiheitsschützenden Norm, deren Verletzung einen Rechtswidrigkeitszusammenhang zwischen Rechtsverstoß und Freiheitsbeeinträchtigung begründet, ist damit geeignet, eine Grundrechtsverletzung auszulösen. Die Betroffenheit in grundrechtlicher Freiheit vermittelt demnach grundsätzlich kein individuelles Recht auf rechtmäßigen Gesetzesvollzug.55
51
681 f. 52
Erichsen, in: Handbuch des Staatsrechts VI, § 152 Rdn. 17; Friauf, DVB1.1971,674,
Vgl. Weyreuther, in: FS für Menger S. 681, 682. S. etwa §§ 42 Abs. 2, 113 Abs. 1 S. 1 und Abs. 4 S. 1 VwGO. 54 Zum folgenden vgl. Erichsen, Jura 1987, 367, 368; ders., in: Handbuch des Staatsrechts VI, § 152 Rdn. 18; Krebs, in: FS für Menger S. 191, 203 f.; dazu auch bereits oben 2. Kapitel A III 3 b bb. 55 Erichsen, Jura 1987, 367, 368; im Ergebnis auch BVerfGE 56, 216, 241 f. 53
Α. Grundrechte als „objektive" Wert- und Steuerungsvorgaben
149
bb) Der grundrechtliche Abwehranspruch ist — wie sich anhand der Formulierung des Art. 93 Abs. 1 Nr. 4 a GG erweist — an das Vorliegen einer Grundrechtsverletzung gebunden. Diese wird nach herkömmlicher Vorstellung als rechtswidrige Begrenzung oder Einschränkung des grundrechtlichen Schutzbereichs bestimmt. 56 Subjektiver Grundrechtsschutz ist danach als Abwehr von Einwirkungen in die von der Grundrechtsnorm geschützten Freiheiten und Lebensgüter zu verstehen und ist auf die grundrechtlichen Schutzbereiche bezogen, deren verfassungsmäßige Einschränkung nur durch oder aufgrund Gesetzes und nach Maßgabe des Übermaßverbots zulässig ist. 5 7 Auch bei der vorgeschlagenen Erweiterung des traditionellen Eingriffsbegriffs bleibt der subjektiv-grundrechtliche Freiheitsschutz derart „räumlich" konzipiert und ausschließlich negativ ausgerichtet. 58 (1) Würde der für imperative Eingriffe geltende Vorbehalt gesetzlicher Grundlage auf jede zurechenbare Einwirkung in individuelle Freiheitsinteressen erstreckt, müßte dies angesichts der mannigfaltigen Fernwirkungen staatlichen Verhaltens 59 einen staatliches Handeln nahezu lückenlos erfassenden „Totalvorbehalt" nach sich ziehen, der Effektivität und Flexibilität der Verwaltung weitgehend beseitigte.60 Ein genereller Ausschluß nicht erforderlicher, die Interessen der Grundrechtsträger bei ihrer Freiheitsausübung beeinträchtigender Nebenwirkungen durch das Übermaßverbot würde zudem die Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers erheblich mindern und den Gesetzgebungsorganen Folgeerwägungen abverlangen, die wegen der vielfältigen Verknüpfung gesellschaftlicher Interessen kaum je die geforderte Vollständigkeit erreichen könnten. Abgesehen von handgreiflichen Bedenken gegen die Praktikabilität einer solchen Lösung 61 wären damit auch nur die zum Zeitpunkt der gesetzlichen Regelung überhaupt erkennbaren Nachteile erfaßbar. So hat auch das Bundesverfassungsgericht verschiedentlich unbeabsichtigte und unvorhersehbare Nebenfolgen vom Grundrechtsschutz ausgenommen.62 Der abwehrrechtlich konzipierte, subjektive Freiheitsschutz der Grundrechte kann damit — auch ungeachtet der bereits skizzierten, mit Art. 2 Abs. 1 GG verbundenen Probleme — eine umfassende Sicherung der tatsächlichen Voraussetzungen der Freiheitsausübung nicht leisten. (2) Unter teleologischen Gesichtspunkten ließe sich jedoch erwägen, jedenfalls solche Interessenbeeinträchtigungen in den grundrechtlichen Schutzbe56 Vgl. etwa Erichsen, Staatsrecht I S. 8; ähnlich Pieroth/Schlink, Grundrechte Rdn. 229, 238 f., 256. 57 S. etwa Schlink, EuGRZ 1984, 457. 58 Vgl. etwa Schlink, EuGRZ 1984, 457. 59 Friauf, DVB1. 1971, 674, 681 f. 60 Dazu etwa Stern, Staatsrecht III /1, § 72 III 4 (S. 1207). 61 Dazu Gallwas, Faktische Beeinträchtigungen S. 94; Ossenbühl, in: Allgemeines Verwaltungsrecht, § 5 II (S. 67); Sodan, DÖV 1987, 858, 863. 62 BVerfGE 6, 55, 77; 11, 50, 60; 13, 331, 341; 18, 97, 106f.; 21, 54, 69; 49, 24, 68.
150
3. Kap.: Eingriffsintensität und materieller Freiheitsschutz
reich einzubeziehen, die zu einer erheblichen Benachteiligung der Grundrechtsausübung führen. 63 Soll einem Grundrechtsträger allerdings verfassungsrechtlich nicht nur freigestellt sein, ob er ein bestimmtes Sachinteresse mit einer grundrechtlichen Betätigung verbindet, sondern auch in welchem Ausmaß er sich davon bei seiner Freiheitsausübung leiten läßt, ist auch der innere Bezug zwischen Handlung und Interessenverfolgung ausschließlich subjektiv zu bestimmen und würde der Schutzbereich des Grundrechts nicht zuletzt von Affektionsinteressen des Betroffenen abhängig. Kann damit die Auswahl der in den grundrechtlichen Schutzbereich einzubeziehenden Ausübungsinteressen aber nur anhand ihres Gewichts für den individuellen Freiheitsgebrauch und somit einzelfallbezogen vorgenommen werden, wäre es dem Gesetzgeber weitgehend verwehrt, im Wege generell-abstrakter Regelung einen Kreis grundrechtlich schutzwürdiger und einfachrechtlich geschützter und abwehrfahiger Interessen festzulegen und würde seine Regelungskompetenz dergestalt erheblich eingeengt. Demgegenüber wird zu Recht darauf verwiesen, daß gerade das gegenüber mittelbaren Beeinträchtigungen besonders häufig eingewandte Eigentumsrecht des Art. 14 Abs. 1 GG, aber auch etwa Art. 2 Abs. 1 GG, auf eine gesetzliche Ausgestaltung der individuellen Rechtssphäre angelegt ist. 6 4 Bei einer Erweiterung des grundrechtlichen Schutzbereichs auf erhebliche Beeinträchtigungen ließe sich ferner der Umfang der im Einzelfall ausgelösten Grundrechtsbetroffenheit kaum vorhersehen, und es bliebe damit unklar, inwieweit die beabsichtigte gesetzliche Regelung den erweiterten Schutzbereich berührt und den sich daraus ergebenden Verhaltensanforderungen unterliegt. Die auf die Gewährleistung einer gerechten Abwägung zwischen Eingriffs- und Freiheitsinteresse zielende Schutzfunktion der grundrechtlichen Gesetzesvorbehalte würde so verfehlt. (3) Unbedenklich ist die Einbeziehung der mit der Freiheitsausübung verbundenen Interessen in den Schutzbereich der Freiheitsrechte demgegenüber nur, wenn ein bestimmtes Sachinteresse mit der grundrechtlich geschützten Betätigung typischerweise derart eng verbunden ist, daß sich Freiheitsschutz und Interessenschutz praktisch decken. In diesem Sinne nimmt das Bundesverfassungsgericht etwa das Interesse an der Rentabilität einer beruflichen Betätigung in den Schutz des Art. 12 Abs. 1 GG auf. 65 Ist als Berufsausübung jede auf Dauer berechnete Tätigkeit anzusehen, die der Schaffung und Erhaltung einer Lebensgrundlage dient 6 6 , wird damit bereits 63
In diesem Sinne etwa Ramsauer, VerwArch. 72 (1981), 89,104f.; Sodan, DÖV 1987, 858, 863; ähnlich Lübbe-Wolff, Grundrechte S. 267ff., die eine zwangsgleiche Wirkung der verhaltensbeeinflussenden Gewährung voraussetzt. 64 Breuer, DVB1. 1983, 431, 436; allgemein zu der dem Gesetzgeber aufgegebenen Ausgestaltung der Grundrechtsausübung auch Jarass, AöR 110 (1985), 363, 390 ff. 65 Vgl. BVerfGE 13, 181, 185f.; 16,147, 162f.; 22, 380, 384; 37, 1, 17; 38, 61, 85f.; 46, 120, 137. 66 BVerfGE 7, 377, 397; 54, 301, 313; 74, 129, 148; BVerwGE 22, 286, 287.
Α. Grundrechte als „objektive" Wert- und Steuerungsvorgaben
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im Tatbestand der Grundrechtsgewährleistung ein finaler Bezug zwischen der Wahrnehmung des Freiheitsrechts und den damit regelmäßig verbundenen wirtschaftlichen Interessen hergestellt. Das grundrechtliche Freiheitsrecht zielt hier über die allgemeine Entfaltung des einzelnen hinaus auf die Eröffnung eines Freiraums zur Verfolgung eines bestimmten, grundrechtstypischen Individualinteresses und hebt dieses gegenüber anderen, mit der Grundrechtsausübung im Einzelfall verbundenen Zwecken hervor. Eine Einschränkung des Rechts zur freien Entscheidung über Art und Modalität der Berufstätigkeit läuft der grundrechtlichen Schutzintention ebenso zuwider wie eine Einschränkung des wirtschaftlichen Nutzens der Grundrechtswahrnehmung. Eine grundsätzliche Gleichstellung von Freiheits- und Interessenschutz liegt deshalb durchaus nahe. 67 Gegen die damit verbundene Erweiterung des Geltungsbereichs von Gesetzesvorbehalt und Übermaßverbot sind angesichts der Vorhersehbarkeit der Verknüpfung von Grundrechtswahrnehmung und Interessenverfolgung auch keine Bedenken angezeigt. Die eingriffsabwehrende Wirkkraft des Grundrechts ist hier also nicht nur Instrument zur Disziplinierung rechtlicher Freiheitsbeschränkungen. Sie kann unter den genannten Voraussetzungen auch als Mittel zum Schutz vor tatsächlichen Beeinträchtigungen der mit der Grundrechtsausübung verfolgten Zwecksetzung dienen. 68 Regelmäßig enthalten die grundrechtlichen Gewährleistungen indes keine derartige verfassungsunmittelbare Verknüpfung von Freiheitsausübung und Interessenwahrnehmung. Soll nicht jede subjektiv empfundene Einbuße in den Grundrechtsschutz einbezogen und damit ein allgemeiner verfassungsrechtlicher Gesetzesvollziehungsanspruch begründet werden, verbleibt die Zuweisung des Risikos interessengemäßer Grundrechtsausübung insoweit der Entscheidung des Gesetzgebers. Dieser hat die Rechtssphäre des Bürgers bei der Grundrechtswahrnehmung auszugestalten und eine Bestimmung darüber zu treffen, welche grundrechtsbezogenen Interessen an staatlichem Verhalten als schutzwürdig anzusehen und zu subjektiven Rechten des Bürgers auszugestalten sind. 69 Eine generelle Gewährung verfassungsunmittelbaren Interessenschutzes läßt sich den Grundrechten deshalb nicht entnehmen. 70 67
Ob in derartigen Fällen jede Beeinträchtigung der Rentabilität der Berufsausübung abwehrrechtlichen Grundrechtsschutz auszulösen vermag oder eine gewisse Belastungsintensität zu fordern ist — in diesem Sinne etwa BVerfGE 47, 1, 21 f. und Lübbe-Wolff, Grundrechte S. 267 ff. —, ist im Wege der Auslegung der jeweiligen Grundrechtsnorm zu bestimmen und bedarf hier keiner Entscheidung. 68 Weitere Differenzierungen bei der Feststellung der Eignung des Eingriffsmodells zur Bewältigung der mit staatlicher Leistungsgewährung verbundenen Freiheitsbeeinträchtigungen bei Lübbe-Wolff, Grundrechte S. 215 ff. 69 Vgl. insbesondere BVerwGE 54, 211, 221; Erichsen, in: Handbuch des Staatsrechts VI, § 152 Rdn. 78; ders., Jura 1987, 367, 369; im Ergebnis auch Gassner, DÖV 1981, 615, 619f.; Breuer, DVB1. 1983, 431, 436f. 70 Dies wird von Lübbe-Wolff, Grundrechte S. 215 ff. nicht hinreichend berücksichtigt, wenn sie — ebenda S. 222 — das von ihr für das Subventionsrecht entwickelte und damit
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3. Kap.: Eingriffsintensität und materieller Freiheitsschutz
cc) Ist eine allgemeine Einbeziehung der bei der Freiheitsausübung verfolgten Interessen in den grundrechtlichen Schutzbereich demnach ausgeschlossen, verwundert nicht, daß der Bereich mittelbar-faktischer Beeinträchtigungen der Grundrechtsausübung bei dem Versuch der „Rekonstruktion" des Eingriffsund Schrankendenkens durch Schlink ohne Erwähnung bleibt. 71 Die Unzulänglichkeit des „erweiterten" Eingriffsbegriffs wird auch im Rahmen des Ansatzes von Bleckmann / Eckhoff deutlich, wenn diese sich im Hinblick auf die Geltung der rechtsstaatlichen Eingriffsvoraussetzungen für nicht-imperative Beeinträchtigungen zu dem Vorschlag gezwungen sehen, „in jedem Einzelfall die Interessen, die für und die gegen das Eingreifen einer Schrankenschranke sprechen, gegeneinander abzuwägen." 72 Sollen damit je nach Voraussehbarkeit, Finalität oder Intensität einer Beeinträchtigung sachlich verschiedenartige verfassungsrechtliche Grenzen gelten, ist — abgesehen von einer kaum hinzunehmenden Rechtsunsicherheit über die maßgeblichen qualitativen Anforderungen an das staatliche Verhalten — die mit dem Festhalten an den Kategorien von Abwehr, Eingriff und Schranke intendierte Fortgeltung des einheitlichen Bezugsrahmens eines an gesetzliche Grundlage und Übermaßverbot gebundenen Grundrechtseingriffs bereits aufgegeben. Die vorgeschlagene Ausweitung des traditionellen, dem Eingriffs- und Schrankendenken verpflichteten Verständnisses des subjektiven Grundrechtsschutzes bietet demnach weder im Hinblick auf die Gewährung staatlicher Leistungen noch im Hinblick auf die Abwehr mittelbar-faktischer Beeinträchtigungen ein geeignetes Instrumentarium zur Erfassung von Inhalt und Grenzen des verfassungsrechtlichen Schutzes der Voraussetzungen „realer Freiheit". Die dem Eingriffs- und Schrankendenken entsprechende, traditionelle Konzeption des grundrechtlichen Freiheitsschutzes als einer Abwehr von Beeinträchtigungen grundrechtlicher Schutzbereiche erweist sich vielmehr als am hergebrachten, auf imperative Einwirkungen beschränkten Eingriffsbegriff orientiert und im Grundsatz nur für diesen praktikabel. 73
weitgehend auf Art. 12 Abs. 1 GG bezogene grundrechtliche Schutzinstrumentarium als Ansatzpunkt zur Ausformung allgemeiner Grundsätze für die verfassungsrechtliche Beurteilung staatlicher Leistungsgewährung darstellt. 71 Vgl. Schlink, EuGRZ 1984,457, insbesondere 463 ff., bei der Aufzählung der mit den Mitteln der Eingriffsabwehr zu lösenden Grundrechtskonflikte. 72 Bleckmann/Eckhoff, DVB1. 1988, 373, 381. 73 Ebenso Gallwas, Beeinträchtigungen S. 94 ff. zum Vorbehalt des Gesetzes; im Ergebnis auch BVerfGE 66, 116, 135: „Soweit die Einwirkung des Grundrechts auf privatrechtliche Vorschriften in Frage steht, können ihm im Hinblick auf die Eigenart der geregelten Rechtsverhältnisse andere, unter Umständen engere Grenzen gezogen sein als in seiner Bedeutung als Abwehrrecht gegen staatliche Eingriffe." Einschränkend LübbeWolff, Grundrechte S. 235f., 260ff., 308 ff., die zur Erfassung einzelner, mit staatlicher Subventionsvergabe verbundener grundrechtsbeeinträchtigender Wirkungen einen teilweise eingriffsdogmatisch konzipierten Grundrechtsschutz befürwortet, dazu bereits oben Fn. 34, 70.
Α. Grundrechte als „objektive" Wert- und Steuerungsvorgaben
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II. Bedeutung und Regelungsgegenstand des „objektiven" grundrechtlichen Freiheitsschutzes Enthalten die Grundrechte Zielvorgaben für eine freiheitseffektivierende Ordnung des Gemeinwesens und lassen sich die daraus folgenden Bindungen für Rechtssetzung und Rechtsanwendung mit dem für den subjektiven Grundrechtsschutz in seiner gekennzeichneten, traditionellen Ausprägung entwickelten Instrumentarium nicht sachgerecht bewältigen, liegt es nahe, den insoweit gewährten Freiheitsschutz einer neben dem abwehrrechtlichen Regelungsgehalt stehenden, „objektivrechtlich" oder auch „ordnungsrechtlich" benannten Grundrechtskomponente zuzuweisen.74 In diesem Sinne sieht die heute — ungeachtet erheblicher Unterschiede in der dogmatischen Herleitung und terminologischen Behandlung dieses Phänomens 75 — ganz herrschende Auffassung in den Grundrechten nicht nur Schranken gegenüber staatlichem Eingriff, sondern auch „Elemente objektiver Ordnung", Leitprinzipien für Normgebung und Rechtsanwendung, die dem Staat ihre ständige Verwirklichung auferlegen. 76 Eröffnet das Sozialstaatsprinzip dem Staat die Aufgabe der Ausgestaltung einer gerechten gesellschaftlichen Ordnung, verpflichten ihn die Grundrechte als objektive Ordnungsvorgaben bei dieser Ausgestaltung danach auf das „Verfassungsprinzip Freiheit" 77 , bestimmen also die Herstellung „realer Freiheit" zu Maß und Ziel seiner Einwirkung auf den Bereich der Gesellschaft. 78 Sie binden darüber hinaus die gegenüber dem Bürger wirksame staatliche Gewalt auch außerhalb des Bereichs imperativer Einwirkungen an das verfassungsrechtliche Freiheitspostulat, sobald grundrechtlich geregelte Lebensbereiche durch staatliches Verhalten betroffen sind, und begründen die Erhaltung freiheitlicher Bedingungen für die individuelle Grundrechtsausübung als staatliche Pflicht. 79
74 Zu dieser Begrifflichkeit, der hier vorläufig gefolgt werden soll, vgl. etwa BVerfGE 20, 162, 175; 39, 1, 41 f.; 49, 89, 141 f.; 53, 30, 57; 56, 54, 73; K. Hesse, Grundzüge Rdn. 290ff.; Pieroth/Schlink, Grundrechte Rdn. 93 f.; Denninger, in: AK, Rdn. 30 vor Art. 1; Scholz, AöR 100 (1975), 80,109. Als „objektivrechtlich" ist dabei nicht die Eigenschaft der Grundrechtsnorm als Norm des objektiven Verfassungsrechts angesprochen, sondern wird eine bestimmte Rechtsfolge der Grundrechtsnorm bezeichnet. Zur Problematik dieser Wortwahl im Hinblick auf die Annahme einer Verletzung des subjektiven Grundrechts bei einer Mißachtung seiner „objektiven" Regelungskomponente vgl. unten C III 7. 75 S. die Auffacherung verschiedener, einem ausschließlich abwehrrechtlichen Grundrechtsverständnis kritisch gegenüberstehender Grundrechtstheorien bei E.-W. Böckenförde, NJW 1974, 1529 ff. und Bleckmann, Staatsrecht II S. 205 ff. 76 Vgl. die Nachweise oben 1. Kapitel Fn. 66. 77 Grabitz, Freiheit S. 235 ff. 78 Erichsen, Staatsrecht I S. 46 f. 79 Vgl. etwa BVerfGE 6, 55,72,76; 39, 316,326 für Ehe und Familie; BVerfGE 20,162, 175 f. für den Bereich der Presse; BVerfGE 35, 79,114 für die Wissenschaft; BVerfGE 36, 321, 331 für die Kunstfreiheit.
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3. Kap.: Eingriffsintensität und materieller Freiheitsschutz
Folgt man im Grundsatz einem solchen, die Unzulänglichkeiten des traditionellen Grundrechtsverständnisses ausgleichenden Grundrechtskonzept, bezieht sich der dergestalt gekennzeichnete, „objektive" Regelungsgehalt der Grundrechte — in Abgrenzung zur subjektivrechtlichen, das „rechtliche Dürfen" gewährleistenden Komponente des grundrechtlichen Freiheitsschutzes — auf die Herstellung und Sicherung des „tatsächlichen Könnens" der Grundrechtsausübung. 80 Vorgaben zur Achtung rechtlicher und zur Förderung „realer" Freiheit stehen damit — zunächst unverbunden — nebeneinander. Zielen die Grundrechte insoweit auf die Herstellung und den Schutz freiheitlicher Bedingungen in allen Teilen des Rechts und erstreckt sich ihre Wirkkraft deshalb auf die gesamte Ordnung des Gemeinwesens, sind die sich aus der „objektiven" Regelungskomponente der Grundrechte ergebenden Folgerungen vielfältig und die von ihr geregelten Sachverhalte nicht abschließend bestimmbar. 81 Als wesentliche, gelegentlich auch miteinander verknüpfte Facetten des „objektiv-grundrechtlichen" Freiheitsschutzes sind bislang herausgearbeitet worden 82 : — die Ausstrahlung der Grundrechte auf die Rechtsbeziehungen des Privatrechts 83 und ihre Maßstabsfunktion für den diese Rechtsbeziehungen regelnden Gesetzgeber 84, — die auf Bewahrung der grundrechtlichen Freiheitssphäre vor Beeinträchtigungen vornehmlich durch Dritte gerichteten, vor allem an den Gesetzgeber adressierten staatlichen Schutzpflichten 85, — die Pflicht zur Unterlassung bzw. Ausgleichung der dem Staat selbst zuzurechnenden mittelbar-faktischen Einwirkungen 86 , — die Einwirkung der Grundrechte auf die Anwendung und Auslegung des grundrechtsrelevanten, insbesondere auch des die Grundrechtsausübung for80 Vgl. auch Erichsen, in: Handbuch des Staatsrechts VI, § 152 Rdn. 78; Krebs, Kontrolle S. 88f.; Pieroth, Arbeitnehmerüberlassung S. 53 f.; K. Hesse, Grundzüge Rdn. 298; Rupp, AöR 101 (1976), 161,177; ähnlich Häberle, DÖV 1972, 729, 731. Im Einklang mit dem traditionellen Eingriffsbegriff unterfallt allerdings auch der unmittelbar dem Bürger gegenüber ausgeübte, rechtlichem Befehl vollständig wirkungsgleiche, tatsächliche Zwang dem abwehrrechtlichen Grundrechtsgehalt. Dazu auch bereits oben Vorbemerkung A. 81 Zur Entwicklungsoffenheit der „objektivrechtlichen" Komponente der Grundrechte vgl. auch Jarass, AöR 110 (1985), 363, 366f. 82 Dazu ausführlich Pieroth / Schlink, Grundrechte Rdn. 93,98,103 f.; Jarass, AöR 110 (1985), 363, 373 ff.; dort S. 367f. auch zum Verhältnis von „objektivrechtlichem" Freiheitsschutz und institutionellem Grundrechtsgehalt. 83 S. nur BVerfGE 7, 198, 204ff.; 73, 261, 269. 84 BVerfGE 7, 198, 205; 50, 290, 337 f. 85 BVerfGE 39,1, 55ff.; 46,160,164; 49,24, 53; 49, 89,141 f.; 53, 30,65f.; 56, 54, 73ff.; 77, 170, 214 zu Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG. 86 Zur Ausgleichung BVerfGE 75,40, 66 („Kompensationspflicht"); zur Unterlassung BVerfGE 76, 1, 49ff.; vgl. auch bereits BVerfGE 6, 55, 82.
Β. Zum heutigen Verständnis „objektiver" Grundrechtsgehalte
155
mierenden Organisations- und Verfahrensrechts 87 und die Verpflichtung des Gesetzgebers zu dessen grundrechtsfreundlicher Ausgestaltung 88 sowie — das allgemeine Gebot zu freiheitsfördernder Aktivität des Staates, insbesondere seine Verpflichtung zur Gewährung von Teilhabe an öffentlichen Einrichtungen und von sonstigen freiheitssichernden tatsächlichen Leistungen, 89
B. Gegenwärtige Konzeptionen des „objektiven46 grundrechtlichen Freiheitsschutzes I. Die Grundrechte als Wertordnung Das Bundesverfassungsgericht hat die den Grundrechten innewohnenden „objektiven" Maximen bereits früh als „Wertmaßstäbe" oder „objektive Wertentscheidungen" bezeichnet und ihren Regelungsgehalt zusammenfassend als „Wertordnung" qualifiziert. 90 Dem ist ein nicht unerheblicher Teil der Literatur jedenfalls im Grundsatz gefolgt. 91 Gegen den Rückgriff auf eine philosophische und wirtschaftswissenschaftliche, nicht jedoch verfassungsrechtlich explizierte, juristische Kategorie sowie die Verknüpfung einzelner „objektivgrundrechtlicher" Vorgaben zu „Wertsystem" und „Wertrangordnung" wurden aber auch erhebliche Einwände vorgebracht. 92 1. Eignung und Ertrag des Wertbegriffs Im allgemeinen Sprachgebrauch wird als „Wert" die Beschaffenheit eines Sachverhalts angesprochen, die ihn der Hochschätzung würdig macht. 93 Werte verkörpern einen für den Betrachter erwünschten Zustand und bieten einen 87
S. bereits BVerfGE 31,58,68 ff.; ferner BVerfGE 46,325,334f.; 49,220,225; 52,380, 389f.; 53, 30, 65f.; 57, 295, 320; 69, 315, 355 f.; K. Hesse, EuGRZ 1978, 427, 434ff.; Grimm, NVwZ 1985, 865 ff. 88 BVerfGE 35, 79, 114ff.; 52, 214, 219; 63, 131,143; 65,1, 46; 66, 155,177f.; 67, 202, 207; 73, 280, 296; 77, 170, 229. 89 BVerfGE 33, 303, 330 ff.; 35, 79, 115 f.; 75, 40, 65; Grimm, in: Grundrechte und soziale Wirklichkeit S. 39, 56ff.; Häberle, VVDStRL 30 (1972), 43, 80ff., 103ff, 112ff. 90 S. etwa BVerfGE 6, 32,41; 7,198, 205; 19, 226, 236; 30,173,193; 32, 98,108; 37, 57, 65; 39, 1, 42; 49, 24, 56; 52, 131, 165f.; 68, 226, 231 („wertsetzende Bedeutung"); ausführlich zur Rechtsprechung H. Schneider, Güterabwägung S. 154 ff. 91 Vgl. etwa Dürig, in: Maunz/Dürig, Art. 1 Abs. I Rdn. 1, 5, 13; v. Münch, in: v. Münch I, Vorbem. Art. 1 — 19 Rdn. 22; Erichsen, Staatsrecht IS. 47; Stern, Staatsrecht I, § 3 III 10 a (S. 96f.); ders., Staatsrecht I I I / l , § 69 II 2 d, 3 (S. 915ff.); Lübbe-Wolff, Grundrechte S. 283ff.; Häberle, Wesensgehaltgarantie S. 6ff., 31, 39ff.; Bleckmann, Staatsrecht II S. 253 ff.; im Ergebnis auch K. Hesse, Grundzüge Rdn. 299; Krebs, Jura 1988, 617, 623 f. 92 Vgl. etwa Schwabe, Probleme S. 286ff., 293ff.; Grabitz, Freiheit S. 216ff.; Denninger, JZ 1975, 545ff.; Goerlich, Wertordnung S. 135ff.; F. Müller, Methodik S. 59ff., 64ff. 93 Brockhaus, Enzyklopädie, Stich wort „Wert".
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3. Kap.: Eingriffsintensität und materieller Freiheitsschutz
Maßstab für die Auswahl anzustrebender Objekte. 94 Die Qualifizierung eines Objekts als werthaft begründet somit eine Vorzugsregel. 95 Bereits oben ist auf den Charakter des Grundgesetzes als einer materialen Ordnung hingewiesen worden, die sich — etwa mit der Anerkennung der Menschenwürde als oberstem Konstitutionsprinzip 96 — nicht auf die Aufstellung eines die individuelle Freiheitssphäre ausgrenzenden Organisationsstatuts des Staates beschränkt. Enthält die Verfassung materiale Maßstäbe und qualifiziert sie damit bestimmte Gestaltungsalternativen bei der Ordnung des Gemeinwesens mit Verfassungskraft als vorzugswürdig, ist die Bezeichnung solcher Maßgaben als verfassungsrechtliche „Wertvorgaben" mit dem gekennzeichneten allgemeinen Sprachgebrauch durchaus vereinbar. Der Begriff des „Wertes" ist allerdings, wie jüngst Alexy deutlich gemacht hat, als axiologischer Begriff auf eine durch die Maßstäbe „gut" und „ungut" gekennzeichnete Skala bezogen.97 Er ist deshalb als unmittelbar juristischer Maßstab ungeeignet, für den es allein auf die Feststellung des Ge- oder Verbotenseins eines Zustandes ankommen kann. 98 Die Feststellung, daß eine bestimmte Gestaltung verfassungsrechtlich gesollt ist, erlaubt indes auch die Schlußfolgerung, daß es sich um einen verfassungsrechtlich erwünschten und als „gut" bewerteten Zustand handelt. 99 Eine rechtliche Sollensanordnung schließt also stets die positive Bewertung des normativ intendierten Zustandes ein. Die Kennzeichnung grundrechtlicher Zielvorgaben als (mittelbare) Konstituenten verfassungsrechtlicher „Werte" 1 0 0 ist daher sachlich zutreffend, soweit man mit einer solchen Qualifikation — wie auch das Bundesverfassungsgericht — kein spezifisches, literarisch vorgeprägtes Konzept einer bestimmten staatsrechtlichen oder philosophischen Schule verbindet 101 und damit Festlegungen vermeidet, die in der Verfassung keine Grundlage finden könnten. Auch wenn die dem Grundgesetz entnommenen Wertentscheidungen zugleich Ausfluß einer bestimmten politischen und philosophischen Ideenwelt und 94 95 96
357. 97
Michel, Staatszwecke S. 30 f. m.w.N. Podlech, AöR 95 (1970), 185, 195 f. BVerfGE 6, 32,41; 12,45, 53; 27,1,6; 32,98,108; 35,366,376; 45,187,227; 54, 341,
Alexy, Theorie S. 126 f. Krit. insoweit Grabitz, Freiheit S. 242 f. 99 Alexy, Theorie S. 133. 100 Ähnlich Michel, Staatszwecke S. 241, 246: „juristische Fixierung von Wertvorstellungen"; allgemein auch Zippelius, Wertungsprobleme S. 198. 101 Das Gericht hat insbesondere an keiner Stelle auf die Integrationslehre R. Smends oder die Wertphilosophie M. Schelers oder N. Hartmanns Bezug genommen und verwendet synonym auch die Begriffe „Grundentscheidung" und „Grundsatznorm"; dazu Starck, in: FS für Geiger S. 40, 55ff.; krit. gegenüber der fehlenden philosophischen Grundlegung Goerlich, Wertordnung S. 141 f.; s. auch Bleckmann, Staatsrecht II S. 217 f. 98
Β. Zum heutigen Verständnis „objektiver" Grundrechtsgehalte
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als solche das Ergebnis einer logisch nicht begründbaren, „subjektiven" Entscheidung des Verfassungsgebers sein mögen 102 , kommt ihnen ein rechtlich relevanter Geltungsanspruch ausschließlich als Bestandteil des positiven Verfassungsrechts zu. 1 0 3 Als verfassungsrechtlich positiviert eröffnen sie keinen Raum für erneute philosophische Einschätzungen oder eine Dezision des Rechtsanwenders 104 und sind nicht erneut begründungsbedürftig. Der Einwand fehlender logischer Begründbarkeit von Werten 105 geht daher fehl. Ebenso bedarf es keiner weiteren Feststellung ihrer „Richtigkeit" oder der gesonderten Rechtfertigung ihrer Befolgung. 106 Stets liegt in der Heranziehung einer in der Verfassungsnorm erkannten Wertentscheidung der Rückgriff auf eine normative Privilegierung bestimmter Güter oder Interessen, deren weitere Implikationen es zu ermitteln gilt. Der Bezug auf die den Grundrechten zugrundeliegenden Vorrangregeln erscheint auch methodisch bedenkenfrei, wenn man sich vergegenwärtigt, daß ein vom Normtext abstrahierender Durchgriff auf die in einer Regelung zum Ausdruck kommenden Präferenzentscheidungen Kriterien objektiv-teleologischen Verstehens erschließt 107 und dies zur Verwirklichung der Ordnungsziele der jeweiligen Gewährleistung anzuleiten vermag. 108 Ein wesentlicher Ertrag der Erkenntnis von der „wertsetzenden Bedeutung" der Grundrechte dürfte deshalb in der Öffnung der Grundrechtsinterpretation für die im Verfassungstext nicht unmittelbar angelegten, jedoch zur Verwirklichung der auf „reale Freiheit" zielenden Freiheitskonzeption des Grundgesetzes unabdingbaren sog. „objektivrechtlichen" Schutzgehalte liegen. 109 Die Gewinnung des „werthaften Charakters" der Grundrechte läßt zugleich den programmatischen, materialen Gehalt grundrechtlicher Regelung deutlich werden. Eingebettet in eine mit den Grundentscheidungen zugunsten von Menschenwürde, Gleichbehandlung und Sozialstaatlichkeit auf die inhaltliche Gestaltung des Gemeinwesens zielende Verfassung 110 , erschöpfen sich auch die grundrechtlichen Freiheitsgarantien nicht in einer „Summe rechtstechnischer Regelungen zum Zweck der Abgrenzung von Willenssphären" 111 , sondern 102
44 ff.
So Michel, Staatszwecke S. 245 f.; allgemein auch Starck, in: FS für Geiger S. 40,
103 Vgl. auch K. Hesse, Grundzüge Rdn. 299; Stern, Staatsrecht III/1, § 69 II 2 d, 3 (S. 916 f.). 104 So aber offenbar Gusy, JA 1980, 78, 82. 105 Gusy, JA 1980, 78, 82; ders., Gesetzgeber S. 83 f. 106 Dazu aber Podlech, AöR 95 (1970), 185, 200f., 207f. 107 Hierzu allgemein Larenz, Methodenlehre S. 319 ff. 108 Zippelius, Wertungsprobleme S. 198; Lübbe-Wolff, Grundrechte S. 288 ff. 109 K. Hesse, Grundzüge Rdn. 299; Rupp-v. Brünneck, AöR 102 (1977), 1,14; LübbeWolff, Grundrechte S. 289 f.; s. auch Häberle, Wesensgehaltgarantie S. 331. 110 S. dazu bereits oben 2. Kapitel A II 1. 111 So Hollerbach, AöR 85 (1960), 241, 249.
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3. Kap.: Eingriffsintensität und materieller Freiheitsschutz
setzen Richtpunkte für die inhaltliche Ordnung des gesamten Gemeinwesens. Erst ein solches materiales Grundrechtsverständnis gewährleistet, daß gesetzliche Grundrechtseinschränkungen nicht nur einer formellen, sondern auch einer inhaltlichen Kontrolle anhand der Grundrechte zugänglich sind 1 1 2 und auch die Auslegung und Anwendung des einfachen Rechts insoweit verfassungsrechtlich überprüfbar wird. Nur der Rückgriff auf diese programmatische Aussagekraft der Grundrechte vermag überdies staatliche Zukunftsgestaltung und -planung auf die stete Berücksichtigung der grundgesetzlich intendierten „realen Freiheit" zu verpflichten und damit den Grundrechten Ordnungsfunktion auch „in der Zeit" zu eröffnen. 113 2. Das Konzept der Güter- und Interessenabwägung als Konsequenz eines wertorientierten Grundrechtsverständnisses In einer Verfassungsordnung, die gegenläufige Präferenzentscheidungen aufweist, kommt einer einzelnen grundrechtlichen Wertvorgabe kein ausschließlicher Geltungsanspruch zu. Sie ist stets mit anderen Wertentscheidungen systematisch verschränkt und wird in ihrer Wirkkraft deshalb durch konkurrierende Zielsetzungen relativiert. Ein wertorientiertes Grundrechtsverständnis stellt die Verfassungsinterpreten deshalb vor die Aufgabe, die bei der Ausgestaltung der sozialen Ordnung im Einzelfall kollidierenden, gegenläufigen Zielvorgaben auszugleichen. Die Feststellung einer bestimmten Gestaltung als verfassungsrechtlich gesollt kann deshalb nur aufgrund einer an den jeweiligen verfassungsrechtlichen Wertungen orientierten, Rang und Bedeutung der beteiligten grundrechtlich geschützten Freiheitsinteressen gegeneinander abwägenden Vorrangentscheidung getroffen werden. Vor allem bei der Bestimmung konkreter Grenzen gesetzgeberischer Zielverfolgung und der Lösung von Spannungslagen zwischen mehreren grundrechtlich geschützten Gütern bedingt ein wertorientiertes Grundrechtsverständnis eine Vielzahl von Güter- und Interessenabwägungen. Es sieht sich damit zugleich jenen Einwänden ausgesetzt, die gegen dieses, vornehmlich in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts entwickelte Verfahren 114 zur grundrechtsorientierten Entscheidungsfindung erhoben werden. Das Maß der normativen Durchsetzung eines grundrechtlich benannten Gutes ist danach — auch außerhalb des oben skizzierten Anwendungsbereichs 112
S. bereits BVerfGE 6, 32, 40 f.; ferner Lübbe-Wolff, Grundrechte S. 284; Krebs, Jura 1988, 617, 623 ff. mit Fn. 73. 113 Zur Bedeutung materialer grundrechtlicher Vorgaben für den Prozeß der Zielfindung im Rahmen staatlicher Planungen vgl. Würtenberger, Planung S. 110f., 380ff. 114 S. vor allem BVerfGE 7,198,210f.; 20,162,213; 28,264,280f.; 30,173,197; 30,227, 243; 35, 202, 221; 41, 251, 264f.; 47, 109, 119f.; 77, 240, 253; aus der Literatur dazu grundsätzlich zustimmend etwa Häberle, Wesensgehaltgarantie S. 31 ff., 329ff.; Stern, Staatsrecht I I I / l , §69 III 5 (S. 929f.); H. Schneider, Güterabwägung S. 43ff., 153ff., 198 ff; Wendt, AöR 104 (1979), 414, 453 ff.; allgemein auch Gern, DÖV 1986, 462ff.
Β. Zum heutigen Verständnis „objektiver" Grundrechtsgehalte
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der „objektiven" Regelungskomponente der Grundrechte — aus einer Gegenüberstellung von Bedeutung und Gewicht der konfligierenden Grundrechtsgüter zu ermitteln, die anhand der Wertigkeit des betroffenen Gutes, des Ranges der übrigen beteiligten Güter und von Art, Ausmaß und Modalität der jeweiligen Betroffenheit im Einzelfall zu bestimmen sind. 115 Eine verfassungsorientierte Kollisionslösung setzt dabei verschiedene Vorrangentscheidungen und Wertvergleiche voraus, die durch den Verfassungstext selbst nur sehr unvollkommen angeleitet werden. 116 Bedenken sind deshalb vor allem gegen die mangelnde Rationalität, Vorhersehbarkeit und methodische Kontrollierbarkeit der dergestalt geforderten Rechtsfindungsprozesse geltend gemacht worden. 117 Sie vermögen indes in zweifacher Hinsicht nicht zu überzeugen: a) Materiale Verfassungsgebote sind bereits angesichts ihres Abstraktionsgrades durchweg einer formallogischen Subsumtion und der Ableitung eindeutiger Entscheidungsergebnisse nicht zugänglich und stehen allein dadurch einer vollständig rationalen Durchformung der von ihnen geregelten Entscheidungsprozesse entgegen.118 Soll staatliches Verhalten danach zudem nicht nur den Kriterien immanenter Zweckrationalität, sondern auch materialen, also vom Grad unterschiedlicher verfassungsrechtlicher Wertschätzung bestimmten Bindungen unterliegen, ist zu deren Entfaltung im Einzelfall um so mehr eine wertende Umsetzung erforderlich. 119 Können materiale Verfassungsgehalte zur Steuerung des Einzelfalls auch gegenläufige Aussagen bereithalten, ist einer von ihnen bestimmten Verfassungsordnung überdies die Möglichkeit von Zielkonflikten immanent, deren Auflösung nur durch wertende Gewichtung und fallbezogene, abwägende Präferenzbildung gelingt. Der Bedarf an Wertung und Abwägung im Verfassungsrecht entspringt also nicht einem spezifischen, wissenschaftlich angreifbaren und gegebenenfalls korrigierbaren Grundrechtsverständnis, sondern ist bereits durch die ausdrückliche Aufnahme materialer, mit normativer Verbindlichkeit versehener Verfassungsbestimmungen vorgegeben. 120 Güterabwägung stellt sich als das einer materialen Verfassungsordnung adäquate Mittel zur fallbezogenen Verwirklichung der Verfassungsvorgaben dar. 1 2 1 115
So zutreffend Schlink, Abwägung S. 133. Vgl. auch H. Schneider, Güterabwägung S. 204ff., 209. 117 S. bereits Forsthoff, Staat 2 (1963), 385, 393; Pestalozza, Staat 2 (1963), 425,448 f.; aus neuerer Zeit ferner Η. H. Klein, Staat 10 (1971), 145, 154ff.; Schlink, Abwägung S. 128ff., 152f.; F. Müller, Methodik S. 64f.; vgl. auch E. Wolf, Bürgerliches Recht S. 83 ff. 118 Siehe zu den Grenzen methodischer Determinierung allgemein auch oben 2. Kapitel A III 2. 119 Vgl. auch Engisch, Gerechtigkeit S. 229ff.; Wendt, AöR 104 (1979), 414, 455. 120 Stern, Staatsrecht III/1, § 69 II 2 d (S. 915f.). 121 S. auch Häberle, Wesensgehaltgarantie S. 31 ff., 39ff., 330f.; Wendt, AöR 104 (1979), 414, 455 f.; Schwabe, Probleme S. 323; Steinbeiß-Winkelmann, Grundrechtliche Freiheit S. 205. 116
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3. Kap.: Eingriffsintensität und materieller Freiheitsschutz
Verfassungstextlich läßt sich ein Gebot zur Güterabwägung vornehmlich Art. 19 Abs. 2 G G entnehmen, der mit dem Verbot übermäßiger Freiheitsbeschränkung 122 eine inhaltliche Grenzziehung der Beeinträchtigung individueller Grundrechtspositionen unternimmt. Die Reichweite des verfassungsrechtlich gewährten Schutzes ist danach nicht ohne eine das Maß der jeweiligen Rechtsminderung und ihrer Bedeutung für die Zielsetzung der berührten Verfassungsnorm bewertende Entscheidung festzustellen. 123 Erst das Verfahren der Güterabwägung vermag insoweit das geeignete Instrumentarium für die verfassungsrechtlich geforderte, an den Zwecken der betroffenen Verfassungsnormen und der Intensität ihrer Beeinträchtigung orientierte, zusammenschauende Betrachtung von „Kosten" und „Nutzen" staatlichen Handelns zu bieten. 124 Dieser Befund trifft sich mit der im Schrifttum bereits wiederholt getroffenen und deshalb hier nicht mehr im einzelnen zu belegenden Feststellung, daß auch die in der Literatur entwickelten alternativen Entscheidungsmodelle entweder — wie das Prinzip „praktischer Konkordanz" 1 2 5 — von vornherein nur zu einer Verschiebung des Blickwinkels führen oder aber — wie die Normbereichsanalyse F. Müllers 126 und das Konzept reduzierter Abwägung Schlinks 127 — unter teilweise erheblicher Minderung des verfassungsrechtlichen Freiheitsschutzes lediglich einzelne Problemabschichtungen zu bewirken vermögen und im übrigen etwa im Hinblick auf die Suche nach dem angemessenen bzw. mildesten Mittel 1 2 8 oder im Rahmen der Einbeziehung von Entscheidungsfolgen 129 ebenfalls auf wertbezogene Entscheidungskriterien zurückgreifen. 130 b) Ferner gilt es, die oben referierten Erkenntnisse Schlinks zu vergegenwärtigen, wonach juristische Methode von vornherein nur die Falsifikation vorangegangener Auslegungsbemühungen zu leisten vermag. So kann es für die 122
Zur Verknüpfung von Wesensgehaltsgarantie und Übermaßverbot vgl. bereits oben 2. Kapitel Fn. 150; zur „absoluten" Komponente der Wesensgehaltsgarantie unten C II 4. 123 Wendt, AöR 104 (1979), 414, 457 f. 124 Teilweise wird in der Literatur auch die völlige Identität von Übermaßverbot und Güterabwägung angenommen, so Hirschberg, Verhältnismäßigkeit S. 83 ff.; vgl. auch Rubel, Planungsermessen S. 109 f. 125 Dazu K. Hesse, Grundzüge Rdn. 72, dort Fn. 31 auch zur Nähe zum Konzept der Güterabwägung; s. ferner F. Müller, Methodik S. 221 f.; Henschel, diss, op., in: BVerfGE 78, 38, 56 f. 126 Dazu ders., Methodik S. 147ff., 277ff. 127 Dazu zusammenfassend ders., Abwägung S. 192ff. 128 F. Müller, Positivität S. 48 f. befürwortet im Gegensatz zu Schlink die unumschränkte Heranziehung des Übermaßverbots. 129 Schlink, Abwägung S. 192ff. 130 Zu Schlink vor allem Häberle, Wesensgehaltgarantie S. 329 ff. sowie Hirschberg, Verhältnismäßigkeit S. 172 ff. und Wendt, AöR 104 (1979), 414,418,452ff; zum Konzept von F. Müller vgl. Alexy, Theorie S. 152 ff. sowie Schwabe, Probleme S. 155 ff., 323 und H. Schneider, Güterabwägung S. 214ff.
Β. Zum heutigen Verständnis „objektiver" Grundrechtsgehalte
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Beurteilung des Abwägungskonzeptes als geeigneter methodischer Anleitung verfassungskonformen Entscheidens nur auf die Möglichkeit argumentativer Rekonstruktion der durch Abwägung für den Einzelfall gewonnenen Vorrangentscheidung ankommen. Ein darüber hinausgehender, mathematisch exakter Nachweis der Richtigkeit eines Entscheidungsergebnisses läßt sich rechtswissenschaftlicher Arbeit — wie bereits angedeutet — ohnehin nicht abverlangen. 131 Der Versuch einer Widerlegung des Konzepts der Güterabwägung anhand der Schwierigkeit einer Transformierung von Verfassungsgehalten und Verwirklichungsintensitäten in mathematische Kardinal- und Ordinalskalenmodelle 132 überzeugt daher nicht. Der Umfang der allein zu fordernden intersubjektiv vermittelbaren Begründung ist im übrigen — wie bei der an der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts geübten Kritik wohl nicht immer erkannt — abhängig von der Reichweite der den verfassungsrechtlichen Wertvorgaben zukommenden normativen Wirkkraft. 1 3 3 Selbst wenn man indes von einem unbegrenzten Steuerungsanspruch grundrechtlicher Wertvorgaben auszugehen hätte, würde sich die Forderung nach rationaler Abwägungsbegründung nicht wesentlich von dem Gebot sachlicher Rechtfertigung der „einfachen", stets auch wertenden Auslegung unbestimmter Rechtsbegriffe unterscheiden. Sie erschiene deshalb — wenn auch ein die abwägungsspezifische Rationalitätskontrolle ermöglichendes Instrumentarium bislang noch nicht vollständig entwickelt sein mag 1 3 4 — gleichermaßen nicht von vornherein unerfüllbar. 135 Das muß um so mehr bei Einbeziehung der durch den Rahmencharakter der Verfassung bedingten Grenzen verfassungsrechtlicher Steuerung staatlichen Handelns gelten. Das Fehlen unmittelbar subsumtionsfahiger Entscheidungskriterien kann danach keinen maßgeblichen Einwand gegen ein (auch) wertorientiertes Konzept des grundrechtlichen Freiheitsschutzes begründen. Die Qualifikation der Verfassungsnormen als Wertvorgaben erlaubt es im Gegenteil, das Verfahren der Güterabwägung als geeigneten Rahmen der grundrechtsorientierten Entscheidungsfindung zu identifizieren. Sie verdeutlicht damit zugleich den Anspruch des Grundgesetzes, die rechtliche Gestaltung des Gemeinwesens auf der Ebene und mit Mitteln des einfachen Rechts gerade auch insoweit materialrahmensetzend vorzuprägen, als sie sich nicht im Verfahren logischer Subsum131 S. bereits oben 2. Kapitel A III 2; s. ferner Larenz, in: FS für Klingmüller S. 235, 247f.; Gern, DÖV 1986, 462, 465. 132 S. Schlink, Abwägung S. 131 ff. 133 Hierzu sogleich unten C. 134 S. dazu die Ansätze bei Alexy, Theorie S. 145ff.; Tettinger, Einführung S. 122ff. und Gern, DÖV 1986, 462 ff. sowie — zum hier interessierenden Bereich des „objektivgrundrechtlichen" Freiheitsschutzes — unten C. 135 Insoweit sei auf die ausführlichen Darstellungen von Rubel, Planungsermessen S. 77 ff. und Alexy, Theorie S. 144ff. verwiesen. 11 Scherzberg
162
3. Kap.: Eingriffsintensität und materieller Freiheitsschutz
tion erschöpft, sondern in abwägenden und damit stets wertenden Prozessen stattfindet. 136 Verpflichtet die „objektivrechtliche" Komponente des grundrechtlichen Freiheitsschutzes die behördliche, richterliche und gesetzgeberische Abwägung auf die „reale Freiheit" des einzelnen als anzustrebendes Gut, stellt sie sich insoweit als verfassungsrechtliche Anleitung rechtlich gebotenen Wertens dar. 1 3 7 3. Gefahren und Grenzen der Wertordnungslehre Ist der „objektive" Grundrechtsgehalt zutreffend als verfassungsrechtliche Wertungsvorgabe bestimmt, bleiben Inhalt und Grenzen der ihm insoweit zukommenden normativen Wirkkraft zu ermitteln. Fraglich ist, ob allein die Erkenntnis des werthaften Charakters der Grundrechtsnormen hierbei weiteren Aufschluß zu geben vermag. Gegen die Versuche des Bundesverfassungsgerichts, aus dem wertsetzenden Charakter der Grundrechte Folgerungen für Inhalt und Reichweite des Grundrechtsschutzes abzuleiten, sind in der Literatur erhebliche Bedenken geltend gemacht worden. 138 a) Eingewandt wird zum einen, daß der werthafte und damit zugleich wertverwirklichende Charakter der Freiheitsausübung als Anknüpfung für eine inhaltliche Einschränkung des freien Beliebens und eine Inpflichtnahme der individuellen Entfaltung zugunsten der grundrechtlich konstituierten Werte dienen kann. 1 3 9 Inwieweit der Rechtsprechung ein solcher Ansatz allgemein zugrundeliegt, ist allerdings fraglich. Soweit das Bundesverfassungsgericht in einzelnen Fällen die grundrechtliche Wertordnung zur Begrenzung der individuellen Freiheitsausübung heranzieht 140 , dürfte es sich dabei nicht um eine apriorisch negative 136
Zur Bedeutung wertorientierten Denkens in der Jurisprudenz vgl. Larenz, Methodenlehre S. 205 ff.; Esser, Vorverständnis S. 131 ff.; für das Staatsrecht Stern, Staatsrecht I, § 2 II 2 c (S. 43 f.). 137 Dazu auch Larenz, in: FS für Klingmüller S. 235, 238; Gern, DÖV 1986, 462, 468; zur Bedeutung von Werten als Kriterien für Bewertungen s. Alexy, Theorie S. 130 ff. 138 S. etwa Steinbeiß-Winkelmann, Grundrechtliche Freiheit S. 198 ff.; Denninger, JZ 1975, 545, 546ff.; Ossenbühl, NJW 1976, 2100, 2102f. Gegenüber der philosophisch orientierten, an der behaupteten Subjektivität und Relativität von Werten anknüpfenden Kritik etwa bei Podlech, AöR 95 (1970), 185, 204ff.; Gusy, JA 1980, 78, 82 und Grabitz, Freiheit S. 216 f. sei hier nur darauf hingewiesen, daß die Rechtsprechung und die ihr folgende Lehre gerade einen normativen — und damit nicht der subjektiven Beliebigkeit unterworfenen — Geltungsgrund der verfassungsrechtlichen Wertvorgaben annehmen; s. bereits oben 1. 139 Krit. insoweit vor allem E.-W. Böckenförde, NJW 1974, 1529, 1533 f.; Goerlich, Wertordnung S. 37; Gusy, JA 1980, 78, 81 f.; Ossenbühl, NJW 1976, 2100, 2102f.; Roellecke, in: Bundesverfassungsgericht und Grundgesetz II S. 22,39 ff.; s. auch bereits C. Schmitt, in: Säkularisation und Utopie S. 37 ff. 140 Vgl. etwa BVerfGE 12, 1, 4 zur Bekenntnisfreiheit; krit. dazu Goerlich, Wertordnung S. 68 f., 96f.
Β. Zum heutigen Verständnis „objektiver" Grundrechtsgehalte
163
Bewertung des jeweiligen Freiheitsgebrauchs, sondern um eine Entfaltung jener verfassungsrechtlich nicht benannten Begrenzungen handeln, die aus der Gemeinschaftsgebundenheit grundrechtlicher Freiheit im Hinblick auf andere Verfassungsgüter und Grundrechte Dritter folgen. 141 Zwar hat das Bundesverwaltungsgericht darüber hinausgehend auch ausgesprochen, daß die Grundrechte dem Staatsbürger „nicht zur freien Verfügung", sondern in seiner Eigenschaft als Glied der Gemeinschaft und damit auch „ i m öffentlichen Interesse" eingeräumt seien 142 und hat auch das Bundesverfassungsgericht im Rahmen seiner Abwägungspraxis zu den Kommunikationsgrundrechten verschiedentlich öffentlich und politisch motiviertem Freiheitsgebrauch den Vorrang vor der Verfolgung privater Zwecke eingeräumt. 143 Allein die Anerkennung „realer Freiheit" als eines den Staat und mittelbar auch Dritte verpflichtenden Verfassungswertes kann zu solchen Bewertungsunterschieden im Hinblick auf die Zielsetzung des individuellen Freiheitsgebrauchs jedoch keinen Anlaß geben. Eine inhaltliche Vorgabe für die Art und Weise der individuellen Entfaltung, eine Einschränkung des „rechtlichen Dürfens" im Sinne einer Verpflichtung auf „wertverwirklichenden Freiheitsgebrauch" 1 4 4 ist mit einem wertorientierten Grundrechtsverständnis als solchem nicht verbunden. Eine derartige Inpflichtnahme der Freiheitsausübung des begünstigten Individuums läßt sich nur nach Einführung weiterer, die Werthaftigkeit der jeweiligen Grundrechtsausübung abstufender Kriterien vornehmen, wie sie etwa eine „demokratisch-funktionale Grundrechtstheorie" 145 anbietet. Das Verständnis der Grundrechte als Entscheidungsmaximen, die die staatliche Ordnung auf die Eröffnung grundrechtlicher Freiheitschancen als „wertvoll" verpflichten, impliziert derartige Einschränkungen des freien Beliebens des Grundrechtsträgers nicht. b) Scharfe Kritik hat auch die vom Bundesverfassungsgericht unternommene Einstellung grundrechtlicher Werte in ein Wertsystem und der — vereinzelte — Versuch ihrer Zusammenordnung zu einer „Wertrangordnung" 146 gefunden. 147 Insoweit sind zwei Fragen zu unterscheiden. aa) Zutreffend ist daraufhingewiesen worden, daß das Bundesverfassungsgericht bis heute — abgesehen von der Hervorhebung von Menschenwürde 148 und 141
Vgl. etwa BVerfGE 28,243,261; 49,24, 55f.; 52,223,246f.; 67,213,228; 69,1, 54f. BVerwGE 14, 21, 25. 143 S. etwa BVerfGE 7, 198, 212; 20, 162, 176f.; 25, 256, 264; 42, 143, 149; 54, 129, 137ff.; 61, 1, 7ff.; 62, 230, 244. 144 So E.-W. Böckenförde, NJW 1974, 1529, 1534. 145 Dazu E.-W. Böckenförde, NJW 1974, 1529, 1534f. 146 BVerfGE 7, 198, 215; zustimmend etwa Häberle, Wesensgehaltgarantie S. 31. 147 S. etwa Ossenbühl, Staat 10 (1971), 53, 77ff.; Goerlich, Wertordnung S. 137f., 140ff.; Schlink, EuGRZ 1984, 457, 461 f.; Gusy, Gesetzgeber S. 76ff. 148 BVerfGE 6, 32,41; 12,45, 53; 27,1,6; 32,98,108; 35,366,376; 45,187,227; 54,341, 357. 142
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3. Kap.: Eingriffsintensität und materieller Freiheitsschutz
menschlichem Leben 149 als identifizierbare Höchstwerte der Verfassung — keine schlüssige, allgemeingültige Präferenzordnung unter den grundrechtlichen Schutzgütern aufzustellen vermochte. 150 Das Gericht geht vielmehr regelmäßig davon aus, daß beim Zusammentreffen mehrerer grundrechtlich geschützter Güter oder Interessen keinem der betroffenen „Werte" eine abstrakte Vorrangstelle gebührt und deren fallspezifischer Stellenwert (nur) im Einzelfall nach Feststellung von Art und Ausmaß der konkreten Betroffenheit ermittelt werden kann. 1 5 1 Ist es demnach auch für die Rechtsprechungspraxis bei der Zuordnung konfligierender Verfassungswerte maßgebend, „welche Verfassungsbestimmung für die konkret zu entscheidende Frage das höhere Gewicht h a t " 1 5 2 , ist die erforderliche Güterabwägung nicht im Wege einer „Saldierung abstrakter Werte" durchzuführen. 153 Der Frage nach dem Bestehen einer allgemeingültigen, abstrakten Wertrangordnung kommt deshalb kein prinzipielles Gewicht zu. Die grundrechtlich geforderte Güter- und Interessenabwägung hat die Bewertung der — relativen — Schutzwürdigkeit der sich konkret gegenüberstehenden verfassungserheblichen Positionen, nicht die Konkretisierung abstrakter Rangverhältnisse zum Inhalt. 1 5 4 Sie setzt eine Gewichtung des betroffenen individuellen Interesses im Hinblick auf Art, Ausmaß und funktionale Auswirkung der zu überprüfenden Beeinträchtigung und eine entsprechende Bewertung des Eingriffsinteresses voraus. Bei der dergestalt anzustellenden „Kosten-Nutzen-Analyse" kommt der abstrakten Wertigkeit des jeweiligen Verfassungsgutes lediglich der Stellenwert eines der Bestimmungsfaktoren zu. 1 5 5 Eine Güterabwägung läßt sich deshalb auch dann vornehmen, wenn man — mit den erwähnten Ausnahmen — die Annahme eines Rangunterschiedes bei Grundrechten und sonstigen Verfassungsgütern im Hinblick auf den Grundsatz der Einheit der Verfassung grundsätzlich verneint. 156 149
BVerfGE 39, 1, 42; 45, 187, 254f.; 49, 24, 53. Goerlich, Wertordnung S. 137f.; Schlink, Abwägung S. 43ff.; ders., EuGRZ 1984, 457,461 f.; s. aber auch H. Schneider, Güterabwägung S. 165 ff., 221 ff., zusammenfassend S. 231 ff. 151 Vgl. etwa BVerfGE 28,243,261; 35,202,225; 51,324,345 f.; das BVerfG nähert sich insoweit stark dem in der Literatur zur Lösung verfassungsrechtlicher Spannungslagen propagierten Prinzip „praktischer Konkordanz" — dazu bereits oben Fn. 125 — vgl. auch Schwabe, Probleme S. 319ff.; H. Schneider, Güterabwägung S. 209ff. 152 BVerfGE 28, 243, 261. 153 So auch Wendt, AöR 104 (1979), 414, 460. 154 Wendt, AöR Bd. 104 (1979), 414, 460. 155 S. etwa Bleckmann, Staatsrecht II S. 258f.; Gern, DÖV 1986, 462, 466ff.; ausführlich H. Schneider, Güterabwägung S. 153 ff.; Rüfner, in: Bundesverfassungsgericht und Grundgesetz II S. 453,465; noch einschränkender Schlink, Abwägung S. 43 ff.; Lerche, in: Grundrechtsverständnis und Normenkontrolle S. 24, 37 f. 156 So etwa Larenz, in: FS für Klingmüller S. 235, 238 f.; Rüfner, in: Bundesverfassungsgericht und Grundgesetz II S. 453, 462; wohl auch Schlink, Abwägung S. 34f. 150
Β. Zum heutigen Verständnis „objektiver" Grundrechtsgehalte
165
bb) Bereits oben wurde darauf hingewiesen, daß ein Verständnis des „objektiven" grundrechtlichen Freiheitsschutzes als eines lückenlosen Systems von Zielvorgaben, die die unterverfassungsrechtliche Rechtsgestaltung vollständig präfixieren, mit dem Rahmencharakter des Grundgesetzes nicht vereinbar wäre. 157 Dem Gesetzgeber werden im Grundgesetz vielmehr Freiräume zu selbstbestimmter, konkurrierender Wert- oder Zwecksetzung eingeräumt. Damit sind bei verfassungsrechtlichen Abwägungen auch nicht verfassungsabgeleitete, durch Unterverfassungsrecht geschützte Rechtsgüter und Zwecke zu berücksichtigen. 158 In der Rechtsprechungspraxis hat sich deshalb, wie die ausführlichen Untersuchungen Goerlichs und H. Schneiders erkennen lassen, das durch die lange verfolgte Begrifflichkeit des Bundesverfassungsgerichts nahegelegte Verständnis des Grundrechtskatalogs als einer geschlossenen, systematischen Ordnung von Wertvorgaben auch nicht als handhabbar erwiesen. 159 Die Anerkennung einer wertsetzenden, „objektiven" Regelungskomponente der Grundrechte als Vorgabe für die unterverfassungsrechtliche Rechtsfindung und -gestaltung außerhalb des Bereichs imperativer Einwirkungen zwingt weder aus logischen Gründen zur Annahme einer solchen tatbestandlich lückenlosen und ihrer Rechtsfolgeanordnung nach unbegrenzten Verfassungsbindung, noch wird sie von jener indiziert. 160 Zeugnisse ehemaliger Verfassungsrichter lassen es denn auch fraglich erscheinen, ob das Bundesverfassungsgericht entgegen mancher Formulierung eine Geschlossenheit der grundrechtlichen Wertsystematik, die eindeutige und abschließende Maßgaben für die Auslegung der Grundrechte, ihr Verhältnis zueinander und ihre einfachrechtliche Umsetzung aufweisen würde, überhaupt intendiert. 161 Bezeichnenderweise richtet sich die Kritik der Literatur auch weniger gegen eine übermäßige judizielle Deduktion aus einem richterrechtlich geprägten Wertsystem, als vielmehr gegen die Praxis der Rechtsprechung, die für maßgeblich gehaltenen Wertungen pragmatisch und ohne Systematisierung zu entwickeln. 162 Allein aus der Feststellung des wertsetzenden Charakters der Grundrechtsnormen lassen sich demnach Folgerungen für Inhalt und Grenzen des „objektiven" grundrechtlichen Freiheitsschutzes nicht ableiten. Der Rückgriff auf den 157
Vgl. oben 2. Kapitel A II 3. Vgl. zur verfassungsrechtlichen Beurteilung von Regelungen des Wirtschaftslebens etwa BVerfGE 4,7,17ff.; 21,271,291; 30,250,262ff.; 39,210,225f.; 50,290,338; 51,193, 208f.; 77, 84, 106f. 159 Zusammenfassend Goerlich, Wertordnung S. 131 ff.; H. Schneider, Güterabwägung S. 231 ff., 239 unter Hinweis auf die Wandlungsfähigkeit der vom Bundesverfassungsgericht konzipierten Wertordnungslehre. 160 Vgl. auch Alexy, Theorie S. 142 f. 161 S. etwa Geiger, Selbstverständnis S. 5; gegen eine Überbeanspruchung der Verfassung auch Simon, in: Handbuch des Verfassungsrechts S. 1253, 1283 ff. 162 Steinbeiß-Winkelmann, Grundrechtliche Freiheit S. 253 f.; s. auch Goerlich, Wertordnung S. 133. 158
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3. Kap.: Eingriffsintensität und materieller Freiheitsschutz
axiologischen Maßstab des Wertes eröffnet zwar den Zugang zum Verständnis des materialen Charakters der grundrechtlichen Regelungen und läßt ihren umfassenden Geltungsanspruch für die Gestaltung des Gemeinwesens erkennen. Das wertorientierte Grundrechtsverständnis ist deshalb geeignet, die „gegenständliche" Entfaltung der Grundrechte in allen Teilen des Rechts zu stützen. Es leistet aber keine hinreichend präzise Bestimmung von Inhalt und Wirkkraft der „objektiven" grundrechtlichen Regelungskomponente und verbleibt insoweit — wie sich auch an dem durch die Rechtsprechung geprägten Bild der „Ausstrahlungswirkung" zeigt — bei einer bloßen Umschreibung des insoweit gewährten grundrechtlichen Freiheitsschutzes. 4. „Objektive" Wertentscheidung
und subjektives Grundrecht
Der subjektive grundrechtliche Freiheitsschutz bezieht sich traditionellem Verständnis entsprechend auf die Abwehr imperativer Eingriffe. Einen sachgerechten Schutz „realer" Freiheit vermag ein an den Kategorien von Eingriff und Schranke ausgerichtetes, negatorisches Grundrechtskonzept dagegen nicht zu gewährleisten. 163 Begründen die Grundrechte jedoch auch die Verpflichtung des Staates zur Wahrung und Förderung tatsächlicher Freiheitschancen, zwingt dies zur Anerkennung einer gegenüber dem abwehrrechtlich strukturierten, subjektiven Grundrechtsschutz verselbständigten Regelungskomponente. In diesem Sinne geht das Bundesverfassungsgericht seit dem insoweit wegweisenden Lüth-Urteil davon aus, daß das Grundgesetz „ i n seinem Grundrechtsabschnitt auch eine objektive Wertordnung aufgerichtet h a t " 1 6 4 und stellt diese neben den subjektivrechtlichen, die Abwehr von Eingriffen leistenden Grundrechtsschutz. 165 Eine eindeutige Bestimmung des Verhältnisses von subjektivrechtlich bewehrten und ausschließlich „objektiven" grundrechtlichen Handlungsmaximen ist der weiteren Rechtsprechung jedoch nicht gelungen. Während das Bundesverfassungsgericht etwa in der Mitbestimmungsentscheidung die Funktion objektiver Prinzipien in der Verstärkung der Geltungskraft der Grundrechte als individuelle Rechte sieht und diese „primäre Bedeutung" als Wurzel des objektiven Normgehalts bezeichnet 166 , folgt in einigen Entscheidungen die individuelle Berechtigung akzessorisch der objektiven Verfassungspflicht 167 und stehen in anderen ähnlich wie im Lüth-Urteil objektivrechtlicher und subjektiver Grundrechtsgehalt „nebeneinander". 168 163
Vgl. ausführlich oben A II 1, 2. BVerfGE 7, 198, 205; s. bereits zuvor BVerfGE 5, 85, 204ff.; 6, 32, 41; 6, 55, 72. 165 Vgl. BVerfGE 7,198,205: „Ebenso richtig ist aber..."; s. ferner die Nachweise in den folgenden Fn. 166 BVerfGE 50, 290, 337; s. auch BVerfGE 68, 193, 205. 167 BVerfGE 6,386,388; in diesem Sinne wohl auch BVerfGE 10,118,121; 46,160,164; 77, 170, 214. 164
Β. Zum heutigen Verständnis „objektiver" Grundrechtsgehalte
167
Trotz der in diesen Formeln erkennbaren grundsätzlichen Unterscheidung von subjektiven und objektiven Regelungsgehalten hält es das Bundesverfassungsgericht überdies für möglich, daß sich eine Mißachtung „objektiv-grundrechtlicher" Wertmaßstäbe zugleich als Verletzung des subjektiven Grundrechts darstellt. So wird ein der „objektiven" Wertentscheidung akzessorischer individueller Abwehranspruch etwa bei einer Verkennung der Einwirkung der Grundrechte auf Privatrechtsverhältnisse zumindest stillschweigend durchgängig bejaht. 169 Auch geht das Gericht in neuerer Zeit regelmäßig davon aus, daß die Mißachtung „objektiver" grundrechtlicher Schutzpflichten des Staates als subjektive Grundrechtsverletzung im Wege der Verfassungsbeschwerde gerügt werden kann. 170 Dies wirft in zweifacher Hinsicht Zweifelsfragen auf. a) Eine Unterscheidung von subjektiver und „objektiver" Regelungskomponente der Grundrechte ist nur dann sachgerecht, wenn daran Rechtsfolgen knüpfen. Dies wäre nicht der Fall, wenn eine Mißachtung „objektiver" Wertvorgaben ebenso wie die Verletzung des grundrechtlichen Eingriffsverbots stets in eine rügbare subjektive Grundrechtsverletzung münden sollte. Die Annahme einer durchgängigen Kongruenz von subjektivem und „objektivem" Grundrecht darf dem Bundesverfassungsgericht allerdings wohl nicht unterstellt werden. Dagegen spräche nicht nur, daß das Gericht die Feststellung einer subjektiven Grundrechtsverletzung nur nach evidenter Mißachtung grundrechtlicher Schutzpflichten für möglich hält. 1 7 1 Auch aus der Wertentscheidung zugunsten freiheitsfördernder Organisation und Verfahrensgestaltung soll ein subjektives Recht des Bürgers nur auf solche Maßnahmen erwachsen, die „zum Schutz seines grundrechtlich gesicherten Freiraums unerläßlich sind". 1 7 2 Ferner hat das Gericht auch in der numerus-clausus-Entscheidung ausdrücklich offengelassen, ob sich aus einem den Grundrechten als Wertentscheidungen möglicherweise zu entnehmenden Verfassungsauftrag zur Bereitstellung ausreichender Ausbildungskapazitäten „unter besonderen Voraussetzungen ein klagbarer Individualanspruch des Staatsbürgers auf Schaffung von Studienplätzen herleiten ließe". 173 Ebenso stellt es in der jüngsten Entscheidung zur Privatschul168
BVerfGE 30,173,188; 35,79,112; 57,295, 319f.; 67,213,224; s. auch BVerfGE 74, 297, 323 wonach „subjektiv- und objektivrechtliche Elemente einander durchdringen und stützen". 169 BVerfGE 7,198, 206f.; 18, 85, 92; 35, 202, 218f., 239; 42,143,147f.; 73, 261, 268f. 170 So bereits BVerfGE 35, 79, 115f.; nunmehr ausdrücklich BVerfGE 77, 170, 214; BVerfG NJW 1989, 1271, 1274; vgl. ferner BVerfGE 46, 160, 163f.; 56, 54, 70f.; 77, 381, 402 f.; BVerfG NJW 1987, 2287 (Kammer); dazu ausführlich Hermes, Grundrecht S. 52ff.; E. Klein, NJW 1989, 1633, 1636f. 171 BVerfGE 56, 54, 81; 77, 170, 215; BVerfG NJW 1989, 1271, 1274f. 172 BVerfGE 35, 79, 116 (Hervorhebung vom Verf.). 173 BVerfGE 33, 303, 333 (Hervorhebung vom Verf.).
