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German Pages 469 Year 1999
DIETER FLOREN
Grundrechtsdogmatik im Vertragsrecht
Schriften zum Öffentlichen Recht Band 804
Grundrechtsdogmatik im Vertragsrecht Spezifische Mechanismen des Grundrechtsschutzes gegenüber der gerichtlichen Anwendung von Zivilvertragsrecht
Von Dieter Floren
Duncker & Humblot · Berlin
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Floren, Dieter: Grundrechtsdogmatik im Vertragsrecht : spezifische Mechanismen des Grundrechtsschutzes gegenüber der gerichtlichen Anwendung von Zivilvertragsrecht / von Dieter Floren. - Berlin : Duncker und Humblot, 1999 (Schriften zum öffentlichen Recht ; Bd. 804) Zugl.: Bielefeld, Univ., Diss., 1998 ISBN 3-428-09789-0
Alle Rechte vorbehalten © 1999 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fotoprint: Werner Hildebrand, Berlin Printed in Germany ISSN 0582-0200 ISBN 3-428-09789-0 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 θ
Vorwort "Grundrechtsschutz gegen sich selbst" und "aufgedrängter Grundrechtsschutz" sind inzwischen Thema vieler sich mit Grundrechtsschutz beschäftigender Arbeiten. Worin sich aber "Verzichtsfreiheit" von sonstiger Freiheit in bezug auf Ausübung, reale Nutzung, Schutz durch Staat und Folgen für Dritte grundrechtsdogmatisch im einzelnen unterscheidet und wie die Gerichte dem bei der Grundrechtsanwendung Rechnung tragen, ist bislang nicht deutlich herausgestellt worden. Grundrechtsanwendung bleibt daher für die Zivilgerichte auch heute immer noch unstrukturierte Güterabwägung. Mit dieser Arbeit soll der Versuch unternommen werden, das mit der Drittwirkungs-, dann der Schutzpflicht-Diskussion begonnene Unternehmen, Grundrechtsanwendung mit Blick auf unterschiedlichste und sich wandelnde Freiheitsbedrohungen leistungsfähig zu machen, weiterzuführen, und zwar durch 1. eine Zusammenfassung der bisher für Zivil- und öffentliches Recht entwickelten Grundrechtsfunktionen unter einem neuen gemeinsamen Kriterium (ereignishafte Freiheitsbeeinträchtigungen als Eingriffe im weiteren Sinne) und 2. eine Ergänzung dieser Grundrechtsfunktionen speziell für das Zivilvertragsrecht sowie 3. eine bessere Strukturierung dessen, was bisher lapidar unter "Grundrechtskollision" im Rahmen der Verzichtsthematik erörtert wird. Die Arbeit wurde im März 1997 als Dissertation der Fakultät für Rechtswissenschaften der Universität Bielefeld vorgelegt. Das Promotionsverfahren wurde im Mai 1997 eröffnet, das Rigorosum fand am 22.12.1998 statt. Beiträge aus Rechtsprechung und Lehre befinden sich grundsätzlich auf dem Stand von April 1997, in Einzelfällen wurde auf den Stand von Juni 1999 aktualisiert. Danken möchte ich zunächst meiner Frau, Claudia Schröder, und meinen Eltern für ihre finanzielle Unterstützung. Meinem Vater danke ich darüber hinaus für das Korrekturlesen. Der Referendarin Frau Sandra Obermeyer und meiner Frau bin ich für wertvolle Anregungen verbunden. Herr Dr. habil. Helge Rossen war mir mit Tips für die praktische Bewältigung des Promotionsverfahrens behilflich. Mein Doktorvater, Herr Prof. Dr. Dieter Grimm, war trotz Belastung durch die verfassungsgerichtliche Tätigkeit stets bereit, hilfreiche Anregungen zu geben. Ermutigende Worte zum richtigen Zeitpunkt fand Herr Dr. Johannes Risse. Der Leiter des Amtes für offene Vermögensfragen in Halle (Saale), Herr Borries, hat für meine zeitliche Beanspruchung durch die Promotion viel Ver-
6
Vorwort
ständnis und Interesse gezeigt. Das gilt auch für Herrn Rechtsanwalt am Bundesgerichtshof Prof. Dr. Achim Krämer. Zwecks besseren AufFmdens von Beleg-Schrifttum und Rechtsprechung wird nicht nur nach Seiten, sondern in der Regel auch nach Spalten und sonstigen Gliederungsabschnitten zitiert. Autoren mit gleichen Nachnamen werden zusätzlich mit Vornamen zitiert. Titel werden, wenn es ihre Länge erfordert, nach Schlagwörtern zitiert, die im Schrifttumsverzeichnis erklärt sind. Die Arbeit enthält Querverweise auf Seiten und Gliederungszeichen sowie Abschnitte und Absätze. Halle, den 12. August 1999
Dieter Floren
Inhaltsverzeichnis
Einleitung
15
Fragestellung
15
Überblick über die Ziele dieser Arbeit
16
Kapitel
1
Drittwirkung, Schutzpflicht und Vertragsrecht A. Drittwirkungsdiskussion
19 19
I. Unmittelbare und mittelbare Drittwirkung 1. Thesen
20 20
a)Nipperdey
20
b) Dürig
20
c) Andere Autoren
21
d) Rechtsprechung
24
2. Stellungnahme
27
a) Bindungsbegriff.
27
b) Drittwirkung und subjektive Privatrechte
34
c) Schwabes Position
36
II. Drittwirkungsdiskussion und grundrechtliche Schutzpflichten B. Soziale Gewalt und Vertragsrecht
37 41
I. Sonderproblem der Drittwirkung: Soziale Gewalt II. Folgerung für die grundrechtsdogmatische Verarbeitung des Vertragsrechts
41 46
Kapitel 2 Grundrecht gegenüber der Zivilrechtsprechung A. Eingriffsdogmatik in der Grundrechtsanwendung
48 48
I. Nutzen für die Bestimmung des Tatbestands der Grundrechtsverletzung
48
II. Nutzen für die Bestimmung der Rechtsfolge der Grundrechtsverletzung
52
Inhaltsverzeichnis
8
Β. Eingriffsdogmatik in der Grundrechtsanwendung im Zivilrecht I. Vom Staatseingriffsschema zum Eingriffsschema im weiteren Sinne
54 54
1. Übertragbarkeit des Schemas staatlicher Eingriffe auf nicht staatlich errichtete Freiheitshindernisse 54 2. Ereignishafte Freiheitsbeeinträchtigung als Auslöser von Grundrechtsschutz II. Nutzen eines weiterentwickelten Eingriffsschemas für die Grundrechtsanwendung im Zivilrecht 1. Nutzen für die Bestimmung des Tatbestands der Grundrechtsverletzung
58 60 60
a) Anwendbarkeit von Verhältnismäßigkeitsregeln der Eingriffsdogmatik
60
b) Auswirkung auf die Rationalisierbarkeit der Grundrechtsprüfung
63
2. Nutzen für die Bestimmung der Rechtsfolge der Grundrechtsverletzung
68
C. Eingriffsbegriff in der Grundrechtsanwendung im Zivilrecht
73
I. Auslegung des Eingriffsbegriffs durch Lübbe-Wolff.
73
II. Auslegung des Eingriffsbegriffs durch Schwabe
81
D. Folgerung für das Grundrecht gegenüber den Zivilgerichten
83
E. Durchsetzung des Grundrechts im Zivilrecht
84
Kapitel 3 Grundrechtliche Relevanz der Vertragsrechtsprechung
93
A. Vereitelung eines vertraglichen Anspruchs
96
I. Vertraglicher Anspruch und Freiheit
99
1. Anspruchsrealisierung als grundrechtliche Gewährleistung der Nutzung von Vertragsfreiheit? 99 2. Anspruchsrealisierung als grundrechtliche Gewährleistung der Nutzung anderer Freiheiten? 102 3. Anspruchsrealisierung als grundrechtlicher Schutz von Vertrauen?
104
4. Anspruchsrealisierung als Eigentumsschutz?
107
a) Meinungsstand
107
b) Eigentumszuordnung und Eigentumsverletzung
107
II. Folgerung für die grundrechtliche Relevanz der Anspruchsvereitelung
116
1. "Verfassungsprozessuale Lösung"
116
2. Grundrechtsdogmatische Begründung
118
III. Folgerung für die grundrechtliche Relevanz der Vollstreckungsvereitelung
128
Inhaltsverzeichnis Β. Grundrecht gegenüber der Vertragsrechtsprechung
130
Kapitel 4 Staatliche Grundrechtspflichten im Vertragsrecht
132
A. Grundrechtlicher Stellenwert der Vertragsfreiheit
133
I. In Betracht kommende Grundrechtsnormen
133
II. Einwände gegen die grundrechtliche Schutzwürdigkeit
142
B. Inhalt staatlicher Grundrechtspflichten I. Pflicht, die Ausübung der Abredefreiheit (Vertragsfreiheit im materiellen Sinne) zu dulden
147 149
1. Inhalt und Erfüllung der Pflicht
149
2. Kollidierende Pflichten
150
a) Schutz des die Abredefreiheit Ausübenden (Verzichtsproblematik) aa) Abredefreiheit und Verzichtsproblematik aaa) Verzichtsdiskussion und Verzichtsarten
150 150 151
bbb) Bedeutung für die grundrechtliche Bewertung der Ausübung von Abredefreiheit ccc) Eingriffsdogmatische Erfassung der Vertragskonstellation
154 157
bb) Nachteilsbegriff als Anknüpfungspunkt für Schutz
159
aaa) "Äußerlicher Nachteil" und "Gesamtvorteil"
159
bbb) Bedeutung des "Selbstbewertungsrechts" des die Abredefreiheit Ausübenden ccc) Grundrechtliche Qualität des Gesamtnachteils b) Schutz Dritter durch "Gute Sitten" - Klauseln
168 172 176
aa) Individuelles Anstandsgefühl als grundrechtliches Schutzgut
179
bb) Grundrechtliche Präventivwirkung
181
cc) "Gute Sitten" als eigenständige Grundrechtsschranke
192
aaa) Grundrechtliche Funktion der Guten Sitten
193
bbb) Störungen der grundrechtlichen Funktion
195
ccc) Staatliche Schutzmöglichkeiten
197
ddd) Kollidierende Grundrechte
199
eee) Lösungsmöglichkeiten
201
II. Pflicht, "formale Vertragsfreiheit" zu gewähren
203
Inhaltsverzeichnis
10
1. Inhalt und Erfüllung der Pflicht
204
2. Kollidierende Pflichten
205
a) Schutz Dritter vor Auswirkungen des Vertragsvollzugs M
205
b) Schutz Dritter durch Gute-Sitten"-Klauseln
206
c) Schutz vor den Folgen bereuter Vertragsschlüsse
206
aa) Staatliche Vertragsdurchsetzung und Eingriffsrisiko
206
bb) Einseitige Leistungsbestimmungsrechte und Privateingriffsrisiko
207
III. Pflicht, inhaltliche Nutzungsbedingungen der Vertragsfreiheit zu gewähren 1. Inhalt und Erfüllung der Pflicht
212 212
a) Privateingriffsabwehr
212
b) Leistung von Nutzungsbedingungen
213
2. Kollidierende Pflichten
215
IV. Pflicht, zur Nutzung der Vertragsfreiheit zu motivieren
216
1. Grundrechtliche Bedeutung
216
2. Erfüllung der Pflicht
218
3. Kollidierende Pflichten
219
Kapitel 5 Grundrechtliche Pflichten der Rechtsprechung A. Rechtsanwendungsspielräume und grundrechtlicher Einfluß
221 221
I. Rechtsanwendungsspielräume
221
II. Grundrechtlicher Einfluß
223
B. Spielräume bei der Bildung von Fallnormen I. Grundrechtliche Relevanz
224 227
1. Anforderungen an den überindividuell-grundrechtlichen Bezug von Fallnormen 228 2. Anforderungen an die Maßgeblichkeit der Fallnorm für den konkreten Rechtsstreit 236 II. Verpflichtende Wirkung
239
C. Spielräume bei der Ausübung von Rechtsfolgeermessen
253
D. Spielräume beim Einsatz von "Rechtsfindungsleistung"
254
E. Spielräume beim Unterstellen von Sachverhalten
260
Inhaltsverzeichnis
Kapitel 6 Gerichtliche Grundrechtspflichten im Vertragsrecht A. Spielräume bei der Bildung von Fallnormen I. Spielräume bei der Anwendung und Auslegung von Vertragsgesetzesrecht
262 262 262
II. Anwendung von vertraglich erzeugtem Recht 266 1. Grundrechtlicher Konflikt: Selbstbestimmungsrecht von Erklärendem und objektive Vertragsauslegung 268 a) Grundrechtlicher Einfluß auf Willenserklärung- und Vertragsauslegung bei optimalen Nutzungsbedingungen der Vertragsfreiheit 268 aa) Auslegung von Willenserklärungen
268
bb) Ergänzende Auslegung von Verträgen
273
b) Grundrechtlicher Einfluß auf Willenserklärung- und Vertragsauslegung bei eingeschränkten Nutzungsbedingungen der Vertragsfreiheit
282
2. Grundrechtlicher Konflikt: Selbstbestimmungsrecht von Erklärendem und objektive Vertragsauslegung 285 a) Grundrechtlicher Einfluß im allgemeinen
285
b) Grundrechtlicher Einfluß bei eingeschränkten Nutzungsbedingungen der Vertragsfreiheit
288
B. Spielräume beim Einsatz von Rechtsfindungsleistung
290
C. Spielräume bei der Rechtsfolgenauswahl
291
I. Berührung von Grundrechten, insbesondere des Eigentumsgrundrechts durch vertragliche Verpflichtungen
292
1. Durchsetzung vermögenswerter Ansprüche: ein Eigentumseingriff?
292
2. Sonderfall: "Enteignungsgleicher Eingriff' durch das Gericht
301
3. Sonderfall: Eigentumsnutzungsverträge
306
4. Bedeutung der allgemeinen Handlungsfreiheit
309
II. Anwendbarkeit von Regeln der Eingriffsdogmatik
312
1. Eingriffsqualität der Durchsetzung von Verträgen
312
2. Gesetzesvorbehalt
315
3. Verhältnismäßigkeit im weiteren Sinne
316
4. Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne
318
D. Spielräume bei der Unterstellung von Sachverhalt
329
E. Nichtanwendung grundrechtswidrigen Rechts
332
12
Inhaltsverzeichnis
F. Besonderheiten des Interessenausgleichs
333
G. Grundrechtsanspruch gegen die Vertragsrechtsprechung
335
I. Allgemein
335
II. Besonderheiten beim Eingriffsunterlassungsrecht?
338
1. BVerfG und herrschende Meinung
339
2. Eigene Auffassung
341
a) Funktion des in den Grundrechten verankerten Gesetzesvorbehalts
341
b) Folgen für die Unterscheidbarkeit von unrichtiger und grundrechtswidriger Rechtsprechung 344 c) Dogmatische Untermauerung
345
III. Folgen für die Begründetheit des Grundrechtsanspruchs gegen die Vertragsrechtsprechung
348
1. Zwar: Keine Gleichsetzung von gerichtlichem gesetzwidrigem Grundrechtseingriff und Grundrechtsverletzung 348 2. Aber: Mildere Anforderungen an den Grad des Verkennens
349
3. Folgerung für die Begründetheit des Grundrechtsanspruchs gegen die Vertragsrechtsprechung 350
Kapitel 7 Gewährleistung nutzbarer Vertragsfreiheit
352
A. Inhalt und grundrechtliche Ableitung
352
B. Definition des Nachteils im Vertragsrecht
360
I. Vertragsrechtsspezifische Probleme der Nachteilsbestimmung
360
II. Lösungsansatz
362
III. Kriterien der Nachteilsbestimmung
367
1. Gerechte Verteilung der Vertragsabwicklungsrisiken
367
2. Gerechter Leistungspreis
369
a) Marktpreis als objektives Kriterium?
370
aa) Problem der praktischen Nichtexistenz des Gleichgewichtspreises
372
bb) Problem des nicht nachfragegerechten Verhaltens
373
b) Ausweg: Orientierung am aktuellen Marktpreis C. Defizitäre Nutzungsbedingungen der Vertragsfreiheit I. Zivilrechtsdogmatisch vertraute Defizite
375 376 376
Inhaltsverzeichnis II. Kräfteungleichgewicht
378
1. Arten von Kräfteungleichgewichten
378
2. Nötige Eigenschaften des Kräfteungleichgewichts
385
D. Erfüllung der grundrechtlichen Pflicht
388
I. Pflichterfüllung durch Inhaltskontrolle
388
II. Normative Mittel der Pflichterfüllung
393
1. §242 BGB
393
2. § 138 BGB
398
3. § 134 BGB
408
4. AGBG
408
5. "Vollstreckungslösung"
409
6. Neue Generalklauseln?
410
III. Abgrenzung zur Schutzpflicht des Gesetzgebers
412
IV. Fazit:
418
Zusammenfassung
420
Thesen
426
Gesamtfazit
428
Literaturverzeichnis
429
Sachregister
456
Abkürzungsverzeichnis Nachstehend sind Abkürzungen aufgeführt, die weder im Abkürzungsverzeichnis von Kirchner, Hildebert, Abkürzungsverzeichnis der Rechtssprache, Berlin / New York 1993, enthalten sind noch im Schrifttumsverzeichnis erklärt werden.
BtPrax
Zeitschrift für betreuungsrechtliche Praxis
BuW
Betrieb und Wirtschaft
HdbPsych
Handbuch der Psychologie
HmbgJbWiGPol
Hamburger Jahrbuch für Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik
IntJbPhil
Internationales Jahrbuch für Rechtsphilosophie und Rechtssoziologie
JB1.
Juristische Blätter (Österreich)
ÖZöR
Österreicherische Zeitschrift für öffentliches Recht
recht
recht (Schweiz, nicht die gleichnamige vom deutschen BMJ herausgegebene Zeitschrift)
WiB
Zeitschrift für wirtschaftsrechtliche Beratung
ZBB
Zeitschrift für Bankrecht und Bankwirtschaft
ZBlArbWiss
Zentralblatt für Arbeitswissenschaft
ZFPF
Zeitschrift für philosophische Forschung
Einleitung Fragestellung Verhandeln hat als Instrument staatlicher Steuerung gegenüber Befehl und Zwang an Bedeutung gewonnen1. Der Staatszweck wird deshalb nicht mehr allein vom Staat, sondern zunehmend auch von verhandlungsmächtigen privaten Gruppen ausgefüllt 2. Kooperiert der Staat selbst mit den Bürgern, wirft dies grundrechtliche Probleme auf, die unter Überschriften wie "fiskalisches Handeln" des Staates, "öffentlich-rechtlicher Vertrag" oder "Grundrechtsverzicht" hinreichend oft erörtert werden. Schafft der Staat Rahmenbedingungen für Verhandlungen der Bürger untereinander, entstehen grundrechtliche Probleme, die ebenfalls daher rühren, daß auch hier auf individuelle Freiheitsräume nicht imperativ, sondern durch Verhandeln eingewirkt wird, nur diesmal von Bürgern. Regelt der Staat Einwirkungen von Bürgern auf Freiheiten von Bürgern — seien sie imperativ oder nicht imperativ, oder seien sie, wie in einer Vertragsbeziehung, in frühen Wirkungsphasen nicht imperativ, in späteren imperativ — führt dies zu neuen grundrechtlichen Fragen. Denn die zweipolige Beziehung Bürger - Bürger wird durch die Beziehung Staat - Bürger zu einem Dreieck erweitert. Somit scheinen zu dem Problem "Einwirken durch Verhandeln" noch die altbekannten und nun durch die Schutzpflichtdogmatik obsolet gewordenen Drittwirkungsprobleme hinzuzutreten. Die beiden BVerfG-Beschlüsse zu grundrechtlichen Pflichten von Gesetzgeber3 und Gerichten 4 im Vertragsrecht hätten Anlaß zu vermehrten Anstrengungen geben können, dies Doppel-Grundrechts-Problem (nicht-imperative Beeinträchtigungen/Drittwirkung) grundrechtsdogmatisch zu erhellen, zumal schon vor langer Zeit vorgeschlagen worden war, zwischen vertraglichem und außervertraglichem Privatrecht einen Trennstrich zu ziehen5. Mit dieser Arbeit soll das Versäumte nachgeholt werden.
1 Grimm, in: Wachsende Staatsaufgaben - sinkende Steuerungsfähigkeit des Rechts, S. 291 (298, 1. Abs.). 2 Grimm, Redebeitrag, VVDStRL 48 (1990), 134 (135 unten). 3 BVerfGE 81, 242ff. - Handelsvertreter -. 4 BVerfGE 89, 214ff. - Bürgschaft -.
Einleitung
16
Überblick über die Ziele dieser Arbeit Der herkömmlichen Grundrechtsdogmatik standen zwei Wege zur Verfugung, sich den Grundrechten im Vertragsrecht dogmatisch zu nähern: Den ersten Weg eröffnete die Drittwirkungsdiskussion. Die Beschäftigung mit Grundrechten und "sozialer Macht" hätte dazu führen können, die Frage nach der Wirkung von Grundrechten in privatrechtlichen Beziehung differenzierend zu beantworten: Es gibt einen Schutzmechanismus der Grundrechte, der durch ein solches privates grundrechtsbeeinträchtigendes Verhalten aktiviert wird, das sich auf die Mitwirkung des Opfers an einer dieses Verhalten regelnden Norm stützt (vertragsbezogenes Verhalten). Lassen sich von diesem Schutzmechanismus diejenigen Schutzmechanismen gewinnbringend unterscheiden, die durch alle sonstigen grundrechtsbeeinträchtigenden Verhaltensweisen Privater (deliktisches Verhalten) aktiviert werden? Anders ausgedrückt: Aktiviert die Ausübung der durch Verträge geschaffenen "sozialen Macht" andere Schutzmechanismen als die Ausübung angemaßter, bloß faktischer Macht? Diese Differenzierung hat die Drittwirkungsdiskussion nie geleistet, weil sie vorrangig damit beschäftigt war, Grundrechte privatrechtskonform zu machen, sie also für die Zivilgerichte "anwendungsgerecht" in subjektive Privatrechte zu übersetzen. War ein mittelbarer oder unmittelbarer Weg gefunden, konnte es nicht mehr die entscheidende Rolle spielen, welche Grundrechtsfunktion sich durch die entdeckten grundrechtsmediatisierenden Zivilrechtsansprüche verwirklichen ließ und welche Schutzmechanismen aktiviert wurden. Der zweite Weg, welcher der Grundrechtsdogmatik offenstand, war die grundrechtliche Behandlung des Vertragsrechts unter dem Grundrechtsverzichts-Begriff. Dieser Weg erfreute sich größerer Beliebtheit als der Drittwirkungsweg, mündete aber nie in eine Untersuchung des Privatvertragsrechts ein. Er verengte sich stattdessen auf öffentlich-rechtliche Rechtsverhältnisse, insbesondere den verwaltungsrechtlichen Vertrag. Der Zusammenhang zwischen Verzichtserklärung und dem grundrechtlichen Erlaubtsein verzichtsgegenständlichen staatlichen Verhaltens wurde zwar intensiv thematisiert, insbesondere wurden viele Versuche unternommen, Bedeutung und Voraussetzungen für die Freiwilligkeit von Verzichtserklärungen zu klären. Doch wurde meist nicht der Versuch unternommen, die Einzelakte des Verzichtsgeschehens, nämlich erstens die Verzichtserklärung selbst, zweitens die sich aus der Verzichtserklärung ergebende Norm (privat- oder öffentlich-rechtlicher Vertrag) und drittens das sich auf diese Norm stützende Verhalten jeweils zunächst für sich grundrechtlich zu würdigen und dann daraus Schlußfolgerungen für die modifizierte
5
Schon Leisner, Grundrechte und Privatrecht, S. 379 Mitte, unterschied zwischen außervertraglichem und vertraglichem Bereich; dagegen Dürig, in: Maunz/Dürig/Herzog, Art. 3 Abs. 1 (Stand 1973), Rdn. 513, 6. a).
Einleitung Beschreibung alter oder die Schaffung neuer Grundrechtsfunktionen zu ziehen. Statt dessen wurde jedem Einzelakt des Verzichtsgeschehens eine Grundrechtsfunktion zugeordnet (der Verzichtserklärung wurde das Selbstbestimmungsrecht, die sogenannte "Verzichtsfreiheit" zugeordnet; hingegen wurde der Folge der Verzichtserklärung, also dem verzichtsgegenständlichen Verhalten, das grundrechtliche Abwehrrecht gegenüber Beeinträchtigungen zugeordnet) und dann beide Funktionen in "Kollisionskurs" gebracht. Auch eine Differenzierung der Folgen von Verzichtserklärungen nach der Rechtsfolge "Vertrag" und der tatsächlichen Folge "Ausübung des vertraglichen Anspruchs" bzw. "staatliche Durchsetzung des Vertrags" unterblieb. Es wurde ferner unterlassen, aus den Umständen der Entstehung verzichtsbedingter Normen irgendwelche grundrechtsdogmatischen Folgerungen für die Würdigung der staatlichen Anwendung dieser Normen zu ziehen. Das Vollstreckungsrecht wurde grundrechtlich strikt vom Erkenntnisrecht getrennt. Die Wiederentdeckung der grundrechtlichen Schutzpflicht bereitet einem weiteren, in dieser Arbeit eingeschlagenen Weg den Boden. Bisher war es nicht nötig, ein Kriterium des Anlasses staatlichen Grundrechtsschutzes eingehender zu untersuchen, das bei allen ungewollten Fremdeinwirkungen auf Freiheiten unproblematisch vorausgesetzt wird: den grundrechtlichen Nachteil. Ob nicht gewollte Einwirkungen gerechtfertigt sind, mag strittig sein, ihre Eigenschaft, schutzauslösende Nachteile zu sein, wird aber meist nur im Hinblick auf die Abgrenzung zur Bagatelle problematisiert. Demgegenüber können gewollte Fremd- oder Selbsteinwirkungen bei einem ersten Auflegen der traditionellen Nachteilsschablone schutzauslösend, beim zweiten Hinsehen jedoch Vorteile sein, deren Bewirkung der Staat nicht verhindern, sondern ermöglichen muß. Es geht also möglicherweise, anders als in der bisherigen Verzichtsdiskussion ausdrücklich oder stillschweigend vorausgesetzt, im Unterschied zum "aufgedrängten Grundrechtsschutz" nicht darum, zwei kollidierende staatliche Grundrechtspflichten abzugleichen. Es geht vielmehr darum, eine staatliche Pflicht zur Realisierung von Freiheit zu beschreiben: einer riskanten Freiheit, d. h. eine Freiheit die durch Bewirken äußerlich nachteiliger Zustände für sich selbst mit Hilfe anderer genutzt wird. Das Gegenstück dieser Pflicht ist ebenfalls eine staatliche Pflicht: die Pflicht, solche Nachteile zu verhindern, die bei der Ausübung dieser Freiheit entstehen. Diese Beschreibung macht es zunächst erforderlich, das grundrechtsdogmatische Grundinstrumentarium so zu erweitern, daß sich die hergebrachte Eingriffsunterlassungsdogmatik sowohl für das Verhältnis Staat - Bürger als auch für den außervertraglichen Teil des Privatrechts verwendungsfähig machen läßt, damit ein spezifisch für das Verlagsrecht entwickelter Schutzmechanismus um so schärfere Konturen gewinnen kann. Auf der Grundlage einer so weiterentwickelten Dogmatik sollen sich Zivilvertrags-Fälle in zwei Konstellationen von grundrechtlich bedeutsamen Ereignisabläufen gliedern lassen: Die erste ist der harmonische Vertragsvollzug. Er kann für den sich verpflichtenden Teil ein 2 Floren
18
Einleitung
grundrechtsverkürzender, schutzauslösender Nachteil oder ein grundrechtsnutzender, realisierungsbedürftiger sein. Die zweite ist der disharmonische Vertragsvollzug: Er ist für den sich verpflichtenden Teil ein abwehrpflichtiger, die grundrechtliche Unterlassungsfunktion aktivierender Nachteil oder aber ein gerechtfertigter und deswegen zwar auch die Unterlassungsfunktion aktivierender, nicht aber mehr abwehrpflichtiger Nachteil. Aus dem disharmonischen Vertragsvollzug können sich im Stadium richterlicher Erkenntnis sowie in dem der Vollstreckung von Erkenntnisakten eigenständige Grundrechtspflichten ergeben. Im übrigen sollen in dieser Arbeit im einzelnen Vorteils- und Nachteilseffekte von Verträgen grundrechtsorientiert beschrieben und konkretisiert, Regeta für Grundrechtsanwendung vertragsrechtsbezogen modifiziert, vertragsrechtsspezifisch möglicherweise besonders betroffene Grundrechte erkundet (Art. 14 GG), nach einer Beschreibung des Grundrechts gegenüber einer rechtsanwendenden staatlichen Tätigkeit gesucht werden, die nicht die bekannten Eingriffsunterlassungsfunktionen aktiviert und daher für die grundrechtliche Würdigung der Gläubigerstellung im Vertragsrecht wichtig werden kann, sowie schließlich das Vertragsrechtsspezifische an einer grundrechtlich beeinflußten Interessenabwägung der Parteien eines Zivilrechtsstreits herausgefiltert werden.
Kapitel 1
Drittwirkung, Schutzpflicht und Vertragsrecht Zum Vertragsrecht sollen alle privatautonom erzeugten Normen und das zivile Vertragsgesetzesrecht gezählt werden. Im weiteren Sinne umfaßt das zivile Vertragsgesetzesrecht alles Recht, das sich auf Verträge zwischen Privatrechtssubjekten bezieht, einschließlich der öffentlich-rechtlichen Normen (z.B. Vorschriften über staatliche Genehmigungen von Verträgen). Das Vertragsrecht ist Teil des Privatrechts. Daher wird zunächst untersucht, welche Ansatzpunkte die Diskussion über die "Drittwirkung der Grundrechte" 1 im Privatrecht für die grundrechtliche Thematisierung des Vertragsrechts bietet.
A. Drittwirkungsdiskussion Erne grundrechtliche Drittwirkung wurde bei genauerer Betrachtung nicht erst seit der Auseinandersetzung zwischen Nipperdey und Dürig erörtert. Zuvor hatte es bereits einen grundsätzlichen, aber zunächst ohne Widerhall gebliebenen Aufsatz von Herbert Krüger 2 gegeben. Dieser hatte gefordert, die Zivilgerichte sollten ihre Argumentation durch "Einbeziehung adäquater verfassungsrechtlicher Gesichtspunkte" erweitern 3. Der erste praktische und ausführlich besprochene4 Anwendungsfall der grundrechtlichen Wirkung im Privatrecht war die Gleichbehandlung der Geschlechter im Arbeitsrecht. Anlaß waren Tarifverträge, die Lohnabschlagsklauseln zu Lasten der Frauen enthielten, und Art. 117 GG, der das dem Art. 3 Abs. 2 GG entgegenstehende Recht am 31.3.1953 außer Kraft treten ließ. Die Diskussion verlor an Reiz und Heftigkeit, nachdem das BAG 5 die Bindung der Tarifparteien an Art. 3 Abs. 2 GG deswegen bejaht hatte, weil Tarifverträge Gesetze im materiellen Sinne seien. Diese frühen Jahre der Drittwirkungsdiskussion sollen hier übergangen werden, weil die grundrechtsdogmatisch interessante Grundsatzdebatte erst mit dem Streit über mittelbare und unmittelbare Drittwirkung begann.
Ausdruck geprägt von Hans Peter Ipsen, in: Grundrechte II, S. 111 (143). Herbert Krüger, NJW 1949, 163ff. Herbert Krüger, NJW 1949, 165, Ii. Sp. oben. Nachweise bei Hans-Peter Ipsen, in: Grundrechte II, S. 111 (143 mit Fußn. 109). BAGE 1, 258 (262); 1, 348 (352).
20
Kap. 1 : Drittwirkung, Schutzpflicht und Vertragsrecht
I. Unmittelbare und mittelbare Drittwirkung 1. Thesen a) Nipperdey Als Begründer der Theorie von der unmittelbaren Drittwirkung wird allgemein Nipperdey angesehen. Anlaß dafür war seine These, die Rechtsgenossen seien an bestimmte Grundrechte gebunden6. Diese Grundrechte, so Nipperdey weiter, gewährten dem einzelnen mit zwingender Wirkung bestimmte Rechtspositionen im Verkehr mit seinen Rechtsgenossen7. Das könnten auch subjektive Privatrechte sein8. Er betonte, die Grundrechte seien nicht nur Leitsätze oder Auslegungsregeln9. Die Bindung an die Grundrechte sei unmittelbar, die grundrechtliche Wirkung werde nicht erst aufgrund von Gesetzen vermittelt10, sie sei eine unmittelbar normative11, die Grundrechte müßten "Maßstab und Grenze privatrechtlicher Befugnisse" sein12.
b) Diirig Als Hauptkontrahent Nipperdeys galt Dürig. Ihm zufolge konnte zwar die in Art. 1 Abs. 1 Satz 2 GG statuierte Schutzpflicht gegenüber der Menschenwürde wegen der Einheit der Rechtsmoral13 privatrechtlich nicht folgenlos bleiben14. Die absolute Wirkung der Grundrechte, so Dürig, sei jedoch in der Drittrichtung zugunsten der ebenfalls grundrechtlich geschützten Individualautonomie relativiert 15. Es müsse einer dualistischen Auffassung gefolgt werden, wonach das Privatrecht ein gegenüber den Grundrechten eigenständiges Rechtssystem sei16. Wie zuvor Krüger allgemein17 und andere Autoren speziell im Hinblick 6
Nipperdey, RdA 1949, 214 (216, sub III. 2.); ders., RdA 1950, 121 (124, Ii. Sp., unt. Drittel); Enneccerus/Nipperdey, AT Bürgerliches Recht I, S. 93, sub 4. c. 7 Nipperdey, Rechtsgutachten 1950, S. 20. 8 Enneccerus/Nipperdey, AT Bürgerliches Recht I, S. 94. 9 Enneccerus/Nipperdey, S. 95 oben. 10 Nipperdey, Grundrechte und Privatrecht, S. 14. 11 Nipperdey, DVB1. 1958, 445 (447, re. Sp.); ders., Grundrechte und Privatrecht, S. 15; Enneccerus/Nipperdey, AT Bürgerliches Recht I, S. 96. 12 Nipperdey, in: Grundrechte IV/2, S. 741 (754, Fußn. 47). 13 Dürig, Festschrift Nawiasky, S. 157 (177 oben); ders., in: Maunz/Dürig/Herzog, Art. 1 Abs. 3 GG, Rdn. 102, S. 52, 1. Hälfte. 14 Dürig, in: Maunz/Dürig/Herzog, Art. 1 Abs. 3 GG, Rdn. 131; ders., AöR 91 (1956), 117(153). 15 Dürig, Festschrift Nawiasky, S. 157 (158). 16 Dürig, Festschrift Nawiasky, S. 157 (164, 183 oben).
A. Drittwirkungsdiskussion
21
auf die Lohngleichheit zwischen Mann und Frau 18 betrachtete er die wertausfüllungsbedürftigen und -fähigen Begriffe 19 und Generalklauseln 20 als "normative Mittel zur Abwehr von Angriffen aus der Drittrichtung" 21 . Hinsichtlich der Ausfüllungsintensität unterschied er nach wertverdeutlichender, wertverschärfender (wertakzentuierender) und Wertschutzlücken schließender Auslegung 22.
c) Andere Autoren Es ist schwierig festzustellen, wer Nipperdeys grundrechtstheoretischem Ansatz folgte. Einige Autoren sind nach eigenem Bekunden der Lehre von der unmittelbaren Drittwirkung gefolgt 23 . Viele jedoch, die von "absoluter" 24 oder "unmittelbarer Wirkung" 25 , "absoluter" 26 oder "unmittelbarer" 27 Geltung, oder schlicht von der "Geltung" 28 im Privatrecht sprachen, lassen sich nicht einfach als Befürworter einer grundrechtlichen Bindung Privater im Sinne Nipperdeys interpretieren 29. Die "absolute" oder "unmittelbare Geltung" der Grundrechte ist
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Herbert Krüger, NJW 1949, 163 (166, re. Sp. oben). Etwa Jellinek, BB 1950, 425 (426). 19 Dürig, Festschrift Nawiasky, S. 157 (177); ders., in: Maunz/Dürig/Herzog, Art. 1 Abs. 3 GG, Rdn. 132, sub c); so auch die Terminologie bei BVerfGE 73, 261 (269 Mitte). 20 Dürig, Festschrift Nawiasky, S. 157 (176f.); ders., in: Grundrechte II, S. 507 (525); ders., in: Maunz/Dürig/Herzog, Art. 1 Abs. 3 GG, Rdn. 132, sub c); BVerfGE 73, 261 (269 Mitte): "...insbesondere die Generalklauseln". 21 Dürig, Festschrift Nawiasky, S. 157 (176); ders., in: Grundrechte II, S. 507 (525). 22 Dürig, Festschrift Nawiasky, S. 157 (177 - 181); ders., in: Maunz/Dürig/Herzog, Art. 1 Abs. 3 GG, Rdn. 133. 23 Gamillscheg, AcP 164 (1964), 419f.; v. Münch, Grundbegriffe des Staatsrechts I, Rdn. 190. 24 Gerhard Müller, RdA 1964, 121, re. Sp.; Hildegard Krüger, RdA 1954, 365 (368). 25 Zippelius, in: BK, 3. Aufl., Art. 1 Abs. 1 u. 2 (Stand 1989), Rdn. 107: "zumindest" in bezug auf Art. 1 GG. 26 Huber, in: Rechtstheorie, Verfassungsrecht, Völkerrecht, S. 139 (160 unten); Laufke, Festschrift Lehmann, S. 148 (155, 163, 167); Leisner, Grundrechte und Privatrecht, S. 287. 27 v. Mutius, VerwArch. 63 (1973), S. 75 (80); noch weniger aussagekräftig Saladin, Grundrechte im Wandel, S. 319: "unmittelbare Ausstrahlung". 28 Hildegard Krüger, RdA 1954, S. 365 (368, sub 2. b) lehnte es sogar im Hinblick auf Art. 3 GG ab, von "Wirkung im Privatrecht" zu sprechen, und bevorzugte den Begriff des die "Rechtsordnung beherrschenden Rechtsprinzips". 29 Für eine wirkliche "Bindung" Privater allenfalls Oehler, in: Grundrechte II, 605 (610): "Bindung der Person" (in bezug auf Art. 10 GG); zum Unterschied zwischen "Gebundensein von" und "Gelten zwischen" Privatrechtssubjekten auch Linders, Unmittelbare Bedeutung der Grundrechtsbestimmungen, S. 4. 18
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Kap. 1 : Drittwirkung, Schutzpflicht und Vertragsrecht
schon wegen ihrer Normqualität in Verbindung mit ihrer Allseitigkeit30 und subjektiven Beziehungslosigkeit31, anders ausgedrückt: ihrer "Richtungslosigkeit"32, genauso selbstverständlich33 wie nichtssagend. Formulierungen wie die, daß Grundrechte "nicht unmittelbar"34, "nicht absolut"35 oder "nicht ohne weiteres" 36 im Privatrecht gälten, dort "keine absolute Wirkung" 37 hätten, sind daher nicht korrekt 38. Entsprechend inhaltsarm sind Behauptungen, die Grundrechte gälten "zwischen den Rechtsgenossen"39 oder "im Privatrecht" 40. Denn die "absolute Geltung" oder "Wirkung" der Grundrechte besagt noch nichts über das Wie ihrer Verwirklichung für ein konkretes Rechtsverhältnis. Ausdrücklich sind für eine grundrechtliche "Bindung" der Privatrechtssubjekte nur wenige eingetreten41, wobei jedoch auch diesbezüglich nicht klar ist, ob diese Autoren unter "Bindung" dasselbe wie Nipperdey verstanden. Leisner stand einer "unmittelbaren Anwendung" der Grundrechte wohlwollend gegenüber42, vermied es aber im Unterschied zu Nipperdey, von "Bindung der Pivatrechtssubjekte" zu sprechen. Gleichwohl plädierte er dafür, die Grundrechte nicht nur als Auslegungsregeln, sondern auch als Anspruchsgrundlagen zu begreifen 43. Ebenfalls läßt sich sagen, daß die Mehrzahl der Autoren offenbar eine (wie auch immer geartete) Bindung Privater sowohl für Zwecke der Dogmatik als auch für Zwecke 30 Jörg Paul Müller, Die Grundrechte der Verfassung und der Persönlichkeitsschutz des Privatrechts, S. 163 unten/165 Mitte/166 oben; Böckenförde, Der Staat 1990, 1 (8); Huber, in: Rechtstheorie, Verfassungsrecht, Völkerrecht, S. 139 (160 Mitte). 31 Huber, S. 160 unten; Böckenförde, Der Staat 1990, 1 (8 oben); Linders, Unmittelbare Bedeutung der Grundrechtsbestimmungen, S. 4. 32 Dürig,, in: Maunz/Dürig/Herzog, Art. 1 Abs. 3 GG, Rdn. 102, S. 52, 1. Hälfte a. E. 33 Olbersdorf, ArbuR 1958, S. 193 (200, re. Sp., 2. Abschn. a. E.). 34 Dürig, in: Maunz/Dürig/Herzog, Art. 3 Abs. 1, Rdn. 505; Menger/Erichsen, VerwArch. 61 (1970), 82 (83). 35 Wespi, Die Drittwirkung der Freiheitsrechte, S. 78 oben. 36 Hubmann, JZ 1975, S. 639 (640 oben); Doehring, Staatsrecht, S. 209 Mitte: Das Gericht habe die Grundrechte zu beachten, "soweit sie gelten" (Fettdruck nicht im Original). 37 Pietzcker, Festschrift Dürig, S. 345 (346). 38 Olbersdorf ArbuR 1958, S. 193 (200, re. Sp. mit Fußn. 53). 39 Nipperdey, in: Grundrechte IV/2, S. 741 (750). 40 Nipperdey, in: Grundrechte II, S. 1 (20); Kupp, AöR 101 (1976), S. 161 (168 oben); Westhoff, Inhaltskontrolle, S. 40, der allerdings später seine Feststellung präzisiert (Geltung nicht als Verbots norm, S. 41 oben, Fettdruck nicht im Original). 41 Beitzke, in: Grundrechte II, S. 199 (212), er bezieht sich freilich nur auf Art. 3 Abs. 2 GG; Beitzke/Hübner, Die Gleichberechtigung von Mann und Frau, S. 239; Bosch/Habscheid, JZ 1956, S. 297 (299, Ii. Sp. vor 2.); a. M. noch dieselben, JZ 1954, S. 213 (214, sub LI.); Radke, ZBlArbWiss 1950, S. 166 (168 re. Sp., sub VII.); unklar Wieacker, JZ 1954, 467 Anm. 6: Bestimmte Grundrechte seien "Maßstäbe für Leistungsinhaltsbestimmung". 42 Leisner, Grundrechte und Privatrecht, S. 361, sub c), S. 377 oben. 43 Leisner, Grundrechte und Privatrecht, S. 376 oben, S. 377 oben.
A. Drittwirkungsdiskussion
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der Veranschaulichung —jedenfalls im Hinblick auf Art. 3 GG 4 4 — grundsätzlich ablehnte: Sie verwies lapidar auf die Staatsrichtung der Grundrechte 45. Ausdrücklich für eine (nur) mittelbare Drittwirkung, zum Teil unter ausdrücklicher Bezugnahme auf das Dürigsche Modell 46 , hat die damals47 und heute48 herrschende Lehre Partei ergriffen 49. Aus Schwabes Sicht war der Drittwirkungsstreit in jeder Hinsicht überflüssig. Auch in der Drittrichtung, so Schwabes Begründung, wirkten die Grundrechte als Abwehrrechte 50. Denn jedes Handeln, auch das private, könne auf staatliches Recht zurückgeführt werden 51 . Wenn der Staat vor privaten Beeinträchtigungen von Grundrechten ungenügend schütze, erlege er damit auch dem Opfer eine Pflicht zur Duldung der Beeinträchtigungen auf und greife damit selbst in dessen Grundrechte ein 52 .
44 Maunz, Deutsches Staatsrecht (bis zur 23. Aufl.), § 13 II, Abschn. 11., Mitte, S. 114; so nicht mehr Maunz/Zippelius, Deutsches Staatsrecht, zuletzt 29. Aufl., §19 1, S. 130; Nicht ganz klar Goetz Hueck,, Der Grundsatz der gleichmäßigen Behandlung im Privatrecht, S. 96,105: "zweifelhaft". 45 Galperin, JZ 1956, S. 105 (106); deutlich und grundlegend Willi Geiger, Grundrechte und Privatrechtsordnung, S. 13, vor III.; Herschel, in: Grundrechte III/l, S. 325 (327 unten/328 oben); Alfred Hueck, Rechtsgutachten 1951, S. 14; Friedrich Klein, Rechtsgutachten 1955, S. 24f.; Maunz, Rechtsgutachten, nicht gedruckt, zit. bei Linders, Unmittelbare Bedeutung der Grundrechtsbestimmungen, S. 22; Schätzel, RdA 1950, S. 248 (250); Schmidt-Rimpler/ Gieseke/Friesenhahn/Knur, AöR 76 (1951/52), S. 165 (171). 46 Bachof, in: Grundrechte III/l, S. 155 (173f.); Scholz, Koalitionsfreiheit als Verfassungsproblem, 1971, S. 5 oben; Merten, NJW 1972, S. 1799, Ii. Sp.; Reimers, Die Bedeutung der Grundrechte für das Privatrecht, S. 20; Wintrich, Zur Problematik der Grundrechte, S. 12 Fußn. 14 (Text auf S. 13); Vogt, Drittwirkung der Grundrechte, S. 208-219. 47 Flume, in: Festschrift DJT 1960 I, S. 135 (140); Goetz Hueck, Der Grundsatz der gleichmäßigen Behandlung im Privatrecht, S. 96; Jellinek, BB 1950, S. 425 (426). 48 Gallwas, Grundrechte, Rdn. 359; Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts, Rdn. 356; Magen, Staatsrecht, S. 148, Abschnitt 16.3; Otto, Personale Freiheit und soziale Bindung, S. 142; Pieroth/Schlink, Grundrechte, Rdn. 210; Schramm, Staatsrecht, Band II, S. 53, vor F. 49 So wird dies auch gesehen von Bleckmann, Staatsrecht II, S. 185, sub b), vor (1); Heger, JZ 1994, S. 373, Ii. Sp.; v. Münch, in: v. Münch/Kunig, GGK I, Vorbem. vor Art. 1 bis 19, Rdn. 31; Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts, Rdn. 356; Stern, Staatsrecht III/l, § 76,14 e) γ, S. 1531. 50 Schwabe, Die sogenannte Drittwirkung der Grundrechte, S. 26; im Ansatz ebenso Griller, JB1. 1992, 205 (206, Ii. Sp., 1. Hälfte), der allerdings ein Drittwirkungsproblem im Hinblick auf die Wirkungsintensität der Grundrechte nicht leugnet: S. 207, Ii. Sp., sub 2., a. E. 51 Insoweit noch ebenso Steinbeiß-Winkelmann, Grundrechtliche Freiheit und staatliche Freiheitsordnung, S. 145 (164 mit Fußn. 68); Schachtschneider, Staatsunternehmen und Privatrecht, S. 70.
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Kap. 1 : Drittwirkung, Schutzpflicht und Vertragsrecht
d) Rechtsprechung Das BVerfG hat nach eigenem Bekunden53 die Frage nach dem "Wie" der Drittwirkung nicht entschieden54. Seine Auffassung, der Rechtsgehalt der Grundrechte müsse sich erst durch eine privatrechtliche Norm als "Medium" entfalten 55, ist aber eher Dürigs Theorie zuzuordnen.56 Der Bundesgerichtshof hat aus Art. 1 und 2 GG ein allgemeines Persönlichkeitsrecht als "sonstiges Recht" im Sinne von § 823 Abs. 1 BGB 57 hergeleitet, das auch als privates von jedermann anzuerkennen sei58 und gegenüber jedermann gelte59. Wenngleich er formulierte, Art. 1 und 2 GG schützten "unmittelbar" den Persönlichkeitsbereich, der nur derfreien Selbstbestimmung des einzelnen unterstehe60, und aussprach, das Gebot, diesen Bereich zu achten, folge "aus dem Grundgesetz selbst", so bestätigte er damit nicht Nipperdeys Ansicht. Denn obwohl er die Begriffe "gegenüber jedermann" und "unmittelbar" verwendete, ging letztlich auch der BGH nicht von einer Bindung Privater direkt an die Grundrechte aus61. Das, was bei der Anwendung des § 823 Abs. 1 BGB durch den BGH an Methodik sichtbar wurde, kann genausogut als Umsetzung der Wertschutzlückenschließung Dürigs bezeichnet werden62. Inzwischen hat sich der BGH ausdrücklich zur mittelbaren Drittwirkung bekannt63.
52 Was die Zurechnungskonstruktion angeht, ähnlich Murswiek, Die staatliche Verantwortung für Risiken der Technik, S. 62 - 65 mit Fußn. 128, Ergebnis: S. 65 unten, S. 91. 53 BVerfGE 7, 198 (204) - "Lüth" 54 So gesehen auch von Jarras, AöR 110 (1985), S. 363 (377 oben); Leibholz, in: Zwei Vorträge zum Arbeitsrecht, S. 21 (33 oben); Scherzberg, Eingriffsintensität, S. 33, Fußn. 70; ebenso schon Reichenbaum, Grundrechte und soziale Gewalten, S. 111 unten. 55 BVerfGE 7, 198 (204) - "Lüth" -. 56 So auch gesehen von Classen, AöR 112 (1997), 65 (68). 57 BGHZ 24, 72 (76, 1. Abs., 2. Hälfte) - Offenbarung ärztlicher Zeugnisse -; 98, 32 (37 unten) - Verpflichtung zur psychiatrischen Untersuchung in Schiedsrichtervertrag -. 58 BGHZ 13, 334 (338). 59 BGHZ 24, 72 (76 unten). 60 BGHZ 26, 349 (354 unten). 61 So auch gesehen von Schnorr, JöR 9 (1960), 179 (186, ob. Drittel); als Befürworter "mittelbarer Drittwirkung" wird der BGH auch von Classen, AöR 112 (1997), 65 (68) angesehen. 62 So auch Dürig, Festschrift Nawiasky, S. 157 (180f., sub dd). 63 Zuletzt BGH, NJW 1986, 2944, sub 3. a, 2. Hälfte.
A. Drittwirkungsdiskussion
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Der Erste Senat des Bundesarbeitsgerichts, dessen Präsident Nipperdey war, sah in den Grundrechten 'Ordnungssätze64 für das soziale Leben", die in einem aus dem Grundrecht näher zu entwickelndem Umfang 65 "unmittelbare Bedeutung für den Rechtsverkehr der Bürger untereinander" hätten66. Der Verstoß gegen sie sei eine Verfassungsverletzung 67. Er maß die Ausübung von Gestaltungsrechten68 durch den Arbeitgeber direkt und die Wirksamkeit von Verträgen über § 134 BGB 69 an den Grundrechten. Es wird noch dargelegt, daß diese Rechtsprechung keine anderen Ergebnisse haben konnte als eine, die in der Methodik nach der Lehre der mittelbaren Drittwirkung vorgegangen wäre70. Seit dem Beschluß des Großen Senats des BAG vom 27.2.1985, der den Beschäftigungsanspruch des Arbeitnehmers nicht mehr direkt aus den Grundrechten ableitete, sondern §§ 611, 613 i. V. mit § 242 BGB anwandte und dabei § 242 BGB durch die "Wertentscheidung der Art. 1 und 2 GG" ausfüllte 71, ist die sich an Nipperdey anlehnende Grundrechtsanwendung des Ersten Senats in Individualarbeitsverträgen faktisch überholt. Zumindest hat der Erste Senat im Anschluß an diesen Beschluß des Großen Senats im Hinblick auf die Grundrechtsanwendung auf diesen verwiesen72. In den Beschlüssen des Großen Senats vom 12.6.1992 und vom 22.4.1994 werden hinsichtlich der Grundrechtswirkung im Bürgerlichen Recht die Formulierungen des BVerfG ausdrücklich übernommen73. Der Zweite Senat hatte zunächst in seinem Urteil vom 10.11.1955 einen Anspruch des Arbeitnehmers auf angemessene Beschäftigung direkt aus den Grundrechten hergeleitet74. Gleichwohl befand er sich, wie seine späteren Ent64
So auch die Formulierung bei Nipperdey, Grundrechte und Privatrecht, S. 14. BAGE 1, 185 (193); 1, 258 (262). 66 BAGE 1, 185 (193, auch 7. Leitsatz); 1, 258 (262); 4, 274 (276); 13, 168 (174). 67 BAGE 1, 185 (194 oben, 195 oben). 68 BAGE 1, 185 (194 unten): "alle Maßnahmen" (also auch die streitgegenständliche Kündigung). 69 BAGE 4, 274 (285, VI.); 1, 258 (269, vorletzt. Abs.). 70 S. u. Abschn. 2. a), S. 32. 71 BAG(GS) E 48, 122 (134f, sub 2., vor a]). 72 BAG, NZA 1986, 643 (645, Ii. Sp. Mitte). 73 BAG(GS) E 70, 337 (343, sub III. 1.); NJW 1995, 210 (212, sub III. 1.). 74 BAGE 2, 221 (224, sub II. - 225, 1. Abs.), allerdings hatte der Zweite Senat entgegen dem, was viele Autoren suggerierten, wenn sie in ihren Besprechungen von "Anspruch"sgrundlage sprachen (so etwa Schnorr, JöR 16 [1967], 163 [165 oben]) keineswegs die Grundrechte aus Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 1 GG als Anspruchsgrundlage im technischen Sinne (§ 194 BGB) betrachtet, sondern in der Nichtbeschäftigung durch den Arbeitgeber ein verletzendes Handeln, also quasi einen "Eingriff' in das Grundrecht des Arbeitnehmers gesehen (BAGE, 2, 221 (225, 1. Abs.) gesehen. Der Arbeitgeber habe, so der Zweite Senat damals, alles zu unterlassen, was den Arbeitnehmer in seiner Würde beeinträchtige, ihn verächtlich mache (Fettdruck nicht im Original). 65
Kap. 1 : Drittwirkung, Schutzpflicht und Vertragsrecht
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Scheidungen zeigen, in der Frage des Wie der Grundrechtsanwendung nie im Einklang mit Nipperdeys Erstem Senat. So schien er — eineinhalb Jahre nach dem Weiterbeschäftigungs-Urteil — offenbar zunächst sogar die Grundrechtsanwendung als solche zu scheuen: Er betonte im Urteil vom 21.2.1957, ein Verstoß der streitgegenständlichen Wettbewerbsvereinbarung gegen Art. 12 GG komme wegen der Vertragsfreiheit nicht in Betracht, § 138 BGB und § 133f GewO schützten die Berufsfreiheit genügend und konkretisierten sie75. Später ließ er die Frage der Drittwirkung ausdrücklich dahingestellt76, prüfte wie schon 1955 erst den Verstoß des Wettbewerbsverbots gegen Art. 12 GG und wendete dann, völlig isoliert von der Grundrechtsfrage, § 138 BGB an77. Die Gemeinsamkeit mit dem Ersten Senat lag in der Reihenfolge der Prüfung von Grundrechtsnorm und einfacher Norm, die viel gewichtigere Verschiedenheit aber in der Ansicht, das einfache, die Berufsfreiheit schützende Recht, mache die Anwendung von Art. 12 GG überflüssig 78. Spätestens im Urteil vom 20.12.1984, in dem er Art. 4 GG ausdrücklich über § 315 BGB (statt direkt) anwendete79, steuerte er dann aber in Richtung mittelbare Drittwirkung, ohne dies freilich offen auszusprechen. Welche Ansicht die übrigen Senate anfangs zum Drittwirkungsproblem vertraten, läßt sich bezogen auf das Gegensatzpaar mittelbar/unmittelbar schwer sagen. Der Dritte Senat etwa stellte zwischen Art. 5 GG und der Anwendung des einfachen Rechts (konkret § 1 Abs. 2 der damaligen DDO) einen Zusammenhang her, indem er zunächst ähnlich wie der Erste Senat (allgemeine Grundregeln des Arbeitsverhältnisses als allgemeine Gesetze im Sinne des Art. 5 GG 80 ) arbeitsrechtliche Grundsätze als allgemeine Gesetze im Sinne des Art. 5 Abs.l GG ins Spiel brachte (anstatt die Grundregeln selbst mittels der Grundrechte inhaltlich zu definieren 81) und anschließend die Interessen abwog, ohne dann jedoch auf die Dogmatik der Grundrechtsanwendung genauer einzugehen82. Der Fünfte Senat lag auf der Linie des Zweiten, weil er, wie der Erste Senat in einem Urteil kritisierte 83, mit Hinweis auf die Vertragsfreiheit
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BAGE 3, 296 (301). BAGE 6, 291 ((292 unten). 77 BAGE 6, 291 (293 - 296). 78 BAGE 6, 291 (293, subì.). 79 BAGE 47, 363 (374 - 376 oben); schon vorher hatte der Zweite Senat einen den Verbotsgesetzcharakter der Grundrechte, konkret den des Art. 5 GG ausdrücklich offengelassen : BAGE 24, 439 (443, sub 2. vor a]). 80 BAGE 1, 185 (194 unten). 81 Auch von Hofmann, Das Verbot parteipolitischer Betätigung im Betrieb, S. 95f., sub cc] und dd], m. w. Nachw., als richtiger Weg, Drittwirkung mittelbar zu vermitteln, angesehen. 82 BAGE 7, 256 (261 Mitte). 83 BAGE 13, 168 (176 unten). 76
A. Drittwirkungsdiskussion
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die Grundrechte nicht explizit anwendete, möglicherweise weil er der Vertragsfreiheit grundsätzlich Vorrang einräumte84. Das BAG 85 , und zwar alle Senate, wenden § 134 BGB inzwischen zwar nicht mehr an, um die Wirksamkeit von Individualverträgen, wohl aber um deren Auslegung86 zu beurteilen87. Was die grundrechtliche Bindung der Parteien eines Tarifvertrages angeht, hieltenfrüher der Erste88, aber auch alle anderen Senate des BAG sie heute für eine direkte ("uneingeschränkte"89), der Zweite Senat spricht allerdings von einer "differenzierten Anwendung": Zwar dürften die Parteien den Grundrechten der Normunterworfenen keine engeren Grenzen setzen als der Gesetzgeber, doch müsse es ihnen wegen der Tarifautonomie überlassen bleiben, Zugeständnisse mit Vorteilen abzugleichen90.