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3. Kap.: Eingriffsintensität und materieller Freiheitsschutz
finanzierung 174 zwar fest, daß den Gesetzgeber eine objektivrechtliche Pflicht zur Förderung des privaten Ersatzschulwesens treffe, weist aber weitergehende Ansätze des Bundesverwaltungsgerichts 175, aus der objektiven Verfassungsgarantie auch einen verfassungsunmittelbaren Finanzierungsanspruch abzuleiten, unter Hinweis auf die Entstehungsgeschichte des Art. 7 Abs. 4 GG implizit zurück. Das Bundesverfassungsgericht hat sich damit die im Zuge der Diskussion um die Teilhabequalität der Grundrechte gewonnene Erkenntnis zu eigen gemacht, daß mit dem grundrechtlichen Verfassungsauftrag zur Herstellung und Sicherung „realer Freiheit" ein entsprechendes subjektives Recht des Bürgers in der Regel nicht korreliert. 176 b) Ungeklärt sind danach aber nicht nur die Voraussetzungen, unter denen die Mißachtung „objektiver" Wertvorgaben eine subjektive Grundrechtswidrigkeit begründet. Fraglich sind vor allem die dogmatischen Grundlagen eines solchen „ Umschlags" wertwidrigen Verhaltens in die Verletzung des subjektiven Grundrechts. Die Unzulänglichkeit der Wertordnungslehre wird insoweit vor allem anhand der Rechtsprechung zur „Ausstrahlungswirkung" der Grundrechte im Privatrecht deutlich. Hier soll keine „unmittelbare" Grundrechtsverpflichtung der Bürger im Sinne einer gegenseitigen Bindung an die Grundrechte als Abwehrrechte bestehen, sondern nur die „objektiv-wertsetzende" Einwirkung der Grundrechte zu beachten sein. 177 Kann jedoch auch die gerichtliche Schlichtung einer Privatrechtsstreitigkeit nur von denjenigen Normen gesteuert werden, die das zu beurteilende Rechtsverhältnis selbst regeln 178 , ist auch der Zivilrichter bei seiner Rechtsfindung nicht der subjektiven, sondern nur der wertentscheidenden, „objektiven" Komponente des Grundrechts verpflichtet. 179 Eine Fehlentscheidung kann also nur den wertsetzenden Gehalt der Verfassungsnorm verletzen. 180 Dennoch bejaht das Bundesverfassungsgericht eine Verletzung auch des subjektiven Abwehrrechts. Ähnliche Widersprüche weist die Rechtsprechung bei der Subjektivierung staatlicher Pflichten zum Schutz grundrechtlich benannter Individualrechtsgüter vor gefährdendem Verhalten Dritter auf. Zu Recht ist darauf hingewiesen worden, daß auch insoweit ungeklärt bleibt, „welcher Herkunft und welchen genauen Inhalts das subjektive 174
BVerfGE 75, 40, 56ff., 61 ff. BVerwGE 23, 347, 349f.; 27, 360, 362f.; 70, 290, 292; anders nunmehr BVerwG DVB1. 1988, 587, 588. 176 Dazu bereits oben Fn. 39. 177 Dazu oben 1. Kapitel Β III 1 b bb (1). 178 Vgl. Krebs, Kontrolle S. 73. 179 So auch BVerfGE 73, 261, 269. 180 Merten, NJW 1972, 1799; Erichsen, Staatsrecht I, 2. Aufl. 1976 S. 65; a. A. Schwabe, AöR 100 (1975), 442, 443ff.; ders., Drittwirkung S. 45ff., 141 ff., der im Ergebnis den Grundrechten jedoch Wirkkraft als subjektive Abwehrrechte auch im Privatrecht zuspricht. 175
Β. Zum heutigen Verständnis „objektiver" Grundrechtsgehalte
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Recht ist, mit dessen Hilfe ein betroffener Bürger die objektiv-rechtliche Ausstrahlungswirkung eines Grundrechts im Wege der Verfassungsbeschwerde vom BVerfG nachprüfen lassen kann". 1 8 1 Der in der Literatur hierzu vorgelegte Vorschlag, das „objektiv" grundrechtswidrige Verhalten Privater dem Staat als Grundrechtsverletzung zuzurechnen und so die Verletzung des Grundrechts als subjektives Abwehrrecht zu begründen 182 , vermag angesichts des Fehlens eines die staatliche Verantwortlichkeit begründenden Zurechnungstatbestandes nicht zu überzeugen. 183 Auch mit dem Hinweis auf die allgemeine freiheitssichernde Zielsetzung „objektivwertsetzender" Grundrechtsgehalte 184 ließe sich allenfalls eine durchgängige Kongruenz von subjektivem und „objektivem" Grundrecht begründen. Die Annahme einer teilweisen Subjektivierung „objektiver" Grundrechtsvorgaben bleibt hingegen fragwürdig. Auf dem Boden der Wertordnungslehre läßt sich das Verhältnis von subjektivem und „objektivem" Grundrecht demnach nicht befriedigend klären. II. Die Grundrechte als „Prinzipien" — zum Verständnis der Grundrechte als Gebote zur Optimierung realer Freiheit Einen weiteren Ansatz zur Erschließung des normativen Gehalts der Grundrechte hat Alexy vorgelegt. 185 Sein Verständnis der Grundrechte als „Prinzipien" weist zwar im Ergebnis eine hohe Übereinstimmung mit der Wertetheorie des Bundesverfassungsgerichts auf. 1 8 6 Aufgrund seiner stärkeren theoretischen Durchformung könnte das Konzept Alexys jedoch weiterreichende Folgerungen für Inhalt und Reichweite des „objektiv-grundrechtlichen" Freiheitsschutzes gestatten, als es die Erkenntnis des werthaften Charakters der Grundrechtsnormen zuließ. 1. Die Prinzipienlehre
Alexys
Ausgangspunkt für das Grundrechtsverständnis Alexys ist die strukturtheoretische Unterscheidung von Regeln und Prinzipien. 181
Hermes, Grundrecht S. 110. Vgl. Schwabe, Probleme S. 21 Iff.; ders., NVwZ 1983, 523, 524ff.; Murswiek, Verantwortung S. 61 ff., 88ff.; ders., WiVerw 1986, 179, 182ff. 183 Dazu näher Alexy, Theorie S. 416 ff., 482 f.; Hermes, Grundrecht S. 95 f.; Robbers, Sicherheit S. 127ff.; Classen, JöR 36 (1987), 29, 35ff.; Stern, Staatsrecht III/1, § 67 V 2 a (S. 730 ff.); E. Klein, NJW 1989, 1633, 1639. 184 BVerfGE 35,79,116; 50,290,337; im Anschluß daran Erichsen, Staatsrecht IS. 53. 185 Alexy, Theorie S. 71 ff.; ders., Rechtstheorie Beiheft 1 (1979), 59,63 ff.; ders., ARSP Beiheft 25 (1985), 13 ff.; zust. Schulze-Fielitz, Gesetzgebung S. 232; Dreier, JZ 1985, 353, 355,356; ähnlich Canaris, Systemdenken S. 55; Ebsen, Bundesverfassungsgericht S. 61 ff.; einschränkend Pfeifer, DVB1. 1989, 337, 341 ff.; krit. Penski, JZ 1989, 105, 109f. 186 Dazu Alexy, Theorie S. 125 ff.; s. auch Dreier, JZ 1985, 353, 356. 182
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3. Kap.: Eingriffsintensität und materieller Freiheitsschutz
Der Bedeutungsgehalt der genannten Begriffe wird bislang nicht einheitlich bestimmt. Soweit beide Kategorien zur Ordnung von Rechtssätzen 187 herangezogen und zwischen ihnen differenziert wird, nennt die Literatur als Unterscheidungskriterium ihre Generalität 188 , ihre (Grund-)Wertbezogenheit 189 oder ihre Nähe zur Rechtsidee 190 bzw. einem obersten Rechtsgesetz.191 Demgegenüber postuliert Alexy nicht nur einen derart graduellen, sondern einen kategoralen Unterschied von regelhafter und prinzipienhafter Norm. Er knüpft dabei an die für den angelsächsischen Rechtskreis entwickelte Prinzipientheorie R. Dworkins an. 1 9 2 Dworkin bezeichnet diejenigen Rechtssätze als Regeln, deren Normstruktur eine abschließende positive oder negative Entscheidung über die Geltung der von ihnen benannten Rechtsfolge ermöglicht, bei denen also bei Vorliegen ihrer tatbestandlichen Voraussetzungen mit Sicherheit auf die Verbindlichkeit der vorgesehenen Rechtsfolgenanordnung geschlossen werden kann. Prinzipien 193 legen hingegen keine bei Erfüllung ihres Tatbestandes automatisch eintretenden rechtlichen Konsequenzen fest. Gesichtspunkte, die ihrer Verwirklichung im Einzelfall entgegenstehen können, sind prinzipiell unbeschränkt. 194 Prinzipien enthalten deshalb lediglich Gründe oder Argumente, die die Entscheidung in eine bestimmte Richtung zu lenken vermögen, ohne damit jedoch bereits die Verpflichtung zu der nahegelegten Rechtsfolge und damit das Gebot zu ihrer endgültigen Durchsetzung in sich zu tragen. Zur Unterscheidung der genannten Normtypen sind für Dworkin zwei Kriterien maßgebend: der den Regeln eigene abschließende Entscheidungscharakter („all-or-nothing-fashion"), der auch die Benennung etwaiger Ausnahmen einschließt, und das unterschiedliche Kollisionsverhalten von Regeln und Prinzipien. 195 Regeln können für Dworkin entsprechend ihrer Eigenart als abschließende Entscheidungsdeterminanten nur entweder gültig oder ungültig sein. Bei Regelkonflikten bedürfe es daher entweder der Normierung einer Ausnahmeklausel oder einer über die Rechtswirksamkeit entscheidenden Kollisionsnorm. Bei gegenläufigen Prinzipien sei hingegen das Prinzip anzuwen187
Esser, Grundsatz S. 52 ff., 267 ff. unterscheidet demgegenüber Normen von den als
Prinzip bezeichneten „Formel(n) fiir eine Reihe von typisch zutreffenden 188
Gesichtspunkten".
Dazu Alexy, Theorie S. 92. 189 Canaris, Systemdenken S. 48 ff. 190 Larenz, Methodenlehre S. 217f., 456ff. 191 Hans J. Wolff, in: GS für W. Jellinek S. 33,37 ff.; zur Begrifflichkeit in der Literatur im übrigen Alexy, Theorie S. 72 ff. 192 Vgl. Dworkin, Bürgerrechte S. 54ff. 193 Die von Dworkin weiter eingeführte Unterscheidung zwischen Zielsetzungen und Prinzipien im engeren Sinne — vgl. Bürgerrechte S. 55 — kann hier vernachlässigt werden; hierzu Alexy, ARSP Beiheft 25 (1985), 13, 19. 194 Dworkin, Bürgerrechte S. 59f. 195 Vgl. Dworkin, Bürgerrechte S. 58 ff.
Β. Zum heutigen Verständnis „objektiver" Grundrechtsgehalte
171
den, das im konkreten Fall höheres Gewicht habe, ohne daß das zurückweichende Prinzip deshalb seine rechtliche Geltung einbüße. Kann die Zulassung von Ausnahmen für Regeln jedoch nach dem Verständnis Dworkins auch durch entgegenstehende Prinzipien erzwungen werden, die ihrerseits die Fälle ihrer Durchsetzung nicht abschließend bezeichnen 196 , können in einer Prinzipien und Regeln verbindenden Rechtsordnung auch Regeln die bei ihrer Anwendung zu berücksichtigenden Ausnahmen grundsätzlich nicht abschließend enthalten. 197 Ergänzt man sie zur Wahrung des postulierten abschließenden Charakters um eine allgemeine Ausnahmeklausel, die Abweichungen bei entgegenstehenden Prinzipien gestattet, nähern sich Struktur und Kollisionsverhalten beider Normtypen weitgehend an. Auch zur Lösung von Prinzipienkollisionen ließe sich eine Ausnahmeklausel formulieren, die die Durchsetzung des Prinzips für alle diejenigen Fälle postuliert, in denen höherrangige Prinzipien nicht entgegenstehen. Erst eine Analyse des bei Konfliktentscheidungen für beide Normtypen erforderlichen materialen Entscheidungsprozesses kann deshalb nach Auffassung Alexys ein Kriterium zur Unterscheidung von Regeln und Prinzipien ergeben. 198 Enthalten Prinzipien lediglich Argumente für die Geltung einer bestimmten Rechtsfolge 199 , bedarf es zur Feststellung des endgültig Gesollten einer Gegenüberstellung mit anderen, die Entscheidung ebenso determinierenden Rechtssätzen. Prinzipien setzen im Kollisionsfall daher stets eine vergleichende, fallbezogene Gewichtung, eine Güterabwägung, voraus. 200 Regeln sind hingegen nur einer abstrakten Geltungsentscheidung zugänglich. Diese unterschiedliche logische Struktur liegt für Alexy in der Verschiedenartigkeit des Regelungsgegenstandes von Regeln und Prinzipien begründet. Regeln hätten stets Vorgaben zum Gegenstand, die entweder vollständig oder überhaupt nicht befolgt werden könnten. Prinzipien hingegen regelten etwas, „was mehr oder weniger erfüllt werden kann". 2 0 1 Prinzipien sind danach Rechtssätze, die die Verwirklichung eines in unterschiedlichem Grade erreichbaren Zustandes nahelegen. Wird ein solcher Zustand normativ angestrebt, soll damit nach Ansicht Alexys jedoch eine Verwirklichung nicht nur in „irgendeinem bestimmten Maße, sondern relativ zu den rechtlichen und tatsächlichen Möglichkeiten in möglichst hohem Maße" geboten sein. 202 Prinzipien sind für ihn daher stets „Optimierungsgebote". 203 196 197 198
18 ff. 199
Dworkin, Bürgerrechte S. 62, 64. Alexy, Rechtstheorie Beiheft 1 (1979), 59, 69 f. Alexy, Rechtstheorie Beiheft 1 (1979), 59, 78f.; ders., ARSP Beiheft 25 (1985), 13,
Alexy nennt dies den „prima facie-Charakter" von Prinzipien, vgl. Theorie S. 87 ff. Alexy, ARSP Beiheft 25 (1985), 13, 17f.; ders., Theorie S. 90ff., lOOff. 201 Alexy, Rechtstheorie Beiheft 1 (1979), 59, 79 f.; zustimmend Ebsen, Bundesverfassungsgericht S. 61. 202 Alexy, Rechtstheorie Beiheft 1 (1979), 59, 80 f. 200
172
3. Kap.: Eingriffsintensität und materieller Freiheitsschutz
2. Die Grundrechte als Optimierungsgebote Optimierungsgebote sieht Alexy vor allem in den Grundrechten 204 , deren prinzipienhafter Charakter 205 vornehmlich in der Bindung auch gesetzesgesteuerter Grundrechtseingriffe an das Übermaßverbot zum Ausdruck komme. 2 0 6 Würde es sich bei der unter Vorbehalt gesetzlicher Einschränkung stehenden grundrechtlichen Gewährleistung um eine mit einer Ausnahme versehene Regel handeln, bliebe das Grundrecht im Ergebnis zur Disposition des Gesetzgebers gestellt. Soll die Verfassung demgegenüber auch sicherstellen, daß die grundrechtsgewährende Norm nur dann zurückgedrängt werden kann, wenn dies ein hinreichend gewichtiges Rechtsgut rechtfertigt, entspreche dies der für Prinzipien postulierten Regelungsstruktur. Grundrechte forderten als Optimierungsgebote ihre den tatsächlichen und rechtlichen Möglichkeiten entsprechend weitestgehende Durchsetzung. Das Gebot der Eignung und Erforderlichkeit von Eingriffen sichere die optimale Realisierung der Grundrechtsnorm insoweit in tatsächlicher, das Erfordernis einer Abwägung mit konfligierenden Rechtsgütern in rechtlicher Hinsicht. Die Geltung des Übermaßverbots wird dergestalt auf den prinzipienhaften Charakter der Grundrechte zurückgeführt. 207 Einen zusätzlichen Hinweis auf den Prinzipiencharakter der Grundrechte entnimmt Alexy dem vom Bundesverfassungsgericht zum Ausgleich konfligierender Grundrechtsgüter herangezogenen Verfahren der Güterabwägung. 208 Wenn das Gericht etwa im Lebach-Urteil 209 den Konflikt zwischen der Freiheit der Berichterstattung aus Art. 5 Abs. 1 S. 2 GG und dem Schutz der Persönlichkeit des Verurteilten aus Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG nicht durch die „Ungültigerklärung" einer dieser Normen löse, sondern „unter Berücksichtigung der falltypischen Gestaltung und der besonderen Umstände des Einzelfalls" 210 darüber entscheide, welches Interesse zurückzutreten habe, liege darin die eindeutige Beschreibung einer Prinzipienkollision. 203 Alexy, Rechtstheorie Beiheft 1 (1979), 59, 80; ders., Theorie S. 75f., lOOff.; ders., ARSP Beiheft 25 (1985), 13, 19f.; a. A. im Ergebnis Pfeifer, DVB1. 1989, 337, 341 ff., der bezogen auf planungsrechtliche Zielvorgaben verschiedene Arten von Prinzipien unterscheidet; gegen ein Verständnis der Prinzipien als Optimierungsgebote auch Penski, JZ 1989, 105, 109 f. 204 Alexy, Rechtstheorie Beiheft 1 (1979), 59, 80.; ders., Theorie S. lOOff., 104ff. 205 Alexy weist den Grundrechten vor allem im Hinblick auf ihre Gewährleistungsschranken zugleich die Eigenschaft von Regeln zu, so daß die Grundrechtsnormen einen Doppelcharakter tragen, vgl. Theorie S. 86f., 122ff.; dies kann an dieser Stelle jedoch außer Betracht bleiben. 206 Ygi — wenn auch mit abweichender Terminologie — Alexy, Theorie S. lOOff.; ders., Rechtstheorie Beiheft 1 (1979), 59, 80. 207 Alexy, Theorie S. lOOf.; ders., ARSP Beiheft 25 (1985), 13, 21 f. 208 Alexy, Theorie S. 84ff.; zur Güterabwägung bereits oben Β I 2. 209 BVerfGE 35, 202 ff. 210
BVerfGE 35, 202, 225.
Β. Zum heutigen Verständnis „objektiver" Grundrechtsgehalte
3. Folgerungen für den „objektiven"
173
Schutzgehalt der Grundrechte
Die These vom prinzipienhaften Charakter der Grundrechtsnorm gilt für Alexy auch für die hier vorläufig als „objektiv" gekennzeichneten grundrechtlichen Schutzgehalte. Sowohl dem Gebot des Schutzes grundrechtlich gewährleisteter Güter etwa gegen Angriffe Dritter als auch der staatlichen Verpflichtung zu freiheitssichernder Leistung ordnet Alexy den Charakter von Prinzipien z u 2 1 1 , deren Wirkkraft ggf. mit anderen Prinzipien konkurrieren und die mit jenen im Wege der Abwägung zu optimalem Ausgleich zu bringen sind. Auch die Geltung der Grundrechte im Privatrechtsverhältnis wird auf ihre Eigenschaft als Prinzipien zurückgeführt, die „im gebotenen Maße" Berücksichtigung für alle Bereiche des Rechts forderten. 212 Ausgehend von seinem Verständnis von Prinzipien als Optimierungsgeboten sieht Alexy auch die Erfüllung der „objektiven" grundrechtlichen Schutzgehalte ebenso wie den abwehrrechtlichen Freiheitsschutz vornehmlich durch das Übermaßverbot gesteuert. So sollen grundrechtliche Schutzpflichten einen relativ zu den tatsächlichen und rechtlichen Gegebenheiten möglichst weitgehenden Schutz fordern 213 und wird auch das Prinzip der „faktischen Freiheit" entsprechend mit gegenläufigen Prinzipien abgewogen. 214 Versteht man das Übermaßverbot mit Alexy als Gebot zur Optimierung der beteiligten Interessen 215 , hat dies indes zur Folge, daß ein Entscheidungsspielraum bei der Erfüllung auch dieser grundrechtlichen Entscheidungsvorgaben theoretisch nicht mehr besteht. Bei Zusammentreffen mehrerer gegenläufiger Prinzipien ist vielmehr — wie bei der Herstellung praktischer Konkordanz 2 1 6 , auf die Alexy zur Erläuterung seiner Konzeption ausdrücklich Bezug nimmt 2 1 7 211
Vgl. Alexy, Theorie S. 414, 460f., 465: „Prinzip der faktischen Freiheit". Alexy, Theorie S. 484ff. 213 Alexy, Theorie S. 422. 214 Alexy, Theorie S. 465 f. 215 Dies ist angesichts der häufig auch vom Bundesverfassungsgericht gewählten Formulierung, wonach Verhältnismäßigkeit (im engeren Sinne) bereits gewahrt sei, wenn ein Mittel „nicht außer Verhältnis zum angestrebten Zweck" steht — vgl. BVerfGE 7,377, 407; 28, 364, 374; 39,258,270; 65,1,64; 76,1, 51; positiv gefaßt aber etwa in BVerfGE 10, 89,117; 15, 226, 234; 16,194, 202; 35, 202, 232; 77, 84, 115 — allerdings nicht zwingend; auch in der Literatur wird zwischen Übermaßverbot und Optimierungsgebot verschiedentlich unterschieden, vgl. Jakobs, Verhältnismäßigkeit S. 84; Grabitz, AöR 98 (1973), 568, 576; dag. Rubel, Planungsermessen S. lOOff., 105 (Fn. 475); Hirschberg, Verhältnismäßigkeit S. 97. Es kann hier offenbleiben, ob es sich bei der zitierten Formel des Bundesverfassungsgerichts um eine Aussage zum materiellen Verfassungsrecht oder eine Feststellung zur Reichweite der verfassungsgerichtlichen Kontrollkompetenz handelt. Vor dem Hintergrund der Prinzipientheorie Alexys ist die Gleichsetzung von Übermaßverbot und Optimierungsgebot jedenfalls geboten. 216 K. Hesse, Grundzüge Rdn. 318 spricht ausdrücklich von „optimaler Wirksamkeit"; ebenso etwa Jakobs, Verhältnismäßigkeit S. 84f.; H. Schneider, Güterabwägung S. 203; Grabitz, AöR 98 (1973), 568, 576. 217 Alexy, Theorie S. 152. 212
174
3. Kap.: Eingriffsintensität und materieller Freiheitsschutz
— stets diejenige Lösung zu wählen, die die weitestgehende Berücksichtigung aller grundrechtlich geregelten Güter gestattet. 218 Nicht ein lediglich vorteilhafter, sondern nur der „Kosten" und „Nutzen" optimierende Ausgleich ist damit verfassungsrechtlich gefordert. Vergegenwärtigt man sich, daß der Verfassungsauftrag zur Verwirklichung „realer Freiheit" in allen Bereichen des Rechts zu erfüllen ist und dabei kaum staatliche Entscheidungen denkbar sind, bei denen lediglich ein verfassungsrechtlich positiviertes Prinzip im Sinne Alexys isoliert Beachtung fordert, ist nach diesem Konzept jede die „objektiv-grundrechtlichen" Schutzgehalte betreffende Entscheidung vollständig grundrechtsgebunden. Ob Alexy selbst diese Folgerung allerdings zu ziehen bereit ist, erscheint zweifelhaft. So betont er verschiedentlich, bei Vorliegen eines Bündels gegenläufiger Prinzipien seien „ganz unterschiedliche Präferenzrelationen" denkbar 219 , und geht ferner davon aus, daß die Bindung an grundrechtliche Prinzipien bei der Entscheidung privatrechtlicher Streitigkeiten „in vielen Fällen" mehrere Lösungen als grundrechtlich möglich zulasse.220 Insoweit ist jedoch der durch die Abstraktheit verfassungsrechtlicher Rechtsgutsbestimmung und das weitgehende Fehlen normativer Kriterien für die Gewichtung der beteiligten Interessen bedingte Erkenntnis- von dem durch die Begrenztheit der verfassungsrechtlichen Rechtsbindung begründeten Entscheidungsspielraum zu unterscheiden. 221 Die jeder wertenden Entscheidungsfindung immanente Rationalitätsgrenze ist — wie gezeigt — ein aufgrund der Unzulänglichkeit methodischer Determinierung gerade auch dem Verfassungsrecht eigenes Phänomen, das keine Schlußfolgerungen auf die Reichweite des normativen Bindungswillens des Grundgesetzes gestattet. 222 Sind Grundrechte Optimierungsgebote, entspricht ihrer Regelungsintention nur diejenige Kollisionslösung, die die höchstmögliche Verwirklichung aller beteiligten Grundrechtsgüter eröffnet und schließt dies — von den seltenen Fällen identischer Verwirklichungsintensitäten abgesehen — normstrukturell einen Entscheidungsspielraum der grundrechtsverpflichteten Organe aus. 4. Die Relativierung
der Optimierungsthese
Derart weittragenden Konsequenzen versucht Alexy durch die Einführung von ihm als „formell" gekennzeichneter, in der Sache funktionsorientierter Prinzipien zu begegnen.223 Hierzu zählt er vor allem den Grundsatz, daß in einer 218
Vgl. auch das von Alexy, Theorie S. 422f. dargestellte Abwägungsmodell. Alexy, Theorie S. 121; ders., ARSP Beiheft 25 (1985), 13, 21 f. 220 Alexy, Theorie S. 488, 492. 221 Dazu bereits oben 2. Kapitel A II 3 c bb; vgl. auch Alexy, Theorie S. 423 ff., der insoweit selbst jedoch vielfach nicht hinreichend differenziert, vgl. etwa ders., Theorie S. 491 f. 222 S. oben 2. Kapitel A II 2; A III 3 b dd. 219
Β. Zum heutigen Verständnis „objektiver" Grundrechtsgehalte
175
demokratischen Ordnung der Gesetzgeber die für die Gemeinschaft wichtigen Entscheidungen treffen solle. 224 Während das Verständnis der Grundrechte als Optimierungsgebote einen Entscheidungsraum normstrukturell ausschließt, will Alexy diese Konsequenz vor dem Hintergrund der dadurch bewirkten Beschränkung der Handlungsfreiheit des Gesetzgebers nicht uneingeschränkt aufrechterhalten und geht insoweit vom Bestehen eines Entscheidungsfreiraums aus, der etwa im Hinblick auf grundrechtsfördernde Leistungsgewährung nur die Unterschreitung eines Minimalstandards sozialer Leistungsrechte ausschließen soll. 2 2 5 Eine solche Relativierung der These vom prinzipienhaften Charakter der Grundrechte stellt das skizzierte Grundrechtsverständnis indes insgesamt in Frage. Folgt man den Thesen Alexys, müßte für den den Gesetzgeber betreffenden Regelungsgehalt der Grundrechte eine Ausnahme von der grundsätzlich postulierten Normstruktur gelten. Die prinzipienhafte Wirkung der Grundrechte, ihre Eigenschaft als Optimierungsgebote, wird dadurch ihrerseits wiederum zum „Prinzip". Damit wird die ursprünglich gewählte Argumentationsebene verlassen. Wurden mit der Prinzipientheorie ursprünglich Aussagen über die normative Struktur der Grundrechte begründet, dient der Hinweis auf die Struktur des Prinzips nunmehr als Argumentationsmittel für die Relativierung der Gültigkeit eben jener zunächst gewonnenen Aussagen. Dies macht deutlich, daß die Prinzipientheorie in ihrer strikten Form ein sachlich und historisch wesentliches Regelungselement grundrechtlicher Gewährleistungen nicht sachgerecht zu erfassen vermag. Gerade die Bindung der Gesetzgebung kennzeichnet nicht nur den großen „Bedeutungswandel [der Grundrechte] im Verhältnis zu Weimar". 2 2 6 Grundrechte entfalten auch faktisch ihre die Ordnung des Gemeinwesens prägende Kraft vornehmlich in der an den Gesetzgeber gerichteten Wirkkraft. Dieser trifft die für die Verwirklichung der grundrechtlichen Regelungsziele grundlegenden, meist eine Vielzahl von Adressaten betreffenden Gestaltungsentscheidungen. Gegenüber Verwaltung und Rechtsprechung vermag sich der grundrechtliche Regelungswille demgegenüber typischerweise lediglich im Rahmen individuell-konkreter Fallentscheidung zu entfalten. Ist die tatsächliche Effektivität verfassungsrechtlicher Disziplinierung damit wesentlich durch das Maß der Reglementierung gerade der rechtssetzenden Gewalt bestimmt, hat sich eine aussagekräftige, allgemeine Kennzeichnung grundrechtlicher Regelungswirkung primär an der insoweit entfalteten Schutzfunktion zu orientieren. Die vorgeschlagene Relativierung der Prinzipientheorie ist einem weiteren Bedenken ausgesetzt. Wird eine Einschränkung der generell auf Optimierung 223 224 225 226
Vgl. Alexy, Theorie S. 120 und 465ff. bei der Erörterung „sozialer Grundrechte". Alexy, Theorie S. 120. Alexy, Theorie S. 465 ff. Dürig, in: Maunz/Dürig, Art. 1 Abs. III Rdn. 104 (Einschub vom Verf.).
176
3. Kap.: Eingriffsintensität und materieller Freiheitsschutz
der Grundrechtsgüter zielenden Grundrechtsbindung zugunsten des Gesetzgebers angenommen, ist zuvor die Möglichkeit einer adressatenorientierten Abstufung der Verpflichtungskraft grundrechtlicher Handlungsmaßstäbe zu unterstellen. Grundrechte müßten danach eine anhand der jeweils angewiesenen Staatsorgane differenzierende, relative Normativität aufweisen. Für eine solche, verfassungsrechtsdogmatisch brisante, bislang soweit ersichtlich jedoch nirgends explizierte These bietet Alexy jedoch keine Begründung. Auch das Grundgesetz läßt dafür keine Anhaltspunkte erkennen. Art. 1 Abs. 3 GG verpflichtet alle Staatsorgane in gleicher Weise auf die Maßstäbe der Grundrechte. Insoweit dürfte die Ansicht ν . Münchs, für die in Art. 1 Abs. 3 GG ausgesprochene Verfassungsbindung komme es nicht darauf an, welcher der staatlichen Gewalten ein Handeln oder Unterlassen zuzurechnen sei, sondern lediglich darauf, ob es überhaupt einer dieser Gewalten zugeordnet werden könne 2 2 7 , eine heute ganz durchgängig vertretene Auffassung widerspiegeln. 228 Die durch die Überwindung des bürgerlich-liberalen Freiheitsdenkens eröffnete Erkenntnis der verfassungsrechtlichen Bedeutung „realer Freiheit" machte — wie gezeigt — eine Fortentwicklung des traditionell auf imperative Eingriffe bezogenen und damit auf eine bestimmte Modalität staatlicher Freiheitsminderung beschränkten Konzepts des grundrechtlichen Freiheitsschutzes notwendig. Verpflichten die Grundrechte nach dem oben Gesagten staatliches Verhalten auch jenseits der Formen imperativer Freiheitsminderung auf Erhaltung und Förderung tatsächlicher individueller Freiheit als zu verfolgendes Verfassungsziel, kommt als Maßstab für die Verfassungsmäßigkeit staatlicher Aktivität allein der Grad der Abweichung von jenem verfassungsrechtlich intendierten Zustand in Betracht. „Objektiv-grundrechtlicher" Freiheitsschutz ist danach Schutz vor bestimmten, dem Ordnungsziel der Verfassung widersprechenden, freiheitsbeeinträchtigenden Wirkungen. Der grundrechtliche Schutz „realer Freiheit" ist also — wie auch die Einbeziehung privatrechtlich begründeter Beschränkungen und grundrechtsbeeinträchtigender Handlungen Dritter zeigt — nicht mehr Ursachen-, sondern wirkungsorientiert. Wird damit nicht an eine Qualität der grundrechtsrelevanten Handlung oder an eine solche des handelnden Staatsorgans, sondern an ihren als grundrechtswidrig erkannten Effekt angeknüpft 229 , ist dessen Zurechnung innerhalb der Staatsgewalten für das materielle Verfassungsrecht ohne Belang und kommt eine Abstufung der grundrechtlichen Wirkkraft nach Maßgabe der Stellung des jeweils handelnden Organs insoweit nicht in Betracht. Die Gegenauffassung müßte schließlich nicht nur entsprechende Einschränkungen des verfassungsrechtlichen Freiheitsschutzes in Kauf nehmen. Sie würde 227
v. Münch, in: v. Münch I, Art. 1 Rdn. 50. Vgl. etwa Lübbe-Wolff, Grundrechte S. 121 f.; speziell zum Gleichheitssatz auch Starck, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Art. 3 Rdn. 164; Schoch, DVB1. 1988, 863, 868. 229 Dazu bereits Gallwas, Faktische Beeinträchtigungen S. 25ff., 48, 67f.; Ramsauer, VerwArch. 72 (1981), 89, 95, 104f.; s. auch Bleckmann/Eckhoff, DVB1. 1988, 373, 376. 228
Β. Zum heutigen Verständnis „objektiver" Grundrechtsgehalte
177
auch den Grundsatz der Einheitlichkeit der verfassungsrechtlichen Anforderungen in Frage stellen, wie er in Anlehnung an die Schumannsche Formel 230 in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Urteilsverfassungsbeschwerde der Sache nach vielfach zugrundegelegt 231 und vor allem in § 31 Abs. 1 BVerfGG auch einfachrechtlich positiviert ist. Die dort angeordnete, auf die Determinierung künftiger Entscheidungen der nicht verfahrensbeteiligten Staatsorgane zielende Bindungswirkung ist Aktualisierung und Konkretisierung der diese treffenden Verfassungspflichten 2 3 2 Ein im Rahmen der Urteilsverfassungsbeschwerde ausgesprochenes Verbot bestimmter freiheitsmindernder Wirkungen im Einzelfall ist danach auch bei generell-abstrakter Regelung gleichgelagerter Sachverhalte für den Gesetzgeber verbindlich. 233 Die Anordnung einer solchen, alle Staatsorgane treffenden Bindung steht unter der Annahme einer inhaltlich gleichmäßigen, funktionsunabhängigen Wirkkraft der Verfassung. Kann der von Alexy unternommenen Relativierung des prinzipienhaften Charakters der Grundrechte deshalb nicht gefolgt werden, bleibt festzuhalten: Grundrechte sind entweder stets Gebote zur Optimierung realer Freiheit oder sie sind es schlechthin nicht. 5. Zur Eignung des Übermaßverbots als Steuerungsmechanismus des „objektiv-grundrechtlichen" Freiheitsschutzes Das Verständnis der Grundrechte als Optimierungsgebote im Sinne Alexys impliziert — wie gezeigt — die Geltung des Übermaßverbots für grundrechtsgeforderte Abwägungen. Versucht man, das skizzierte Konzept der Grundrechte als Prinzipien nunmehr ohne die von Alexy vorgenommenen, verfassungsrechtsdogmatisch fragwürdigen Relativierungen für die „objektiv-grundrechtlichen" Schutzgehalte durchzuführen, ergeben sich auch insoweit eine Reihe von Bedenken. a) Die Grundrechte enthalten nach den bisherigen Ausführungen zum einen die Achtung „rechtlicher", zum anderen die Förderung „realer" Freiheit betreffende Maßstäbe. „Rechtliches Dürfen" und „tatsächliches Können" der individuellen Entfaltung sind als verfassungsrechtliche Regelungsgegenstände einander im Rahmen der Grundrechtsinterpretation zuzuordnen und im 230
Dazu bereits oben 1. Kapitel Fn. 309. S. etwa BVerfGE 68, 256, 268: „Richterliche Entscheidungen müssen in gleicher Weise (wie Entscheidungen des Gesetzgebers) der Gewährleistung des Art. 6 Abs. 1 GG entsprechen" (Einschub vom Verf.); BVerfGE 68,361,372: „... haben sich die Gerichte bei der Auslegung und Anwendung eigentumsbeschränkender Vorschriften ... innerhalb der Grenzen zu halten, die dem Gesetzgeber ... bei der inhaltlichen Ausgestaltung der Eigentümerbefugnisse gezogen sind." S. ferner BVerfGE 13, 318, 329; 19, 303, 321 ff.; 28, 295,308; 42,64,73; 47,1,29; 59,231,264 ff., 267; 61,82,1 lOff.; 64,208,214f.; 65,196,215; 70, 230, 240. 232 Bryde, Verfassungsentwicklung S. 428. 233 Zur Reichweite der Bindungswirkung gem. § 31 Abs. 1 BVerfGG vgl. bereits oben 2. Kapitel A III 3 c bb (3) (b). 231
12 Scherzberg
178
3. Kap.: Eingriffsintensität und materieller Freiheitsschutz
Kollisionsfall zu einem sachgerechten Ausgleich zu bringen. In diesem Sinne hat Häberle zutreffend nach dem „rechten Maß" im Verhältnis von Freiheit und (sozialer) Sicherheit unter dem Grundgesetz gefragt. 234 Dies gilt es in zweifacher Hinsicht zu wahren. Staatliche Aktivität zur Herstellung und Sicherung tatsächlicher Freiheitschancen, staatliche „Grundrechtsvorsorge", birgt stets die Gefahr der Minderung individueller Selbstverantwortung. In dem Maße etwa, in dem dem einzelnen soziale Leistungen gewährt werden, ist er der Notwendigkeit autonomer Versorgung enthoben und kann bei Vernachlässigung eigenständiger Existenzsicherung in vielfältige Abhängigkeiten vom Netz staatlicher Zuteilungen geraten. Je weiter die staatliche Rechtsordnung ferner reglementierend in die Ordnung der Verhältnisse unter den Mitgliedern der Gesellschaft eingreift, desto weniger Raum verbleibt der gesellschaftlichen Selbstregulierung. Freiheitssicherung durch Teilhabe an staatlichen Leistungen oder durch Steuerung privatrechtlicher Rechtsgestaltung kann so in die Förderung von Unselbständigkeit und Unmündigkeit umschlagen und die Fähigkeit des Individuums zu selbstverantwortlicher Gestaltung seiner Lebensverhältnisse beschränken. 235 Die Wahrung individueller Selbstverantwortung und die Ausgrenzung von Freiräumen zu selbstbestimmter Lebensgestaltung sind für die grundgesetzliche Ordnung jedoch zentrale Anliegen. Dies kommt nicht nur in der Anerkennung eines Menschenrechts auf freie Entfaltung der Persönlichkeit in Art. 2 Abs. 1 GG zum Ausdruck. Selbstverantwortung und eigene Lebensgestaltung sind auch und vor allem wesentliche Elemente der in Art. 1 Abs. 1 GG geschützten Menschenwürde. 236 Als oberstem verfassungsrechtlichen Konstitutionsprinzip kommt dem Ziel der Verwirklichung der Menschenwürde maßgebliche Bedeutung für die Auslegung der übrigen Vorgaben des Grundgesetzes 237 und damit auch die Funktion eines Richtmaßes für die Bestimmung des „rechten Maßes" grundrechtlich gebotener (sozialer) Sicherheit zu. Für ein Verständnis der Grundrechte als Verpflichtung zur Optimierung "realer Freiheit" durch den Staat, das darauf zielte, das Individuum von seiner Verantwortung zu eigener freiheitsschaffenden Aktivität entsprechend den tatsächlichen und rechtlichen Gegebenheiten möglichst weitgehend zu entlasten, ist in einer dergestalt an der Selbstverantwortlichkeit des Menschen orientierten und ihr verpflichteten Verfassungsordnung von vornherein kein Raum. Staatliche Freiheitsförderung zugunsten des einen mindert tendenziell stets Freiräume freier Entfaltung der anderen. Diese Feststellung trägt zwar keinen prinzipiellen Einwand gegen einen materialen, „reale Freiheit" einbeziehenden 234
Häberle, VVDStRL 30 (1972), 43,98; s. auch Würtenberger, Planung S. 417ff., 423. Häberle, VVDStRL 30 (1972), 43, 98; Friauf, DVB1. 1971, 674, 679ff.; Erichsen, DVB1. 1983, 289, 290. 236 Dürig, AöR 81 (1956), 117, 125; Starck, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Art. 1 Rdn. 7, 18; Robbers, Sicherheit S. 188. 237 BVerfGE 6, 32, 36. 235
Β. Zum heutigen Verständnis „objektiver" Grundrechtsgehalte
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grundgesetzlichen Freiheitsbegriff. 238 Sie läßt es indes fraglich erscheinen, ob das Gebot zur Förderung tatsächlicher Freiheitschancen und die Verpflichtung zur Wahrung rechtlicher Freiheit im Sinne der Optimierungsthese Alexys nach Maßgabe „praktischer Konkordanz" sachgerecht zum Ausgleich gebracht werden können. „Rechtliches Dürfen" stünde danach unter dem ständigen Vorbehalt einer gleichermaßen optimalen Verwirklichung tatsächlicher Freiheit der anderen. Freiheitsrechte und Freiheitschancen befanden sich miteinander quasi „gleichrangig" in Konkurrenz. Eine derartige umfassende, aus dem Prinzipiencharakter der Grundrechte folgende und damit verfassungsimmanente Relativierung des abwehrrechtlichen Freiheitsschutzes stünde mit der abgestuften Schrankensystematik des Grundgesetzes indes nicht in Einklang, die die Reichweite der Befugnisse des Staates zum Ausgleich ungleich verteilter Entfaltungschancen in differenzierter und behutsamerer Weise regelt. b) „Reale Freiheit", die Chance zur Wahrnehmung der grundrechtlich eröffneten Entfaltungsrechte, ist nicht zuletzt angewiesen auf das soziale Zusammenwirken mit anderen und damit zugleich abhängig auch von gesellschaftlicher Machtverteilung. Die Übernahme privatrechtlicher Verbindlichkeiten erfolgt einerseits in Wahrnehmung grundrechtlicher Freiheit, sie hat andererseits regelmäßig zugleich Einschränkungen des Bereichs autonomer Entscheidungsfindung zur Folge und ist insoweit von faktisch freiheitsmindernder Wirkung. Soll den Grundrechten als Bestandteilen einer Grundordnung des gesamten Gemeinwesens nach ganz herrschender Meinung Schutzfunktion auch gegenüber derartiger gesellschaftlicher Freiheitsgefährdung zukommen 239 und ist die Sicherung tatsächlicher Freiheitschancen als Regelungsgegenstand ihres vorläufig „objektivrechtlich" benannten Regelungsgehalts erkannt, sind dessen Maßgaben auch für das privatautonome Handeln der Bürger beachtlich. Ob man die grundrechtliche Bindung Privater dabei als verfassungsunmittelbar begreift 240 oder die grundrechtlichen Steuerungsvorgaben bei der Auslegung und Anwendung der jeweils einschlägigen Privatrechtsnorm einfließen läßt 2 4 1 , kann angesichts des umfassenden Geltungsanspruchs der für eine derartige Transformation zur Verfügung stehenden zivilrechtlichen Generalklauseln — etwa §§ 242, 138, 823, 826, 1004 BGB, § 9 AGBG, § 346 HGB, § 1 UWG, §§ 22, 26 Abs. 2 GWB — kaum eine Rolle spielen und soll hier offen bleiben. Die Geltung der Grundrechte im Privatrechtsverkehr ergibt sich 238
Dazu oben Β I 3 a. Vgl. nur BVerfGE 7,198, 207 sowie die Nachweise soeben A 11 a und 1. Kapitel Β III 1 b bb (1). 240 Alexy, Theorie S. 490; Η. H. Klein, Staat 10 (1971), 145, 149; s. auch Leisner, Grundrechte S. 378, der meint, daß „die Drittwirkung letzten Endes immer eine unmittelbare sein wird"; dazu jüngst auch Ramm, JZ 1988, 489 f. 241 So die traditionelle Auffassung, vgl. BVerfGE 7, 198, 204ff.; 42, 143, 148; 73, 261, 269; Dürig, in: Maunz/Dürig, Art. 1 Abs. III Rdn. 132f.; Fürst/Günther, Grundgesetz Rdn. 139; jüngst etwa Bleckmann, DVB1. 1988, 938, 943; E. Klein, NJW 1989, 1633, 1639 f. 239
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3. Kap.: Eingriffsintensität und materieller Freiheitsschutz
jedenfalls nicht als Folge einer Erweiterung der abwehrrechtlichen Schutzgehalte, sondern ist Konsequenz des auf umfängliche Sicherung des „tatsächlichen Könnens" der individuellen Entfaltung abzielenden „objektiven" verfassungsrechtlichen Regelungsanspruchs. Stehen sich bei privatautonomem Handeln stets (mindestens) zwei insoweit grundrechtlich geschützte Positionen gegenüber, bedarf es — der Optimierungsthese Alexys folgend — einer auf die Herstellung praktischer Konkordanz gerichteten Abwägung. 242 Die Verfassung erzwingt dergestalt den optimalen Ausgleich der beteiligten grundrechtsbezogenen Interessen. Damit ist jedoch eine grundsätzliche Relativierung der Privatautonomie verbunden. Zwar ist diese auch selbst Gegenstand grundrechtlicher Regelung und somit auch der Drittwirkung. Sie kann deshalb durch die Annahme einer Grundrechtsgeltung unter Privaten nicht grundsätzlich beseitigt werden. 243 Das Gebot freier rechtsgeschäftlicher Gestaltung wirkt als Prinzip jedoch zugunsten jeder Vertragspartei und läßt damit wiederum Einschränkungen der grundrechtlich geschützten Interessen nur insoweit zu, wie sich darin die autonom geformten Gestaltungswünsche aller Partner in optimaler Weise verwirklichen. Steht die privatrechtliche Autonomie des einzelnen damit unter dem Vorbehalt einer Optimierung der jeweils verfassungsrechtlich betroffenen Freiheitschancen anderer, müßte die Grundrechtsbindung Privater das zivilrechtliche Regelungsgefüge weithin gegenstandslos erscheinen lassen. Ein normstruktureller Entscheidungsraum des Zivilrichters bestünde nicht. 2 4 4 Allenfalls im Hinblick auf den bei verfassungsgeforderten Abwägungen verbleibenden „Erkenntnisspielraum" wäre der Rückgriff auf konkretere zivilrechtliche Wertungen möglich, wenn deren Übereinstimmung mit dem verfassungsrechtlichen Anliegen optimaler Interessenwahrung unterstellt werden könnte. Dies indes erscheint fraglich. Die Zivilrechtsordnung weist zwingende und dispositive Bestimmungen auf. Diejenigen Regelungen, die auf die Herstellung von „Billigkeit", also die Erzielung eines „optimalen" Ausgleichs der konfligierenden Interessen abzielen, haben — wie sich etwa anhand §§ 243, 315, 317, 366 Abs. 2 BGB erweist — typischerweise dispositiven Charakter. Sie bleiben bei abweichender rechtsgeschäftlicher Gestaltung also gerade außer Anwendung. Zwingendes Recht wie etwa §§ 242,138 BGB setzt der Rechtsausübung hingegen lediglich dort Grenzen, „wo die sich aus der sozialethischen Gebundenheit des Rechts ergebenden Schranken eindeutig überschritten sind" 2 4 5 und erlaubt demnach keine umfassende Billigkeitskontrolle. Die Zivilrechtsordnung ist also von einem grundsätzlichen Vorrang der Gestaltungsfreiheit auch zugunsten des „Stärkeren" gekennzeichnet. Würde die grundrechtliche „Ausstrahlungswir242
Vgl. Alexy, Theorie S. 151 f., einschränkend S. 491 f. Insoweit zutreffend Alexy, Theorie S. 491; einschränkend aber K. Hesse, Privatrecht S. 23 Fn. 32, 24 f. 244 Dazu soeben II 3. 245 So zu § 242 BGB Palandt/Heinrichs, § 242, 1 a bb. 243
Β. Zum heutigen Verständnis „objektiver" Grundrechtsgehalte
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kung" demgegenüber auf einen optimalen Ausgleich grundrechtsrelevanter Interessen verpflichten, wäre das zivilrechtliche Regelungsgefüge selbst zur Ausfüllung verfassungsrechtlich verbleibender Erkenntnisräume ungeeignet. c) Auch im Hinblick auf die die Staatsgewalt treffende Grundrechtsbindung erscheint die These von der grundrechtlichen Verpflichtung zu einer — nach Maßgabe der tatsächlichen und rechtlichen Gegebenheiten — optimalen Sicherung „realer Freiheit" fragwürdig. Nahezu jede staatliche Aktivität zeitigt Auswirkungen auf die tatächlichen Bedingungen der individuellen Grundrechtsausübung. Verpflichten die Grundrechte auf „reale Freiheit" als Verfassungsziel, ist damit nahezu jedes staatliche Verhalten grundrechtlich gebunden. Versteht man diese Bindung als Gebot zur Gewährleistung möglichst günstiger Bedingungen allgemeiner Grundrechtsausübung, ist staatliche Sozialgestaltung stets einem im Wege der Verfassungsinterpretation zu ermittelnden optimalen Ausgleich der betroffenen Interessen verpflichtet und erschöpft sich weitgehend in grundrechtsorientierter Abwägung. Die sich gegen die Annahme einer solch weitgehenden grundrechtlichen Steuerung aus dem Rahmencharakter des Grundgesetzes ergebenden Einwände bedürfen an dieser Stelle keiner erneuten Erörterung. 246 Auch auf die Grenzen der Übertragbarkeit des für imperative Freiheitsbeeinträchtigungen geltenden Übermaßverbots auf den Schutz vor mittelbar-faktischen Beeinträchtigungen der Freiheitsausübung ist bereits hingewiesen worden. 247 Ergänzend sollen hier die Konsequenzen der Prinzipientheorie für die die gesamte Rechtsordnung durchziehende Unterscheidung von subjektivem und objektivem Recht aufgezeigt werden. 248 aa) Während das objektive Recht darauf gerichtet ist, Achtungspflichten zu begründen und damit verhaltenslenkende Wirkung zu zeitigen, läßt sich von der Begründung subjektiver Rechte sprechen, wenn ein Rechtssatz objektive Verhaltenspflichten mit der Rechtssphäre eines Rechtssubjekts derart verknüpft, daß diesem die Berechtigung zu ihrer Geltendmachung gegenüber dem Verpflichteten zukommt. 2 4 9 Besteht, wie sich für das öffentliche Recht auch unter Berücksichtigung grundrechtlicher Vorgaben ergeben h a t 2 5 0 , kein allgemeiner Gesetzesvollziehungsanspruch, sind die Erscheinungen des objektiven und des subjektiven Rechts grundsätzlich nicht kongruent. Die Entscheidung über die Subjektivierung eines Normbefehls und damit die Abstimmung des Kreises der zur Durchsetzung des objektiven Rechts Berechtigten verbleibt der jeweils normsetzenden Gewalt.
246 247 248 249 250
Vgl. oben 2. Kapitel A II 3. Vgl. oben A I 2 b bb (1). Hierzu bereits oben A I 2 b aa (1) (b). Dazu ausführlich Scherzberg, DVB1. 1988, 129, 130; s. auch unten C III 5. Vgl. oben A I 2 b aa (1), (2).
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3. Kap.: Eingriffsintensität und materieller Freiheitsschutz
bb) Folgt man der Prinzipientheorie, verlangen die Grundrechte ihre „optimale Verwirklichung" (auch) im Hinblick auf die das „tatsächliche Können" der Freiheitsausübung betreffenden Schutzgehalte. Wird ihre Effektivierung durch die Eröffnung ihrer gerichtlichen Durchsetzbarkeit nicht unerheblich gefördert, spricht der prinzipienhafte Charakter der Grundrechte für die Annahme einer grundsätzlichen Subjektivierung „objektiv-grundrechtlicher" Handlungsvorgaben. 251 Grundrechte sind als Prinzipien durch Abwägung zu ihrem optimalen Ausgleich zu bringen. Als Ergebnis der verfassungsrechtlich angeleiteten, einzelfallbezogenen Abwägung ergibt sich nach der Konzeption Alexys eine subsumtionsfahige Präferenzentscheidung. Dieser könne abschließend entnommen werden, welches staatliche Verhalten verfassungsrechtlich geboten ist. Es handelt sich dabei also um eine Regel im Sinne der oben eingeführten normstrukturellen Unterscheidung. 252 Diese Regel — Alexy nennt sie eine „zugeordnete Grundrechtsnorm" — hat als Lösung einer verfassungsrechtlichen Prinzipienkollision und damit als Konkretisierung des Verfassungsrechts stets verfassungsrechtlichen Rang. 2 5 3 Verfehlt ein durch den Gesetzgeber getroffener Interessenausgleich diese Regel, ist er verfassungswidrig. Trifft er sie, ist die gewählte Gestaltung als Ergebnis einer dem Verfassungsrecht zuzuordnenden Kollisionslösung auch verfassungsrechtlich gesollt. Verwirklichen sich grundrechtliche Prinzipien im Einzelfall in den aus ihnen nach Abwägung abgeleiteten Regeln und sind grundrechtliche Prinzipien zur Verstärkung ihrer Durchsetzungskraft im Einzelfall subjektiviert, muß die Zuordnung objektiver Verhaltenslenkung zur individuellen Rechtssphäre vor allem die verfassungsrechtlichen Regeln betreffen. Berührt aber nahezu jedes staatliche Verhalten die Bedingungen individueller Grundrechtsausübung und unterliegt damit grundrechtsorientierter Abwägung und einer daraus gebildeten Regel, wird dergestalt jede Abweichung von den diese umsetzenden einfachgesetzlichen Maßstäben zur subjektiven Grundrechtsverletzung. Die einfachgesetzliche Entscheidung über die Zuordnung subjektiver Rechte würde durch ein solches Verfassungsverständnis obsolet. Dies gilt weitgehend auch dann, wenn man — anknüpfend an eine Reihe von Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts und abweichend vom Ansatz Alexys — von einer eingeschränkten materiellrechtlichen Wirkkraft des Übermaßverbots ausgeht und keine Gleichsetzung von Übermaßverbot und Optimierungspflicht unternimmt. 254 Jede der danach als „nicht unangemessen" zu beurteilenden und damit mit den verfassungsrechtlichen Vorgaben vereinbaren 251
Vgl. Alexy, Theorie S. 414 für die Pflicht zum Schutz vor Angriffen Dritter, S. 451 f. für Rechte auf Organisation und Verfahren und S. 488 für die Beachtung der Grundrechtsgeltung im Privatrecht durch die Gerichte. 252 Vgl. Alexy, Theorie S. 84 ff. 253 Alexy, Theorie S. 57ff., 86. 254 S. dazu bereits oben Fn. 215.