2. Stellungnahme Die Drittwirkungsdiskussion war ein Versuch, einen Grundrechtsgehalt dogmatisch zu erfassen, der von dem des subjektiven Freiheitsrechts verschieden ist91. Der Grund, warum ein dogmatischer Streit, dessen praktische Bedeutung nie sichtbar wurde92, mit derartiger Ausdauer und Leidenschaft geführt wurde, ist vor allem in mangelnder Verständigung über die Begrifflichkeit und den darauf beruhenden Mißverständnissen zu suchen:
a) Bindungsbegriff Der zentrale Begriff in Nipperdeys Lehre war der der "Bindung" der Privatrechtssubjekte. Diese war für ihn Voraussetzung für die Durchsetzbarkeit der
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BAG, AP (1960 H. 16) Nr.20 zu Art. 12 GG, Bl. 717 (Rücks.). BAGE 60, 135 (141, sub II. 1.); BAG, AP (1991 H. 7-12) Nr. 47 zu § 615, Bl. 221 (224, sub aa]). 86 BAG, AP (1991 H. 7-12) Nr. 47 zu § 615, Bl. 221 (224, sub a]); BAGE 62, 59 (67f., sub 1. b]). 87 Daß das BAG grundrechtsorientierte Vertragsauslegungen über § 134 BGB prüft, erstaunt, weil hier gar nicht wirksamkeitsmodifizierende Rechtsfolgen benötigt werden, so daß es keiner grundrechtsmediatisierenden Rechtsfolgennorm aus dem einfachen Gesetzesrecht bedürfte. 88 BAGE 1, 258 (262 unten). 89 BAGE 67, 342 (348 oben); 69, 259 (264 Mitte). 90 BAG, NZA 1994, 221 (222, re. Sp., sub 3. b) / 223, Ii. Sp. oben). 91 Böckenförde, Der Staat 1990, 1 (10 oben). 92 Zweifelnd insoweit auch Bydlinski, ÖZöR XII (1962/63), 423 (436 Mitte); Haman/Lenz, Grundgesetz, Vorbem. 4., S. 122 oben. 85
Kap. 1 : Drittwirkung, Schutzpflicht und Vertragsrecht
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grundrechtlichen Bestimmungen93. Auch andere Autoren konnten und können sich eine Bindung der Zivilgerichte ohne Bindung der Parteien gar nicht vorstellen94. "Binden" im juristischen Sinne heißt "direkt verpflichten". Eine Norm verpflichtet direkt, wenn sie selbst — wenn auch nicht notwendigerweise als einzige Norm, sondern möglicherweise als Teil einer Verweisungskette von Normen — ohne weitere normative Konkretisierung den Inhalt einer Pflicht bestimmt. Das wirkt sich dahingehend aus, daß sie dem Nutznießer der Pflicht unmittelbar einen Anspruch95 gegenüber dem Verletzer gibt. Würden Grundrechte Privatrechtssubjekte binden, würden sie nicht nur den Staat, sondern auch ihre Träger zur Beachtung der Grundrechte anderer direkt verpflichten. Sie könnten selbständige Anspruchsgrundlagen für Ansprüche Privater gegen Private sein. Es ist jedoch fraglich, ob Nipperdey sich dazu bekennen wollte: Er benutzte den Bindungsbegriff dazu, grundrechtstheoretisch zu argumentieren. Er hob hervor, das subjektive Grundrecht gebe es nur gegenüber dem Staat96. Doch enthalte die Grundrechtsnorm noch etwas anderes als das "reine Grundrecht" 97. Nipperdey wollte also die Privatrechtssubjekte zwar in bestimmter Weise binden, aber offenbar nur an eine über das subjektive Freiheitsrecht hinausgehende Grundrechtskomponente. Eine Bindung in diesem Sinne äußert sich aber nicht in einer direkten Verpflichtung. Sie wirkt erst durch unterverfassungsrechtliche Normen, die den Inhalt der Pflichten von Privatrechtssubjekten bestimmen. Wäre der heute anerkannte Begriff des "Prinzips"98 damals schon für Grundrechte verwendet worden, hätte Nipperdey möglicherweise vorsichtiger formuliert und von der Bindung Privater an das grundrechtliche Prinzip gesprochen. Damit hätte er deutlicher gemacht, daß auch seiner Ansicht nach nur Normen, die den Charakter von "Regeln"99 haben, also nur einfach-rechtliche Normen, "binden" im Sinne von "zivilrechtliche Ansprüche gewähren" können. Auch dann wäre es freilich immer noch nicht glücklich gewesen, am Begriff des Bindens festzuhalten. Bindung beinhaltet Verpflichtung. Selbst wenn sie als mittelbare zu verstehen ist, so ist die Herstellung einer Assoziation zwischen Grundrechten und
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Nipperdey, RdA 1950, S. 121 (124, Ii. Sp., unt. Drittel); ders., in: Grundrechte IV/2, S. 741 (754, Fußn. 47). 94 Olbersdorf, ArbuR 1958, S. 193 (200, Ii. Sp. Mitte); auch Oldiges, Festschrift Friauf, S. 281 (284 unten), sieht die grundrechtliche „Bindung" der Privatrechtssubjekte als Voraussetzung dafür, die Geltung der Grundrechte im Privatrecht zu behaupten. 95 So auch Rüfner, Gedächtnisschrift Martens, S. 215 (219). 96 Enneccerus/Nipperdey, AT Bürgerliches Recht I, S. 93f.; anerkannt auch von Ekkart Klein, NJW 1989, 1633 (1639, re. Sp., letzt. Abs.). 97 Nipperdey, RdA 1950, S. 121 (124, Ii. Sp., a. E.). 98 Alexy, Theorie der Grundrechte, 71-125 und passim. "Alexy, a. a. O.
A. Drittwirkungsdiskussion
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"Pflichten" ihrer Träger verfassungsrechtlich nicht wünschenswert100: Alle wesentlichen Entscheidungen, insbesondere im Bereich der Grundrechtsausübung, — und das wären grundrechtliche "Grundpilichten" — muß der Gesetzgeber treffen 101. Diese Wesentlichkeitstheorie kommt nach Ansicht des BVerfG zwar nicht für das Verhältnis zwischen "gleichgeordneten Rechtsträgern" 102, also zwischen Privaten zum Zug, doch ist diese Ausnahme mit der Unterstellung durch das BVerfG zu erklären, daß es hier bereits "ausreichende Rechtsgrundlagen"103, wenn auch mit mehr Auslegungsspielraum, gebe. Belasten staatliche Normen den Bürger — und das täten Grunàpflichten —, müssen sie außerdem so bestimmt sein, daß der "Betroffene die Rechtslage erkennen und sein Verhalten danach ausrichten kann"104. Beide Voraussetzungen könnten die Grundrechte, wenn ihr Gewährleistungsgehalt abstrakt als Grundpflicht formuliert werden soll, nicht erfüllen 105. Inzwischen wird jedoch wieder unbefangener von grundrechtlicher "Verpflichtung" geredet: Böckenförde, der zu Recht106 nicht im Ruf steht, Privatrechtssubjekte als Grundrechtsadressaten anzusehen, spricht davon, Grundrechte verpflichteten "materiell-rechtlich" unmittelbar Private 107. Hier wird offenbar "Verpflichtung" als eine Wirkung gegenüber Privaten angesehen, die darin besteht, daß diese an (unterverfassungsrechtliche) Regeln gebunden sind und gleichzeitig indirekt an den objektiven Grundrechtsgehalt. Diese Definition des Bindens wird nachvollziehbar, wenn damit gemeint ist, daß einfaches Recht
100
Deswegen hält Zöllner, AcP 196 (1996), 1 (8), eine Differenzierung nach unmittelbarer und mittelbarer Bindung für nicht sinnvoll: "keine Bindung" bedeute auch "keine mittelbare"; ebenso sieht Diederichsen, AcP 198 (1998), 171 (204), die Bindung Privater als Voraussetzung auch für mittelbare Drittwirkung an. 101 BVerfGE 34, 165 (192, sub e], 193 oben) - hessische Förderstufe -, noch unter Berufung auf die Gesetzmäßigkeit der Verwaltung; 45, 400 (418 oben) - gymnasiale Oberstufe -; 88, 103 (116, sub b], 1. Abs.) - Poststreik -: "in grundlegenden normativen Bereichen"; ohne den Zusatz "im Bereich der Grundrechtsausübung", aber mit dem Hinweis darauf, daß Grundrechte wichtige Anhaltspunkte für ein Regelungsbedürfnis seien: BVerfGE 47, 46 (79, 2. Hälfte) - Sexualkundeunterricht -. 102 BVerfGE 88, 103 (115f., sub 2. a]). 103 BVerfGE 88, 103 (115f., sub 2. a]). 104 BVerfGE 31, 255 (264 Mitte); st. Rspr., zuletzt BVerfGE 87, 234 (263 unten). 105 Grundpflichten werden als mit rechtsstaatlichen Grundsätzen (Bestimmtheit bzw. Gesetzesvorbehalt) unvereinbar auch abgelehnt von Dietlein, Die Lehre von den grundrechtlichen Schutzpflichten, S. 68 unten; Isensee, Das Grundrecht auf Sicherheit, S. 43 oben; Scheschonka, Arbeitsverweigerung aus Glaubens- und Gewissensnot, S. 11, sub cc); Ekkehart Stein, Staatsrecht, § 18 III, S. 157; das Bedenken, eine direkte Grundrechtsbindung Privater sei Grundpflicht, wird auch vorgebracht von Scheschonka, S. 12, sub dd); Spieß, DVB1. 1994, 1222 (1224, re. Sp., ob. Drittel). 106 Vgl. nur Böckenförde, Der allgemeine Gleichheitssatz und die Aufgabe des Richters, S. 19. 107 Böckenförde, Der Staat 1990, 1 (11 unten).
30
Kap. 1 : Drittwirkung, Schutzpflicht und Vertragsrecht
nicht eine vorgefundene grundrechtliche Bindung interpretieren hilft, sondern sie im Wege der Konkretisierung 108 staatlicher Pflicht erst herstellt. Der Verpflichtungsbegriff Böckenfördes wird offenbar allgemein so grundrechtstheoretisch verstanden, wie er gemeint ist 109 . Gleichwohl sollte er aus den gerade genannten Gründen vermieden werden. Zu berücksichtigen ist auch die Vorstellung des Verfassungsgebers: Art. 1 Abs. 3 GG legt einen staatsbezogenen Bindungsbegriff zugrunde. Dem Staat wird ein Legitimitationszwang auferlegt. Diese Anforderung würde im Hinblick auf Private kernen Sinn ergeben110. Die Formulierung, daß Privatrechtssubjekte Grundrechte zu respektieren 111 haben, ist dogmatisch unverfänglicher, weil sie die Art normativer Vermittlung des Respekterzwingens offen läßt. Nipperdey beging einen weiteren Fehler, der über mißverständliche Begriffswahl hinausgeht: Unabhängig davon, ob er der Auffassung war, daß Normen des einfach-gesetzlichen Rechts grundrechtliche Bindung Privater erst schaffen, oder ob er meinte, sie würden die Bindung nur aktualisieren, hätte er in jedem Fall folgendes anerkennen müssen: Dort, wo einfach-gesetzliche Normen existieren, die grundrechtlich geschützes Verhalten regeln, kann das Gericht grundrechtliche Bindung nicht mehr so vermitteln wie dort, wo es noch keine grundrechtsberührende gesetzgeberische Aktivität gibt. Grundrechtskonkretisierende Gesetze zwingen die sie anwendenden Gerichte, ihre Pflicht, Grundrechte zu beachten, mit der ebenfalls verfassungsrechtlich fundierten Pflicht (Art. 20 Abs. 3 GG: Gesetzesbindung), gesetzestreu Recht zu sprechen, in Einklang zu bringen. Das hindert sie daran, Grundrechte so anzuwenden, als könnten sie neben grundrechtsbezogenem einfachen Recht völlig selbständig Rechte und Pflichten Privater direkt begründen. Wo es Normen gibt, die grundrechtskonkretisierend interpretiert werden können, müssen die Gerichte Konkretisierungsleistungen des Gesetzgebers, wenn sie diese für verfassungsgemäß halten, respektieren. Um es im Sinne Alexys allgemeiner zu formulieren: Sie müssen das grundrechtliche Prinzip durch, nicht gegen die Regel des einfachen Gesetzes anwenden. Oder um es mit dem Vokabular der Wechselwirkungslehre des BVerfG 112 auszudrücken: Die Gerichte haben im Sinne einer Wechselwirkung sowohl die Interpretation der Grundrechte als auch des grundrechtsrelevanten Rechts aufeinander bezogen vorzunehmen. Der grundrechtliche Gehalt wird mit 108
Böckenförde, Der Staat 1990, 1 (22). Bisher hat ihm jedenfalls niemand vorgeworfen, Nipperdey zu später Rehabilitierung zu verhelfen. 110 Lübbe-Wolff Die Grundrechte als Eingriffsabwehrrechte, S. 160. 111 Lübbe-Wolff, Die Grundrechte als Eingriffsabwehrrechte, S. 161; Nipperdey, RdA 1950, 121 (125, re. Sp. oben); Hitschold, Staatsbürgerkunde, S. 84 Mitte, spricht von "orientieren". 112 BVerfG 7, 198 (209 oben) - "Lüth" -; zuletzt BVerfG, NJW 1995, 184 (185, sub 1. b], a. E.) - Honecker-Berichterstattung -. 109
A. Drittwirkungsdiskussion
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Hilfe des Gesetzes und das Gesetz wiederum grundrechtsorientiert ausgelegt113. Der Rollenkonflikt, den die Richter deswegen zu meistern haben, ist allerdings selbst auch wieder grundrechtlich determiniert: Denn im Zweifel hat die Gesetzesinterpretation Vorrang, welche die juristische Wirkkraft der Grundrechte am besten entfaltet 114. Insbesondere hat die Interpretation Vorrang, die dem Bürger einen seinem Grundrecht nützlichen Anspruch aus dem Gesetz einräumt115. Nipperdey hat offenbar die Konfrontation des Grundrechtsanwenders mit dem gerade beschriebenen Rollenkonflikt nicht genügend berücksichtigt. Denn der unter seinem Vorsitz judizierende Erste Senat des Bundesarbeitsgerichts wandte Grundrechte neben grundrechtsrelevantem einfachen Recht116 so an, als seien diese mit dem einfachen Recht konkurrierende Anspruchsgrundlagen. Er maß zum Beispiel das Begehren des Arbeitnehmers erst anhand der einschlägigen Zivilnormen (z.B. Schutz gegen eine auf § 13 Abs. 1 KSchG i. V. mit § 123 GewO wegen eines Verstoßes gegen § 51 oder § 53 BetrVG gestützte Kündigung durch den Arbeitgeber 117) und prüfte dann ohne Bezug zu diesen Zivilnormen noch einmal selbständig die Vereinbarkeit der Kündigung mit dem betreffenden Grundrecht des Arbeitnehmers. Seine Rechtsprechung erweckte damit den Eindruck, als begründeten die Grundrechte eigenständige, neue subjektive privatrechtliche Ansprüche118. Damit wäre die Kompetenz, Grundrechte zu konkretisieren, vom Gesetzgeber einseitig auf den Richter übergegangen, abgesehen davon, daß sich Grundrechtsinhalte eben ohne Bezugnahme auf Zi-
113
Vgl. zum in der Struktur gleichen Pendeln zwischen sozialer Wirklichkeit und grundrechtsnormativer Aussage unten Kap. 4, Abschn. Β. I. 2. b) bb), 2. Teilabschn., 2 u.3. Abs., S. 190- 192. 114 Thoma, in: Die Grundrechte und Grundpflichten der Reichsverfassung, S. 1 (9 Mitte); auf Thoma Bezug nehmend BVerfGE 6, 55 (72 Mitte) - Steuersplitting -. 115 BVerfGE 15, 275 (281f.). 116 Dies waren wohl auch die damaligen Bedenken des Zweiten Β AG-Senats in BAGE 3, 296 (301); was das öffentliche Recht angeht, so hat neben einfachem Recht (wenn auch wohl unbewußt) auch das BVerwG bis zur Änderung seiner Rechtsprechung im Urteil vom 26.9.1991 (BVerwGE 89, 69 [78 Mitte]) Art. 14 GG als eigenständige Anspruchsgrundlage angewendet (etwa BVerwGE 32, 173 [178 oben]), neuerdings sieht das BVerwG jedoch neben Baugenehmigungs- (BVerwGE 84, 322 [334 Mitte]; 88, 191 [203 unten]) bzw. nachbarschützenden (BVerwGE 89, 69 [78]) und verfassungsmäßig inhaltsbestimmenden Vorschriften des einfachen Rechts keinen Anwendungsbedarf mehr für Art. 14 GG. 117 BAGE 1, 185 (188- 191). 118 Canaris , AcP 184 (1984), 201 (213 Mitte), weist zu Recht daraufhin, nicht die Kündigung selbst, sondern der vom Gericht aufgestellte Rechtssatz über das Vorliegen eines Kündigungsgrundes habe an Art. 5 Abs. 1 GG gemessen werden müssen; kritisiert wird die Β AG-Rechtsprechung in dieser Hinsicht auch von Schnorr, JöR 9 (1960), 179 (186 Mitte), der sich allerdings auf das Beschäftigungspflicht-Urteil des Zweiten Senats bezieht; zum "neuen subjektiven Privatrecht" gleich eingehender unten Abschnitt b), S. 35ff.
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Kap. 1 : Drittwirkung, Schutzpflicht und Vertragsrecht
vilrecht nicht im zivilrechtlichen Anspruchssystem ausdrücken lassen119. Gleichwohl konnte das Vorgehen des Ersten Senats nie Auswirkungen auf die von ihm gefundenen Ergebnisse haben. Denn er grenzte — wie auch der Zweite Senat120, auf den er sogar Bezug nahm121, wenn auch nicht mit der Festlegung auf ein für die Berufsfreiheit negatives Ergebnis — die grundrechtliche Wirkung etwa der Berufsfreiheit 122 oder des Gleichbehandlungsgrundsatzes123 schon auf abstrakter Ebene durch die Vertragsfreiheit ein und umgekehrt124, ohne aber, was angesichts dieses Vorgehens konsequent gewesen wäre, schon auf dieser abstrakten Ebene Präferenzen für die eine oder andere Grundrechtsposition zu setzen. Er gelangte damit zu einer grundrechtlichen Interessenabwägung, die bei der Auslegung der einfach-rechtlichen Norm ohnehin stattfinden müssen125, dort aber gesetzes- und damit fallbezogener hätte passieren können. Da sich die Ergebnisse dieser abstrakten Abwägung von denen der davon strikt getrennt erfolgenden Interessenabwägung anhand des einfachen Rechts nie unterschieden126, akzeptierte auch der Erste Senat im Ergebnis letztlich die Angewiesenheit der Grundrechte auf ausstrahlungsempfängliche einfache Gesetze, verschleierte dieses Eingeständnis aber durch das Auseinanderziehen der Anwendungen von Grundrechts- und einfacher Norm. Die Auffassung, die BAG-Rechtsprechung (aller Senate) sei letztlich ein verstecktes Eingeständnis an die Lehre von der mittelbaren Drittwirkung 127, ist somit vertretbar. Demgegenüber sahen und sehen viele Kritiker, aber auch Befürworter einer unmittelbaren Drittwirkung in ihr einen Unterschied im Grundrechts/^/ζα/ί im Vergleich zur mittelbaren: Sie verliehen dem Grundrecht entweder im Verhältnis zu den mit ihm abzuwägenden Interessen der jeweiligen Gegenpartei ausdrücklich mehr Gewicht128 oder brachten dies indirekt zum Ausdruck, indem sie die Befürchtung hegten, eine unmittelbare Drittwirkung schade der Eigenstän-
119 120 121 122 123 124
d]bb]).
Das betont Rupp, in: Wettbewerb als Aufgabe, S. 187 (198). S. o. Fußn. 75 - 77. BAG, AP (1959, Η 10), Nr. 4 zu § 133f GewO, Bl. 461, Rückseite. BAG, AP (1959, Η 10), Nr. 4 zu § 133f GewO, Bl. 461, Rückseite. BAG, AP (1957, Η 10/11) Nr. 26 zu § 1 KSchG, Bl. 514 (515, Rückseite). Grundrechte als Grenze der Vertragsfreiheit: BAGE 13, 168 (176f., sub 1. c] bb] -
125 So auch Oeter, AcP 1994, 529 (545 oben); Diederichsen, AcP 198 (1998), 171 (206), bemerkt, der verfassungsrechtliche Wert sei in den Wertungen des Zivilrechts "meist immer schon" positiviert, durch die Hereinnahme der grundrechtlich erforderlichen Güterabwägung würden die Wertungen des Zivilrechts modifiziert. 126 Einen inhaltlichen Fortschritt aufgrund des Vorgehens des BAG vermißt angesichts der von diesem abzuwägenden Grundrechte auch des Arbeitgebers ebenfalls Ekkold-Schmidt, Legitimation durch Begründung, S. 86f. 127 Schnorr, JöR 9 (1960), 179 (185, vor B.). 128 Ramm, JZ 1991, 1 (5, Ii. Sp., vorletzt. Abs., a. E.): Unmittelbare Drittwirkung bedeute, daß es kein gleichwertiges Kriterium im Verhältnis zum Grundrecht gebe.
A. Drittwirkungsdiskussion
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digkeit des Privatrechts oder beeinträchtige die Vertragsfreiheit 129. Sie können sich dafür jedoch weder auf Nipperdey noch auf das BAG berufen, weil diese eine grundrechtliche Vorzugsstellung eines der am einen Privatrechtsverhältnis Beteiligten130 im Vergleich zum anderen nie behauptet haben131. Letztlich haben beide allerdings den Grundrechten im Verhältnis zwischen Privaten doch einen anderen Inhalt, wenn auch nicht eine andere Wirkungsintensität132, als in der Staatsrichtung gegeben133. Dürigs Auffassung liegt näher an der Verfassung, weil er (ungewollt) das, was Nipperdey in der Theorie richtig gedacht hat, in der praktischen Anwendung im Einklang mit dem Gesetzesbindungsgrundsatz aus Art. 20 Abs. 3 GG bewältigt hat. Sein theoretisches Fundament ist allerdings brüchig: Die Feststellung, die Grundrechtsbindung der Zivilgerichte ergebe sich nicht schon aus Art. 1 Abs. 3 GG, sondern erst aus der "unmittelbaren Grundrechtsgebundenheit des materiellen Zivilrechts", führt in die Sackgasse. Recht als solches kann nicht gebunden sein. Erst die Existenz eines normanwendenden Gerichts gibt dem Begriff "Bindung" einen Sinn. Die Intensität der grundrechtlichen Schutzbedürftigkeit des Gesetzesadressaten hängt zwar davon ab, wie intensiv das anzuwendende Gesetz Grundrechte berührt. Das gilt aber für alle Rechtsgebiete. Erne Grundrechtsberührung mag im öffentlichen Recht quantitativ häufiger vorkommen. Die grundrechtliche Bindung der Gerichte aufgrund Art. 1 Abs. 3 GG ist aber im Zivilrecht nicht weniger vorhanden. Dürigs Auffassung, bei der Auslegung öffentlichen Rechts könnten Grundrechte verletzt werden, auch wenn nicht um Grundrechte "gestritten" werde, dies sei bezüglich des Privatrechts anders134, ist so nicht haltbar. Unbewußt schwang bei Dürig vielleicht doch die Vorstellung mit, ein Rechtsstreit sei Grundrechten ferner, wenn die Parteien nicht selbst an Grundrechte gebunden seien. Richtig ist aber nur, daß eine Grundrechtsgebundenheit der Parteien die Konstruktion eines subjektiven Rechts auf gerichtlichen Grundrechtsschutz erleichtern würde.
129
Bezüglich der Vertragsfreiheit Flume , in: Festschrift DJT 1960 I, S. 135 (140); Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts, Rdn. 354, S. 150 oben; Linders, Unmittelbare Bedeutung der Grundrechtsbestimmungen, S. 84; Nikisch, Arbeitsrecht I, S. 42; Schätzet, RdA 1950, 248 (251, re. Sp. oben); Vogt, Drittwirkung der Grundrechte, S. 122. 130 v. Münch, Grundbegriffe des Staatsrechts I, Rdn. 190, verwirft unter Berufung auf den grundrechtlichen Schutz der Vertragsfreiheit ebenfalls das Argument der Aushöhlung der Privatautonomie. 131 Vgl. Angerer, Gesellschaftsvertragliche Eingriffe in die Privatsphäre, S. 66 Mitte; auch Bötticher, SAE 1963, 7 (9), hielt dem BAG das "Relativieren" der Berufsfreiheit durch die Vertragsfreiheit zugute. 132 Angerer, Gesellschaftsvertragliche Eingriffe in die Privatsphäre, S. 68, 1. Abs. 133 Das unterstellt den Vertretern der unmittelbaren Drittwirkung auch Rupp, in: Wettbewerb als Aufgabe, S. 187 (191): "inhaltlich irgendwie andere Grundrechte". 134 Dürig, in: Maunz/Dürig/Herzog, Art. 1 Abs. 3 GG, Rdn. 125. 3 Floren
Kap. 1: Drittwirkung, Schutzpflicht und Vertragsrecht
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Resümee: Der Vorwurf, Nipperdey habe die Grundrechtsnormen um einen Adressaten in Gestalt der Privatrechtssubjekte erweitern wollen, trifft nicht zu 135 . Ihm kam es vielmehr darauf an, soviel Grundrechtsgehalt wie möglich in die Drittrichtung zu übernehmen. Er hat dies praktisch dadurch verwirklichen wollen, daß er aus Grundrechten Verpflichtungen gewinnen wollte wie aus Regeln. Das wollte er, obwohl er damals schon die Eigenschaft des Grundrechts erkannte, ein Prinzip zu sein, das für eine Anwendung eine Vermittlung durch pflichtenbegründende Normen des einfachen Rechts (Regeln) benötigt. Damit konnte er nicht durchdringen. Denn der Gehalt des Grundrechts als Prinzip ist nicht in der Weise zu erschließen, daß er zwecks Bestimmung einer staatlichen Handlungspflicht nur noch interpretiert werden muß, sondern er teilt sich über die einfache Norm erst mit 136 .
b) Drittwirkung und subjektive Privatrechte Trotz ihrer unterschiedlichen theoretischen Ansätze beantworteten beide Drittwirkungslehren die Frage nach dem Ursprung der subjektiven Privatrechte ähnlich. Nipperdey formulierte, als Folge objektiv-rechtlicher Bindung der Privatrechtssubjekte könnten sich auch subjektive Privatrechte ergeben137. Dürig sprach sich dafür aus, wegen des Versagens des privatrechtlichen Normensystems im Wege der Wertschutzlückenschließung ein "allgemeines (selbstverständlich privatrechtliches) Persönlichkeitsrecht anzuerkennen"138. Bei Nipperdey war das grundrechtsverwirklichende subjektive Privatrecht Folge der Grundrechtsbindung Privater, bei Dürig Folge einer grundrechtsorientierten Auslegung des allein bindenden Zivilrechts. Inkonsequenz im Hinblick auf den dogmatischen Ansatz ist allein Nipperdey vorzuwerfen. Aufgrund seiner Ausgangsthese, daß Grundrechte Privatrechtssubjekte ohne Vermittlung durch Zivilnormen verpflichten (wenngleich nur als Prinzip), hätte er das subjektive Recht aus der Grundrechtsnorm herausinterpretieren müssen. Dann aber wäre seine Bezeichnung "subjektives Privatrecht" irreführend, es sei denn, er hätte diesen Widerspruch so folgerichtig aufgelöst wie Leisner. Dieser formulierte, 135
Dürig, in: Maunz/Dürig/Herzog, Art. 1 Abs. 3 GG, Rdn. 128, S. 65 oben. Bethge, KritV 1990, 9 (31): ohne staatliche "Aufbereitung" für die Rechtsanwendungspraxis gälten die Grundrechte nur formal; Lerche, HStR V, § 121, Rdn. 42 formuliert, der Grundrechtsgehalt werde durch die Gesetzesnorm "erst geprägt". 137 Nipperdey, in: Grundrechte IV/2, S. 741 (748), so formulierten teilweise auch seine Gegner: v. Mangoldt/Klein, Bonner Grundgesetz, 2. Aufl., Vorbem. A II 4. vor f, 3. Abschn., S. 69; Dietze, Über die Formulierung der Menschenrechte, S. 92, Fußn. 3, S. 102. 138 Dürig, Festschrift Nawiasky, S. 157 (180f., sub dd, Klammerzusatz im Original). 136
A. Drittwirkungsdiskussion
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die Grundrechte seien auch privatrechtliches Gesetz139. Diese Konsequenz scheute Nipperdey jedoch. Dogmatisch läßt sich seine Vorstellung von der Herkunft der grundrechtsbedingten subjektiven Privatrechte nur noch von der Dürigs abgrenzen, wenn man ihn dahingehend versteht, die Grundrechte könnten gleichsam subjektive Privatrechte in das Privatrecht "hineinerzeugen"140. Dafür läßt sich seine Aussage anführen, die subjektiven Privatrechte flössen aus der normativen Regelung der gesamten Rechtsordnung durch die Grundrechte 141. Dann würden die Grundrechte schlicht neues Privatrecht schaffen. Das kann aber nur ein Bild, keine dogmatische Aussage sein. Denn Normen, die Normen erzeugen, kann es ohne Hinzudenken eines Anwenders und eines Vorgangs der Normanwendung logisch nicht geben. Die Möglichkeit im juristischen Sinne zu "wirken", haben Grundrechte erst, wenn sie von staatlichen Instanzen angewendet werden142. Demgegenüber kann Dürig nicht vorgeworfen werden, er habe, was die Wertschutzlückenschließung angehe, sich der Lehre der unmittelbaren Drittwirkung angenähert143. Eine Wertschutzlücke durch die Rechtsanwendung zu schließen, heißt nach Dürig nicht, daß das Gericht das Grundrecht statt der Zivilnorm anwendet, sondern, daß es aus der Zivilnorm grundrechtsorientiert subjektive Privatrechte herleitet, die im Zivilrecht immer schon "verborgen" existierten, für die der Text der Norm aber keine offenkundige Grundlage bietet. Das mag erne unmittelbare Grundrechtsanwendung eher als im Fall der Wertverdeutlichung oder -akzentuierung notwendig machen. Denn in der Entscheidungsbegründung muß das Grundrecht als angewendete Norm auftauchen, wenn die Entscheidung verständlich sein will. Diese Dokumentation einer besonders intensiven Art der Grundrechtsintegration ist jedoch nicht mit dem Eingeständnis der Grundrechtsbindung oder dem Vorhandensein grundrechtserzeugter subjektiver Privatrechte gleichzusetzen. 139
Leisner, Grundrechte und Privatrecht, S. 376; eine Integration der Grundrechte in die Privatrechtsordnung und damit die Anerkennung neuer subjektive Privatrechte, unterstellt auch Wespi, Die Drittwirkung der Freiheitsrechte, S. 77 unten, den Verfechtern unmittelbarer Drittwirkung; eine "Normen-" statt nur einer "Wertekollision" sieht auch Westhoff, Die Inhaltskontrolle von Arbeitsverträgen, S. 38, als Konsequenz unmittelbarer Drittwirkung an. 140 Leisner, Grundrechte und Privatrecht, S. 374: "als wirkten die Grundrechte als öffentliches Recht in das Privatrecht hinein"; ebenfalls vom "Hineinwirken" spricht Berg, Staatsrecht, S. 132 Mitte; vgl. auch Hamel, Deutsches Staatsrecht I., S. 89 Mitte: Grundrechte "gelten bereits im Privatrecht" (Fettdruck nicht im Original). 141 Enneccerus/Nipperdey, AT Bürgerliches Recht I, § 15, sub 4. c, S. 95. 142 Diese Definition von "Wirkung" legt ebenfalls zugrunde Mössner, Staatsrecht, S. 170, vor 7., a. E. 143 Klingt an bei Böckenförde, Der Staat 1990, 1 (10 unten); weil Dürig auf die Ansicht des BGH zum allgemeinen Persönlichkeitsrecht verwies, unterstellt dies Jörg Paul Müller, Die Grundrechte der Verfassung und der Persönlichkeitsschutz des Privatrechts, S. 171 Mitte.