C. Die Grundrechte als Garanten „realer Freiheit"
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Gestaltungen stellt sich als Konkretisierung der beteiligten grundrechtlichen Prinzipien dar. Eine Mißachtung der einfachrechtlichen Norm dürfte aus dieser Sicht nur dann keine Verletzung des Verfassungsprinzips und damit auch keine subjektive Grundrechtsverletzung bedeuten, wenn die Abweichung vom einfachen Recht im Ergebnis — zufallig — zu einer anderen, verfassungsrechtlich offengehaltenen Gestaltung führt. Auch bei einem solchen Verständnis erweist sich das Übermaßverbot als ungeeignet zur Steuerung des „objektiv-grundrechtlichen" Freiheitsschutzes. 255
C. Die Wirkkraft der Grundrechte als Garanten „realer Freiheit" I. „Objektiv-grundrechtlicher 64 Freiheitsschutz als Paradigma „weicher" verfassungsrechtlicher Steuerung 1. Die Begrenztheit der normativen Reichweite „objektiv-grundrechtlieber" Regelung Die vorläufig als „objektiv" gekennzeichnete Regelungskomponente der Grundrechte enthält den bisherigen Erkenntnissen zufolge einen Maßstab für verfassungsrechtlich geforderte Wertungs- und Abwägungsvorgänge und ist zugleich Entwurf für die gestaltende Ordnung des gesamten Gemeinwesens. Als Wertentscheidung und Zielvorgabe verpflichtet sie staatliches Verhalten auf die Herstellung und Sicherung „realer Freiheit", ohne damit indes stets deren — relativ zu den rechtlichen und tatsächlichen Möglichkeiten — optimale Verwirklichung zu gebieten. Enthalten die Grundrechte insoweit kein „Optimierungsgebot", fehlen verfassungsunmittelbare Kriterien zur Bestimmung des Grades der im Einzelfall gebotenen Grundrechtssicherung und ist damit auch die Zielauswahl bei mehreren konfligierenden Belangen gleichen (Verfassungs-)Rangs 256 verfassungsrechtlich nicht eindeutig determiniert. Zudem bilden die grundrechtlichen Wertentscheidungen — wie gezeigt — kein abgeschlossenes System, sondern erlauben im Rahmen der Zwecksetzungskompetenz des entscheidenden Organs auch die Verfolgung ergänzender oder abweichender Zielsetzungen, 257 Vage formulierte, miteinander konkurrierende und ergänzungsfahige Zielvorgaben sind überdies auch als Maßstab für die Auswahl der einzusetzenden Mittel kaum aussagekräftig. 258 Ausgehend von diesem Befund liegt es nahe, auch „objektiv255
Krit. gegenüber einer Heranziehung des Übermaßverbots außerhalb des Bereichs imperativen Handelns auch etwa Lerche, in: Verfahren als staats- und verwaltungsrechtliche Kategorie S. 97, 109 Fn. 31, 120; einschränkend auch Erichsen, Jura 1988, 387, 388. 256 Zur grundsätzlichen Gleichrangigkeit grundrechtlicher Gewährleistungen bereits oben Β I 3 b aa. 257 Vgl. aus neuerer Zeit etwa BVerfG DVB1. 1987, 465 f. (Kammer): Denkmalschutz. 258 Allgemein zur Ableitung von Mitteln aus Zwecken Haverkate, Rechtsfragen S. 28 ff., 289f.
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3. Kap.: Eingriffsintensität und materieller Freiheitsschutz
grundrechtliche" Entscheidungsvorgaben als Rahmenbestimmungen mit nur begrenztem normativen Regelungsanspruch zu begreifen und damit die Ableitbarkeit konkreter verfassungskräftiger Bindungen etwa im Hinblick auf Zeitpunkt, Intensität und Modalität der freiheitsschützenden staatlichen Aktivität im Einzelfall grundsätzlich zu verneinen. 259 Allerdings bilden Unbestimmtheit und geringe Regelungsdichte von Verfassungsnormen nach dem oben Gesagten allein keinen hinreichenden Anhaltspunkt für die Feststellung entsprechender Grenzen ihrer normativen Wirkkraft. 2 6 0 Die grundgesetzliche Regelung kann im Einzelfall auch einer allmählichen verfassungskräftigen Konkretisierung im Zuge der Verfassungsentwicklung offenstehen. Sie ist dann auf Vervollständigung ihres Normprogramms und Herstellung einer umfassenden — wenn auch unvollkommen umschriebenen — Bindung des Verfassungsadressaten bei der Entscheidungsfindung im Einzelfall angelegt. Fraglich ist, ob die „objektive" Regelungskomponente der Grundrechte Anhaltspunkte für eine solche Regelungsintention bietet. Das grundrechtliche Gebot zum Schutz „realer Freiheit" findet im Verfassungstext keine ausdrückliche Erwähnung und erschließt sich erst aufgrund verfassungssystematischer und teleologischer Interpretation. 261 Demgemäß fehlt es auch an expliziten verfassungsrechtlichen Kriterien zur Bestimmung von Inhalt und Reichweite dieses Schutzpostulats, wie sie sich im Hinblick auf den abwehrrechtlichen Regelungsgehalt in den teilweise ausführlichen Umschreibungen der grundrechtlichen Regelungs- und Schutzbereiche und einer ausdifferenzierten Schrankensystematik finden. Ist der Schutz des „tatsächlichen Könnens" der Freiheitswahrnehmung anders als derjenige des „rechtlichen Dürfens" damit verfassungsunmittelbar kaum ausgeformt, läßt sich der verfassungsrechtlichen Regelungssystematik ein erstes Indiz dafür entnehmen, daß das Grundgesetz jedenfalls die Aufstellung abschließender verfassungskräftiger Regelungen über die Reichweite der Förderung der tatsächlichen Voraussetzungen der Wahrnehmung der Freiheitsrechte nicht intendiert. Diese Annahme wird auch von der bereits oben gewonnenen Erkenntnis gestützt, daß sich die Verfassung einer Normierung sozialer Grundrechte weitgehend enthält und die Aufgabe der materiellen Absicherung der Existenz des einzelnen im Postulat der Sozialstaatlichkeit der gestaltenden Aktivität der staatlichen Instanzen überträgt. 262 Zielt diese Regelung gerade auf die Einräumung von Entscheidungsraum für Gesetzgebung und Verwaltung, kann die der staatlichen Daseinsgestaltung 259 So — allerdings unter Vermischung materiellrechtlicher und funktionsrechtlicher Gesichtspunkte — auch Gusy, Gesetzgeber S. 158 ff.; dort auch zu denkbaren Ausnahmen, etwa für den Fall, daß ein Unterlassen bestimmter Maßnahmen die Realisierung eines Verfassungsziels generell in Frage stellt. 260 Vgl. dazu oben 2. Kapitel A II 1. 261 Dazu ausführlich in diesem Kapitel A I 1 b. 262 Vgl. 2. Kapitel A II 3 c bb (2) (b).
C. Die Grundrechte als Garanten „realer Freiheit"
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Richtung und Ziel gebende, „objektive" grundrechtliche Regelungskomponente nicht ihrerseits durchgängiger verfassungskräftiger Konkretisierung offenstehen. A u f diese Weise ließen sich etwa das Maß der durch staatliche Leistungsgewährung zu verwirklichenden „realen Freiheit" oder die bei der sozialen Sicherung zu wählenden Mittel verfassungskräftig festschreiben. Widerspricht dies nach dem oben Gesagten der Regelungsintention und -systematik des Grundgesetzes, muß das für das Sozialstaatsprinzip geltende grundsätzliche Verbot der Gewinnung verfassungskräftiger Konkretisierungen 263 auch auf die „objektive" Regelungskomponente der Grundrechte Anwendung finden. Gegenteilige Ansätze würden dem Rahmencharakter des Grundgesetzes zuwiderlaufen. 264 Die Annahme einer weitergehenden verfassungsunmittelbaren Bindung müßte überdies auf tatsächliche Grenzen stoßen. Während sich der abwehrrechtliche Grundrechtsschutz auf die Disziplinierung von Eingriffen in individuelle Freiheitsrechte beschränkt und damit rechtliche Tatbestände regelt, die sich inhaltlich präzise ermessen und deren Zulässigkeitsvoraussetzungen sich verfassungsunmittelbar mit hinreichender Bestimmtheit regeln lassen 265 , betrifft die „objektive" Grundrechtskomponente weit weniger homogene Regelungsgegenstände. So beansprucht die grundrechtliche Verpflichtung zur Erhaltung und Förderung „realer Freiheit" Beachtung nicht nur gegenüber konkreter Minderung tatsächlicher individueller Freiheitschancen. Als Vorgabe für die gestaltende Ordnung des gesamten Gemeinwesens ist sie Maßstab auch und vor allem für komplexe staatliche Planungs- und Lenkungsmaßnahmen. Diese werden von einer Vielzahl rechtlich nicht programmierbarer Faktoren bestimmt 266 und sind deshalb ihrerseits normativ nur unzureichend steuerbar. Läßt sich die vom Verfassungsgeber gewünschte Gestaltung demnach nicht im Wege konkreter Verhaltensanweisungen herbeiführen, die Voraussetzungen und Inhalt staatlichen Handelns abschließend umschreiben, ist die Beschränkung des verfassungsrechtlichen Normprogramms auf Handlungsziele und damit auf die Vorgabe der konzeptionellen Grundlagen sachgerecht und geboten. 267 Ansätze zu weitergehender Verfassungskonkretisierung, die darauf 263
Dazu oben 2. Kapitel A II 3 c bb. Vgl. hierzu ausführlich oben 2. Kapitel A II 3, 4. 265 Hierzu auch Gusy, Gesetzgeber S. 146 f. 266 Man denke etwa an politische, gesamtwirtschaftliche und soziale Rahmenbedingungen, wissenschaftliche und technische Innovationen oder die gesellschaftliche Akzeptanz gegenüber staatlicher Steuerung; zu den Leistungsgrenzen der Verfassung s. auch Grimm, AöR 97 (1972), 489, 501 ff. 267 Vgl. auch Grimm, NVwZ 1985, 865, 866; Gusy, Gesetzgeber S. 153 ff.; die „objektiv-grundrechtliche" Regelung hat damit den Charakter eines „Finalprogramms". Zur konditionalen und finalen Programmstruktur vgl. Luhmann, Rechtssoziologie S. 227ff.; ders., Recht und Automation S. 35 ff.; ders., AöR 94 (1969), 1, 3 ff.; Hoppe, DVB1. 1974, 641, 643; König, VerwArch. 62 (1971), 1, 3; Esser, Vorverständnis S. 145 ff.; Koch/Rüßmann, Begründungslehre S. 21 f., 78 ff.; krit. zu dieser Unterscheidung W. Schmidt, AöR 96 (1971), 321, 329ff.; Rubel, Planungsermessen S. 8ff., 60ff. 264
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3. Kap.: Eingriffsintensität und materieller Freiheitsschutz
zielten, abschließende grundrechtliche Vorgaben auch für Zeitpunkt, Inhalt und Modalitäten des die tatsächlichen Voraussetzungen grundrechtlich geschützter Freiheitsausübung betreffenden staatlichen Verhaltens zu gewinnen, würden Funktionsbedingungen und „Leistungsgrenzen der Verfassung" 268 verkennen. 2 6 9 2. Die Appellfunktion
„objektiv-grundrechtlicher"
Regelung
Enthält die „objektive" Regelungskomponente der Grundrechte kein abschließendes Normprogramm für die Wahrnehmung der verfassungsrechtlichen Freiheitsverpflichtung, so kommt ihr insoweit doch eine gewisse „Entlastungsfunktion" zu. 2 7 0 Als verfassungsrechtlich konstituierter Wertungs- und Gestaltungsmaßstab gibt sie grundrechtsrelevanter staatlicher Entscheidung die Werthaftigkeit „realer Freiheit" als verbindliche Prämisse vor und reduziert so die Entscheidungslast der normverpflichteten Instanzen. 271 Sie vermag freiheitsfördernde Entscheidungen grundrechtlich zu stützen und kann damit grundsätzlich auch als verfassungsrechtliche Grundlage oder „Ermächtigung" zu gesetzlicher Schutzgewährung dienen 272 , ohne in der Regel jedoch ein Gebot zu bestimmtem Handeln im Einzelfall auszulösen. Den Grundrechten kommt insoweit — ähnlich dem Sozialstaatsprinzip und anderen Staatszielbestimmungen 2 7 3 — eine „Leitlinien- oder Appellfunktion" zu. Sie liefern Gesichtspunkte, die die Entscheidung in eine bestimmte Richtung begünstigen und haben damit die Eigenschaft von Prinzipien im Sinne Dworkins. 274 Sie konstituieren eine rechtliche Ordnung, die lediglich auf Beeinflussung, nicht aber auf vollständige Determinierung der Entscheidungsergebnisse zielt. Eine solche Ordnung läßt sich im Anschluß an Alexy als „weiche" rechtliche Ordnung bezeichnen.275 „Weiche" verfassungsrechtliche Entscheidungsvorgaben haben integrativen und edukatorischen Gehalt für die staatsbürgerliche Gemeinschaft. 276 Dem 268
Grimm, AöR 97 (1972), 489, 501; BMI/Sachverständigenbericht Rdn. 26. Vgl. auch Gusy, JöR 33 (1984), 105, 127 f. 270 Zum Begriff aus systemtheoretischer Sicht vgl. Luhmann, Legitimation S. 42, 142ff.; s. auch Hufen, AöR 100 (1975), 193,223 ff.; Badura, in: FS für Scheuner S. 19, 34. 271 Zur Entlastungsfunktion auch unvollständiger Verfassungsnormen vgl. Grimm, AöR 97 (1972), 489, 498 f. 272 Vgl. zu diesem Aspekt „objektiver" grundrechtlicher Wirkkraft etwa Jarass, AöR 110 (1985), 363, 378 ff., 383. 273 Hierzu BMI/Sachverständigenbericht Rdn. 2, 7, 12, 29, 32 ff. 274 Zur Dworkinschen Prinzipienlehre und ihrer Rezipierung durch Alexy ausführlich oben Β II 1. 275 Vgl. Alexy, ARSP Beiheft 25 (1985), 13,24f.; ähnlich E.-W. Böckenförde, AöR 106 (1981), 580,598 f.; Stern, Staatsrecht III /1, § 69 II 2 c (S. 914); s. auch Ermacora, in: FS für Geiger S. 145ff.: „soft law". 276 Hierzu BMI/Sachverständigenbericht Rdn. 32; Badura, in: FS für Scheuner S. 19, 33 ff.; s. auch Michel, Staatszwecke S. 299ff. zur Funktion eines künftigen Staatsziels „Umweltschutz". 269
C. Die Grundrechte als Garanten realer Freiheit"
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konkreten Entscheidungsprozeß setzen sie normative Wirkungen, die bei der Entscheidungsfindung mit anderen, außerjuristischen Wirkfaktoren konkurrieren. 277 Ihre Funktion liegt insoweit nicht in erster Linie in der Angabe von Kriterien zur Unterscheidung rechtmäßigen und rechtswidrigen Verhaltens, sondern in der Abgabe dosierter, auf gestaltende Umsetzung durch die zuständigen Organe gerichteter Steuerungsimpulse. Sie umschreiben eine noch unbestimmte Ordnung, die ihre endgültige Form erst im Verbund mit autonom gebildeten Gestaltungswünschen oder anderweitig normativ vorgegebenen Regelungszwecken, bereichsspezifischen und empirischen Erkenntnissen und Zweckmäßigkeitsgesichtspunkten gewinnt. 3. Grundrechte als komparative Rechtssätze Gesicherte rechtsdogmatische Erkenntnisse über Wirkungsweise und normative Kraft „weicher" verfassungsrechtlicher Steuerungsmechanismen sucht man bislang vergeblich. 278 Die insoweit noch ausstehende Untersuchung 279 ist jedoch nicht Gegenstand der vorliegenden Arbeit. Für deren Zielsetzung kommt es allein auf die Bedeutung der „Eingriffsintensität" für die normative Wirkkraft der „objektiven" grundrechtlichen Verhaltensmaßstäbe an. Zu deren näherem Verständnis könnte eine Verdeutlichung ihrer Normstruktur hilfreich sein. Als begriffliches Raster zur Erfassung der logischen Struktur normativer Vorgaben bietet sich der Rückgriff auf die in der Rechtstheorie heute verbreitete Unterscheidung von klassifikatorischen und komparativen Rechtssätzen an. a) Der Unterscheidung klassifikatorischer und komparativer Rechtssätze liegt die wissenschaftstheoretische Begriffsformenlehre zugrunde, die komparative, klassifikatorische und metrische Begriffe kennt. 2 8 0 Während klassifikatorische Begriffe Prädikate bezeichnen, die einem Objekt nur entweder vollständig oder überhaupt nicht zukommen und damit qualitative Aussagen gestatten, die seine Zuordnung zu einer durch das Prädikat gekennzeichneten Klasse oder Teilmenge erlauben 281 , enthalten metrische Begriffe Kriterien für die Messung von Gegenständen und ermöglichen eine absolute, numerische Kennzeichnung von Eigenschaften und damit quantitative Aussagen über das beschriebene 277
Zur systemtheoretischen Einordnung Hufen, AöR 100 (1975), 193, 227 f. Die meisten Stellungnahmen beschränken sich auf bloße Umschreibungen, vgl. Lerche, AöR 90 (1965), 341, 346ff.; Scheuner, in FS für Forsthoff S. 325, 340; Gusy, Gesetzgeber S. 153 ff. 279 Sie könnte etwa an rechtstheoretische Erkenntnisse über die Funktion „beweglicher Systeme" im Recht anknüpfen, vgl. dazu Otte, in: Jahrbuch für Rechtssoziologie und Rechtstheorie 2 (1972), 301, 317ff. sowie die Beiträge in: Bydlinski/Krejci / Schilcher / Steininger, Das Bewegliche System im geltenden und künftigen Recht. 280 Ausführlich Stegmüller, Wissenschaftstheorie S. 19ff., 27ff., 44ff.; Kuhlen, Typuskonzeptionen S. 34ff. m.w.N; s. auch Opp, Methodologie S. 52 ff. 281 Etwa erlauben die Merkmale „männlich" oder „weiblich" die Zuordnung der betrachteten Individuen in zwei verschiedene Teilmengen. 278
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3. Kap.: Eingriffsintensität und materieller Freiheitsschutz
Objekt. 2 8 2 Komparative Begriffe lassen sich demgegenüber als „Relationsbegriffe" charakterisieren, die Vergleichsfeststellungen zwischen mehreren Objekten im Sinne eines „mehr oder weniger" erlauben. Sie lassen die Erstellung einer Rangordnung der untersuchten Gegenstände anhand der Intensität oder der Wahrscheinlichkeit des Vorkommens des bezeichneten Merkmals zu, ohne einen numerischen Maßstab für ihre Kennzeichnung zu enthalten und damit Aussagen über Differenzen oder Proportionen innerhalb der festgestellten Reihe zu ermöglichen. 283 b) Komparative Rechtssätze knüpfen an komparative Prädikate an. 2 8 4 Sie normieren eine bestimmte relative Ordnung der von ihnen geregelten Sachverhalte. 285 Während klassifikatorische Rechtssätze Implikationen der Art „wenn das Merkmal M erfüllt ist, gilt die Rechtsfolge R " aufstellen, legen komparative Rechtssätze Relationen der Form „wenn ..., dann eher..." oder „je ..., desto ..." fest. 286 So läßt sich etwa aus § 1610 Abs. 1 BGB ein komparativer Rechtssatz des Inhalts : „je höher die Lebensstellung eines Unterhaltsbedürftigen, desto höher sein Unterhaltsanspruch" ableiten. 287 I m Gegensatz zu klassifikatorischen Rechtssätzen enthalten derartige komparative Regelungsanordnungen lediglich „Aussagen über Tendenzen" und geben Vorzugsrelationen an, ohne einem einzelnen Sachverhalt eine bestimmte Rechtsfolge zuzuordnen. 288 Zielen Comparative Rechtssätze auf die Herstellung einer an dem von ihnen benannten Merkmal ausgerichteten relativen Ordnung, müssen diese Merkmale zudem eine bestimmte Eigenschaft aufweisen. Es muß sich um Merkmale handeln, deren Vorhandensein in sinnvoller Weise einer graduellen Feststellung zugänglich ist, deren Vorliegen also nicht — wie bei klassifikatorischen Rechtssätzen — entweder nur bejaht oder verneint werden kann. 289 Komparative Rechtssätze begründen die Verpflichtung zur Ordnung der Sachverhalte entsprechend dem Vorkommen des in ihnen enthaltenen kompara282
Als „metrisch" gelten physikalische Begriffe wie „Länge" und „Temperatur" oder sozialwissenschaftliche Größen wie „Einkommen" und „Intelligenz", vgl. Kuhlen, Typuskonzeptionen S. 40 Fn. 23; Opp, Methodologie S. 58 ff. 283 Etwa erlaubt eine Befragung eines bestimmten Personenkreises über das Ansehen der Universitäten die Aufstellung einer relativen Rangordnung, ohne daß ein allgemeiner, für alle Befragten in gleicher Weise gültiger quantitativer Maßstab verfügbar wäre, der die Feststellung einer absoluten Größenordnung zuließe. Weitere Beispiele bei Opp, Methodologie S. 57 f. 284 Otte, in: Jahrbuch für Rechtssoziologie und Rechtstheorie 2 (1972), 301, 302. 285 Dazu auch Ebsen, Rechtstheorie 11 (1980), 55, 60 ff. 286 Dazu ausführlich Otte, in: Jahrbuch für Rechtssoziologie und Rechtstheorie 2 (1972), 301, 303; Ebsen, Rechtstheorie 11 (1980), 55, 60ff. 287 Otte, in: Jahrbuch für Rechtssoziologie und Rechtstheorie 2(1972), 301,311 ; Ebsen, Rechtstheorie 11 (1980), 55, 63; dies gilt freilich nur ceteris paribus. 288 Otte, in: Jahrbuch für Rechtssoziologie und Rechtstheorie 2 (1972), 301,302; Ebsen, Bundesverfassungsgericht S. 59; ders., Rechtstheorie 11 (1980), 55, 62. 289 Otte, in: Das Bewegliche System S. 271 f.
C. Die Grundrechte als Garanten realer Freiheit"
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tiven Prädikats. 290 Sie geben damit regelmäßig die Wahrung zweier Relationen vor. Bei Vorliegen eines Sachverhaltes, der die tatbestandlich normierte Eigenschaft oder Größe aufweist, ist die vorgesehene Rechtsfolge in weitergehendem Maße zu verwirklichen als bei Fehlen eines Bezugs zu diesem Prädikat. Tritt die benannte Eigenschaft bei mehreren Sachverhalten auf, ist ferner eine als „isomorph" bezeichnete Relation zwischen diesen und den in Betracht kommenden Rechtsfolgen herzustellen. 291 Eine isomorphe Struktur liegt vor, wenn die Elemente zweier Ordnungen einander umkehrbar eindeutig zugeordnet sind. 2 9 2 Das ist der Fall, wenn sich mit der Zu- oder Abnahme der tatbestandlich benannten komparativen Größe auch die vorgesehene Rechtsfolge in entsprechender Weise verändert. Im Gegensatz zu klasssifikatorischen und metrischen Rechtssätzen haben komparative Normen nur begrenzte entscheidungsdeterminierende Kraft. 2 9 3 Indem sie Aussagen über Tendenzen treffen, schließen sie die Aufstellung gegenteiliger Reihenordnungen aus. Steht ein Element der intendierten Ordnung fest, muß die Einordnung eines zweiten Elements entsprechend dem Vorkommen des komparativen Prädikats erfolgen. Ist die Lebensstellung eines Unterhaltsbedürftigen in dem oben zu § 1610 Abs. 1 BGB gebildeten Beispiel höher als diejenige eines anderen, ist auch sein Unterhaltsanspruch höher zu bemessen. Die Aufstellung einer gegenteiligen Ordnung ist ausgeschlossen. Abgesehen von Fällen gleicher Lebensstellung ist die absolute Höhe des Unterhaltsanspruchs hingegen nicht determiniert. Komparative Rechtssätze enthalten also regelmäßig nur Rahmenbedingungen, die für eine rechtmäßige Entscheidung jedenfalls erfüllt sein müssen. 294 Nur wenn die Rechtsfolgen für mehrere Elemente der betreffenden Ordnung bereits gewählt sind und bei der Entscheidung über die nunmehr zu bestimmende Rechtsfolge aus rechtlichen oder tatsächlichen Gründen kein weiterer Spielraum verbleibt, kann dies im Ausnahmefall zu einer vollständigen Bindung der betreffenden Entscheidung führen. 295 Grundsätzlich sichert eine komparative Rechtsnorm jedoch nur die Wertungskonsequenz des geregelten Verhaltens. Sie enthält spezifische, den allgemeinen Gleichheitssatz präzisierende Kriterien für eine gerechte Ordnung der ihr unterliegenden Sachverhalte. 290 Vgl. dazu vor allem Otte, in: Jahrbuch für Rechtssoziologie und Rechtstheorie 2 (1972), 301, 303ff.; Ebsen, Rechtstheorie 11 (1980), 55, 62ff. 291 Ebsen, Rechtstheorie 11 (1980), 55, 62 ff. 292 Vgl. Ebsen, Rechtstheorie 11 (1980), 55, 63. 293 Vgl. hierzu auch Ebsen, Bundesverfassungsgericht S. 82 f. 294 Dazu näher Ebsen, Rechtstheorie 11 (1980), 55, 69, 71 ff. unter Hinweis auf die argumentationstheoretische Relevanz komparativer Rechtssätze. 295 Erfolgt die Festlegung des Unterhaltsanspruchs etwa in Schritten zu 100 DM und wird in den Fällen A und C entsprechend der bisherigen Lebensstellung ein Anspruch in Höhe von 1500 und 1700 DM zuerkannt, kommt bei Feststellung einer vergleichsweise „mittleren" Lebensstellung des Berechtigten Β nur die Gewährung eines Anspruchs über 1600 DM in Betracht.
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3. Kap.: Eingriffsintensität und materieller Freiheitsschutz
c) Hat die „objektive" Regelungskomponente der Grundrechte den Schutz „realer Freiheit" zum Gegenstand, verpflichtet sie zur Verwirklichung eines Zustandes, der niemals vollständig, sondern stets nur annähernd erreicht werden kann. Über die Ausstattung der Individuen mit tatsächlichen Freiheitschancen läßt sich deshalb sinnvollerweise keine absolute, sondern nur eine graduelle Aussage im Sinne eines „mehr oder weniger" treffen. Die Grundrechte knüpfen in ihrer „objektiven" Regelungskomponente damit an eine nur komparativ erfaßbare Größe an. Enthalten sie nach dem oben zusammengefaßten Befund zudem Präferenzregeln 296, die auf die Verwirklichung einer der jeweils betroffenen Wertentscheidung entsprechenden Ordnung zielen, entsprechen sie im Hinblick auf den Inhalt ihrer Regelungsanordnung dem Spezifikum komparativer Rechtssätze. Damit ist die Bedeutung komparativer Normstruktur für den „objektiven" grundrechtlichen Freiheitsschutz indes noch nicht erschöpfend bestimmt. Anders als „einfache" komparative Rechtssätze der oben beispielhaft genannten Form bindet die „objektive" grundrechtliche Regelungskomponente staatliches Verhalten — wie gezeigt — grundsätzlich nur unvollkommen. Die „Steuerungsoder Appellwirkung" der Grundrechte schließt die Verfolgung ergänzender oder abweichender, selbst gesetzter Zielsetzungen nicht generell aus; sie begründet damit keine generelle Beachtungs- und Befolgungspflicht für Fälle staatlicher Grundrechtsberührung. Wie über das Maß der zu verwirklichenden „realen Freiheit" als den Gegenstand „objektiv-grundrechtlicher" Regelung ist deshalb auch über ihre Kraft zur abschließenden Programmierung einzelner Entscheidungen, also über das Ausmaß ihrer Bindungswirkung im Einzelfall grundsätzlich nur eine graduelle Aussage möglich. Auch insoweit könnte der grundrechtlichen Regelungsintention die Normierung einer komparativen Ordnung entsprechen. „Objektiv-grundrechtlicher" Freiheitsschutz ist, wie bereits festgestellt 297 , stets wirkungsorientiert. Zielt die „objektive" Regelungskomponente der Grundrechte auf die Herstellung einer der verfassungsrechtlichen Wertentscheidungen entsprechenden tatsächlichen Ordnung, kann das Maß der normativen Wirkkraft freiheitsschützender Vorgaben nur vom Grad des Abweichens des zu regelnden Sachverhalts von dieser Ordnung bestimmt sein. Die Begründung eines strikten Gebots zu staatlicher Förderung „realer Freiheit" entspricht der grundrechtlichen Regelungsintention deshalb um so mehr, je weiter der betreffende Sachverhalt gegenüber dem grundrechtlich intendierten Zustand zurückbleibt. Nicht nur der Inhalt der „objektiv-grundrechtlichen" Regelungsanordnung, sondern auch ihre normative Wirkkraft unterliegt demnach den für komparative Rechtssätze geltenden Gesetzmäßigkeiten.298 296
Vgl. oben Β I 1. Vgl. oben Β II 4. 298 Daß komparative Rechtssätze auch die Aufstellung einer Reihenordnung über die Intensität der normativen Bindung steuern können, wird bejaht etwa bei Otte, in: 297
C. Die Grundrechte als Garanten ,»realer Freiheit"
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Die „objektive" Regelungskomponente der Grundrechte birgt damit zwei Relationssätze: je stärker der Mangel an tatsächlichen Freiheitschancen im Einzelfall, desto umfangreicher die grundrechtlich angeregten Ausgleichs- und Sicherungsmaßnahmen; je gravierender ferner die Minderung tatsächlicher Freiheitschancen, desto höher auch die Bindungskraft der grundrechtlichen Steuerungsimpulse. 299 Eigene Prioritäten etwa des Gesetzgebers vermögen die Nichtachtung der grundrechtlichen Zielvorgaben um so weniger zu begründen, je mehr die tatsächliche Wahrnehmung grundrechtlicher Individualrechte im Einzelfall notleidend geworden ist. Damit ist zugleich ein Bedeutungselement des Kriteriums der Eingriffsintensität im Rahmen des „objektiven" grundrechtlichen Freiheitsschutzes bestimmt: mit zunehmender Betroffenheit der tatsächlichen Voraussetzungen individueller Freiheitsausübung verdichtet sich die grundrechtliche „Appellwirkung" mehr und mehr in Richtung auf ein definitives Förderungs- oder Schutzgebot. Ordnen komparative Rechtssätze einem Sachverhalt definitionsgemäß keine bestimmte Rechtsfolge zu, enthält das Grundrecht als Rechtssatz komparativer Regelungsstruktur allerdings keinen Maßstab für isolierte Feststellungen darüber, ob und ggf. unter welchen Voraussetzungen eine „Erstarkung" der „objektiv-grundrechtlichen" Steuerungsimpulse zu strikter staatlicher Verhaltensbindung eintritt. Werden etwa die tatsächlichen Voraussetzungen der Entfaltungs- oder Berufsfreiheit zugunsten außerverfassungsrechtlicher Zielsetzungen wie des Umwelt- 3 0 0 oder Tierschutzes sehr weitgehend beschnitten, läßt sich zwar feststellen, daß grundrechtliche Wertsetzungen einer solchen Minderung „realer Freiheit" in relativ höherem Maße entgegenwirken, als dies bei geringfügiger Minderung grundrechtlicher Freiheitschancen der Fall wäre. Klassifikatorische Entscheidungsvorgaben, also etwa die Angabe von Bedingungen, unter denen das grundrechtliche Schutzpostulat auch gegenüber abweichenden Zielsetzungen Durchsetzung beansprucht, enthält die verfassungsrechtliche Regelung insoweit aber gerade nicht. 3 0 1 Abschließende Bindungskraft kann ihr deshalb — wie gezeigt — nur bei Vorliegen vorgängiger Entscheidungen über die Durchsetzungskraft der Grundrechte in vergleichbaren Fällen zukommen. Von derartigen Konstellationen abgesehen verbleibt die Entscheidung über das Maß der Beachtung der grundrechtlichen Steue-
Jahrbuch für Rechtssoziologie und Rechtstheorie 2 (1972), 301, 305 f.; ders., in: Das Bewegliche System S. 271, 272; Ebsen, Bundesverfassungsgericht S. 59 f. 299 Ähnlich für die Verdichtung bei Ermessensbegriffen Gern, DVB1. 1987, 1194 f. 300 Dem Grundgesetz läßt sich derzeit weder ein „Grundrecht auf Umweltschutz" entnehmen noch enthält es eine entsprechende Staatszielbestimmung; vgl. BVerwG JuS 1976, 126; BVerwGE 54, 211, 219; Rauschning, VVDStRL 38 (1980), 167, 177 ff.; BMI / Sachverständigenbericht Rdn. 131 ff.; Steiger, in: Grundzüge des Umweltrechts S. 21,25 ff.; Breuer, in: Besonderes Verwaltungsrecht S. 601,615 ff.; Kloepfer, Grundrecht S. 14ff., 27ff., 38. 301 Vgl. auch Ebsen, Bundesverfassungsgericht S. 81 f.
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3. Kap.: Eingriffsintensität und materieller Freiheitsschutz
rungsimpulse also — sofern nicht anderweitige Normvorgaben eingreifen — in der Gestaltungsmacht des zuständigen Organs. d) Fehlt es nach dem bislang Gesagten weitgehend an einer normativen Bindung des Ergebnisses des staatlichen Entscheidungsprozesses 302, könnte den Grundrechten als Wert- und Gestaltungsvorgaben im Sinne einer Entfaltung ihrer Richtlinien- oder Appellfunktion doch wenigstens ein den Vorgang der Entscheidungsfindung und -begründung betreffender, verbindlicher Regelungsgehalt zuzusprechen sein. Das Bundesverfassungsgericht ging bereits im Lüth-Urteil davon aus, daß die Vorschriften des bürgerlichen Rechts nicht nur nicht „ i m Widerspruch" zum grundrechtlichen Wertsystem stehen dürfen, sondern auch „im seinem Geiste ausgelegt" werden müssen und der Richter kraft Verfassungsgebots zu prüfen hat, „ob die von ihm anzuwendenden materiellen zivilrechtlichen Vorschriften ... grundrechtlich beeinflußt sind". 3 0 3 Die verfahrensmäßige Bedeutung der grundrechtlichen Wertvorgaben klingt ferner in den Ausführungen des DGBBeschlusses an, nach denen sich auch die „Anforderungen an die Begründung eines Eingriffs" anhand der Intensität der grundrechtlichen Betroffenheit des Beschwerdeführers bestimmen. 304 Daß das Bestehen verfahrensbezogener Bindungen auch in der Literatur vielfach vorausgesetzt wird, zeigt sich etwa anhand der These Schupperts, die verfassungsgerichtliche Kontrolle beschränke sich — im Hinblick auf die dem angegriffenen Urteil zugrundeliegenden Abwägungen — auf die Wahrung bestimmter, bei der fachrichterlichen Entscheidungsfindung zu beachtender „Mindestanforderungen hinsichtlich des procedere". 305 Zielen „weiche" grundrechtliche Verhaltensvorgaben auf eine appellative Einflußnahme und Steuerung der die einfachgesetzliche Ordnung gestaltenden Entscheidungen, ist ihre Umsetzung in die Wirklichkeit an zwei Voraussetzungen gebunden: die zuständigen Organe müssen die Einwirkung der grundrechtlichen Wertmaßstäbe bei der Wahrnehmung ihrer Aufgaben auf der Ebene des einfachen Rechts überhaupt erkennen und sie müssen Inhalt und Zielsetzung dieser Steuerungsimpulse dabei zutreffend bestimmen und berücksichtigen. Nur dann kann dem appellativen Gehalt der Grundrechte überhaupt eine das Gemeinwesen gestaltende Bedeutung erwachsen und ist die intendierte effektive Entfaltung ihrer wertsetzenden Kraft gewährleistet. Wird der grundrechtliche Schutz „realer Freiheit" nach dem bisher Gesagten jedenfalls grundsätzlich nicht im Wege einer inhaltlichen Bindung der zwischen 302 Zur weiteren, der „objektiven" Komponente der Grundrechte zu entnehmenden „strikten" Regelungsanordnung s. aber sogleich unter II. 303 BVerfGE 7, 189, 205, 206. 304 BVerfGE 42,143,149; ebenso BVerfGE 43,130,135 f.; dazu bereits oben 1. Kapitel C I 1, II 1 a. 305 Schuppert, AöR 103 (1978), 43, 62ff.; dazu bereits ausführlich oben 1. Kapitel D II 1.
C. Die Grundrechte als Garanten realer Freiheit"
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verfassungsrechtlicher Wertung und einfachgesetzlich normiertem Regelungsziel abwägenden Entscheidung bewirkt, fordert das Ordnungsziel der Grundrechte als komparativer Rechtsnormen deshalb zumindest die Annahme einer unbedingten verfahrensmäßigen Verpflichtung der Staatsgewalt hinsichtlich des „Ob" einer solchen Abwägung. Die grundrechtsverpflichteten Organe haben bei jedem grundrechtsrelevanten Verhalten verfassungsrechtliche Steuerungsimpulse zu vergegenwärtigen und die darin enthaltenen Wertungen inhaltlich zutreffend zu ermitteln. Trifft die Rechtsprechung gem. Art. 19 Abs. 4 GG darüber hinaus das Gebot, ihre Entscheidungen zu begründen 306 , hat sich die Erfüllung der ihr bei der Entscheidungsfindung auferlegten Pflicht zur Vergegenwärtigung der grundrechtlichen Appellwirkung auch in der Entscheidungsbegründung widerzuspiegeln. 307 II. „Objektiv-grundrechtlicher" Freiheitsschutz als Paradigma „strikter 46 verfassungsrechtlicher Steuerung Stellt man den soeben getroffenen Feststellungen allerdings die Kontrollpraxis des Bundesverfassungsgerichts 308 gegenüber, das sich durchweg nicht auf die Korrektur der Entscheidungsfindung beschränkt, sondern am Entscheidungsergebnis des Fachgerichts ansetzt und damit eine entsprechende Verdichtung materialer grundrechtlicher Entscheidungsmaßstäbe zu definitiven, staatliches Handeln inhaltlich bindenden Verhaltensvorgaben voraussetzt, erscheint zweifelhaft, ob sich die „objektive" Regelungskomponente der Grundrechte in der Normierung komparativer Verfassungsrechtssätze erschöpft. Auch die ausdrückliche Anordnung der „Aktualität" der Grundrechte 309 in Art. 1 Abs. 3 GG gibt Anlaß, ein Verständnis zu hinterfragen, das diesen im Bereich des Schutzes „realer Freiheit" nur den Charakter unvollkommener Steuerungsimpulse von geringer materialer Bindungskraft für Rechtssetzung und -anwendung zuerkennt. 310 Vermag „objektiv-grundrechtlicher" Freiheitsschutz nach dem bisher Gesagten vornehmlich die Wertungskonsequenz unter mehreren, die tatsächlichen Voraussetzungen der Grundrechtsausübung betreffenden Entscheidungen zu wahren, könnten grundrechtsrelevante Abwägungen nur bei 306
Lücke, Begründungszwang S. 58ff.; Stern, Staatsrecht I I I / l , § 75 II 1 (S. 1443); dazu auch BVerfGE 40, 276, 286; 50, 287, 289; 71, 122, 136. 307 Im Ergebnis ähnlich Schuppert, AöR 103 (1978), 43,50: „gewisse Sorgfaltspflichten in der Begründung". 308 Dazu oben 1. Kapitel C. 309 Dürig, in: Maunz/Dürig, Art. 1 Abs. III Rdn. 91. 310 Schon im Hinblick auf die bereits angesprochene Entlastungsfunktion grundrechtlicher Wertvorgaben übersteigt deren Wirkkraft allerdings diejenige nicht aktuell geltender und anwendbarer Programmsätze; vgl. Grimm, AöR 97 (1972), 489, 498; das skizzierte Verständnis der Grundrechte als „weiche" verfassungsrechtliche Steuerungsmechanismen dürfte daher auch dann nicht gegen das Verbindlichkeitspostulat des Art. 1 Abs. 3 GG verstoßen, wenn sich ihr Regelungsgehalt darin erschöpfte. 13 Scherzberg
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3. Kap.: Eingriffsintensität und materieller Freiheitsschutz
Vorliegen eines durch vorgängige Entscheidungen gebildeten Vergleichsmaßstabs als widersprüchlich und damit als verfassungswidrig qualifiziert werden. Fehlt ein entsprechender Vergleichsmaßstab, müßte ein solches Verdikt dagegen auch bei einschneidender Minderung tatsächlicher Freiheitschancen unterbleiben. Zielt die Regelungsintention der Grundrechte jedoch auf die tatsächliche Verwirklichung einer ihren Wert- und Gestaltungsmaßstäben entsprechenden Ordnung und nimmt die Abweichung vom verfassungsrechtlich erwünschten Zustand mit dem Maß der Minderung individueller Freiheitschancen zu, erscheint fraglich, ob eine Beschränkung des „objektiven" grundrechtlichen Regelungsgehalts auf komparativen Freiheitsschutz dem grundrechtlichen Schutzzweck entspricht. Es ist demnach veranlaßt zu untersuchen, ob und unter welchen Voraussetzungen die grundsätzlich unvollständige, „weiche" verfassungsrechtliche Steuerung durch eine strikte Bindung staatlichen Handelns zu ergänzen sein könnte. Strikte verfassungsrechtliche Bindung wird durch klassifikatorische Rechtssätze vermittelt, die die maßgeblichen Kriterien für die Ordnung der von ihnen geregelten Sachverhalte vollständig enthalten und damit auf eine abschließende normative Steuerung des geregelten Verhaltens zielen. Bei der Frage nach Bestehen und Voraussetzungen einer derartigen strikten grundrechtlichen Bindung bietet sich zunächst ein Rückgriff auf die zur Reichweite des grundrechtlichen Schutzes „realer Freiheit" in Rechtsprechung und Literatur bereits gewonnenen Erkenntnisse an. Im folgenden soll daher der derzeitige Stand der Entwicklung anhand einiger der oben bezeichneten Anwendungsfälle des „objektiven" grundrechtlichen Freiheitsschutzes skizziert werden: der vor allem bei freiheitswidrigen Beeinträchtigungen durch Dritte entstehenden staatlichen Schutzpflichten, der Bedeutung der Grundrechte als Verfahrensgarantien sowie der grundrechtlichen Schutzwirkung gegenüber mittelbar-faktischen staatlichen Einwirkungen. 1. Die grundrechtlichen Schutzpflichten bei freiheitswidrigen Beeinträchtigungen durch Dritte Neben den in speziellen Grundrechtsnormen wie Art. 6 Abs. 5 oder Art. 33 Abs. 5 GG festgelegten, ausdrücklichen verfassungsrechtlichen Handlungspflichten leitet das Bundesverfassungsgericht unter weitgehender Billigung der Literatur staatsgerichtete Handlungsgebote auch aus dem „objektivrechtlichen" Regelungsgehalt der Grundrechte ab. Das betrifft neben einigen wenigen Fällen originärer grundrechtssichernder Leistungspflichten 311 vor allem die Abwehr freiheitsmindernder oder -gefährdender Handlungen Dritter. Die Entwicklung der Rechtsprechung braucht hier nicht im einzelnen nachgezeichnet zu werden. 312 Im vorliegenden Zusammenhang sind lediglich die 311
BVerfGE 35, 79, 115; s. auch BVerfGE 33, 303, 330f.; 75, 40, 62ff.
C. Die Grundrechte als Garanten „realer Freiheit"
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vom Bundesverfassungsgericht entwickelten Voraussetzungen für das Entstehen derartiger Schutzpflichten bedeutsam. Im Urteil zur Fristenlösung 313 wird die Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG entnommene Wertentscheidung zugunsten des menschlichen Lebens zur Begründung staatlicher Schutzgebote gegenüber dem nasciturus herangezogen. Das Bundesverfassungsgericht stellt fest, daß die grundrechtliche Schutzverpflichtung um so ernster genommen werden müsse, je höher der Rang des in Frage stehenden Rechtsgutes innerhalb der Wertordnung anzusetzen sei. 314 Es bestätigt damit den komparativen Charakter der „objektiven" Grundrechtsgehalte, deren „Appellwirkung" nach dem oben Gesagten mit dem Maße der Abweichung von der grundrechtlich intendierten Ordnung an Wirkkraft zunimmt. Für den Fall der Vernichtung ungeborenen Lebens durch Schwangerschaftsabbruch leitet das Gericht aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG allerdings auch ein zwingendes, die Anordnung strafrechtlicher Sanktionen einschließendes Schutzgebot des Staates her, dem der Gesetzgeber durch die vorgesehene strafrechtliche Freigabe des Abbruchs innerhalb der ersten drei Monate nicht hinreichend Rechnung getragen habe. I m Rahmen der Entscheidung über den Antrag auf einstweilige Anordnung im Falle Schleyer meint es ergänzend, das staatliche Gebot zum Schutz des Lebens verdichte sich dann zu einer Pflicht zur Vornahme bestimmter Handlungen, wenn effektiver Lebensschutz auf andere Weise nicht zu erreichen ist. 3 1 5 Nach seinen Ausführungen im Kalkar-Beschluß hängt das Bestehen einer verfassungsrechtlichen Pflicht zur Eindämmung künftiger Grundrechtsverletzungen ferner „von der Art, der Nähe und dem Ausmaß möglicher Gefahren, der Art und dem Rang des verfassungsrechtlich geschützten Rechtsguts sowie von den schon vorhandenen Regelungen a b " . 3 1 6 Angesichts von Art und Schwere der Gefahren der Kernenergie soll bereits „eine entfernte Wahrscheinlichkeit ihres Eintritts" konkrete grundrechtliche Schutzpflichten auslösen. 317 Schließlich betont das Bundesverfassungsgericht im Fluglärm-Beschluß, daß es regelmäßig eine höchst komplexe Frage sei, „wie eine positive staatliche Schutzpflicht... durch aktive gesetzgeberische Maßnahmen zu verwirklichen ist". Eine definitive Pflicht des Gesetzgebers zur „Nachbesserung" lärmschützender Vorschriften wird jedoch angenommen, wenn die ursprünglich rechtmäßigen Regelungen verfassungsrechtlich „untragbar" geworden sind. Die verfassungsgerichtliche Kontrolle sei insoweit allerdings auf den Fall „evidenter" Grundrechtswidrigkeit beschränkt. 318 312 Zu Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG ausführlich Hermes, Grundrecht S. 43 ff.; s. auch Jarass, AöR 110 (1985), 363, 378ff.; E. Klein, NJW 1989, 1633ff.; Robbers, Sicherheit S. 128ff. 313 BVerfGE 39, 1, 42. 314 BVerfGE 39, 1, 42. 315 BVerfGE 46, 160, 165. 316 BVerfGE 49, 89, 142; ebenso BVerfGE 56, 54, 78. 317 BVerfGE 49, 89, 142. 318 BVerfGE 56, 54, 80 f. 1*
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3. Kap.: Eingriffsintensität und materieller Freiheitsschutz
Der damit gewonnene, in weiteren Entscheidungen 319 vertiefte Evidenzmaßstab dürfte nicht nur Ausdruck einer besonderen verfassungsrichterlichen Zurückhaltung bei der Ermittlung grundrechtlicher Handlungspflichten gegenüber dem Gesetzgeber sein. Er spiegelt — wie auch die zuvor zitierten Äußerungen des Gerichts — auch die dem grundrechtlichen Handlungsmaßstab als einem komparativen Rechtssatz 320 eigene Schwäche wider. 3 2 1 Können anhand eines solchen Maßstabs grundsätzlich nur Wertungswidersprüche zwischen mehreren gleichgelagerten Entscheidungen aufgezeigt werden und lassen sich daraus isolierte Feststellungen zu den Voraussetzungen des definitiven Überschreitens der grundrechtlichen Wertvorgabe nicht ableiten, fehlt insoweit ein verfassungsunmittelbarer Maßstab auch für die verfassungsgerichtliche Kontrolle. Dennoch geht das Gericht — wenn auch behutsam und unter Betonung des gesetzgeberischen Entscheidungsspielraums 322 — davon aus, daß den Grundrechten unter qualifizierten Voraussetzungen auch ein striktes Gebot zu staatlicher Schutzgewährung entnommen werden kann, sich die komparativen grundrechtlichen Zielvorgaben also zu definitiven grundrechtlichen Schutzpflichten verdichten. Die aus dem Schleyer-Urteil referierte Äußerung und ein Vergleich der übrigen, konkrete Handlungspflichten bejahenden bzw. verneinenden Entscheidungen legen nahe, daß in der Entscheidungspraxis des Gerichts dabei der Intensität der durch Dritte vermittelten Beeinträchtigung eine maßgebliche Bedeutung zukommt. Geht es wie im Falle der Abtreibung nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts um einen das betroffene Grundrecht vielfältig und in endgültiger Weise tangierenden Tatbestand, war staatlicher Eingriff geboten. Stand im Kalkar-Beschluß hingegen „lediglich" das unbestimmte Restrisiko einer Gefährdung der Bevölkerung durch kerntechnische Anlagen in Frage, soll dessen Inkaufnahme dem grundrechtlichen Schutzgebot nicht zuwiderlaufen. Die Literatur hat den Ansatz des Bundesverfassungsgerichts im Grundsatz positiv aufgenommen und die Entwicklungslinien der Rechtsprechung nachgezogen.323 Zwar wird vielfach auf die geringe normative Bindungskraft grundrechtlicher Wert- und Gestaltungsmaßstäbe hingewiesen.324 Die Möglich-
319 Vgl. BVerfGE 75, 40, 67; 77, 170, 215; BVerfG NJW 1989, 1271, 1274f.; s. ferner BVerfG NJW 1983, 2931 f. (Vorprüfungsausschuß); BVerfG EuGRZ 1987, 353, 354 (Kammer); krit. Mahrenholz, diss, op., in: BVerfGE 77, 170, 236; weitergehend aber die Kontrolle der Wahrung des Art. 6 Abs. 1 GG, s. BVerfGE 76,1,51; BVerfG DVB1.1989, 712, 713. 320 Zur Normstuktur und Wirkkraft komparativer Rechtssätze s. oben C I 3. 321 Ähnlich Held, Grundrechtsbezug S. 113; dies übersieht E. Klein, NJW 1989, 1633, 1637 f. 322 Vgl. etwa BVerfGE 56, 54, 80ff.; 77, 170, 215; BVerfG NJW 1989, 1271, 1274f. 323 S. vor allem Robbers, Sicherheit S. 121 ff. m.w.N.; im Hinblick auf die sich aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG ergebenden Schutzgebote auch Hermes, Grundrecht S. 63 ff.
C. Die Grundrechte als Garanten realer Freiheit"
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keit ihrer Verdichtung zu definitiven Schutzpflichten wird unter qualifizierten Voraussetzungen jedoch fast durchgängig bejaht. 325 Auch soweit — davon konstruktiv abweichend — einzelne Autoren private Beeinträchtigungen stets staatlicher Duldung oder Unterlassung zurechnen und die grundrechtliche Schutzwirkung damit allein auf staatliche „Eingriffe" beziehen 326 , setzt dies das Bestehen definitiver staatlicher Schutzpflichten als Zurechnungstatbestand voraus. 327 Die These, den grundrechtlichen Entscheidungsvorgaben könne in keinem Falle unmittelbare normative Wirkkraft zukommen, wird nur sehr vereinzelt vertreten. 328 Auf der Grundlage der sich danach als herrschend herausbildenden, der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts folgenden Auffassung wird das Entstehen einer (definitiven) grundrechtlichen Schutzpflicht meist an das Überschreiten einer gewissen Intensitätsschwelle der durch privates Handeln ausgelösten Beeinträchtigung gebunden. 329 So soll sich etwa die aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG entwickelte Schutzpflicht auf die Abwehr von Beeinträchtigungen eines „ökologischen oder gesundheitlichen Minimalstandards" beschränken. 3 3 0 Zur Begründung für eine derartige Zurückhaltung bei der Ableitung definitiver grundrechtlicher Schutzpflichten wird vor allem auf den Gesichtspunkt der Selbstverantwortlichkeit der Grundrechtsträger hingewiesen.331 Grundrechtliche Schutzpflichten enden dort, wo der Betroffene aus eigener Kraft in der Lage ist, die Beeinträchtigung abzuwehren oder sich ihr zu entziehen. 332 Forderungen nach weitergehender, „optimaler" Schutzgewährung sind hingegen selten. 333 324
Vgl. etwa Degenhart, Kernenergierecht S. 150f.; Scholz, DB 1979, Beilage 10 S. 13, 16; Soell, NuR 1985, 205, 207 f. 325 Vgl. etwa K. Hesse, Grundzüge Rdn. 350; Schmidt-Aßmann, AöR 106 (1981), 205, 214ff.; Rauschning, VVDStRL 38 (1980), 167, 183; Steiger, in: Grundzüge des Umweltrechts S. 21, 33 f.; Berger, Grundfragen S. 134 f.; Soell, NuR 1985, 205, 208; Jarass, AöR 110 (1985), 363, 380f.; Kloepfer, Grundrecht S. 25, 29f.; Hermes, Grundrecht S. 190ff., 213 ff. 326 Dazu die Nachweise oben Fn. 182, 183. 327 Die dargestellte Auffassung mündet allerdings in die bereits oben A I 2 abgelehnte Erweiterung des traditionellen „Eingriffs- und Schrankendenkens" auf die der „objektiven" Regelungskomponente der Grundrechte unter fallenden Sachbereiche. Sie läßt zudem außer Betracht, daß sich eine Beeinträchtigung der Grundrechtsausübung durch private Dritte — von den Fällen gesetzlicher Begründung von Duldungspflichten abgesehen — nur als faktische, nicht als rechtliche Einwirkung auf die Position des Grundrechtsträgers darstellt; dazu Jarass, AöR 110 (1985), 363, 381 f. 328 Steinberg, NJW 1984, 457, 461; eher restriktiv auch Isensee, Grundrecht S. 49 ff. 329 Vgl. etwa Schmidt-Aßmann, AöR 106 (1981), 205, 216; Soell, NuR 1985, 205, 208; Rauschning, VVDStRL 38 (1980), 167,179f.; Berger, Grundfragen.S. 134f.; Lücke, DÖV 1976, 289, 291 f.; Jarass, AöR 110 (1985), 363, 382; Classen, JöR 36 (1987), 29, 38f.; weitergehend E. Klein, NJW 1989, 1633, 1637. 330 Breuer, in: BVerwG-FG S. 89,94,104,109; ders., in: Besonderes Verwaltungsrecht S. 601, 617; Held, Grundrechtsbezug S. 111; Scholz, DB 1979, Beilage 10 S. 13, 16. 331 Vgl. dazu allgemein bereits oben Β II 5 a.
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3. Kap.: Eingriffsintensität und materieller Freiheitsschutz
2. Die Grundrechte als Organisations - und Verfahrensgarantien
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Verfahrensrechtliche Regelungen können zum einen — sei es durch die Einführung eines allgemeinen Verfahrensvorbehalts, sei es durch die Einräumung konkreter behördlicher Eingriffsbefugnisse — zu Beschränkungen der individuellen Freiheitsrechte führen. 335 Sie unterliegen dann dem jeweiligen grundrechtlichen Gesetzesvorbehalt und sind an der subjektiven, abwehrrechtlichen Regelungskomponente der Grundrechte zu messen.336 Die Bereitstellung von Verfahrens- und Organisationsregeln kann sich zum andern aber auch als wesentliche tatsächliche Voraussetzung für die Ausübung grundrechtlich geschützter Freiheit darstellen. So erfolgt die Ausübung der Wissenschafts- und Rundfunkfreiheit in der Regel in einem arbeitsteilig organisierten, gegenläufige individuelle Interessen zusammenfassenden Bezugsrahmen und werden diese Grundrechte deshalb erst durch organisations- und verfahrensrechtliche Ausformungen der geregelten Lebensbereiche „funktionsfähig". 3 3 7 Auch ist etwa die Wahrnehmung der Grundrechte der Art. 16 Abs. 2 S. 2 und Art. 4 Abs. 3 S. 1 GG — staatliche Prüfung der Anerkennungskriterien voraussetzend — auf die Einrichtung geeigneter Verfahren angewiesen.338 Neben derartiger „,struktureller" Verfahrensabhängigkeit einzelner Grundrechte steht die allgemeine, funktionelle" Bedeutung des Verwaltungsverfahrens 332
S. etwa Hermes, Grundrecht S. 245 f. So aber Suhr, in: Soziale Grundrechte S. 111, 115; im Ansatz auch E. Klein, NJW 1989, 1633, 1637ff. 334 In der folgenden Übersicht bleibt die Bedeutung der materiellen Grundrechte für das gerichtliche Verfahren ausgeklammert; hier können wegen der Interferenz des Art. 19 Abs. 4 GG abweichende Regeln gelten; vgl. Held, Grundrechtsbezug S. 69ff.; „Vorwirkungen" des Art. 19 Abs. 4 GG auf das Verwaltungsverfahren — vgl. BVerfGE 61,82,110 — bleiben ebenfalls außer Betracht. 335 Hierzu Held, Grundrechtsbezug S. 64ff., 161 ff. 336 Auch die Pflicht zu einer der Grundrechtsausübung „günstigen" Anwendung des Verfahrensrechts kann sich bereits aus der abwehrrechtlichen Grundrechtskomponente ergeben. In diesem Sinn hat das Bundesverfassungsgericht im Brokdorf-Beschluß — BVerfGE 69, 315, 355 f. — eine umfassende Pflicht der Behörden zu „versammlungsfreundlichem Verfahren" — hier zur Kooperation mit den Organisatoren von Großdemonstrationen im Vorfeld der Veranstaltung — angenommen. Sind präventive Verfahrensweisen wie Kontaktaufnahme und Informationaustausch mit den Veranstaltern geeignet, künftigen Grundrechtseingriffen vorzubeugen, stellen sie sich als „milderes Mittel" gegenüber etwaigen repressiven Maßnahmen dar und sind bereits im Hinblick auf das die rechtlichen Minderungen der grundrechtsgeschützten Freiheit steuernde Übermaßverbot vorrangig zu ergreifen. 337 Dazu K. Hesse, EuGRZ 1978,427,436; Ossenbühl, in: FS für Eichenberger S. 183, 187; Bethge, NJW 1982, 1, 3 f.; allgemein zu einem solchen „horizontalen Verfahrensbezug" Held, Grundrechtsbezug S. 154 ff. 338 V g l e t w a BVerfGE 56,216,235f.; 60,253,294f.; 77,170,229; Ossenbühl, in : FS für Eichenberger S. 183, 185 f.; Pitschas, in: Grundrechtsschutz und Verwaltungsverfahren S. 23, 48, 49; Bethge, NJW 1982, 1, 5; einschränkend Held, Grundrechtsbezug S. 164ff. 333
C. Die Grundrechte als Garanten „realer Freiheit"
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für Effizienz und Durchsetzung des materiellen Grundrechtsschutzes. In einem durch die Abnahme normativer Determination der Entscheidungsvorgänge gekennzeichneten Leistungs- und Planungsstaat, in dem der Verwaltung eigene Steuerungsfunktionen zugewiesen sind, ist die Ausgestaltung des Verwaltungsverfahrens für die Verwirklichung der Grundrechte mitbestimmend. 339 Das Verfahrensrecht entscheidet über die präventiven Einwirkungsmöglichkeiten des Grundrechtsträgers auf die seine materielle Grundrechtsposition möglicherweise beeinträchtigende behördliche Sachentscheidung. Angesichts der Unbestimmtheit und Unvollständigkeit materialer Entscheidungsmaßstäbe bieten prozedurale Vorkehrungen wie Anhörungs-, Beteiligungs- oder Veröffentlichungspflichten unverzichtbare Instrumentarien zur Sicherung der Beachtung grundrechtlich geschützter Interessen bei einer Verwaltungsentscheidung. 340 Darüber hinaus ergänzen und intensivieren sie den nachgängigen gerichtlichen Schutz des bedrohten Grundrechts. 341 Zeitigt die Ausgestaltung des Verwaltungsverfahrens insoweit Auswirkungen nicht auf den Bestand grundrechtlich geschützter Rechtsgüter oder Entfaltungsbefugnisse, sondern auf deren faktische Erhaltung und präventive Durchsetzung, geht es dabei nicht um das „rechtliche Dürfen", sondern um die Regelung des „tatsächlichen Könnens" der Rechtsausübung. Für die verfassungsrechtliche Steuerung der die prozedurale Verwirklichung der materiellen grundrechtlichen Entscheidungsmaximen sichernden Regeln bietet deshalb wiederum der „objektive" Wert- und Steuerungsgehalt der Grundrechte den anzuwendenden Maßstab. „Objektive" Wertungs- und Gestaltungsvorgaben regeln demnach die Ausgestaltung staatlichen Verfahrensrechts, soweit dieses nicht Voraussetzungen verfahrensunmittelbarer Grundrechtseinschränkung, sondern das verfahrensmäßige oder organisatorische „Umfeld" der individuellen Grundrechtsausübung betrifft. 342 Im Mühlheim-Kärlich-Beschluß weist das Bundesverfassungsgericht zur Begründung der Grundrechtsrelevanz des Verfahrensrechts auf die den Staat zugunsten der Grundrechtsausübung des einzelnen treffenden Schutzpflichten hin. 3 4 3 Nicht nur Verfahren, die der Regulierung grundrechtsgefahrdender Beeinträchtigungen durch Dritte dienende, sondern auch die den rechtlichen oder mittelbar-faktischen Einwirkungen des Staates vorgeschalteten Schutzvorkehrungen sowie die die Grundrechtswahrnehmung im übrigen formell „verfassenden" Verfahrensbestimmungen sind jedoch grundrechtsrelevant. Bezieht man den Regelungsgehalt grundrechtlicher Schutzpflichten auf die Abwehr von 339
Grimm, NVwZ 1985, 865, 866f.; Häberle, VVDStRL 30 (1972), 43, 86ff. Grimm, NVwZ 1985,865,867; s. auch Stern, Staatsrecht III /1, § 69 V 7 d (S. 976 f.). 341 Lorenz, AöR 105 (1980), 623, 626. 342 Grimm, NVwZ 1985, 865, 867f.; s. auch Jarass, AöR 110 (1985), 363, 385ff.; BVerfGE 53, 30, 65 i. V. m. 57; BVerfGE 77, 170, 229; Simon/Heußner, diss, op., in: BVerfGE 53, 30, 77. 340
343
BVerfGE 53, 30, 57.
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3. Kap.: Eingriffsintensität und materieller Freiheitsschutz
Einwirkungen von dritter Seite und grenzt sie so — wohl auch im Sinne des Bundesverfassungsgerichts 344 — von Mechanismen zur Abwehr rechtlicher oder mittelbar-faktischer, dem Staat selbst zuzurechnender Beeinträchtigungen sowie von Vorgaben zur allgemeinen Organisation grundrechtlich geschützter Lebensbereiche ab, erscheint die verfahrensrechtliche Wirkkraft der Grundrechte als eigenständiger, die materiell-grundrechtliche Schutzgewährung ggf. ergänzender Regelungsgehalt.345 Fragt man auch insoweit nach dem Umfang grundrechtlicher Vorprägung, läßt die Rechtsprechung deutliche Differenzierungen erkennen. Soweit die Ausübung des Grundrechts strukturell von der Bereitstellung staatlicher Organisations- und Verfahrensregelungen abhängt, werden aus der „objektiven" grundrechtlichen Regelungskomponente relativ detaillierte Maßstäbe für die verfahrensrechtliche Absicherung der grundrechtlichen Freiheit entwickelt. So fordert das Bundesverfassungsgericht bereits im ersten Fernsehurteil, die Veranstalter von Rundfunkdarbietungen gesetzlich so zu organisieren, „daß alle in Betracht kommenden Kräfte in ihren Organen Einfluß haben und im Gesamtprogramm zu Wort kommen können, und daß für den Inhalt des Gesamtprogramms Leitgrundsätze verbindlich sind, die ein Mindestmaß von inhaltlicher Ausgewogenheit, Sachlichkeit und gegenseitiger Achtung gewährleisten." 346 Im Falle der Zulassung privater Veranstalter müsse zudem, wie das Gericht im dritten und vierten Fernsehurteil ausführt, ein möglichst hohes Maß an Meinungsvielfalt im Rundfunk gesichert sein und dazu staatliche Aufsicht sowie ein die präventive Kontrolle der Anbieter gewährleistendes Erlaubnisverfahren normiert werden. 347 Ähnlich hohe verfassungsrechtliche Anforderungen wurden auch für die Organisation des Wissenschaftsbetriebes entwickelt: hier habe der Gesetzgeber durch geeignete freiheitliche Strukturen soviel Freiheit zu gewähren, wie dies unter Berücksichtigung der Aufgaben der Universität möglich sei. 348 Störungen und Behinderungen der Wissenschaftsfreiheit seien soweit wie möglich auszuschließen.349 Die für das verfahrensabhängige Grundrecht des Art. 16 Abs. 2 S. 2 GG entwickelten prozeduralen Maßstäbe sind dagegen weniger weitreichend. Während etwa der Erste Senat im Beschluß vom 4. li. 1979 für gerichtliche Verfahren noch die den „bestmöglichen" Grundrechtsschutz gewährleistende 344 Abweichend die Terminologie allerdings bei BVerfGE 75, 40, 66 f. Hier spricht das Gericht — soweit ersichtlich erstmals — auch in einem Fall, in dem sich das betreffende Handlungsgebot nicht auf die Abwehr von Beeinträchtigungen Dritter bezog, von staatlichen Schutzpflichten; synonym wird allerdings auch der Begriff der „sozialstaatlichen Einstandspflicht" verwandt, vgl. BVerfGE 75, 40, 62. 345 So auch BVerfGE 69, 315, 355 f. 346 BVerfGE 12, 205, 262f.; s. auch BVerfGE 31, 314, 326f.; 73, 118, 153. 347 BVerfGE 57, 295, 320, 324ff., 329f.; 73, 118, 159f. 348 BVerfGE 35, 79, 123 f. 349
BVerfGE 35, 79, 128; 55, 37, 68.