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Kap. 1 : Drittwirkung, Schutzpflicht und Vertragsrecht
Resümee: Beide Drittwirkungslehren lokalisierten grundrechtsbedingt neu gewonnene subjektive Privatrechte im Privatrecht. Die Lehre von der unmittelbaren Drittwirkung war jedoch darüberhinaus bemüht, die Notwendigkeit subjektiver Privatrechte aus der Bindung Privater an die Grundrechte zu erklären. Die Drittwirkungsdiskussion insgesamt war allenfalls insofern verdienstvoll, als sie den Zweck der Grundrechtsdogmatik beleuchtete, im Dienste personaler Freiheitssicherung zu stehen144. Erfüllen konnte sie diesen Zweck jedoch nicht.
c) Schwabes Position Schwabes "Delegationstheorie"145 ist kein systemimmanenter Beitrag zur Drittwirkungsdiskussion 146. Indem er privates Verhalten unter Hinweis auf die Ableitbarkeit jeder Verhaltensnorm von staatlicher Gewalt dem Staat zurechnet, entledigt er sich der Notwendigkeit, zu erforschen, ob staatliche Pflichten und der ihnen zugrundeliegenden Grundrechtsgehalt in bezug auf privates Verhalten umzuformulieren sind. Sein einfacher Weg kann jedoch nicht der richtige sein: Das Verhalten des Rechtssubjektes Staat bedarf prima facie einer anderen rechtlichen Bewertung als das der Individuen. Das ergibt sich nicht erst aus der Feststellung, grundrechtliche Freiheiten würden als vom Staat (zumindest teilweise) vorgefunden 147 von ihm gewährleistet, nicht gewährt148, so daß es also Verhalten geben müsse, das jenseits der rechtlichen Regelungen "erlaubt - verboten" stattfindet 149, für das der Staat also nicht einstehen muß150 (sofern er sich nicht ausdrücklich dazu verhält). Es ergibt sich auch nicht erst aus der normativen Vorgabe in Art. 1 Abs. 1 GG ("zu achten und zu schützen") 151, und aus den auf staatliches Handeln zugeschnittenen Texten der grundrechtlichen Schranken· Vorbehalte, sondern viel schlichter schon aus der Verschiedenartigkeit der
144 Häberle, VVDStRL 30 (1972), 44 (72, 1. Abs.), er spricht des weiteren von einer "Funktionssteigerung" (S. 76 oben). 145 Ausdruck bei Canaris , AcP 184 (1984), 201 (218, Fußn. 61 oben). 146 Vgl. Mayer, JB1. 1990, S. 768 (769f., sub III.); ders., JB1. 1992, S. 768f., sub II. III. 147 Daß Freiheit nicht nur vom Staat geschaffen wird, sondern zumindest teilweise seinem Handeln vorausliegt, wird auch von den Kritikern des grundrechtsdogmatischen Ansatzes beim Begriff "natürlicher Freiheit" nicht bestritten, vgl. mit dieser Einschränkung Isensee, HStR V, § 115, Rdn. 1. 148 Eckhoff Der Grundrechtseingriff, S. 297, vor (4). 149 Eckart Klein, NJW 1989, 1633 (1639, Ii. Sp. unten). 150 Eckhoff, Der Grundrechtseingriff, S. 297, vor (4). 151 Den Wortlaut des Art. 1 Abs. 1 Satz 2 GG nennen im Zusammenhang mit der Doppelfunktion der Grundrechte auch Canaris, AcP 184 (1984), 201 (226); Dürig, in: Maunz/Dürig/Herzog, Art. 1 Abs. 3 GG, Rdn. 3; Höfling, Vertragsfreiheit, S. 53, vor bb); Isensee, HStR V, § 111, Rdn. 13, S. 151 oben.
A. Drittwirkungsdiskussion
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Rechtssubjekte Staat und Mensch152. Wenn Schwabe das Verhalten des einen Rechtssubjekts dem anderen zurechnet, hätte er eines Zurechnungsgrundes bedurft 153. Staatliches Nichtverbieten und Erlauben von privatem Verhalten einerseits und das vom Staat selbst herrührende Verhalten andererseits lassen sich prima facie unterscheiden154: Einem nur nicht verbotenen Verhalten kann das potentielle Opfer aus der Perspektive des Staates entgegentreten, einem erlaubten kann es ausweichen155, vom staatlichen Verhalten selbst aber soll es gerade betroffen sein. Somit bedarf es der Begründung, gleichwohl alle drei Verknüpfungen von Verhalten und staatlicher Einstellung dazu dem Staat zuzurechnen. Läßt sich dies nicht begründen, liegt in dem staatlichen Nichtverbieten von Verhalten nicht schon das Verbot gewaltsamer Selbstverteidigung des vom Verhalten Betroffenen 156. Erne solche Zurechnungsbegründung ist Schwabe indes schuldig geblieben, weil es sie nicht gibt 157 . Wer anders als Schwabe nur das dem Staat als dessen Handeln zurechnen will, was er nicht verbietet, obwohl er es verbieten mtißte158, benötigt als Zurechnungskriterium ebenfalls eine staatliche Pflicht 159 und begründet damit gerade die dogmatische Notwendigkeit dessen, was er als überflüssig darstellen will. Er konstruiert die Schutzpflicht abwehrrechtlich, widerlegt damit aber die Nützlichkeit seiner eigenen Konstruktion, nicht jedoch das dogmatische Erfordernis der Schutzpflicht.
II. Drittwirkungsdiskussion und grundrechtliche Schutzpflichten Die an der Diskussion über unmittelbare und mittelbare Drittwirkung beteiligten Autoren versuchten, die grundrechtliche Wirkung zwischen Privaten in eine zivilrechtskonforme Rechtsbeziehung zu übersetzen160. Die Vertreter der
152
Canaris , AcP 1985, 9 (9 Mitte), femer: es seien zwar nicht die Rechtsgebiete, die über die Grundrechtsanwendung entschieden, wohl aber der Urheber, von dem der grundrechtlich zu prüfende Akt stamme (S. 12, sub 4.). 153 Steinbeiß-Winkelmann, Grundrechtliche Freiheit und staatliche Freiheitsordnung, S. 68 Fußn. 135. 154 So auch Eckart Klein, NJW 1989, 1633 (1639, Ii. Sp. unten). 155 Pietzcker, Festschrift Dürig, S. 345 (355, unt. Drittel); Sachs, in: Stern, Staatsrecht III/l, § 67 V 2 a) α) ßß), S. 730. 156 Eckhoff, Der Grundrechtseingriff, S. 297, vor (4); Hillgruber, Der Schutz des Menschen vor sich selbst, S. 144; Sachs, in: Stem, Staatsrecht III/l, § 67 V 2 a) α) ßß), S. 730. 157 Vgl. Eckhoff, Der Grundrechtseingriff, S. 296 unten/297 oben. 158 So wohl Murswiek, Die staatliche Verantwortung für Risiken der Technik, S. 62 65 mit Fußn. 128. 159 Dietlein, Die Lehre von den grundrechtlichen Schutzpflichten, S. 39, 2. Abs. 160 Von einer "Fixierung" der Drittwirkungsdiskussion auf das Verhältnis zwischen Privaten spricht auch Oeter, AcP 1994, 529 (530).
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Kap. 1 : Drittwirkung, Schutzpflicht und Vertragsrecht
mittelbaren Drittwirkung benötigten dazu Gesetzesrecht, die der unmittelbaren Drittwirkung nicht 161 . Den letztgenannten zufolge, sollten die Grundrechte auf die Anforderungen des Zivilrechtsstreits "zugeschnitten", sie sollten neue subjektive Privatrechte werden 162 . Für Fragen nach besonderen grundrechtlichen Pflichten des Zivilgerichts in der Drittrichtung gab es unter dieser Voraussetzung keinen Anlaß. Denn wenn all diejenigen Rechtssubjekte, denen gegenüber Grundrechte wirken, auch Grundrechtsadressaten sein sollen 163 , kann der Staat als Adressat der Grundrechte der Parteien ausgeblendet oder zumindest weniger wichtig werden 164 . Die Rolle des Zivilgerichts als grundrechtsaktualisierende Instanz im Beziehungsdreieck Staat - Individuum - Dritter bedarf dann keiner besonderen Würdigung. Denn das Zivilgericht hat dann rechtstechnisch nicht mehr zu leisten, als schlicht die Grundrechte in Gestalt der neugeschaffenen Privatrechte anzuwenden. Die "Wiederentdeckung" 165 der staatlichen Pflicht, Grundrechtsträger vor Gefährdungen durch Dritte zu bewahren ("Schutzpflicht" 166 ), hat zur Erkenntnis 161
Darin sieht auch Angerer, Gesellschaftsvertragliche Eingriffe in die Privatsphäre, S. 68, 2. Abs., den entscheidenden Unterschied zwischen den Drittwirkungslehren. 162 Gegen ein "Einsetzen" der Grundrechte in das Privatrechtsverhältnis und für ein "Mutieren" damals schon Brecher, Festschrift Nipperdey, Bd. II., S. 29 (43 unt. Drittel); gegen eine Übernahme verfassungsrechtlicher "Rechtsfiguren" ins Privatrecht auch Willi Geiger, Grundrechte und Privatrechtsordnung, S. 37, sub 3., 1. Abschn. 163 Gedanke deutlich auch bei Jörg Paul Müller, Die Grundrechte der Verfassung und der Persönlichkeitsschutz des Privatrechts, S. 183, 2. Abschn. 164 Vgl. Saladin, SJZ 1988, S. 373 (374, re. Sp. oben). 165 Von Wiederentdeckung reden auch Klein, DVB1. 1989, 1633 (1634, Ii. Sp. oben); Höfling, Vertragsfreiheit, S. 53, vor bb); Pieroth/Schlink, Grundrechte, Rdn. 103ff.; Weikart, Geldwert und Eigentumsgarantie, S. 168 - 173, sub a) u. b); ebenso in bezug auf alle objektiv-rechtlichen Grundrechtskomponenten Grimm, Die Zukunft der Verfassung, S. 221 (227, sub III.). 166 Über den genauen Umfang des Kreises der Gefährdungsursachen (nur von Menschen stammende [so Isensee, HStR V, § 111, Rdn. 112; Hermes, Das Grundrecht auf Schutz von Leben und Gesundheit, S. 231, sub bb)] oder auch sonstige gefährdende Ereignisse [so Robbers, Sicherheit als Menschenrecht, S. 124; Sass, Art. 14 GG und das Entschädigungserfordernis, S. 403 oben; Sachs, in: Stern, Staatsrecht III/l, § 67 V 2 ß, S. 733 unten, 735 oben]?, nur fremd- [so Hermes, Das Grundrecht auf Schutz von Leben und Gesundheit, S. 228 unten; Isensee, HStR V, § 111, Rdn. 114] oder auch selbstverursachte Ereignisse [so Dietlein, Die Lehre von den grundrechtlichen Schutzpflichten, S. 227; Robbers, Sicherheit als Menschenrecht, S. 124 unten]?, nur auf freiheitswmdernde Ereignisse [so Robbers, Sicherheit als Menschenrecht, S. 126; Giese/Schunck, Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, Anm. II. 2. zu Art. 1 GG, S. 14] oder auch [auf Verbesserung gerichtete] Leistungspflichten im engeren Sinn bezogene Pflichten [so Grimm, Die Zukunft der Verfassung, S. 221 (234, unt. Drittel), der alle objektiv-rechtlichen Komponenten der Grundrechte unter dem Begriff "Schutzpflicht zusammenfaßt]?; im weiteren Sinne sind ja alle Pflichten zum positiven Tun Leistungspflichten [vgl. die Ausdrucksweise bei von Heinegg, JA 1995, 305 (305, sub b]): staatliche Pflichten im Schleyer-Fall (BVerfGE 46, 160) als "Leistung"spflichten, und Pietrzak, JuS 1994, 748 (749, sub 4.)], bestehen noch unterschiedliche Ansichten,
A. Drittwirkungsdiskussion
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verholfen, daß die Vermittlung grundrechtlicher Drittwirkung einer Erweiterung des Adressatenkreises nicht bedarf. Denn die Schutzpflicht ist wiederentdeckt worden als eine — auf Dritte bezogene — Komponente der aus den Grundrechten folgenden Pflicht, Freiheit nicht nur formal, sondern unter Einschluß aller für ihren Gebrauch notwendigen Bedingungen167 als "reale Freiheit" 168 zu garantieren. Akzeptiert man, daß es diese Garantie gibt, bewirkt die staatliche Erfüllung der Schutzpflicht schon stets all das, was eine Erweiterung des Adressatenkreises der Grundrechte bewirken könnte. Das Drittwirkungsproblem kann dann nicht mehr als eine notwendige Folge einer die Grundrechte leistungsschwach machenden Staatsfixiertheit begriffen werden. Es entpuppt sich vielmehr als Symptom einer leistungsschwach gewordenen Grundrechtsrfog/wa//£, die ihre Schwäche nur dadurch überwinden kann, daß sie den Inhalt von grundrechtlich Pflichten zwar bezüglich ein- und derselben Adressaten, aber eben drittbezogen modifiziert 169. Gelingt ihr dies, bedarf es keiner Transformation von Grundrechten in Figuren, die mit dem privatrechtlichen Anspruchssystem kompatibel sind. Grundrechtliche Pflichten für Private sind dann überflüssig 170. Die Erkenntnis, daß es — drittrichtungsspezifisch — mehrere grundrechtliche Pflichten des Staates geben kann, die kollidieren können, reicht aus. Die Drittwirkungsdiskussion wird demzufolge heute zu Recht als erledigtes "Randproblem"171 angesehen. Das Drittwirkungsproblem ist als ein "Unterfall der allgemeinen Grundrechtsfunktion staatlicher Schutzpflichten" akzeptiert172, jedenfalls ist aber der Schutz vor Beeinträchtigungen durch Dritte unstreitig eine, und zwar die klassische Komponente der Schutzpflicht. Darüber hinaus soll hier der Schutzpflichtbegriff enger ausgelegt werden, also nur die Pflicht zur Reaktion auf Ereignisse, keine Leistungspflichten im engeren Sinn erfaßt werden (so wohl auch Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Rdn. 350 mit Fußn. 7). Andererseits sollen alle Ereignisse, also auch solche nichtmenschlichen Ursprungs erfaßt sein, diese spielen allerdings im Rahmen dieser Arbeit keine Rolle. 167 Ausdruck bei Grimm, Redebeiträge in VVDStRL 42 (1984), 118 (121 oben); 43 (1985), 81 (82 Mitte); grundlegend dazu ders., in: Grundrechte und soziale Wirklichkeit, S. 39 (57, sub b), 1. Hälfte); vgl. auch Bethge, Der Staat 1985, 351 (375 unten/376 oben). 168 Ausdruck bei Böckenförde, Staat, Gesellschaft, Freiheit, S. 336 (337); dieser (inzwischen unbestrittene) Freiheitsbegriff auch bei Grabitz, Freiheit und Verfassungsrecht, S. 206: Freiheit als "Gewährleistung eines bestimmten Maßes sozialer Entfaltungschancen"; Bethge, Der Staat 1985, 351 (375 unten): Freiheit müsse "real" verstanden werden, S. 376 oben: ansonsten sei Freiheit "substanzlos"; Kohte, ZBB 1994, 172 (175, sub 4., a. E.). 169 So auch Rupp, HStR I, § 28, Rdn. 34, S. 1210. 170 In diesem Sinne, ohne das Wort "Schutzpflicht" zu gebrauchen, Bethge, Grundrechtskollisionen, S. 17, 2. Hälfte, S. 395 unten. 171 Ausdruck bei MünchArbRIRichardi, Bd. 1, § 10 Rdn. 11; "Formulierungsproblem": Säcker, in: MünchKomm.-BGB, Einl., Rdn. 56. 172 Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 485ff; Badura, Staatsrecht, C, Rdn. 20; Benda, UPR 1982, S. 241 (243, re. Sp. unten); Bleckmann, DVB1. 1988, S. 938 (939,
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Kap. 1 : Drittwirkung, Schutzpflicht und Vertragsrecht
wenngleich nicht vollständig analysiert: Es wird zwar häufiger gewagt, Pflichten des Zivilgesetzgebers grundrechtlich zu erfassen, Folgerungen für die grundrechtliche Beschreibung ziv'ûgerichtlicher Tätigkeit werden zumeist jedoch nicht daran geknüpft. Für einen Vergleich richterlicher Tätigkeit mit derjenigen der anderen Staatsgewalten unter den Gesichtspunkten der vorherrschenden Grundrechtsdogmatik hat bisher nur Lübbe-Wolff wertvolle Ansatzpunkte geliefert 173 . Canaris versucht immerhin, Elemente der öffentlich-rechtlichen Grundrechtsdogmatik wie den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz für das Zivilgericht fruchtbar zu machen 174 , aber auch er trennt thematisch nicht streng genug zwischen den gerichtlichen und den gesetzgeberischen Schutzpflichten.
re. Sp.); Canaris , JuS 1989, S. 161 (163, sub 3. a): Die Schutzpflicht sei das "missing link" für die Erklärung mittelbarer Grundrechtswirkung; ders., Grundrechte und Privatrecht, S. 38f.: die Schutzgebotsfunktion sei "die überzeugende dogmatische Erklärung für mittelbare Drittwirkung; Denninger, in: AK-GG, Vor Art. 1, Rdn. 33; Grimm, recht 1988, S. 41 (45 re. Sp., 47); Herzog, JR 1969, S. 441 (443, re. Sp. oben); Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts, Rdn. 350; Jarras, AöR 110 (1985), S. 363 (378, Fußn. 77); Klein, DVB1. 1994, 489 (490, re. Sp., oben und 492, Ii. Sp., Mitte); Klein, DVB1. 1989, 1633 (1633, re. Sp. [zu Grundrechten und Schutzpflicht allgemein], 1640 a. E.: Über die Schutzpflicht erschließe sich der Umfang der Drittwirkung der Grundrechte); Peter Krause, JZ 1984, 656 (663); Novak, EuGrZ 1984, S. 133 (139, 146 Re. Sp. oben); MünchArbR/Richardi, § 10, Rdn, 13; Pietzcher, in: Pietzcker/Fenn/Tomuschat/v. Maydell, Recht auf Arbeit, 1984, S. 15 (21 oben); Rüfner, Gedächtnisschrift Martens, S. 215 (216 Fußn. 8); Robbers, Sicherheit als Menschenrecht, S. 201ff.; Starck, JuS 1981, 237 (244, sub 3.); ν. Mangoldt/Klein/Starcfc, Bonner Grundgesetz, Art. 1 Abs. 3 GG, Rdn. 198; Steinbeiß-Winkelmann, Grundrechtliche Freiheit und staatliche Freiheitsordnung, S. 155 a. E.; Stern, Staatsrecht III/l, § 76, IV., 5. vor a), S. 1572; nicht ausdrücklich aus den Grundrechten und somit nicht im Zusammenhang mit der grundrechtlichen Drittwirkung, sondern aus dem Verbot privater Gewalt leitet Isensee, Das Grundrecht auf Sicherheit, S. 33 die Schutzpflicht ab; Ossenbühl, NJW 1976, 2100 (2105, Ii. Sp., 2. Abs.) führt in seinem Aufsatz über Grundrechtsinterpretation ebenfalls nur das Sozialstaatsprinzip als normative Grundlage für Grundrechtsausübungsförderpflichten an, meint aber — entgegen dem heute herrschenden Sprachgebrauch, gemäß dem die Grundrechtsforderungspflicht all das positive Tun meint, das über das Abwehren von Tun Dritter hinausgeht, also nicht nur Sozialleistungen umfaßt, sondern auch die Bereitstellung sonstiger grundrechtsnützlicher (nicht nur -notwendiger) Mittel (nicht nur finanzieller Art) (so auch Kopp, NJW 1994, 1753 [1755. li. Sp., sub III.]) —nur die Leistungspflichten und redet von "Schutzpflichten" gar nicht. Scheinbar ist die Wiederentdeckung der Schutzpflicht auf einen Zeitpunkt nicht vor 1980, jedenfalls nicht vor 1976 zu datieren. 173 Lübbe-Wolff, Grundrechte als Eingriffsabwehrrechte, 111 - 124, 159 - 179. 174 Canaris, JZ 1987, 993ff.; JuS 1989, S. 161 (164ff.).
Β. Soziale Gewalt und Vertragsrecht
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B. Soziale Gewalt und Vertragsrecht I. Sonderproblem der Drittwirkung: Soziale Gewalt Die Überschrift "Sonderproblem" für "soziale Gewalt" in einem Abschnitt über die Drittwirkung überrascht möglicherweise. Schließlich hat die Grundrechtsgefährdung durch nicht-staatliche Mächte in der Drittwirkungsdiskussion eine große Rolle gespielt175: Nipperdey forderte, die Grundrechte müßten dort "uneingeschränkt" anwendbar sein, wo es um das Verhältnis des einzelnen zur "sozialen Macht" gehe176, und damit an den von Sinzheimer geschaffenen Begriff 177 angeknüpft. Auch Autoren, die nicht für Nipperdeys Drittwirkungsmodell eintraten, maßen und messen noch heute dem Machtverhältnis zwischen Individuen grundrechtliche Bedeutung zu: Sie sprachen über soziale oder wirtschaftliche Macht, sobald sie über Drittwirkung redeten178, sahen darin zum Teil den Schlüssel für die Lösung des Drittwirkungsproblems, indem sie das Vorhandensein grundrechtswidrigen Einflusses von sozialer Macht abhängig machten179, meinten, die Bedeutung der Grundrechte wachse mit zunehmender sozialer Macht180, sahen in sozialer Macht das wichtigste Argument der Drittwirkungslehre 181 oder vertraten gar die Auffassung, die Inhaber sozialer Macht seien direkt 182 oder über "analoge" Anwendung der Grundrechtsnor-
175
Gebhard Müller, FamRZ 1969, 4 (5, sub 5.), meint sogar, sie habe die Drittwirkungsdiskussion ausgelöst. 176 Nipperdey, in: Grundrechte IV/2, S. 741 (752). 177 Sinzheimer, Redebeitrag in: Stenographische Berichte der (Weimarer) Verfassungsgebenden Deutschen Nationalversammlung, Band 328 (der Verhandlungen des Reichtstags), 62. Sitzung vom 21. Juli 1919, S. 1747, Beginn des Redebeitrags S. 1748, Ii. Sp. [B ], zitierte Stelle S. 1749 [C], re. Sp. oben, Zeile 8. 178 Denninger, Staatsrecht, S. 152 Mitte; Dürig, DÖV 1958, 194 (197, sub II. 3.); Fürst/Günther, Grundgesetz, Rdn. 139, S. 57, vor V.: "Ähnlichkeit des Schutzbedarfs"; Hesse, in: HdbVerfR, S. 103, sub 7. b; Maier, Staats- und Verwaltungsrecht, Rdn. 4. 1. 5. 3; Schunck/De Clerck, Allgemeines Staatsrecht, S. 20, sub c); Schramm, Grundrechte, Bd. II, S. 53, vor F.; Ekkehart Stein, Staatsrecht, S. 395 Mitte. 179 Gamillscheg, AcP 164 (1964), 385 (407, 2. Hälfte und ff. bis 426). 180 Rüfner, Gedächtnisschrift Martens, S. 215 (228); auf den Effekt von mehr Macht, quantitativ ein größeres Bedrohungspotential zu schaffen, scheint Wintrich, Zur Problematik der Grundrechte, S. 13, Fußn. 14, abzustellen: Je stärker Macht sei, die ein von Grundrechten geschütztes Rechtsgut gefährde, desto größer sei der Gefährdungsgrad. 181 Hans H. Klein, Die Grundrechte im demokratischen Staat, S. 60. 182 Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts, Rdn. 357, der anschließend zwar von "Schutzpflicht" spricht, die er aber gar nicht brauchte, wenn die Grundrechte soziale Mächte aus sich heraus bänden; Maier, Staats- und Verwaltungsrecht, S. 99 unten, spricht ebenfalls davon, "die unmittelbare Drittwirkung" sei insoweit "vorzuziehen"; Reichenbaum, Grundrechte und soziale Gewalten, S. 143 c): Grundrechte mit Men-
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Kap. 1 : Drittwirkung, Schutzpflicht und Vertragsrecht
men183 an die Grundrechte gebunden — womit sie für einen Teilbereich über Nipperdeys Bindungsvorstellungen184 sogar noch hinausgingen, weil sie Private zu Adressaten der Grundrechte machten. Damit war — und das rechtfertigt den Begriff "Sonderproblem" — ein Ansatzpunkt dafür geschaffen, sich von der Diskussion über das dogmatische Erfassen der Grundrechtswirkung zu lösen. Denn ungeachtet dessen, wie die Grundrechte in die Rechtsanwendung zu integrieren waren, bestand jedenfalls ein Bedürfiiis, dem Fremdbestimmungspotential sozialer Mächte mit Hilfe der Grundrechte, die ein Freisein von jedweder Fremdbestimmung garantierten, etwas entgegenzusetzen. Das hätte aber auch bereits die Frage aufwerfen können, ob die Grundrechte Fremdbestimmung nur durch solche Individuen etwas angeht, die im Laufe von Machtkonzentrationsprozessen zu besagten sozialen Mächten geworden sind, oder ob es nicht vielmehr alle Effekte von Machtrealisierung, also auch Freiheitsbeeinträchtigungen durch "normal" mächtige Individuen, sind, die dazu herausfordern, ein neues Wirkungsfeld der Grundrechte offenzulegen. Wäre diese Frage gestellt worden, wäre die Schutzpflicht schon früher wiederentdeckt worden. Die Eigenschaft eines Dritten, sozial oder wirtschaftlich mächtig zu sein, wäre dann zwar Anlaß gewesen, die Schutzpflichten zu unterteilen: Solche Schutzpflichten, die durch Abwehr sich punktuell realisierender Gefahren erfüllt werden können (Polizeiund Ordnungsrecht), wären von solchen Schutzpflichten unterschieden worden, die erfüllt werden, indem in den Prozeß der Bildung sozialer Macht eingegriffen wird (Wirtschafts-, vor allem Kartellrecht) oder die Folgen der Machtbildung abgemildert oder neutralisiert werden (Vertragsgesetzesrecht, insbesondere die "sozialen" Normen des Bürgerlichen Rechts185 wie Miet-, Verbraucherrecht, Arbeits-, oder inzwischen auch Kreditrecht 186). Es wäre jedoch die soziale oder wirtschaftliche Mächtigkeit nicht der primäre Auslöser für die Entdeckung einer anderen Grundrechtsfunktion geworden. Doch genau das geschah: Der Schutz vor rechtswidrigem Handeln beliebig mächtiger Dritter wurde der Anlaß für die Wiederentdeckung der Schutzpflicht, jedoch im Unterschied zur Frage der sozialen Macht zunächst ohne Verquickung mit der Drittwirkungsdebatte. Die Ähnlichkeit, mit der die Macht des Staates und die Macht sozial oder wirtschaftlich überlegener Privater wirken kann187, stellte im Vergleich zum aus
schenrechtsqualität wirkten gegenüber sozialen Gewalten unmittelbar als subjektive Privatrechte. 183 Hans H Klein, Die Grundrechte im demokratischen Staat, S. 60. 184 S. o. sub a) aa), S. 2. 185 Überblick über soziale Vorschriften bei Eichenkofen Jus 1996, 857 (858 - 860, sub II.); v. Hippel, Schutz des Schwächeren, Gliederung. 186 Singer, JZ 1996, 1133 (1138, re. Sp. oben). 187 Saladin, SJZ 1988, 373 (377, Ii. Sp. oben).