C. Die Grundrechte als Garanten realer Freiheit"
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Verfahrensgestaltung fordert 3 5 0 , hält er im Asyl-Beschluß vom 25. 2. 1981 die Gestaltung des Verwaltungsverfahrens bereits dann für grundrechtskonform, wenn sie „geeignet" ist, dem Grundrecht des Asylsuchenden zur Geltung zu verhelfen. 351 Deutlicher will der Zweite Senat in einer ebenfalls zum Asylverfahren ergangenen Entscheidung vom 20.4. 1982 aus dem Grundrecht lediglich „elementare, rechtsstaatlich unverzichtbare Verfahrensanforderungen" ableiten. 352 Geht es um die „funktionelle" Bedeutung des Verwaltungsverfahrens für die Verwirklichung der Grundrechte, ist die Rechtsprechung noch wesentlich restriktiver. So läßt es das Bundesverfassungsgericht im Mühlheim-KärlichBeschluß etwa ausdrücklich offen, „ob und inwieweit" die verfassungsrechtliche Schutzpflicht und die „Mitverantwortung des Staates" zur Anordnung der im AtomG vorgesehenen Verfahrensbeteiligung am Genehmigungsverfahren zwingen. 353 Nur die ausdrückliche Anknüpfung an die zu materiellen Schutzpflichten des Gesetzgebers entwickelten Grundsätze 354 läßt deutlich werden, daß das Bundesverfassungsgericht insoweit überhaupt von der Möglichkeit grundrechtlicher Begründung definitiver staatlicher Handlungspflichten ausgeht. 355 Im Beschluß vom 8. 2. 1983 zum Schutz des Persönlichkeitsrechts durch Gegendarstellungsrechte im Rundfunk hält der Erste Senat eine Verfahrensgestaltung lediglich dann für verfassungswidrig, wenn sie „der Rechtsausübung so hohe Hindernisse entgegensetzt], daß die Gefahr einer Entwertung der materiellen Grundrechtsposition entsteht". 356 M i t ähnlicher Zielrichtung war bereits in der Entscheidung zum Niedersächsischen Vorschaltgesetz 351 aus der Wertentscheidung des Art. 5 Abs. 3 G G das Bestehen konkreter grundrechtlicher Handlungspflichten zu solchen organisatorischen Maßnahmen abgeleitet worden, die zum Schutz des grundrechtlich gesicherten Freiraums „unerläßlich" seien.358 350 BVerfGE 52,391,408; ebenso für das Verwaltungsverfahren auch Simon / Heußner, diss, op., in: BVerfGE 53, 30, 73f., 75, 88. 351 BVerfGE 56, 216, 236, 240; s. auch BVerfGE 65, 76, 94. 352 BVerfGE 60, 253, 295. 353 BVerfGE 53, 30, 61. 354 BVerfGE 53, 30, 57 unter Hinweis auf BVerfGE 49, 89, 141 f. 355 So inzident schon BVerfGE 52,380,388 ff. sowie in der Folgezeit etwa BVerfGE 60, 348, 358; 65, 1, 44, 49; 73, 280, 296; zurückhaltender wiederum BVerfGE 77, 170, 229f.; krit. dazu Mahrenholz, diss, op., in: BVerfGE 77, 170, 234, 236ff. 356 BVerfGE 63,131,143 (Einschub vom Verf.); das daneben aufgestellte Postulat der Wahrung „effektiven Rechtsschutzes" wiederholt nur die im Mühlheim-Kärlich-Beschluß bereits entwickelten Grundsätze. 357 BVerfGE 35, 79, 114ff. 358 BVerfGE 35,79,116; das Bundesverfassungsgericht bezieht sich dabei, wie aus dem Sachzusammenhang erkennbar, nicht nur auf die „strukturell" notwendigen Regelungen zum Ausgleich konkurrierender Interessen der Hochschulangehörigen, sondern meint hier auch materielle und verfahrensrechtliche, die Grundrechtsausübung „funktionell" sichernde „Teilhaberechte" gegenüber dem Staat.
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3. Kap.: Eingriffsintensität und materieller Freiheitsschutz
Soweit in der Literatur verfahrensrechtliche Implikationen der materiellen Grundrechte nicht generell in Frage gestellt werden 359 , herrscht weitgehende Einigkeit darüber, daß die grundrechtlichen Wertentscheidungen 360 über ihre Richtlinien- oder Appellwirkung hinaus 361 grundsätzlich auch die Ableitung konkreter verfahrensbezogener Pflichten erlauben. 362 Die in der Rechtsprechung vorherrschende Tendenz, das Ausmaß grundrechtlicher Bindungen nach dem Grad der „Verfahrensabhängigkeit" des jeweiligen Grundrechts zu bestimmen, wird teils ausdrücklich, teils inzident befürwortet. 363 So beschränkt sich die Lehre im Bereich der „funktionellen" Grundrechtsrelevanz des Verfahrensrechts — ähnlich wie bei der Begründung definitiver grundrechtlicher Schutzpflichten — durchweg auf die Erarbeitung eines „verfassungsfesten Verfahrenskerns" der materiellen Grundrechte 364 , während nur wenige Autoren auch insoweit umfangreiche verfassungsrechtliche Verfahrensgebote zu entwickeln versuchen. 365 Die dabei im Anschluß an das Sondervotum zum Mühlheim-Kärlich-Beschluß erhobene, grundrechtlich begründete Forderung nach einer „bestmöglichen Grundrechtsschutz" gewährleistenden Gestaltung des Verwaltungsverfahrens 366 ist nach überwiegender Auffassung vornehmlich im Hinblick auf die damit verbundene Beschränkung der gesetzgeberischen Entscheidungsfreiheit und die Beeinträchtigung der entscheidungsbildenden Funktion des Verwaltungsverfahrens zurückzuweisen. 367 Verfas359
So von Laubinger, VerwArch. 73 (1982), 60, 83 ff.; krit. auch Ossenbühl, NVwZ 1982, 465, 467 f. 360 Konstruktiv abw. Goerlich, Grundrechte S. 42f., 163, 186ff., 199, 348f.; ders., NJW 1981,2616, der in Anknüpfung an aktionenrechtliches Denken auch die Geltendmachung der Grundrechte im Verfahren als Ausprägung der Entfaltungsautonomie ansieht und auch insoweit ihren „subjektiven" Gewährleistungsgehalt für einschlägig hält; krit. hierzu Held, Grundrechtsbezug S. 149 ff. 361 Dazu etwa Held, Grundrechtsbezug S. 180f.; der komparative Charakter der Grundrechte als Verfahrensgarantien wird auch deutlich bei Goerlich, DVB1. 1978, 362, 364. 362 Vgl. etwa Held, Grundrechtsbezug S. 175 ff.; Wahl, VVDStRL 41 (1983), 151,168 f. sowie die in den folgenden Fn. Genannten; abweichend Lorenz, AÖR 105 (1980), 623, 642 f., 647; einschränkend auch Lerche, in: Verfahren als staats- und verwaltungsrechtliche Kategorie S. 97, 103 ff. 363 Ygi e t w a di e Hervorhebung von statussichernden Verfahren bei Pitschas, in: Grundrechtsschutz und Verwaltungsverfahren S. 23, 49; Held, Grundrechtsbezug S. 164ff., 175 will für den Bereich der verfahrensabhängigen Grundrechte sogar die strengen Maßstäbe der abwehrrechtlichen Regelungskomponente anwenden. 364 Vgl. etwa Schmidt-Aßmann, Jura 1979,505, 509; Held, Grundrechtsbezug S. 181 f.; Hufen, NJW 1982, 2160, 2162f.; Wahl, in: Frühzeitige Bürgerbeteiligung S. 113, 132ff.; grundsätzlich auch Pitschas, in: Grundrechtsschutz und Verwaltungsverfahren S. 23, 49. 365 Blümel, in: Frühzeitige Bürgerbeteiligung S. 23, 38 ff.; sehr weitgehend auch Redeker, NJW 1980, 1593, 1595 ff. 366 Simon/Heußner, diss, op., in: BVerfGE 53, 30, 70, 75, 88; s. auch bereits BVerfGE 52, 391, 408. 367 Schmidt-Aßmann, Jura 1979,505,509; Laubinger, VerwArch. 73 (1982), 60,74 (Fn. 72); Starck, JuS 1981, 237, 242; Ossenbühl, DÖV 1981, 1, 8 f.; Pietzcker, VVDStRL 41
C. Die Grundrechte als Garanten realer Freiheit"
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sungsrechtlich sei nur ein nicht unterschreitbares Minimum an prozeduralem Grundrechtsschutz geboten. 368 Dabei soll es sich um diejenigen verfahrensrechtlichen Sicherungen handeln, deren der Grundrechtsträger zur wirksamen Durchsetzung seiner grundrechtlich geschützten Güter unbedingt bedarf. 369 3. Grundrechte und „,mittelbar-faktische"
Beeinträchtigungen
Die aus der „objektiven" Gewährleistungskomponente der Grundrechte folgenden Schutz- und Verfahrensgarantien weisen aus heutiger verfassungsrechtlicher Sicht auffallige Gemeinsamkeiten auf. Die grundrechtlichen Wertungs- und Gestaltungsmaßstäbe erschöpfen sich nicht in der Vorgabe komparativer Entscheidungsmaximen, sondern begründen — unter bestimmten qualifizierten Voraussetzungen — definitive verfassungskräftige Handlungsgebote. Fragt man nach den Bedingungen für diese Verdichtung, weisen Rechtsprechung und Literatur überwiegend auf die Intensität der drohenden tatsächlichen Beeinträchtigung des jeweiligen Grundrechts. Die Entstehung grundrechtlicher Handlungspflichten wird durchweg bejaht, wenn die tatsächliche Ausübung oder Durchsetzung der grundrechtlich gewährten Freiheit oder der Bestand des grundrechtlich geschützten Rechtsguts andernfalls in hohem Maße beschränkt oder gefährdet wäre. Dieser Ansatz ist nicht nur im Rahmen der Begründung staatlicher Schutzpflichten gegenüber grundrechtsbeeinträchtigenden Handlungen Dritter und bei der Ableitung grundrechtlicher Pflichten zu grundrechtsfreundlicher Verfahrensgestaltung vorherrschend. Er durchzieht auch eine Reihe von Stellungnahmen von Rechtsprechung und Literatur zur verfassungsrechtlichen Bewältigung mittelbar-faktischer Grundrechtsbeeinträchtigungen. Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist insoweit allerdings wenig ertragreich, ist das Gericht doch überwiegend den traditionellen Kategorien des Eingriffs- und Schrankendenkens verhaftet und verkennt deren auf die Abwendung imperativer staatlicher Beeinträchtigungen bezogenen Zuschnitt. 370 So sieht sich das Bundesverfassungsgericht denn auch häufig gezwungen, das mittelbar-faktische Beeinträchtigungen auslösende Staatshan(1983), 193, 209; Goerlich, DÖV 1982, 631, 633f.; Held, Grundrechtsbezug S. 180f.; Beyerlin, NJW 1987, 2713, 2715. 368 Goerlich, Grundrechte S. 204ff., 211, 215; ders., NJW 1981, 2616; Hufen, NJW 1982, 2160, 2163; Dolde, NVwZ 1982, 65, 70; Grimm, NVwZ 1985, 865, 867; Beyerlin, NJW 1987, 2713, 2716. 369 Schmidt-Aßmann, Jura 1979, 505, 509; Held, Grundrechtsbezug S. 181 f., 183 f.; v. Mutius, NJW 1982, 2150, 2156. Das grundrechtlich geforderte „Minimum" an Verfahrensrechten ist dabei grundrechts- und sachbereichsspezifisch zu bestimmen; exemplarisch zur Öffentlichkeitsbeteiligung am atomrechtlichen Genehmigungsverfahren Gerhardt/ Jacob, DÖV 1986, 258, 267 ff. 370 Vgl. ausführlich oben A I 2.
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3. Kap.: Eingriffsintensität und materieller Freiheitsschutz
dein entweder — wie im Rahmen des Art. 12 Abs. 1 GG unter Berufung auf das Fehlen einer angeblich erforderlichen „berufsregelnden Tendenz" — aus dem Schutzbereich des an sich betroffenen Grundrechts vollständig auszunehmen371 oder — wie in einer neueren Entscheidung zum Nachzug ausländischer Ehepartner—die dem „objektiven" Regelungsgehalt der Grundrechte unterfallenden Beeinträchtigungen in vollem Umfang den für die abwehrrechtliche Komponente der Grundrechte entwickelten Instrumentarien zu unterwerfen. 372 M i t einem solchen „Alles-oder-Nichts" bei der Bestimmung der grundrechtlichen Schutzwirkung wird nicht nur die Möglichkeit einer differenzierenden Subsumtion nicht-imperativer Beeinträchtigungen unter den Schutzbereich des betroffenen Grundrechts ausgeschlagen. Das Konzept des Bundesverfassungsgerichts, zwischen „objektivem" wertsetzendem Gehalt und subjektivem grundrechtlichem Abwehrrecht zu unterscheiden, Inhalt und Wirkkraft beider Verfassungsvorgaben jedoch bis zur Identität anzugleichen, erscheint auch konstruktiv widersprüchlich und ist geeignet, das auf der Grundlage der Wertordnungslehre insgesamt nur unzureichend erklärbare Verhältnis von „subjektivem" und „objektivem" Grundrecht 373 vollends zu verunklaren. 374 Einen anderen Ansatz legt das Bundesverfassungsgericht allerdings in der im Schnittfeld von Teilhabe- und Abwehrfunktion der Grundrechte stehenden, zur Privatschulförderung ergangenen Entscheidung zugrunde. 375 Das Gericht geht davon aus, daß die Ausübung der Privatschulfreiheit im wesentlichen durch das Zusammenwirken zweier Umstände notleidend geworden ist: zum einen erhebe Art. 7 Abs. 4 S. 3 Halbs. 2 GG die allgemeine Zugänglichkeit von Privatschulen zur Genehmigungsvoraussetzung und untersage damit eine Sonderung der Schüler nach den Besitzverhältnissen der Eltern. Zum anderen verschärfe die Anhebung des Ausstattungsstandards vergleichbarer öffentlicher Schulen und die Verbesserung der staatlichen Lehrerbesoldung die in Art. 7 Abs. 4 S. 3 Halbs. 1 und S. 4 GG aufgestellten Gleichwertigkeitsanforderungen. Angesichts der mit dieser Entwicklung auch für die Privatschulen verbundenen Kostensteigerung sei die Erhebung kostendeckender Schulgelder unter Wahrung der allgemeinen Zugänglichkeit der Privatschule nicht mehr möglich. Die „objekti371 Vgl. etwa BVerfGE 13,181,185 f.; 37,1,17; 42, 374, 384; 47,1, 21; 49, 24, 47 f.; 52, 42, 54; 74, 129, 149; vgl. auch BVerfGE 10, 354, 362f.; 31, 255, 265f. 372 Vgl. BVerfGE 76, 1, 49ff.: das Gericht hält — insoweit zutreffend — den „objektiven", wertentscheidenden Gehalt des Art. 6 Abs. 1 GG als Kontrollmaßstab für die Zuzugsregelungen für einschlägig. Es spricht zugleich jedoch von „Eingriffen" in die Freiheitssphäre und mißt die betreffenden Regelungen anhand des den subjektiven Freiheitsschutz steuernden Übermaßverbots. 373 Dazu ausführlich oben Β I 4. 374 Weitere gegen eine Erweiterung des „Eingriffs- und Schrankendenkens" bestehende Bedenken sind bereits oben A I 2 ausführlich dargestellt worden. Im Ergebnis steht die Position des Bundesverfassungsgerichts dem von Alexy vertretenen Verständnis der Grundrechte als ^Optimierungsgebote" nahe, vgl. dazu ausführlich oben Β II 1,2. 375 BVerfGE 75, 40, 61 ff.; hierzu Hund, in: FS für Zeidler II S. 1445 ff.
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ve" Verfassungsgarantie des Art. 7 Abs. 4 GG begründe deshalb eine staatliche Pflicht zur materiellen Förderung von Privatschulen. 376 Einer kostendeckenden Selbstfinanzierung der Privatschulen steht nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts also vor allem der steigende Finanzaufwand für das staatliche Schulwesen entgegen, der — vermittelt durch die in Art. 7 Abs. 4 S. 3 und S. 4 GG enthaltenen Genehmigungsvoraussetzungen — auch die Rahmenbedingungen des Privatschulbetriebs bestimmt. Wenn das Gericht meint, der Staat müsse sicherstellen, „daß die Verwirklichung seiner bildungs- und sozialpolitischen Ziele nicht auf Kosten der Lebensfähigkeit des privaten Ersatzschulwesens geht" 3 7 7 , trifft es damit eine Aussage über den grundrechtlichen Schutz vor mittelbar-faktischen, freiheitsmindernden Einwirkungen. Dem zitierten Urteil zufolge soll allerdings nicht jede staatliche Einwirkung auf die Bedingungen der Ausübung des fraglichen Grundrechts zur Begründung staatlicher Schutz- und Förderungspflichten ausreichen. Das Gericht geht vielmehr — in Anknüpfung an seine bereits referierte Rechtsprechung zum Schutz gegenüber freiheitsmindernden Einwirkungen Dritter — auch hier davon aus, daß sich das grundrechtliche Schutzpostulat erst dann zu konkreten Handlungspflichten verdichte, „wenn andernfalls der Bestand des Ersatzschulwesens als Institution evident gefährdet wäre". 3 7 8 Schutz vor mittelbarer staatlicher Einwirkung auf die Grundrechtsausübung bietet Art. 7 Abs. 4 GG danach nur „bis zur Höhe dieses Existenzminimums der Institution." 3 7 9 Nur die Beschneidung eines „Minimalstandards" realer Betätigungsfreiheit ist hiernach zur Begründung definitiver staatlicher Handlungspflichten geeignet. Damit nähert sich das Bundesverfassungsgericht der in der verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung und der sie begleitenden Literatur zur Reichweite des verfassungsrechtlichen Schutzes vor mittelbaren staatlichen Grundrechtsbeeinträchtigungen seit langem herrschenden Auffassung an. Ausgangspunkt der Stellungnahmen in Rechtsprechung und Wissenschaft ist die bereits oben gewonnene Erkenntnis, daß die Einbeziehung eines jeden als eigenes geltend gemachten Interesses in den subjektiven Grundrechtsschutz keine sachgerechte Zuordnung des Risikos interessengemäßer und störungsfreier Grundrechtsausübung zuläßt 3 8 0 und der grundrechtliche Schutz „realer Freiheit" deshalb der durch nachrangiges Recht umzusetzenden „objektiven" grundrechtlichen Regelungskomponente unterfällt. 381 Bei einem an Demokra376 377 378 379
BVerfGE BVerfGE BVerfGE BVerfGE
380 V g l 381
75, 40, 62, 65, 66 f. 75, 40, 66. 75, 40, 67. 75, 40, 68. e t w a ßVerwGE 54, 211, 221; s. ausführlich oben A I 2 b aa (1) (a), (b).
Vgl. etwa Gallwas, Faktische Beeinträchtigungen S. 62ff.; Jarass, AöR 110 (1985), 363,382,395; Erichsen, Jura 1987,367,368; ders., in: Handbuch des Staatsrechts VI, § 152 Rdn. 78.
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3. Kap.: Eingriffsintensität und materieller Freiheitsschutz
tie- und Rechtsstaatsprinzip orientierten Verständnis des Gesetzesvorbehalts 382 obliegt diese Umsetzung primär dem Gesetzgeber. 383 Es ist also Aufgabe des einfachen Rechts, die Rechtssphäre des Bürgers bei der Grundrechtsausübung auszugestalten384 und damit die angesichts des Fehlens eines allgemeinen Gesetzesvollzugsanspruchs notwendig werdende Bestimmung darüber zu treffen, ob und welche grundrechtsbezogenen Interessen an staatlichem Verhalten als schutzwürdig anzusehen und zu subjektiven Rechten des Bürgers auszuformen sind. 385 Ist die Zuordnung „realer Freiheitschancen" vorrangig Sache des Gesetzgebers, kann die Ersetzung oder Durchbrechung einer gesetzgeberischen Entscheidung durch den Rückgriff auf verfassungsunmittelbare Vorgaben nur unter besonderen, qualifizierten Voraussetzungen zulässig sein. 386 Hierbei wird in der Lehre vornehmlich darauf abgestellt, ob eine der direkten Verhaltenssteuerung gleichkommende Beeinträchtigung der grundrechtlichen Freiheitsausübung vorliegt. 387 Dafür soll neben einer qualifizierten Erfolgsbeziehung zwischen staatlichem Ausgangsakt und Folgewirkung vor allem das Ausmaß der Einwirkung auf die mit dem Freiheitsgebrauch verfolgten Interessen maßgebend sein. 388 Ist die mittelbare staatliche Einwirkung danach erst bei Überschreiten einer bestimmten Intensitätsschwelle grundrechtsrelevant 389 , erfaßt der „objektiv-grundrechtliche" Freiheitsschutz wiederum nur einen „Minimalstandard" realer Freiheit. Auch die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts orientiert sich im Grundsatz an ähnlichen Kriterien: so werden mittelbar-faktische Beeinträchtigungen im Rahmen des Art. 14 Abs. 1 GG nur bei „schwerer und unerträglicher Betroffenheit" als grundrechtsrelevant anerkannt 390 , soll es im 382
Dazu BVerfGE 33, 125, 158; 34, 165, 192f.; 40, 237, 248f.; 45, 400, 417f.; 47, 46, 78 ff.; 49, 89,126 f.; 57,295,320,326 f.; 58,257,268 ff.; 77,170,230 f.; aus der Literatur vgl. v. Arnim, DVB1. 1987,1241, 1243 f.; Kloepfer, JZ 1984, 685ff.; Pietzcker, JuS 1979, 710, 71 Iff. 383 S. etwa BVerfGE 39, 316, 326; Erichsen, Verwaltungsrecht S. 148; Jarass, AöR 110 (1985), 363, 378ff., 395f.; Rupp-v. Brünneck/Simon, diss.op, in: BVerfGE 39, 1, 71 f. 384 Dazu auch BVerwGE 47, 194, 198; 54, 211, 220f.; 60, 297, 301, 305ff. und die Nachweise oben Fn. 69. 385 Vgl. bereits in diesem Kapitel A I 2 b aa (1) (b), bb (2). 386 Kirchhof, Verwalten S. 49; Krebs, Kontrolle S. 91; Erichsen, Jura 1987, 367, 369; ders., in: Handbuch des Staatsrechts VI, § 152 Rdn. 79; Jarass, DVB1. 1976, 732, 734 f. 387 Erichsen, Jura 1987, 367, 369; ders., in: Handbuch des Staatsrechts VI, § 152 Rdn. 80; Sodan, DÖV 1987, 858, 863; Ramsauer, VerwArch. 72 (1981), 89,96ff.; Jarass, DVB1. 1976, 732, 734f.; Kirchhof, Verwalten S. 49f. 388 So etwa Ramsauer, VerwArch. 72 (1981), 89,103 ff.; Erichsen, Jura 1987,367,369; s. auch Kloepfer, Grundrecht S. 20f. 389 Kirchhof, Verwalten S. 49f.; Erichsen, in: Handbuch des Staatsrechts VI, § 152 Rdn. 80; Jarass, NJW 1983, 2844, 2847; krit. dag. Schulte, DVB1. 1988, 512, 517. 390 BVerwGE 32,173,178 f.; 36, 248, 251; 44, 244, 246ff.; 50, 282, 287f.; 66, 307, 309.
C. Die Grundrechte als Garanten realer Freiheit"
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Rahmen des Art. 2 Abs. 2 GG auf die Wesentlichkeit der Gesundheitsbeeinträchtigung und für Art. 12 Abs. 1 GG auf die Erheblichkeit der Beeinträchtigung der Berufsausübung ankommen. 391 Auch einen Eingriff in das Art. 2 Abs. 1 GG zugeordnete Recht zur wirtschaftlichen Betätigung nimmt das Bundesverwaltungsgericht nur an, wenn die Veränderung der Wettbewerbsbedingungen die Fähigkeit zur Teilnahme am Wettbewerb unerträglich oder zumindest ernstlich beeinträchtigt. 392 Soweit Grundrechtsschutz hiernach etwa im Rahmen des Art. 14 Abs. 1 GG bei schwerer und unerträglicher Beeinträchtigung des Eigentums gewährt wird, soll dies nicht eine entsprechende Geltung des traditionellen Eingriffsvorbehalts und des Übermaßverbots nach sich ziehen, wie dies bei einer Erweiterung des subjektiven grundrechtlichen Schutzbereichs im Sinne der bereits oben abgelehnten Ansätze 393 anzunehmen wäre. M i t dem Vorliegen der Voraussetzungen gesetzesunabhängigen Grundrechtsschutzes wird in Literatur und Rechtsprechung vielmehr sogleich die Feststellung eines verfassungsrechtlichen Verbots derartiger Beeinträchtigungen verbunden. Grundrechtsrelevant ist ausschließlich eine Beeinträchtigung von enteignender Wirkung, 394 Unterhalb dieser Erheblichkeitsschwelle ergeben sich aus dem Grundrecht demgegenüber keine Schutzwirkungen; so kann das Eigentumsrecht des Art. 14 Abs. 1 GG etwa gegenüber einer rechtswidrigen Baugenehmigung nicht eingewandt werden, wenn die Beeinträchtigung des Nachbarn die erforderliche Intensität nicht aufweist. 395 Grundrechtsrelevanz der Beeinträchtigung und Grundrechtsverletzung fallen danach zusammen. 396 Auch der Behandlung mittelbar-faktischer Grundrechtsbeeinträchtigungen dürfte demnach die Vorstellung zugrundeliegen, daß sich der „objektivgrundrechtliche" Auftrag zur Umsorgung individueller Freiheitsausübung bei schwerwiegender Beeinträchtigung zu einem definitiven grundrechtlichen Verhaltensgebot verdichtet, der „objektiv-grundrechtliche" Freiheitsschutz sich 391
BVerwGE 54, 211, 222 f.; BVerwG NVwZ 1984, 514, 515; zusammenfassend BVerwGE 71, 183, 191 f.; s. auch BVerwG JZ 1989, 237. 392 BVerwGE 30, 191, 198; BVerwG NJW 1978, 1539f.; BVerwGE 65, 167, 174; inzident auch BVerwGE 60, 154, 160f.; zusammenfassend Lübbe-Wolff, Grundrechte S. 293 ff.; s. auch jüngst BVerwG NJW 1989, 2272, 2273 zu Art. 4 Abs. 1 GG. 393 Vgl. oben A I 2. 394 BVerwGE 32, 173, 179; 50, 282, 286 ff.; BVerwG DVB1. 1969, 213, 214; BVerwG DVB1. 1978, 614, 616; BVerwG, Buchholz 406.19 Nr. 55 S. 33. 395 Vgl. BVerwGE 32, 173, 179; BVerwG DVB1. 1978, 614, 617; BVerwG, Buchholz 406.19 Nr. 55 S. 33; dazu etwa Schwerdtfeger, NVwZ 1982, 5, 7; unterhalb der Schwelle der Verfassungserheblichkeit wird ausschließlich mit dem einfachgesetzlichen Gebot der Rücksichtnahme argumentiert, vgl. Wahl, JuS 1984, 577, 583 ff.; BVerwGE 68, 58, 61; BVerwG DVB1.1987,476,477f.; BVerwG, Buchholz 406.19 Nr. 66 S. 48 f.; abw. insoweit nur Robbers, Sicherheit S. 182 f. 396 Krebs, in: FS für Menger S. 191, 206; Ramsauer, Beeinträchtigungen S. 183f.; R. Schmidt, NJW 1969, 2162 f.
208
3. Kap.: Eingriffsintensität und materieller Freiheitsschutz
also auf die beschränkt. 397
Gewährung
eines
Minimalstandards
„realer
Freiheit"
4. Die Grundrechte als Untermaßverbot Der zu den skizzierten Anwendungsfallen der „objektiven" grundrechtlichen Regelungskomponente erhobene Befund ergibt ein im Grundsatz homogenes Bild: die grundrechtlichen Wert- und Gestaltungsmaßstäbe vermögen nach dem derzeitigen Stand verfassungsrechtlicher Erkenntnis über ihre Wirkkraft als komparative Rechtssätze hinaus auch definitive verfassungskräftige Verhaltensgebote zu begründen. Voraussetzung hierfür ist das Überschreiten einer bestimmten Intensitätsschwelle der durch die fragliche Einwirkung vermittelten grundrechtlichen Betroffenheit. 398 Wird der grundrechtlich geschützte Minimalstandard betroffen, ist die Beachtung der auf die Herstellung grundrechtsbegünstigender Bedingungen zielenden grundrechtlichen Wertvorgabe strikt geboten. 399 Löst das Unterschreiten eines bestimmten, die Verwirklichung des verfassungsrechtlich intendierten Grundrechtsschutzes in Frage stellenden Maßes „realer Freiheit" bindende grundrechtliche Verhaltensvorgaben aus, kommt dem „objektiven" Regelungsgehalt der Grundrechte insoweit die Funktion eines verfassungsrechtlichen „Untermaßverbots 4' zu. Umfang und Reichweite der strikten Inpflichtnahme der Grundrechtsadressaten sind dabei — wie etwa die abgestufte Wirkkraft der Grundrechte als Verfahrensgarantien erweist — nicht abstrakt bestimmbar, sondern von der Art der Gefahrdung und den für die jeweiligen grundrechtlich geregelten Sachverhalte geltenden bereichsspezifischen Bedingungen abhängig. Ein Verständnis der grundrechtlichen Freiheitsgewährleistungen als Garanten eines Mindeststandards tatsächlicher Grundrechtsverwirklichung ist auch außerhalb der um einzelne Anwendungsfalle der „objektiven" grundrechtlichen Regelungskomponente geführten Diskussion durchaus verbreitet. 400 Grundlage entsprechender Auffassungen in der Literatur ist dabei allerdings durchweg die Feststellung einer entsprechenden tatsächlichen Entwicklung der Verfassungsinterpretation. Die verfassungsrechtsdogmatische Begründung der induktiv gewonnenen Thesen bleibt dagegen vage. 397
Vgl. etwa Jarass, AöR 110 (1985), 363, 382. Dabei kann es sich um eine Minderung „realer Freiheit" oder um eine entsprechend intensive, nicht auf rechtlicher oder unmittelbar-tatsächlicher staatlicher Einwirkung beruhende faktische Beeinträchtigung anderer grundrechtlich geschützter Rechtsgüter handeln. 399 Sie steht dem Grundsatz praktischer Konkordanz entsprechend allerdings unter dem Vorbehalt der Wahrung des verfassungsfesten Minimums anderer Grundrechte. 400 Vgl. etwa Jarass, AöR 110 (1985), 363, 382f.; Canaris, AcP 184 (1984), 201, 228; ders., JuS 1989,161,163; Schmitt Glaeser, DÖV 1980,1,4ff.; Grimm, NVwZ 1985, 865, 869; vgl. auch Schuppert, Grenzen S. 15. 398
C. Die Grundrechte als Garanten realer Freiheit"
209
Verfassungstextlich ist die auf Sicherung eines Mindeststandards rechtlicher Grundrechtsverwirklichung gerichtete Regelungsintention des Grundgesetzes in Art. 19 Abs. 2 G G verankert. Diese Vorschrift weist — sei sie deklaratorisch, sei sie konstitutiv 4 0 1 — nicht nur auf das Gebot angemessener und abgewogener Grundrechtsbegrenzung, sondern gibt darüber hinaus, folgt man insoweit dem Bundesverfassungsgericht 402 und der ganz überwiegenden Lehre 4 0 3 , auch einen Hinweis auf die dem Zugriff der Staatsgewalt gezogenen „letzten Grenzen". Sie bezeichnet nach Wortlaut und Entstehungsgeschichte404 einen Bereich, in dem der Schutzzweck der Grundrechtsgewährleistung unabhängig von der Formulierung des jeweiligen Gesetzesvorbehalts einer allein auf gesetzgeberischer Zwecksetzung beruhenden rechtlichen oder unmittelbar tatsächlichen Beeinträchtigung des Grundrechts entgegensteht.405 Schon aus logischen Gründen können damit indes — wie in der Diskussion um Art. 19 Abs. 2 GG wohl gelegentlich übersehen — diejenigen Einschränkungen auch des Kernbereichs rechtlicher Freiheit nicht ausgeschlossen sein, in denen sich dem Gebot praktischer Konkordanz entsprechend 406 seinerseits ein Mindeststandard konfligierender Grundrechtsvorgaben verwirklicht. 407 Das Grundgesetz zielt nach zutreffendem Verständnis auf die Herstellung einer die effektive Verwirklichung grundrechtlicher Freiheit ermöglichenden Ordnung. Die Grundrechte beziehen deshalb — wie gezeigt — auch tatsächliche Gefahrdungen der Grundrechtsverwirklichung in ihren Schutzgehalt ein, die auf innergesellschaftliche Machtverteilung und die Aktivitäten des mit erweitertem Handlungsauftrag versehenen Sozialstaats zurückzuführen sind. 4 0 8 Folgt das Grundgesetz dabei der Erkenntnis, daß die Durchsetzung seiner Gestaltungs401 Aus Sicht beider Auffassungen ist die Annahme einer strikten Minimalgarantie nicht ausgeschlossen; vgl. einerseits v. Mangoldt/ Klein, Art. 19 Anm. V 4 und K. Hesse, Grundzüge Rdn. 332; andererseits Stein, Staatsrecht, § 19 III. 402 BVerfGE 7, 377, 411; 27, 344, 351; 31, 58, 69; 34, 238, 245; 61, 82, 113; ohne Erwähnung des Art. 19 Abs. 2 GG auch BVerfGE 35, 35, 39; anders BVerfGE 22, 180, 219. 403 Stein, Staatsrecht, §19 III; Hendrichs, in: v. Münch I, Art. 19 Rdn. 25; v. Mangoldt /Klein, Art. 19 Abs. V 4 c; Maunz/Zippelius, Staatsrecht, § 20 I 3 c; Herbert, EuGRZ 1985, 321, 330 ff.; für ein relativierendes Verständnis des Art. 19 Abs. 2 GG etwa v. Hippel, Grenzen S. 47 ff.; ein „eingriffsfester Kern" des Grundrechts kann sich auch aus Sicht eines „relativen" Wesensgehaltsverständnisses ergeben, der Streit zwischen „absoluter" und „relativer" Theorie hat insoweit wenig Erkenntniswert, s. Erichsen, Staatsrecht I S. 201; Alexy, Theorie S. 271 f.; Häberle, Wesensgehaltgarantie S. 58ff., 64, 326f.; K. Hesse, Grundzüge Rdn. 332 f. 404 S. v. Doemming/Füßlein/Matz, JöR 1 (1951), 177ff.; hierzu Maunz, in: Maunz/ Dürig, Art. 19 Abs. II Rdn. 5; Erichsen, Staatsrecht I S. 197. 405 So auch L. Schneider, Schutz S. 181. 406 Vgl. dazu oben Fn. 125. 407 BVerfGE 22,180,219; Herbert, EuGRZ 1985, 321, 333; Stein, Staatsrecht, § 19 III; abw. wohl L. Schneider, Schutz S. 179ff. 408 Vgl. oben A l l . 14 Scherzberg
210
3. Kap.: Eingriffsintensität und materieller Freiheitsschutz
maßstäbe in der sozialen Wirklichkeit nicht nur auf die Abwehr rechtlicher Zugriffe des Staates, sondern in gleichem Maße auch auf seine positive Inpflichtnahme zur Umhegung der tatsächlichen Rahmenbedingungen der Grundrechtsverwirklichung angewiesen ist, entspricht es diesem Befund, neben der Wahrung eines „rechtlichen" Minimalstandards auch die Garantie eines Minimums an grundrechtsfreundlicher Ausgestaltung der tatsächlichen Bedingungen individueller Freiheitsverwirklichung, also einen Minimalstandard „realer Freiheit", in den verfassungskräftigen Kernbereich grundrechtlicher Gewährleistungen aufzunehmen. Legt die Regelungsintention der Grundrechte somit nahe, die bislang allein im Hinblick auf ihre Steuerungswirkung gegenüber {individual-) rechtlichen Einschränkungen der Grundrechte betrachtete verfassungsrechtliche Minimalgarantie des Art. 19 Abs. 2 GG auch für den „objektiven" grundrechtlichen Freiheitsschutz nutzbar zu machen 409 , steht diese Erkenntnis in auffalliger Parallele zu einer in der Literatur heute zunehmend verfolgten Tendenz, Art. 19 Abs. 2 GG nicht nur als Schutz der dem einzelnen zustehenden subjektivgrundrechtlichen Berechtigungen, sondern auch als Garantie der „objektiven" Grundrechtsnorm zu verstehen. 410 Soll Art. 19 Abs. 2 GG allerdings neben den Regelungen der Art. 1 Abs. 3, 79 Abs. 3 GG überhaupt von eigenständigem Aussagegehalt sein, kann es dabei nicht um die Sicherung der „Existenz der Grundrechtsvorschrift" oder ihrer Befolgung 411 , sondern nur um die Gewährleistung ihrer Umsetzung in der sozialen Wirklichkeit gehen. 412 Setzt man zudem mit einigen Vertretern eines (auch) objektiven Verständnisses des Art. 19 Abs. 2 GG den Begriff des Wesensgehalts in diesem Sinne mit dem „Grundgedanken" oder dem „Zweck" des Grundrechts gleich 413 , läßt dies den Bezug zwischen 409 Dem entspricht es auch, wenn Literatur und Rechtsprechung zur Bestimmung der Schutzintensität der grundrechtlichen Wert- und Gestaltungsmaßstäbe „eine am Eingriffsmodell orientierte" Betrachtung anstellen — etwa Erichsen, in: Handbuch des Staatsrechts VI, § 152 Rdn. 84; s. auch BVerwGE 54, 211, 223 — und das Bundesverfassungsgericht im Mühlheim-Kärlich-Beschluß bei der Beurteilung verfahrensrechtlicher Vorkehrungen zur Effektivierung des Grundrechtsschutzes aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG „nicht weniger strenge Maßstäbe" anlegen will „als bei der Prüfung staatlicher Eingriffsgesetze", vgl. BVerfGE 53, 30, 58. 410 S. etwa Erichsen, Staatsrecht I S. 200; K. Hesse, Grundzüge Rdn. 334; s. auch Herzog, in: FS für Zeidler II S. 1415, 1423ff.; Häberle, Wesensgehaltgarantie S. 236ff.; Hendrichs, in: v. Münch I, Art. 19 Rdn. 24; v. Mangoldt/ Klein, Art. 19 Anm. V 2 c; soweit die Letztgenannten Art. 19 Abs. 2 GG allerdings ausschließlich auf die Wahrung der objektiven Grundrechtsnorm beziehen wollen, steht dem nicht nur der Wortlaut und die systematische Stellung der Wesensgehaltsgarantie im Rahmen des die Mechanismen zum Schutz individueller Rechtspositionen regelnden Art. 19 GG entgegen, sondern wird damit auch die primär subjektive, individualschützende Zielsetzung der Grundrechtsgewährleistungen als solcher vernachlässigt; zu Recht krit. Herbert, EuGRZ 1985, 321, 324; A. Kaufmann, ARSP 70 (1984), 384, 388f.; Alexy, Theorie S. 268. 411 So aber etwa Hendrichs, in : v. Münch I, Art. 19 Rdn. 23 f. 412 In diesem Sinne etwa K. Hesse, Grundzüge Rdn. 332; Erichsen, NJW 1976, 1721, 1722, 1724.
C. Die Grundrechte als Garanten „realer Freiheit"
211
Wesensgehalt und Wahrung der „objektiven" grundrechtlichen Wertentscheidung deutlich erkennen. Ist deren Verwirklichung nicht allein auf die Abstinenz von staatlichem Eingriff, sondern auch auf eine positive Ausgestaltung und freiheitliche Ordnung der Lebensverhältnisse angewiesen, ist danach die Einbeziehung eines Minimalstandards „objektivrechtlich" gestalteter und gesicherter „realer Freiheit" in das strikte Schutzgebot des Art. 19 Abs. 2 G G unabweisbar. 414 Art. 19 Abs. 2 G G ist damit ein ausdrücklicher verfassungsrechtlicher Hinweis auf die (auch) klassiflkatorische Wirkkraft „objektiver" grundrechtlicher Wertungs- und Gestaltungsmaßstäbe zu entnehmen. Diese Vorschrift vermag deshalb einen hinreichenden verfassungsrechtsdogmatischen Anknüpfungspunkt für die in Rechtsprechung und Lehre entwickelte definitive grundrechtliche Garantiewirkung zugunsten eines Minimalstandards „realer Freiheit abzugeben. III. „Objektiv-grundrechtlicher" Freiheitsschutz und subjektives Grundrecht Ist der sachliche Schutzgehalt der „objektiven" grundrechtlichen Wertungsund Gestaltungsmaßstäbe damit hinlänglich bestimmt, bleibt zur Feststellung des materiellrechtlichen Stellenwerts des Merkmals der Eingriffsintensität für die verfassungsgerichtliche Kontrolle nach dem Zusammenhang zwischen einem Verstoß gegen derartige „objektivrechtliche" Verhaltensvorgaben und dem Vorliegen einer Verletzung der grundrechtlich geschützten Individualsphäre zu fragen. Dabei geht es nicht nur um eine Absicherung der hier entwickelten Konzeption eines grundrechtlichen Schutzes „realer Freiheit" gegenüber den den herkömmlichen Ansätzen zum Verständnis des „objektiven" Grundrechtsgehalts eingangs entgegengehaltenen Einwänden. 415 Die Bestimmung des Verhältnisses von subjektiver und „objektiver" Grundrechtskomponente wird in einer auf die Kontrolle im Verfahren der Urteilsverfassungsbeschwerde bezogenen Untersuchung auch durch den individuellen Rechtsschutzcharakter dieser Rechtsschutzform gefordert. 416 Die Verfassungsbeschwerde ist in §§ 90 ff. BVerfGG als Rechtsbehelf zum Schutz individueller Grundrechte und nicht als 413 Herzog, in: FS für Zeidler II S. 1415, 1425 in Anknüpfung an Krüger, DÖV 1955, 597, 601; ähnlich Stein, Staatsrecht, § 19 III. 414 Zu eng deshalb Erichsen, Staatsrecht I S. 199 f., der aus dem Bereich der „objektiven" grundrechtlichen Schutzfunktionen lediglich den Teilbereich der Institutsund institutionellen Garantien herausgreift; weitergehend Häberle, Wesensgehaltgarantie S. 370,375, der etwa auch die verfahrensrechtliche Durchsetzbarkeit der Grundrechte und ihre teilhaberechtliche Komponente seinem — allerdings „multifunktionalen" — Begriff des Wesensgehalts zuordnet. 415 S. oben Β I, II. 416 Dazu vertiefend im 4. Kapitel Β II 1 d aa. 14*
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3. Kap.: Eingriffsintensität und materieller Freiheitsschutz
objektives Beanstandungsverfahren ausgestaltet und wird von Art. 93 Abs. 1 Nr. 4 a GG entsprechend garantiert. 417 Sie ist deshalb nach zutreffender Auffassung auch nur bei Verletzung der grundrechtlich geschützten Individualsphäre des Beschwerdeführers begründet. 418 Verstöße gegen „objektive" Wertund Gestaltungsmaßstäbe können demnach zur Aufhebung einer fachgerichtlichen Entscheidung nur führen, wenn und soweit ein derartiger Grundrechtsverstoß auch eine subjektive Grundrechtsverletzung vermittelt. 1. Subjektives und objektives Recht .Bei der Suche nach der zutreffenden Bestimmung des Verhältnisses von subjektivem und „objektivem" grundrechtlichem Regelungsgehalt fallen zu^ nächst Unsicherheiten in der herkömmlichen Zuordnung beider Elemente auf: während das Bundesverfassungsgericht die Funktion „objektiver Prinzipien" teilweise in der Verstärkung der Geltungskraft der Grundrechte als individuelle Rechte sieht, folgt in einigen Entscheidungen die individuelle Berechtigung akzessorisch der „objektiven" Verfassungspflicht und stehen in anderen „objektivrechtlicher" und subjektiver Grundrechtsgehalt "nebeneinander". 419 Insoweit dürften die Erkenntnisse der allgemeinen Rechtslehre über das Verhältnis von subjektivem und objektivem Recht auch für die Grundrechte weiterführend sein. Subjektive Rechte sind danach stets nach Maßgabe der objektiven Rechtsordnung zu bestimmen. 420 Ihre Grundlage ist die jedem Rechtssatz innewohnende verbindliche Geltungsanordnung, seine auf Herbeiführung bestimmter Rechtsfolgen gerichtete Wirkkraft. 4 2 1 Essentielles Element 417 So kann es der Verfassungsbeschwerde wegen des Fehlens der Beschwerdebefugnis gem. § 90 Abs. 1 BVerfGG bereits an der Zulässigkeit ermangeln, wenn die Verletzung eines individuellen Grundrechts von vornherein ausgeschlossen erscheint; vgl. vor allem BVerfGE 45, 63, 74f.; ferner BVerfGE 42, 312, 322f.; 49,1, 8; 52, 303, 327f.; 59, 63, 81 f.; 70, 35, 50; 74, 358, 369; 77, 170, 220; dazu Zuck, Verfassungsbeschwerde Rdn. 560 ff.; Schiaich, Bundesverfassungsgericht S. 105 ff. 418 Erichsen, Staatsrecht I S. 8; ders., in: Studium und Examen S. 214, 231; E. Klein, DÖV 1982, 797, 804; Papier, in: Bundesverfassungsgericht und Grundgesetz I S. 432, 433 f.; wohl auch Schmidt-Bleibtreu, in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Ulsamer, § 95 Rdn. 25; diese Ansicht dürfte auch der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zugrundeliegen, das zwar für sich in Anspruch nimmt, eine zulässige Verfassungsbeschwerde unter jedem verfassungsrechtlichen Gesichtspunkt zu prüfen — vgl. etwa BVerfGE 17,252,258; 42,312, 325 f.; 54,53,66 f.; 76,1,74—, andererseits aber gerade bei der Kontrolle anhand „objektiver" grundrechtlicher Wertmaßstäbe um eine Rückbindung
des festgestellten Verfassungsverstoßes an eine gleichzeitige
Verletzung
des subjektiven
Grundrechts der Beschwerdeführer bemüht ist, vgl. etwa BVerfGE 7, 198, 206f., 230; 35, 79, 148; 50, 290, 336f.; 76, 1, 70, 82; dazu auch Träger, in: FS für Geiger S. 762, 780f. 419 Dazu bereits oben Β I 4 mit einzelnen Nachweisen in Fn. 164 ff. 420 Somló, Juristische Grundlehre S. 430ff.; Nawiasky, Allgemeine Rechtslehre S. 152 ff.; Wolff/ Bachof, Verwaltungsrecht I, § 24 II c 2; dazu auch Scherzberg, DVB1. 1988, 129, 130. 421 Dazu Larenz, Methodenlehre S. 240ff.
C. Die Grundrechte als Garanten realer Freiheit"
213
dieser objektiven Sollensanordnung ist ihre verhaltenssteuernde Wirkung. 4 2 2 Sie begründet daher stets die Beachtenspflicht der Normadressaten und kann darüber hinaus auch auf die Gewährung subjektiver Rechte gerichtet sein. Die Grundrechte knüpfen als subjektive Rechte damit an normativ-gefordertes Sollen an und setzen so eine objektive verfassungsrechtliche Verhaltenssteuerung voraus. 423 2. Unterlassungspflichten und Wertvorgaben als Formen objektiver grundrechtlicher Verhaltenssteuerung Als „objektiver" Grundrechtsgehalt werden allerdings vielfach nicht die dem subjektiven Grundrecht zugrundeliegenden Rechtsfolgenanordnungen, sondern die den Grundrechten entnommenen materialen Wertungs- und Gestaltungsvorgaben bezeichnet. 424 Auch die den subjektiven Abwehrrechten korrespondierende objektive Unterlassungspflicht, die Funktion der Grundrechte als „negative Kompetenzbestimmung" der Staatsgewalt, ist jedoch ein Element objektiven Verfassungsrechts. 425 Aus normlogischer Sicht ist zweifelhaft, ob es sich bei der wertsetzenden Regelungskomponente der Grundrechte um ein davon abzuhebendes, eigengeartetes Rechtsinstitut handelt. Grundrechtlichen Eingriffsverboten liegt eine sog. Konditionalprogrammierung 426 zugrunde, die bei Vorliegen eines festgelegten Tatbestandes ein bestimmtes Handeln des Staates als gesollt unmittelbar bezeichnet. Die „objektive" Verfassungspflicht zur Sicherung der Voraussetzungen effektiver Grundrechtswahrnehmung beruht dagegen als abstrakte Zielvorgabe staatlichen Handelns auf einem sog. Finalprogramm, das das gebotene Verhalten selbst nicht benennt. Während die Umsetzung des Konditionalprogramms lediglich eine Auslegung und Konkretisierung des Tatbestandes im Hinblick auf die Umstände des 422
S. 430.
S. Nawiasky, Allgemeine Rechtslehre S. 152ff.; Somló, Juristische Grundlehre
423 Scherzberg, DVB1.1988,129,130; ebenso etwa Bleckmann, Staatsrecht II S. 260 ff.; Stern, Staatsrecht III /1, § 65 (S. 477 ff.); a. A. Robbers, Sicherheit S. 144 ff., der von einem „Primat des subjektiven Rechts" ausgeht, ohne seine Konzeption allerdings gegenüber den normtheoretischen Erkenntnissen der allgemeinen Rechtslehre abzusichern; Robbers verkennt, daß sich Freiheit unter dem Grundgesetz nicht als Ausgrenzung einer staatsund rechtsfreien Sphäre begreifen läßt, sondern rechtlich verfaßte Freiheit darstellt, und die Freiheit der Bürger diese (objektiv-)rechtliche Verfassung zuvorderst in den Grundrechten erfahrt; dazu bereits oben A l l . Der von ihm vorgetragene Ansatz ist überdies auch in sich widersprüchlich, wenn einerseits das subjektive Recht des einzelnen das objektive Recht erst konstituieren soll — ebenda S. 148 — und andererseits davon die Rede ist, daß das objektive Recht von der Gewährleistung subjektiver Rechte absehen könne — ebenda S. 149 —. 424 S. dazu bereits die Nachweise oben Fn. 3. 425 K. Hesse, Grundzüge Rdn. 291 ; Pieroth/ Schlink, Grundrechte Rdn. 90 ff.; vgl. auch Schwabe, Probleme S. 286ff. 426 Zu den Begriffen Konditional- und Finalprogramm vgl. die Nachweise oben Fn. 267.
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3. Kap.: Eingriffsintensität und materieller Freiheitsschutz
Einzelfalls erfordert, bedarf die Ausführung eines Finalprogramms darüber hinaus der Entscheidung über die Auswahl der Mittel und einer Lösung von Ziel- und Mittelkonflikten. 427 Fehlen jedoch, wie im Falle der Auftragskomponente der Grundrechte, weitgehend normative Maßstäbe für Zielabwägung und Mittelwahl 4 2 8 , ist die Determinationskraft einer solchen Finalprogrammierung gering und kann diese dem Normadressaten durch ihre Normstruktur Gestaltungsräume zuweisen. 429 Normlogisch ist eine Konkretisierung der Vorgaben eines Finalprogramms zu konkreter Handlungsverpflichtung im Einzelfall indes keinesfalls ausgeschlossen.430 Auch die „objektiv-grundrechtlichen" Steuerungsvorgaben haben als verbindliche (Grund-)Rechtssätze an der Bindungswirkung des Art. 1 Abs. 3 GG teil. Konditional- und Finalprogrammierung unterscheiden sich also lediglich im Hinblick auf die Dichte der mit ihnen verbundenen Determinierung. 4 3 1 Ist aber primäres und essentielles Element eines objektiven Rechtssatzes seine verhaltenssteuernde Wirkung und weisen Eingriffsverbot und Auftragskomponente insoweit lediglich graduell unterschiedliche Bindungskraft auf, ist es sachgerecht, sie als Formen objektiv-grundrechtlicher Verhaltenssteuerung sachlich und terminologisch zusammenzufassen. 432 3. Die Notwendigkeit
einer Überwindung der Jellinekschen Statuslehre
Herkömmlich wird der subjektivrechtliche Gehalt der Grundrechte nicht als Anspruch auf ein dieser objektivrechtlichen Verhaltenssteuerung entsprechendes Verhalten des Staates, sondern als Befugnis zur Abwehr bestimmter Freiheitseinbußen verstanden. 433 Derartige Vorstellungen von der grundrechtlichen Sicherung bestimmter Freiräume finden ihre historische Vorlage in der Statuslehre G. Jellineks ,434 A u f ihn bezieht sich auch die heutige Staatsrechtslehre, wenn sie den abwehrrechtlichen Grundrechtsgehalt als „Ausformung und Sicherung" des „status negativus" kennzeichnet. 435 427
S. etwa Hoppe, DVB1. 1974, 641, 644. Vgl. oben C11; zur „Wertrangordnung" als möglicher Kollisionsregel — BVerfGE 7, 198, 215 — s. ferner oben Β I 3 b. 429 Zu dem für das Grundgesetz insoweit geltenden grundsätzlichen Konkretisierungsverbot s. oben 2. Kapitel A II 3 c bb (2). 430 Das zeigt etwa die Diskussion um das planungsrechtliche Gestaltungsermessen, vgl. Hoppe, DVB1. 1974, 641 ff.; Badura, in: BayVerfGH-FS S. 157ff., 170ff. 431 Vgl. auch Rubel, Planungsermessen, S. 60ff. 432 So etwa BVerfGE 35, 79, 114; s. auch Schwabe, Probleme S. 293. 433 Vgl. oben A I 2 b bb. 434 Dazu Jellinek, System S. 81 ff., 94ff. 435 S. etwa Dürig, in: Maunz/Dürig, Art. 2 Abs. I Fn. 1 vor Rdn. 26; Pieroth/Schlink, Grundrechte Rdn. 71 f.; Rupp, Grundfragen S. 161 f., 163, 171, 176f.; Starck, in: v. 428
C. Die Grundrechte als Garanten realer Freiheit"
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Der „status negativus" bezeichnete für Jellinek eine herrschaftsfreie Sphäre des Individuums, die durch das staatsgerichtete Verbot jeder durch Auferlegung ungesetzlichen Zwangs begründeten Störung gesichert sein sollte. 436 Über die Subjektsstellung des Individuums entschied der „positive status", der neben Leistungsansprüchen vor allem die Anerkennung des „negativen status" umfaßte. 437 Eine nicht auf konkrete Lebensverhältnisse bezogene, sondern allgemeine und abstrakte Freiheit von gesetzlich nicht begründeter Einwirkung 4 3 8 kann naturgemäß die prinzipiell unbegrenzten Folgewirkungen staatlichen Handelns nicht einschließen. Der „status negativus" beschränkte sich daher auf das Verbot der Einwirkung durch Befehl und Zwang. 4 3 9 Hatte damit aber auch der „status positivus" lediglich die Anerkennung einer derart formalen „Freiheit" zum Gegenstand, war von den „status" in der Systematik Jellineks die Befugnis zu positivem Freiheitsgebrauch und damit zur Verfolgung eigener Interessen des Individuums nicht erfaßt. 440 Bei einem solchen „negativen" Freiheitsverständnis geraten Beschneidungen „realer Freiheit", wie etwa die Beeinträchtigung der mit der Freiheitsbetätigung verbundenen Interessen, nicht in den Blick. Sieht man nun in den durch das Grundgesetz gewährten Abwehransprüchen die Ausformung und Sicherung des „status negativus" 441 , richten sich diese wiederum auf die Einräumung einer „herrschaftsfreien Sphäre", also die Abwesenheit staatlicher Zwangseinwirkung. So erklärt sich die noch heute verbreitete Annahme, mit den grundrechtlichen Abwehrrechten werde eine verfassungswidrige Beschränkung der grundrechtlich umhegten Freiheitssphäre geltend gemacht 442 , und auch die dogmatische Unzulänglichkeit dieser Konzeption etwa bei der Abwehr mittelbar-faktischer Freiheitsbeeinträchtigungen nicht zuletzt als Fernwirkung der Jellinekschen Funktionenlehre. 443 Im Grundgesetz ist demgegenüber kein Anspruch auf Erhaltung einer herrschaftsfreien Sphäre formuliert, sondern dem Individuum ein Recht zu Mangoldt/Klein/Starck, Art. 1 Rdn. l l l f . ; ders., JuS 1981, 237, 239ff.; Schoch, VerwArch. 79 (1988), 1, 34; vgl. auch Wolff / Bachof, Verwaltungsrecht I, § 32 IV c 1. 436 Jellinek, System S. 87, 105. 437 Jellinek, System S. 121 ff. 438 Jellinek, System S. 103. 439 So auch Jellinek, System S. 103 f. 440 Jellinek, System S. 104 anerkennt kein Recht zur eigenen Interessenverfolgung; die dem Bürger durch den negativen status gewährte Freiheitsausübung sei vielmehr rechtlich irrelevante Handlung. Der positive status bezieht sich insoweit lediglich auf die Anerkennung des negativen. 441 S. die Nachweise in Fn. 435. 442 Vgl. bereits oben A I 2 b bb sowie Schlink, EuGRZ 1984, 457 ff. 443 Krit. auch Häberle, VVDStRL 30 (1972), 43, 80ff.; Bethge, Staat 24 (1985), 351, 375; Bleckmann, Staatsrecht II S. 199, 203f.; Stern, Staatsrecht III/1, § 64 II 6 a (S. 426ff.).
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3. Kap.: Eingriffsintensität und materieller Freiheitsschutz
eigener, positiver Freiheitsausübung zugewiesen.444 Angesichts des Wortlauts des Art. 93 Abs. 1 Nr. 4 a G G wird daneben das Bestehen eines grundrechtlichen Abwehranspruchs vorausgesetzt, der an den Tatbestand einer Grundrechtsverletzung anknüpft. Auch aus der grundrechtlichen Normierung bestimmter Bedingungen für die Verfassungsmäßigkeit von Eingriffen und Beschränkungen folgt nicht, daß eine Grundrechtsverletzung als verfassungswidrige Minderung einer Freiheit oder eines Lebensgutes zu denken sein muß. 4 4 5 Der verfassungsrechtliche Bezug zwischen gewährter Freiheit und Abwehranspruch bleibt im Grundgesetz vielmehr Undefiniert. Das in der Literatur verbreitete „verräumlichende" Grundrechtsdenken in (negatorisch) geschützten Freiheitssphären und die daraus folgende Gleichsetzung von Grundrechtsverletzung und verfassungswidriger Freiheitseinbuße findet im Verfassungstext keine Stütze. 4. Der positive Status des Grundrechtsträgers Die moderne Diskussion um das subjektiv-öffentliche Recht hat gezeigt, daß zwischen der durch rechtswidriges hoheitliches Handeln beeinträchtigten Position und dem materiellen Anspruch unterschieden werden muß, der aus dieser Beeinträchtigung erwächst. 446 Diese Unterscheidung hat auch für den Bereich der Grundrechte Gültigkeit. 4 4 7 In ihnen erfahrt zunächst die Freiheit der Bürger im Gemeinwesen eine rechtliche „Verfassung". 448 Die Grundrechte weisen dem einzelnen in den von ihnen geregelten Lebensbereichen die Wahrnehmung selbst gewählter Interessen als eigene Angelegenheit zu und gewähren sie als Freiheit, die einer Begrenzung nur im Rahmen des verfassungsgemäßen Rechts zugänglich ist. Insoweit ließe sich von einem positiven verfassungsrechtlichen Status des einzelnen sprechen. 449 M i t der Einräumung dieses Status und der Konstituierung „objektivrechtlicher" Sorge- und Achtungspflicht des Staates zu seiner Erhaltung trifft die Verfassung ihre Grundentscheidung über die Zuordnung individueller und staatlicher Kompetenz und verwirft die tradierte Vorstellung 444
Vgl. auch Schwabe, Probleme S. 58f.; L. Schneider, Schutz S. 208. Im Ergebnis auch Müller/Pieroth/Fohmann, Leistungsrechte S. 169ff.; a. A. offenbar Schlink, EuGRZ 1984, 457 ff. 446 S. bereits Scherzberg, DVB1.1988,129,133; ferner Rupp, Grundfragen S. 158,160; Weyreuther, in: Verhandlungen des 47. DJT I B I , 78 ff.; Heidenhain, Amtshaftung S. 139; Schoch, VerwArch. 79 (1988), 1, 34f.; Stern, Staatsrecht I I I / l , § 66 II 1 (S. 622ff.). 447 Vgl. Rupp, Grundfragen S. 147, 153 ff., 171 f., 176; ferner Schwabe, Probleme S. 40 f.; Müller/Pieroth/Fohmann, Leistungsrechte S. 81 f. 448 S. dazu bereits oben A l l a ; auf die Bedeutung der Grundrechte als normative Mechanismen zur „Verfassung" von Staatsgewalt und individueller Befugnis hat zuletzt Erichsen, in: Handbuch des Staatsrechts VI, § 152 Rdn. 12 hingewiesen. 449 K. Hesse, Grundzüge Rdn. 280; Häberle, Wesensgehaltgarantie S. 112 ff.; L. Schneider, Schutz S. 209; ähnlich Lorenz, Rechtsschutz S. 51 ff.: „personale Stellung"; Müller/Pieroth/Fohmann, Leistungsrechte S. 81 f.; anders, nämlich im Sinne Jellineks, dagegen der Begriff des Status bei Rupp, Grundfragen S. 161 f., 164, 176f.; dazu Alexy, Theorie S. 237 (Fn. 40). 445
C. Die Grundrechte als Garanten realer Freiheit"
217
einer grundsätzlichen Gewaltunterworfenheit der Bürger. Der individuelle Status ist deshalb von dem von Jellinek angenommenen Anspruch auf Anerkennung einer staatsfreien Sphäre wesensverschieden: er zielt nicht nur auf die Begrenzung von Staatsgewalt und hat deshalb nicht allein deren Negation zum Gegenstand, sondern eine Ausübungsbefugnis, ein „rechtliches Dürfen" des Bürgers zum Inhalt. Grundrechtliche Freiheit ist nach den obigen Ausführungen rechtliche Freiheit, ihre Ausübung unter dem Grundgesetz keine „rechtlich irrelevante Handlung". 4 5 0 5. Status und Abwehrrecht Über das Verhältnis des von den Grundrechten gewährten Status zu den in ihnen gründenden, regelmäßig als „subjektiv" gekennzeichneten Unterlassungsund Störungsbeseitigungsansprüchen ist in der Literatur bisher keine hinreichende Klarheit erzielt worden. Soweit unter dem Einfluß der sog. Imperativentheorie die eigenständige Bedeutung des „rechtlichen Dürfens" nicht generell in Frage gestellt w i r d 4 5 1 , stehen individueller Status und grundrechtliches Abwehrrecht teils un verbunden nebeneinander 452 , werden die grundrechtlichen Beseitigungsansprüche als „wesensnotwendige Hilfsrechte" der subjektiven Rechtsposition angesehen453 oder soll sich der positive grundrechtliche Status im Falle einer Grundrechtsverletzung zu konkreten Abwehransprüchen „verdichten". 454 Es ist bereits festgestellt worden, daß dem subjektiven Recht stets eine objektivrechtliche Sollensanordnung zugrundeliegt, deren normativer Geltungsanspruch Befolgungspflichten der Rechtsunterworfenen impliziert. Durch die Begründung subjektiver Rechte wird eine rechtliche Verknüpfung der dergestalt vorgenommenen objektiven Verhaltenslenkung mit der individuellen Rechtssphäre eines hiervon Begünstigten hergestellt. 455 Diese Verknüpfung läßt sich nur in der Weise denken, daß dem begünstigten Dritten die Berechtigung zur Durchsetzung der Norm gegenüber dem Normadressaten zukommt. 4 5 6 Geht man von diesem allgemeinen Befund auch für die Grundrechte aus, wird die grundrechtlich eingeräumte Freiheit, der individuelle Status, gerade dadurch und insoweit zum subjektiven Recht, als dem Begünstigten die Befugnis zur Geltendmachung der den Staat treffenden Pflicht zur Achtung der individuellen 450
Stern, Staatsrecht III /1, § 65IV 2 (S. 563 ff.); vgl. aber Jellinek, SystemS. 104; dazu bereits soeben 3. 451 Etwa von Schwabe, Probleme S. 37ff., 45; Dürig, in: Maunz/Dürig, Art. 1 Abs. III Rdn. 96 mit Fn. 2; Aicher, Eigentum S. 52; Salzwedel, DÖV 1963, 241, 246; krit. dazu Scherzberg, DVB1. 1988, 129, 130. 452 Etwa bei K. Hesse, Grundzüge Rdn. 283 ff., 287; s. auch Lorenz, Rechtsschutz S. 275 f.; Weyreuther, in: Verhandlungen des 47. DJT I Β 1, 83 f.; Rupp, Grundfragen S. 169ff.; zu diesem jedoch auch Fn. 449. 453 L. Schneider, Schutz S. 210. 454 Stern, Staatsrecht III/1, § 66 III 1 (S. 671 ff.). 455 Dazu Scherzberg, DVB1. 1988, 129, 130.
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3. Kap.: Eingriffsintensität und materieller Freiheitsschutz
Sphäre zugewiesen ist und ihm damit Ansprüche auf Unterlassung und Beseitigung von objektiv grundrechtswidrigen Maßnahmen zustehen. 6. Grundrechtlicher
Freiheitsschutz als Abwehr von Verletzungen Grundrechtsnorm
der
Unterlassungs- und Beseitigungsansprüche entstehen im Falle einer Grundrechtsverletzung. 457 Angesichts der in Art. 1 Abs. 3 GG ausgesprochenen umfassenden Bindung der Staatsgewalt an die Grundrechte und deren die individuelle Schutzfunktion dieser Bindung verdeutlichenden prozessualen Korrelats in Art. 93 Abs. 1 Nr. 4 a G G 4 5 8 kann der Tatbestand einer Grundrechtsverletzung ausschließlich davon abhängig sein, ob staatliches Handeln den Status des Betroffenen in verfassungswidriger Weise nachteilig berührt. Abwehransprüche sind damit nicht — wie auf der Grundlage der Konzeption Jellineks — auf Fälle der rechtlichen Einbuße von Freiheitsbefugnissen beschränkt. Grundrechtsverletzung ist vielmehr das verfassungswidrige Betroffensein im personalen Status. Grundrechtliche Abwehrrechte werden ausgelöst, sobald staatliches Verhalten die Interessenverfolgung des Bürgers tatsächlich oder rechtlich beeinträchtigt und dies eine Vorgabe des objektiven Verfassungsrechts verletzt, die dem Schutz des individuellen Status dient. 4 5 9 Gegenstand des subjektiven (Grund-)Rechts ist damit die Durchsetzung aller freiheitsschützenden Vorgaben des Verfassungsrechts im Rahmen des individuellen Status. Einschränkungen dieses Grundsatzes, also die Ausklammerung einzelner, zur Sicherung grundrechtlicher Freiheit bestimmter Verfassungsgebote aus der dem Grundrechtsträger zugeordneten Durchsetzungsmacht, wären zwar konstruktiv denkbar. Vor dem Hintergrund der heute bei der Ableitung subjektiver Rechte vielfach auch für das Staatsrecht übernommenen 460 verwaltungsrechtlichen Schutznormlehre 461 wären sie aber besonderer Begründung bedürftig. Anhaltspunkte dafür lassen sich dem positiven Verfassungsrecht indes nicht entnehmen. Das Grundgesetz ist vielmehr von dem Anliegen getragen, den einzelnen nicht zum bloßen Objekt staatlichen Entscheidens, sondern zum Subjekt eigener Entfaltungsmöglichkeiten zu bestimmen. Es ist überdies auf die tatsächliche und effektive Umsetzung seiner Regelungsanordnungen in der Verfassungswirklichkeit gerichtet. Soweit die den Staat treffenden Verhaltenspflichten ihrerseits auf die Wahrung individueller Entscheidungsräu456
Dazu Scherzberg, DVB1. 1988, 129, 130. S. bereits oben A I 2 b bb. 458 Dazu auch Müller /Pieroth /Fohmann, Leistungsrechte S. 171. 459 S. die Ausführungen zum grundrechtlichen Schutzzweck oben A I 2 b aa (2). 460 S. etwa Stern, Staatsrecht III/1, § 69 VI 4 a (S. 987f.); in der Sache auch etwa Blechmann, Staatsrecht II S. 284f. 461 Zur traditionellen Schutznormlehre etwa Bachof, in: GS für W. Jellinek S. 287, 294ff.; Schmidt-Aßmann, in: Maunz/Dürig, Art. 19 Abs. IV Rdn. 128; zur gebotenen Modifikation des herkömmlichen Ansatzes Scherzberg, Jura 1988, 455 ff. 457
C. Die Grundrechte als Garanten realer Freiheit"
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me zielen, also freiheitsschützenden Charakter haben, wäre ein Ausschluß ihrer subjektivrechtlichen Durchsetzbarkeit mit der auf Stärkung des individuellen Status und seine wirksame Sicherung im Verfassungsleben gerichteten Schutzintention der Grundrechte 462 nicht vereinbar. 463 Ist Gegenstand des subjektiven Grundrechts deshalb die Durchsetzung aller freiheitsschützenden Verfassungsgebote, stellt sich negatorischer Grundrechtsschutz nicht als Abwehr von Freiheitseinbußen, sondern als Abwehr der Mißachtung der (objektiven) Grundrechtsnorm und in diesem Sinne als Abwehr von Grundrechts (norm) Verletzungen dar. 7. Folgerungen a) Nach der hier vorgeschlagenen Konzeption des grundrechtlichen Freiheitsschutzes ist der individuelle grundrechtliche Status durch die Befugnis gekennzeichnet, die Wahrung statusrelevanter objektiver Sollensanordnungen durchzusetzen. Der grundrechtliche Anspruch erstreckt sich damit nicht nur auf die Unterlassung verfassungswidriger Eingriffe, sondern schließt auch die Geltendmachung der übrigen, bislang durchweg als „objektivrechtlich" gekennzeichneten Wert- und Gestaltungsmaßstäbe ein. Er kann deshalb auch auf positives staatliches Verhalten, etwa die Gewährung von Schutz gegenüber Dritten, die Aufstellung oder Beachtung bestimmter verfahrensrechtlicher Schutzvorkehrungen oder die Zuteilung materieller Leistungen des Staates gerichtet sein, wenn sich die grundrechtlichen Steuerungsvorgaben zu entsprechenden strikten staatsgerichteten Verhaltensgeboten verdichten. b) Fraglich bleibt, ob auch eine Verkennung des appellativen Gehalts der Grundrechte subjektive Abwehrrechte der Betroffenen begründen kann. Soweit Grundrechte in ihrer Eigenschaft als wertsetzende Grundsatznormen lediglich unvollkommen bindende Steuerungsimpulse auslösen, sie die Entscheidung über die Durchsetzung grundrechtsgeschützter Interessen also nicht abschließend determinieren, liegt einer die grundrechtliche Wertungsvorgabe zugunsten „realer Freiheit" nicht oder nicht im vollen Umfang umsetzenden Präferenzentscheidung im Regelfall 464 kein Grundrechtsverstoß zugrunde. 462
Vgl. bereits BVerfGE 6,55,72; 6,386,387; ferner etwa BVerfGE 32,54,71; 39,1,38; 43, 154, 157. 463 Für eine umfassende subjektivrechtliche Absicherung auch BVerfGE 35, 79, 116; Schwabe, Probleme S. 207 ff.; Alexy, Theorie S. 452; im Ergebnis ebenso Robbers, Sicherheit S. 144ff., der indes von einem „Primat des subjektiven Rechts" ausgeht, dazu bereits oben Fn. 423; einschränkend demgegenüber Stern, Staatsrecht III /1, § 69 VI 3,4 b (S. 979 ff., 988 f.) mit ausführlichen Hinweisen zum Meinungsstand. Für eine Versubjektivierung grundrechtlicher Schutzpflichten etwa BVerfGE 77,170,214; BVerfG NJW 1989, 1271, 1274; Hermes, Grundrecht S. 208ff.; Soell, NuR 1985, 205, 207; Benda, ET 1981, 868, 869; Schmidt-Aßmann, AöR 106 (1981), 205, 217. 464 Anders bei einem Verstoß gegen das Gebot der Wertungskonsequenz, dazu oben C I 3 b.
220
3. Kap.: Eingriffsintensität und materieller Freiheitsschutz
„Weiche" verfassungsrechtliche Steuerungsmechanismen enthalten — wie gezeigt — keine das Entscheidungsergebnis, sondern lediglich eine den Entscheidungsprozeß betreffende Bindung. Sie begründen das verfahrensrechtliche Gebot zur „Verfassungsorientierung" von Auslegung und Anwendung des einfachen Rechts und verpflichten Gesetzgeber und Rechtsanwender auf die Vergegenwärtigung und zutreffende Ermittlung der die Entscheidungsfindung anleitenden Wertungsimpulse. Ob die Verkennung dieser Verpflichtung oder eine unzutreffende inhaltliche Würdigung „weicher" grundrechtlicher Vorgaben bereits eine Grundrechtsverletzung auszulösen vermag, erscheint zweifelhaft. Allein durch die Fehlerhaftigkeit des Entscheidungsprozesses wird der personale Status des Grundrechtsträgers nicht nachteilig betroffen. Das zeigt sich vor allem, wenn die verfassungsrechtlichen Steuerungsimpulse bei der Rechtsfindung zwar unberücksichtigt bleiben, die von ihnen nahegelegte Auslegung etwa eines unbestimmten Rechtsbegriffs aber unter Hinweis auf einfachrechtliche Regelungszusammenhänge befürwortet wird. Aber auch bei einer für die Grundrechtsverwirklichung nachteiligen Entscheidung wäre die damit verbundene Minderung „realer Freiheit" im Ergebnis verfassungsrechtlich unbedenklich. „Weiche" verfassungsrechtliche Verhaltensmaximen sind damit nicht geeignet, im Falle ihrer Verkennung den für die Feststellung einer Grundrechtsverletzung erforderlichen Rechtswidrigkeitszusammenhang zwischen objektivem Rechtsverstoß und individueller Freiheitsbeeinträchtigung 465 zu vermitteln. Stellen die Grundrechte jenseits der Beeinträchtigung des Minimalstandards „realer Freiheit" bindende „objektivrechtliche" Maßstäbe für die Abwägung von Freiheitsinteresse und Eingriffsgut nicht zur Verfügung, sind damit deshalb auch die Grenzen der subjektivrechtlichen Durchsetzbarkeit grundrechtsbezogener Interessen gezogen. Die Einräumung weitergehender Abwehrrechte würde demgegenüber auf die Begründung eines Anspruchs auf Verfassungsmäßigkeit nicht nur des Ergebnisses, sondern auch der Begründung staatlicher Entscheidungsprozesse hinauslaufen. Angesichts der vielfaltigen Wirkungszusammenhänge staatlichen Handelns ließe sich der Kreis der dergestalt subjektivrechtlich Berechtigten allerdings kaum eingrenzen. Ein derartiger Anspruch wäre dem deutschen Rechtssystem, wie ein Blick auf revisionsrechtliche Vorschriften zeigt, aber auch grundsätzlich fremd. Liegt eine Gesetzesverletzung lediglich in den Gründen der angegriffenen Entscheidung, stellt sich diese also im Ergebnis als rechtmäßig dar, ist die Revision gem. §§ 563 ZPO, 144 Abs. 5 VwGO, 126 Abs. 4 FGO, 170 Abs. 1 S. 2 SGG zurückzuweisen. Von einer entsprechenden Rechtslage geht das Bundesverfassungsgericht auch für das verfassungsgerichtliche Verfahren aus, wenn es ausdrücklich feststellt, daß „eine Verfassungsbeschwerde nicht darauf gestützt werden [könne], daß ein Gericht lediglich in den Gründen seiner Entscheidung 465
Dazu oben A I 2 b aa (2).
C. Die Grundrechte als Garanten realer Freiheit"
221
eine Rechtsauffassung vertreten habe, die grundrechtswidrig sei." 4 0 6 Demgemäß sieht sich das Gericht allein durch die Fehlerhaftigkeit der Begründung einer belastenden Maßnahme weder im Rahmen der Urteils- 4 6 7 noch der Rechtssatzverfassungsbeschwerde 468 zu einer Aufhebung der betreffenden Entscheidung veranlaßt. 469 Geht man damit davon aus, daß sich der Schutz des personalen Status nicht auf die Durchsetzung unvollkommener verfassungsrechtlicher Steuerungsimpulse erstreckt, diesen also ein individualschützender Gehalt nicht innewohnt, vermag bei einer Minderung „realer Freiheit" erst die Verletzung des grundrechtlichen „Untermaßverbots" die subjektive Rechtsschutzfunktion der Grundrechte auszulösen. c) Kann die Verfehlung eines definitiven, „oftyefow-grundrechtlichen" Verhaltensgebots in gleicher Weise wie die Mißachtung sonstiger verfassungsrechtlicher Sollensanordnungen eine Grundrechtsverletzung darstellen und ist damit geeignet, individuellen Grundrechtsschutz zu begründen, klärt dies auch die dogmatischen und terminologischen Widersprüche bei der herkömmlichen Behandlung der „objektiven" grundrechtlichen Entscheidungsvorgaben. Grundrechtliche Wertungs- und Gestaltungsvorgaben sind als staats- und drittgerichtete verhaltenssteuernde Sollensanordnungen zwar Elemente objektiven Rechts und als solche Grundlage und Voraussetzung für die Entstehung subjektiver Unterlassungs- und Beseitigungsansprüche. Ihre traditionelle Kennzeichnung als „objektivrechtlich" impliziert jedoch die Annahme eines funktionalen Gegensatzes von subjektiven und „objektiven" Normelementen und führt — würde sie ernstgenommen 470 — zur Ausgrenzung eines der Subjektivierung entzogenen grundrechtlichen Gewährleistungsgehalts. Damit wäre der durch die bindenden grundrechtlichen Verhaltensgebote gewährleistete grundrechtliche Individualschutz jedoch unzutreffend verkürzt. Die Kennzeichnung des materiell-grundrechtlichen Schutzes „realer Freiheit" als „objektivrechtlich" ist deshalb als irreführend zu meiden. d) Erstreckt sich der subjektive Grundrechtsschutz auf die Einhaltung aller freiheitsschützenden Vorgaben des objektiven Verfassungsrechts, ist damit zugleich der dem Merkmal der Eingriffsintensität für die Zuordnung von subjektivem und objektivem Grundrecht zukommende Stellenwert bestimmt: die Entstehung subjektiver Abwehrrechte gegenüber objektiv grundrechtswidrigem Verhalten des Grundrechtsadressaten ist — entgegen einer in der Recht466
374.
BVerfGE 8,222,225 (Einschub vom Verf.); s. ferner BVerfGE 35,311,317; 74, 358,
467 Vgl. BVerfGE 35, 311, 317; 62,230,245 ff.; 64,108,119f.; BVerfG NJW 1988, 328, 329 (Kammer); s. auch Simon/Heußner, diss, op., in: BVerfGE 53, 30, 82f. 468 Vgl. etwa jüngst BVerfGE 75, 246, 268. 469 S. auch bereits Geiger, BVerfGG, § 90 Anm. 6 e (S. 281). 470 Vgl. aber die Ansätze der Rechtsprechung oben Β I 4 b.
222
3. Kap.: Eingriffsintensität und materieller Freiheitsschutz
sprechung gelegentlich anklingenden Tendenz 471 — vom Maß der Betroffenheit des durch die verfehlten strikten verfassungsrechtlichen Verhaltensvorgaben Begünstigten unabhängig. D . Ergebnis Dem Merkmal der Eingriffsintensität kommt im Rahmen des durch die wertsetzende Regelungskomponente der Grundrechte gewährten Schutzes „realer Freiheit" demnach eine doppelte Funktion zu. Das Ausmaß der nicht durch imperative Einwirkung des Staates vermittelten Grundrechtsbeeinträchtigung gestaltet zum einen Inhalt und Intensität der „Appellwirkung" grundrechtlicher Wertungs- und Gestaltungsvorgaben. Als Rechtssätzen komparativer Regelungsstruktur ist diesen allerdings grundsätzlich keine definitive Bindungskraft eigen. Bei erheblicher Verschlechterung der tatsächlichen Bedingungen der Wahrnehmung und Durchsetzung grundrechtlich geschützter Güter verdichten sich die grundrechtlichen Wertungs- und Gestaltungsvorgaben jedoch zu definitiven, den Bürger auch subjektivrechtlich begünstigenden verfassungskräftigen Schutz- oder Förderungsgeboten. Die Intensität grundrechtlicher Betroffenheit ist insoweit Maßstab för Entstehung und Inhalt eines anhand der grundrechtlichen Regelungsintention und der jeweiligen sachbereichsspezifischen Gegebenheiten zu konkretisierenden verfassungsrechtlichen Untermaßverbots.
471
Vgl. dazu oben Β I 4 a.
4. Kapitel
Eingriffsintensität als kompetenzieller Steuerungsfaktor der verfassungsgerichtlichen Kontrolle Der verfassungsgerichtlichen Judikatur ließen sich einige Anhaltspunkte dafür entnehmen, daß das Bundesverfassungsgericht mit der Abstufung der Kontrolldichte anhand der Schwere der Beeinträchtigung grundrechtlich geschützter Positionen die Entscheidungszuständigkeit der Fachgerichtsbarkeit zu wahren beabsichtigt und das Merkmal der Eingriffsintensität damit der funktionsgerechten Eingrenzung seiner Kontrollkompetenz bei der Urteilsverfassungsbeschwerde dient. Hierfür spricht nicht nur die Anknüpfung an das im Patent-Beschluß für die Wahrnehmung seiner Kontrollfunktion in Anspruch genommene Ermessen.1 In diese Richtung weist ebenso der in jüngerer Zeit vereinzelt zu beobachtende Rückgriff auf die Eingriffsintensität zur Bestimmung der Kontrolldichte auch dort, wo als Kontrollmaßstab nicht die — in ihrer normativen Bindungskraft ihrerseits durch die Eingriffsintensität geprägte — wertsetzende Regelungskomponente der Grundrechte maßgeblich ist. 2 Geht man davon aus, daß sich die Steuerungskraft der Grundrechte als Garanten „realer Freiheit" ausschließlich nach dem Ausmaß der Beeinträchtigung des jeweils im konkreten Fall Betroffenen bestimmt, läßt sich ferner die gelegentliche Einbeziehung der „generalpräventiven" Folgen der ausgesprochenen Sanktion in die Feststellung der Eingriffsintensität als Anhaltspunkt dafür werten, daß die vorgenommene Abstufung der Prüfungsdichte nicht nur die unterschiedliche normative Bindungswirkung der jeweils einschlägigen Kontrollmaßstäbe widerspiegeln soll. 3 Die zum Verhältnis von Ëntscheidungs- und Kontrollnorm angestellten allgemeinen Überlegungen haben gezeigt, daß zur verfassungsgemäßen Bestimmung der Kontrolldichte neben der Ermittlung der Grenzen des Regelungsanspruchs der jeweiligen Entscheidungsmaßstäbe auch die Feststellung der Reichweite der Kompetenz des Bundesverfassungsgerichts zu ihrer letztverbindlichen Konkretisierung geboten ist, und haben dabei einen Rückgriff auf 1
BVerfGE 42, 143, 148; 42, 163, 168 unter Hinweis auf BVerfGE 18, 85, 93. BVerfGE 77, 240, 250f.; BVerfG NJW 1985, 263f. (Vorprüfungsausschuß); BVerfG NJW 1988,328 f. (Kammer); s. auch bereits Hirsch, diss, op., in: BVerfGE 44,197,210 und ders., diss, op., in: BVerfGE 57, 170, 193. 3 Vgl. etwa BVerfGE 43,130,136; 67,213, 223; s. auch bereits Rupp-v. Brünneck, diss, op., in: BVerfGE 42, 143, 156. 2
224
4. Kap.: Eingriffsintensität als Kompetenzmaßstab
funktionsrechtliche Kriterien als grundsätzlich zutreffend erkennen lassen. Es fragt sich, ob es sich bei dem Kriterium der Eingriffsintensität um einen solchen, die funktionsgerechte Wahrnehmung der Kontrollaufgabe des Bundesverfassungsgerichts sichernden Maßstab handelt. Dem Bundesverfassungsgericht obliegt — insoweit dürfte in Literatur und Rechtsprechung heute grundsätzlich Einigkeit herrschen — keine umfassende Nachprüfung der fachgerichtlichen Rechtsfindung. Das Gericht ist vielmehr kompetenziell auf die Wahrung verfassungsrechtlicher Vorgaben beschränkt. Indes ist kein Element fachrichterlicher Entscheidungstätigkeit von vornherein der Einwirkung verfassungsrechtlicher Maßstäbe entzogen; diese können sich — wie gezeigt — sowohl auf die Tatsachenfeststellung als auch auf die rechtsauslegende und -anwendende Tätigkeit der Fachgerichte beziehen und schließen auch das gerichtliche Verfahren ein. Die funktionsbedingten Grenzen der verfassungsgerichtlichen Kontrolle müssen sich für die verschiedenen Elemente der richterlichen Rechtsfindung nicht notwendig nach einheitlichen Grundsätzen bestimmen. Bei der Feststellung des dem Merkmal der Eingriffsintensität insoweit zukommenden Stellenwerts empfiehlt sich deshalb eine differenzierende Vorgehensweise.4 Dabei läßt sich zunächst die Kontrolle von Normfindung und -anwendung von derjenigen der Tatsachenermittlung und des gerichtlichen Verfahrens abschichten.5 Im Rahmen der zunächst zu behandelnden Rechtsanwendungskontrolle liegt ferner eine Anknüpfung an die Funktionen des Grundgesetzes als „Maßstabs"- und „Erkenntnisnorm" 6 für die einfachrechtliche Rechtsanwendung nahe. A. Die Kontrolle der Wahrung der grundgesetzlichen Maßstabsfunktion I. Das Grundgesetz als „Maßstabsnorm" Gehen die Rechtssätze des Verfassungsrechts nach Art. 20 Abs. 3 GG allen anderen Rechtsnormen im Range vor und haben damit derogierende Kraft, enthalten verfassungsrechtliche Vorgaben wesentliche Rahmenbedingungen für die Wirksamkeit einfachrechtlicher Rechtssätze. Das Grundgesetz setzt unterverfassungsrechtlicher Rechtssetzung wie fachrichterlicher Auslegung und Fortbildung einfachen Rechts Grenzen und fungiert im Rahmen des richterlichen Entscheidungsprozesses insoweit als „Maßstabs"- oder „Prüfungsnorm": entscheidungserhebliche Vorschriften unterverfassungsrechtlichen Ranges sind — in ihrem durch das zuständige Gericht ermittelten Inhalt — anhand 4 S. Ansätze hierzu bei Schuppert, AöR 103 (1978), 43 ff. und Steinwedel, Spezifisches Verfassungsrecht S. 91 ff. 5 Das gerichtliche Verfahren bleibt bei der folgenden Darstellung außer Betracht, vgl. dazu bereits oben 1. Kapitel A. 6 Dazu bereits oben 1. Kapitel Β III 1.
. Bei der Kontrolle anhand des GG als „ ß s n o r m "
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grundgesetzlicher Vorgaben auf ihre Verfassungsmäßigkeit zu überprüfen. Liegen die Voraussetzungen des Art. 100 Abs. 1 S. 1 GG vor, trifft den Fachrichter die Pflicht zur Vorlage, andernfalls zur Nichtanwendung des betreffenden Rechtssatzes. Ist dieser mehreren Verständnismöglichkeiten zugänglich und unterliegen nur einige davon dem Verdikt der Verfassungswidrigkeit, hat er die Pflicht zur Wahl der verfassungskonformen Auslegung. Auslegung und Anwendung entscheidungserheblicher unterverfassungsrechtlicher Rechtssätze stehen damit gem. Art. 20 Abs. 3,100 Abs. 1 GG unter dem Vorbehalt einer eigenen verfassungsrechtlichen Kontrolle durch die Fachgerichte. Diesen ist — wie gezeigt — aber nicht nur eine entsprechende Prüfungsbefugnis zugewiesen.7 In einer weithin durch Abstraktionen gekennzeichneten und deshalb konkretisierungsbedürftigen Verfassung wird dem Fachrichter notwendig zugleich die Kompetenz zur gestaltenden Entwicklung operabler verfassungsrechtlicher Maßstäbe eingeräumt. Setzt die Beachtung der Verfassung als „Maßstabsnorm" Verfassungsauslegung und Verfassungskonkretisierung voraus, kommt es insoweit zu einer Aufgabenkonkurrenz zwischen Fach- und Verfassungsgerichtsbarkeit. 8 Voraussetzung für die derogierende Kraft verfassungsrechtlicher Vorgaben ist allerdings ihre Eignung zur Begründung definitiver Verhaltenspflichten. Nur soweit das Grundgesetz die Vorgabe bestimmter sachlicher Grenzen rechtlicher Gestaltung intendiert, kommt seine Konkretisierung zu materialen Entscheidungsnormen für die Setzung und Anwendung einfachen Rechts in Betracht. Weisen die Grundrechte — wie gezeigt — im Bereich des Schutzes gegen nichtimperative staatliche Einwirkungen eine teilweise nur unvollkommene normative Steuerungskraft auf und unterliegen in diesem Maße einem Konkretisierungsverbot, beschränkt sich ihre Eignung zur Bildung verfassungskräftiger Maßstabsnormen insoweit auf den durch das Untermaßverbot mit uneingeschränkter Verbindlichkeit gesteuerten Bereich grundrechtlicher Verhaltenslenkung. II. Die funktionsgerechte Zuordnung der Kompetenz zur letztverbindlichen Wahrnehmung der grundgesetzlichen Maßstabsfunktion 1. Die inzidente Normenkontrolle Das Bundesverfassungsgericht prüft die Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes im Rahmen einer Urteilsverfassungsbeschwerde regelmäßig in vollem Umfang nach. 9 Dem Fachgericht verbleibt danach kein eigener Entscheidungsanteil bei der Konkretisierung der einschlägigen verfassungsrechtlichen Vorgaben. Diese Rechtsprechung hat in der Literatur weitgehende Billigung gefunden. 10 7 8 9
Zum Prüfungsrecht s. Schiaich, Bundesverfassungsgericht S. 72f. Vgl. dazu bereits oben 2. Kapitel A III 3 c aa (2), bb. Vgl. aus neuerer Zeit etwa BVerfGE 63, 88, 108 ff.; 75, 201, 217ff.; 76, 220, 234ff.
15 Scherzberg
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4. Kap.: Eingriffsintensität als Kompetenzmaßstab
Anhaltspunkte für die verfassungsrechtlich intendierte Zuordnung der Funktionen von Fachgerichtsbarkeit und Bundesverfassungsgericht im Bereich der inzidenten Normenkontrolle könnten sich zunächst aus Art. 100 Abs. 1 GG ergeben. Ist das Fachgericht von der Verfassungswidrigkeit einer für den konkreten Rechtsstreit erheblichen Norm überzeugt, hat es danach — unter bestimmten, von der Rechtsprechung näher ausgeformten Voraussetzungen — die betreffende Vorschrift zur prinzipalen Normenkontrolle vorzulegen. Neben der Wahrung der Autorität des Gesetzgebers dient die Vorlagepflicht des Art. 100 Abs. 1 GG nach überwiegendem Verständnis vor allem dazu, „durch allgemein verbindliche Klärung verfassungsrechtlicher Fragen divergierende Entscheidungen der Gerichte, Rechtsunsicherheit und Rechtszersplitterung zu vermeiden". 11 Ist dem Bundesverfassungsgericht damit — wie auch §§82 Abs. 1, 79 Abs. 1 und 2 S. 2, 31 Abs. 2 BVerfGG erweisen — die Funktion abschließender, über das konkrete Ausgangsverfahren hinausweisender Beurteilung der Wirksamkeit des vorgelegten Rechtssatzes zugewiesen, kann seine Kompetenz zu der bei der Durchführung der Normenkontrolle erforderlichen Konkretisierung der in Betracht kommenden verfassungsrechtlichen Kontrollmaßstäbe nicht zugunsten eines eigenen Entscheidungsanteils des im Einzelfall vorlegenden Gerichts beschränkt sein. Die Konzentrationsfunktion des Art. 100 Abs. 1 GG steht der Berücksichtigung des Verfassungsverständnisses des jeweils beteiligten Fachgerichts entgegen.12 Nichts anderes kann aber gelten, wenn das Fachgericht aufgrund einer abweichenden Konkretisierung verfassungsrechtlicher Maßstäbe die Vorlage unterläßt und die gerichtliche Entscheidung durch Einlegung einer Verfassungsbeschwerde zum unmittelbaren Gegenstand verfassungsgerichtlicher Kontrolle erwächst. Die dann im Rahmen inzidenter Normenkontrolle zu treffende Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zeitigt zunächst Bindungswirkung gem. § 31 Abs. 1 BVerfGG. Diese müßte einer Beschränkung der verfassungsgerichtlichen Beurteilungskompetenz zugunsten des Verfassungsverständnisses des Fachgerichts allerdings nicht entgegenstehen.13 Kommt der Verwerfung der angewandten Rechtsnorm darüber hinaus gem. §§ 95 Abs. 3, 31 Abs. 2 BVerfGG aber auch Gesetzeskraft zu, ist der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts — wie im Verfahren des Art. 100 Abs. 1 GG — die
10 Vgl. etwa Schiaich, Bundesverfassungsgericht S. 149f.; Krauß, Prüfung S. 46f.; s. auch Schuppert, AöR 103 (1978), 43, 56. 11 BVerfGE 54,47, 51; 63,131,141; ähnlich bereits BVerfGE 1,184,199f.; 42,42,49f.; zustimmend Schiaich, Bundesverfassungsgericht S. 74; s. aber auch Bettermann, in: Bundesverfassungsgericht und Grundgesetz I S. 323, 328. 12 Im Ergebnis auch Berkemann, AöR 99 (1974), 54, 64. 13 Die nach herrschender Auffassung — s. die Nachweise oben 2. Kapitel Fn. 196 — von djer Bindungswirkung erfaßten Entscheidungsgründe könnten einen Hinweis auf den dem Fachgericht eingeräumten Entscheidungsanteil und damit auf den „relativen" Charakter des verfassungsgerichtlichen Erkenntnisses enthalten.
A. Bei der Kontrolle anhand des GG als „Maßstabsnorm"
227
Funktion abschließender, verfahrensübergreifender Klärung der Wirksamkeit des betreffenden Rechtssatzes zugewiesen. „Relative", die Rechtsauffassung des Fachgerichts berücksichtigende und damit möglicherweise widersprüchliche Entscheidungen mit Gesetzeskraft lassen sich nicht denken. Auch insoweit kommt eine Einschränkung der verfassungsgerichtlichen Letztentscheidungsbefugnis zugunsten der fachrichterlichen Kompetenz zur eigenen Verfassungskonkretisierung nicht in Betracht. Auch das Nebeneinander der Verfahren der „abstrakten", von fachgerichtlicher Beteiligung unabhängigen Normenkontrolle in Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG, §§13 Nr. 6,76 ff. BVerfGG und der die inzidente Normprüfung ermöglichenden Verfassungsbeschwerde läßt erkennen, daß das Grundgesetz dem Bundesverfassungsgericht die Befugnis zur letztverbindlichen Wahrnehmung der verfassungsrechtlichen Maßstabsfunktion allein zuweist. Ist die abstrakte Normenkontrolle mit ihrem einer „verdeckten Rechtssatzverfassungsbeschwerde" 14 entsprechenden Prüfungsgegenstand neben dem Individualrechtsbehelf der Art. 93 Abs. 1 Nr. 4 a GG, §§ 13 Nr. 8 a, 90 ff. BVerfGG eröffnet, können prinzipale und inzidente Prüfung eines Rechtssatzes zusammenfallen 15, ohne daß es angesichts der Gesetzeskraft beider Normenkontrollentscheidungen — §31 Abs. 2 BVerfGG—hierbei zu divergenten Entscheidungen kommen dürfte. Die Reichweite der Entscheidungskompetenzen des Bundesverfassungsgerichts bei Normenkontrollentscheidungen ist deshalb verfahrensunabhängig zu bestimmen und seine Befugnis zur Bildung verfassungskonkretisierender Kontrollnormen — in den durch den Rahmencharakter des Grundgesetzes gezogenen Grenzen — allein von der zwischen Verfassungsgericht und Gesetzgebungsorgan bestehenden Funktionenordnung abhängig. 2. Die verfassungskonforme
Auslegung
Versteht man verfassungskonforme Auslegung als Reduzierung der Auslegungsmöglichkeiten eines mehrdeutigen Rechtssatzes auf seine verfassungskonforme Deutung, so setzt dieser Vorgang drei gedanklich zu trennende Schritte voraus. Voraussetzung für die Begründung der Pflicht zur Vornahme einer verfassungskonformen Auslegung ist zunächst die Feststellung, daß der Gesetzgeber bei Zugrundelegung eines bestimmten Normverständnisses seiner Pflicht zur Beachtung der verfassungsrechtlichen Vorgaben nicht genügt hätte. Ferner muß zumindest eine weitere, diesen Vorgaben genügende Auslegungsmöglichkeit des betreffenden Rechtssatzes ermittelt werden. Schließlich ist bei Konkurrenz mehrerer verfassungskonformer Deutungsmöglichkeiten eine davon als maßgeblich zu bestimmen.
14 Zum Begriff Schumann, Verfassungsbeschwerde S. 119f.; Steinwedel, Spezifisches Verfassungsrecht S. 24. 15
15*
S. etwa BVerfGE 76, 220 ff.
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4. Kap.: Eingriffsintensität als Kompetenzmaßstab
a) Der erste, „normverwerfende" Aspekt verfassungskonformer Auslegung 16 hat eine gesetzliche Erwähnung in §§ 95 Abs. 3 S. 3, 79 Abs. 1 3. Fall BVerfGG gefunden. Hiernach zeitigt die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts über die Unvereinbarkeit einer bestimmten Auslegung mit dem Grundgesetz nicht nur Auswirkungen auf den Ausgang der vorliegenden Verfassungsbeschwerde, sondern ist darüber hinaus auch in bestimmten sonstigen Verfahren zu berücksichtigen. Dem Bundesverfassungsgericht ist demnach auch insoweit die Aufgabe einer über den Einzelfall hinausweisenden Durchsetzung der Maßstabsfunktion der Verfassung übertragen. Dementsprechend hat das Gericht die Qualifikation einer bestimmten Auslegung des einfachen Rechts als verfassungswidrig nicht nur der Bindungswirkung des § 31 Abs. 1 BVerfGG unterstellt 17 , sondern sie durch Aufnahme in den Entscheidungstenor vielfach an der in § 31 Abs. 2 BVerfGG angeordneten Gesetzeskraft teilhaben lassen.18 Wie der inzidenten Verwerfung einer eindeutigen Norm kommt nach §§ 95 Abs. 3 S. 3, 79 Abs. 1 3. Fall BVerfGG auch der Feststellung der Verfassungswidrigkeit einer der Auslegungsmodalitäten einer mehrdeutigen Norm Konzentrationsfunktion zu. Auch sie hat das Bundesverfassungsgericht deshalb losgelöst von der konkreten Verfahrensgestaltung nach einheitlichen Maßstäben zu treffen. 19 Steht dem jeweils beteiligten Fachrichter ein Konkretisierungsspielraum nicht zu, kommt es für den Umfang der verfassungsgerichtlichen Befugnis zur letztverbindlichen Feststellung der verfassungsrechtlichen Rahmenvorgaben auch insoweit allein auf die zwischen Bundesverfassungsgericht und Gesetzgeber bestehende Kompetenzverteilung an. Das wird um so deutlicher, wenn man mit einer im Schrifttum zunehmend vertretenen Auffassung den Ausschluß einzelner Normdeutungen als teilweise Nichtigerklärung des auszulegenden Rechtssatzes betrachtet. 20 b) Zweifelhaft ist indes, ob das Bundesverfassungsgericht auch für die „normbestätigende" Seite der verfassungskonformen Auslegung eine nicht durch eigene Konkretisierungsbefugnisse der Fachgerichte beschränkte Letztentscheidungskompetenz beanspruchen kann. Erweist sich die vom Fachrichter gewählte Auslegungsvariante eines mehrdeutigen Rechtssatzes als verfassungswidrig, ist die betreffende Vorschrift 16
Zur Unterscheidung „normverwerfender" und „normbestätigender" Elemente der verfassungskonformen Auslegung s. Skouris, Teilnichtigkeit S. 108. 17 BVerfGE 40, 88, 94; 42, 258, 260. 18 Vgl. etwa BVerfGE 51, 304; 54,277; 69,1,4; die Notwendigkeit einer Verlautbarung im Tenor betonen Bettermann, Verfassungskonforme Auslegung S. 40 f.; Seetzen, NJW 1976,1997,1998; für Gesetzeskraft auch der in den Gründen erfolgenden Feststellung der Verfassungswidrigkeit einer bestimmten Auslegung dag. Vogel, in: Bundesverfassungsgericht und Grundgesetz I S. 568, 614. 19 S. auch Krauß, Prüfung S. 187. 20 Skouris, Teilnichtigkeit S. 106 ff.; Bettermann, Verfassungskonforme Auslegung S. 34ff.; Burmeister, Verfassungsorientierung S. 120ff.; Schiaich, Bundesverfassungsgericht S. 186f.; Seetzen, NJW 1976, 1997, 1998.
. Bei der Kontrolle anhand des GG als „ ß s n o r m "
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dennoch als verfassungsgemäß aufrechtzuerhalten, wenn sie einer den inhaltlichen Anforderungen der Verfassung entsprechenden Deutung zugänglich ist. Eine Bindung des Bundesverfassungsgerichts an die im angegriffenen Urteil zu möglichen weiteren Auslegungsvarianten des betreffenden Rechtssatzes vertretene Auffassung kommt angesichts der fallübergreifenden Wirkkraft einer Nichtigerklärung auch insoweit nicht in Betracht. 21 Könnte das Bundesverfassungsgericht die zur Bestätigung der Wirksamkeit der Norm erforderliche Inhaltsbestimmung allerdings selbst vornehmen oder bei mehreren sich als verfassungsgemäß darstellenden Lösungen gar die aus seiner Sicht zutreffende auswählen, würde es insoweit die grundsätzlich den Fachgerichten zugewiesene Aufgabe der letztverantwortlichen Feststellung und Anwendung unterverfassungsrechtlicher Rechtssätze22 wahrnehmen. Hiergegen sind aus funktionsrechtlicher Sicht Bedenken angezeigt. Während Stellung und Funktion der Fachgerichte wesentlich durch ihre Sachnähe und Sachkunde bei der Anwendung einfachen Rechts bestimmt sind, ist das Bundesverfassungsgericht mit einfachrechtlichen Regelungszusammenhängen und Regelungsinstituten nur punktuell befaßt und mit der fachgerichtlich ausgeformten Dogmatik des einfachen Rechts typischerweise nur unzureichend vertraut. 23 Ist die Übernahme originär fachrichterlicher Tätigkeit durch das Bundesverfassungsgericht damit prinzipiell zu vermeiden, wird dem Gericht im Grundsatz zu Recht die Befugnis abgesprochen, im Rahmen der „geltungserhaltenden" Feststellungen einer verfassungskonformen Auslegung „nach der richtigen Interpretation einfachen Rechts zu suchen". 24 Ob die verfassungsrechtlich intendierte Funktionenordnung damit allerdings, wie teilweise in der Literatur angenommen wird 2 5 , eine Beschränkung der Befugnis des Bundesverfassungsgerichts auf die Verwerfung (oder Bestätigung) des einen, im Ausgangsfall gewählten Auslegungsergebnisses fordert, erscheint zweifelhaft. Folgte man einer solchen Sicht, müßte im Rahmen der verfassungsgerichtlichen Kontrolle offenbleiben, ob die betreffende Norm überhaupt einem verfassungskonformen Verständnis zugänglich ist. Ist dies jedoch ungeklärt, wäre es dem Bundesverfassungsgericht zugleich verwehrt, im Rahmen einer Urteilsverfassungsbeschwerde die Unvereinbarkeit des in der angegriffenen Entscheidung zugrundegelegten Rechtssatzes als solchem mit dem Grundgesetz festzustellen. Nicht nur die Regelung des § 95 Abs. 3 S. 2 BVerfGG, auch 21 Hält das erkennende Gericht die angewandte Norm in dem zugrundegelegten Verständnis nicht für verfassungswidrig, besteht zu Erwägungen über weitere denkbare Auslegungsmöglichkeiten — anders als bei einer Vorlage gem. Art. 100 Abs. 1 GG — auch kein Anlaß. 22 Dazu oben 1. Kapitel Β I 1. 23 Dazu ausführlich oben 2. Kapitel A III 3 c bb (3) (a). 24 Skouris, Teilnichtigkeit S. 119. 25 Skouris, Teilnichtigkeit S. 119; s. auch Bettermann, Verfassungskonforme Auslegung S. 30, 33 ff., 38.
230
4. Kap.: Eingriffsintensität als Kompetenzmaßstab
prozeßökonomische Erwägungen ließen eine solche Lösung fragwürdig erscheinen: ist das nach Erfolg der Verfassungsbeschwerde erneut zur Entscheidung berufene Gericht der Auffassung, eine andere als die von ihm ursprünglich gewählte Auslegung komme aus Sicht des einfachen Rechts nicht in Betracht, hätte es das Verfahren im Wege der Vorlage gem. Art. 100 Abs. 1 G G erneut vor dem Bundesverfassungsgericht anhängig zu machen. Muß dem Bundesverfassungsgericht zur Vermeidung einer derartigen Verfahrensverzögerung eine Letztentscheidungskompetenz grundsätzlich auch im Hinblick auf die „normerhaltende" Seite der verfassungskonformen Auslegung zukommen, ist ihm andererseits aber die Übernahme fachgerichtlicher Aufgaben untersagt, kann eine funktionsgerechte Zuordnung der jeweiligen Kompetenzbereiche nur erreicht werden, wenn man von einer Bindung des Bundesverfassungsgerichts an die von den zuständigen Fachgerichten getroffenen Feststellungen zur Gesetzeskonformität einer als verfassungsgemäß beurteilten Auslegungsvariante ausgeht.26 Eine Nichtigerklärung kommt damit nur in Betracht, sofern sämtliche von der betreffenden Gerichtsbarkeit hervorgebrachten Auslegungsergebnisse nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts den Vorgaben des Grundgesetzes widersprechen. Eine eigene Normexegese steht dem Bundesverfassungsgericht hingegen nicht zu. 2 7 Sind eine oder mehrere verfassungskonforme Lösungen entwickelt worden, sind diese als verfassungsgemäß zu benennen, ohne daß dem Bundesverfassungsgericht insoweit eine Auswahlbefugnis zustünde oder dem Fachrichter die Entwicklung neuer Auslegungsergebnisse verwehrt wäre. 28 Dieser bleibt gem. § 31 Abs. 1 BVerfGG nur an die Feststellung der Vereinbarkeit der in der verfassungsgerichtlichen Entscheidung aufgezeigten Gesetzesauslegung mit dem Grundgesetz gebunden. 29 Soweit die Wahrnehmung der Maßstabsfunktion des Grundgesetzes mit der Auslegung einfachen Rechts verknüpft ist, kommt dem Bundesverfassungsgericht nach Maßgabe funktionsrechtlicher Erwägungen die Befugnis zu letztverbindlicher Entscheidung demnach nur in eingeschränktem Umfang zu. Für eine Abstufung seiner Kontrollkompetenz anhand einzelfallbezogener Gesichtspunkte wie der Intensität der mit der Verfassungsbeschwerde geltend gemachten grundrechtlichen Betroffenheit ist dabei angesichts der fallübergreifenden Bindungskraft der normverwerfenden Komponente einer verfassungskonformen Auslegung aber kein Raum.
26
Ähnlich Wank, Rechtsfortbildung S. 109; für die vergleichbare Problematik im Rahmen des Art. 100 Abs. 1 GG s. auch Bettermann, Verfassungskonforme Auslegung S. 36f.; Berkemann, AöR 99 (1974), 54, 68; Simon, EuGRZ 1974, 85, 90f.; Burmeister, Verfassungsorientierung S. 110 ff. 27 Wank, Rechtsfortbildung S. 109; Berkemann, AöR 99 (1974), 54, 68. 28 Ebenso Schenke, Verfassungsgerichtsbarkeit S. 41; s. auch Berkemann, AöR 99 (1974), 54, 69; Seetzen, NJW 1976, 1997, 1999. 29 S. auch Bettermann, Verfassungskonforme Auslegung S. 44 f.
Β. Bei der Kontrolle anhand des GG als „Erschließungsnorm"
231
B. Die Kontrolle der Wahrung der grundgesetzlichen Erschließungsfunktion I. Das Grundgesetz als „Erschließungsnorm" Während die Verfassung als „Maßstabs"- oder „Prüfungsnorm" zur Feststellung der Verfassungsmäßigkeit eines Rechtssatzes dient und dabei an seinem generell-abstrakten Regelungsgehalt anknüpft, hat die Erschließungsfunktion des Grundgesetzes die Verfassungsbindung der Jiechisanwendung zum Gegenstand und bezieht sich vornehmlich auf die fallbezogene Konkretisierung der einschlägigen Rechtssätze.30 Die hierbei nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts und der überwiegenden Lehre zu beachtenden verfassungsrechtlichen Vorgaben sind bereits im einzelnen dargestellt worden. 31 1. Restriktive
Ansätze
Abweichende, in der Literatur entwickelte Konzeptionen, die Einwirkung verfassungsrechtlicher Maximen auf die einfachrechtliche Rechtsfindung zur Erhaltung der Identität von Ëntscheidungs- und Kontrollgehalt des Verfassungsrechts zugunsten einer ausschließlich am einfachen Gesetzesrecht orientierten Rechtanwendung zu beschränken 32, haben sich nicht durchgesetzt. Ihnen ist zunächst zu entgegnen, daß sich auch im Wege „materiellrechtlicher Verfassungsreduktion" ein Rückgriff auf funktionsrechtliche Kriterien zur Bestimmung der Grenzen verfassungsgerichtlicher Kontrolle nur im Hinblick auf die oben dargestellte „Kompensationsfunktion" funktionsrechtlicher Betrachtung erübrigen ließe. 33 Nicht nur die Überschneidung der Voraussetzungen von Verfassungs- und Gesetzmäßigkeit staatlichen Handelns, auch die unzureichende Determinationskraft der verfassungsrechtlichen Entscheidungsmaßstäbe steht aber einer ausschließlich an den Grenzen des materiellen Verfassungsrechts orientierten Feststellung der Kontrolldichte entgegen. Ist hierfür stets auch eine Entscheidung über die Verteilung der Kompetenz zur letztverbindlichen Konkretisierung von Inhalt und Grenzen verfassungsrechtlicher Einwirkung zu treffen, muß der Versuch einer ausschließlich materiellrechtlich orientierten Bestimmung der Grenzen der verfassungsgerichtlichen Kontrolle bereits an seiner methodischen Unzulänglichkeit scheitern. 34 Gegen die skizzierten Ansätze lassen sich Bedenken ferner aus materiellem Verfassungsrecht herleiten. Der speziell gegen die zur Disziplinierung gesetzlicher Eingriffe in Grundrechtspositionen des Art. 5 Abs. 1 GG entwickelte 30 31 32 33 34
Zur Abgrenzung beider Verfassungsfunktionen näher unten III. S. oben 1. Kapitel Β III 1 b. Dazu oben 1. Kapitel D I 1, 2. S. dazu oben 2. Kapitel Β II. Vgl. ausführlich oben 2. Kapitel A III 3 b dd.
232
4. Kap.: Eingriffsintensität als Kompetenzmaßstab
Wechselwirkungstheorie gerichteten Kritik von Bettermann und H. H. Klein 35 ist entgegenzuhalten, daß sich das vom Bundesverfassungsgericht insoweit aufgestellte Gebot konkreter Einzelfallabwägung lediglich als besondere Ausprägung des allgemeinen, für Eingriffe in den grundrechtlichen Schutzbereich durchweg geltenden, in Art. 19 Abs. 2 GG verankerten Übermaßverbots darstellt. Dies ist auch gegen die über den Geltungsbereich des Art. 5 Abs. 1 GG hinausgreifende Kritik eines Teils des Schrifttums am verfassungsrechtlichen Rang des an den Rechtsanwender gerichteten Gebots der fallbezogenen Güterabwägung einzuwenden.36 Der Vorschlag, den Geltungsbereich des grundgesetzlichen Übermaßverbots auf Maßnahmen des in grundrechtliche Schutzpositionen eingreifenden Gesetzgebers zu reduzieren, würde nicht nur den im Zuge der modernen Verfassungsentwicklung erreichten Stand des verfassungsrechtlichen Individualschutzes insgesamt in Frage stellen und hätte insoweit kaum Aussicht auf weitreichende Anerkennung. Verfassungsrechtsdogmatisch stünde ihm vor allem Art. 1 Abs. 3 GG entgegen, der keine Abstufung des materiellen Grundrechtsschutzes nach dem jeweils betroffenen Träger der Staatsgewalt vorsieht, sondern eine gleichmäßige Verfassungsbindung anordnet. 37 Ist die Schutzwirkung der Grundrechte demnach nicht Ursachen-, sondern wirkungsorientiert, ist sie unabhängig davon zu bestimmen, welchem Teil der Staatsgewalt eine verfassungsrechtlich mißbilligte Verhaltensfolge zuzurechnen ist. Es kann deshalb für den Umfang des grundrechtlich gewährten Individualschutzes nicht darauf ankommen, ob die den einzelnen übermäßig belastende Einwirkung auf einem für die betreffende Fallgestaltung zugeschnittenen Maßnahmegesetz oder auf einer gleichlautenden, im Rahmen richterlicher Rechtsfindung konkretisierten Entscheidungsnorm beruht. U m so weniger kann von Belang sein, ob die verfassungsrechtlich fragwürdige Wertung bereits bei der Auslegung des generell-abstrakten Rechtssatzes durch den Fachrichter oder erst im Rahmen einer Abwägung der Umstände des Einzelfalls eingeführt wird. Auch der vereinzelt unternommene Versuch einer Neubestimmung des Begriffs der Grundrechtsverletzung 38 ist verfassungsrechtlichen Bedenken ausgesetzt. Ihm steht vornehmlich der Schutzzweck der grundrechtlichen Freiheitsgewährleistungen entgegen. Die Grundrechte sind — wie gezeigt — nicht nur auf eine sachlich-inhaltliche, sondern auch auf eine kompetenzielle Disziplinierung staatlichen Handelns 35 Bettermann, JZ 1964,601,602; H. H. Klein, Staat 10 (1971), 145,152ff., 172; s. auch etwa Herzog, in: Maunz/Dürig, Art. 5 Abs. I, II Rdn. 260. 36 S. etwa Papier, in: Bundesverfassungsgericht und Grundgesetz I S. 432, 445 ff., 452f.; krit. auch Wahl, Staat 20 (1981), 485, 503f. 37 Dazu auch oben 3. Kapitel Β II 4. 38 Steinwedel, Spezifisches Verfassungsrecht S. 58 ff.; Seuffert, NJW 1969,1369,1371; ähnlich wohl Stern, Staatsrecht III/1, § 75 IV 7 (S. 1507).
Β. Bei der Kontrolle anhand des GG als „Erschließungsnorm"
233
gerichtet. 39 Nicht nur ein die gebotene gesetzliche Abwägung gänzlich entbehrender, sondern auch der ihr zuwiderlaufende Hoheitsakt mißachtet aber die dem Schutz der Grundrechtssphäre dienende verfassungsrechtliche Kompetenzordnung und läuft damit der grundrechtlichen Regelungsintention zuwider. Binden die Grundrechte Beeinträchtigungen des von ihnen konstituierten individuellen Status zum Schutz des Grundrechtsträgers gerade auch an die Wahrung der dem Gesetzgeber zugewiesenen Abwägung von Allgemeinwohl und individuellem Freiheitsinteresse, können sich auch Fehler bei der fachgerichtlichen Anwendung unterverfassungsrechtlicher Normen als Grundrechtsverletzung darstellen. Ein abweichendes, einschränkendes Verständnis der Voraussetzungen eines Grundrechtsverstoßes findet im Grundgesetz keine Grundlage. 2. Die Reichweite des Grundgesetzes als „Erschließungsnorm" Vermögen die verschiedenen Bemühungen um eine „materiellrechtliche Verfassungsreduktion" damit nicht zu überzeugen, sind bei der Bestimmung der Reichweite der grundgesetzlichen Erschließungsfunktion die von der herrschenden Auffassung entwickelten Instrumentarien zur Entfaltung der normativen Wirkung des Verfassungsrechts bei der Auslegung und Anwendung des einfachen Rechts zugrundezulegen. 40 Dabei bleibt allerdings die im vorangehenden Kapitel gewonnene Erkenntnis zu vergegenwärtigen, daß dem Grundgesetz Erkenntnis- oder Erschließungsfunktion in unterschiedlichem Ausmaß zukommen kann. Während das Gebot der Unterlassung gesetzwidriger oder übermäßiger Eingriffe in die grundrechtlich geschützte Individualsphäre und das einen Mindeststandard „realer Freiheit" sichernde verfassungsrechtliche Untermaßverbot definitive grundrechtliche Verhaltenspflichten begründen und damit die fachrichterliche Rechtsfindung strikt zu binden vermögen, ist der daneben zu beachtenden Appellwirkung „objektiv-grundrechtlicher" Regelung nur eine unvollkommene, lediglich entscheidungsanleitende Steuerungskraft eigen. Angesichts der Verknüpfung materiellrechtlicher und kompetenzrechtlicher Entscheidungsfaktoren im Verfassungsrecht könnte auch bei der Bestimmung der Reichweite der verfassungsgerichtlichen Kontrolle der fachrichterlichen Rechtsfindung an diese unterschiedliche Qualität verfassungsrechtlicher Entscheidungsmaßstäbe anzuknüpfen sein.
39 40
Vgl. bereits oben 2. Kapitel A II 4, A III 3 b bb. Dazu ausführlich oben 1. Kapitel Β III 1 b.
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4. Kap.: Eingriffsintensität als Kompetenzmaßstab
II. Die funktionsgerechte Zuordnung der Kompetenz zur letztverbindlichen Wahrnehmung der grundgesetzlichen Erschließungsfunktion Î. Die Kontrolle anhand strikter verfassungsrechtlicher Entscheidungsmaßstäbe Abschließende Vorgaben für die Anwendung verfassungsgemäßen oder verfassungskonform ausgelegten einfachen Rechts sind den Grundrechten in mehrfacher Hinsicht zu entnehmen. Hierzu zählen vor allem die Maßstäbe des Über- und des Untermaßverbots sowie das Gebot der Herstellung praktischer Konkordanz bei einer Kollision mehrerer Verfassungsrechtsgüter. 41 Die fallbezogene Verwirklichung derartiger materialer verfassungsrechtlicher Schutzmechanismen setzt — wie gezeigt — eine zusammenschauende Betrachtung von „Kosten" und „Nutzen" der fraglichen Beeinträchtigung des individuellen grundrechtlichen Status voraus und erfolgt im Wege einer verfassungsrechtlich nicht in vollem Umfang determinierten Güterabwägung. 42 Ist der Umsetzung der verfassungsrechtlichen Maßstäbe damit gerade auch im Hinblick auf die Bewertung der Umstände des Einzelfalls ein methodisch nicht einzufangendes, kreatives Element eigen, kommt einer funktionsgerechten Zuweisung der Kompetenz zur letztverbindlichen Verfassungskonkretisierung für die Bestimmung der Reichweite der verfassungsgerichtlichen Kontrolle insoweit besondere Bedeutung zu. a) Die Erschließungswirkung des Grundgesetzes hat — vorbehaltlich einer noch zu leistenden präzisen Abgrenzung von Erschließungs- und Maßstabsfunktion 4 3 — die Einwirkung des Verfassungsrechts auf die fallbezogene Konkretisierung und Anwendung der einschlägigen unterverfassungsrechtlichen Rechtssätze zum Gegenstand. Führt die Durchsetzung der Verfassung als „Erschließungsnorm" nicht zur Aufhebung der Gültigkeit eines unterverfassungsrechtlichen Rechtssatzes öder zur einschränkenden Auslegung seines generell-abstrakten Regelungsgehalts, sondern setzt bei seiner Konkretisierung im Einzelfall an, kommt der Feststellung der insoweit einschlägigen Maßstäbe des Grundgesetzes keine notwendig über den Einzelfall hinausweisende Bedeutung zu. Einschränkungen der Letztentscheidungsbefugnis des Bundesverfassungsgerichts zugunsten eines eigenen Entscheidungsanteils des jeweils beteiligten Fachgerichts sind deshalb nicht von vornherein ausgeschlossen.44 41 Zum Begriff vgl. K. Hesse, Grundzüge Rdn. 317 ff., der das Gebot der Herstellung praktischer Konkordanz allerdings nicht auf die Feststellung verfassungsimmanenter Grenzen der Grundrechte beschränkt; zu letzteren aus der Rechtsprechung etwa BVerfGE 28, 243, 261; 30,173,193; 32, 98,108; 52, 223, 246f.; 77, 240, 253; Henschel, diss, op., in: BVerfGE 78, 38, 56 f. 42 Dazu oben 3. Kapitel Β I 2. 43 Dazu unten III. 44 Zur Bedeutung des § 31 Abs. 1 BVerfGG in diesem Zusammenhang s. bereits oben Fn. 13.
Β. Bei der Kontrolle anhand des GG als „Erschließungsnorm"
235
b) Es ist bereits darauf hingewiesen worden, daß die verfassungsrechtliche Funktionenordnung einer umfassenden verfassungsgerichtlichen Kontrolle jedenfalls der Gesetzmäßigkeit der fachrichterlichen Entscheidung entgegensteht.45 Die vom Bundesverfassungsgericht mit der Formel vom „spezifischen Verfassungsrecht" entwickelte und etwa von Waldner und Schenke mit der Unterscheidung von „mittelbarer" und „unmittelbarer" Grundrechtsverletzung 46 der Sache nach aufgenommene funktionsrechtliche Begrenzung des einschlägigen Kontrollmaßstabs ist daher im Ansatz zutreffend. Die zur Notwendigkeit einer Trennung von Handlungs- und Kontrollmaßstab im Verfassungsrecht allgemein angestellten Überlegungen haben indes ergeben, daß auch bei der Konkretisierung „spezifisch" verfassungsrechtlicher Maßstäbe Aufgabenkonkurrenz zwischen den Gerichtsbarkeiten besteht und die Befugnis des Bundesverfassungsgerichts zur gestaltenden Entwicklung und Durchsetzung seines Verfassungsverständnisses auch insoweit zugunsten eines eigenen Entscheidungsanteils der Fachgerichte begrenzt sein muß. Hierfür sprach nicht nur das Gebot der Erhaltung der „Integrität des konkreten Sachund Rechtszusammenhangs" und der Geschlossenheit der fachrichterlicher Prägung anvertrauten Fachdogmatik, sondern auch die Notwendigkeit der Wahrung des rahmensetzenden Charakters des Grundgesetzes gegenüber einer zunehmenden „Verdichtung" verfassungsgerichtlich gebildeter Entscheidungsmaßstäbe.47 Stehen einer ausschließlichen Zuweisung der Letztentscheidungsbefugnis an das Bundesverfassungsgericht auch bei der Konkretisierung „spezifisch verfassungsrechtlicher" Vorgaben funktionsrechtliche Gesichtspunkte entgegen, erweist sich die mit dieser Formel geleistete Eingrenzung des Maßstabs der verfassungsgerichtlichen Kontrolle als nicht ausreichend und ist darüber hinaus auch eine Beschränkung der Befugnis des Gerichts zur Bildung fallbezogener Kontrollnormen und damit eine Herabsetzung der Kontrolldichte geboten. c) In diese Richtung zielt zunächst der Vorschlag von Schenke, eine Abstufung der Kontrolldichte anhand der Ermessensfehlerlehre vorzunehmen und dabei an einen Gesetzgeber und Fachgericht durch die Verfassung eröffneten materiellrechtlichen Handlungsspielraum anzuknüpfen. 48 Der Ansatz Schenkes leidet jedoch an einer undifferenzierten Betrachtung der Bindungskraft der dabei vor allem in Bezug genommenen „objektiv-grundrechtlichen" Vorgaben. Beschränkt sich das Grundgesetz auf die Setzung einer Rahmenordnung, steht die Letztentscheidungsbefugnis des zuständigen Fachgerichts von vornherein 45
S. oben 1. Kapitel Β I 1; 2. Kapitel A III 3 c aa (1). S. Waldner, Probleme S. 268ff.; ders., ZZP 98 (1985), 200, 210ff.; Schenke, Verfassungsgerichtsbarkeit S. 31. 47 Dazu oben 2. Kapitel A III 3 c bb (3) (a), (b). 48 Schenke, Verfassungsgerichtsbarkeit S. 46 ff.; krit. hierzu Sendler, DVB1.1988, 370; abl. Zuck, Verfassungsbeschwerde Rdn. 487; ausführlich zu Schenke oben 1. Kapitel D II 4. 46
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4. Kap.: Eingriffsintensität als Kompetenzmaßstab
außer Frage, soweit es nicht um die Wahrung, sondern um die Ausfüllung des verfassungsrechtlich vorgegebenen Rahmens geht. So entscheidet das Zivilrecht eine zwischen Privaten bestehende Streitigkeit abschließend, soweit grundrechtliche Maßstäbe die betreffende Rechtsbeziehung inhaltlich nicht im einzelnen determinieren. Zweifelhaft kann der Umfang eines nicht überprüfbaren fachrichterlichen Entscheidungsanteils nur bei der Ermittlung des grundgesetzlichen Rahmens selbst, also der Konkretisierung der definitiven verfassungsrechtlichen Vorgaben oder der Feststellung der Wirkkraft „weicher" grundrechtlicher Wertungsimpulse sein. Jedenfalls im Hinblick auf die erstgenannten Maßstäbe ist die Behauptung, die Letztentscheidungsbefugnis der Fachgerichte ergebe sich aus einem diesen von der Verfassung eröffneten Entscheidungsspielraum, nach den bisherigen Überlegungen zur Bindungskraft strikter verfassungsrechtlicher Verhaltenssteuerung in ihrer materiellrechtlichen Prämisse unzutreffend und bleibt sie in ihrer kompetenzrechtlichen Folgerung ohne hinreichende Begründung. d) Die Durchsicht der in der Literatur zur funktionsorientierten Begrenzung der verfassungsgerichtlichen Kontrolle im übrigen entwickelten Auffassungen 49 läßt im wesentlichen drei Ansatzmöglichkeiten für eine Eingrenzung der Befugnis des Bundesverfassungsgerichts zur abschließenden Konkretisierung strikter verfassungsrechtlicher Entscheidungsmaßstäbe erkennen. So wird vorgeschlagen, die verfassungsgerichtliche Kontrolle grundsätzlich auf die bei der fachrichterlichen Auslegung einfachen Rechts gebildeten Obersätze zu beschränken oder sie lediglich auf Fragen von grundlegender verfassungsrechtlicher Bedeutung zu beziehen. Nach dritter Ansicht soll das Bundesverfassungsgericht dagegen vornehmlich zur Unterbindung der den einzelnen besonders intensiv betreffenden Grundrechtsverletzungen berufen sein. Auch eine Kombination der genannten Kriterien wird vertreten. 50 aa) Einschränkungen der verfassungsgerichtlichen Kontrollkompetenz erweisen sich nach dem oben Gesagten vor allem zur Sicherung einer angemessenen Aufgabenverteilung zwischen Fachgerichtsbarkeit und Bundesverfassungsgericht als erforderlich. Hinweise auf die Reichweite des fachgerichtlichen Konkretisierungsprimats und die verfassungsrechtlich gebotene Ausgestaltung der Kontrolldichte im einzelnen sind damit jedoch noch nicht gewonnen. Zur näheren Bestimmung der Kontrollgrenzen im Rahmen der Urteilsverfassungsbeschwerde könnte ein Rückgriff auf Zielsetzung und Funktion dieses Verfahrens hilfreich sein. 51 (1) Zielsetzung und Funktion der Verfassungsbeschwerde werden in Literatur und Rechtsprechung nicht einheitlich beurteilt. Unbestritten kommt der 49 50 51
Dazu ausführlich oben 1. Kapitel D II 1, 2, 5, III. Vgl. Krauß, Prüfung S. 161 f.; ähnlich wohl Lincke, EuGRZ 1986, 60, 72f. Im Ansatz ebenso Krauß, Prüfung S. 144 ff.