Β. Soziale Gewalt und Vertragsrecht
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grundrechtlicher Sicht problemfreien Deliktsrecht eine zu große Versuchung dar, als daß eine Vereinnahmung dieses Themas durch den Drittwirkungsstreit hätte verhindert werden können: Staat und soziale Mächte haben gemein, daß sie ihre Interessen gegen fremden Willen durchsetzen können, ohne daß ihr Verhalten den Stempel der Mißachtung des Gewaltverbots trüge. Darin liegt der Unterschied zum grundrechtsbeeinträchtigenden Verhalten "normal" mächtiger Privater 188: Diese können ihre Interessen, wenn sie keine Rücksicht nehmen wollen, nur durch deliktisches Handeln umsetzen und bringen damit das objektiv auch vor Inkrafttreten des Grundgesetzes stets schon grundrechtsdienliche Deliktsrechtssystem zur Anwendung. Die, welche den Vertrag als Machtinstrument nutzen, lösen diesen Schutz nicht aus: So wie der Staat sich des Rechts und der hoheitlichen Befugnisse bedienen kann, deren Ausübung zunächst die Vermutung der Richtigkeit für sich hat, kann der "sozial Mächtige" sich des Vertrags bedienen189, der mangels entgegenstehender Anhaltspunkte wirksam ist, wenn er formalen Anforderungen genügt. Angesichts dieser Gemeinsamkeiten zwischen wirtschaftlich mächtigen Vertragspartnern und dem Staat, was das Auslösen von Deliktsschutz angeht, ist es nicht verwunderlich, daß das Thema "soziale Macht" wie das der Drittwirkung insgesamt einer Fixierung auf die Suche nach neuen Grundrechtsadressaten verhaftet war, statt daß es unter dem Gesichtspunkt der Modifikation staatlicher Grundrechtspflichten diskutiert wurde. Folgerichtig wurde das Thema "Grundrechte und soziale Macht" häufig im Rahmen von Beiträgen zur Drittwirkungsdiskussion behandelt190. Dadurch wurde vor allem der Blick auf die Notwendigkeit einer grundrechtlichen Schutzpflichtdogmatik dort getrübt, wo soziale Macht nach dem gerade Gesagten bedeutsam wird: im Vertragsrecht. Durch die anfängliche Fixiertheit der Drittwirkungsdiskussion auf die Schaffung neuer subjektiver Privatrechte 191 war man nämlich gleichzeitig in der Frage des Verhältnisses von sozialer Macht
188
Leisner, Grundrechte und Privatrecht, S. 383 Mitte, stellt richtig fest, das staatsähnliche Unterworfenheitsverhältnis ergebe sich nicht aus der Natur des privaten Verbandes, sondern aus der konkreten Unterworfenheit; S. 384, vor b): der "Situationsvergleich" des Verbandsbürgers habe Vorrang vor dem "Organisationsvergleich". 189 Das muß er freilich nicht, auch der sozial Mächtige könnte Gewalt anwenden, um seine Interessen durchzusetzen. Das Freiheitsproblem, das dadurch entstünde, daß das größere Machtpotential mehr Risiken für die Freiheiten anderer mit sich bringt, wäre aber ein quantitatives. Die über soziale Macht sprechenden Autoren dürften darin wohl nicht die besondere grundrechtliche Gefahr gesehen haben, die seitens übermächtiger Privater droht. 190 So auch gesehen von Linders, Unmittelbare Bedeutung der Grundrechtsbestimmungen, S. 5; Schmidt-Bleibtreu/Klein, Kommentar zum Grundgesetz, Vorbem. vor Art. 1 GG, Rdn. 6. 191 S. o. Abschn. Α. I. 2. b), S. 34 - 36.
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Kap. 1 : Drittwirkung, Schutzpflicht und Vertragsrecht
zu Grundrechten im System der Privatrechte gefangen. Damit soll gesagt werden: Gerade die subjektiven Privatrechte sind es ja, die Machtverhältnisse im nicht-deliktischen Zivilrecht verschleiern. Das erkannte in bezug auf die subjektiven Rechte von Kartellen früh Biedenkopf: Einer der wichtigsten Gründe für die kartellmachtfördernde Wirkung in unserem Wirtschaftssystem, so Biedenkopf 1965, sei die Gewährleistung des Individualrechtsschutzes durch ein System subjektiver Rechte192. Dabei sei der Institutionenschutz (vor allem der der Institution einer funktionsfähigen Privatautonomie) zu kurz gekommen193. Denn die begriffliche Bestimmung des subjektiven Rechts enthalte keine Aussage über seine konkrete Begrenzung, es sei zunächst system- und nicht ordnungsbezogen194. Es sei dem Individuum zugeordnet und lasse sich aus seinem funktionellen Zusammenhang lösen195. Es diene allein seiner Selbstverwirklichung und bedürfe keiner Rechtfertigung durch Funktionen mehr 196. Sein Interesse habe die Vermutung der Berechtigung für sich197. Dieses Prinzip, das für das Deliktsrecht seine Gültigkeit habe, sei auf den wirtschaftlichen Wettbewerb übertragen worden 198. Die tatsächliche Macht des Rechtsträgers, die sich dort durchsetze, könne vom subjektiven Recht nicht berücksichtigt werden199. Ihm sei das Mißbrauchsprinzip immanent200. Wirtschaftlich Mächtige seien, um als Träger subjektiver Rechte anerkannt zu werden, "eingebürgert" worden, indem sie zu privaten Rechtssubjekten erklärt worden seien201. Dadurch sei das subjektive Recht vor Relativierung geschützt, die effektive Freiheit der Rechtsträger aber relativiert worden 202. Letztlich lasse die zivilrechtsdogmatische Ausrichtung auf das subjektive Recht203 zu, daß das Privatrecht der Macht diene204, von ihr funktionell erniedrigt werde 205 und sie sogar potenziere206. Wären die Aus-
192
Biedenkopf, Festschrift Böhm, S. 113 (115, 2. Abs.). Biedenkopf Festschrift Böhm, S. 113 (115, letzt. Abs.). 194 Biedenkopf Festschrift Böhm, S. 113 (116, sub 3. a]). 195 Biedenkopf Festschrift Böhm, S. 113 (116, sub 3. b]). 196 Biedenkopf Festschrift Böhm, S. 113 (116, sub 3. c]). 197 Biedenkopf Festschrift Böhm, S. 113 (117 oben). 198 Das sagt Biedenkopf so nicht mehr ausdrücklich, es ergibt sich aber aus seinen Ausführungen zum Deliktsrecht (S. 115, 3. Abs.) im Zusammenhang mit den folgenden Bemerkungen, insbesondere der These der "Einbürgerung" wirtschaftlich Mächtiger in das Privatrechtssystem (S. 116 oben, 117 oben). 199 Biedenkopf Festschrift Böhm, S. 113 (117, sub 3. e]). 200 Biedenkopf Festschrift Böhm, S. 113 (117, vor 3. e]). 201 Biedenkopf Festschrift Böhm, S. 113 (118 oben u. vor II., letzt. Abs.). 202 Biedenkopf Festschrift Böhm, S. 113 (118 ob. Drittel). 203 Biedenkopf Festschrift Böhm, S. 113 (115 unten). 204 Biedenkopf Festschrift Böhm, S. 113 (114 unten). 205 Biedenkopf Festschrift Böhm, S. 113 (115 oben). 206 Biedenkopf Festschrift Böhm, S. 113 (118 oben u. vor II., letzt. Abs., a. E.). 193
Β. Soziale Gewalt und Vertragsrecht
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führungen Biedenkopfs zu subjektiven Privatrechten und wirtschaftlicher Macht in der Drittwirkungsdiskussion, und zwar dem Diskussionsteil, der "Grundrechte und soziale Gewalt" betraf, berücksichtigt worden, hätte folgende Erkenntnis gewonnen werden können: Was die Anwendung von Deliktsrecht angeht, kann die Drittwirkungsdebatte zwar unterschiedliche dogmatische Begründungen grundrechtlicher Ausstrahlungswirkung hervorbringen, jedoch inhaltlich nichts leisten: Grundrechte sind im Deliktsrecht als subjektive Rechte des § 823 BGB geschützt. Werden sie bedroht, hängen Wie und Ob des Schutzes vom Wie und Ob des Angriffs auf die Rechtsgüter ab. Der gerichtliche oder private Gebrauch eines Schutzmittels ist rechtmäßig, wenn dieses erforderlich und verhältnismäßig im engeren Sinne ist. Eine unmittelbare oder mittelbare Grundrechtsanwendung verdeutlicht die grundrechtliche Notwendigkeit des Ergebnisses "Rechtmäßigkeit der Schutzhandlung", verändert aber das Ergebnis selbst nicht. Ausnahmsweise gilt etwas anderes, wenn es darum geht, vom Deliktsrecht früher vernachlässigte Grundrechtsgüter nun durch entsprechende Auslegung des § 823 BGB mit einem grundrechtskonformen, also weiteren Schutzbereich zu umgeben. Im Vertragsrecht hingegen ist Grundrechtsanwendung geeignet, inhaltliche Vorgaben des Gesetzgebers modifizierend in die Rechtsanwendung zu übernehmen: Die einem Großteil des BGB zugrundeliegende Vorstellung des Gesetzgebers, Vertragspartner mit gleichen subjektiven Privatrechten hätten auch gleiche reale Freiheit und könnten sich gleichermaßen auf den Grundsatz "pacta sunt servanda" berufen, trifft gemäß dem, was im vorhergehenden Absatz von Biedenkopfs Auffassung zur verschleiernden Wirkung des Systems subjektiver Privatrechte wiedergegeben wurde, nicht zu. Wenn aber die Annahme gleicher realer Freiheit von Vertragspartnern nicht zutrifft, sind die Positionen beider Vertragspartner gegebenenfalls auch nicht in gleicher Weise grundrechtlich schutzbedürftig. Dann aber kann sich Grundrechtsanwendung gegenüber Entscheidungen, die Gesetzesrecht formal interpretieren, nicht nur ergebnisbegründend und -verdeutlichend, sondern auch ergebnisverändernd auswirken. Doch können die von der Drittwirkungsdebatte hervorgebrachten Alternativen "Grundrechte sind subjektive Privatrechte/Grundrechte sind nicht subjektive Privatrechte" die ergebnisverändernde Wirkung der Grundrechte gegenüber Entscheidungen über Ansprüche sozial Mächtiger im Vertragsrecht eben nicht veranschaulichen, weil sie am System subjektiver Privatrechte haften: Der mächtigere Vertragspartner verliert nicht grundrechtlich bedingt sein subjektives Privatrecht, genauso wenig, wie der Schwächere eines hinzugewinnt. Was sich ändern kann, ist das vom Staat gebilligte Ergebnis des Gebrauchs der Privatrechte, also der wirksame Vertragsinhalt. Die Abhängigkeit des Vertragsinhalts von unterschiedlicher Macht, die sich hinter subjektiven Privatrechten
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Kap. 1 : Drittwirkung, Schutzpflicht und Vertragsrecht
verbirgt, kann nur mittels der Schutzpflicht-Figur dargestellt werden: Nur sie erlaubt es, die vielen Grade an Machtunterschieden in unterschiedliche staatliche Schutzintensität und damit in (im jetzigen Vertragsgesetzesrecht zumindest einigermaßen) differenzierte Rechtsfolgen zu transformieren. Vollends ins Bewußtsein sowohl der Vertragsrechtsdogmatik als auch der Anwendungspraxis hat dies aber wohl erst die grundrechtliche "Aufarbeitung" von Ungleichgewichten bei Verträgen durch das BVerfG in seinem Handelsvertreter-Beschluß vom 7.2.1990207 gehoben. Er war geeignet, die im vorhergehenden Abschnitt dargestellte Schutzpflichtlösung auch als Ausweg aus dem Problem "soziale Macht" und seiner Anbindung an den Drittwirkungsstreit attraktiv zu machen208.
II. Folgerung für die grundrechtsdogmatische Verarbeitung des Vertragsrechts Die Wiederentdeckung der Schutzpflicht nun auch für das Vertragsrecht darf jedoch nicht dazu verführen, die Schutzpflicht, weil sie bereits die Drittwirkungsdiskussion hinsichtlich der Grundrechtsadressatenfrage "erledigt" hat, nun in einer Art "Schutzpflichteuphorie" als Argument für eine Einebnung sämtlicher Unterschiede zwischen den Arten der grundrechtlichen Wirkung im Privatrecht zu benutzen. Da soziale oder wirtschaftliche Macht, wie bereits festgestellt, zu ihrer Realisierung nicht der Gewalt bedarf, sondern sich in Form der privatautonomen Rechtserzeugung mitteilen kann, verdient das Problem der Bändigung dieser Macht zumindest, einem spezifischen Schutzmechanismus zugeordnet zu werden. Seine Darstellung kann zwar im Schutzpflichtthemenkreis, der ja jedwede Drittwirkung erfaßt, verbleiben. Es muß aber deutlich werden, daß das Vertragsrecht andere grundrechtliche Schutzmechanismen aktiviert als das übrige Privatrecht 209. Der Aspekt der "gewaltlosen" und der (aufgrund der vom Vertragsrechtsgesetzgeber begründeten Vermutung für eine harmonische Begründung von Rechtsverhältnissen) rechtlich erlaubten Machtdurchsetzung ist aber nur einer der beiden Gesichtspunkte, die das durch soziale Macht begründete Freiheitsproblem zu einem besonderen machen. Der andere ist der, daß die soziale Macht eben gesellschaftlich und nicht staatlich begrün-
207
BVerfGE 81, 242ff. Diesen Fortschritt sehen auch Canaris , AP (1990 H 7) Nr. 65 zu Art. 12 GG, Bl. 458, sub 1. a); Spieß, DVB1. 1994, 1222 (1225, re. Sp.). 209 Schon Leisner, Grundrechte und Privatrecht, S. 379 Mitte, unterschied zwischen außervertraglichem und vertraglichem Bereich; dagegen Dürig, in: Maunz/Dürig/Herzog, Art. 3 Abs. 1, Rdn. 513, 6. a). 208
Β. Soziale Gewalt und Vertragsrecht
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det ist. Die grundrechtsdogmatische Ferne zum sonstigen Privatrecht geht also nicht mit mehr Nähe zum öffentlichen Recht einher. Die hierdurch verheißene Aussicht auf die Neuentwicklung eines vertragsrechtsspezifischen grundrechtlichen Schutzmechanismus unter dem Dach der bekannten Schutzfunktion der Grundrechte rechtfertigt die vorliegende Arbeit.
Kapitel 2
Grundrecht gegenüber der Zivilrechtsprechung Das Ergebnis des vorhergehenden Abschnitts lautete: Die Drittwirkung der Grundrechte realisiert sich nicht über ein Einbeziehen Privater in den Kreis der Grundrechtsadressaten, sondern über eine auf Private bezogene Erweiterung grundrechtlicher Pflichten des Staates. Die Drittbezogenheit staatlicher Grundrechtspflichten ist von der Grundrechtstheorie unter dem Stichwort "Schutzpflicht" wiederentdeckt worden. Dieser grundrechtstheoretische Befund läßt sich für die praktische Bearbeitung vertragsrechtlicher Fälle um so leichter nutzen, je ausgebildeter die Dogmatik ist, mit der sich die grundrechtliche Behandlung dieser Fälle strukturieren läßt. Zunächst soll versucht werden, die traditionellen Regeln der Eingriffsdogmatik auf die gerichtliche Anwendung von Zivilrecht im allgemeinen anzuwenden, wenn nötig in modifizierter Form1. Der nächste Schritt (Kapitel 3) besteht darin, aus dem Ergebnis dieses Versuchs Rückschlüsse für die grundrechtsdogmatische Verarbeitung des Vertragsrechts zu ziehen.
A. Eingriffsdogmatik in der Grundrechtsanwendung I. Nutzen für die Bestimmung des Tatbestands der Grundrechtsverletzung Die Eingriffsdogmatik wird zum Ausgangspunkt der dogmatischen Untersuchung zivilgerichtlicher Grundrechtspflichten gewählt, weil sie einen traditionellen und bewährten Bestand an grundrechtsdogmatischen Regeln darstellt2. Bewährt hat sich die Eingriffsdogmatik deswegen, weil der Gebrauch des von ihr entwickelten Eingriffsschemas die grundrechtliche Fallbearbeitung gut strukturiert (soweit dieses Schema paßt) und dadurch den Rechtsanwender diszipliniert3. Das Eingriffsschema drückt ein Grundrechtsverständnis aus, das sich
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So geht methodisch auch vor: Liibbe-Woljf, Die Grundrechte als Eingriffsabwehrrechte, S. 21. 1 Lübbe-Woljf, S. 21 Mitte. 3 Höfling, Jura 1994, 169 (170, Ii. Sp., ob. Drittel), sieht den Disziplinierungseffekt durch erhöhte "intersubjektive Nachvollziehbarkeit und Kontrollierbarkeit der Rechtsfindung" begründet.
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an die Schrankenregelungen anlehnt, mit denen die Mehrzahl der Freiheitsrechte ausgestattet ist, und durch welches Freiheit zum Teil nicht durch Wertung erschlossen werden muß, sondern rechtstechnisch konstruiert werden kann4: Die Schrankenregelungen fußen auf einer Nichtidentität von grundrechtlichem Schutzbereich und grundrechtlichem effektivem Garantiebereich5, die eine Unterscheidung nach formeller, rein rechtstechnisch konstruierbarer, und materieller Schutzfunktion 6 ermöglicht. Der Schutzbereich ist der Bereich, innerhalb dessen ein staatliches Eindringen (Grmàrechisbeschrânkung) rechtfertigungsbedürftig ist und anhand der Schranken geprüft wird 7. Der effektive Garantiebereich ist der Bereich, innerhalb dessen jedes staatliche Eindringen grundrechtswidrig ist. Die Unterscheidbarkeit der beiden Bereiche macht die Grundrechtsprüfung deswegen strukturierbar, weil sie mit einer Unterscheidbarkeit von Prüfungskriterien wie folgt einhergeht: Zunächst untersucht der Grundrechtsanwender, ob der Staat in den Schutzbereich eines Grundrechts eingedrungen ist. Läßt sich ein staatliches Eindringen in den Schutzbereich feststellen, wird in einem zweiten Schritt geprüft, ob es formellen (Vorhandensein einer gesetzlichen Grundlage für das staatliche Handeln) und materiellen (Verhältnismäßigkeit des staatlichen Handelns) Anforderungen genügt. Der Gebrauch des Eingriffsschemas diszipliniert auch, weil es dem Rechtsanwender nicht nur die Kriterien selbst, sondern auch ihre Prüfungsreihenfolge vorgibt. Außerdem rationalisiert die Verwendung des Eingriffsschema die Grundrechtsanwendung. Denn es ist möglich, daß nach der Anwendung der in der Reihenfolge als erstes anwendbaren Prüfungskriterien das Ergebnis der Prüfung feststehen kann, ohne daß die anderen Voraussetzungen noch geprüft werden müßten. Das mögliche vorzeitige Ende führt außer zu einer Verringerung des Arbeitsaufwands auch zu einem Rationalisierungseffekt in qualitativer Hinsicht: Das als erstes anwendbare Kriterium "Gesetzmäßigkeit" und die als erstes zu prüfenden Verhältnismäßigkeitskriterien, "Geeignetheit" und "Erforderlichkeit" staatlichen Handelns, können rationaler angewendet werden als das nachfolgende Kriterium der "Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne". Kann aber eine Grundrechtsprüfung nach Anwendung der rationalisierenden Kriterien beendet werden, ist sie insgesamt rationalisierbarer als eine Prüfung, die an der Anwendung des Kriteriums der Verhältnismäßigkeit im engeren Sinn nicht vorbeikommt. "Rationalisierend" ist ein Kriterium, wenn die grundrechtliche Prüfung staatlichen Handelns dank dieses Kriteriums wenig von der Subjektivität des Norm4
Schlink, EuGrZ 1984, 457 (467, Ii. Sp. oben). Lübbe-Wolff, Die Grundrechte als Eingriffsabwehrrechte, S. 25 - 27, sub a). 6 Gallwas, Faktische Beeinträchtigung im Bereich der Grundrechte, S. 50; LübbeWolff, Die Grundrechte als Eingriffsabwehrrechte, S. 27 - 30, sub b). 7 Lübbe-Wolff, Die Grundrechte als Eingriffsabwehrrechte, S. 26. 5
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Kap. 2: Grundrecht gegenüber der Zivilrechtsprechung
anwenders beeinflußt ist. "Geeignetheit" und "Erforderlichkeit" gehören deswegen zu diesen Kriterien, weil sie empirisch orientiert sind8. Mit empirischer Orientierung eines Kriteriums ist gemeint: Wo ein solches Kriterium gilt, ist das Urteil des Rechtsanwenders durch eine Aussage geprägt, die anhand von Tatsachen verifizierbar ist. Ein solches Urteil wird eher von allen oder signifikant vielen anderen geteilt als ein Urteil, das sich auf nichts Verifizierbares stützen kann. Wer zum Beispiel über die staatliche Maßnahme y urteilt, sie sei nicht erforderlich für die Verwirklichung des Zwecks Z, sagt damit aus, die hypothetische staatliche Maßnahme χ erreiche mit milderen Mitteln den gleichen Zweck wie die Maßnahme y. In dieser Aussage liegt wiederum die Behauptung eines konkreten Sachverhalts, die lautet: Das Individuum I erleidet aufgrund der Maßnahme X weniger Nachteile als aufgrund der Maßnahme Y. Diese Behauptung ist verifizierbar, weil der Unterschied zwischen den Nachteilen der Art η und des Umfangs nl in der Situation Y und den Nachteilen des Umfangs n2 in der Situation X ohne Wertung als ein "Mehr" oder "Weniger" wahrgenommen werden kann. Der Wahrheitsgehalt der Behauptung ist also durch Relationen von erfahrbaren Zuständen bestimmbar. Zwar können die zu vergleichenden Zustände X und Y selbst nicht sinnlich wahrgenommen werden, sondern müssen aufgrund von Wertungen prognostiziert werden. Die sich in der Prognose ausdrückende Wertung wiederum läßt sich aber auf Wahrscheinlichkeitsurteile stützen. Diese beruhen auf Erfahrungen von sinnlich Wahrnehmbarem. Wenn zum Beispiel aufgrund von Erfahrungen mit den Gesetzen A und Β feststeht, daß durch das Gesetz A, das für ein bestimmtes Verhalten Sanktionen bis 5 Jahre Freiheitsentzug vorsieht, Betroffene stärker belastet werden als durch das Gesetz B, das nur Sanktionen bis 1 Jahr Haft gestattet, dann ist die Wahrscheinlichkeit groß, daß durch das aktuell zu prüfende Gesetz X, das das Verhängen einer höheren Freiheitsstrafe gestattet als das Gesetz Y, die Adressaten stärker belastet sind als durch das Gesetz Y. Die Wahrscheinlichkeit, daß das Gesetz Y stärker belastet als das Gesetz X, ist so groß, daß das Urteil, das Gesetz Y sei milder als das Gesetz X, im selben Maß verifizierbar ist wie die Behauptung eines sinnlich wahrnehmbaren Sachverhalts. Für ein abschließendes Urteil über die Erforderlichkeit der staatlichen Maßnahme fehlt noch die Feststellung, daß die Vergleichsmaßnahme den Zweck der zu prüfenden Maßnahme ebenso gut erfüllt. Diese Feststellung kann nicht wertungsfrei erfolgen, die notwendige Prognose muß allerdings auch nicht in einer Vorhersage konkreter Geschehensabläufe bestehen: So abstrakt wie die im Normtext zum Ausdruck gekommenen Vorstellungen des Gesetzgebers vom Normziel sind, so abstrakt dürfen (und müssen aus Gründen der Kompetenzabgrenzung zwischen den staatlichen Gewalten) auch die Vorstellungen des Rechtsanwenders über die Wirkung des Gesetzes sein. Die Ungeeignetheit der 8
Schlink, EuGrZ 1984, S. 457 (460, Ii. Sp. unten/re. Sp. oben).
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hypothetischen milderen Maßnahme für die Zweckverwirklichung muß somit schon evident sein, damit sie als Vergleichsobjekt zu der zu prüfenden Maßnahme ausscheidet. Dafür läßt sich mittelbar auch das BVerfG in Anspruch nehmen: Es prüft die Geeignetheit von Gesetzen nur unter Evidenzgesichtspunkten nach9. Daraus kann man schließen, daß es ebenso großzügig im Hinblick auf die Geeignetheit hypothetischer Gesetze im Rahmen des Erforderlichkeitskriteriums prüft. Der Erforderlichkeitsprüfung vorgelagert ist die Untersuchung der staatlichen Maßnahme auf ihre Eignung, den vom Gesetzgeber definierten Zweck zu erfüllen. Was die Wertungsgebundenheit der für die Untersuchung notwendigen Geeignetheitsprognose angeht, kann auf den vorhergehenden Absatz verwiesen werden. Was über Vorhersagen über die Wirkung hypothetischer staatlicher Maßnahmen gesagt wurde, gilt natürlich mindestens im selben Umfang auch für eine Prognose über die Wirkung tatsächlich erfolgter Maßnahmen. Zwar nicht empirisch orientiert, aber dennoch wenig wertungsabhängig ist das noch vor den Verhältnismäßigkeitskriterien zu behandelnde Kriterium des Gedecktseins der staatlichen Maßnahme durch eine Rechtsgrundlage. Über das Urteil, eine Norm sei angewendet oder nicht angewendet worden, ist sehr viel leichter Einigkeit zu erzielen als über das Urteil, sie sei falsch angewendet worden10. Für die Feststellung einer Falschanwendung bedarf es der Normauslegung und der Anwendung der durch die Auslegung gewonnen Obersätze auf die zu prüfende Maßnahme. Für die Feststellung, eine Norm komme als Ermächtigungsgrundlage nicht in Betracht, bedarf es dagegen nur eines Vergleichs der Regelungsbereiche von Norm und Maßnahme. Dieser Vergleich ist weitaus weniger wertungsabhängig als eine vollständige Subsumtion. Die für den Vergleich bedeutsamen Inhalte der Regelungsbereiche erschließen sich häufig schon über die abstrakte Bedeutung der zu vergleichenden Normtexte durch den Rechtsanwender. Demgegenüber ist das Kriterium der Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne (vom BVerfG neuerdings als Kriterium der "Zumutbarkeit"11 oder wie neulich mit eingehenden Ausführungen, was den Unterschied zur Erforderlichkeit angeht, als "Übermaßverbot" 12 herausgestellt) rein normativ13. Das Urteil darüber,
9 BVerfGE 77, 84 (106); st. Rspr., zuletzt 2. Kammer des Ersten Senats, NJW 1994, 3007 (3007, sub 2.) - ZuzahlungsVO -. 10 Vgl. Lübbe-Wolff, Die Grundrechte als Eingriffsabwehrrechte, S. 112 Mitte. 11 BVerfGE 85, 248 (26Iff.) - ärztliches Werbeverbot -. 12 BVerfGE 90, 145 (185, 2. Abs.) - Cannabis -. 13 Wenn auch nicht "irrational" und aufgrund des Notwendigkeitskriteriums überflüssig, wie Pieroth, Grundrechte, Rdn. 332, 334, meint, denn bei der Erforderlichkeit geht es um das Verhältnis von Mittel und Zweck, wobei der Zweck vom Handelnden definiert wird. Bei der Verhältnismäßigkeit i. e. S. geht es um das Verhältnis der durch die
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Kap. 2: Grundrecht gegenüber der Zivilrechtsprechung
ob eine geeignete und erforderliche staatliche Maßnahme im Verhältnis zu einer damit einhergehenden Grundrechtseinbuße angemessen ist bzw. den Wesensgehalt des verkürzten Grundrechts nicht antastet14, gründet auf einer Abwägung konkreter Nachteile verschiedener Rechtssubjekte. Diese Abwägung ist zwar nicht eine, die rein dezisionistisch zu leisten ist15. Denn auch sie kann sich, insbesondere was die Folgenabwägung angeht, auf Erfahrungstatsachen stützen. Doch überragt der Anteil an Wertungen, die sich an rein subjektiven Maßstäben orientieren, den empirisch begründbaren Anteil um vieles16. Mit erfahrbarem Wissen können aber nur solche auf Wertung beruhenden Anwendungsergebnisse auf eine Stufe gestellt werden, die als evident richtig gelten. Ein Rechtsanwendungsergebnis gilt als evident richtig, wenn anzunehmen ist, daß es von einer signifikanten Vielzahl anderer Rechtsanwender ebenfalls erzielt wird. Anzunehmen ist dies, wenn dem Rechtsanwender von anderen Anwendern ebenso entschiedene Vergleichsfälle bekannt sind. Fehlen Vergleichsfälle, kann ein Indiz dafür, daß viele andere Anwender genauso urteilen, ein Evidenzempfinden des Anwenders sein. Dieses kann bei einem hohen Gewißheitsgrad über die Richtigkeit der Anwendung vorliegen. Besonders große Gewißheit kann sich in psychischen Erlebnissen des Anwenders (wie zum Beispiel Empörung17) manifestieren.