Β. Bei der Kontrolle anhand des GG als „Erschließungsnorm"
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Verfassungsbeschwerde jedenfalls die Funktion der Gewährung subjektiven Rechtsschutzes zu. Daneben wird der durch sie initiierten verfassungsgerichtlichen Entscheidung vielfach auch die sog. objektive Funktion zugeschrieben, eine einheitliche Auslegung und Fortbildung der Grundrechtsordnung zu sichern 52 und damit den Schutz der Verfassung zu bewirken. 53 Nach herrschender, auch vom Bundesverfassungsgericht geteilter Auffassung hat die Verfassungsbeschwerde damit eine zweifache Zielsetzung. 54 Als eigenständige Zwecke des Verfahrens werden darüber hinaus teilweise die mit der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts verbundene Edukationswirkung 55 und die — jene wohl umfassende — subjektiv-generelle, auf vorbeugende Wahrung der Grundrechtsausübung Dritter gerichtete Rechtsschutzwirkung 56 qualifiziert. Auch im Hinblick auf das Gewicht der verschiedenen Verfahrenszwecke und ihr Verhältnis zueinander finden sich recht unterschiedliche Akzentuierungen. Während etwa Krauß von einer Gleichordnung der subjektiv-individuellen, der subjektiv-generellen und der objektiven Funktion der Verfassungsbeschwerde ausgeht 57 , betonen Zuck und E. Klein ihren individualschützenden 58 , Wank und Krebs dagegen ihren objektiv-rechtsbewahrenden Charakter. 59 Dementsprechend werden auch die Grenzen der verfassungsgerichtlichen Kontrolle im Rahmen der Urteilsverfassungsbeschwerde unterschiedlich bestimmt. So läßt sich eine Anknüpfung der Kontrolldichte an die Intensität der im Einzelfall abzuwehrenden Grundrechtsverletzung vornehmlich im Hinblick auf die subjektiv-individuelle Zielsetzung des Verfahrens befürworten 60 , während eine Abstufung anhand des Abstraktionsgrades der fachgerichtlichen Erwägungen oder der verfassungsrechtlichen Bedeutung der zu entscheidenden Rechtsfrage nur mit einer weitgehenden Relativierung der subjektiven Funktion des Verfahrens durch objektive Zielsetzungen begründet werden kann. 6 1 52
Schumann, Verfassungsbeschwerde S. 110; Krebs, Kontrolle S. 66 ff. E. Klein, DÖV 1982, 797, 798. 54 Vgl. BVerfGE 51, 130, 139; ferner BVerfGE 33, 247, 258 f.; 45, 63, 74; Schiaich, Bundesverfassungsgericht S. 127ff.; Häberle, in: Verfassungsgerichtsbarkeit S. 1, 15; K. Hesse, in: FS für Huber S. 261, 266; Zacher, in: Bundesverfassungsgericht und Grundgesetz I S. 396, 397f., 416; Löwer, in: Handbuch des Staatsrechts II, §56 Rdn. 142; Schumann, Verfassungsbeschwerde S. 99 ff., 108 ff.; Träger, in: FS für Geiger S. 762, 768 ff.; a. A. aber etwa Zeidler, DÖV 1954, 420, 422; Vitzthum, in: FS für Bachof S. 293, 317; Rinken, in: AK, Art. 93 Rdn. 52,61; Schlink, NJW 1984,89,92, die die eigenständige Bedeutung der auf Rechtswahrung gerichteten „objektiven" Zielsetzung verneinen. 55 Vgl. BVerfGE 33, 247, 259; Zweigert, JZ 1952, 321; H. Rupp, ZZP 82 (1969), 1, 3; Fröhlinger, Erledigung S. 195. 56 Vgl. Krauß, Prüfung S. 157 ff. Beide Gesichtspunkte sind allerdings eng mit der „objektiven" Rechtswahrungsfunktion der Verfassungsbeschwerde verknüpft. 57 Vgl. Krauß, Prüfung S. 147 ff., 161. 58 Zuck, Verfassungsbeschwerde Rdn. 61 ff., 75 f.; E. Klein, DÖV 1982, 797, 802ff. 59 Wank, JuS 1980, 545, 549 ff.; Krebs, Kontrolle S. 67 f. 60 S. etwa Krauß, Prüfung S. 148 ff.; Rinken, in: AK, Art. 93 Rdn. 69. 61 Wank, JuS 1980, 545, 550 f. 53
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4. Kap.: Eingriffsintensität als Kompetenzmaßstab
(2) Die Verfassungsbeschwerde ist durch §§ 90 ff. BVerfGG nicht als objektives Beanstandungsverfahren, sondern als „außerordentlicher Rechtsbehelf zur Durchsetzung individueller Grundrechtspositionen" 62 ausgestaltet und wird von Art. 93 Abs. 1 Nr. 4 a GG in ihrer so bestimmten Ausformung auch verfassungsrechtlich garantiert. 63 Sie zielt nicht vorrangig auf die Entscheidung einer abstrakten Rechtsfrage, sondern auf die Abhilfe des individuellen Rechtsschutzbegehrens. Ihre Zulässigkeit ist demgemäß nicht lediglich an eine besonders qualifizierte tatsächliche Beschwer 64, sondern an die hinreichend plausible Behauptung einer subjektiven Grundrechtsverletzung gebunden und setzt demgemäß auch stets die Grundrechtsfahigkeit und -mündigkeit des Beschwerdeführers voraus. 65 Auch der Entscheidungsgegenstand i.S.d. §95 BVerfGG wird grundsätzlich durch den Antrag des Betroffenen bestimmt. 66 Zwar führt die in diesem Rahmen erfolgende Überprüfung der angegriffenen Akte öffentlicher Gewalt zugleich auch eine Klärung der objektiven Rechtslage herbei und dient damit der Wahrung des objektiven Verfassungsrechts. Sind subjektive Rechte aber stets auf die Durchsetzung einer objektiven Sollensanordnung gerichtet 67 , handelt es sich dabei um eine — auf der jeweiligen Normstufe —jedem Individualrechtsbehelf eigene Wirkung. Auch der Hinweis auf die den Grundrechten neben ihrem individualschützenden Gehalt innewohnende „objektivrechtliche" Steuerungskraft kann angesichts der umfassenden Rügbarkeit der dergestalt begründeten Verhaltenspflichten 68 keine Sonderstellung der Verfassungsbeschwerde begründen. 69 Die objektive Rechtsklärung bleibt insoweit Reflex der über das Klagebegehren ergehenden Entscheidung. Ihr kommt daher kein eigenständiger Stellenwert bei der Bestimmung der Funktionen des Verfahrens zu. 7 0 Zielsetzung und Zugangsregelungen geben der Verfassungsbeschwerde damit einen vorrangig individualschützenden Zuschnitt. 71 62
S. etwa BVerfGE 4, 27, 30; 33, 247, 258 f.; 51,130,139; dazu auch Vitzthum, in: FS für Bachof S. 293, 317. 63 Zum Verhältnis von Art. 93 Abs. 1 Nr. 4 a GG zu §§ 90 ff. BVerfGG vgl. Erichsen, in: Studium und Examen S. 214; Schiaich, Bundesverfassungsgericht S. 128; aber auch Schlink, NJW 1984, 89, 92. 64 Vgl. demgegenüber § 47 Abs. 2 VwGO; zum Meinungsstand bei der Auslegung des Nachteilsbegriffs s. Erichsen/ Scherzberg, DVB1. 1987, 168, 171. 65 Zur Beschwerdebefugnis s. bereits oben 3. Kapitel Fn. 417; zum Begriff der Gundrechtsmündigkeit Gusy, Verfassungsbeschwerde Rdn. 60; v. Mutius, Jura 1988, 272ff.; krit. K. Hesse, Grundzüge Rdn. 285; Erichsen, in: Studium und Examen S. 214, 216 f. 66 BVerfGE 57, 9,19; 57, 43, 54; zur Rechtsprechung im einzelnen E. Klein, AöR 108 (1983), 410, 561, 595ff. 67 Dazu bereits oben 3. Kapitel C III 1. 68 Dazu ausführlich oben 3. Kapitel C III 6, 7. 69 Α. A. Fröhlinger, Erledigung S. 219, 220 ff. 70 So auch Vitzthum, in: FS für Bachof S. 293, 317.
Β. Bei der Kontrolle anhand des GG als „Erschließungsnorm"
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Dies bestätigen die die Annahme der Beschwerde betreffenden Regelungen der §§ 93 b und c BVerfGG. Das Annahmeverfahren dient dem Schutz des Bundesverfassungsgerichts vor Überlastung und damit der Wahrung seiner Funktionsfähigkeit. 12 Die Ausgestaltung des Annahmeverfahrens 73 vermag deshalb Hinweise auf die dem Gericht nach der gesetzlichen Regelungsintention zukommende Stellung im Funktionsgefüge der Staatsorgane zu geben. Die individualschützende Bedeutung der Verfassungsbeschwerde wird in §§ 93 b und c BVerfGG dadurch hervorgehoben, daß sie einer ablehnenden Entscheidung der Kammer sowohl im Hinblick auf die Erfolgsaussichten — § 93 b Abs. 1 S. 1 Nr. 2 BVerfGG — als auch im Hinblick auf das Gewicht der zu erwartenden Nachteile — §§ 93 b Abs. 1 S. 1 Nr. 3, 93 c S. 2 BVerfGG entgegenstehen kann und die „subjektive Wichtigkeit" 7 4 des Rechtsschutzbegehrens gem. § 93 c S. 2 BVerfGG auch den Senat zur Annahme der Sache verpflichtet. 75 Auch die Regelung des § 93 b Abs. 2 BVerfGG, der eine stattgebende Kammerentscheidung ermöglicht, obwohl ein vergleichbarer Sachverhalt in seiner verfassungsrechtlichen Beurteilung bereits geklärt ist und der Abhilfe des Rechtsschutzbegehrens damit keine über den Einzelfall hinausweisende Bedeutung zukommen kann, läßt die individualschützende Zielsetzung des Verfahrens erkennen. 76 (3) Die Ausgestaltung des Annahmeverfahrens in §§ 93 a ff. BVerfGG enthält andererseits auch Anhaltspunkte für eine eigenständige Bedeutung der objektiven und subjektiv-generellen Rechtsschutzwirkungen der verfassungsgerichtlichen Entscheidung. So steht gem. §§ 93 b Abs. 1 S. 1 Nr. 3, 93 c S. 2 BVerfGG 71
Zuck, Verfassungsbeschwerde Rdn. 75 f.; E. Klein, DÖV 1982, 797, 802, 805; ders., AöR 108 (1983), 410,561,589 ff.; Gusy, Verfassungsbeschwerde Rdn. 15; Vitzthum, in: FS für Bachof S. 293,317; Schumann, Verfassungsbeschwerde S. 99f.; vgl. auch BVerfGE 15, 298, 302; 30,112,119ff; 43,142,148. S. dazu auch die Begründung des Verfassungskonvents von Herrenchiemsee zu der zunächst gescheiterten Aufnahme der Verfassungsbeschwerde in das Grundgesetz: „Durch die Verfassungsbeschwerde erhalten die Grundrechte erst ihren vollen Charakter als subjektive Rechte"; dazu Säcker, in: FS für Zeidler I S. 265 ff.; Stern, Staatsrecht II, § 44 IV 9 (S. 1015). 72 Schlink, NJW 1984, 89, 90; Schiaich, Bundesverfassungsgericht S. 121 ff. 73 Die Verfassungsmäßigkeit des Annahmeverfahrens in seiner heutigen Gestalt kann angesichts der Anknüpfung des Art. 94 Abs. 2 S. 2 GG an die bei der Aufnahme der Verfassungsbeschwerde in das Grundgesetz im Jahre 1969 vorgefundene und mit einigen Modifizierungen in §§ 93 a — c BVerfGG fortgeltende Annahmeregelung nicht zweifelhaft sein; vgl. Vitzthum, in: FS für Bachof S. 293, 312ff.; Schiaich, Bundesverfassungsgericht S. 128; dagegen hält Schlink, NJW 1984, 89,93 eine verfassungskonforme Auslegung der §§ 93 a — c BVerfGG für geboten. 74 Zacher, in: Bundesverfassungsgericht und Grundgesetz I S. 396, 415 f. 75 Zacher, in: Bundesverfassungsgericht und Grundgesetz I S. 396, 416. 76 Mahrenholz, in: FS für Zeidler II S. 1361,1367 f.; ebenda S. 1369 auch zum Vorrang der Stattgabe gem. § 93 b Abs. 2 gegenüber einer Nichtannahme gem. §§ 93 b Abs. 1 S. 1 Nr. 3, 93 c S. 2 BVerfGG. 76a Dazu Träger, in: FS für Geiger S. 762, 771 ff.; s. auch Stern, in: BK, Art. 93 Rdn. 714.
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4. Kap.: Eingriffsintensität als Kompetenzmaßstab
neben der Intensität des abzuwehrenden Nachteils auch die Erwartung der Klärung einer verfassungsrechtlichen Frage einer Ablehnung der Annahme der Beschwerde entgegen. In ähnlicher Weise stellt § 90 Abs. 2 S. 2 BVerfGG die Kriterien der subjektiven und objektiven Gewichtigkeit der Sache bei der ausnahmsweisen Zulassung einer Verfassungsbeschwerde vor Erschöpfung des Rechtswegs nebeneinander. Auf objektive Rechtswahrung zielt ferner die in §§ 95 Abs. 3 S. 2, 31 Abs. 2 S. 2 BVerfGG enthaltene Regelung, wonach das Bundesverfassungsgericht auch im Rahmen der Urteilsverfassungsbeschwerde befugt ist, mit allgemeiner Verbindlichkeit die Nichtigkeit oder die Vereinbarkeit eines angewandten Gesetzes mit dem Grundgesetz festzustellen. 763 Schließlich deuten auch die Tenorierungsvorschriften des § 95 Abs. 1 BVerfGG darauf hin, daß die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts nicht nur der Abhilfe eines individuellen Rechtsschutzbegehrens, sondern auch der Wahrung der Verfassungsordnung und der vorbeugenden Sicherung künftiger Grundrechtsausübung dienen soll. § 95 Abs. 1 BVerfGG eröffnet die Möglichkeit, im Tenor der Entscheidung auch die Verfassungswidrigkeit einer Wiederholung der beanstandeten Maßnahme festzustellen, und begründet zugleich die Pflicht, bei der Aufhebung der erfolgreich angegriffenen Maßnahme die verletzte Vorschrift des Grundgesetzes ausdrücklich zu benennen.77 M i t der Aufnahme dieser, der künftigen Durchsetzung der Grundrechte geltenden Feststellungen in die Entscheidungsformel wird klargestellt, daß sie der Bindungskraft des § 31 Abs. 1 BVerfGG unterstehen, der die Rechtskraft der Entscheidung über das konkret im Streit befindliche Rechtsverhältnis hinaus erweitert. 78 Die objektive Rechtswahrungsfunktion der Verfassungsbeschwerde wird darüber hinaus vornehmlich durch die Entscheidungspraxis des Bundesverfassungsgerichts gestärkt. 79 So ist bei näherer Analyse der im Rahmen des Annahmeverfahrens vorgenommenen Selektion der Verfassungsbeschwerden eine deutliche Bevorzugung solcher Verfassungsbeschwerden festgestellt worden, die eine Klärung verfassungsrechtlich bedeutsamer Rechtsfragen ermöglichen. 80 Zu einer Betonung der objektiven Rechtsschutzfunktion führt es auch, wenn das Bundesverfassungsgericht eine zulässige Verfassungsbeschwerde gelegentlich zum Anlaß nimmt, sich im Hinblick auf Entscheidungsgegenstand und Prüfungsmaßstab vom Antrag des Beschwerdeführers zu lösen und auch eine mit der entscheidungserheblichen Regelung in unmittelbarem Zusammen77
Dazu Zuck, Verfassungsbeschwerde Rdn. 70 f.; Fröhlinger, Erledigung S. 207 ff. Dazu Schmidt-Bleibtreu, in: Maunz /Schmidt-Bleibtreu/ Klein /Ulsamer, § 95 Rdn. 19; s. allgemein auch Zuck, Verfassungsbeschwerde Rdn. 72, 852; Maunz, in: Maunz/ Schmidt-Bleibtreu/Klein/Ulsamer, § 31 Rdn. 19. 79 Dazu Krebs, Kontrolle S. 68; Bryde, Verfassungsentwicklung S. 158 ff.; Fröhlinger, Erledigung S. 214ff.; E. Klein, DÖV 1982, 797, 798ff.; Träger, in: FS für Geiger S. 762, 763 ff. 80 Bryde, Verfassungsentwicklung S. 159 f. 78
Β. Bei der Kontrolle anhand des GG als „Erschließungsnorm"
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hang stehende Rechtsnorm einer verfassungsrechtlichen Überprüfung zu unterziehen, obwohl ein Verfassungsverstoß insoweit eine Verletzung der gerügten Grundrechte nicht begründen könnte. 81 Hinzuweisen ist ferner auf die Einbeziehung der in den tragenden Gründen der Entscheidung enthaltenen Ausführungen zur Auslegung der Verfassung in die Bindungswirkung des § 31 Abs. 1 BVerfGG. 82 (4) Bei einer Gewichtung der subjektiven und objektiven Rechtsschutzfunktionen der Urteilsverfassungsbeschwerde könnte der in der Literatur teilweise behauptete Vorrang der sog. objektiven Verfahrensziele zutreffend sein, wenn die den Zugang zum Bundesverfassungsgericht betreffenden Regelungen der Art. 94 Abs. 2 S. 2 GG, §§ 90ff. BVerfGG Anhaltspunkte für eine Relativierung der individualschützenden Zielsetzung der Verfassungsbeschwerde zugunsten ihrer die Abhilfe im Einzelfall übersteigenden Zwecke bieten. (a) Einschränkungen des in Art. 93 Abs/1 Nr. 4 a GG gewährleisteten verfassungsgerichtlichen Individualrechtsschutzes sind im Grundgesetz nur in Art. 94 Abs. 2 S. 2 G G angesprochen. Damit werden im wesentlichen zwei Zielsetzungen verfolgt: (aa) Die dem Gesetzgeber eingeräumte Befugnis zur Normierung einschränkender Zugangsregelungen dient — wie das dabei in Bezug genommene Annahmeverfahren — primär der Verhinderung einer Überlastung des Bundesverfassungsgerichts.^ 83 Das Grundgesetz nimmt damit den allgemein geteilten Befund auf, daß die Aufgabe der Gewährung individuellen Grundrechtsschutzes durch das Bundesverfassungsgericht angesichts seiner personellen und organisatorischen Ausstattung allein nicht effektiv bewältigt werden kann. Die Vorschrift zielt damit zugleich auf die Herstellung einer sinnvollen Arbeitsteilung unter den Gerichten ,84 Rückschlüsse auf einen Vorrang objektiver Verfahrenszwecke läßt Art. 94 Abs. 2 S. 2 BVerfGG hingegen — entgegen anderslautender Äußerungen im Schrifftum 85 — nicht zu. So können angesichts des Wortlauts und der Entstehungsgeschichte der Vorschrift kaum Zweifel bestehen, daß die dem Gesetzgeber erteilte Ermächtigung nicht nur die gegenwärtige Ausgestaltung des Annahmeverfahrens umfaßt 86 , sondern auch weder einer den subjektiven Rechtsschutz noch einer die objektiven Verfahrensziele stärker akzentuierenden 81 Vgl. etwa BVerfGE 6,273,282; 17,252,258; 18,288, 300; 24, 75,103; 40,296, 309f.; 42, 312, 325 f.; dazu ausführlich E. Klein, AöR 108 (1983), 410, 561, 595 ff.; s. aber auch oben 3. Kapitel Fn. 418. 82 Dazu bereits oben 2. Kapitel Fn. 196. 83 S. dazu Schiaich, Bundesverfassungsgericht S. 121 f.; E. Klein, AöR 108 (1983), 410, 561, 590, 609; Vitzthum, in: FS für Bachof S. 293, 312ff. 84 Krauß, Prüfung S. 148. 85 Zuck, Verfassungsbeschwerde Rdn. 67. 86 Dazu bereits oben Fn. 73. 16 Scherzberg
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4. Kap.: Eingriffsintensität als Kompetenzmaßstab
Annahmeregelung entgegenstünde.87 Daß sich der verfassungsändernde Gesetzgeber zugleich mit der Verankerung der Verfassungsbeschwerde im Grundgesetz im Jahre 1969 88 auch zur Schaffung einer eigenständigen Rechtsgrundlage für das den individuellen Zugang zum Bundesverfassungsgericht beschränkende Annahmeverfahren veranlaßt sah, verdeutlicht im Gegenteil die auf uneingeschränkten individuellen Rechtsschutz gerichtete Zielsetzung des Art. 93 Abs. 1 Nr. 4 a GG. (bb) Der Gesetzgeber ist gem. Art. 94 Abs. 2 S. 2 G G darüber hinaus befugt, die Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde an die vorherige Erschöpfung des Rechtswegs zu binden. Die Verfassungsbeschwerde ist durch § 90 Abs. 2 S. 1 BVerfGG demgemäß als „außerordentlicher Rechtsbehelf' ausgestaltet und grundsätzlich nur zulässig, wenn der gerügte Grundrechtsverstoß nicht auf andere Weise beseitigt werden kann oder hätte beseitigt werden können. 89 Auch der Grundsatz der Subsidiarität gilt nicht nur — wie vielfach anerkannt — der Entlastung des Bundesverfassungsgerichts. Er dient zugleich der Wahrung der Rechtssicherheit, die einer beliebigen Durchbrechung der.Rechtskraft fachgerichtlicher Entscheidungen entgegenstünde90, und korrespondiert darüber hinaus mit dem verschiedentlich hervorgehobenen Befund, daß nach dem grundgesetzlich konstituierten Rechtsschutzsystem die Wahrung und Durchsetzung der grundrechtlich intendierten Ordnung in erster Linie den Fachgerichten zugewiesen ist. Ist ein Verfassungsverstoß im Rahmen der nach den geltenden Prozeßordnungen vorgesehenen Rechtsmittel zunächst von den Fachgerichten zu beseitigen, wird diesen damit nicht nur ein tatsächlicher Vorrang bei der Abhilfe des individuellen Rechtsschutzbegehrens eingeräumt, sondern wird dadurch zugleich der ihnen funktionsrechtlich zukommende grundsätzliche Konkretisierungsprimat gegenüber der Verfassungsgerichtsbarkeit gesichert. 91 (b) Auch §§ 90 Abs. 2 S. 2, 93 b Abs. 1 S. 1 Nr. 3, 93 c S. 2 BVerfGG lassen keine Relativierung der individualschützenden Zielsetzung der Verfassungsbeschwerde zugunsten überindividueller Verfahrenszwecke erkennen. Die „objektive Bedeutung" der verfassungsgerichtlichen Entscheidung wirkt danach lediglich als Zugangs eröffnender Maßstab und tritt als solcher alternativ 87 Gusy, Verfassungsbeschwerde Rdn. 5; Fröhlinger, Erledigung S. 205; zur Entstehungsgeschichte Schmidt-Bleibtreu, in: Maunz /Schmidt-Bleibtreu/ Klein /Ulsamer, § 93 a Rdn. 6. 88 Gesetz v. 29. 1. 1969, BGBl. I S. 97. 89 BVerfGE 22, 287, 290f.; 33, 247, 258; 49, 252, 258; 74, 102, 113f.; 76, 1, 39f. 90 Vgl. etwa Schmidt-Bleibtreu, in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Ulsamer, §90 Rdn. 193. 91 Vgl. auch BVerfGE 49, 252, 258; 55, 244, 247; s. ferner Zacher, in: Bundesverfassungsgericht und Grundgesetz I S. 396, 404f., 418, der auf den Zusammenhang des Erfordernisses der Rechtswegerschöpfung mit dem Gebot der Wahrung der Integrität des konkreten Sach- und Rechtszusammenhangs hinweist.
Β. Bei der Kontrolle anhand des GG als „Erschließungsnorm"
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neben die die Zulässigkeit einer Vorabentscheidung und die Annahme der Sache durch Kammer und Senat steuernden Kriterien „subjektiver Wichtigkeit". Bei hinreichendem individuellen „Rechtsschutzbedarf" kommt eine Ablehnung der Annahme gem. § 93 c S. 2 BVerfGG auch bei mangelnder Klärungsbedürftigkeit der aufgeworfenen Rechtsfrage deshalb nicht in Betracht. Dem Senat steht insoweit auch kein Ermessen hinsichtlich der Annahme zu. 9 2 Der objektiven Rechtsschutzfunktion des Beschwerdeverfahrens kommt demnach keine „Korrektur·", sondern lediglich eine „Komplementärfunktion" bei der Konkretisierung des Rechtsschutzauftrags des Bundesverfassungsgerichts im Rahmen der Verfassungsbeschwerde zu. 9 3 Die in der Gestaltung der Zugangs- und Verfahrensregelungen anklingende Zielsetzung, mit der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts über die Streitschlichtung im Einzelfall hinaus zur generellen Sicherung der Grundrechtsausübung und zur Wahrung und Fortbildung des Verfassungsrechts beizutragen, kann deshalb nicht als Relativierung, sondern lediglich als Ergänzung der primär individualschützenden Funktion des Verfahrens verstanden werden. 94 (5) Bei dem Versuch, die Rechtsschutzfunktion der t/rte/Ayverfassungsbeschwerde zu bestimmen, bleibt allerdings zu bedenken, daß die genannten Vorschriften allgemeingültige, die Rechtsschutzform der Verfassungsbeschwerde als solche betreffende Zugangsregelungen enthalten und nur vereinzelt an den jeweils unterbreiteten Verfahrensgegenstand anknüpfen. 95 Indes erscheint fraglich, ob die funktionelle Bedeutung der verfassungsgerichtlichen Entscheidung allein im Hinblick auf eine einheitliche verfahrensrechtliche Ausgestaltung für alle Arten der Verfassungsbeschwerde — die ausdrückliche und die „verdeckte" Rechtssatzverfassungsbeschwerde sowie die ausschließlich gegen die fachrichterliche Rechtsfindung gerichtete „eigentliche" Urteilsverfassungsbeschwerde 96 — auch einheitlich bestimmt werden kann. Versteht man unter „Funktion" die Wirkungsweise eines Staatsorgans, seine auf einen bestimmten Zweck bezogene Leistung 97 , ist diese nicht zuletzt abhängig vom jeweiligen Gegenstand der vorgegebenen Entscheidungszuständigkeit. Der dem Bundesverfassungsgericht bei der Entscheidung über das jeweilige Überprüfungsbegehren erteilte Rechtsschutzauftrag kann deshalb nicht allein anhand der für alle Verfassungsbeschwerden geltenden Verfahrensbestimmungen ermittelt werden, sondern ist unter Einbeziehung der aus dem spezifischen Verfahrensgegenstand folgenden Besonderheiten zu bestimmen. 92
Schmidt-Bleibtreu, in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Ulsamer, § 93 c Rdn. 9. Abweichend Zuck, Verfassungsbeschwerde Rdn. 79 f. 94 So im Ergebnis auch Fröhlinger, Erledigung S. 204f. 95 So §§ 90 Abs. 2 S. 2, 93 Abs. 1 und 2, 95 Abs. 2 und 3 BVerfGG. 96 Zu den Arten der Verfassungsbeschwerde Schumann, Verfassungsbeschwerde S. 118 ff. 97 Dazu oben 2. Kapitel A III 3 a. 93
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4. Kap.: Eingriffsintensität als Kompetenzmaßstab
Während die itecAtoötfzverfassungsbeschwerde typischerweise generell-abstrakte Regelungen zum Gegenstand hat und die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts deshalb zur Erhaltung der Rechtseinheit gem. §§ 95 Abs. 3, 31 Abs. 2 S. 2 BVerfGG eine fallübergreifende Klärung der Verfassungsmäßigkeit der fraglichen Regelung bewirken muß, liegt der i/rtei/sverfassungsbeschwerde stets die Entscheidung eines Einzelfalls zugrunde. Der Beschwerdeführer betreibt das Verfahren vielfach nicht „stellvertretend" für eine Vielzahl in gleicher Weise Betroffener. Die Urteilsverfassungsbeschwerde ist vornehmlich unabhängig davon eröffnet, ob sie sich zugleich gegen die Verfassungsmäßigkeit des dem fachrichterlichen Urteil zugrundeliegenden Rechtssatzes wendet. Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts hat demgemäß typischerweise keine der Normenkontrolle vergleichbare „Breitenwirkung". M i t der Urteilsverfassungsbeschwerde wird dem Bundesverfassungsgericht eine Konkretisierung der einschlägigen Verfassungsbestimmungen vielmehr unter einem durch spezifisch individuell geprägte Interessen bestimmten Blickwinkel angetragen. 98 Ausweislich der im ersten Kapitel dargestellten Fallpraxis läßt sich dem dabei verfolgten Rechtsschutzbegehren regelmäßig nicht durch eine Korrektur der bei der Entscheidung entwickelten normkonkretisierenden Obersätze abhelfen, sondern ist dazu eine Überprüfung auch der Bewertung und Abwägung der Umstände des Einzelfalls erforderlich. Dies setzt eine auch fallbezogene Umstände einbeziehende und an ihnen orientierte verfassungsrechtliche Maßstabbildung voraus. Ist die Gewährung effektiven, die Durchsetzung der geltend gemachten Grundrechtspositionen gewährleistenden Rechtsschutzes im Rahmen der Urteilsverfassungsbeschwerde typischerweise an eine individualisierende, die Umstände des konkreten Sachverhalts verfassungsrechtlich bewertende und abwägende Verfassungskonkretisierung gebunden, kann die Einrichtung eines solchen Verfahrens nicht in erster Linie auf die Klärung von Fragen grundlegender verfassungsrechtlicher Bedeutung oder die Entwicklung allgemeiner, die Grundrechtsausübung Dritter sichernder Grundsätze zielen. 99 Die Urteilsverfassungsbeschwerde dient vielmehr vornehmlich der Bewahrung der individuellen Grundrechtsposition und der Herstellung von „Verfassungsgerechtigkeit" in der Einzelfallentscheidung. 100 Zwar hat auch die auf die Urteilsverfassungsbeschwerde ergehende Entscheidung an der Bindungswirkung des § 31 Abs. 1 BVerfGG teil. Sie beendet also nicht nur den konkreten Rechtsstreit, sondern führt auch zu einer für gleichgelagerte künftige Fälle verbindlichen Klärung der aufgeworfenen Rechtsfrage. 101 Die Reichweite dieser Bindungskraft ist jedoch grundsätzlich 98
Stern, in: BK, Art. 93 Rdn. 406. S. auch Prümm, Verfassung S. 157: „... [das Bundesverfassungsgericht] hat nachzuprüfen, ob der Bürger in seinen Grundrechten verletzt ist. Eine solche Verletzung geschieht jedoch nicht grundsätzlich; sie wird von dem einzelnen Bürger konkret erfahren." (Einschub vom Verf.). 100 S. vor allem Rupp-v. Brünneck, diss, op., in: BVerfGE 42, 143, 156. 99
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auf die durch den Einzelfall veranlaßte Verfassungskonkretisierung begrenzt 102 , die objektive Rechtsbewahrungs- und -klärungsfunktion der individualschützenden Seite der Verfassungsbeschwerde insoweit deutlich nachgeordnet. bb) Geht man von der primär individualschützenden Funktion der Urteilsverfassungsbeschwerde aus, bestehen Bedenken gegen eine ausschließlich an den objektiven Wirkungen des Verfahrens orientierte Abstufung der Kontrolldichte des Bundesverfassungsgerichts. Dies betrifft vor allem die von Schuppert 103 und Wank 104 vorgeschlagene Anknüpfung an Art und Gegenstand der überprüften fachgerichtlichen Wertung. Danach sind nur die bei der Auslegung des einfachen Rechts gebildeten Obersätze einer vollständigen Inhaltskontrolle zu unterziehen, während die Überprüfung der daraus entwickelten, subsumtionsfahigen Entscheidungsnorm und der dabei vorgenommenen Abwägung gänzlich ausgeschlossen oder auf die Einhaltung bestimmter prozeduraler Mindestanforderungen beschränkt sein soll. Die fallbezogene Konkretisierung verfassungsrechtlicher Maßstäbe wird damit in gewissem Umfang der verfassungsgerichtlichen Einwirkung entzogen und der Letztentscheidungskompetenz der Fachgerichte zugewiesen. Wank befürwortet darüber hinaus eine generelle Beschränkung des Bundesverfassungsgerichts auf Fragen von grundsätzlicher verfassungsrechtlicher Bedeutung. 105 (1) Die von Wank zur Begründung seines restriktiven, die objektiven Verfahrenszwecke betonenden Ansatzes gezogene Parallele zu revisionsrechtlichen Vorschriften steht allerdings in deutlichem Widerspruch zu der vom Bundesverfassungsgericht unter weitgehender Billigung der Literatur hervorgehobenen subjektiven Rechtsschutzfunktion auch der zivilprozessualen Revisionsentscheidung106 und vernachlässigt darüber hinaus wesentliche Unterschiede in Ausgestaltung und Zielsetzung beider Rechtsbehelfe. 107 Jedenfalls für die {/rtei/sverfassungsbeschwerde kann nach dem Gesagten ein Vorrang der objektiven Verfahrenszwecke nicht angenommen werden. Dient dieses Verfah101
Zuck, Verfassungsbeschwerde Rdn. 72; zur Teilhabe der Entscheidungsgründe an der Bindungswirkung s. oben 2. Kapitel A III 3 c bb (3) (b). 102 Zu Ausnahmen der Überschreitung des Verfahrensgegenstandes vgl. soeben (3). 103 Schuppert, AöR 103 (1978), 43, 55 ff.; im Ansatz ähnlich Η. P. Schneider, NJW 1980, 2103, 2110; zustimmend auch Rinken, in: AK, Art. 93 Rdn. 67ff.; teilweise auch Krauß, Prüfung S. 114ff, 157ff., 161 f.; krit. Gusy, Verfassungsbeschwerde Rdn. 91; Waldner, ZZP 98 (1985), 200, 207ff.; dazu bereits oben 1. Kapitel D II 1. 104 Wank, JuS 1980, 545ff; krit. dazu Krauß, Prüfung S. 122; Wahl, Staat 20 (1981), 485, 503 (Fn. 61); Stern, in: BK, Art. 93 Rdn. 706; s. dazu bereits oben 1. Kapitel D II 2. 105 Wank, JuS 1980, 545, 550 f. 106 Vgl. BVerfGE 49,148,159ff.; 54,277,289ff., 294; Grunsky, in: Stein-Jonas, Rdn. 3 vor § 545; Krämer, NJW 1981, 799, 800; Kornblum, ZRP 1980, 185, 190; s. auch Rosenberg-Schwab, Zivilprozeßrecht, §§ 135 II 2, 143 I 2. 107 Dazu krit. Krauß, Prüfung S. 122; Stern, in: BK, Art. 93 Rdn. 706.
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ren gerade der Verwirklichung des individuellen Grundrechts in der Einzelfallentscheidung, kommt eine generelle Beschränkung der verfasungsgerichtlichen Kontrolle auf Fragen von allgemeiner verfassungsrechtlicher Bedeutung nicht in Betracht. (2) Indiz für die Kontrollzugänglichkeit fachrichterlicher Auslegungs- oder Abwägungsergebnisse ist für Schuppert die Möglichkeit ihrer sprachlichen Umsetzung in einen Normsatz. 108 Er bemerkt zutreffend, daß die Eignung des Abwägungsergebnisses zu einer solchen Abstraktion von der Fallnähe der Abwägung abhängt. 109 Angesichts des Fehlens bindender methodischer Regeln für eine ordnungsgemäße juristische Entscheidungsbegründung wird die Fallbezogenheit des jeweils überprüften Elements richterlicher Rechtsfindung jedoch nicht zuletzt von Zufälligkeiten in der Formulierung der jeweiligen Entscheidungsbegründung bestimmt. Die Analyse der Rechtsprechung hat gezeigt, daß sich fallentscheidende Wertungen vielfach sowohl im Wege abstrakter Güterabwägung als auch durch eine ausdrücklich auf Umstände des Einzelfalls bezogene Erwägung einführen lassen. 110 Soll dem Bundesverfassungsgericht die fallspezifische Konkretisierung verfassungsrechtlicher Vorgaben grundsätzlich entzogen werden, könnte demnach nicht an den Abstraktionsgrad des jeweils überprüften Rechtsfindungselements angeknüpft werden, sondern wäre unabhängig von der Formulierung der Entscheidungsgründe zu fragen, in welchem Maße das Auslegungs- oder Abwägungsergebnis tatsächlich von fallspezifischen Erwägungen geprägt ist. Die Schwierigkeit einer solchen Feststellung spricht gegen die Praktikabilität der vorgeschlagenen Differenzierung. Das Ausmaß der Fallbezogenheit der fachgerichtlichen Wertungen ist allerdings nicht nur von Zufälligkeiten in der Wiedergabe der Entscheidungsgründe bestimmt, sondern nicht zuletzt auch abhängig vom Grad der Spezialität der zu berücksichtigenden Bedingungen des Einzelfalls. Je spezifischer und weniger einer Abstraktion zugänglich sich die Umstände der konkreten Güteroder Interessenkollision darstellen, desto geringer ist regelmäßig auch der Abstraktionsgrad der darauf bezogenen Abwägungen des Fachrichters und der von ihm gebildeten normkonkretisierenden Obersätze. Eine Abstufung der Kontrolldichte anhand des Abstraktionsgrades der überprüften Erwägung würde mithin zur Minderung der Kontrolldichte für solche Sachverhaltskonstellationen führen, die besondere, vom Fachrichter für entscheidungserheblich gehaltene und daher in die Abwägungsentscheidung aufgenommene Details aufweisen und entsprechend fallbezogene, einer Verallgemeinerung nicht zugängliche Auslegungs- und Abwägungsvorgänge erfordern. Daß der Kontrolle des Bundesverfassungsgerichts „ausgefallene" Sachverhaltskonstellationen jedoch nur in geringerem Umfang unterliegen sollen, als dies für einen der Verallgemeinerung zugänglichen „Standardfall" gelten würde, ließe sich nur 108 109 110
Schuppert, AöR 103 (1978), 43, 61 f. Schuppert, AöR 103 (1978), 43, 62. S. oben 1. Kapitel C III 5 a.
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behaupten, wenn der Verfassungsbeschwerde vorrangig eine objektive, auf Wahrung und Fortentwicklung der grundlegenden Vorgaben des Verfassungsrechts zielende Rechtsschutzfunktion zukäme und die Gewährung individuellen Rechtsschutzes dahinter zurücktreten würde. Gleiches ist gegenüber der auch für nicht fallspezifisch geprägte Sachverhalte geltenden These einzuwenden, daß fachrichterliche Abwägungen — soweit nicht zugleich Obersätze zur Konkretisierung einer Generalklausel — grundsätzlich nur auf die Einhaltung eines „Mindeststandards hinsichtlich des procedere" 111 zu überprüfen sein sollen. Damit wäre das Bundesverfassungsgericht bei Einhaltung der postulierten Mindestbedingungen fachrichterlicher Entscheidungsbegründung an einer Gewährung individuellen Rechtsschutzes gehindert, selbst wenn die Anwendung der verfassungsrechtlichen Maßstäbe auf die Umstände des Einzelfalls einer unbeschränkten Inhaltskontrolle nicht standhalten könnte. Auch dies kann nur zutreffend sein, wenn der durch die Urteilsverfassungsbeschwerde angeregten Entscheidung vornehmlich die Funktion der Klärung von Rechtsfragen von allgemeiner verfassungsrechtlicher Bedeutung zukommt, sie also nicht zumindest im gleichen Maße auf Abhilfe des jeweiligen Rechtsschutzbegehrens zielt. Schließlich spricht noch ein weiterer Gesichtspunkt wesentlich gegen die funktionelle Richtigkeit des von Schuppert vorgetragenen Ansatzes. Einschränkungen der verfassungsgerichtlichen Kontrollkompetenz waren oben vor allem zum Schutz der einfachrechtlich ausgebildeten Fachdogmatik und zur Wahrung der Begrenztheit des Regelungswillens der Verfassung für notwendig gehalten worden. Je weiter sich die verfassungsgerichtliche Kontrolle aber von der Überprüfung der auf den jeweiligen Einzelfall bezogenen Wertungen des Fachrichters entfernt, desto allgemeiner werden die im Rahmen der Entscheidung getroffenen Aussagen und desto größer wird folglich auch die Gefahr einer Einwirkung auf die durch Rechtsprechung und Lehre geformten einfachrechtlichen Normstrukturen. Beschränkt sich das Bundesverfassungsgericht etwa bei der Überprüfung eines zu § 823 Abs. 1 BGB ergangenen zivilgerichtlichen Urteils auf die Ersetzung der zwischen Meinungsfreiheit und allgemeinem Persönlichkeitsrecht getroffenen fallbezogenen Abwägung, hat dies weit geringere Auswirkungen auf die „Integrität des konkreten Sach- und Rechtszusammenhangs" 112 als ein Eingriff in die von der Rechtsprechung zu den Voraussetzungen des Rechtswidrigkeitsurteils bei einem derartigen „offenen Verletzungstatbestand" 113 allgemein entwickelten Grundsätzen. cc) Kommt der Urteilsverfassungsbeschwerde eine vorrangig auf die Abhilfe individueller Grundrechtsverletzungen gerichtete Zielsetzung zu, könnte dies 111
II 1. 112 113
Schuppert, AöR 103 (1978), 43, 63 ff., 69; vgl. ausführlich bereits oben 1. Kapitel D Dazu oben 2. Kapitel A III 3 c bb (3) (a). S. etwa Palandt/Thomas, § 823 Anm. 6 A b.
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4. Kap.: Eingriffsintensität als Kompetenzmaßstab
zunächst zur Annahme einer unbegrenzten verfassungsgerichtlichen Kontrollbefugnis verleiten. 114 Indes läßt bereits die Ermächtigung des Gesetzgebers zu einschränkender Zugangsregelung in Art. 94 Abs. 2 S. 2 GG erkennen, daß das Grundgesetz auch zugunsten der subjektiven Zielsetzungen des Verfahrens keine umfassende Mobilisierung des Bundesverfassungsgerichts vorsieht. Die Forderung nach uneingeschränkter Kontrolle stünde überdies mit dem in Art. 19 Abs. 4, 20 Abs. 2 und 3, 92ff, 95f., 100 Abs. 1 GG ausgeformten grundgesetzlichen Rechtsschutzsystem in Widerspruch, das die Wahrung der Grundrechte primär den Fachgerichten zuweist. 115 Sind danach Einschränkungen der verfassungsgerichtlichen Nachprüfung auch zulasten des individuellen Rechtsschutzes geboten, legt die subjektive Rechtsschutzfunktion der Urteilsverfassungsbeschwerde eine Abstufung der Kontrolldichte anhand der Auswirkungen der in dem angegriffenen Urteil liegenden Verletzung der Grundrechtssphäre des Beschwerdeführers nahe. Die Anknüpfung an die konkreten Folgen des geltend gemachten Verfassungsverstoßes gestattet verfassungsgerichtliches Einschreiten dort, wo dies angesichts der Schwere der Beeinträchtigung zur Wahrung des betroffenen Grundrechtsgutes dringend geboten erscheint, und gewährt im übrigen der Fachgerichtsbarkeit den ihrer Aufgabenstellung entsprechenden eigenen Entscheidungsanteil bei der Konkretisierung der einschlägigen Verfassungsnormen. 116 Die Einrichtung der Verfassungsbeschwerde dient darüber hinaus indes auch der Wahrung und Fortbildung des objektiven Verfassungsrechts sowie der vorbeugenden Sicherung künftiger Grundrechtswahrnehmung. Dieser multifunktionalen Zwecksetzung des Verfahrens würde eine Anknüpfung der Kontrolldichte allein an die individuellen Folgen der angegriffenen Entscheidung nicht gerecht. Hat die in einer Urteilsverfassungsbeschwerde aufgeworfene Rechtsfrage exemplarische Bedeutung für eine Mehrzahl gleichgelagerter Fallgestaltungen, vermag die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts über die konkret geltend gemachte Grundrechtsposition hinaus auch zur Durchsetzung der Grundrechte Dritter beizutragen. 117 Bei einer solchen, über den Einzelfall hinausreichenden „allgemeinen Bedeutung" der zìi entscheidenden verfassungsrechtlichen Frage ermöglicht § 90 Abs. 2 S. 2 BVerfGG — ebenso wie bei der Gefahr einer unabwendbaren Schädigung des Beschwerdeführers — den verfassungsgerichtlichen Zugriff bereits vor Erschöpfung des Rechtswegs. Im Rahmen der Vorabentscheidung läßt sich aber naturgemäß ein eigener Entscheidungsanteil der Fachgerichte nicht berücksichtigen. Kann damit nach § 90 114
In diesem Sinne etwa Prümm, Verfassung S. 156 ff. Dazu bereits oben 2. Kapitel A III 3 c bb (3). 116 So auch Krauß, Prüfung S. 197 ff.; ähnlich Zuck, Verfassungsbeschwerde Rdn. 490. 117 Dies wird angesichts des Einzelfallbezuges der Urteilsverfassungsbesch werde allerdings nur ausnahmsweise in Betracht kommen; dazu bereits oben d aa (5). 115
Β. Bei der Kontrolle anhand des GG als „Erschließungsnorm"
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Abs. 2 S. 2 BVerfGG neben dem individuellen Bedürfnis zur Schadensabwendung im Einzelfall auch die Dringlichkeit „generalpräventiven" Rechtsschutzes zu Einschränkungen der fachgerichtlichen Entscheidungszuständigkeit führen, legt dies nahe, die überindividuelle Bedeutung der verfassungsgerichtlichen Entscheidung auch als Bestimmungsfaktor für die Reichweite der Eingriffsbefugnis des Bundesverfassungsgerichts im übrigen heranzuziehen. 118 Gem. §§ 93 b Abs. 1 S. 1 Nr. 3, 93 c S. 2 BVerfGG zählt die Möglichkeit zur Klärung einer verfassungsrechtlichen Frage zu den die Annahme der Verfassungsbeschwerde gebietenden Umständen. Soll das individuelle Rechtsschutzbegehren danach zum Anlaß einer über die Abhilfe im Einzelfall hinausreichenden verbindlichen Auslegung oder Fortbildung des Verfassungsrechts genommen werden können, kann dazu eine weitgehend abschließende Verfassungskonkretisierung durch das Bundesverfassungsgericht und damit eine höhere Kontrolldichte geboten sein, als dies allein nach Maßgabe der individuellen Betroffenheit des Beschwerdeführers im Einzelfall angemessen erscheinen müßte. Handelt es sich bei der Wahrung des objektiven Verfassungsrechts um einen zur Gewährung individuellen Rechtsschutzes hinzutretenden, komplementären Verfahrenszweck, muß in diesen Fällen auch die Eignung der Entscheidung zur objektiven Rechtsklärung in die Feststellung der Kontrollintensität einfließen. Der Zielsetzung der Urteilsverfassungsbeschwerde entsprechend sind damit drei Bestimmungsfaktoren für die Reichweite der verfassungsgerichtlichen Überprüfung maßgeblich. Angesichts ihrer primär auf die Gewährung individuellen Rechtsschutzes gerichteten Aufgabenstellung ist die Kontrolldichte vornehmlich an der Schwere der Betroffenheit des Beschwerdeführers zu orientieren. Zusätzlich können auch die Auswirkungen des fachrichterlichen Verfassungsverständnisses für die Grundrechtsausübung Dritter und die Eignung des Rechtsbehelfs, die Klärung einer verfassungsrechtlichen Frage herbeizuführen, eine Intensivierung der verfassungsgerichtlichen Nachprüfung und damit eine Einschränkung des fachgerichtlichen Konkretisierungsprimats fordern. 119 dd) Bei der Frage nach der Art der anhand dieser Kriterien vorzunehmenden Abstufung der Kontrolldichte und der Intensität der auf der jeweiligen Kontrollstufe gebotenen Nachprüfung sind zunächst die bei der Durchsicht der bisherigen Rechtsprechungspraxis gewonnenen Erkenntnisse zu vergegenwärtigen. Die im DGB-Beschluß postulierte mehrfache Stufung der Kontrolldichte in einfache und intensivierte Begründungs- sowie Ergebniskontrolle erwies sich in mehrfacher Hinsicht als nicht durchführbar und wird in neueren Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts in der Sache auch nicht mehr verfolgt. Nicht 118 So auch Zuck, Verfassungsbeschwerde Rdn. 490; im Ergebnis ebenso BVerfGE 43, 130, 136; 67, 213, 223; Krauß, Prüfung S. 157. 119 Im Ergebnis ähnlich Krauß, Prüfung S. 161 f.
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4. Kap.: Eingriffsintensität als Kompetenzmaßstab
gelungen war dem Gericht vor allem die konsequente Unterscheidung der bei hoher und höchster Eingriffsintensität gebotenen Nachprüfung. Auch im Rahmen der auf mittlerer Stufe durchgeführten Kontrolle sah es sich häufig zu einer eigenen, abschließenden Güterabwägung veranlaßt, bei der dem Fachgericht kein Wertungsspielraum verblieb. Als ungeeignet zeigte sich ferner die Anknüpfung an die Schwere des jeweils der Korrektur zugänglichen Fehlers als Gradmesser für die auf erster und zweiter Stufe gebotene Kontrolle. Abgesehen von der Unbestimmtheit des dabei verwandten Kriteriums führte die Unterscheidung von einfachen und schwerwiegenden Auslegungsfehlern — wie eine Reihe von Entscheidungen erkennen ließ — zu einer allmählichen Verschärfung der verfassungsgerichtlichen Nachprüfung. 120 Die in der Rechtsprechungspraxis zutage getretenen Unzulänglichkeiten der im DGB-Beschluß entwickelten Konzeption erlauben zunächst folgende Schlußfolgerung: je ausdifferenzierter sich die gewählte Kontrollsystematik darstellt, desto geringer ist offenbar ihre Steuerungskraft. Der Versuch einer mehrfachen Abstufung der Kontrolldichte wirkt angesichts der damit verbundenen Abgrenzungsprobleme überwiegend kontraproduktiv: Rechtssicherheit und Vorhersehbarkeit der Erfolgsaussichten einer Verfassungsbeschwerde werden durch die Herausbildung einer Mehrzahl von Kontrollstufen eher gemindert. Wegen der Vagheit der die Kontrolldichte bestimmenden Maßstäbe hat die Rechtsprechung in der Literatur denn auch erhebliche Kritik erfahren. 121 Rechtssicherheit und Vorhersehbarkeit der Erfolgsaussichten sind gerade im Rahmen eines auf die Abhilfe individueller Rechtsschutzbegehren zielenden Verfahrens jedoch zentrale funktionsrechtliche Belange. Sie stehen nicht nur der Annahme einer „stufenlos gleitenden", von Eingriffsintensität und Bedeutung der zu entscheidenden Rechtsfrage geprägten Kontrollskala 1 2 2 oder der Anerkennung eines „weiten Entscheidungsspielraums" des Bundesverfassungsgerichts123 entgegen. Angesichts der mangelhaften Trennschärfe der zur Kennzeichnung und Unterscheidung einer Mehrzahl von Kontrollstufen verfügbaren Kriterien und der unzulänglichen Determinationskraft der die Feststellung „subjektiver und objektiver Wichtigkeit" steuernden Merkmale gebieten sie auch eine weitere Vereinfachung des im DGB-Beschluß entwickelten Kontrollmodells. Hält man damit lediglich die Bildung von zwei Kontrollstufen für funktionsrechtlich angemessen, steht dies in Übereinstimmung mit der neueren Kontrollpraxis des Bundesverfassungsgerichts, das lediglich die Korrektur 120
Dazu im einzelnen oben 1. Kapitel C III 6 und IV 4. Vgl. etwa Schumann, Bundesverfassungsgericht S. 45f.; Schiaich, VVDStRL 39 (1981), 99, 124f.; Steinwedel, Spezifisches Verfassungsrecht S. 149, 159 (Fn. 449 a); Waldner, ZZP 98 (1985) 200, 207; Zuck, Verfassungsbeschwerde Rdn. 489. 122 So wohl die ursprünglich mit der „je-desto-Formel" des Bundesverfassungsgerichts verfolgte Intention, vgl. BVerfGE 42, 143, 149. 123 So aber Gündisch, NJW 1981, 1813, 1819; wohl auch Ossenbühl, in: FS für H. P. Ipsen S. 129, 139 ff. 121
Β. Bei der Kontrolle anhand des GG als „Erschließungsnorm"
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„einzelner Auslegungsfehler" und die Beanstandung einer „grundsätzlich unrichtigen Auffassung von der Bedeutung der Grundrechte" unterscheidet. ee) Anhaltspunkte für Voraussetzungen und Intensität der auf der oberen Kontrollstufe gebotenen Nachprüfung lassen sich zunächst wiederum aus den Verfahrenszwecken der Urteilsverfassungsbeschwerde gewinnen. Eine intensivierte Kontrolle muß danach vornehmlich bei hoher grundrechtlicher Betroffenheit des Beschwerdeführers Platz greifen, kann aber auch durch die überindividuelle Bedeutung der zu treffenden Entscheidung oder die Eignung des Verfahrens zur Klärung einer verfassungsrechtlichen Frage gefordert sein. Die damit angesprochenen Kriterien sind indes bereits in §§ 90 Abs. 2 S. 2, 93 c S. 2 BVerfGG posi ti viert und bezeichnen dort die Bedingungen, unter denen eine Vorabentscheidung ermöglicht und die Verpflichtung des Senats zur Annahme der Sache begründet wird. 1 2 4 Möglicherweise ist damit zugleich auch eine Grundentscheidung für die Intensität der verfassungsgerichtlichen Nachprüfung getroffen. (1) M i t der in § 90 Abs. 2 S. 2 BVerfGG vorgesehenen vorzeitigen Annahme der Verfassungsbeschwerde ist eine Durchbrechung des den Fachgerichten grundsätzlich zukommenden Entscheidungsprimats verbunden. Das Bundesverfassungsgericht hat die einschlägigen verfassungsrechtlichen Maßstäbe hier ohne Rücksicht auf eine vorgängige fachgerichtliche Rechtsfindung letztverbindlich selbst zu konkretisieren. Dem Gericht ist die Befugnis zur Feststellung der einschlägigen Entscheidungsnormen damit uneingeschränkt zugewiesen. Dies kann aber kaum anders zu beurteilen sein, wenn der Senat in Wahrnehmung des ihm durch § 90 Abs. 2 S. 2 BVerfGG eingeräumten Ermessens 125 — etwa im Hinblick auf die Notwendigkeit umfangreicher Tatsachenaufklärung — trotz hinreichender „subjektiver oder objektiver Wichtigkeit" eine Vorabentscheidung ablehnt und ihm die Sache nach Erschöpfung des Rechtswegs erneut zur Entscheidung unterbreitet wird. Sonst würde § 90 Abs. 2 S. 2 BVerfGG nicht nur zur Entscheidung über den Zeitpunkt, sondern auch zur Bestimmung des Umfangs der verfassungsgerichtlichen Prüfung ermächtigen. Eine derart weitreichende, dem Regelungssystem des BVerfGG im übrigen fremde Kompetenzzuweisung dürfte dieser, ihrem Wortlaut nach allein die Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde regelnden Vorschrift aber kaum zu entnehmen sein. Dies gilt um so mehr, wenn man sich vergegenwärtigt, daß § 90 Abs. 2 S. 2, 2. Alt. BVerfGG die Dringlichkeit gerade der Vorabentscheidung voraussetzt und damit an ein Kriterium anknüpft, das das aus funktionsrechtlicher Sicht für die Kontrolldichte maßgebliche Gewicht eines entsprechenden, nach Rechtswegerschöpfung erhobenen Rechtsschutzbegehrens nicht notwendig widerspiegelt. 124
Dazu auch Zacher, in: Bundesverfassungsgericht und Grundgesetz I S. 396, 416 f. Dazu BVerfGE 8, 222, 226f.; 14, 192, 194; 71, 305, 349; 76, 248, 251 f.; SchmidtBleibtreu, in: Maunz /Schmidt-Bleibtreu/ Klein /Ulsamer, §90 Rdn. 207; Lechner, BVerfGG, § 90 (S. 370). 125
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4. Kap.: Eingriffsintensität als Kompetenzmaßstab
§ 90 Abs. 2 S. 2 BVerfGG deutet deshalb daraufhin, daß nach der Regelungssystematik der §§90 ff. BVerfGG jedenfalls dann von einer unbeschränkten Kontrollkompetenz des Bundesverfassungsgerichts auszugehen ist, wenn die Voraussetzungen einer Vorabentscheidung vorliegen. (2) Auch der Regelung der §§ 93 b Abs. 1 S. 1 Nr. 3,93 c S. 2 BVerfGG lassen sich Anhaltspunkte für eine unbegrenzte Nachprüfungsbefugnis des Bundesverfassungsgerichts entnehmen. Bei hoher Eingriffsintensität oder der Eignung des Falles zur Klärung einer verfassungsrechtlichen Frage ist die Annahme einer nicht unzulässigen oder aussichtslosen Verfassungsbeschwerde danach obligatorisch. Eine über die Rechtschutzgewährung im Einzelfall hinausreichende, verbindliche Auslegung oder Fortbildung des Verfassungsrechts kann das Bundesverfassungsgericht jedoch nur vornehmen, wenn ihm dabei die Befugnis zur letztverbindlichen Verfassungskonkretisierung uneingeschränkt selbst zukommt. Eine Begrenzung der Kontrolle etwa auf die grundsätzliche Richtigkeit der fachrichterlichen Erwägungen stünde der erstrebten abschließenden Klärung der aufgeworfenen verfassungsrechtlichen Frage regelmäßig entgegen. Kann damit bereits die objektive Rechtsklärungsfunktion des Verfahrens zur Durchbrechung des fachgerichtlichen Konkretisierungsprimats führen, muß dies angesichts des vorrangig individualschützenden Zuschnitts der Urteilsverfassungsbeschwerde erst recht für ihre auf subjektive Rechtsschutzgewährung gerichtete Zielsetzung gelten. Die Überprüfung der durch Akte der öffentlichen Gewalt ausgelösten gravierenden Beeinträchtigungen grundrechtlich geschützter Güter gehört nach §§ 93 b Abs. 1 S. 1 Nr. 3, 93 c S. 2 BVerfGG zum ununterschreitbaren „Mindeststandard" des verfassungsgerichtlich zu gewährenden Rechtsschutzes.126 Eine effektive Kontrolle verfassungsrechtlich bedenklicher, intensiver Belastungen des einzelnen ist jedoch nur gewährleistet, wenn das Bundesverfassungsgericht dabei nicht auf die Korrektur nur der „grundsätzlichen Unrichtigkeit" des fachgerichtlichen Verfassungsverständnisses beschränkt ist. Kommt dem Rechtsbehelf der Verfassungsbeschwerde eine vorrangig individualschützende Bedeutung zu und dient die Einrichtung der C/rte/foverfassungsbeschwerde der Sicherung der Durchsetzung des Verfassungsrechts gerade auch bei der Abwägung der Umstände des Einzelfalls, verlangt diese Zielsetzung eine unumschränkte, auch die Verfassungsmäßigkeit der fallspezifischen Bewertungen des Fachgerichts einbeziehende Überprüfung jedenfalls dort, wo es um die Gewährung des dem Bundesverfassungsgericht obliegenden „Minimums" grundrechtlichen Rechtsschutzes geht. 127 126
Ähnlich auch Zuck, Verfassungsbeschwerde Rdn. 490. Der Forderung nach Gewährung effektiven verfassungsgerichtlichen Rechtsschutzes zumindest bei gravierenden Beeinträchtigungen grundrechtlich geschützter Güter wird das Bundesverfassungsgericht bei der Überprüfung klassischer Grundrechtseingriffe — anders als bei der Heranziehung der wertsetzenden Regelungskomponente der Grundrechte — nicht immer gerecht. Vielfach findet sich insoweit auch in Fällen hoher 127
Β. Bei der Kontrolle anhand des GG als „Erschließungsnorm"
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(3) §§ 90 Abs. 2 S. 2, 93 c S. 2 BVerfGG deuten damit nicht nur daraufhin, daß dem Bundesverfassungsgericht im Bereich intensivierter Nachprüfung die Befugnis zu uneingeschränkter Kontrolle der verfassungsrechtlichen Erwägungen des Fachgerichts zukommen muß. Sie lassen zugleich auch die Voraussetzungen erkennen, unter denen eine derartige Nachprüfung auf der „oberen Kontrollstufe" in jedem Fall stattfinden muß. Die damit zur Verfügung stehenden Kriterien dürften angesichts ihrer Bandbreite aber zugleich sämtliche Konstellationen erfassen, unter denen die Zwecksetzungen des Verfahrens eine verstärkte verfassungsgerichtliche Kontrolle fordern. §§ 90 Abs. 2 S. 2,93 c S. 2 BVerfGG lassen sich damit als abschließende Regelung von Voraussetzungen und Intensität der auf der oberen Kontrollstufe durchzuführenden Nachprüfung verstehen. 128 Soll das Vorliegen einer Verfassungsbeschwerde „von allgemeiner Bedeutung", eines „schweren und unabwendbaren Nachteils" und der Möglichkeit zur „Klärung einer verfassungsrechtlichen Frage" eine intensivierte verfassungsgerichtliche Nachpüfung auslösen, ist die Kontrollkompetenz des Gerichts damit zunächst allerdings an tatbestandlich weite und zugleich inhaltlich wenig fixierte Maßstäbe gebunden, die die Rechtssicherheit und Vorhersehbarkeit der verfassungsgerichtlichen Kontrolle kaum verläßlich zu vermitteln vermögen. Vergegenwärtigt man sich, daß unter den genannten Voraussetzungen eine weitgehende Beseitigung des fachgerichtlichen Entscheidungsprimats 129 eintritt, wird deutlich, daß die bezeichneten Vorschriften auch zugunsten der Wahrung der verfassungsrechtlich intendierten Aufgaben- und Funktionenordnung zwischen Fachgerichtsbarkeit und Bundesverfassungsgericht eine restriktive Auslegung und Anwendung erfahren müssen. 130 Angesichts des primär individualschützenden Zuschnitts der Urteilsverfassungsbeschwerde muß dies vornehmlich für jene Merkmale gelten, die die objektiven Zwecke des Verfahrens betreffen. (a) So erscheint zweifelhaft, ob bereits jede Möglichkeit zur Klärung einer für spätere Rechtsfalle präjudiziellen Frage zur Durchbrechung der Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde und zur Einschränkung des fachgerichtlichen Entscheidungsvorrangs führen kann. Dem Bundesverfassungsgericht kommt Eingriffsintensität eine Beschränkung der Kontrolle auf eine „grundsätzliche Verkennung" der grundgesetzlichen Bewertungsmaßstäbe; vgl. etwa BVerfGE 45,422,429 f.; 57, 170,177f.; 72,105,115ff.; 76, 363, 389; krit. dazu Hirsch, diss, op., in: BVerfGE 57,170, 193. 128 So im Ergebnis auch Zuck, Verfassungsbeschwerde Rdn. 490. 129 Auch im Rahmen intensivierter Nachprüfung hat das Bundesverfassungsgericht zur Wahrung der primären fachgerichtlichen Entscheidungszuständigkeit die Einpassung der aus seiner Sicht verfassungsrechtlich zwingend gebotenen Wertungen in die Regelungssystematik des einfachen Rechts dem Fachgericht zu überlassen und muß sich auf die Feststellung der Verfassungswidrigkeit des Ergebnisses des fachrichterlichen Rechtsfindungsprozesses beschränken. 130 So für § 90 Abs. 2 S. 2 BVerfGG auch Zuck, Verfassungsbeschwerde Rdn. 640.