II. Nutzen für die Bestimmung der Rechtsfolge der Grundrechtsverletzung Ist der Tatbestand der Grundrechtsverletzung mit Hilfe des Eingriffsschemas festgestellt, ist die Eingriffsdogmatik auch für das Bestimmen der Rechtsfolge von Nutzen. Das hat Lübbe-Wolff ausführlich dargelegt: Wie auch immer der Staat ein Grundrecht durch sein Handeln verletzt hat, die aus der Sicht des Eingriffsopfers grundrechtsgemäße Rechtsfolge des grundrechtsverletzenden staatlichen Handelns ist eindeutig: Sie besteht in der Kassation des Akts, in dem sich
Zweckerreichung geförderten Belange zu anderen, von außen zu definierenden Belangen; hier geht es um eine "interne", dort um eine "externe" Rechtfertigung von Handeln. 14 Siehe zu den unterschiedlichen Möglichkeiten, die Notwendigkeit dieser Verhältnismäßigkeitsprüfung aus der Verfassung abzuleiten, unten, Kap. 6., Abschn. C. II. 4., 1. Abs., S. 320f. 15 So Schlink, EuGrZ 1984, S. 457 (462, Ii. Sp., 2. Abs.). 16 Das Minus an Rationalität gegenüber Geeignetheit und Erforderlichkeit wird auch bemerkt in: BVerfGE 90, 145, abw. M. Graßhof: 199 (200 unten) - Cannabis -; noch weitgehender Pieroth/Schlink, Grundrechte, Rdn. 314: „entbehrt rationaler und verbindlicher Maßstäbe"; Ossenbühl, DVB1. 1995, 904 (905, Ii. Sp. oben), sieht fließende Grenzen zwischen Scharlatanerie und hoher magischer Kunst. 17 Mit der "Empörung des Gerechten" beschreibt zutreffend Kirchhof, Festschrift Geiger 1989, S. 82 (109 Mitte) das subjektive Element des Willkür-Vorwurfs.
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das staatliche Handeln manifestiert 18. Diese Rechtsfolge ist zu ermitteln, ohne daß der Inhalt der Handlungsnorm ausgelegt und ohne daß von der Handlungsnorm überhaupt Kenntnis genommen werden müßte. Die Kassation des Handlungsakts ist eine rein formale Aufgabe des Rechts. Es verwundert nicht, daß das Recht diese Aufgabe optimal erfüllt, denn "bei der Lösung formaler Aufgaben entfaltet es seine spezifische Rationalität"19. Daß die Kassation eine rein formale Aufgabe ist, liegt daran, daß das Unterlassen zu jedem staatlichen grundrechtswidrigen Handeln das aus der Sicht des Eingriffsopfers grundrechtsgemäße definite Gegenteil ist. Es muß nicht die einzige verfassungsmäßige Alternative des Handelns sein, es ist aber eine, die in jedem Fall vorhanden ist20. Das verdeutlicht das folgende Beispiel: A wird per Bescheid aufgefordert, 1000 DM zu zahlen. Der Bescheid ist rechtswidrig, sei es, weil A nur 500 DM zahlen muß, sei es, weil es gar keine Rechtsgrundlage für den Bescheid gibt. Ein aus der Sicht des A stets vorhandenes und definites grundrechtsgemäßes Gegenteil zum Erlaß des Bescheids ist sein Nichterlaß. Der Inhalt der das Unterlassen bewirkenden Rechtsfolge kann bestimmt werden, ohne daß der Norminhalt ermittelt werden müßte: Er besteht in der Aufhebung des Bescheids. Der Begriff "grundrechtsgemäßes Gegenteil aus der Sicht des Eingriffsopfers" ist etwas genauer als Lübbe-Wolffs Begriff "definites verfassungsmäßiges Gegenteil". Eine Rechtsanwendung, die aus der Sicht einer Partei (subjektiv) grundrechtsgemäß ist, muß nicht auch in der Gesamtschau, also auf beide Parteien bezogen, das Urteil "verfassungsgemäß" verdienen. Der Unterschied offenbart sich bei der Anwendung solcher Normen, die kollidierende Interessen jeweils mit derselben Aktualität grundrechtlichen Betroffenseins abgrenzen. Zu diesen Normen gehörten beispielsweise das Zivilrecht und das Baunachbarrecht. Besteht die Anwendung einer solchen Norm in einem Eingriff in Grundrechte, ist das grundrechtsgemäße Gegenteil dazu die Kassation des Normanwendungsakts. Die Kassation muß aber nicht verfassungsgemäß sein. Das ist sie nur, wenn sie auch dem Grundrecht der Gegenpartei Rechnung trägt. Zu einer Verurteilung zur Zahlung von 100.000 DM Schmerzensgeld ist zwar die Klageabweisung, wenn 5000 DM angemessen waren, aus der Perspektive des Täters das (subjektiv) grundrechtsgemäße Gegenteil, nicht aber aus der Sicht des Opfers.
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Lübbe-Wolff Die Grundrechte als Eingriffsabwehrrechte, S. 40f. Grimm, Die Zukunft der Verfassung, S. 31 (47 Mitte). 20 Lübbe-Wolff, S. 41: "Vorausgesetzt wird nicht, daß staatliches Unterlassen generell den Anforderungen der Grundrechte genügt, sondern daß die Unterlassung jeweils bestimmter grundrechtsverletzender Handlungen sich als das in jedem Fall grundrechtsgemäße, verfassungsmäßige Gegenteil dieser grundrechtsverletzenden Handlungen darstellt (Fettdruck nicht im Original, Kursivdruck im Original). 19
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Kap. 2: Grundrecht gegenüber der Zivilrechtsprechung
B. Eingriffsdogmatik in der Grundrechtsanwendung im Zivilrecht I. Vom Staatseingriffsschema zum Eingriffsschema im weiteren Sinne 7. Übertragbarkeit des Schemas staatlicher Eingriffe nicht staatlich errichtete Freiheitshindernisse
auf
Eingriffsdognatïk kann scheinbar nur dort nützen, wo das Eindringen in grundrechtliche Schutzbereiche in staatlichen Eingriffen besteht. Die bekannteste Form des Eindringens ist der klassische staatliche Eingriff. Ein klassischer Staatseingriff ist nach herrschender Meinung eine imperative, d. h. in Befehlsform ergehende, finale und unmittelbare Verkürzung grundrechtlicher Freiheit durch den Staat21. Die beiden letztgenannten Kriterien werden allerdings nur wichtig, wenn nicht-imperatives staatliches Handeln zu beurteilen ist, denn imperatives Handeln ist stets final und wirkt (weil auf den Adressaten des Befehls einwirkend) unmittelbar (wenn auch nicht immer regelungsidentisch22) auf dessen Rechtsgüter ein23, aktualisiert somit stets eine Grundrechtsfunktion 24. Umgekehrt ist allerdings nicht jedes finale und unmittelbar wirkende Handeln auch schon imperativ25, auch schlichtes Staatshandeln kann final sein und unmittelbar wirken. Die herrschende Lehre fordert heute für das Vorliegen eines Eingriffs nicht mehr das kumulierte Vorliegen von Finalität und Unmittelbarkeit26, zum Teil verzichtet sie sogar auf alle diese Kriterien und reduziert die Eingriffsvoraussetzungen auf ein durch staatliches Tun bewirktes Unmöglichmachen oder
21 BVerwGE 90, 112 (121, 2. Abs.) - OSHO II -; Pieroth/Schlink, Grundrechte, Rdn. 274; Lerche, Übermaß und Verfassungsrecht, S. 106. 22 "Regelungsidentisch" heißt: Die Freiheit, deren Ausübung durch den Befehl geregelt werden soll, ist auch die Freiheit, die gemäß dem Befehlsinhalt verkürzt wird, wenn der Befehl mißachtet wird. Ausdruck bei Gallwas, Faktische Beeinträchtigungen im Bereich der Grundrechte, S. 12, 4. Abs. Ein Gegenbeispiel wäre die Drohung mit Zwangshaft im Falle der Weigerung, einen bestimmten Eigentumsgebrauch zu unterlassen. 23 Lübbe-Wolff, Die Grundrechte als Eingriffsabwehrrechte, S. 42 - 44; Sachs, JuS 1995, 303 (304, sub 2. b]). 24 Sachs, JuS 1995, 303 (304, sub 2., vor a]). 25 So aber wohl Lübbe-Wolff, Die Grundrechte als Eingriffsabwehrrechte, S. 43 unten. 26 In bezug auf das Eigentum verzichtet auf Finalität'. Papier, Der Staat 1972, 483 (495 oben), der eine tatsächlich bewirkte Störung genügen läßt; allgemein Gallwas, Faktische Beeinträchtigungen im Bereich der Grundrechte, S. 23, der für das Gegebensein dieses Kriteriums (hilfreich) fordert, der staatliche Befehl müsse ein exakt bestimmtes Quantum an zwangsläufiger Beeinträchtigung erkennen lassen; auf Unmittelbarkeit verzichten Bleckmann/Eckhoff DVB1. 1988, 373 (377, re. Sp., 2. Abs. ["faktischer Eingriff 1 reicht]).
B. Eingriffsdogmatik in der Grundrechtsanwendung im Zivilrecht
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Erschweren der Ausübung grundrechtlicher Freiheit 27 (im folgenden: " Verkürzen2* grundrechtlicher Freiheit" genannt)29 , mißt Imperativität nur noch Bedeutung für die Beeinträchtigungsintensität zu 3 0 oder bietet neue Kriterien (Zurechenbarkeit als Vereinigung von Kriterien der Kausalität, Intensität und Verantwortung) an 31 . Für die Rechtsprechung gilt: Auf Imperativität verzichtet sie 32 . Die Finalität staatlichen Handelns ist für sie (bei einem Mindestmaß an Wirkungsintensität 33) noch eine hinreichende Bedingung 34 , wobei das BVerwG hinsichtlich der unmittelbaren, noch nicht grundrechtsbeeinträchtigenden (Zwischen)Folgen und der sich daraus wiederum ergebenden grundrechtsbeeinträchtigenden Effekten differenziert 35. Die Finalität ist aber nicht mehr erne notwendige Bedingung des Eingriffs. Fehlende Zweckgerichtetheit staatlichen Verhaltens kann vielmehr durch Unmittelbarkeit 36 oder besondere Nachhaltigkeit 37 der von ihm ausge27
Formulierung bei Pieroth/Schlink, Grundrechte, Rdn. 274 (der selbst freilich diesbezüglich skeptisch ist); im Sinne einer Wirkungs- statt Ursachenorientiertheit auch Scherzberg, Eingriffsintensität, S. 176 unten. 28 Oder "minderndes Einwirken": Kloepfer, Grundrechte als Entstehenssicherung und Bestandsschutz, S. 22, 2. Abs., a. E. 29 Pieroth/Schlink, Grundrechte, Rdn. 274; diese Entwicklung auch gesehen von Di Fabio, JZ 1993, 689 (694, a. E.). 30 Vgl. Eckhoff, Der Grundrechtseingriff, S. 254 unten. 31 Eckhoff, Der Grundrechtseingriff, S. 270ff.; die Zurechnung hält auch Sachs, JuS 1995, 303 (305 - 307, sub IV.) für das Entscheidende. 32 BVerwGE 71, 183 (191, 1. Abs.) - Arzneimitteltransparenzliste -: Das zu überprüfende staatliche Handeln müsse nicht "obrigkeitlich" sein; BVerwGE 82, 76 (78 oben) - Transzendentale Medidation -: "schlichtes" Handeln reiche aus. 33 Bagatellgrenze: Eckhoff, Der Grundrechtseingriff, S. 231, 1. und 5. Abs., m. w. Nachw. auf S. 255 - 257, sub c). 34 BVerwGE 71, 183 (192 unten, 193 unten, 194 oben, m. w. Nachw. zur Rspr., die Subventionierung von Konkurrenten betreffend, auf S. 191 unten) - Arzneimitteltransparenzliste -: eine mittelbare Beeinträchtigung von Grundrechten müsse nach Maßgabe der jeweiligen grundrechtlichen Schutzfunktion 'final und grundrechtsspezifisch" sein, ein "bloßer Reflex" staatlicher Maßnahmen reiche nicht; BVerwGE 90, 112(121 unten) - OSHO II -: der Nachteil könne mittelbar sein, er dürfe aber nicht zufällig sein (Fettdruck nicht im Original); so auch gesehen von Eckhoff, Der Grundrechtseingriff, S. 192 m. w. Nachw.; dem BVerwG grundsätzlich zustimmend Sachs, JuS 1995, 303 (304, re. Sp. unten). 35 BVerwGE 82, 76 (79, sub bb]) - Transzendentale Medidation - : die unmittelbaren Auswirkungen auf das Verhalten Dritter müssen beabsichtigt, die daraus entstehenden Folgen für die Grundrechte müssen vorhersehbar und in Kauf genommen sein (Fettdruck nicht im Original). 36 Was den enteignungsgleichen Eingriff angeht, ist für den BGH die Unmittelbarkeit das Zurechnungskriterium schlechthin: zuletzt BGHZ 125, 19 (21 Mitte) - Überschwemmungsschaden -; skeptisch dagegen Eckhoff, Der Grundrechtseingriff, S. 211213 m. w. Nachw., 231, 2. Abs., der meint, die Untauglichkeit der Unmittelbarkeit als Eingriffskriterium sei mittlerweile erwiesen; wie Eckhoff Sachs, JuS 1995, 303 (303, re. Sp. unten/304, re. Sp. oben).
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Kap. 2: Grundrecht gegenüber der Zivilrechtsprechung
henden Beeinträchtigung kompensiert werden. Die Unmittelbarkeit selbst wiederum ist —jedenfalls für das BVerwG 3 8 — keine notwendige Voraussetzung für einen Eingriff, sondern durch ein Mehr an Intensität ersetzbar 39. Was die Judikatur des BVerfG zu Beeinträchtigungen der Berufsfreiheit angeht, ist nicht klar, ob es ihm mit dem Erfordernis "objektiv berufsregelnder Tendenz" in erster Linie darauf ankommt, generell weniger Finalität im Sinne "objektivierter Absicht" 40 zu verlangen 41, oder ob es darauf abzielt, für fehlende Unmittelbarkeit einen Ausgleich durch ein gewisses Maß an Finalität 42 zu schaffen 43. Das BVerfG legt sogar weder Wert auf Finalität noch auf Unmittelbarkeit, 37
BVerwGE 71, 183 (191) - Arzneimitteltransparenzliste- : "unerträglich, unzumutbar"; 82, 76 (79, sub bb]) - Transzendentale Medidation -; 87, 37 (43 unten) - Glykolliste -: besondere Schwere; BVerwG, NJW 1996, 3161 (3161, re. Sp.) - Warentest -: nachhaltige Beeinflussung der Wettbewerbsposition. 38 Siehe zur Bedeutung der Unmittelbarkeit für den BGH oben Fußn. 36; zwar fordert auch der BGH, der enteignungsgleiche oder enteignende Eingriff müsse ein Sonderopfer bedeuten und daher zusätzlich noch nach Art, Dauer und Intensität unzumutbar sein (BGHZ 57, 359 [365, unt. Drittel] - Frankfurter U-Bahn - und BGHZ 105, 15 [21 unten] - Denkmalschutz -, den enteignenden Eingriff betreffend; BGHZ 125, 19 [21 Mitte] - Überschwemmungsschaden -, den enteignungsgleichen Eingriff betreffend; die Zumutbarkeitskriterien des BGH können hier jedoch vernachlässigt werden, weil sie eigentumsgrundrechtsspezifisch sind, denn der BGH fordert das Sonderopfer nur, weil seiner Ansicht nach das staatliche Handeln an Art und Intensität dem enteignungsrechtlich relevanten Eingriff gleichgesetzt werden können muß: BGHZ 122, 76 (78, 1. Hälfte) - Fluglärm -; man darf allerdings fragen, ob nicht auch die Unmittelbarkeit für den BGH ein eigentumsgrundrechtsspezifische Eingriffsvoraussetzung (Sonderopferkriterium) ist, denn einen Anspruch aus Aufopferung bejaht der BGH auch bei fehlender Unmittelbarkeit: BGH, NJW 1971, 1881 (1883, Ii. Sp, 2. Abs.) - Verletzung durch Insassen einer Nervenklinik -: die "adäquate Verursachung" reiche aus. 39 BVerwGE 50, 282 (287, 2. u. 3. Abs, 288, 1. Abs.) - rechtswidrige Baugenehmigung für Nachbarn -; BVerwGE 71, 183 (191, sub 3, 1. Abs.) - Arzneimitteltransparenzliste - kann man sogar so verstehen, daß auf Unmittelbarkeit ganz verzichtet werden kann. 40 So interpretiert Eckhoff, Der Grundrechtseingriff, S. 188 - 190 die BVerfGRechtsprechung, etwa (auf S. 189) BVerfGE 18, 97 (107 oben) - Zusammenveranlagung Eltern und Kinder -: nicht die Intention des Gesetzgebers, sondern der "wesentliche Inhalt" des Gesetzes bestimme, "was gewollt" sei; vgl. auch BVerwGE 90, 112(121 oben) - OSHO II -: der Nachteil müsse nicht beabsichtigt sein; es genüge, wenn er ein "zwangsläufig sicheres Ergebnis", wenn er also die "Kehrseite des mit der Maßnahme erstrebten Zustandes" sei. 41 Darauf deuten die Worte "ohne berufsregelnde Zielrichtung" (BVerfGE 61, 291 [308, vor 2.] - Verbot der Verwertung geschützter Vögel durch Tierpräparator -) hin. 42 Die Maßnahme müsse "nicht unmittelbar die berufliche Betätigung" zum Gegenstand haben, sondern geeignet sein, die Berufsfreiheit "mittelbar zu beeinträchtigen (BVerfGE 13, 181 [185 unten/186, 1. Abs.] - Schankerlaubnissteuer -, sie müsse aber (wegen der fehlenden Unmittelbarkeit?) objektiv berufsregelnde Tendenz haben (186, 2. Abs.); nach der "Intention" des Gesetzgebers müsse der Entschluß zur Wahl oder zur Ausübung eines Berufes motivierend gesteuert werden oder er müsse "objektiv" eine solch "berufspolitische Wirkung" haben (BVerfGE 37, 1 [18]). 43 Letzteres nimmt Rüssel, JA 1998, 406 (409, Ii. Sp.), an.
B. Eingriffsdogmatik in der Grundrechtsanwendung im Zivilrecht
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wenn die vom staatlichen Verhalten zu erwartenden Folgen für Grundrechtsgüter schwer genug sind44. Statt dessen verwendet es in diesem Fall offenbar die von Eckhoff und Sachs45 jetzt vorgeschlagenen Zurechenbarkeitskriterien 46. Es soll hier offen bleiben, welche Eigenschaften staatlichen Handelns ein Eingriff notwendig haben muß und welche von ihnen schon für sich genommen ausreichen, damit das Vorliegen eines Eingriffs bejaht werden kann. Denn das, was der Eingriffsdogmatik ihre rationalisierende Wirkung auf die Grundrechtsanwendung verleiht, nämlich das Eingriffsschema, ist jedenfalls schon überall dort hilfreich, wo Grundrechte Freiheit negatorisch wirkend verbürgen. Freiheit im negativen Sinne47 ist aber nicht nur durch staatliche Eingriffe oder sonstiges staatliches Handeln, sondern durch für Freiheit nachteilige Ereignisse jeder Ursache und Wirkung bedroht, solange nur der Wirkung das Attribut "mindernd" zugeschrieben werden kann. Als Freiheitshindernis im Sinne der dreistelligen Relation, mit welcher der Inhalt negativer Freiheit bestimmt wird ("Freiheitsträger - Freiheitsgegenstand - Freiheitshindernis" 48), kommt nicht nur staatliches, sondern auch privates Handeln in Betracht49. Das steht nicht im Widerspruch zu der Aussage50, das Eingriffsschema gehöre zum liberalen Grundrechtskonzept. Im bürgerlich-liberalen Sozialmodell hatte durchaus nicht nur staatliches, sondern auch privates Handeln als Bedrohung der Gesellschaftsordnung seinen Platz. Mit dem Funktionswandel des Staates wurden nicht die von seinen Bürgern drohenden Gefahren erst entdeckt, vielmehr kam es lediglich zu einer Neuorientierung der Gefahrenabwehr 51. Es wurde deutlich, daß von seiten nicht-staatlicher Rechtssubjekte nicht nur punktuell auftretende Gefahren drohten, gegen die der Staat mit einzelfallbezogenen Normen repressiv schützen konnte52, sondern daß die Freiheit durch Prozesse bedroht war, deren Auswirkungen nur durch staatliche Vorsorge zu begegnen war 53. Auch ein Schema, das dem liberalen Grundrechtsverständnis korrespondiert, sollte daher nicht nur staatliches Handeln, sondern Geschehen aller Art erfassen, die einen Grundrechtsverkürzungseffekt haben, sofern dieser nur die für schutzauslösende staat44
BVerfGE 66, 39 (59, sub b] - 60, 1. Abs.) - Nato-Nachrüstung -. Siehe zu beiden oben Fußn. 31. 46 BVerfGE 66, 39 (59 Mitte). 47 "Negative Freiheit" als Freiheit von der Einwirkung anderer im Unterschied zur positiven Freiheit zu Handlungen: Schapp, AcP 192 (1992), 355 (359, sub II. 1.). 48 Relation dargestellt bei: Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 200 unten. 49 So auch Schapp, AcP 192 (1992), 355 (379 Mitte), der die negative Freiheit als ein auch im Zivilrecht taugliches Abgrenzungskriterium betrachtet. 50 Statt vieler Lübbe-Wolff, Die Grundrechte als Eingriffsabwehrrechte, S. 14, sub 1. 51 Grimm, KritV 1986, 39, (39, 2. Abs.). 52 Grimm, KritV 1986, 39 (39, 1. Abs.); ders., in: Wachsende Staatsaufgaben, S. 291 (295 unten). 53 Grimm, KritV 1986, 39 (39, 2. Abs.). 45
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Kap. 2: Grundrecht gegenüber der Zivilrechtsprechung
liehe Grundrechtsbeeinträchtigungen anerkannten Bagatellgrenzen überschreitet54.
2. Ereignishafte
Freiheitsbeeinträchtigung
als Auslöser von Grundrechtsschutz
Ein Schema, das den Grundgedanken des Eingriffsschemas auch in bezug auf nicht staatlicherseits bewirkte Grundrechtsverkürzungen verwirklichen kann, ist auf Effekte angewiesen, die denen staatlicher Eingriffe gleichen. Solche Effekte sind allen Gegenständen von Grundrechtsprüfungen gemein, die nicht nur einfach in einem Zustand oder in einer beliebigen Zustandsveränderung, sondern in ereignishaften Zustandsveränderungen bestehen55. Zwar sind gemäß dem — auch die Rechtsordnung prägenden56 — ethischen Grundsatz des Trägheitsprinzips Zustandsveränderungen jeder Art prinzipiell rechtfertigungsbedürftiger als Zustandserhaltungen57. Doch sind nicht ereignishafte Zustandsveränderungen (etwa schleichende Verarmung, Erkrankung) nicht in einer Weise erfaßbar, die eine Übertragung des Eingriffsschemas ermöglicht. Der erfaßbare Ausschnitt der Zustandsveränderung ist in der Regel nur der Endzustand. An den Veränderungsprozeß selbst lassen sich eingriffschematische Prüfungen nicht anknüpfen. Deshalb ist es auch richtig, Leistungspflichten im engeren Sinne als endzustandsorientierte, also letztlich Verbesserungsçûichteri, von den auf Negation von YTQÌhQìtsminderung fixierten Pflichten zu trennen, indem nur letztere als Schutzpflichten bezeichnet werden58. Daraus folgt: Nicht jede beliebige Zustandsveränderung, sondern erst eine ereignishafte macht den eingriffswirkungsgleichen Effekt aus. Ein Ereignis ist eine Zustandsveränderung, die in Form eines zeitlich-räumlich abgrenzbaren Geschehens stattfindet und der bestimmte, gegenständlich erfaßbare Folgewirkungen zugerechnet werden können. Ein Bedürfiiis dafür, Ereignisse von anderen Geschehen abzugrenzen, bestand bisher beispielsweise im Unfallversicherungsrecht. Dort gilt es etwa, eine Infektion an einem bestimmten Zeitpunkt festzumachen, weil sie andernfalls kein
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Auf den Effekt stellen beispielsweise auch ab Lerche, HStR V, § 121, Rdn. 50: "eingriffsnah"; Rdn. 50, S. 770: die Verfassung müsse gleiche Effekte zur Kenntnis nehmen; Häberle, VVDStRL 30 (1972), 44 (86, freilich nur in bezug auf den Staat) dem Eingriff faktisch nahekommende Maßnahmen müßte mitumfaßt werden. 55 Den Unterschied ahnt auch Dürig, in Maunz/Dürig/Herzog, Art. 1 Abs. 1 GG, Rdn. 3, der feststellt, auch Schutz sei auf Abwehr, nicht auf positive Gestaltung gerichtet. 56 Riggert, Selbstbindung der Rechtsprechung, S. 71, 2. Abs. 57 Ausdruck "Trägheitsprinzip" und Aussage bei Perelmann, ZFPF 1966, 210 (218, letzt. Abs. unten/219, 1. Hälfte) in bezug auf das Behalten und Anzweifeln von bestehenden Meinungen und Handlungweisen: das "Zurückgreifen auf Präzedenzfälle" sei ein Fundament des geistigen und sozialen Lebens. 58 So auch Robbers, Sicherheit als Menschenrecht, S. 126.
B. Eingriffsdogmatik in der Grundrechtsanwendung im Zivilrecht
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Unfall, sondern eine (zeitlich schwerer fixierbare) Krankheit ist59. Plötzlichkeit60, zeitliche Begrenzung und die Eigenschaft, als wesentliche Teilursache einer bestimmten wahrnehmbaren Wirkung in Betracht zu kommen61, sind Kriterien, die in diesem Zusammenhang richtigerweise genannt werden. § 8 Abs. 1 Satz 2 SGB VII enthält eine Definition des Unfalls, welche die vorgenannten Kriterien teilweise aufiiimmt. Gleiches gilt für § 1 Abs. 3 AUB 198862 Was die grundrechtliche Thematik angeht, soll als Ereignis nicht nur die Manifestation von Zustandsveränderung in wahrnehmbaren Geschehen (Körperbewegungen, Substanzminderungen, und -änderungen) gelten. Vielmehr soll schon der bloße Willensentschluß unter den Begriff des Ereignisses fallen, wenn er in Abwandlung der gerade gegebenen Ereignisdefinition eine wesentliche Teilbedingung dafür ist, daß eine Zustandsveränderung wahrnehmbar wirken kann. Auf diese Weise läßt sich auch ein Unterlassen unter bestimmten Voraussetzungen in ein Schema zur Abwendung ereignishafler Freiheitsbeeinträchtigungen pressen: Verhindert ein Rechtssubjekt nicht, daß sich ein Zustand verändert oder eine Zustandsveränderung weiter fortschreitet, und hätte dieses Rechtssubjekt die Möglichkeit der Verhinderung und ist es sich dieser Möglichkeit auch bewußt, ist sein Entschluß, nichts zu tun, eine wesentliche Teilbedingung dafür, daß die Zustandsveränderung als wahrnehmbares Geschehen ihren Lauf nimmt. Der Entschluß des Rechtssubjekts ist in diesem Fall ein Ereignis, obwohl es nicht selbst aktiv etwas verändert. Ob die Zustandsveränderung dem Rechtssubjekt auch zurechenbar ist, ist eine andere Frage und hängt davon ab, ob der fehlende Kausalzusammenhang im naturwissenschaftlichen Sinn (Nichtstun bewegt nichts) durch eine normative Zurechnung (Pflicht zum Verhindern der Zustandsveränderung) ersetzt werden kann. Ein Ereignis ist aber erst dann grundrechtsverkürzend, wenn seine Wirkung grundrechtlich garantierte Chancen von Freiheitsausübung reduziert. Wie das im Öffentlichen Recht verwendete (Staats)Eingriffsschema im engeren Sinn so zieht auch seine Fortentwicklung, ein sich von der verfassungsrechtlichen Terminologie lösendes Schema für die Abwendung grundrechtsbeeinträchtigender Ereignisse (im folgenden: Eingriffsschema im weiteren Sinne), ihren Nutzen aus einer Nichtidentität von grundrechtlichem Schutzbereich und grundrechtlichem effektivem Garantiebereich. Es ist aber umfassender, weil es nicht nur staatliches Handeln, sondern Ereignisse jeder Art erfaßt, sofern sie nur so beeinträch59
Einmaliger Bazillenfall als Unfall gegenüber dem sich in einem längeren Zeitraum abspielenden Bazillenbefall als Krankheit ohne Unfallursache: BSG, EzS (Entscheidungssammlung für Sozialversicherungsrecht), Gruppe 40, Nr. 68. 60 Brock, HzS, Gruppe 4, Rdn. 1146; siehe bezüglich der Abgrenzung zur Krankheit auch Eichberger, JuS 1996, 1078 (1079, Ii. Sp. unten). 61 BSG, NJW 1958, 1206, re. Sp. 62 VerBAV (Veröffentlichungen des Bundesaufsichtsamts für das Versicherungswesen) 1987, 418; 1988, 4; 1991, 272.
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Kap. 2: Grundrecht gegenüber der Zivilrechtsprechung
tigen wie staatliches Eindringen in den grundrechtlichen Schutzbereich. Auch privates Unterlassen, das im gerade63 genannten Sinn ereignishaft ist, kann so Schutzpflichten auslösen: Ist das Nichtstun Gegenstand eines Entschlusses und ist es eine wesentliche Teilursache für ein grundrechtsverkürzendes Ereignis, ist es selbst ein grundrechtsverkürzendes Ereignis, sofern das Folgeereignis dem Unterlassenden zugerechnet werden kann. Es kann dann grundrechtliche Schutzpflichten auslösen, insbesondere die staatliche Pflicht, unterlassene Hilfeleistung dadurch zu ahnden64, daß das erste grundrechtsverkürzende Ereignis, also der Entschluß zum Nichtstun, sanktioniert wird. Würde man jedes grundrechtlich relevante Geschehen, das zeitlich-räumlich derart von anderen Geschehen abgrenzbar ist, daß es als ereignishaft bezeichnet werden kann, schon als grundrechtsschutzauslösend ansehen, träten Probleme der Unterscheidung zwischen abwehrpflichtigen Beeinträchtigungen und vom Grundrechtsträger hinzunehmenden Belästigungen auf 65. Daher sollten das Kriterium der Wirkungsintensität auch für die Bestimmung des Ereignisbegriffs fruchtbar gemacht werden.
II. Nutzen eines weiterentwickelten Eingriffsschemas für die Grundrechtsanwendung im Zivilrecht 1. Nutzen für die Bestimmung des Tatbestands der Grundrechtsverletzung a) Anwendbarkeit von Verhältnismäßigkeitsregeln der Eingriffsdogmatik Bisher steht erst fest, daß ein weiterentwickeltes Eingriffsschema zu grundrechtsverkürzenden Ereignisse aller Art "paßt". Zu klären ist nun, ob sich auch die Regeln der auf staatliche Eingriffe bezogenen Eingriffsdogmatik (Eingriffsunterlassungsregeln) unter Beibehaltung ihrer Nützlichkeit auch zu Regeln für die Abwendung ereignishafter Freiheitsbeeinträchtigungen ("Eingriffsabwehrregeln" im weiteren Sinne) umformen lassen. Gelänge dies, ließe sich die grundrechtliche Prüfung jeder Art von Normanwendung, die auf Ereignisse bezogen ist, genauso gut rationalisieren wie solche Normanwendung, die eine staatlicherseits bewirkte Grundrechtsverkürzung bedeutet66. Von den oben besprochenen Eingriffsunterlassungsregeln soll zunächst die Prüfung staatlichen
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Siehe den vorgehenden Abs, S. 59f. Den grundrechtlichen Hintergrund von § 323 c StGB hat schon Harnel, Die Bedeutung der Grundrechte im sozialen Rechtsstaat, S. 38, beleuchtet. 65 Zu dieser Grenze Eckhoff Der Grundrechtseingriff, S. 257 unten; Kloepfer, BVerfG und GG, Bd. II, S. 405 (415); Pieroth/Schlink, Grundrechte, Rdn. 278, 283, 288. 64
B. Eingriffsdogmatik in der Grundrechtsanwendung im Zivilrecht
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Handelns am Maßstab von Geeignetheit und Erforderlichkeit auf ihre Nützlichkeit für die dogmatische Bewältigung von Nicht-Eingriffsfällen hin untersucht werden: Geschieht ein grundrechtsverkürzendes Ereignis, das nicht der Staat verursacht hat, ist die Frage, ob der Staat das Herbeiführen dieses Ereignisses als für seine Zwecke geeignet und notwendig rechtfertigen kann, sinnlos. Er hat es ja nicht herbeigeführt. Sinnvoller wäre die Frage, ob der Staat die Entscheidung, auf dieses Ereignis in einer bestimmten Weise zu reagieren (schützendes Tun oder Unterlassen), rechtfertigen kann. Die weitergehende Frage, ob die Reaktion insbesondere unter dem Gesichtspunkt der Verhältnismäßigkeit gerechtfertigt ist, geht allerdings wieder ins Leere. Denn die Prüfung der Zweckgeeignetheit der staatlichen Entscheidung und die Suche nach einer milderen Entscheidung sind hier nicht sinnvoll, weil die Ansatzpunkte für die Zweck-MittelRelation fehlen, welche die Verhältnismäßigkeitsprüfung prägt: Bei der Prüfung staatlicher Grundrechtsverkürzung im klassischen Eingriffsbereich sind der vom Staat verfolgte Gesetzeszweck einerseits und die andererseits bestehende staatliche Pflicht, das für die Zweckerfüllung in Anspruch genommene Grundrecht des Eingriffsopfers weitmöglichst zu schonen, zwei miteinander in Konflikt stehende Ziele. Der staatliche Eingriff stellt eine Art Verbindung beider Ziele dar. Der Rechtsanwender kann die grundrechtliche Prüfung des Eingriffs abschließen, wenn er eine einzige Eingriffsalternative ausmacht, die beide Ziele grundrechtsschonender verbindet. Ihm obliegt es nicht, genau die Alternative ausfindig zu machen, die beide Zwecke ideal verwirklicht. Bei der Prüfung, ob sich der Staat zu einer nicht-staatlichen Grundrechtsverkürzung grundrechtsgemäß verhält, fehlt diese Konstellation. Das Ziel, den Zweck des vor den Ereignisfolgen schützenden Gesetzes zu erfüllen, und das Ziel, das Grundrecht des vom Ereignis Betroffenen möglichst gut zu verwirklichen, stehen nicht miteinander in Konflikt. Die Reaktion des Staates auf das Ereignis verwirklicht entweder beide Ziele gleich gut oder gleich schlecht. Das Grundrecht ist kein Hindernis für die Normzweckverfolgung, sondern es füllt den Normzweck aus. Entscheidet sich der Staat gegen das Grundrecht, tut er dies nicht, weil er den Normzweck verfolgen will, sondern weil er einen anderen als den Normzweck (zum Beispiel: Schutz des Angreifer-Grundrechts) als vorrangig ansieht. Die Suche des Rechtsanwenders nach einer AlternativReaktion des Staates, die das Ziel der Normzweckverwirklichung genauso gut,
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Die Kategorien "Eingriff', "Abwehr", "Schranke" will, ohne dies allerdings näher auszuführen, auch Schlink, EuGrZ 1984, 457 (464, Ii. Sp., 3. Abs.) auf die rechtliche Einordnung des Handelns von Privatrechtssubjekten übertragen.
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Kap. 2: Grundrecht gegenüber der Zivilrechtsprechung
das Ziel Grundrechtsschutz aber besser verwirklicht, wäre also sinnlos. Somit muß der Rechtsanwender, wenn er eine grundrechtsfreundlichere Alternative zur Reaktion des Staates auf das Ereignis sucht, zunächst den staatlichen Zweck durch Normauslegung definieren. Dann hat er auch gleichzeitig den Umfang des Schutzgrundrechts bestimmt. Damit fällt die Möglichkeit einer relativen Inhaltsbestimmung des Grundrechts fort. Im Eingriffsfall hat der Rechtsanwender dagegen bereits im Rahmen der Geeignetheitsuntersuchung den Gesetzeszweck bestimmt und sich dabei (mit seltenen Ausnahmen) darauf verlassen können, daß die zu prüfende Maßnahme tatsächlich zweckdienlich war. Für den Vergleich von tatsächlich erfolgter und hypothetischer Maßnahme im Rahmen der Erforderlichkeitsprüfung hat er somit für die in eine Relation zu bringenden Erfahrungssätze (Elemente des 1. Erfahrungssatzes: tatsächliche Maßnahme - Normzwecktauglichkeit - Grundrechtswahrung; Elemente des 2. Erfahrungssatzes: hypothetische Maßnahme - Normzwecktauglichkeit - Grundrechtswahrung) eine in beiden Sätzen konstante Größe: die Normzwecktauglichkeit. Er braucht nur noch die Grundrechtsfreundlichkeit der zu vergleichenden unterschiedlichen Mittel zu vergleichen, dann hat er die nötige Information, um eine der beiden Maßnahmen vorzuziehen. Für eine grundrechtswahrende Entscheidung ist er also nicht darauf angewiesen, das absolut grundrechtsfreundlichste Mittel, sondern nur, ein relativ grundrechtsfreundlicheres Mittel zu finden. Dagegen ist einem Grundrecht, das durch ein nicht vom Staat verursachtes Ereignis verkürzt wurde, nicht schon damit gedient, daß der Rechtsanwender ein hypothetisches staatliches Verhalten ausfindig macht, das das betroffene Grundrecht relativ besser schützt als das tatsächlich an den Tag gelegte staatliche Verhalten. Er muß vielmehr das eine wirksam schützende Verhalten des Staates entdecken. Das kann er aber nur, wenn er die Schutznorm auslegt. Die Normauslegung hat hier nicht den Zweck, dem Rechtsanwender in Gestalt des Normzwecks eine Konstante für Relationen zu verschaffen, die ihm die Bestimmung dessen erleichtern, was grundrechtsgemäß ist. Vielmehr ist der Normzweck selbst schon das, was grundrechtsgemäß ist. Es gibt also keine miteinander in Relation zu bringenden Erfahrungssätze, sondern nur einen einzigen Satz, der eine Unbekannte mit dem Namen "wirksamer Grundrechtsschutz" hat, die der Rechtsanwender bestimmen muß. Der Normzweck könnte denknotwendig gar nicht die Funktion der Konstante einer Relation erfüllen, weil er mit dieser Unbekannten identisch ist. Der Rechtsanwender kann also den Inhalt dessen, was grundrechtsgemäß wäre, nicht relativ bestimmen, sondern nur absolut (durch Auslegung der Schutznorm). Fazit: Die rationalisierenden Elemente der Verhältnismäßigkeitsprüfung (Geeignetheit und Notwendigkeit des zu prüfenden Handelns) können nicht in die Prüfung staatlichen Verhaltens zu grundrechtsverkürzenden Ereignissen integriert werden, die der Staat selbst nicht herbeigeführt hat. Das liegt daran, daß
B. Eingriffsdogmatik in der Grundrechtsanwendung im Zivilrecht
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sich keine Relation bilden läßt, auf der die Erforderlichkeitsprüfung gründen könnte.
b) Auswirkung auf die Rationalisierbarkeit der Grundrechtsprüfung Wie gerade gesehen, läßt sich die Verhältnismäßigkeitsprüfung nicht einfach auf jedes staatliche Verhalten zu grundrechtsverkürzenden Ereignissen übertragen. Damit steht jedoch noch nicht fest, daß sich die Prüfung dieses staatlichen Verhaltens nicht ebenso oder ähnlich gut rationalisieren läßt wie die Prüfung von Eingriffsfällen. Der Wegfall von Relationsmöglichkeiten bedeutet noch nicht die Dominanz rein normativer Kriterien bei der Fallbearbeitung. Eine Vorhersage, welches staatliche Verhalten wirksam genug ist, damit es den Effekt eines grundrechtsverkürzenden Ereignisses neutralisiert, kann sich auf Erfahrungen mit vergangenen Ereignissen stützen. Die empirische Orientiertheit des Wirksamkeitskriteriums ist mit der des Geeignetheitskriteriums der Eingriffsprüfung vergleichbar, solange feststeht, daß der Staat die als wirksam erachtete Maßnahme unter dem Gesichtspunkt kollidierender Grundrechtspflichten auch ergreifen darf. Sowohl im Eingriffsfall wie auch im Fall der nicht staatlich verursachten ereignishaften Freiheitsbeeinträchtigung ist nämlich nur abzuschätzen, ob staatliches Handeln ein normativ vorgegebenes Ziel erreicht. Das Ziel ist im Fall des Wirksamkeitskriterium sogar genauer erfaßbar, weil eine ereignishafte Freiheitsbeeinträchtigung einen konkreteren und deutlicheren Ausschnitt aus der Wirklichkeit darstellt als ein abstrakt definierter Zustand, zumal wenn das prüfungsgegenständliche Ereignis bereits geschehen ist. So wird die Prognose, ob ein Gesetz, das zum Beispiel Heilmittelwerbung beschränkt, den abstrakten Zweck besseren Gesundheitsschutzes erreicht, wertungsabhängiger sein als die Suche nach einer staatlichen Maßnahme, die wirksam die Wirkung eines konkreten Ereignisses, zum Beispiel einer Lärmimmission, Körperverletzung oder Naturkatastrophe beseitigt oder einen wirkungsbedingten Schaden ersetzt. Andererseits kommt der Geeignetheitsprüfung im Eingriffsfall zugute, daß der Rechtsanwender den Zweck, den das staatliche Handeln verfolgt, zwar nur abstrakt definieren kann, ihn aber auch nur abstrakt definieren muß. Für die Feststellung der Geeignetheit reicht es meist, wenn die Richtung des staatlichen Handelns die des Gesetzes ist. Die zu erbringende Subsumtionsleistung der Kontrollinstanz ist in etwa mit der vergleichbar, die gemäß dem oben67 zum Eingriff Gesagten zu erbringen ist, wenn die Deckung staatlichen Handelns durch eine gesetzliche Grundlage zu prüfen ist. Sobald Streit darüber besteht, ob der Staat überhaupt mit der wirksamsten Maßnahme das betroffene Grundrecht schützen darf oder ob er es überhaupt ir7
S. o. Abschn. Α. I., S. 5 .
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Kap. 2: Grundrecht gegenüber der Zivilrechtsprechung
gendwie schützen muß, hat die Wirksamkeitsprüfung kein vorgegebenes ereignisbezogenes Ziel mehr. Denn es ist dann ja erst zu prüfen, ob die Abwehr des Ereignisses überhaupt normativ gesollt ist. Für ein richtiges Urteil darüber, ob das staatliche Verhalten zu dem grundrechtsverkürzendes Ereignis das Grundrecht des Betroffenen verletzt, kann der Rechtsanwender allerdings, wie der folgende Absatz zeigen wird, unter Umständen empirisch orientierte Prüfungskriterien heranziehen. Streit über den grundrechtsverletzenden Charakter staatlicher Reaktionen auf grundrechtsverkürzende Ereignisse gibt es dann, wenn der Verursacher des Ereignisses ein Grundrechtsträger ist. Eine solche ereignishafte, von Privaten ausgehende Freiheitsbeeinträchtigung soll im folgenden stets "Privateingriff' oder "Eingriff Privater" 6* genannt werden, wobei hinzunehmen ist, daß der durch das Verfassungsrecht für den Eingriffsbegriff gesetzte enge Rahmen verlassen wird 69. Als alternative Begriffsneuschöpfung kommt der "Übergriff 1 in Betracht. Er steht jedoch auch für ein von der Psychologie behandeltes Phänomen und wäre aufgrund der dementsprechenden Assoziationen nicht weniger gewöhnungsbedürftig. Im Unterschied zum allgemeinen Sprachgebrauch, in dem das Wort "Eingriff' mit dem Makel der Unrechtmäßigkeit belastetet ist 70 , soll die als "Privateingriff ' bezeichnete Freiheitseinbuße hier auch nicht schon als zum Schutz verpflichtend, also als ein das Grundrecht verletzendes, sondern nur als ein dieses Grundrecht beeinträchtigendes Verhalten gelten. Der Privateingriff soll also als sprachliches, privatrechtliches Pendant zum Begriff des staatlichen Eingriffs verwendet werden. Wo es auf seine Abgrenzung zum Privateingriff ankommt, soll der vom Staat herrührende Eingriff "Staatseingriff ' oder "staatlicher Eingriff ' genannt werden. Der Begriff des Eingriffs wird dann im weiteren Sinne als Oberbegriff für von Menschen herrührende grundrechtsverkürzende Ereignisse, also staatliche und private Eingriffe, gebraucht. Kann eine wirksame Schutzmaßnahme gegenüber einem menschlichen Angreifer ausfindig gemacht werden, muß das Nichtergreifen der Maßnahme noch nicht als grundrechtsverletzende Reaktion des Staates bewertet werden. Die grundrechtliche Beurteilung erfordert vielmehr eine Abwägung der Grundrechte von Angreifer und Opfer. Das Grundrecht des Angreifers kann das Ergreifen 68
So die Wortwahl bei: Bleckmann, DVB1. 1988, 938 (943, re. Sp. oben); Canaris, AcP 185 (1985), 9 (11); Hager, JZ 1994, S. 373 (378, sub III., Überschrift 1.); Hillgruber, Der Schutz des Menschen vor sich selbst, S. 79, a. E.; Isensee, NJW 1986, 1645 (1646, li. Sp, sub 2.); Kloepfer, Grundrechte als Entstehenssicherung und Bestandsschutz, S. 22 Mitte; Jarras, NJW 1989, 862, Ii. Sp, 2. Abs.; Pietzcker, Festschrift Dürig, S. 345 (357 Mitte); Schwabe, Die sogenannte Drittwirkung der Grundrechte, S. 13, setzt diesen Begriff in Anführungsstriche. 69 Deswegen kritisch zu diesem Ausdruck ("terminologischer Mißgriff') Eckhoff, Der Grundrechtseingriff, S. 290 unten. 70 Vgl. Lübbe-Wolff, Die Grundrechte als Eingriffsabwehrrechte, S. 66, Zeile 3.
B. Eingriffsdogmatik in der Grundrechtsanwendung im Zivilrecht
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der wirksamsten Schutzmaßnahme verbieten. Es steht sogar jeder staatlichen Schutztätigkeit im Wege, wenn das Grundrecht des Angreifers diesen zum Privateingriff berechtigte. Der Ausgleich zwischen den Grundrechtspositionen kann genauso von der ausschließlichen Anwendung rein normativer Kriterien abhängig sein, wie dies oben für die Prüfung der Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne in Eingriffsfällen festgestellt wurde71. Das muß freilich nicht so sein: Stellt sich heraus, daß ein Angreifer gegenüber dem Opfer seine Freiheit in einer Weise ausgeübt hat, die zur Verfolgung eigener Interessen nicht notwendig war, ist damit klar, daß der Privateingriff unverhältnismäßig und damit rechtswidrig war. Dann ist auch klar, daß totale Verweigerung von Privateingriffsabwehrschutz das staatliche Verhalten grundrechtsverletzend macht. Allerdings kommt der Fall, daß jemand sein privates Interesse genauso gut mit milderen Mitteln durchsetzen könnte, im Vergleich mit den Fällen nicht erforderlichen staatlichen Handelns sehr selten vor. Denn vom Einzelnen werden eben nicht in dem Maße das Wohl aller einschließende Erwägungen verlangt, wie vom gemeinwohlorientierten Staat. Andererseits macht gerade die Privatheit des Interesses seine eingriffsweise Durchsetzung gegenüber anderen Privatinteressen in der Regel weniger schutzwürdig als es die Durchsetzung des öffentlichen Interesses ist. Auch kann der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz nur dann aus der Sicht des Opfer-Grundrechts eine Rolle spielen, wenn der Staat seine Entscheidung damit rechtfertigt, der Privateingriff sei erlaubt. Hält er nämlich den Privateingriff für rechtswidrig, weigert sich aber, die beantragten Schutzmittel zu verwenden, nützen Verhältnismäßigkeitserwägungen dem Grundrecht des Opfers nichts. Doch immerhin zeigt dieser Fall, daß Verhältnismäßigkeitsregeln bei der grundrechtlichen Prüfung staatlichen Verhaltens gegenüber nicht-staatlicher Grundrechtsverkürzung inzident anwendbar sein können. Auch eine weitere Regel der Eingriffsdogmatik bleibt für das Gebiet des Privateingriffsabwehrschutzes nützlich: der Rechtfertigungszwang für Eindringen in den Schutzbereich. Auch Privateingriffe sind, wenn sie mit gewisser Intensität in den grundrechtlichen Schutzbereich des Opfers erfolgen (Gewalt), rechtfertigungsbedürftig. Die Behauptung, die Frage nach der Legitimität eines privaten Zwecks sei großzügiger zu beantworten als die nach der Legitimität eines öffentlichen Zwecks72, entspringt somit einer einseitigen Sichtweise. Als Zwischenergebnis ist an dieser Stelle festzuhalten: Zwar können wegen mangelnder Ansätze für eine relative Bestimmung des Grundrechtsinhalts die rationalisierenden Elemente der Verhältnismäßigkeitsprüfung (Geeignetheit und Notwendigkeit) nicht in die Prüfung staatlichen Verhaltens zu grundrechtsverkürzenden Ereignissen integriert werden, die der Staat selbst nicht herbeigeführt 71 72
S. o. Abschn. Α. I., S. 51. Schlink, EuGrZ 1986, 457 (457, Ii. Sp., 3. Abs.).
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Kap. 2: Grundrecht gegenüber der Zivilrechtsprechung
hat. Doch bleiben auch für Prüfungen solchen staatlichen Verhaltens empirisch orientierte Kriterien verwendbar. Teilweise können sogar Verhältnismäßigkeitsregeln inzident, d.h. im Rahmen der Prüfung, ob ein Privateingriff rechtmäßig ist, angewendet werden. Trotz dieses Zwischenergebnisses bleibt der Eindruck, der Nutzen einer zur "Ereignisdogmatik" erweiterten Eingriffsdogmatik für die fallbezogene Prüfung des gesamten ereignisbezogenen staatlichen Verhaltens sei geringer als der Nutzen der Eingriffsdogmatik für die Prüfung staatlich bewirkter Grundrechtsverkürzung. Der Eindruck entsteht deswegen, weil scheinbar der stark rationalisierende Teil der Eingriffsabwehrregeln — das sind nach den bisherigen Ausführungen vor allem die Verhältnismäßigkeitsregeln — in Eingriffsfällen viel häufiger zur Anwendung gelangt als in sonstigen Fällen der Abwendung ereignishafter Freiheitsbeeinträchtigung und daher dort die Grundrechtsprüfung viel rationaler verläuft als hier. Dieser Schein trügt jedoch, weil er durch eine Sichtweise hervorgerufen wird, die sich nur auf dasjenige Grundrecht konzentriert, das der Staat verkürzt, bzw. zu dessen Verkürzung er sich verhält. Der rechtsanwendende Staat ist jedoch an alle Grundrechte gebunden, die von seiner rechtsanwendenden Tätigkeit betroffen sind. Im klassischen Eingriffsermächtigungsrecht ist freilich in der Tat nur ein Grundrecht, nämlich das des Eingriffsopfers, von der Rechtsanwendung betroffen. Der Gemeinwohltatbestand der Eingriffsermächtigungsnorm (zum Beispiel: Anlagensicherheit, Umweltschutz, Erhaltung eines gesunden Apothekerstandes) hat zwar ebenfalls einen grundrechtlichen Bezug (Gesundheit), sonst könnte seine Erfüllung niemals einen Grundrechtseingriff rechtfertigen 73. Der grundrechtliche Bezug ist im klassischen Eingriffsermächtigungsrecht aber nicht konkret-individuell, sondern abstrakt. Greift der Staat trotz vorliegenden Gemeinwohltatbestands nicht ein, so kann dies meist keines der im Gemeinwohltatbestand zusammengefaßten Grundrechte beeinträchtigen. Eine Falschanwendung zugunsten des potentiellen Eingriffsopfers kann also keine grundrechtliche Schutzpflicht verletzen. Nur die Falschanwendung in der anderen Richtung kann ein Grundrecht verletzen. Ist ein staatlicher Eingriff wegen Falschanwendung einer Eingriffsermächtigungsnorm grundrechtswidrig, hat das den Eingriff an grundrechtlichen Maßstäben kontrollierende Verwaltungsgericht seine Tätigkeit immer schon dann beendet, wenn es den grundrechtsgemäßen Zustand wiederhergestellt hat. Im oben74 präsentierten Beispiel des Zahlungsbescheids wäre die Tätigkeit des Gerichts mit der Aufhebung des Bescheids beendet ge73
Ausdrücklich dafür, Grundrechtsbeeinträchtigungen nur zwecks Schutzes von Grundrechtsgütern (was wohl heißt: nicht beliebige Gemeinwohlinteressen, auch nicht in der Verfassung verankerte), Grimm, in: Einfuhrung in das öffentliche Recht, S. 45 (66 unten). 74 S. o. Abschn. Α. II., S. 53.
B. Eingriffsdogmatik in der Grundrechtsanwendung im Zivilrecht
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wesen. Es wäre gegebenenfalls die Sache der den Bescheid erlassenden Stelle, noch mal einen Bescheid, diesmal über eine geringere Summe, zu erlassen. Ein solches erneutes Handeln ist die Pflicht einer gesetzmäßig handelnden Verwaltung, es ist aber nicht durch ein Grundrecht gefordert. Die Anwendung des in diesem Abschnitt interessierenden Zivilrechts betrifft jedoch stets "auf beiden Seiten" Grundrechte, jedenfalls soweit Privateingriffsabwehr-, also Deliktsrecht angewendet wird. Das liegt an dem oben75 bereits näher beschriebenen Umstand, daß das Deliktsrecht zu den Normen gehört, die kollidierende Grundrechte so abgrenzen, daß der Rechtsanwender sie im Kollisionsfall mit gleicher Aktualität des Betroffenseins dieser Grundrechte konkretisiert. Das hat für den staatlichen Privateingriffsabwehrschutz beispielsweise folgende Auswirkung: Gelangt das Berufungsgericht zu der Auffassung, dem Opfer Ο sei von der ersten Instanz zu Unrecht eine Schmerzensgeldforderung in Höhe von 100.000 DM gegen den seine Gesundheit verletzenden Angreifer A zugesprochen worden (wenngleich auch der Angriff tatsächlich rechtswidrig gewesen sei), so führt es zwar den aus der Sicht des A grundrechtsgemäßen Zustand herbei, wenn es das Urteil der ersten Instanz wegen unverhältnismäßiger Freiheitseinschränkung des A kassiert. Im Unterschied zum eben besprochenen klassischen Eingriffsermächtigungsfall darf aber die Tätigkeit des Berufungsgerichts mit der bloßen Kassation noch nicht beendet sein. Vielmehr gebietet ihm das Grundrecht des O, in Form der teilweisen Klageabweisung ein — wenn auch niedrigeres — Schmerzensgeld zugunsten des Ο festzusetzen. Dieses Beispiel macht deutlich: Bei der Anwendung klassischen Eingriffsermächtigungsrechts kann die rationalisierende Kraft der Eingriffsunterlassungsregeln voll ausgeschöpft werden, wenn die fehlende Erforderlichkeit des staatlichen Eingriffs feststeht, wenn also das rein normative Kriterium der Unverhältnismäßigkeit im engeren Sinne nicht mehr benötigt wird. Bei der Anwendung des Zivilrechts steht mit der fehlenden Erforderlichkeit des Eingriffs in ein Grundrecht des Angreifers jedoch nicht zwingend fest, daß das Unterlassen jeglichen Eingriffs den Grundrechten beider Parteien gerecht wird. Die Verhältnismäßigkeitsregeln können ihre rationalisierende Kraft nicht entfalten, weil sie nur im Verein mit den "Schutzregeln" angewendet werden können. Nur dann, wenn der Privateingriff selbst rechtmäßig ist, steht auch fest, daß das Eingriffsunterlassen des Gerichts das grundrechtsgemäße Verhalten ist. Zur Feststellung der Rechtmäßigkeit des Privateingriffs bedarf es jedoch unter Umständen der Prüfung semer Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne. Es kann somit eine zwar klare Rechtsfolge geben; für die Feststellung ihrer Voraussetzungen sind die rationalisierenden Regeln der Eingriffsdogmatik aber nicht unbedingt nützlich.
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S. o. Abschn. Α. II., a. E., S. 53.