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4. Kap.: Eingriffsintensität als Kompetenzmaßstab
bei der Entscheidung über die Vornahme einer Vorabentscheidung gem. § 90 Abs. 2 S. 2 BVerfGG grundsätzlich Ermessen zu. 1 3 1 I m Rahmen der Urteilsvtxfassungsbeschwerde werden dabei vor allem die Auswirkungen einer Durchbrechung des Subsidiaritätsprinzips auf die Aufgabenverteilung zwischen Bundesverfassungsgericht und Fachgerichten zu berücksichtigen sein. Eine Vorabentscheidung ist insoweit unbedenklich, wenn die Verfassungsbeschwerde als „verdeckte Rechtssatzverfassungsbeschwerde" lediglich die Vornahme einer inzidenten Normenkontrolle veranlaßt. Auch nach Erschöpfung des Rechtswegs hätte das Bundesverfassungsgericht den betreffenden Rechtssatz einer eigenen, abschließenden Überprüfung zu unterziehen. Richtet sich die Verfassungsbeschwerde dagegen ausschließlich gegen die fachgerichtliche Rechtsanwendung, kann allein die Möglichkeit wiederholten Vorkommens vergleichbarer Sachverhalte eine Durchbrechung des grundsätzlichen Entscheidungsvorrangs der Fachgerichte kaum rechtfertigen, kommt diesen doch gerade die Aufgabe zu, unter eigenständiger Konkretisierung der verfassungsrechtlichen Maßstäbe anhand der Vielzahl der ihnen unterbreiteten Tatsachenkonstellationen eine ausdifferenzierte und abgewogene Fachdogmatik zu entwickeln. 132 Der Schutz der Funktionsfahigkeit des Bundesverfassungsgerichts und das Gebot der Wahrung des Konkretisierungsprimats der Fachgerichte stehen einer exemplarischen Klärung der einschlägigen verfassungsrechtlichen Vorgaben jedoch dann nicht entgegen, wenn die Rechtsauffassung des Fachgerichts in einer Vielzahl gleichgelagerter Fälle zu Beeinträchtigungen grundrechtlich geschützter Rechtsgüter führen müßte, die ihrerseits durchweg ein zu intensivierter Nachprüfung berechtigendes Gewicht aufweisen. 133 Bliebe dem Gericht wegen der geringeren Betroffenheit des Beschwerdeführers im aktuell anhängigen Verfahren eine intensive Kontrolle verwehrt, hätte es die Einlegung weiterer Verfassungsbeschwerden zu gegenwärtigen und dürfte es sich in diesem Rahmen weder der Annahme noch einer eigenen Verfassungskonkretisierung enthalten. (b) Nahezu jede Urteilsverfassungsbeschwerde, die die mangelhafte Beachtung der für die einfachrechtliche Rechtsfindung geltenden grundrechtlichen Maßstäbe rügt, wirft verfassungsrechtliche Fragen auf. Wäre die zutreffende Auslegung von Verfassungsrecht bereits dann im Sinne des § 93 c S. 2 BVerfGG klärungsbedürftig, wenn die betreffende Rechtsfrage „in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts noch nicht abschließend behandelt und entschieden worden i s t " 1 3 4 , müßte der damit verbundene Zwang zur Annahme der Sache den mit den Zugangsregelungen der §§ 93 a ff. BVerfGG verfolgten Entlastungseffekt empfindlich beeinträchtigen. Führt die Bejahung der Klärungs131 132 133 134
4.
Vgl. die Nachweise oben Fn. 125. Dazu oben 2. Kapitel A III 3 c bb (3) (a). So etwa im Falle BVerfGE 62, 338, 342. So Schmidt-Bleibtreu, in: Maunz/ Schmidt-Bleibtreu/ Klein /Ulsamer, § 93 c Rdn.
Β. Bei der Kontrolle anhand des GG als „Erschließungsnorm"
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bedürftigkeit einer verfassungsrechtlichen Frage überdies zu einer Einschränkung des fachgerichtlichen Konkretisierungsprimats, ist eine restriktive Auslegung des in § 93 c S. 2,1. Alt. BVerfGG genannten Tatbestandsmerkmals auch zur Wahrung einer sachgerechten Aufgabenverteilung zwischen Bundesverfassungsgericht und Fachgerichtsbarkeit unabdingbar. Bisherige Versuche einer Konturierung des § 93 c S. 2 BVerfGG blieben durchweg wenig aussagekräftig. 135 Weiterführend könnte aber die Feststellung Gusys sein, daß es bei der Annahme der Verfassungsbeschwerde um die Notwendigkeit der Klärung der verfassungsrechtlichen Frage gerade durch das Bundesverfassungsgericht gehe. 136 In diesem Sinne wird auch in der Rechtsprechung ein Zwang zur Annahme der Sache verneint, wenn die betreffende Rechtsfrage bereits höchstrichterlich durch Auslegung des einfachen Rechts geklärt ist. 1 3 7 Eine effektive Eingrenzung der Voraussetzungen des § 93 c S. 2,1. Alt. BVerfGG ist damit indes noch nicht geleistet. In Erweiterung des skizzierten Ansatzes dürfte darauf abzustellen sein, ob eine Klärung der aufgeworfenen Rechtsfrage nicht auch für die Zukunft der primär zur Verfassungskonkretisierung berufenen Fachgerichtsbarkeit überlassen werden kann. Eine intensive Kontrolle ist danach nur dann geboten, wenn die Rechtsfrage grundsätzliche Bedeutung für die Gestaltung der verfassungsmäßigen Ordnung aufweist und sie deshalb auf Dauer einer möglicherweise uneinheitlichen Beurteilung durch die Fachgerichte entgegensteht. (c) Ob es sich bei der geltend gemachten Beschwer um einen „schweren und unabwendbaren Nachteil" i. S. d. §§ 90 Abs. 2 S. 2, 93 c S. 2 BVerfGG handelt, ist anhand der verfassungsrechtlichen Tragweite der dem Beschwerdeführer im Einzelfall erwachsenden Nachteile zu bestimmen. Das Bundesverfassungsgericht weist zur Feststellung der Eingriffsintensität neben der individuellen Betroffenheit des Beschwerdeführers allerdings gelegentlich auch auf die „besondere Bedeutung" des verletzten Grundrechts hin. 1 3 8 Lassen die Grundrechte jedoch die Ableitung einer allgemeinen „Wertrangordnung" nicht zu, sind derartige Abstufungen in der abstrakten Wertigkeit der jeweils betroffenen Gewährleistung — mit Ausnahme der eindeutig zu identifizierenden grundrechtlichen „Höchstwerte" der Menschenwürde und des menschlichen Lebens — verfassungsrechtlich nicht zu begründen 139 und erweisen sich als Leerformel, die bei der Bestimmung der Intensität der Betroffenheit des Beschwerdeführers außer Betracht zu bleiben hat. Ein zur Annahme verpflichtendes Gewicht kann einer Beeinträchtigung nur beigemessen werden, wenn das Grundrecht durch die angegriffene Maßnahme 135 Vgl. etwa Gusy, Verfassungsbeschwerde Rdn. 180 ff.; Zuck, Verfassungsbeschwerde Rdn. 782. 136 Gusy, Verfassungsbeschwerde Rdn. 185. 137 So etwa BVerfGE 36, 89, 91 f. 138 Dazu etwa BVerfGE 42, 163, 169; 67, 213, 223. 139 Dazu bereits oben 3. Kapitel Β I 3 b aa.
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4. Kap.: Eingriffsintensität als Kompetenzmaßstab
in seinem Kernbereich und nicht nur akzidentiell berührt ist. 1 4 0 Handhabbare Maßstäbe dafür dürften sich nicht abstrakt, sondern nur anläßlich der Bewertung des Einzelfalls ermitteln lassen; dabei könnte eine Anknüpfung an die von der Rechtsprechung bislang entwickelten Fallgruppen weiterführend sein. 141 Bei strafrechtlichen Sanktionen dürfte sich eine hinreichend schwere Beeinträchtigung ergeben, wenn das ausgesprochene Strafmaß den Beschwerdeführer nach seinen wirtschaftlichen Verhältnissen nicht nur unerheblich belastet. Die Verhängung einer Freiheitsstrafe wird stets eine umfassende verfassungsgerichtliche Kontrolle nach Maßgabe des Übermaßverbots auslösen. 142 Dagegen scheidet ein Zwang zur Annahme und damit eine intensivierte Nachprüfung regelmäßig aus, wenn bereits nach der für das Fachgericht maßgeblichen Prozeßordnung ein weiterführendes Rechtsmittel nicht gewährt wird. 1 4 3 So werden etwa bei der Auferlegung einer zivilrechtlichen Geldleistungspflicht die für die Zulässigkeit einer Revision geltenden Vorschriften einen ersten Anhaltspunkt für die „subjektive Wichtigkeit" einer verfassungsgerichtlichen Überprüfung abgeben können; auch hier sind aber die individuellen Vermögensverhältnisse des Beschwerdeführers zu berücksichtigen. 144 ff) Fragt man abschließend nach der bei einfacher Rechtskontrolle funktionsrechtlich angemessenen Prüfungsintensität, ist zunächst zu erinnern, daß bei geringer individueller und überindividueller Bedeutung der Sache bereits der Annahmezwang gem. §93 c S. 2 BVerfGG entfallt. 145 Das schließt eine Sachentscheidung durch den Senat zwar nicht grundsätzlich aus. Dem Bundesverfassungsgericht kommt angesichts des insoweit offenen Wortlauts des § 93 c S. 2 BVerfGG bei der Entscheidung über die Annahme vielmehr Ermessen zu. 1 4 6 § 93 c S. 2 BVerfGG läßt jedoch erkennen, daß der Rechtsschutzauftrag des Bundesverfassungsgerichts hier gegenüber der primären Entscheidungszuständigkeit der Fachgerichte grundsätzlich zurücktritt. Eingriffe in die fachrichterliche Rechtsfindung können deshalb nur bei besonderem Anlaß funktionsrechtlich unbedenklich sein. Dies dürfte sich auf Fälle beschränken, in denen die 140
Vgl. etwa BVerfGE 54, 208, 215 f.; s. auch BVerfGE 43, 130, 136. Hierzu oben 1. Kapitel C III 3. 142 Dabei bleibt allerdings der dem Fachrichter bei der Strafzumessung und der Anordnung oder Aussetzung einer Maßregel zur Besserung und Sicherung einfachrechtlich eingeräumte Prognose- und Bewertungsspielraum zu beachten, vgl. etwa BVerfGE 70, 297, 315; 72, 105, 114f. 143 Dazu bereits BVerfGE 9, 120, 121. 144 Zu den Problemen des insoweit erforderlichen „interpersonellen Nutzenvergleichs" Koch/Rüßmann, Begründungslehre S. 353ff.; Gern, DÖV 1986,462,465f.; allgemein zu den Einschränkungen „mathematisch exakter" Entscheidungsfindung bereits allgemein oben 3. Kapitel Β I 2 b. 145 § 93 c S. 2 BVerfGG knüpft den Annahmezwang allerdings daran, daß wenigstens eine Minderheit von zwei Senatsmitgliedern die genannten Voraussetzungen bejahen. 146 Vgl. Schmidt-Bleibtreu, in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Ulsamer,§ 93cRdn. 9; Gusy, Verfassungsbeschwerde Rdn. 189; Vitzthum, in: FS für Bachof S. 293, 309; a. A. Zuck, Verfassungsbeschwerde Rdn. 789. 141
Β. Bei der Kontrolle anhand des GG als „Erschließungsnorm"
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Hinnahme der Grundrechtsverletzung angesichts des Ausmaßes der Verkennung verfassungsrechtlicher Entscheidungsvorgaben trotz verminderter „subjektiver und objektiver Wichtigkeit" der Sache unzumutbar erscheint. Die Erschließungsfunktion des Grundgesetzes hat die Einwirkung der Verfassung auf die Auslegung und Anwendung des einfachen Rechts zum Gegenstand. Eine Einschränkung der Kompetenz des Bundesverfassungsgerichts zur letztverbindlichen Feststellung der einschlägigen verfassungsrechtlichen Vorgaben ist dabei vornehmlich wegen des Wechselbezuges von Verfassungskonkretisierung und einfachrechtlicher Rechtsfindung geboten. 147 Diesen Wechselbezug gilt es vornehmlich dann zu wahren, wenn wegen des Fehlens eines erhöhten individuellen oder überindividuellen Rechtsschutzbedarfs nur eine eingeschränkte verfassungsgerichtliche Nachprüfung stattfindet. Die Auslegung und Anwendung des einfachen Rechts unterliegt ihrerseits nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts lediglich einer an den Maßstäben des Willkürverbots orientierten Überprüfung. 148 Angesichts der Verknüpfung von einfachrechtlicher und verfassungsrechtlicher Komponente der Rechtsfindung liegt es nahe, eine derartige Eingrenzung der verfassungsgerichtlichen Kontrollkompetenz auch im Hinblick auf das fachgerichtliche Verfassungsverständnis anzunehmen. Nur eine derart strenge Disziplinierung des Bundesverfassungsgerichts vermag auch der in der Rechtsprechungspraxis zutage getretenen Gefahr einer allmählichen Verschärfung der Kontrolldichte auf der unteren Kontrollstufe entgegenzuwirken und damit den den Fachgerichten grundsätzlich zukommenden Konkretisierungsprimat zu sichern. Sieht man demnach im Willkürverbot die Grenzen bezeichnet, unter denen die Hinnahme eines möglichen Grundrechtsverstoßes bei fehlender individueller oder überindividueller Bedeutung noch zumutbar erscheint, findet eine Korrektur der fachgerichtlichen Konkretisierung definitiver verfassungsrechtlicher Handlungsvorgaben auf der unteren Kontrollstufe nur bei schlechthin unhaltbarer und nach verständiger Würdigung der das Grundgesetz beherrschenden Wertungen nicht mehr nachvollziehbarer Verfassungsauslegung statt. 2. Die Kontrolle anhand „weicher" verfassungsrechtlicher En tscheidungsmaßstäbe „Weiche" verfassungsrechtliche Steuerungsmechanismen enthalten — wie gezeigt — grundsätzlich keine das Entscheidungsergebnis, sondern eine den 147
Dazu bereits oben 2. Kapitel A III 3 c bb (3) (a). Vgl. etwa BVerfGE 11,343,348 ff.; 23,85,92ff.; 42,64,72ff.; 52,131,157f.; 54,117, 125; 58,163,167; 62,189,191 ff.; 64,389,394; 66,199,206; 66,324, 330; 70,93,97ff.; zust. Bryde, Verfassungsentwicklung S. 319; Schiaich, Bundesverfassungsgericht S. 141 f.; Menger, VerwArch. 71 (1980), 175, 180; R. Schneider, DVB1. 1969, 325, 331 f.; einschränkend Wank, JuS 1980,545,551; krit. Krauß, Prüfung S. 240 ff.; Waldner, ZZP 98 (1985), 200, 206f. 148
17 Scherzberg
258
4. Kap.: Eingriffsintensität als Kompetenzmaßstab
Entscheidungsprozeß betreffende Bindung und begründen die Pflicht zur „Verfassungsorientierung" von Auslegung und Anwendung des einfachen Rechts. Fraglich ist, inwieweit das Bundesverfassungsgericht hier die Einwirkung der grundrechtlichen Steuerungsimpulse auf die fachrichterliche Entscheidungsfindung zu sichern und damit letztverbindlich über die zutreffende Inhaltsbestimmung und Umsetzung auch der appellativen verfassungsrechtlichen Regelungsgehalte zu befinden hat. a) Geht es bei einer Verfassungsbeschwerde ausschließlich um die unzutreffende Feststellung „weicher" grundrechtlicher Regelungsimpulse, kann bereits der verfahrensrechtliche Zugang zum Bundesverfassungsgericht zweifelhaft sein. Gem. § 90 Abs. 1 BVerfGG ist eine Verfassungsbeschwerde nur bei Vorliegen der Beschwerdebefugnis des Rechtsschutzsuchenden zulässig. Die behauptete Verletzung eines seiner Grundrechte oder grundrechtsähnlichen Rechte darf dazu nach dem Sachvortrag nicht von vornherein ausgeschlossen erscheinen. 149 Geht man davon aus, daß das Grundgesetz kein subjektives Recht auf verfassungsrechtlich unbedenkliche Begründung einer belastenden gerichtlichen Entscheidung gewährt 150 , fehlt es damit bereits an der Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde, wenn ein Beschwerdeführer lediglich die Verkennung appellativer grundrechtlicher Verhaltensmaximen geltend macht. Zu einer Sachentscheidung des Bundesverfassungsgerichts kann es insoweit nur kommen, wenn aufgrund der vorgetragenen Tatsachen eine Verdichtung „weicher" Steuerungsvorgaben zu definitiven Verfassungspflichten eingetreten sein kann. Dazu muß entweder eine Verletzung des grundrechtlichen Untermaßverbots oder ein Verstoß gegen das Gebot der Wertungskonsequenz 151 in Betracht kommen. b) Ist die Verfassungsbeschwerde zulässig und bejaht das Gericht bei der Prüfung ihrer Begründetheit die Voraussetzungen einer strikten Verfassungsbindung, sind für die Reichweite seiner Kontrollbefugnisse die soeben zu 1. entwickelten Grundsätze maßgeblich. Das gilt auch dann, wenn eine Verdichtung der grundrechtlichen Steuerungsimpulse ausnahmsweise im Hinblick auf die vorgängige Entscheidungspraxis der Fachgerichte festzustellen ist, ohne daß eine das grundrechtliche Untermaßverbot auslösende Betroffenheitsintensität vorliegt. Hier findet bereits mangels individueller und subjektiv-genereller Wichtigkeit des Rechtsschutzbegehrens regelmäßig nur eine am Willkürverbot orientierte Prüfung statt. Auch ein Anlaß zur Klärung einer verfassungsrechtlichen Frage dürfte sich insoweit nicht ergeben. Eine über die Willkürkontrolle hinausgehende Nachprüfung der „Wertungskonsequenz" der Fachgerichte wäre demgegenüber erheblichen funktionsrechtlichen Bedenken ausgesetzt. 149 150 151
Vgl. die Nachweise oben 3. Kapitel Fn. 417. Dazu bereits oben 3. Kapitel C III 7. Dazu oben 3. Kapitel C I 3 b.
Β. Bei der Kontrolle anhand des GG als „Erschließungsnorm"
259
Bei der Bestimmung der Tragweite appellativer verfassungsrechtlicher Steuerungsimpulse für die Auslegung und Anwendung des Gesetzesrechts sind einfachrechtliche und verfassungsrechtliche Erwägungen unlösbar verknüpft. So wird die Umsetzung grundrechtlicher Wertungen bei der Streitentscheidung anhand des einfachen Rechts regelmäßig Feststellungen über die Vereinbarkeit etwa eines verfassungsrechtlich nahegelegten Verständnisses eines unbestimmten Rechtsbegriffs mit der Regelungsintention des Gesetzgebers und der daran anknüpfenden richterlich geprägten Fachdogmatik voraussetzen. Die Homogenität der fachrichterlichen Entfaltung „weicher" grundrechtlicher Entscheidungsmaximen läßt sich demnach nur unter Berücksichtigung von Inhalt und Zielsetzung der einschlägigen einfachrechtlichen Vorgaben bestimmen. Wertungswidersprüche in der fachrichterlichen Entscheidungspraxis können damit ebenso wie auf einer uneinheitlichen Umsetzung der grundrechtlichen Regelungsimpulse auch auf einem abweichenden Verständnis des einfachen Rechts beruhen. Die Wahrung der Einheitlichkeit und Konsistenz der fachrichterlichen Auslegung und Anwendung des einfachen Rechts obliegt nach Art. 95 Abs. 1 und 3 GG jedoch der Rechtsprechung der obersten Bundesgerichte und ist — auch wenn man sie als Verfassungsgebot versteht — auf der Grundlage der Formel vom „spezifischen Verfassungsrecht" der verfassungsgerichtlichen Kontrolle entzogen. 152 Hätte das Gericht letztverbindlich über die Einhaltung der verfassungsrechtlichen Homogenitätsanforderungen zu entscheiden, wäre angesichts der Nähe von gesetzes- und verfassungsorientierter Entscheidungsfindung dabei eine Einwirkung auf den Gesamtprozeß fachgerichtlicher Rechtsanwendung unvermeidlich. Die Zuständigkeit der Fachgerichte zur Auslegung des einfachen Rechts läßt sich insoweit nur durch die Anerkennung eines grundsätzlichen Entscheidungsprimats auch im Hinblick auf die Art und Weise der Umsetzung der „weichen" verfassungsrechtlichen Steuerungsvorgaben sichern. c) Liegen die Voraussetzungen einer Verdichtung des appellativen Regelungsgehalts der Grundrechte im Ergebnis nicht vor, kann nach dem Gesagten jedenfalls eine „subjektive" Grundrechtsverletzung nicht eingetreten sein. Die Befugnis zu eigenen, abschließenden Feststellungen des Bundesverfassungsgerichts über Inhalt und Bedeutung der grundrechtlichen Einwirkung auf die Fallentscheidung ließen sich insoweit allenfalls im Hinblick auf die sog. objektiven Verfahrenszwecke der Verfassungsbeschwerde begründen. Dabei könnte vor allem der edukativen Wirkung der verfassungsgerichtlichen Entscheidung 153 Bedeutung für die Durchsetzung der ihrerseits ausschließlich auf appellative Einwirkung zielenden „weichen" verfassungsrechtlichen Steuerungsimpulse zukommen. 152 153
17*
Vgl. oben 1. Kapitel Β II; s. auch 2. Kapitel A III 3 c aa (1). Vgl. oben Fn. 55.
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4. Kap.: Eingriffsintensität als Kompetenzmaßstab
aa) Deren Wirksamwerden setzt eine Vergegenwärtigung und zutreffende inhaltliche Bestimmung der jeweils einschlägigen grundrechtlichen Schutzpostulate voraus. 154 Unterliegt das Ergebnis ihrer Umsetzung im Einzelfall grundsätzlich keiner verfassungsgerichtlich überprüfbaren Bindung, könnte zur Wahrung und Durchsetzung des objektiven Verfassungsrechts zumindest die Kontrolle der Beachtung des verfassungsrechtlich geforderten „Minimalstandards" zutreffender Entscheidungsfindung geboten sein. 155 Die verfassungsgerichtliche Kontrolle würde sich insoweit auf die Feststellung des generellabstrakten Aussagegehalts der grundrechtlichen Wertvorgaben und der daraus auf die Streitentscheidung im Einzelfall einwirkenden Steuerungsimpulse beschränken. Sie hätte bereits im Hinblick auf den begrenzten materiellrechtlichen Regelungsanspruch des Grundgesetzes allein die Überprüfung der grundlegenden Erwägungen des Fachgerichts zum Gegenstand. Steht der Rahmencharakter des Grundgesetzes der Herleitung verfassungsrechtlich bindender Entscheidungsergebnisse von vornherein entgegen, ließen sich verfassungsrechtliche „Vorüberlegungen" und einfachrechtliche Rechtsanwendung insoweit eindeutig trennen. Auch bestünde im Bereich unvollkommener verfassungsrechtlicher Steuerung nicht die Gefahr einer regelwidrigen Hinzugewinnung bindender Verfassungsgehalte. bb) Tritt eine Verdichtung „weicher" verfassungsrechtlicher Steuerungsimpulse zu definitiven Verhaltensgeboten nicht ein, hält sich die angegriffene Entscheidung indes im Ergebnis innerhalb des verfassungsrechtlich gesetzten Rahmens. Die Verfassungsbeschwerde ist deshalb zurückzuweisen. Das gilt unabhängig davon, ob das Fachgericht bei der Entscheidungsfindung Inhalt und Tragweite der einschlägigen appellativen Verfassungsvorgaben zutreffend bestimmt hat. Vergegenwärtigt man sich die vornehmlich subjektiv-rechtliche Zielsetzung des Verfahrens, liegt nahe, die Begründetheit einer Verfassungsbeschwerde von vornherein an die Verletzung eines individuellen Grundrechts zu knüpfen. 156 Aber auch wenn man der teilweise abweichenden Kontrollpraxis des Bundesverfassungsgerichts folgt und ohne Rückgriff auf die Voraussetzungen einer subjektiven Grundrechtsverletzung nach der Vereinbarkeit der angegriffenen Maßnahme mit dem Grundgesetz fragt 1 5 7 , kommt es für den Erfolg der Verfassungsbeschwerde allein auf die Verfassungsmäßigkeit des Ergebnisses des überprüften Entscheidungsprozesses an. Läßt sich ein in seiner Begründung unvollständiges oder verfassungsrechtlich bedenkliches fachgerichtliches Urteil 154
Dazu im einzelnen oben 3. Kapitel C I 3 d. So im Ansatz die Konzeption Schupperts, AöR 103 (1978), 43, 62ff., wonach fallbezogene Abwägungen grundrechtlich geschützter Positionen allerdings stets nur einer Verhaltenskontrolle unterzogen werden sollen. Zu Schuppert soeben 1 d bb (2) und oben 1. Kapitel D II 1. 156 So etwa Erichsen, in: Studium und Examen S. 214, 231 f. 157 Vgl. zur Rechtsprechung bereits oben Fn. 81 sowie unten Fn. 162. 155
Β. Bei der Kontrolle anhand des GG als „Erschließungsnorm"
261
mit abweichenden verfassungsrechtlichen Erwägungen im Ergebnis aufrechterhalten, sind also lediglich einzelne Elemente der Entscheidungsfindung fragwürdig, sieht sich das Bundesverfassungsgericht dementsprechend auch nicht zu einer Aufhebung der angegriffenen Entscheidung veranlaßt. 158 Bleibt die Verfassungsbeschwerde erfolglos und scheidet eine Aufhebung der angegriffenen Entscheidung gem. § 95 Abs. 2 BVerfGG aus, könnte eine Korrektur der vom Fachgericht vorgenommenen Entfaltung „weicher" verfassungsrechtlicher Steuerungsimpulse also allenfalls in den Gründen eines verfassungsgerichtlichen Zurückweisungsbeschlusses erfolgen. Hat das Bundesverfassungsgericht die Verfassungsbeschwerde trotz fehlerhafter Begründung zurückzuweisen, kommt entsprechenden Äußerungen des Gerichts zur Entfaltung der verfassungsrechtlichen „Ausstrahlungswirkung" allerdings nicht die Qualität „tragender Gründe" für die abschließende Entscheidung zu. Dabei ist unerheblich, ob als tragende Gründe nur solche Ausführungen gelten können, die das Gericht als „conditio sine qua non" seiner Entscheidung ansieht, oder hierzu alle Gründe rechnen, die das Gericht nach seiner Rechtsauffassung als für die Entscheidung des Falles geeignet erklärt. 159 Kommt mangels hinreichender Schwere der Beeinträchtigung eine Verdichtung der geltend gemachten Wertentscheidungen zu konkreten Verhaltensbindungen nicht in Betracht, sind die über diese Feststellung hinausreichenden Ausführungen des Bundesverfassungsgerichts zu Inhalt und Tragweite der grundrechtlichen Regelungsimpulse für die Fallösung nicht entscheidungserheblich. Sie würden sich damit als „obiter dicta" darstellen. Auch auf der Grundlage des weiten Verständnisses des Bundesverfassungsgerichts zur Reichweite der Bindungswirkung seiner Entscheidung gem. § 31 Abs. 1 BVerfGG 1 6 0 werden „obiter dicta" von der damit angeordneten Bindung jedoch nicht erfaßt. 161 Eine Durchsetzung seines Verständnisses von Inhalt und Tragweite „weicher" verfassungsrechtlicher Steuerungsmechanismen ist dem Bundesverfassungsgericht damit verfassungsprozessual verwehrt. Kann die verfassungsgerichtliche Entscheidung keine verbindliche Klärung der appellativen Regelungsgehalte der Grundrechte herbeiführen, vermag auch die „Edukationsfunktion" des Verfahrens die Annahme einer Entscheidungskompetenz des Gerichts insoweit nicht zu stützen.
158
Vgl. insbesondere BVerfGE 74, 358, 373 f.; s. ferner BVerfGE 35, 311, 317; 62, 230, 245 ff.; 64,108, 119f.; BVerfG NJW 1988, 328, 329 (Kammer); s. auch Simon/Heußner, diss, op., in: BVerfGE 53, 30, 82f.; dazu auch schon oben 3. Kapitel C III 7. 159 Zum Meinungsstreit über den Begriff der „tragenden Gründe" Sachs, Bindung S. 132ff.; s. auch Schlüter, obiter dictum S. 78; Schiaich, Bundesverfassungsgericht S. 206f.; aus der Rechtsprechung BVerfGE 20, 56, 87f.; 36, 1, 36. 160 Dazu bereits oben 2. Kapitel A III 3 c bb (3) (b). 161 S. etwa Sachs, Bindung S. 135; Schiaich, Bundesverfassungsgericht S. 206; s. jüngst auch BVerfGE 78, 320, 328.
262
4. Kap.: Eingriffsintensität als Kompetenzmaßstab
Ist die Bindungskraft verfassungsgerichtlicher Entscheidungen durch § 31 Abs. 1 BVerfGG auf die die Entscheidungsformel tragenden Erwägungen beschränkt und bezieht sich im Rahmen der Urteilsverfassungsbeschwerde damit allein auf die zur Feststellung der Voraussetzungen einer subjektiven Grundrechtsverletzung für erforderlich gehaltenen Erwägungen 162 , spiegelt sich darin zugleich der Vorrang der individualschützenden Funktion dieses Verfahrens. I I I . Zum Verhältnis von Maßstabs- und Erschließungsfunktion des Grundgesetzes Sollen für die Reichweite der verfassungsgerichtlichen Befugnis zur Durchsetzung der Maßstabs- und Erschließungsfunktion des Grundgesetzes unterschiedliche Grundsätze gelten, ist die Entwicklung eindeutiger Zuordnungskriterien erforderlich. Trennscharfe Maßstäbe zur Begrenzung des Gebots der verfassungskonformen Auslegung eines Rechtssatzes gegenüber der Pflicht zu seiner verfassungsorientierten Konkretisierung und Anwendung im Einzelfall sind bislang jedoch kaum entwickelt worden. 163 Daraus ist auf eine gewisse Beliebigkeit bei der Qualifizierung des jeweiligen fachgerichtlichen Versäumnisses geschlossen und damit die Forderung nach Gleichbehandlung von „Auslegungs-" und „Abwägungsverfassungsbeschwerde" begründet worden. 1 6 4 Die Grenzen beider Institute werden beispielsweise bei der Anwendung des Übermaßverbots im Rahmen einer einfachrechtlichen Generalklausel fraglich. Führt etwa die durch § 81 a StPO gestattete Vornahme körperlicher Eingriffe im Rahmen eines strafprozessualen Ermittlungsverfahrens zu erheblichen, den Beschuldigten übermäßig belastenden Gesundheitsgefahren, ließe sich die verfassungsrechtliche Pflicht zur Beachtung des Übermaßverbots gedanklich sowohl auf der Ebene der verfassungskonformen Auslegung der Norm als auch bei ihrer fallbezogenen Konkretisierung einführen. 165 Ebenso könnte die Prüfung der Frage, ob vermeidbare Verzögerungen im Ermittlungsverfahren als ein die Fortdauer der Untersuchungshaft gem. § 121 Abs. 1 StPO rechtfertigen162
Anderes könnte nur gelten, soweit das Gericht das individuelle Rechtsschutzbegehren zum Anlaß nimmt, in den Tenor seiner Entscheidung auch Verfassungsverstöße aufzunehmen, die eine Verletzung der Grundrechte des Beschwerdeführers nicht auslösen. Eine solche Vorgehensweise läßt sich zwar verschiedentlich feststellen — vgl. bereits oben Β II 1 d aa (3) —, sie betrifft jedoch stets die Nichtigkeit inzident überprüfter Rechtsnormen und ist daher für den vorliegenden Zusammenhang ohne Belang. 163 Vgl. Schiaich, Bundesverfassungsgericht S. 187f.; Wank, JuS 1980, 545, 547f.; Seetzen, NJW 1976,1997,2001; R. Schneider, DVB1.1969, 325,332f.; s. auch Steinwedel, Spezifisches Verfassungsrecht S. 129 ff., 137. 16+ Steinwedel, Spezifisches Verfassungsrecht S. 140; krit. Schuppert, AöR 103 (1978), 43, 61 f. 165 Vgl. BVerfGE 16, 194, 201 f.; 17, 108, 117 ff.; dazu Steinwedel, Spezifisches Verfassungsrecht S. 137 f.; s. auch BVerfGE 47, 239, 248, 252.
Β. Bei der Kontrolle anhand des GG als „Erschließungsnorm"
263
der „wichtiger Grund" angesehen werden dürfen, im Rahmen verfassungskonformer Auslegung wie auch bei der Überprüfung der Rechtsanwendung im Einzelfall ansetzen.166 1. Das Gebot zur Unterscheidung von Maßstabs- und Erschließungsfunktion Die Notwendigkeit einer Unterscheidung der dem Grundgesetz als „Maßstabs"- und der ihm als „Erschließungsnorm" eigenen Wirkungen wird bereits durch § 79 Abs. 1 und 2 BVerfGG verdeutlicht. Die Begründung eines Wiederaufnahmegrundes oder eines Vollstreckungsverbots 167 setzt danach voraus, daß das Bundesverfassungsgericht die „Auslegung einer Norm . . . für unvereinbar mit dem Grundgesetz erklärt". Soll die Bewirkung der genannten Rechtsfolgen nicht im Belieben des Gerichts stehen oder von den Zufälligkeiten der Formulierung in den Entscheidungsgründen abhängig sein, muß diese Form der Entscheidung an bestimmte sachliche Voraussetzungen gebunden sein, die darüber entscheiden, ob eine über den Einzelfall hinausweisende Einschränkung der Auslegung des Rechtssatzes oder eine Korrektur lediglich der fallbezogenen Verfassungskonkretisierung des Fachgerichts vorzunehmen ist und damit lediglich die von § 31 Abs. 1 BVerfGG angeordnete Bindungswirkung begründet wird. Die Eingrenzung der Voraussetzungen der verfassungskonformen Auslegung wird auch durch § 93 b Abs. 2 S. 3 BVerfGG gefordert. Der Kompetenz der Kammern ist danach nicht nur die Entscheidung über die Gültigkeit oder Ungültigkeit eines Gesetzes entzogen. Kommt auch einer verfassungskonformen Auslegung des Gerichts die in § 31 Abs. 2 BVerfGG angesprochene Bindungskraft zu, muß gleiches auch für die Vornahme einer verfassungskonformen Auslegung gelten. 168 Auch zur Wahrung der Befugnisse des Senats muß deshalb feststehen, ob eine Durchsetzung der Erschließungs- oder der Maßstabsfunktion des Grundgesetzes in Frage steht. Der Entwicklung tragfahiger Maßstäbe zur Abgrenzung von verfassungskonformer Auslegung und verfassungsorientierter Konkretisierung einfachen Rechts bedarf es schließlich auch mit Rücksicht auf funktionsrechtliche Erwägungen. Das Bedürfnis zur Unterscheidung von Maßstabs- und Erschließungsfunktion bei der Bestimmung der Reichweite der verfassungsgerichtlichen Kontrolle wird insoweit gelegentlich mit dem Hinweis begründet, daß sich fallbezogene Abwägungsergebnisse nur unzureichend in generell-abstrakte Rechtssätze umformen lassen und die Heranziehung der für die Kontrolldichte 166 BVerfGE 20, 45, 49f.; s. auch BVerfGE 36, 264, 269ff., 274f.; dazu Steinwedel, Spezifisches Verfassungsrecht S. 140; Schuppert, AöR 103 (1978), 43, 60f. 167 Zur Anwendbarkeit des § 79 Abs. 2 BVerfGG auf Entscheidungen, die auf einer vom Bundesverfassungsgericht für verfassungswidrig erkannten Auslegung einer Norm beruhen s. Ulsamer, in: Maunz /Schmidt-Bleibtreu/ Klein /Ulsamer, § 79 Rdn. 26. 168 Schmidt- Bleibtreu, in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Ulsamer, § 93 b Rdn. 16.
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4. Kap.: Eingriffsintensität als Kompetenzmaßstab
gegenüber dem Gesetzgeber geltenden Grundsätze deshalb unangemessen erscheint. 169 Dieser Überlegung steht allerdings die grundsätzliche Befugnis des Gesetzgebers entgegen, im Wege enumerativer Regelung seinerseits entsprechend konkrete, fallnahe Regelungsanordnungen vorzusehen. Gewichtiger erscheint indes der Einwand, daß bei umfassender, an der Normenkontrolle orientierter Überprüfung fachgerichtlicher Einzelfallabwägungen eine sachgerechte Funktionsteilung zwischen Bundesverfassungsgericht und übriger Gerichtsbarkeit nicht erreicht werden könnte. 1 7 0 Ist den Fachgerichten die Ausprägung und Fortentwicklung einer homogenen Fachdogmatik funktionell zugewiesen, muß ihnen bei der gestaltenden Konkretisierung der verfassungsrechtlichen Maßgaben für die Auslegung und Anwendung verfassungskonformer Rechtssätze des einfachen Rechts im Einzelfall auch ein eigener Entscheidungsanteil zukommen. 171 2. Die Unterscheidung im einzelnen Der Versuch einer Abgrenzung von Maßstabs- und Erschließungsfunktion des Grundgesetzes dürfte am ehesten ausgehend von dem relativ deutlich konturierten Institut der verfassungskonformen Auslegung Erfolg versprechen. Der Pflicht zur verfassungskonformen Auslegung liegt nach dem Verständnis des Bundesverfassungsgerichts und der ihm im Grundsatz weitgehend folgenden Lehre das Prinzip der Normerhaltung zugrunde. 172 Kommt der Gesetzgebung der grundsätzliche Vorrang bei der Verwirklichung der Regelungsintention des Grundgesetzes zu, kann das Bundesverfassungsgericht zur Nichtigerklärung eines Rechtssatzes nur im Falle eindeutiger Verfassungswidrigkeit befugt sein. 173 Andernfalls würde es unter Berufung auf einzelne verfassungswidrige Deutungen zugleich die Verwirklichung der Zielsetzungen des Normgebers auch in verfassungsrechtlich unbedenklicher Form unterbinden können. Soll die Verfassungsmäßigkeit einer Deutungsvariante damit der gänzlichen Nichtigkeit des mehrdeutigen Rechtssatzes entgegenstehen, läßt sich der Vorrang der Verfassung nur durch den Ausschluß aller zu verfassungswidrigen Ergebnissen führenden Verständnismöglichkeiten wahren. Die Verfassungsmäßigkeit eines bestimmten Normverständnisses ist deshalb maßgebendes Krite169
So etwa Schuppert, AöR 103 (1978), 43, 61 f. Schuppert, AöR 103 (1978), 43, 62f. 171 Dazu ausführlich oben 2. Kapitel A III 3 c bb (3). 172 Vgl. etwa BVerfGE 2, 266, 282; 19,1,16; 32, 373, 383 f.; 49, 148,157; 51, 304, 323; 54, 241, 275; 64, 229, 242; 69, 1, 55; Simon, EuGRZ 1974, 85, 86f.; Zippelius, in: Bundesverfassungsgericht und Grundgesetz II S. 108, llOff.; Schiaich, Bundesverfassungsgericht S. 184ff.; Gusy, Gesetzgeber S. 219f.; K. Hesse, Grundzüge Rdn. 79ff., 83; Seetzen, NJW 1976, 1997, 1998 m.w.N.; krit. etwa Burmeister, Verfassungsorientierung S. 31 ff., 107ff.; Bettermann, Verfassungskonforme Auslegung S. 19ff. 173 Erichsen, Staatsrecht II S. 18; K. Hesse, Grundzüge Rdn. 83; ähnlich Gusy, Gesetzgeber S. 220. 170
Β. Bei der Kontrolle anhand des GG als „Erschließungsnorm"
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rium für die Auslegung eines mehrdeutigen Rechtssatzes, wenn und soweit andernfalls dessen gänzliche Verfassungwidrigkeit in Frage stünde. Folgt man diesem durch § 79 Abs. 1 3. Fall BVerfGG positivierten Ansatz, lassen sich daraus die Grenzen des Instituts der verfassungskonformen Auslegung und läßt sich damit zugleich die Reichweite der Maßstabsfunktion des Grundgesetzes bestimmen. Das normerhaltende Prinzip gebietet den Vorzug einer bestimmten Auslegung nur, wenn andernfalls der betreffende Rechtssatz zur Gänze dem Verdikt der Verfassungswidrigkeit unterläge. Die Verfassungswidrigkeit einer einfachrechtlichen Regelungsanordnung als solcher steht jedoch vor allem dann in Frage, wenn die vorgesehene Verknüpfung von Tatbestand und Rechtsfolge bereits auf der bei der Rechtssetzung gewählten Abstraktionsstufe verfassungsrechtliche Anforderungen verfehlt. Bei der Anwendung einfachrechtlicher Generalklauseln oder der Subsumtion abstrakter Rechtsbegriffe treten verfassungsrechtliche Bedenken dagegen häufig erst im Rahmen der Bildung normkonkretisierender Obersätze oder gar erst bei fallbezogener Abwägung zutage. Die These, daß auch eine insoweit festgestellte Verfassungswidrigkeit einzelner Normkonkretisierungen die Unwirksamkeit des angewandten Rechtssatzes zur Gänze zur Folge haben könnte 1 7 4 , müßte in mehrfacher Hinsicht auf Bedenken stoßen. aa) Entscheidungen des Gesetzgebers zielen in der Regel auf die Herstellung einer bestimmten inhaltlichen Ordnung der geregelten Lebenssachverhalte. Die Vielfalt der tatsächlichen Lebensverhältnisse und ihre stete Veränderung in der Zeit stehen dabei einer vollständigen und abschließenden Erfassung der Wirklichkeit entgegen. Der Gesetzgeber hat sich deshalb in der Regel auf die dauerhafte Ordnung im Grundsätzlichen zu beschränken. 175 Er ist damit vornehmlich zu typisierender, generell-abstrakter Regelung berufen. Generalisierende Rechtssetzung soll ihm — wie vor allem in der zum Gleichheitssatz ergangenen Rechtsprechung anerkannt — aus Gründen der Praktikabilität selbst dann gestattet sein, wenn sie in Einzelfällen Härten oder Ungerechtigkeiten nach sich ziehen kann. 1 7 6 Die Aufgabe der Harmonisierung von Normziel und Wirklichkeit im Einzelfall kommt bei den die grundrechtliche Rechtssphäre berührenden Generalklauseln damit vor allem dem Rechtsanwender zu. Jeder abstrakte Rechtssatz enthält insoweit einen auch an die Fachgerichtsbarkeit adressierten „Auftrag", Gegenstand und Inhalt seiner Regelungsanordnung den jeweiligen sachlichen Gegebenheiten entsprechend zu „finden". 1 7 7 174
Dazu Burmeister, Verfassungsorientierung S. 69 f. Kirchhof, in: Bundesverfassungsgericht und Grundgesetz II S. 50, 81. 176 BVerfGE 17,1,23; 26,265,275 f.; 29,22,32; 33,171,189f.; 45,376,390; 63,119,128; 71,146,157; 75,108,162; Dürig, in: Maunz/Dürig, Art. 3 Abs. I Rdn. 327; Gubelt, in: v. Münch, Art. 3 Rdn. 21; Rupp, in: Bundesverfassungsgericht und Grundgesetz II S. 364, 377ff.; krit. Schoch, DVB1. 1988, 863, 879f. m.w.N. 177 Kirchhof, in: Bundesverfassungsgericht und Grundgesetz II S. 50, 98. 175
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4. Kap.: Eingriffsintensität als Kompetenzmaßstab
Ist der Gesetzgeber zu abstrahierender Regelung befugt und fallt deren verfassungsorientierte, die Umstände des Einzelfalls berücksichtigende Konkretisierung dem Rechtsanwender zu, steht das Gebot der Respektierung der Entscheidung des Gesetzgebers einem Eingriff in die generell-abstrakt getroffene Regelungsanordnung bereits dann entgegen, wenn diese auf der bei der Rechtssetzung gewählten Abstraktionsstufe den Wertungen des Verfassungsrechts entspricht. Gestattet etwa § 121 Abs. 1 StPO die Verlängerung der Untersuchungshaft aus „wichtigem Grund", ist diese gesetzliche Abstraktion verfassungsrechtlich unbedenklich, weil sie sich auf die Anordnung einer Abwägung der beteiligten Interessen beschränkt und eine verfassungsrechtlich fragwürdige Einbeziehung vermeidbarer Verfahrensverzögerungen als Verlängerungsgrund nicht impliziert. 178 § 81a StPO, dessen Wortlaut einer Auslegung zugänglich ist, nach der die Befugnis zur Vornahme körperlicher Eingriffe zu Untersuchungszwecken nicht von der Schwere der jeweils verfolgten Straftat abhängt, steht in dieser Wertung mit dem grundgesetzlichen Übermaßverbot hingegen nicht in Einklang und ist deshalb verfassungskonformer Reduktion bedürftig. 179 bb) Daß die Überprüfung der Verfassungsmäßigkeit einzelner Konkretisierungen generell-abstrakter Rechtssätze nicht Gegenstand der das Verhalten des Gesetzgebers betreffenden Maßstabsfunktion des Grundgesetzes sein kann, ihre Korrektur mithin auch nicht den Grundsätzen verfassungskonformer Auslegung unterliegt, erhellt auch der Umstand, daß sich der „verfassungskonforme" Inhalt verfassungsrechtlich relevanter Generalklauseln abstrakt kaum positiv formulieren läßt. 1 8 0 So bedürfte es etwa zur abschließenden Umschreibung der verfassungsrechtlich unbedenklichen Anwendungsfalle des in § 121 Abs. 1 StPO benannten „wichtigen Grundes" einer die Berücksichtigung justizbedingter Verfahrensverzögerungen explizit ausschließenden und damit einer insgesamt fallgruppenbezogenen Normierung. Soll dem Gesetzgeber jedoch auch im Bereich grundrechtsrelevanten Handelns grundsätzlich die Befugnis zu abstrahierender Regelung verbleiben, muß die ihm obliegende Pflicht zur Wahrung der verfassungsrechtlichen Maßstäbe bereits mit der Vorgabe einer auf der gewählten Abstraktionsebene verfassungsrechtlich unbedenklichen Wertung als erfüllt gelten. Generalklauseln oder unbestimmte Rechtsbegriffe sind deshalb verfassungsrechtlichen Bedenken nicht schon dann ausgesetzt, wenn sie ihrem Wortlaut nach auf Fallgestaltungen angewandt werden können, für die verfassungsrechtliche Vorgaben eine abweichende Rechtsfolge vorschreiben. 181 Wird eine als solche verfassungsgemäße Generalklausel einer verfassungsrechtlich bedenklichen fallbezogenen Konkretisierung unterzogen, ist diese allein dem Rechtsan178 179 180 181
So im Ergebnis auch BVerfGE 20, 45, 49f.; unklar BVerfGE 36, 264, 270f., 274. So im Ergebnis auch BVerfGE 16, 194, 202. S. auch Stern, in: BK, Art. 93 Rdn. 698. Vgl. auch Seetzen, NJW 1976, 1997, 1998.
C. Bei der Tatsachenkontrolle
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wender zuzurechnen und unterfällt die verfassungsrechtliche Überprüfung insoweit der Erschließungsfunktion des Grundgesetzes. Eine verfassungskonforme Auslegung kommt hier nicht in Betracht. Für das Institut der verfassungskonformen Auslegung verbleibt danach ein relativ schmaler, für das Gebot verfassungsorientierter Konkretisierung und Anwendung einfachen Rechts ein breiter Anwendungsbereich. Die Maßstabs^ funktion des Grundgesetzes zwingt zu einer über den Einzelfall hinausgreifenden Reduzierung der Verständnismöglichkeiten eines mehrdeutigen Rechtssatzes nur, wenn eine oder mehrere Deutungen seiner abstrakten Regelungsanordnung im Hinblick auf die Gesamtheit der erfaßten Sachverhalte verfassungsrechtlichen Maßgaben widerspricht. Im übrigen unterliegt die fachgerichtliche Rechtsfindung den vom Grundgesetz als „Erschließungsnorm" bereitgestellten Erkenntnisregeln.
C. Die Kontrolle der Tatsachenermittlung I. Der normative Ausgangsbefund Gem. § 26 Abs. 1 S. 1 BVerfGG kann das Bundesverfassungsgericht die zur Erforschung der Wahrheit erforderlichen Beweise selbst erheben. Es ist bei seiner Entscheidungsfindung also nicht von vornherein an die Feststellungen anderer staatlicher Instanzen gebunden. 182 Dem Gericht kommt das Recht und die Pflicht zur vollständigen und letztverbindlichen Wahrheitserforschung vielmehr grundsätzlich selbst zu. 1 8 3 Das Bundesverfassungsgericht ist damit — anders als die Revisionsgerichte — auch Tatsacheninstanz und nicht auf die Prüfung von Rechtsfragen beschränkt. 184 Es kann deshalb auch neues, grundrechtsrelevantes Vorbringen berücksichtigen. 185 § 33 Abs. 2 BVerfGG eröffnet zwar die Möglichkeit zur Übernahme von tatsächlichen Feststellungen eines rechtskräftigen Urteils, wenn es sich um eine im Offizial-Verfahren ergangene Entscheidung handelt. Ob das Bundesverfassungsgericht von einer derartigen Erleichterung der Beweisaufnahme Gebrauch macht, verbleibt jedoch in seinem pflichtgemäßen Ermessen. 186 Trifft das Gericht eine grundsätzliche Pflicht zur eigenen Wahrheitserforschung, kommt 182
Klein, in: Maunz /Schmidt-Bleibtreu/ Klein/ Ulsamer, § 26 Rdn. 5. Arndt, NJW 1962,783, 784; Klein, in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Ulsamer, § 26 Rdn. 5. 184 Steinwedel, Spezifisches Verfassungsrecht S. 37; Philippi, Tatsachenfeststellungen S. 11; Geiger, BVerfGG, §90 Anm. 6 e (S. 280f.); Zweigert, JZ 1952, 321, 326; zur grundsätzlichen Unanwendbarkeit revisionsrechtlicher Grundsätze auch bereits oben Β II 1 d bb (1). 185 Ossenbühl, in: Bundesverfassungsgericht und Grundgesetz I S. 458, 495; Schumann, Verfassungsbeschwerde S. 40. 186 Klein, in: Maunz /Schmidt-Bleibtreu/ Klein /Ulsamer, § 33 Rdn. 8. 183
268
4. Kap.: Eingriffsintensität als Kompetenzmaßstab
eine Übernahme der tatsächlichen Erkenntnisse eines rechtskräftigen Urteils nur in Betracht, wenn aus seiner Sicht an der Richtigkeit der betreffenden Feststellungen keine Zweifel bestehen.187 Eine eigene Wahrheitserforschung kann dem Bundesverfassungsgericht allerdings nur im Rahmen seiner jeweiligen Entscheidungskompetenzen obliegen. 188 Diese sind für jede Verfahrensart gesondert festzustellen. Enthalten die genannten Vorschriften keine speziell auf das Verfahren der Urteilsverfassungsbeschwerde zugeschnittenen Regelungen, lassen sie Rückschlüsse auf den Umfang der Befugnis des Gerichts, die tatsächlichen Feststellungen der Fachgerichte zu überprüfen, nur sehr eingeschränkt zu. So zielt § 33 Abs. 2 BVerfGG seinem Wortlaut nach nicht auf den Rückgriff auf Feststellungen, die gerade in der zur Überprüfung gestellten Entscheidung selbst getroffen wurden. 189 Ist allerdings die Möglichkeit zur Übernahme „fremder" Tatsachenfeststellungen bereits beschränkt, wenn die einschlägige, rechtskräftige Entscheidung nicht ihrerseits Gegenstand der Verfassungsbeschwerde ist, muß dies um so mehr gelten, wenn ein derartiges Urteil einschließlich seiner tatsächlichen Feststellungen selbst zur verfassungsgerichtlichen Überprüfung gestellt wird. Geht man zudem davon aus, daß dem Bundesverfassungsgericht vor der Übernahme der tatsächlichen Erkenntnisse eines rechtskräftigen Urteils eine Plausibilitätskontrolle obliegt 1 9 0 , kommt eine ungeprüfte Hinnahme der Sachverhaltserhebungen des im Rahmen der Urteilsverfassungsbeschwerde angegriffenen Urteils erst recht nicht in Betracht. 191 Daraus auf eine unbeschränkte Kontrolle fachgerichtlicher Tatsachenerhebung zu schließen, wäre allerdings verfrüht. 192 Die für das Verfahren der Verfassungsbeschwerde in § 90 Abs. 2 BVerfGG angeordnete Subsidiarität der verfassungsgerichtlichen Prüfung zielt nach allgemeiner Auffassung neben der Wahrung der fachgerichtlichen Entscheidungszuständigkeit auch auf die Gewährleistung einer hinreichenden tatsächlichen Vorklärung des jeweiligen Sachverhalts. 193 Die mit dem Gebot der Rechtswegerschöpfung insoweit bezweckte Entlastungswirkung kann jedoch nur eintreten, wenn dem Bundesverfassungsgericht im Rahmen der Urteilsverfassungsbeschwerde nicht eine 187
So auch Klein, in: Maunz/ Schmidt-Bleibtreu / Klein / Ulsamer, § 33 Rdn. 8; Geiger, BVerfGG, § 33 Anm. 6. 188 Krauß, Prüfung S. 225; Ossenbühl, in: Bundesverfassungsgericht und Grundgesetz I S. 458, 495 (Fn. 178). 189 Anders Lechner, BVerfGG, § 33 (S. 245). 190 Dazu die Nachweise in Fn. 187. 191 Α. A. wohl Zuck, Verfassungsbeschwerde Rdn. 807. 192 So aber Zweigert, JZ 1952, 321, 326. 193 BVerfGE 8, 222, 227; 56, 54, 69; 65,1, 38; 72, 39,43; 74,102,113f.; 77, 381, 401; s. auch BVerfGE 13, 284, 289, wonach die Notwendigkeit umfangreicher Tatsachenermittlung einer Vorabentscheidung entgegenstehen soll; Schiaich, Bundesverfassungsgericht S. 118; Steinwedel, Spezifisches Verfassungsrecht S. 173.
C. Bei der Tatsachenkontrolle
269
erneute und unbeschränkte Tatsachenerhebung aufgegeben ist. § 90 Abs. 2 BVerfGG läßt sich damit als Anhaltspunkt dafür werten, daß die verfassungsgerichtliche Kontrolle die Überprüfung der Feststellungen der Fachgerichte nicht uneingeschränkt umfaßt. II. Tatsachenkontrolle und „spezifisches Verfassungsrecht" i. Gesetzmäßigkeitsprinzip
und Tatsachenfeststellung
Das aus Art. 20 Abs. 3 GG folgende Gebot der Gesetzmäßigkeit staatlichen Handelns ist nicht nur bei einer unzutreffenden Auslegung rechtlicher Entscheidungsvorgaben verletzt, sondern wird ebenso beeinträchtigt, wenn die darin enthaltenen Sollensanordnungen zwar nach Tatbestand und Rechtsfolge richtig bestimmt, aber wegen eines Fehlers in der Tatsachenfeststellung auf Sachverhalte bezogen werden, für die sie keine Geltung beanspruchen. 194 Sieht man in der Gesetzmäßigkeit staatlichen Handelns nicht nur ein objektivrechtliches Verfassungsgebot, sondern — jedenfalls bei der Anwendung freiheitsschützender Vorschriften 195 — zugleich eine Bedingung für die Verfassungsmäßigkeit eines Grundrechtseingriffs, stellt sich insoweit jede in tatsächlicher Hinsicht unzutreffende Rechtsfindung als Grundrechtsverletzung dar. 1 9 6 Auch die verfassungsgerichtliche Nachprüfung von Tatsachenfeststellungen könnte allerdings den mit der Formel vom „spezifischen Verfassungsrecht" 197 bezeichneten Einschränkungen unterliegen. Das Bundesverfassungsgericht ist — wie gezeigt — weder eine „Superrevisions-" noch eine „Superberufungsinstanz". 198 Das Gericht geht deshalb im Ergebnis zu Recht davon aus, daß „Feststellung und Würdigung des Tatbestandes [seiner] Nachprüfung ... entzogen [sind], sofern nicht spezifisches Verfassungsrecht verletzt ist." 1 9 9 Diese Formel ist indes mehrdeutig. Sie läßt offen, ob ein Eingreifen des Bundesverfassungsgerichts bereits ausgeschlossen sein soll, wenn die fraglichen Feststellungen des Fachrichters eine für die Subsumtion unter einfachrechtliche Entscheidungsvorgaben erforderliche Tatsache betreffen, oder es darauf ankommt, ob die verkannten verfahrensrechtlichen Gebote vollständiger und richtiger Sachverhaltsklärung ihrerseits als verfassungsrechtlich oder als einfachrechtlich zu qualifizieren sind. 194
Vgl. etwa Papier, in: FS für Ule S. 235, 243. Dazu oben 3. Kapitel A I 2 b aa (2). 196 Dazu grundsätzlich Ossenbühl, in: Bundesverfassungsgericht und Grundgesetz I S. 458,494f.; ders., in: FS für H. P. Ipsen S. 129,134f.; Krauß, Prüfung S. 225f.; Geiger, BVerfGG, § 90 Anm. 6 e. 197 Dazu ausführlich oben 1. Kapitel Β II und 2. Kapitel A III 3 c aa (1). 198 S. oben 1. Kapitel Β I 1. 199 So bereits BVerfGE 1, 418, 429 (Einschübe vom Verf.); s. ferner BVerfGE 15, 245, 247; 18,85,92; 43,130,135; 57,250,272; 76,143,161; ähnlich auch BVerfGE 67,213,223. 195
270
4. Kap.: Eingriffsintensität als Kompetenzmaßstab
Die Wahrung der Aufgabenstellung der Fachgerichte steht einer umfassenden verfassungsgerichtlichen Kontrolle der Gesetzmäßigkeit der angegriffenen Entscheidung entgegen. Der Rechtsschutzauftrag des Bundesverfassungsgerichts ist deshalb auf die verfassungsrechtliche Komponente der fachrichterlichen Rechtsfindung beschränkt. 200 Legt man diese, die Formel vom „spezifischen Verfassungsrecht" tragenden Erwägungen auch für die Tatsachenkontrolle zugrunde, bleibt die Handhabung der für die Tatsachenerhebung geltenden einfachrechtlichen Verfahrensregeln der Nachprüfung des Bundesverfassungsgerichts entzogen. Ob das Fachgericht gesetzliche Beweisregeln 201 oder die Grundsätze des Anscheinsbeweises richtig angewandt hat oder es zu Recht von der Präklusion bestimmter Tatsachenbehauptungen ausgeht, unterfallt verfassungsgerichtlicher Beurteilung daher im Grundsatz nicht. 2 0 2 Dies muß gleichermaßen auch gelten, wenn das einfache Recht keine spezifischen Beweisregeln kennt und die Feststellung der maßgeblichen Tatsachen allein der richterlichen Überzeugungsbildung überantwortet ist. 2 0 3 Die „Richtigkeit" der Tatsachenermittlung stellt im Grundsatz keine „spezifisch verfassungsrechtliche" Forderung dar. 2 0 4 Wie im Rahmen der Rechtsauslegung kommt dem Bundesverfassungsgericht deshalb auch insoweit nur eine am Maßstab des Willkürverbots orientierte Prüfungskompetenz zu. 2 0 5 2. Die formale und materiale verfassungsrechtliche Tatsachenerhebung
Steuerung der
Die tatsächlichen Feststellungen des Fachgerichts stehen dem Zugriff des Bundesverfassungsgerichts demnach nur offen, soweit die Tatsachenerhebung zum Gegenstand besonderer verfassungsrechtlicher Regelung gemacht ist. a) Damit ist zunächst das formale Gebot vollständiger und einzelfallorientierter Ermittlung angesprochen, das das Bundesverfassungsgericht unter weitgehender Billigung der Literatur als verfassungsunmittelbares Postulat aus Art. 19 Abs. 4 GG ableitet. 206 Stellen sich die tatsächlichen Feststellungen des angegrif200 Dazu allgemein oben 1. Kapitel Β I 1; dort I 2, III auch zur Problematik einer Trennung verfassungsrechtlicher und einfachrechtlicher Komponente der Rechtsfindung. 201 Vgl. für den Zivilprozeß §§ 165 S. 2,198 Abs. 2, 202 Abs. 2, 212 a, 286 Abs. 2, 314, 415ff., 438 Abs. 2 ZPO. 202 Anderes gilt, soweit formelle oder materielle Grundrechte insoweit ihrerseits bestimmte Verhaltensgebote aufstellen; zur Präklusion vgl. vor allem BVerfGE 75, 302, 312ff.; ferner BVerfGE 69, 126, 138f.; 69, 248, 253f.; 75, 183, 188ff.; umfassend zur Problematik Krauß, Prüfung S. 298 ff. sowie Schumann, Bundesverfassungsgericht S. 17ff., 45ff. 203 Vgl. etwa BVerfGE 67, 245, 249. 204 S. etwa BVerfGE 22, 267, 273; 67, 43, 63 f.; Wittig, BayVBl. 1967, 109, 112; Steinwedel, Spezifisches Verfassungsrecht S. 36. 205 BVerfGE 4, 294, 297; 6, 7, 10; 34, 384, 397; 57, 250, 273; allgemein zur Willkürkontrolle vgl. die Nachweise soeben Fn. 148. 206 Dazu bereits oben 1. Kapitel Β III 2.
C. Bei der Tatsachenkontrolle
271
fenen Urteils als unvollständig dar, liegt danach stets ein Verstoß gegen „spezifisches Verfassungsrecht" vor, unabhängig davon, ob dem Fachgericht eine Fehleinschätzung der Reichweite seiner verfahrensrechtlichen Aufklärungspflichten unterlaufen ist 2 0 7 oder es die Einwirkung materiell-grundrechtlicher Entscheidungsvorgaben auf die anzuwendenden Vorschriften des einfachen Rechts verkannt und deshalb einen aus verfassungsrechtlicher Sicht erheblichen Umstand nicht in seine tatsächliche Prüfung einbezogen hat. 2 0 8 Art. 19 Abs. 4 GG ordnet eine vollständige und fallbezogene Ermittlung nicht nur der zur Subsumtion unter verfassungsrechtliche Handlungsmaßstäbe erforderlichen Tatsachen an, sondern erstreckt sich auch auf die Feststellung der zur Anwendung des einfachen Rechts maßgeblichen Umstände. 209 Deshalb kann es für die verfassungsgerichtliche Kontrolle auch nicht darauf ankommen, ob sich ein Fehler in der Tatsachengrundlage nur auf die einfachrechtliche oder auch auf die verfassungsrechtliche Komponente der Rechtsfindung auswirkt. 210 Die Tatsachenkontrolle des Bundesverfassungsgerichts kann also „gegenständlich" weiter reichen als die Überprüfung der rechtlichen Erwägungen des Fachgerichts. b) „Spezifisch verfassungsrechtliche" Vorgaben sind auch berührt, soweit das Grundgesetz inhaltliche Maßstäbe für die Feststellung und Bewertung der entscheidungserheblichen Umstände des Einzelfalles bereitstellt. aa) Die Einwirkung des Verfassungsrechts kann hier vor allem bei der rechtlichen Würdigung des Sachverhalts zu beachten sein. Dabei geht es um die aus den festgestellten Tatsachen für das Vorliegen der Voraussetzungen eines empirischen oder normativen Rechtsbegriffs zu ziehenden Schlußfolgerungen. Tatfrage und Rechtsfrage können hier zusammentreffen. 211 Hat das Fachgericht etwa bei der Anwendung des § 1666 BGB darüber zu befinden, ob zur Abwehr von Gefahren des Kindeswohls eine Trennung des Kindes von seinen Eltern geboten ist, ist dazu neben der Ermittlung der entscheidungserheblichen Tatsachen auch die Schwere der dem Kind drohenden Beeinträchtigung zu beurteilen. Ob die Umstände des Falles die Annahme einer Gefährdung des Kindeswohls zulassen, unterliegt dabei nicht der freien tatsächlichen Würdigung, sondern ist unter Berücksichtigung der durch die Entscheidung berührten verfassungsrechtlichen Belange, der staatlichen Verpflichtung auf das Wohl des Kindes und des Schutzes des elterlichen Erziehungs207 So in den BVerfGE 21,191,195f.; 28,10,14ff. zugrundeliegenden Fällen, in denen das Fachgericht von einer eingeschränkten Prüfungskompetenz ausging; zum Umfang der Prüfungspflicht im Eilverfahren vgl. BVerfGE 35, 382,401 ff.; 67,43, 61 f.; 69, 315, 363 ff. 208 S. etwa BVerfGE 36, 264, 274f.; 51, 324, 350f. 209 S. etwa BVerfGE 21,191,194f.; 31,113,117; 32,195,197; 51,304,312; 58,300,322; 61, 82, llOf. 210 Α. A. Schumann, Verfassungsbeschwerde S. 241. 211 S. dazu die Beispiele von Esser, Vorverständnis S. 60; Larenz, Methodenlehre S. 295 f.
272
4. Kap.: Eingriffsintensität als Kompetenzmaßstab
rechts, zu bestimmen. So darf etwa — folgt man insoweit der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts — angesichts des grundsätzlichen Vorrangs der elterlichen Erziehung nicht jeder auf Entscheidungen der Eltern beruhende Nachteil, der „im Rahmen einer nach objektiven Maßstäben betriebenen Bestenauslese vielleicht vermieden werden" könnte, als Gefahrdung des Kindeswohls verstanden werden. 212 Soweit die rechtliche Würdigung der Umstände des Einzelfalls derartigen normativen Grenzen unterliegt, stellt sich die verfassungsgerichtliche Überprüfung der Sachverhaltswürdigung als Kontrolle der richtigen Auslegung und Anwendung der einschlägigen normativen Vorgaben dar. 2 1 3 Für das Ausmaß der dem Bundesverfassungsgericht dabei zukommenden Entscheidungsbefugnisse gelten die zur Rechtskontrolle entwickelten Grundsätze. 214 bb) Aber auch bei der Bewertung des Sachverhalts in tatsächlicher Hinsicht können inhaltsbestimmende verfassungsrechtliche Maßstäbe zu beachten sein. Vor allem den Grundrechten des Art. 5 Abs. 1 und 3 GG hat das Bundesverfassungsgericht derartige Interpretationsvorgaben entnommen und die von den Fachgerichten zugrundegelegten Bewertungskriterien entsprechend korrigiert. So stellte es etwa im Flugblatt-Beschluß fest, der Inhalt einer sich an politisch interessierte Personen richtenden Information dürfe nicht allein anhand ihrer Aufnahme durch einen flüchtigen Leser bestimmt werden 215 , und entnahm im Beschluß zum „anachronistischen Zug" der Gewährleistung der Kunstfreiheit das Gebot, bei einer Interpretation künstlerischer Äußerungen von einer Gesamtbetrachtung des Kunstwerks auszugehen.216 Auch in der KunstkritikEntscheidung knüpfte das Bundesverfassungsgericht bei seiner abweichenden Tatsachen Würdigung an die Feststellung an, das Fachgericht habe die beanstandeten Äußerungen aus ihrem Zusammenhang gelöst. 217 Sind Tatsachenerhebung und Sachverhaltswürdigung der Fachgerichte damit einer Reihe von formalen und materialen grundgesetzlichen Maßstäben unterworfen, kommt der Beschränkung der verfassungsgerichtlichen Kontrolle auf die Wahrung „spezifisch verfassungsrechtlicher" Vorgaben auch im Bereich der Tatsachenkontrolle nur eine eingeschränkte Filterwirkung zu.
212
Dazu BVerfGE 34, 165, 184; 60, 79, 94; zustimmend Erichsen, Elternrecht S. 51 f. Vgl. allgemein Esser, Vorverständnis S. 53 ff. 214 S. oben Β II 1 ; daß es sich bei der zutreffenden Sachverhaltswürdigung insoweit um eine Frage der richtigen Rechtsauslegung handelt, wird in der Literatur häufig übersehen, s. etwa Krauß, Prüfung S. 223 ff. 215 BVerfGE 43, 130, 140. 216 BVerfGE 67, 213, 228 f. 217 BVerfGE 54, 129, 137. 213
C. Bei der Tatsachenkontrolle
273
I I I . Eingriffsintensität und Tatsachenkontrolle Die Reichweite der Kompetenz des Bundesverfassungsgerichts, die aufgezeigten verfassungsrechtlichen Maßstäbe für eine zutreffende Tatsachenfeststellung im Verfahren der Urteilsverfassungsbeschwerde letztverbindlich festzustellen und ihre Beachtung zu überprüfen, wird in der Literatur je nach Einschätzung der Rechtsschutzfunktion dieses Verfahrens unterschiedlich beurteilt. Während teilweise die völlige Zurückhaltung des Bundesverfassungsgerichts gefordert w i r d 2 1 8 , befürworten einige Autoren eine weitgehende Durchsetzung verfassungsrechtlicher Steuerungsimpulse auch bei der Tatsachenermittlung 219 und schlagen andere eine Abstufung der Tatsachenkontrolle nach Maßgabe der Eingriffsintensität vor. 2 2 0 Die Urteilsverfassungsbeschwerde dient — wie gezeigt — vornehmlich dem Schutz der durch die angegriffene Maßnahme gefährdeten individuellen Grundrechtsposition und damit der Herstellung von „Verfassungsgerechtigkeit" in der Einzelfallentscheidung. 221 Diese fallbezogene Zielsetzung des Verfahrens steht einem generellen Ausschluß der Überprüfung der fachrichterlichen Tatsachengrundlage entgegen. Die Verwirklichung des subjektiven Grundrechts setzt die zutreffende Feststellung des die verfassungsrechtlichen Verhaltensgebote auslösenden Tatbestandes voraus; effektiver Individualrechtsschutz ist insoweit nur gewährleistet, wenn grundsätzlich auch die tatsächlichen Feststellungen der angegriffenen Entscheidung der verfassungsgerichtlichen Kontrolle unterliegen. 222 Aber auch die tatsächliche Durchsetzung der objektiven Vorgaben des Verfassungsrechts ist an eine zutreffende SachVerhaltsermittlung gebunden. Die Feststellung der entscheidungserheblichen Umstände zählt andererseits in gleichem Maße wie Rechtsauslegung und Subsumtion zum Kernbereich fachrichterlicher Rechtsfindung. Die verfassungsrechtliche Funktionenordnung läßt keine Anhaltspunkte dafür erkennen, daß die Reichweite der dem Bundesverfassungsgericht in tatsächlicher Hinsicht übertragenen Kontrollkompetenz das Ausmaß seiner Befugnis zur Überprüfung der fachrichterlichen Rechtsauslegung grundsätzlich übersteigt. Angesichts der aufgezeigten „Nähe" von Tatfrage und Rechtsfrage wären dagegen auch Bedenken angezeigt. Geht man deshalb davon aus, daß auch im Bereich der Tatsachenerhebung die Umsetzung „spezifisch verfassungsrechtlicher" Maßstäbe primär den Fachgerichten überlassen bleibt, ist auch hier eine an der Zielsetzung des Verfahrens
218
So Wank, JuS 1980, 545, 550; Schuppert, AöR 103 (1978), 43, 65. Geiger, BVerfGG, § 90 Anm. 6 e (S. 280 f.); Ossenbühl, in: Bundesverfassungsgericht und Grundgesetz I S. 458, 495. 220 So vor allem Krauß, Prüfung S. 226 f. 221 Dazu oben Β II 1 d aa (5). 222 Ossenbühl, in: Bundesverfassungsgericht und Grundgesetz I S. 458,495 f.; ders., in: FS für Η. P. Ipsen S. 129, 135. 219
18 Scherzberg
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4. Kap.: Eingriffsintensität als Kompetenzmaßstab
orientierte Abstufung der Dichte der verfassungsgerichtlichen Kontrolle geboten. Hierzu sind im Grundsatz zwei Vorgehensweisen denkbar: Es ließe sich eine eigenständige Anknüpfung der Tatsachenüberprüfung an die Rechtsschutzfunktionen der Urteilsverfassungsbeschwerde vornehmen. Die Kontrollkompetenz des Bundesverfassungsgerichts würde sich danach auf alle vom Fachgericht erhobenen Tatsachen beziehen und wäre in ihrer Intensität nach Maßgabe der für die Rechtskontrolle entwickelten Bestimmungsfaktoren abzustufen. 223 Es käme aber auch eine der jeweiligen Rechtskontrolle akzessorische Tatsachenprüfung in Betracht. Dem Bundesverfassungsgericht wäre so zwar stets eine vollständige Überprüfung der Wahrung der auf die Sachverhaltsfeststellung bezogenen verfassungsrechtlichen Vorgaben ermöglicht; es hätte sich dabei aber auf diejenigen Feststellungen zu beschränken, die den seiner rechtlichen Kontrolle unterliegenden Teilen des fachrichterlichen Subsumtionsschlusses zugrundeliegen. 224 Beide Ansätze sind grundsätzlich geeignet, einen Entscheidungsprimat der Fachgerichte zu wahren. Eine uneingeschränkte Durchsetzung der die Tatsachenfeststellung betreffenden verfassungsrechtlichen Maßstäbe findet nur im Ausnahmefall statt. Lediglich die Voraussetzungen für eine Durchbrechung der fachrichterlichen Entscheidungszuständigkeit werden unterschiedlich bestimmt. Das wirkt sich in Fällen geringer „subjektiver und objektiver Wichtigkeit" aus, in denen dem Bundesverfassungsgericht in rechtlicher Hinsicht lediglich eine Willkürkontrolle eröffnet ist. Folgt man der erstgenannten Ansicht, hätte sich das Gericht auch im Hinblick auf die Tatsachenermittlung auf die Korrektur der — aus verfassungsrechtlicher Sicht — schlechthin unhaltbaren oder lückenhaften Feststellungen des Fachrichters zu beschränken. Nach der Gegenauffassung stünde ihm die Überprüfung der zur Durchführung der Willkürkontrolle erforderlichen Tatsachengrundlage in dem durch die Formel vom „spezifischen Verfassungsrecht" umrissenen Umfang dagegen unbeschränkt zu. Letzteres kann jedoch nur zutreffend sein, wenn die Wahrung der auf die Tatsachenerhebung zielenden, formalen und materialen verfassungsrechtlichen Regeln aus funktionsrechtlicher Sicht einer weitergehenden verfassungsgerichtlichen Sicherung bedürfte, als dies für die Einhaltung der die Rechtsauslegung betreffenden Erkenntnisvorgaben gilt. Zählt die Sachverhaltsfeststellung aber in gleichem Maße wie Rechtsauslegung und Subsumtion zum Kernbereich fachrichterlicher Rechtsfindung und ist nach der grundgesetzlichen Funktionenordnung ebenso wie jene grundsätzlich den Fachgerichten letztverbindlich zugewie223
So Krauß, Prüfung S. 226. So wohl im Grundsatz Ossenbühl, in: Bundesverfassungsgericht und Grundgesetz I S. 458, 495; auf eine akzessorische Tatsachenprüfung lassen auch eine Reihe von Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts schließen; vgl. etwa BVerfGE 60, 234, 239ff.; 61, 1, 7f.; 66, 116, 149f.; 68, 226, 232f.; dazu bereits oben 1. Kapitel C III 7. 224
D. Ergebnis
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sen, liegt nahe, die verfassungsgerichtliche Kontrolle von Tat- und Rechtsfrage nach den gleichen Grundsätzen durchzuführen. Dies gilt um so mehr, wenn man sich den engen Zusammenhang von rechtlicher und tatsächlicher Beurteilung eines Falles vergegenwärtigt. Im Rahmen juristischen Entscheidens ist stets ein wechselseitiger Bezug zwischen Norm und Wirklichkeit herzustellen. So kann einerseits die Auslegung des Normprogramms und die Bildung der Entscheidungsnorm nicht ohne Berücksichtigung des geregelten sozialen Wirklichkeitsausschnitts erfolgen. Auswahl und Verständnis der dabei in Betracht zu ziehenden Tatsachen werden aber andererseits — wie anhand der materialen grundrechtlichen Interpretationsmaßstäbe gezeigt 225 — bereits durch die auf sie bezogenen Rechtsregeln bestimmt. Rechtsanwendung und Tatsachenermittlung sind dergestalt untrennbar miteinander verknüpft. 226 Es ist deshalb auch sachgerecht, die jeweils einschlägigen grundgesetzlichen Steuerungsvorgaben im Rahmen der verfassungsgerichtlichen Kontrolle mit gleicher Intensität zur Durchsetzung zu bringen. Für die Nachprüfung der Tatsachenfeststellung gelten deshalb die für die verfassungsgerichtliche Rechtskontrolle entwickelten Grundsätze. 227 D . Ergebnis Die Kompetenz des Bundesverfassungsgerichts zur abschließenden Feststellung und Durchsetzung der im Grundgesetz für die fallbezogene Auslegung und Anwendung unterverfassungsrechtlicher Normen enthaltenen bindenden Erkenntnisregeln ist zugunsten eines grundsätzlichen Konkretisierungsprimats der Fachgerichte beschränkt. Der multifunktionalen Zielsetzung der Urteilsverfassungsbeschwerde entsprechend ist die Reichweite der verfassungsgerichtlichen Überprüfung im Einzelfall von drei Bestimmungskriterien abhängig. Angesichts des primär auf die Gewährung individuellen Rechtsschutzes gerichteten Verfahrenszwecks ist die Kontrolldichte vornehmlich anhand der Schwere der Betroffenheit des Beschwerdeführers abzustufen. Bei hoher Eingriffsintensität ist zur Wahrung eines Minimalstandards effektiven verfassungsgerichtlichen Rechtsschutzes eine umfassende, im übrigen nur eine am Willkürverbot orientierte Kontrolle angemessen. Neben der Eingriffsschwere können aber auch die Auswirkungen des fachrichterlichen Verfassungsverständnisses für die Grundrechtsausübung Dritter und die Eignung des Rechtsbehelfs, die Klärung einer verfassungsrecht225
S. soeben II 2 b bb. Dazu mit verschiedenen Akzentuierungen auch Larenz, Methodenlehre S. 294ff.; Koch/Rüßmann, Begründungslehre S. 173ff.; F. Müller, Methodik S. 40ff., 111, 280ff.; Kriele, Theorie S. 162ff.; Esser, Vorverständnis S. 53 ff., 59ff.; zur Verfassungsauslegung auch Ossenbühl, in: Bundesverfassungsgericht und Grundgesetz I S. 458, 468; K. Hesse, Grundzüge Rdn. 45f., 69. 227 So im Ergebnis auch Krauß, Prüfung S. 226 f. 226
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4. Kap.: Eingriffsintensität als Kompetenzmaßstab
liehen Frage herbeizuführen, eine Intensivierung der Nachprüfung des Bundesverfassungsgerichts und damit eine Einschränkung des fachgerichtlichen Konkretisierungsprimats fordern. Die Eingriffsintensität ist danach neben ihrer Bedeutung als materiellrechtlicher Handlungsmaßstab auch einer der funktionsrechtlichen Steuerungsfaktoren der verfassungsgerichtlichen Kontrolle der Fachgerichtsbarkeit im Rahmen der Urteilsverfassungsbeschwerde.
Zusammenfassende Thesen I. Das Bundesverfassungsgericht entwickelte das Merkmal der Eingriffsintensität im DGB-Beschluß als einen funktionsrechtlich gebotenen Maßstab für die Reichweite seiner Kompetenz zur Kontrolle fachgerichtlicher Entscheidungen im Rahmen der Urteilsverfassungsbeschwerde. Es unterschied drei Kontrollstufen von unterschiedlicher Prüfungsintensität und knüpfte zu ihrer Kennzeichnung an die Schwere des zu berichtigenden Auslegungsfehlers und den Abstraktionsgrad der jeweils der Korrektur zugänglichen Erwägungen der Fachgerichte an. Je nach dem Gewicht der abzuwehrenden grundrechtlichen Beeinträchtigung sollte das Bundesverfassungsgericht auf ein Eingreifen bei grundsätzlicher Verkennung verfassungsrechtlicher Entscheidungsvorgaben beschränkt sein, eine Korrektur auch einzelner Auslegungsfehler vornehmen oder die fachrichterliche Güterabwägung auch im Ergebnis vollständig ersetzen können. II. Die anschließende Rechtsprechungspraxis bietet kein einheitliches Bild. Einerseits läßt sich bei einer Vielzahl von Entscheidungen das Bemühen um die Fortführung des im DGB-Beschluß begründeten Kontrollmodells feststellen. Andererseits werden eine Reihe von Entwicklungen erkennbar, die mit dem ursprünglichen Ansatz des Bundesverfassungsgerichts nicht zu vereinbaren sind. So übt das Gericht in neuerer Zeit eine Kontrolle auf oberster Stufe selbst dann nicht mehr aus, wenn es die dem Beschwerdeführer auferlegte Belastung als den stärksten vorstellbaren Eingriff in das betroffene Grundrecht charakterisiert. Zugleich findet eine vollständige oder weitgehende Ersetzung der abschließenden Güterabwägung des Fachgerichts in vielen Fällen bereits bei einer auf mittlerer Stufe vorgenommenen Nachprüfung statt. Damit ist das dreistufige Kontrollmodell des DGB-Beschlusses stillschweigend durch eine vereinfachte zweistufige Konzeption abgelöst worden, nach der nurmehr zwischen einer uneingeschränkten und einer auf grundlegende Auslegungsfehler beschränkten Nachprüfung zu unterscheiden ist. Auch orientiert sich das Bundesverfassungsgericht — abweichend von dem im DGB-Beschluß entwickelten Ansatz — bei der Feststellung der Schwere des jeweils in Frage stehenden Auslegungsfehlers nicht allein am Maß der Abweichung seines eigenen Verfassungsverständnisses von der Rechtsauffassung des Fachgerichts. Eine Reihe von Beschlüssen, die trotz Annahme geringer Eingriffsintensität einen weitgehenden Eingriff in die vom Fachgericht für entscheidungserheblich erachtete fallbezogene Abwägung aufweisen, deutet vielmehr darauf hin, daß sich das Gericht auch vom Maß der Konkretisierung
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Zusammenfassende Thesen
leiten läßt, die die zur Beurteilung der Schutzwürdigkeit der betreffenden Grundrechtsausübung einschlägigen Verfassungsnormen im Laufe der Rechtsprechungsentwicklung erfahren haben, und insoweit nicht nur eine gravierende, sondern jegliche Abweichung von den sich daraus für den Einzelfall ergebenden Folgerungen korrigiert. Damit geht eine allmähliche Verschärfung der bei geringer Eingriffsintensität ausgeübten Kontrolle einher. III. Bei der Überprüfung von Tatsachenfeststellungen findet das Merkmal der Eingriffsintensität keine regelmäßige Berücksichtigung. Während das Bundesverfassungsgericht in einigen Fällen geringer grundrechtlicher Betroffenheit ausdrücklich von einer Nachprüfung fachrichterlicher Tatsachenerhebung absieht, kommt es in anderen Entscheidungen auch insoweit zu einer vollständigen Überprüfung. Dabei handelt es sich durchweg um Fälle, in denen erst der Eingriff in den Tatbestand des angegriffenen Urteils eine zutreffende Subsumtion unter die aus Sicht des Bundesverfassungsgerichts maßgeblichen — und seiner rechtlichen Kontrolle zugänglichen — verfassungsrechtlichen Vorgaben ermöglichte. IV. Im Rahmen der Rechtskontrolle wird bei der Überprüfung zivilgerichtlicher Entscheidungen nahezu ausnahmslos auf das Merkmal der Eingriffsintensität zurückgegriffen. Die Kontrolle verwaltungsgerichtlicher Urteile nimmt das Gericht dagegen durchweg nicht, die Kontrolle strafrechtlicher Judikate regelmäßig nur dann nach Maßgabe der Eingriffsintensität vor, wenn dabei — vornehmlich bei der Anwendung der §§ 185 ff. StGB — wie bei bürgerlichrechtlichen Rechtsstreitigkeiten die Zuordnung zweier grundrechtlich geschützter Individualrechtspositionen in Frage steht. Bei der Kontrolle der das Staat-Bürger-Verhältnis betreffenden Entscheidungen stellt das Gericht im wesentlichen nur bei Sachverhaltskonstellationen, die der sog. „objektiven" Regelungskomponente der Grundrechte unterfallen, auf die Intensität der grundrechtlichen Betroffenheit des Beschwerdeführers ab. Vergegenwärtigt man sich, daß nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts auch bei zivilrechtlicher Streitentscheidung allein die zutreffende Beachtung der „objektivrechtlichen" Ausstrahlungswirkung der Grundrechte zu beurteilen ist, wird deutlich, daß das Bundesverfassungsgericht einen Zusammenhang zwischen Eingriffsintensität und Kontrolldichte stets, aber im wesentlichen auch nur dann herstellt, wenn es die Bedeutung des „objektivrechtlichen" Grundrechtsgehalts für das streitige Rechtsverhältnis entfaltet. V. Das Bundesverfassungsgericht sieht sich zu Recht auf die Kontrolle der Wahrung „spezifisch verfassungsrechtlicher" Vorgaben beschränkt und unterscheidet damit verfassungsrechtliche und einfachrechtliche Komponente der fachrichterlichen Rechtsfindung. I m Geltungsbereich des „objektiv-grundrechtlichen" Freiheits- und Rechtsgüterschutzes fehlen bislang jedoch sichere Maßstäbe zur Feststellung der Grenzen der grundrechtlichen Einwirkung auf die einfachrechtliche Rechtslage. Verfassungsrechtliche und einfachrechtliche
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Aspekte der Rechtsfindung lassen sich hier nicht mit Bestimmtheit unterscheiden. Findet das Merkmal der Eingriffsintensität im wesentlichen bei der Rechtskontrolle und insoweit nahezu ausschließlich bei der Nachprüfung anhand der „objektivrechtlichen" Regelungskomponente der einschlägigen Grundrechte Berücksichtigung und wird damit bei Sachverhalten verwandt, über deren materiell-verfassungsrechtliche Determinierung besondere Unklarheit herrscht, läßt dies eine der Wurzeln des im DGB-Beschluß entwickelten Kontrollmodells erkennen. Die Einführung einer neuen Argumentationsebene, der der Nachprüfungsintensität, und deren Abstufung anhand des Ausmaßes der Grundrechtsbetroffenheit kompensieren den Mangel an allgemeingültigen Maßstäben zur Feststellung der Reichweite der verfassungsrechtlichen Steuerung der einfachrechtlichen Streitentscheidung. VI. Das Schrifttum läßt im wesentlichen zwei Begründungsmöglichkeiten für eine Verknüpfung von Kontrolldichte und Eingriffsintensität erkennen: aus funktionsrechtlicher Sicht ist es vor allem die subjektive Rechtsschutzfunktion der Verfassungsbeschwerde, die als Anhalt für die grundsätzliche Richtigkeit des in der Rechtsprechung entwickelten Ansatzes dienen könnte. Aber auch vom Standpunkt der traditionellen Lehre, die an der Identität von Entscheidungsund Kontrollnorm im Verfassungsrecht festhält, ließe sich eine Anknüpfung der Kontrolldichte an das Ausmaß der grundrechtlichen Betroffenheit zumindest bei der Überprüfung solcher Entscheidungen befürworten, die der „objektiven Ausstrahlungswirkung" der Grundrechte unterliegen. Eine Abstufung der Prüfungsintensität nach Maßgabe der Schwere der jeweils auferlegten Belastung könnte insoweit zutreffend sein, wenn bei zunehmender Beeinträchtigung grundrechtlich geschützter Güter eine Verstärkung der Wirkkraft der „objektiven" grundrechtlichen Regelungskomponente festzustellen wäre. VII. Das im Grundgesetz enthaltene Normprogramm ist tatbestandlich lückenhaft und auch in seiner die Rechtsfolgenbestimmung betreffenden Bindungskraft begrenzt. Der Rahmencharakter der Verfassung setzt der verfassungsgerichtlichen Kontrolle materiellrechtliche Schranken. Die verfassungsrechtlich intendierte Funktionenordnung zwischen Verfassungs- und Fachgerichtsbarkeit läßt darüber hinaus aber auch auf kompetenzielle Grenzen des Bundesverfassungsgerichts bei der Gewährung individuellen Grundrechtsschutzes im Rahmen der Urteilsverfassungsbeschwerde schließen. Angesichts der engen Verknüpfung verfassungsrechtlicher und einfachrechtlicher Komponente der Entscheidungsfindung muß die dem Fachgericht zugewiesene Zuständigkeit zur Entwicklung einer homogenen einfachrechtlichen Fachdogmatik auch die Befugnis zur gestaltenden Konkretisierung und Transformation einschlägiger verfassungsrechtlicher Steuerungsimpulse einschließen. Zur Gewährleistung der dabei zu achtenden „Integrität des konkreten Sach- und Rechtszusammenhangs" ist dem Fachrichter insoweit ein eigenständiger, im
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Wege der verfassungsgerichtlichen Kontrolle nicht überprüfbarer Entscheidungsanteil, ein grundsätzlicher Konkretisierungsprimat zuzuerkennen. Dieser Konkretisierungsprimat bezieht sich insbesondere auch auf die Feststellung der Grenzen des verfassungsrechtlichen Regelungsanspruchs. Wäre dem Bundesverfassungsgericht die Befugnis zur letztverbindlichen Entscheidung über die Reichweite der normativen Wirkkraft des Grundgesetzes uneingeschränkt zugewiesen, müßte dies — angesichts der mangelnden methodischen Disziplinierung des Prozesses der Verfassungsinterpretation einerseits und der herausgehobenen Bindungskraft verfassungsgerichtlicher Entscheidung andererseits — die Gefahr einer verfassungsrechtlich nicht intendierten Hinzugewinnung von bindendem Verfassungsgehalt begründen. Das Grundgesetz dirigiert staatliches Verhalten nicht nur durch die Aufstellung materialer Entscheidungsvorgaben, sondern durch ein System kompetenzrechtlicher, verfahrensmäßiger und (beschränkter) inhaltlicher Bindungen. Ist die Beachtung des Rahmencharakters des Grundgesetzes durch eine Verpflichtung auf das materielle Recht allein nicht sicherzustellen, kann der Begrenztheit des verfassungsrechtlichen Regelungsanspruchs nur durch eine Einschränkung der Entscheidungskompetenz des Bundesverfassungsgerichts bei der Feststellung der Grenzen der Wirkkraft des Grundgesetzes Rechnung getragen werden. VIII. Die für den Umfang der verfassungsgerichtlichen Kontrolle maßgeblichen materiellrechtlichen und kompetenziellen, vornehmlich funktionsrechtlichen Verfassungsvorgaben stehen nicht isoliert nebeneinander, sondern sind in besonderer Weise einander zugeordnet und miteinander verschränkt. Die Reichweite der verfassungsgerichtlichen Kontrolle ist deshalb in einem integralen, materiellrechtliche und funktionsrechtliche Faktoren umschließenden Prozeß zu bestimmen. Funktionsrechtlichen Kriterien kommt dabei eine Ergänzungsfunktion zu. Auf sie ist zurückzugreifen, wenn und soweit das materielle Verfassungsrecht hinreichend sichere Folgerungen auf Inhalt und Grenzen seines Regelungsanspruchs nicht zuläßt. Sie haben aber auch Kompensationsfunktion, soweit die unbeschränkte Durchsetzung aller handlungsanleitenden Vorgaben des Grundgesetzes durch das Bundesverfassungsgericht zu einem Einbruch in die Entscheidungskompetenzen der kontrollierten Organe führen müßte. Funktionsorientierte Vorgaben sind stets auf die inhaltliche Gestaltungsfunktion der Verfassung bezogen. Ausgangspunkt und Grenze der Bestimmung der Kontrolldichte hat deshalb der Umfang der materiellen verfassungsrechtlichen Rechtsbindung zu sein. IX. Die durch die Überwindung des bürgerlich-liberalen Freiheitsdenkens eröffnete Erkenntnis von der verfassungsrechtlichen Bedeutung „realer Freiheit" macht eine Fortentwicklung des traditionell auf imperative Eingriffe bezogenen und damit auf eine Modalität staatlicher Freiheitsbeeinträchtigung beschränkten Konzepts des grundrechtlichen Freiheitsschutzes notwendig. M i t
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ihrer herkömmlich sog. „objektivrechtlichen", wertsetzenden Regelungskomponente verpflichten die Grundrechte staatliches Verhalten auch jenseits der Formen imperativen Handelns auf die Erhaltung und Förderung tatsächlicher individueller Freiheit als ein grundsätzlich zu verfolgendes Verfassungsziel. Dessen Umsetzung obliegt bei einem an Demokratie- und Rechtsstaatsprinzip orientierten Verständnis des Gesetzesvorbehalts primär dem Gesetzgeber. Diesem kommt danach die Aufgabe zu, die Rechtssphäre des Bürgers bei der Grundrechtsausübung auszugestalten und damit die angesichts des Fehlens eines allgemeinen verfassungsrechtlichen Gesetzesvollzugsanspruchs notwendige Bestimmung darüber zu treffen, ob und welche grundrechtsbezogenen Interessen an staatlichem Verhalten als schutzwürdig anzusehen und zu subjektiven Rechten des Bürgers auszuformen sind. X. Allein aus der Feststellung des wertsetzenden Charakters der Grundrechtsnormen lassen sich Folgerungen auf Inhalt und Grenzen des „objektiven" grundrechtlichen Freiheitsschutzes nicht ableiten. Der Rückgriff auf den axiologischen Maßstab des Wertes eröffnet zwar den Zugang zum Verständnis des materialen Charakters der grundrechtlichen Regelungen und läßt ihren umfassenden Geltungsanspruch für die Gestaltung des Gemeinwesens erkennen. Das wertorientierte Grundrechtsverständnis ist deshalb geeignet, die „gegenständliche" Entfaltung der Grundrechte in allen Teilen des Rechts zu stützen. Es leistet aber keine hinreichend präzise Bestimmung von Regelungsinhalt und Wirkkraft des „objektiven" grundrechtlichen Freiheitsschutzes und verbleibt insoweit—wie sich auch an dem in der Rechtsprechung geprägten Bild von der „Ausstrahlungswirkung" zeigt — bei einer bloßen Umschreibung der in Struktur und Gehalt nicht geklärten „objektiv-grundrechtlichen" Regelungskraft. X I . Das Verständnis der Grundrechte als Prinzipien vermag den Besonderheiten des grundrechtlichen Schutzes „realer Freiheit" nicht gerecht zu werden. Sollen sich die Grundrechte als „Optimierungsgebote" darstellen, wäre damit bei jeder ihre wertsetzenden Regelungsgehalte umsetzenden Entscheidung die Herstellung eines „Kosten" und „Nutzen" optimierenden Ausgleichs geboten, die zu treffende Entscheidung also normstrukturell vollständig grundrechtsgebunden. Damit würde nicht nur der Rahmencharakter des Grundgesetzes verkannt, sondern — angesichts der aus der Prinzipientheorie folgenden grundsätzlichen Subjektivierung grundrechtlicher Handlungsgebote — auch die einfachgesetzliche Unterscheidung von subjektivem Recht und objektiver Begünstigung obsolet. Soweit von der normstrukturell vollständigen Grundrechtsbindung eine Ausnahme zugunsten der Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers postuliert wird, liegt dem die Prämisse zugrunde, daß die den Grundrechten eigene Verpflichtungswirkung von der Qualität des handelnden Staatsorgans abhängig sein kann. Grundrechtlicher Freiheitsschutz ist jedoch nicht Ursachen-, sondern wirkungsorientiert. Er knüpft nicht an die Rechtsform der grundrechtsrele-
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vanten Handlung oder die Stellung des handelnden Staatsorgans, sondern allein an den als grundrechtswidrig erkannten Effekt an. Daß dessen Zurechnung innerhalb der Staatsgewalten für das materielle Verfassungsrecht ohne Bedeutung ist, bestätigt § 31 Abs. 1 BVerfGG. Die dort angeordnete, auf Determinierung künftiger Entscheidungen der nicht verfahrensbeteiligten Staatsorgane zielende Bindungswirkung verfassungsgerichtlicher Entscheidungen ist Aktualisierung und Konkretisierung der diese treffenden Verfassungspflichten. Sie steht unter der Annahme einer inhaltlich gleichmäßigen, funktionsunabhängigen Wirkkraft der Verfassung. Grundrechte sind deshalb entweder stets Gebote zur Optimierung „realer Freiheit" oder sie sind es nicht. Ein Verständnis der Grundrechte als Verpflichtung zur Optimierung „realer Freiheit" durch den Staat würde darauf zielen, das Individuum von seiner Verantwortung zu eigener freiheitsschaffenden Aktivität entsprechend den tatsächlichen und rechtlichen Gegebenheiten möglichst weitgehend zu entlasten. Für eine derartige Grundrechtsauslegung ist in einer Verfassungsordnung, die die Förderung individueller Selbstverantwortung und die Ausgrenzung von Freiräumen zu selbstbestimmter Lebensgestaltung intendiert, von vornherein kein Raum. Staatliche Freiheitsförderung zugunsten des einen mindert zudem tendenziell stets die Freiräume freier Entfaltung der anderen. Folgte man der Prinzipienlehre, wären das Gebot zur Förderung tatsächlicher Freiheitschancen und die Verpflichtung zur Wahrung rechtlicher Freiheit nach Maßgabe „praktischer Konkordanz" zu einem sachgerechten Ausgleich zu bringen. Grundrechtliches „Dürfen" stünde damit aber unter dem steten Vorbehalt einer gleichermaßen optimalen Verwirklichung des „tatsächlichen Könnens" der Freiheitsausübung der anderen. Freiheitsrechte und Freiheitschancen befanden sich miteinander quasi „gleichrangig" in Konkurrenz. Eine derartige umfassende verfassungsimmanente Relativierung des abwehrrechtlichen Freiheitsschutzes stünde mit der abgestuften Schrankensystematik des Grundgesetzes indes nicht in Einklang, die die Reichweite der Befugnisse des Staates zum Ausgleich ungleich verteilter Entfaltungschancen in differenzierter und behutsamerer Weise regelt. X I I . Die „objektive" Regelungskomponente der Grundrechte hat zunächst appellative Funktion. Sie umschreibt eine noch unbestimmte Ordnung, die ihre endgültige Form erst im Verbund mit autonom gebildeten Gestaltungswünschen oder anderweitig normativ vorgegebenen Regelungszwecken, bereichsspezifischen und empirischen Erkenntnissen und Zweckmäßigkeitsgesichtspunkten gewinnt. Zur Bestimmung von Wirkungsweise und normativer Kraft derartiger „weicher" verfassungsrechtlicher Verhaltenssteuerung läßt sich auf rechtstheoretische Erkenntnisse über die Eigenschaft komparativer Rechtssätze zurückgreifen. Die „objektive" Regelungskomponente der Grundrechte birgt insoweit zwei Relationssätze: je stärker der Mangel an tatsächlichen Freiheitschancen im Einzelfall, desto umfangreicher die grundrechtlich angeregten Ausgleichs- und
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Sicherungsmaßnahmen; je gravierender ferner die Minderung tatsächlicher Freiheitschancen, desto höher die Bindungskraft der grundrechtlichen Steuerungsimpulse. Eigene Prioritäten etwa des Gesetzgebers vermögen die Nichtachtung der grundrechtlichen Zielvorgaben danach um so weniger zu begründen, je mehr die tatsächliche Wahrnehmung grundrechtlicher Individualrechte im Einzelfall notleidend geworden ist. Klassifikatorische Entscheidungsmaßstäbe, also die Angabe von Bedingungen, unter denen das grundrechtliche Schutzpostulat auch gegenüber abweichenden Zielsetzungen Durchsetzung beansprucht, enthält die verfassungsrechtliche Regelung insoweit aber gerade nicht. X I I I . Rechtsprechung und Literatur haben auf der Grundlage des wertsetzenden, „objektiven" Regelungsgehalts der Grundrechte indes auch eine Vielzahl definitiver verfassungsrechtlicher Pflichten zu Schutz und Förderung tatsächlicher Freiheitsverwirklichung entwickelt. Als Voraussetzung für die Begründung einer derartigen strikten Bindung wird durchweg das Überschreiten einer bestimmten Intensitätsschwelle der durch das fragliche Verhalten vermittelten grundrechtlichen Beeinträchtigung benannt. Die Entstehung definitiver grundrechtlicher Handlungspflichten soll anzunehmen sein, wenn die tatsächliche Ausübung oder Durchsetzung der grundrechtlich gewährten Freiheit oder der Bestand eines grundrechtlich geschützten Rechtsgutes andernfalls in hohem Maße beschränkt oder gefährdet wäre. Die Grundrechte enthalten danach über ihre appellative und integrative Wirkung hinaus auch die verfassungskräftige Gewährleistung eines Minimalstandards „realer Freiheit". Fragt man nach der verfassungsrechtsdogmatischen Grundlage dieses weitgehend induktiv gewonnenen Grundrechtsverständnisses, läßt sich an die bislang allein im Hinblick auf ihre Steuerungswirkung gegenüber (individual^rechtlichen Einschränkungen der Grundrechtsausübung gewürdigte verfassungsrechtliche Minimalgarantie des Art. 19 Abs. 2 GG anknüpfen. Das Grundgesetz zielt nach heute ganz überwiegendem und zutreffendem Verständnis auf die Herstellung einer die effektive Verwirklichung individueller Freiheit eröffnenden und sichernden Ordnung. Die Grundrechte beziehen deshalb auch tatsächliche Gefahrdungen der Grundrechtsverwirklichung, die auf innergesellschaftliche Machtverteilung oder den Aktivitäten des mit erweitertem Handlungsauftrag versehenen Sozialstaats beruhen, in ihren Schutzgehalt ein. Das Grundgesetz folgt dabei der Erkenntnis, daß die Durchsetzung der Verfassungswerte in der sozialen Wirklichkeit nicht nur auf die Abwehr rechtlicher Zugriffe des Staates, sondern in gleichem Maße auch auf seine positive Inpflichtnahme zur Umhegung der tatsächlichen Rahmenbedingungen der Grundrechtsverwirklichung angewiesen ist. Diesem Regelungsgedanken entsprechend ist neben der Wahrung eines „rechtlichen" Minimalstandards auch die Garantie eines Minimums an grundrechtsfreundlicher Ausgestaltung der tatsächlichen Bedingungen individuellerFreiheitsverwirklichung, also ein Minimalstandard „realer Freiheit", in den verfassungskräftig geschützten Kernbereich grundrechtlicher Gewährleistung einzubeziehen.
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XIV. Der dem Grundrechtsträger eingeräumte individuelle Status ist durch die Befugnis gekennzeichnet, die Wahrung der freiheitsschützenden, statusrelevanten grundrechtlichen Sollensanordnungen durchzusetzen. Der in der tatsächlichen Verwirklichung seiner grundrechtlich geschützten Freiheit beeinträchtigte Bürger ist deshalb zur eigenen Durchsetzung aller sich aus den Grundrechten ergebenden verbindlichen Verhaltensgebote berechtigt. Der grundrechtliche Anspruch erstreckt sich damit nicht nur auf die Unterlassung verfassungswidriger Eingriffe, sondern kann auch auf positives staatliches Verhalten, etwa die Gewährung von Schutz gegenüber Dritten, die Aufstellung oder Beachtung bestimmter verfahrensrechtlicher Sicherungen oder die Zuteilung materieller Leistungen des Staates gerichtet sein, wenn sich die grundrechtlichen Steuerungsvorgaben zum Schutz „realer Freiheit" zu entsprechenden definitiven staatsgerichteten Handlungspflichten verdichten. Deren Kennzeichnung als „objektivrechtlich" deutet auf eine verfassungsrechtlich unzutreffende funktionale Entgegensetzung subjektiver und objektiver Grundrechtsgehalte. XV. Dem Merkmal der Eingriffsintensität kommt im Rahmen des grundrechtlichen Schutzes „realer Freiheit" eine doppelte Funktion zu. Das Ausmaß einer nicht durch imperative Einwirkung des Staates vermittelten Grundrechtsbeeinträchtigung gestaltet zum einen Inhalt und Intensität der „Appellwirkung" grundrechtlicher Wertungs- und Gestaltungsvorgaben. Bei erheblicher Verschlechterung der tatsächlichen Bedingungen der Wahrnehmung oder Durchsetzung grundrechtlich geschützter Freiheit verdichtet sich die grundrechtliche „Appellwirküng" zu einem definitiven, den Bürger auch subjektivrechtlich begünstigenden verfassungskräftigen Förderungs- oder Schutzgebot. Die Intensität grundrechtlicher Betroffenheit ist insoweit Maßstab für Entstehung und Inhalt eines anhand der grundrechtlichen Regelungsintention und der jeweiligen sachbereichsspezifischen Gegebenheiten zu konkretisierenden verfassungsrechtlichen Untermaßverbots. XVI. Das Ausmaß der durch die angegriffene Entscheidung bewirkten Beeinträchtigung grundrechtlich geschützter Positionen ist auch einer der maßgeblichen funktionsrechtlichen Bestimmungsfaktoren für die Reichweite der Kontrollkompetenz des Bundesverfassungsgerichts im Rahmen der Urteilsverfassungsbeschwerde. Für eine an einzelfallbezogenen Gesichtspunkten orientierte Einschränkung der verfassungsgerichtlichen Nachprüfung ist allerdings kein Raum, soweit der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts Konzentrationsfunktion zukommt, es also im Rahmen der Urteilsverfassungsbeschwerde eine über das konkrete Ausgangsverfahren hinausweisende Entscheidung trifft, die gegenüber Verfahrensbeteiligten und Nichtverfahrensbeteiligten notwendig einheitlich ergehen muß. Das gilt gem. §§ 95 Abs. 3, 79 Abs. 1 3. Fall, 31 Abs. 2 BVerfGG für die Verwerfung eines Rechtssatzes im Rahmen inzidenter Normenkontrolle
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und für die Feststellung der Unvereinbarkeit einer bestimmten Auslegung der angewandten Vorschrift mit dem Grundgesetz, also für die Durchsetzung der die Gültigkeit unterverfassungsrechtlicher Rechtssätze regelnden grundgesetzlichen Maßstäbe. Bei der Überprüfung der angegriffenen Entscheidung anhand der die fallbezogene Konkretisierung und Anwendung unterverfassungsrechtlicher Normen betreffenden definitiven verfassungsrechtlichen Erkenntnisregeln ist zur Wahrung des fachrichterlichen Konkretisierungsprimats dagegen eine an den Verfahrenszwecken der Urteilsverfassungsbeschwerde orientierte Abstufung der Kontrolldichte geboten. Dabei sind — der multifunktionalen Zielsetzung des Verfahrens entsprechend — drei Bestimmungsfaktoren für die Reichweite der Kontrollkompetenz des Bundesverfassungsgerichts maßgeblich. Angesichts der primär auf die Gewährung individuellen Rechtsschutzes gerichteten Funktion des Rechtsbehelfs ist der Umfang der Nachprüfung vornehmlich von der Schwere der Betroffenheit des Beschwerdeführers abhängig. Zusätzlich können auch die Auswirkungen des fachrichterlichen Verfassungsverständnisses auf die Grundrechtsausübung Dritter und die Eignung des Rechtsbehelfs, die Klärung einer verfassungsrechtlichen Frage herbeizuführen, eine Intensivierung der verfassungsgerichtlichen Kontrolle fordern. X V I I . Die in der Rechtsprechungspraxis zutage getretenen Unzulänglichkeiten des im DGB-Beschluß entwickelten Kontrollmodells erlauben die Schlußfolgerung: je ausdifferenzierter sich die gewählte Kontrollsystematik darstellt, desto geringer ist ihre Steuerungskraft. Sind Rechtssicherheit und Vorhersehbarkeit der Erfolgsaussichten aber gerade im Rahmen eines primär auf die Abhilfe individueller Rechtsschutzbegehren zielenden Rechtsbehelfs zentrale verfahrensrechtliche Belange, erscheint in Übereinstimmung mit der neueren Kontrollpraxis des Bundesverfassungsgerichts bei der Urteilsverfassungsbeschwerde lediglich die Unterscheidung von zwei Kontrollstufen funktionsrechtlich angemessen. Eine intensivierte Kontrolle findet unter den Voraussetzungen einer Vorabentscheidung gem. § 90 Abs. 2 S. 2 BVerfGG und bei Vorliegen des Annahmezwangs gem. § 93 c S. 2 BVerfGG statt. Diese Vorschriften lassen zugleich erkennen, daß dem Bundesverfassungsgericht auf der oberen Kontrollstufe die Befugnis zur Konkretisierung der einschlägigen verfassungsrechtlichen Erkenntnisregeln uneingeschränkt zukommen muß. So gehört die Überprüfung der durch Akte der öffentlichen Gewalt ausgelösten gravierenden Beeinträchtigungen grundrechtlich geschützter Güter nach §§ 93 b Abs. 1 S. 1 Nr. 3,93 c S. 2 BVerfGG zum ununterschreitbaren „Mindeststandard" des verfassungsgerichtlich zu gewährenden Rechtsschutzes. Eine effektive Kontrolle verfassungsrechtlich bedenklicher, intensiver Belastungen des einzelnen ist jedoch nur gewährleistet, wenn das Bundesverfassungsgericht dabei nicht auf die Korrektur der „grundsätzlichen Unrichtigkeit" des fachgerichtlichen Verfassungsverständnis-
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ses beschränkt ist. Dient die Urteilsverfassungsbeschwerde vornehmlich der Bewahrung der individuellen Grundrechtsposition und der Herstellung von „Verfassungsgerechtigkeit" in der Einzelfallentscheidung, verlangt diese Zielsetzung eine unumschränkte, auch die Verfassungsmäßigkeit der fallspezifischen Bewertungen des Fachgerichts einbeziehende Überprüfung jedenfalls dort, wo das dem Bundesverfassungsgericht obliegende „Minimum" grundrechtlichen Rechtsschutzes in Frage steht. Die in §§ 93 b Abs. 1 S. 1 Nr. 3, 93 c S. 2 BVerfGG enthaltenen Kriterien der „allgemeinen Bedeutung", der „Schwere der Nachteils" und der Möglichkeit zur „Klärung einer verfassungsrechtlichen Frage" sind zugunsten der Wahrung der verfassungsrechtlich intendierten Funktionenordnung zwischen Fachgerichtsbarkeit und Bundesverfassungsgericht allerdings einer einschränkenden Auslegung bedürftig. Dies gilt vornehmlich für diejenigen Merkmale, die die sog. objektiven Zwecke des Verfahrens betreffen. Fehlt es an einer hervorragenden individuellen oder überindividuellen Bedeutung der Sache, tritt der Rechtsschutzauftrag des Bundesverfassungsgerichts gegenüber der primären Entscheidungszuständigkeit der Fachgerichte zurück. Eingriffe in die fachrichterliche Rechtsfindung können deshalb nur bei besonderem Anlaß funktionsrechtlich unbedenklich sein. Dies ist der Fall, wenn die Hinnahme einer Grundrechtsverletzung angesichts des Ausmaßes der Verkennung verfassungsrechtlicher Bindungen trotz der relativ geringen Bedeutung der Sache unzumutbar erscheint. Einschränkungen der Kompetenz des Bundesverfassungsgerichts zur letztverbindlichen Feststellung verfassungsrechtlicher Vorgaben sind vornehmlich wegen des Wechselbezuges von Verfassungskonkretisierung und einfachrechtlicher Rechtsfindung geboten; die Auslegung und Anwendung des einfachen Rechts unterliegt nach ständiger Rechtsprechung aber lediglich einer an den Maßstäben des Willkürverbots orientierten Überprüfung. Daher liegt nahe, eine derartige Eingrenzung der verfassungsgerichtlichen Kontrolle auch im Hinblick auf das fachgerichtliche Verfassungsverständnis anzunehmen und im Willkürverbot die Grenzen bezeichnet zu sehen, in denen die Hinnahme einer möglichen Grundrechtsverletzung bei fehlender „subjektiver und objektiver Wichtigkeit" zumutbar erscheint. Nur eine derartige Beschränkung der Prüfungskompetenz des Bundesverfassungsgerichts vermag der in der Rechtsprechungspraxis zutage getretenen Gefahr einer allmählichen Verschärfung der Kontrolldichte auf der unteren Kontrollstufe entgegenzuwirken und damit den grundsätzlichen Konkretisierungsprimat der Fachgerichte zu sichern. X V I I I . Eine Durchsetzung seines Verständnisses von Inhalt und Tragweite „weicher" verfassungsrechtlicher Steuerungsmechanismen ist dem Bundesverfassungsgericht verfassungsprozessual verwehrt. Bei Verkennung appellativer Grundrechtsgehalte bleibt die Verfassungsbeschwerde im Ergebnis erfolglos. Eine Korrektur der vom Fachgericht vorge-
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nommenen Entfaltung „weicher" verfassungsrechtlicher Wertungsimpulse könnte deshalb allenfalls in den Gründen eines verfassungsgerichtlichen Zurückweisungsbeschlusses erfolgen. Entsprechenden Äußerungen des Gerichts würde aber nicht die Qualität „tragender Gründe" für die abschließende Entscheidung zukommen. Sie würden sich als „obiter dicta" darstellen, die auch auf der Grundlage des weiten Verständnisses des Bundesverfassungsgerichts zu § 31 Abs. 1 BVerfGG von der dort angeordneten Bindungswirkung nicht erfaßt sind. X I X . Bei der Kontrolle der Tatsachenerhebung ist das Bundesverfassungsgericht wie im Bereich der Rechtskontrolle von vornherein auf die Überprüfung der Wahrung „spezifisch verfassungsrechtlicher" Vorgaben beschränkt. Die Nachprüfung der „Richtigkeit" der tatsächlichen Feststellungen des Fachgerichts ist ihm deshalb ebenso wie die Anwendung einfachrechtlicher Beweisregeln entzogen. Die formalen und materialen verfassungsrechtlichen Maßstäbe für eine vollständige Erhebung und richtige Würdigung entscheidungserheblicher Tatsachen sind dagegen in abgestufter Weise nach Maßgabe der für die Rechtskontrolle entwickelten Grundsätze durchsetzbar. Liegen die Voraussetzungen der §§ 90 Abs. 2 S. 2, 93 c S. 2 BVerfGG vor, hat das Bundesverfassungsgericht danach auch die tatsächlichen Feststellungen des Fachgerichts unbeschränkt auf ihre Vereinbarkeit mit dem Grundgesetz zu überprüfen. Im übrigen steht ihm lediglich eine am Willkürverbot orientierte Kontrolle zu. X X . Der doppelte Funktionszusammenhang des Kriteriums der Eingriffsintensität als materiellrechtlicher und kompetenzieller Maßstab für die Dichte der verfassungsgerichtlichen Kontrolle im Rahmen der Urteilsverfassungsbeschwerde ist in der Rechtsprechung bislang nicht zutreffend erkannt worden. Das Bundesverfassungsgericht hat den Rückgriff auf die Eingriffsintensität einerseits mit funktionsrechtlichen Erwägungen begründet, Einschränkungen seiner Kontrolle unter Hinweis auf die geringe Grundrechtsbetroffenheit aber andererseits im wesentlichen nur in Fällen vorgenommen, in denen das Maß der Beeinträchtigung grundrechtlicher Freiheit bereits bei der Feststellung der materiellrechtlichen Grenzen der grundrechtlichen Determinierung der Fallentscheidung hätte berücksichtigt werden müssen. Es hat sich ferner zu einer letztverbindlichen Konkretisierung strikt bindender verfassungsrechtlicher Maßstäbe vielfach selbst dann nicht veranlaßt gesehen, wenn dies angesichts der hohen Eingriffsintensität zur Wahrung eines Mindeststandards verfassungsgerichtlich zu gewährleistenden Individualrechtsschutzes funktionsrechtlich geboten gewesen wäre. Beide Fehlentwicklungen gilt es zu korrigieren.
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Sachregister Allgemeine Handlungsfreiheit 25 Fn. 15, 146ff.
- Konkretisierungsprimat 132, 242, 249, 251ff, 256, 259 - Rechtsschutzauftrag 23ff., 127ff., Beurteilungsspielraum, Lehre vom 117 f. 225 ff. Bundesverfassungsgericht (s. auch Freiheitsschutz, grundrechtlicher Kontrolle) - als Abwehr imperativer Einwirkun- Bindungswirkung der Entscheidungen 17, 139f., 152, 203 gen 133, 177, 226 f., 228, 230, 244f., - als Abwehr mittelbar-faktischer 261 Einwirkungen 34, 142f., 145ff, - und Fachgerichte 23ff, 89ff., 126ff 150f., 154, 203ff 225ff, 234ff, 247ff, 257ff., 269ff. - als Abwehr von Verletzungen der - Rechtsschutzauftrag 23ff, 85, 89 ff., Grundrechtsnorm 218 ff. 126ff, 225ff, 236ff, 252, 269 ff. - Freiheitsbegriff des Grundgesetzes 139ff., 215 f. - als Interessenschutz 147 f., 149ff, Eingriffsintensität 205 ff. - Anwendungsbereich des Merkmals - als Schutz „realer Freiheit" 142ff, 60, 74 ff. 152, 153ff, 176, 177ff., 183ff, - Begriff 17 193ff, 208ff. - Funktionen des Merkmals 18 ff., 83, Funktion 222, 275 f. - Begriff 122 - und Kontrolldichte 19 f., 63 f., 81 ff., 223ff, 230, 248f., 275f. - und Kompetenz 89ff., 121ff, 126 in der Kontrollpraxis des Gesetzesvollziehungsanspruch 147 f., 181 BVerfG 41 ff., 60ff., 74ff. - - bei der Rechtskontrolle 224ff., Grundgesetz (s. auch Verfassung) 231 ff. - als „Erschließungsnorm" 30ff, — bei der Tatsachenkontrolle 231 ff., 262ff 267 ff. - Grenzen der Rechtsbindung 99 ff., - Kriterien zur Bemessung 62 ff., 255f 103 f., 105ff - und „objektiver" Grundrechtsschutz - Lückenhaftigkeit und Offenheit 102, 81 f., 84 ff., 139ff, 191, 221f 108 f. Eingriffs- und Schrankendenken 17, - als „Maßstabsnorm" 30f, 224ff., 139ff., 144ff., 152, 203 262ff. Entscheidungsnorm - als materiale Verfassung 101, 123, - Begriff 19 Fn. 18 128, 159f., 165 f. - und Kontrollnorm 87f., 121ff, - Normativität und Bestimmtheit 231 f. 99ff, 120, 184 - als Rahmenordnung 114f, 134, 165. Fachgerichte (s. auch Bundesverfassungs185 f. gericht) Grundrechte (s. auch Freiheitsschutz, - Begriff 20 Fn. 23 grundrechtlicher)
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Sachregister
- Appellwirkung 186ff., 195, 219ff., 257 ff. - Ausstrahlungswirkung 33f., 87, 122f, 166, 168 - Drittwirkung 168, 179 f. - und Gesetzmäßigkeit 25f., 123 f. - grundrechtlicher Status 214f., 216f. - grundrechtliche Schutzpflichten 34, 154, 167, 194ff, 199f. - Grundrechtsbindung der Staatsgewalt 176f, 232 - „objektivrechtlicher" Gehalt (s. dort) - als Organisations- und Verfahrensgarantien 34, 154 f., 198ff. - als Prinzipien 169ff, 186 f. - Schutzzweck 148, 209f., 218f., 233 - als Teilhaberechte 144f., 155, 177ff., 219 - als Verfassungsziel 142f., 153, 157, 176, 183ff, 213 f. - als Wertentscheidungen 33ff., 109f., 155ff, 162 ff. - Wertrangordnung 110, 155, 163f. Grundrechtseingriff (s. auch Eingriffsund Schrankendenken) - klassischer Eingriffsbegriff 17, 139f., 144 Grundrechtsverletzung - Begriff 218 - herkömmliches Verständnis 149, 216 - und Gesetzesverstoß 25f., 88, 123f., 146ff, 232f. Güterabwägung 32ff, 87, 122ff., 131, 158ff, 164, 232 - verfassungsrechtliche Grundlagen 158 ff. klassifikatorische und komparative Rechtssätze 187 ff. Konkretisierungsprimat (s. Fachgerichte) Kontrolldichte - und Abstraktionsniveau 65ff, 90 f., 237, 246f. - Abstufungen 44f, 63 ff., 79 ff., 83 f., 245f, 247ff. - Begriff 20 - Ermessen bei der Festlegung 37 ff., 60, 85 f.
- funktionsrechtliche Bestimmung 38, 45, 88ff., 122ff, 225ff, 234ff. - integrale Bestimmung 136 f. - und Kontrollmaßstab 38, 60, 87f., 121ff, 235 Kontrolle, verfassungsgerichtliche - Begriff 19 Fn. 19, 98 - der fachgerichtlichen Rechtsanwendung als Begründungskontrolle 40, 64ff., 90, 247, 259ff. als Ergebniskontrolle 40, 64ff., 251 ff, 260f. — kompetenzielle Grenzen 88 ff., 121ff, 223ff, 236ff. Kontrollpraxis des BVerfG 36 ff., 41ff, 74ff, 81 ff. materiellrechtliche Grenzen 85 f., 87f., 114f - der fachgerichtlichen Rechtsfortbildung 29 Fn. 41 - der fachgerichtlichen Tatsachenerhebung 72 ff., 84, 273ff - des fachgerichtlichen Verfahrens 23 - als Falsifikation 117ff. - Mindeststandard 252 ff. Kontrollmaßstab - appellative grundrechtliche Entscheidungsmaximen 257 ff. - Begriff 20 Fn. 20 - „spezifisches Verfassungsrecht" (s. dort) - strikte grundrechtliche Verhaltensgebote 234 ff. - Willkürverbot (s. dort) Kontrollnorm - Begriff 20 Fn. 21 - und Entscheidungsnorm (s. dort) Methodikjuristische 118 f., 125 f. mittelbar-faktische Freiheitsbeeinträchtigungen (s. Freiheitsschutz, grundrechtlicher) „objektivrechtlicher" Grundrechtsgehalt - Anwendungsfälle 153ff, 194ff. - Appellfunktion 186f, 190ff, 219ff. - Begriff und Schutzgut 33 f., 153ff, 221
Sachregister
- Bindungskraft 35, 84f., 183ff., 193ff - Grenzen der Konkretisierung 183 ff. - und subjektives Grundrecht 166ff., 181 ff., 204, 21 Iff - und Übermaßverbot 177 ff. - und Untermaßverbot 208 ff. - Vorbehalt gesetzlicher Umsetzung 151, 181, 183ff, 206 praktische Konkordanz 160, 173, 179, 209, 234 „reale Freiheit" (s. Freiheitsschutz, grundrechtlicher) Regelungsdichte - Begriff 99 - und Bestimmtheit 99 ff. - und Kontrolldichte 87 f., 96f., 121ff, 235 Schumannsche Formel 89, 177 „spezifisches Verfassungsrecht" - Begriff 26 ff. - als Kontrollmaßstab 26ff., 123f, 127, 235, 269 ff. - Unzulänglichkeit der Formel 28 ff., 36 f. Statuslehre G. Jellineks 17 Fn. 3, 214ff subjektives und objektives Recht 147 f., 181 f., 212f Übermaßverbot - Erschließungsfunktion 32 f. - Geltungsbereich 18, 83, 149, 177ff - und Prinzipienlehre 172 ff.
- und Wechselwirkung 32, 231 f. Untermaßverbot 208ff, 225 Verfassung (s. auch Grundgesetz) - Funktion 106 - und Gesetzesrecht 107ff., 114f. - Verfassungskonkretisierung 101 f., 114f., 125 f. - - Grenzen 105ff., UOff, 114f., 183 ff. - - Kompetenz 120, 126ff, 225ff., 247ff, 259ff Verfassungsbeschwerde - Annahmeverfahren 239ff, 243, 249, 25 Iff. - Begründetheit 211f., 240f., 260 - Rechtsschutzfunktion 93 ff., 95 ff., 211 f., 236ff. - Vorabentscheidung 240, 248f., 251 f., 253f - Zulässigkeit 24, 212 Fn. 417, 238, 258 verfassungskonforme Auslegung 30f., 225, 227ff, 262ff. verfassungsorientierte Auslegung 31f, 220, 258, 262ff. Wertungskonsequenz, Gebot der 189, 191, 219 Fn. 464, 258 Wesensgehaltsgarantie 123 Fn. 150, 160, 209ff. Willkürverbot 28 Fn. 32, 104, 112ff, 257, 270, 274 - als Kontrollmaßstab 28 Fn. 32, 257, 270, 274