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Kap. 2: Grundrecht gegenüber der Zivilrechtsprechung
Verallgemeinernd läßt sich sagen: Je mehr Ermessen eine Zivilnorm hinsichtlich der Schutzmittel einräumt, desto nutzloser werden Eingriffsabwehrregeln für die Prüfung des Angreifergrundrechts, wenn einerseits feststeht, daß der Angriff rechtswidrig ist, andererseits klar ist, daß es mildere Schutzmittel gab. Denn dem Angreifer nützt es nichts, wenn er geltend macht, daß es mildere Schutzmittel gab. Er muß auch darlegen, daß diese den erforderlichen Schutz bewirkt hätten. Umgekehrt läßt sich formulieren: Je mehr Ermessen eine Zivilnorm hinsichtlich der Eingriffsintensität einräumt, desto weniger nützt es dem Eingriffsopfer, wenn sich das wirksamste Schutzmittel ohne viel Wertung und schnell ermitteln läßt. Denn es muß auch klar sein, daß dieses Schutzmittel den Angreifer nicht unverhältnismäßig belastet. Das bedeutet: Für ein- und dieselbe Zivilnorm strukturieren Eingriffsunterlassungsregeln die Prüfung des Grundrechts auf Unterlassung staatlicher Eingriffe nicht besser als dies Regeln zur Prüfung von Privateingriffen im Hinblick auf das Schutzgrundrecht könnten. Umgekehrt gilt dasselbe. Somit ist folgendes Fazit erlaubt: Die Regeln zur Abwendung ereignishafter Freiheitsbeeinträchtigungen (Eingriffsabwehrregeln im weiteren Sinne) rationalisieren das Zivilrecht, soweit es das staatliche Verhalten zu Privateingriffen regelt, genauso gut wie die Regeln der auf Staatseingriffe bezogenen Eingriffsdogmatik. An die rationalisierende Kraft der Eingriffsunterlassungsregeln für klassisches Staastseingriffsrecht reicht die Wirkung beider Regeln im Zivilrecht nicht ganz heran, kommt aber in ihre Nähe. Da die Eingriffsabwehrregeln die Regeln für die Unterlassung staatlicher Eingriffe mitenthalten, würde der Nutzen der Eingriffsunterlassungsregeln für klassisches Eingriffsrecht nicht verloren gehen, wenn die Eingriffsabwehrregeln im weiteren Sinne als Bestandteil einer Gesamtdogmatik anerkannt werden. Diese würde für Ereignisse aller Art, zumindest soweit sie von Rechtssubjekten herrühren, gelten. Diese Gesamtdogmatik könnte "Eingriffsdogmatik im weiteren Sinne" genannt werden. Daher war der Versuch richtig, die Staatseingriffsunterlassungsregeln (im folgenden nur noch "Eingriffsunterlassungsregeln" genannt) so zu modifizieren, daß sie für die zivilgerichtliche Subsumtion unter den Grundrechtsverletzungstatbestand als auf Privateingriffe bezogene Eingriffsabwehrregeln nützlich sind.
2. Nutzen für die Bestimmung der Rechtsfolge der Grundrechtsverletzung Zum grundsätzlichen Nutzen der Eingriffsdogmatik war bezüglich der Rechtsfolgenseite festgestellt worden: Eine grundrechtsgemäße Alternative zum Handeln ist ohne Rücksicht auf den Inhalt der Handlungsnorm und den Inhalt des im staatlichen Handlungsakt enthaltenen Befehls stets das Unterlassen. Die Rechtsfolge grundrechtsverletzenden Handelns ist folglich immer gleich: die Kassation des Handlungsakts76.
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Die staatliche Reaktion auf grundrechtsverkürzendes Tun Privater oder die Rechtsfolge grundrechtsverletzenden staatlichen Verhaltens zu diesem Tun kann immerhin insoweit stets ohne Rücksicht auf den Inhalt der Schutznorm formuliert werden, als sie sich in bezug auf das grundrechtsverkürzende Ereignis, den Eingriff im weiteren Sinne, auf das der Staat grundrechtswidrig reagiert hat, ausdrücken läßt. Übertragen auf die erstinstanzliche Zivilgerichtsbarkeit heißt dies: Der Inhalt einer aus der Sicht des Privateingriffsopfers grundrechtsgemäßen gerichtlichen Reaktion kann bestimmt werden, indem er in bezug auf den Privateingriff ausgedrückt wird. Das macht den Inhalt der grundrechtsgemäßen Entscheidung leicht bestimmbar, wenn der Privateingriff noch bevorsteht oder wenn der schutzbedürftige Grundrechtsträger die Beseitigung der Eingriffswirkung begehrt. Das Zivilgericht kann seine Entscheidung ohne Rücksicht auf den Inhalt der Schutznorm formulieren und braucht sich nur am Ereignis zu orientieren: Die Entscheidung kann zum Beispiel lauten: Unterlassen der beabsichtigten Behauptung oder Beseitigung der vom Nachbargrundstück auf das Grundstück des Grundrechtsträgers gefallenen Bäume. Eine bestimmte Art der Beseitigung oder der Vorkehrungen, die das Unterlassen beabsichtigter Privateingriffe fordert, enthält die Gerichtsentscheidung regelmäßig nicht77. Gibt es jedoch mehrere Möglichkeiten, auf den Privateingriff grundrechtsgemäß zu reagieren, und hat sich das Gericht in seiner Entscheidung auf die wirksamste dieser Möglichkeiten festzulegen, muß es notwendigerweise nicht nur den Inhalt des Privateingriffs kennen, sondern auch die Norm auslegen, um die wirksamste Schutzmaßnahme zu finden. Dieser Fall tritt ein, wenn die Eingriffswirkung selbst nicht mehr beseitigt, wohl aber der wirkungsbedingte Schaden an anderen Rechtsgütern ersetzt werden kann78. Hier hat das Gericht zwischen mehreren Schutzmitteln auszuwählen. Tritt ein Schaden, wie meist, an Vermögenswerten Gütern ein, kann er zum Entscheidungszeitpunkt genau bezif-
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S. o. Abschn. Α. II., a. Α., S. 52f. Darauf, daß Aktivitäten nicht mit der gleichen Präzision normierbar sind, wie staatliche Unterlassungen, sondern im Gegensatz zu jenen situations- und mittelgebunden sind, weist Grimm, in: Verfassungsrechtlicher Eigentumsschutz sozialer Rechtspositionen, S. 226 (233, 2. Hälfte), hin; vgl. auch Lerche, HStR V, § 121, Rdn. 52, S. 772. 78 Die Ableitbarkeit des Schadensersatzanspruchs aus dem verletzten Grundrecht scheint noch nicht völlig unumstritten zu sein: Für die Ableitbarkeit in bezug auf immaterielle Güter BGHZ 26, 349 (354 unten/355 oben) - Herrenreiter -; begrenzt auf die Genugtuung für "Unbill", die durch "schwere Schuld oder eine erheblich ins Gewicht fallende Beeinträchtigung" verursacht wird: 35, 363 (369 Mitte) - Ginseng-Wurzel -; Gallwas, Faktische Beeinträchtigung im Bereich der Grundrechte, S. 127 - 138, bezieht sich nur auf Beseitigung und Entschädigung; dagegen Grunsky, in: MünchKomm.-BGB, § 253, Rdn. 6. 77
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Kap. 2: Grundrecht gegenüber der Zivilrechtsprechung
ferbar sein. Hier tritt das wirksamste und erforderliche 79 Mittel, nämlich der volle Schadensersatz, offen zu Tage. Ein wirkliches Schutzmittelermessen hat das Gericht nicht. Auch das mit dem Schutzgrundrecht kollidierende Eingriffsunterlassungsrecht kann den Entscheidungsinhalt kaum beeinflussen. Zwar belastet geringerer Schadensersatz den Angreifer weniger stark. Wenn aber der Ersatz der vollen Summe an sich verhältnismäßig im engeren Sinne ist, kann ein teilweiser Ersatz als milderes Schutzmittel nicht ernsthaft als grundrechtsgemäße Alternative in Betracht kommen. Erst bei der Vollstreckung des Ersatzanspruchs kann das Integritätsinteresse des Angreifers zu einem gewichtigen Abwägungselement werden: Wird nämlich das Vollstreckungsmittel zwingender, wird unter dem Gesichtspunkt abnehmender Wiederholungsbereitschaft des Täters der Schutz des Opfers intensiver. Die Intensität des Schutzes nimmt mit zwingenderem Schutzmittel mehr zu, als sie zunehmen würde, wenn die Schadenssumme größer wird. Denn die Wahl des Vollstreckungsmittels kann die Lage des Opfers entscheidender verändern: Mehr Schadensersatz vergrößert proportional das Vermögen des Opfers und läßt den Schutz stufenweise zunehmen. Ein auch nur etwas zwingenderes Vollstreckungsmittel kann im Falle eines zahlungsfähigen, aber nicht -willigen Schädigers einen großen Sprung bei der Vermögenszunahme bewirken: Das Opfer erhält alles statt gar nichts. Die Sanktionsfunktion von Zwangsmitteln soll hier als strafrechtliches Spezifikum vorerst außer Betracht bleiben. Es sei nur soviel gesagt, daß der Sanktionszweck zwar Bedeutung für den präventiven Grundrechtsschutz hat, daß seine subjektivgrundrechtliche Relevanz aber zweifelhaft ist80. Auf der anderen Seite wird mit zwingenderen Vollstreckungsmitteln die Eingriffsintensität zu Lasten des Angreifers größer. Sie vermehrt sich stärker als im Fall der Vergrößerung der Schadenssumme: Ein Tag mehr Zwangshaft oder eine eidesstattliche Versicherung über die Vermögensverhältnisse mehr vergrößern die Eingriffsintensität ungleich stärker als eine größere Schadenssumme. Letzteres Vollstreckungsmittel erweitert den Umfang der verkürzten Handlungsfreiheit, erstere betrifft zusätzlich neue Grundrechte (Freiheit der Person81, Recht auf informationelle Selbstbestimmung82). Bei Schadensersatz-, aber auch 79
Rüdiger Krause, JR 1994, 494 (498, sub 6, vor a]). BVerfG, 2. Kammer des Zweiten Senats, NJW 1993, 915: Kein Grundrecht auf Strafverfolgung anderer. 81 In BVerfGE 58, 159 (161 unten) wird noch Art. 2 Abs.l angeführt, in BVerfGE 61, 126 (136, vor 3, a. E.) ist die "Freiheit der Person" genannt. 82 Bezüglich der Eintragung ins Schuldnerverzeichnis gem. § 107 Abs. 2 KO (in der bis zum 31.12.1994 geltenden Fassung) BVerfG, NJW 1988, 3009 (3009, re. Sp. , sub aa]). 80
B. Eingriffsdogmatik in der Grundrechtsanwendung im Zivilrecht
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den bereits behandelten Unterlassungs- und Beseitigungsentscheidungen kann es also erst in der Vollstreckung zu "echten" Abwägungen zwischen dem Grundrecht auf Schutz und dem auf Unterlassen des Staatseingriffs kommen. Erst hier gibt es ein wirkliches Handlungsermessen des Gerichts. Eine Ausnahme gibt es allenfalls im Falle der Kompensation von Wirkungen nicht mehr verhinderbarer Ereignisse, und zwar dann, wenn zwar eine bestimmte Schutzmaßnahme offenkundig in Betracht kommt (voller Schadensersatz, Beseitigung des störenden Gegenstandes), diese aber unverhältnismäßig erscheint. Das sind die Konstellationen des § 251 Abs. 1 Satz 2 BGB im Fall des Schadensersatzoder des § 906 Abs. 1 Satz 2, Hs. 2 BGB im Falle der Beseitigungspflicht. Im Erkenntnisverfahren gibt es ein wirkliches, die Rechtsfolge verunklarendes Schutzmittelermessen des Zivilgerichts erst, wenn die staatliche Reaktion nicht im Ersatz (in Geld) meßbaren Schadens, sondern in einer symbolischen Entschädigung für die Grundrechtsverkürzung besteht. Das trifft im Falle des Schmerzensgeldes zu. Ob zum Beispiel für den Sehkraftverlust auf einem Auge je nach Alter und Begleiterscheinungen 10.000 DM 83 oder 15.000 DM 8 4 als Schutz angemessen und als Belastung des Schädigers verhältnismäßig sind, kann auch die Normauslegung kaum beantworten. Hier hilft nur eine Orientierung am Evidenzkriterium 85. Das heißt: Entweder muß sich ein bestimmter Betrag zumindest als relativ 86 ungerecht aufdrängen, oder es sind vorhandene Auffassungen über absolute Beträge allgemein anerkannt, womit das Evidenzkriterium in prozeduraler Hinsicht erfüllt wäre. Aber auch nicht allgemein als richtig anerkannte, erstmalig zu einem bestimmten Thematik ergangene Entscheidungen können für spätere Entscheidungen prozedurale Richtigkeitsmaßstäbe sein: Das später entscheidende Gericht muß nachvollziehbaren Argumenten des zuerst entscheidenden Gerichts mehr Beachtung schenken, als es das erstentscheidende Gericht im Hinblick auf dieselben — aber vor ihm bislang noch von niemandem vertretenen — Argumente tun müßte (präjudizierende Wirkung). Da zuerst ergangene Entscheidungen von der Begründung späterer entlasten, wirken diese nicht nur in rechtlicher 87, sondern auch in tatsächlicher Hinsicht88
83
OLG Nürnberg, VersR 1975, 1110, re. Sp. (Urteil Nr. 116); OLG Frankfurt, VersR 1978, 353, Ii. Sp. (Urteil Nr. 314). 84 OLG Nürnberg, VersR 1981, 562 (Urteil Nr. 549). 85 Siehe dazu oben Abschn. Α. I , a. E, S. 52. 86 Ordinale Werteordnungen sind leichter zu bilden als kardinale, denn ordinale Ordnungen enthalten nur Rangstellen in einer Skala, kardinale enthalten auch die Abstände zwischen den Rangstellen: Schlink, Abwägung im Verfassungsrecht, S. 131 oben; vgl. zu dieser Unterscheidung auch Ott, Grundzüge der Preistheorie, S. 74. 87 Kirchhof, BVerfG und GG, Bd. II., S. 50 (100, sub b]); Kriele, Theorie der Rechtsgewinnung, § 72: "präsumtive Verbindlichkeit" 2. Aufl. Berlin 1976. 88 Kriele, in: Normen und Geschichte, S. 24 (29): Entlastung von "komplexer intellektueller Problematik".
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Kap. 2: Grundrecht gegenüber der Zivilrechtsprechung
präjudizierend, die sie tragenden Auffassungen können eher herrschend werden als spätere abweichende. Nach Auffassung des BGH kommt vor allem Gerichtsentscheidungen im Schmerzensgeldbereich präjudizierende Wirkung für nachfolgende Entscheidungen zu: Wollen Gerichte von Vorentscheidungen zu gleichgelagerten Fällen deutlich abweichen, müssen sie dies begründen89. Was den subjektiven Evidenzgesichtspunkt angeht, wird etwa Einigkeit darüber zu erzielen sein und dementsprechend vom Rechtsanwender als evident empfunden werden, daß ein Verlust des Augenlichts nicht mit weniger Schmerzensgeld sanktioniert werden darf als eine Prellung des Handknochens. Das bisher Gesagte galt für die erstinstanzliche Reaktion auf Privateingriffe. Gewährt die erste Instanz grundrechtswidrig nicht den begehrten Schutz, weil sie den Privateingriff für gerechtfertigt hält, ist die von der Berufungsinstanz auszusprechende Rechtsfolge selbstverständlich ebenso klar bestimmbar, wie der Inhalt der erstinstanzlichen Entscheidung bestimmbar war. Eine Zwischenstation auf dem Weg zum grundrechtsgemäßen Zustand kann sogar durch Kassation, der erstinstanzlichen Entscheidung, in der sich ja an sich nur das definite Gegenteil zum erstinstanzlichen Handeln manifestiert, erreicht werden. Das Unterlassen jeglicher Gerichtsentscheidung würde zwar letztlich noch nicht den erhofften Grundrechtsschutz bewirken. Die Kassation der schutzverweigernden Entscheidung hemmt aber zumindest die Rechtskraft der totalen Schutzverweigerung. Das verbessert die grundrechtliche Situation des Opfers wenn auch nicht materiell, so doch wenigstens formal-rechtlich. Das Berufungsgericht kann die (zwischenzeitliche) Kassation dadurch praktisch realisieren, daß es die erstinstanzliche Entscheidung aufhebt und die Sache zur Entscheidung über die etwa erstinstanzlich noch zu ermittelnden Schutzmittel zurückverweist (§ 538 Abs. 1 Nr. 3, Alt. 2 ZPO). Fazit: Die Klarheit der Rechtsfolge von Grundrechtsverletzungen im Zivilrecht ist in dem Maße geringer als im Öffentlichen Recht, wie die Rationalisierungswirkung der eingriffsdogmatischen Regeln dort geringer ist. Wegen der oben herausgestellten Aktualisierungswirkung des Zivilrechts auf die kollidierenden Grundrechte gilt aber auch: Bei der Anwendung von Zivilrecht ist, bezogen auf einen Sachverhalt, die Rechtsfolge der Verletzung des Schutzgrundrechts (bzw. der Inhalt der ersten staatlichen Reaktion auf den Privateingriff) nicht klarer oder unklarer als die Rechtsfolge der Verletzung des Grundrechts auf Unterlassen des Staatseingriffs. Denn Ermessen hinsichtlich der In-
89 BGH, VersR 1976, 967 (968, re. Sp.): "deutliches Verlassen bisheriger Sätze"; VersR 1986, 59 (Urteil Nr. 57, 1. Hälfte); vgl. auch das Bemühen des OLG Stuttgart in seinem Schmerzensgeld-Urteil (DAR 1979, 73 [73]), viele Urteile zur Stützung seiner Ansicht anzuführen; zur Bedeutung des Zeitablaufs zwischen Entscheidungen von Vergleichsfällen: OLG Köln, VersR 1992, 1013 (Urteil Nr. 836).
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tensität des Staatseingriffs bedingt Ermessen hinsichtlich des Schutzmittels und umgekehrt.
C. Eingriffsbegriff in der Grundrechtsanwendung im Zivilrecht I. Auslegung des Eingriffsbegriffs durch Lübbe-Wolff Der in den vorhergehenden Abschnitten unternommene Versuch, die Staatseingriffsdogmatik für die Anwendung des Zivilrechts nutzbar zu machen, war erfolgreich: Die grundrechtliche Prüfung staatlicher Schutzverweigerung kann mit einem Eingriffsabwehrschema im weiteren Sinne als Fortentwicklung des Staatseingriffsschemas ebenso gut strukturiert und auch teilweise mit aus Eingriffsunterlassungsregeln entwickelten Eingriffsabwehrregeln ebenso gut rationalisiert werden wie die grundrechtliche Prüfung staatlicher Freiheitsminderung. Lübbe-Wolff reicht dies nicht aus. Sie versucht, die Regeln der Staatseingriffsdogmatik direkt anwendbar zu machen, indem sie staatliches Unterlassen unter bestimmten Voraussetzungen als Staatseingriff qualifiziert. Das ist aus ihrer Sicht verständlich, weil es ihr darum geht, auch im Leistungsbereich von der Staatseingriffsdogmatik zu profitieren 90. Mit einer Modifizierung der Eingriffsunterlassungsregeln allein wäre dies in der Tat nicht zu schaffen, weil sie nach dem oben Gesagten zwar nicht mehr auf staatliche Grundrechtsbeeinträchtigungen, wohl aber auf Freiheitsminderungen mit dem gleichen Effekt (Ereignisse) fixiert wären. Der Erfolgsaussicht des Versuchs von Lübbe-Wolff steht entgegen, daß sich mit dem Begriff des Eingriffs im engeren Sinn zwar nicht unbedingt Finalität oder Unmittelbarkeit, stets aber positives Tun verbindet91. Lübbe-Wolff sagt selbst, daß als "eingreifend" nur ein Verhalten in Betracht komme, das den Charakter positiven Tuns habe92. Gleichwohl sei aber auch die Nichtgewährung einfach-gesetzlich konstituierter, grundrechtsgünstiger Positionen ein Grundrechtseingriff, wenn die Grundrechtsposition zwecks Erfüllung einer grundrechtlichen Pflicht eingeräumt werde. Denn der Unterscheidung zwischen Tun und Unterlassen komme für die Fälle der Verletzung einfachen Rechts keine grundrechtsdogmatische Relevanz zu93. Die Verletzung einfachen Rechts sei nämlich dem Tun gleichzustellen, und zwar deshalb, weil die Falschanwendung von einfachem Recht in der richtigen Anwendung ein durch das Recht selbst
90
Lübbe-Wolff, Die Grundrechte als Eingriffsabwehrrechte, S. 22f. Siehe dazu oben schon die moderne Eingriffsdefinition in Abschn. Α. I., 2. Abs, S. 55 mit Fußn. 27. 92 Lübbe-Wolff, Die Grundrechte als Eingriffsabwehrrechte, S. 33 unten, 34. 93 Lübbe-Wolff, S. 42 oben. 91
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bestimmtes definites verfassungsmäßiges Gegenteil habe94. Das Vorhandensein eines solchen Gegenteils sei aber ein Kennzeichen jeden staatlichen Handelns95. Unterstellt, diese Ansicht sei richtig, ist damit erst belegt, daß die Falschanwendung einfachen Rechts ein Eingriff ist. Um darlegen zu können, daß der Falschanwendung auch ein Grundrechts^ingriff sein kann, benötigt Lübbe-Wolff eine weitere Fiktion: Nicht nur die Verkürzung natürlicher Freiheit, auch die Vorenthaltung grundrechtsgünstiger Positionen komme als Grundrechtseingriff in Betracht96. Dazu ist folgendes zu sagen: Den Unterschied zwischen Handeln und Unterlassen hat Lübbe-Wolff im allgemeinen Teil ihrer Ausführungen 97 treffend beschrieben: In der Tat hat nur staatliches Handeln stets eine (aus der Sicht des durch das Handeln Belasteten) grundrechtsgemäße Alternative, die so définit ist wie das Unterlassen. Weniger Handeln mag zwar, wie Lübbe-Wolff richtig konstatiert98, auch eine grundrechtsgemäße Alternative sein, die Bezeichnung "definites Gegenteil" paßt aber nicht mehr. Denn "weniger staatliches Handeln" mag zwar im konkreten Fall auch grundrechtsgemäßer sein als das tatsächliche staatliche Handeln, ein zu jedem staatlichen Handeln bestehendes Gegenteil wäre es aber nicht. Das ist nur das Unterlassen. Auch ist "weniger Handeln" nicht so définit wie "Unterlassen". Denn Unterlassen läßt sich in Rechtsfolgen ausdrücken, deren Inhalt bestimmt werden kann, ohne daß eine Kenntnis der Norm und des Inhalts des im staatlichen Handlungsakts verkörperten Befehls notwendig ist. Die die Kassation beinhaltende Rechtsfolge lautet "Der Bescheid ...(an dieser Stelle wird der Handlungsakt identifiziert aber nicht inhaltlich bestimmt) wird aufgehoben". Damit "weniger Handeln" in eine Rechtsfolge transformiert werden kann, ist es nötig, den Befehlsinhalt zu verarbeiten: "Der Bescheid ... wird aufgehoben, soweit (Zitat des Befehlsinhalts)." Auf diese einzigartige Bestimmtheit des Gegenteils "Unterlassen" verzichtet Lübbe-Wolff, wenn sie die richtige Rechtsanwendung ebenfalls zu einem definiten Gegenteil erklärt. "Richtige Rechtsanwendung" kann nicht eine so definite Alternative sein wie "Unterlassen". Die Rechtsfolge der richtigen Rechtsanwendung kann, wenn Schutz zu Unrecht verweigert wird, nicht bestimmt werden, ohne daß die Schutznorm ausgelegt wird. Der Unterschied kommt auch in Lübbe-Wolffs Formulierung zum Ausdruck: Sie spricht im Hinblick auf die Verletzung einfachen Rechts vom definiten Gegenteil, aber mit dem Zusatz "definites durch das Recht selbst bestimmtes Gegenteil"99. Sie ist auch insofern vorsichtig, als sie die Falschanwendung durch Unterlassen
94 95 96 97 98 99
Lübbe-Wolff, S. 42 oben, 123 unten/124 oben. Lübbe-Wolff, S. 40, 2. Hälfte. Lübbe-Wolff, S. 75 unten/76 oben. Lübbe-Wolff, S. 40, 2. Hälfte. Dazu schon oben S. 53, Fußn. 20. Lübbe-Wolff, Die Grundrechte als Eingriffsabwehrrechte, S. 42 oben.
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dem Tun zwar gleichstellt, es aber nicht "Tun" im Sinne ihrer Definition nennt100. Lübbe-Wolffs Ansicht, nicht nur die Verkürzung natürlicher, auch diejenige konstituierter Freiheit könne ein Eingriff des Staates sein, ist dann richtig, wenn das einfach-gesetzliche Recht im Grunde nur die Gewährleistung natürlicher Freiheit bestätigt, dies aber vom NormgefÜge her als Gewährung einer speziellen Position umschrieben wird. Das ist der Fall, wenn die Nichtgewährung der Position, in der sich die konstituierte Freiheit manifestiert, einen Eingriffstatbestand vollendet, der mit dem Normerlaß begonnen wird. Damit sind Normen ins Auge gefaßt, die Freiheitsausübung präventiv mit Befreiungsvorbehalt verbieten. Das präventive Verbot hat seine Rechtfertigung in dem gesetzlich verankerten Anspruch auf Erlaubnis, wenn keiner der gesetzlich festgelegten Hinderungsgründe für die Freiheitsausübung vorliegt. Ohne einen solchen gesetzlichen Anspruch wären Präventiwerbote verfassungswidrige Grundrechtseingriffe 101 . Wird der Erlaubnisanspruch trotz Vorliegen der Voraussetzungen nicht erfüllt, liegt zwar vom Text des staatlichen Akts der Anspruchsverweigerung her scheinbar nur ein Verletzung des einfach-gesetzlichen Rechts "Erlaubnisanspruch", also ein Eingriff in konstituierte Freiheit vor. In Wahrheit fällt aber die Schranke für die mit dem Normerlaß begonnenen und mit Anwendungsakt vollzogenen Eingriff in die natürliche Freiheit weg102. Die im Präventiwerbot latent enthaltene Verfassungswidrigkeit lebt sozusagen wieder auf. Daher gilt die Versagung des Anspruchs auf Erteilung einer Baugenehmigung seit jeher als Eingriff in die Eigentumsfreiheit 103 oder in die allgemeine Handlungsfreiheit 104. Eine solche Konstellation liegt aber nicht vor, wenn die gesetzlich konstituierte grundrechtsgünstige Position in einem Anspruch gegen den Staat auf Abwehr von Privateingriffen besteht. Diese Position ist im Unterschied zum gerade erwähnten Baugenehmigungsanspruch keine Rechtfertigung für einen im Gesetz angelegten Staatseingriff, der ansonsten verfassungswidrig wäre. Die Privateingriffsabwehrnorm greift eben nicht in das Grundrecht des vom Privateingriff bedrohten Individuums ein und rechtfertigt dies etwa mit dem Privateingriffsabwehranspruch. Sie stellt vielmehr nur fest, daß der Staat nicht gegen jeden Privateingriff einschreitet, dafür aber einen Privateingriffsabwehranspruch gewährt, wenn die gesetzlichen Voraussetzungen vorliegen. Selbst wenn man also die rechtskonstituierende Norm hinsichtlich ihrer grundrechtsverkürzenden Wirkung mit der konstituierten Rechtsposition als eine Einheit betrachtet, ist die 100
Lübbe-Wolff, S. 42 oben, sub 2., a. E. BVerfGE 20, 150 (157) - "Sammlungsgesetz" -; Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 9, Rdn. 52. 102 Sachs, in: Stern, Staatsrecht III/l, § 65, VI., 3. a) ß), S. 614. 103 BVerwGE 3, 351 (354 Mitte). 104 BVerwGE 42, 115(116). 101
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Nichtgewährung einer grundrechtsgünstigen Position nur dann ein Staatseingriff, wenn auch die Norm eine Staatseingriffsnorm ist. Wenn aber die konstituierende Norm aus der Sicht des Grundrechtsträgers, den sie begünstigt, eine Schutznorm ist, ist die Nichtgewährung der Position auch nur eine Schutzverweigerung und kein Staatseingriff. Wer die Nichtgewährung grundrechtsgünstiger Positionen auch dann, wenn diese in Schutzansprüchen bestehen, als Eingriffe des Staates deklariert, ebnet letztlich den prinzipiellen Unterschied zwischen der Verletzung von Schutzund Eingriffsunterlassungspflichten ein, es sei denn, er sieht wie Schwabe im Nichtgewähren von Schutz schlechthin ein Tun, das natürliche Freiheit verkürzt. Das tut Lübbe-Wolff aber gerade nicht. Sie lehnt Schwabes Ansicht für das gesetzgeberische Unterlassen ausdrücklich ab und teilt mit ihm im Hinblick auf das Unterlassen der Rechtsanwendung nur das Ergebnis. Wer unterlassungsbedingte Grundrechtsverletzungen den durch aktives Handeln herbeigeführten gleichstellt, erkennt zwar richtig, daß beide denselben individuellen Verletzungseffekt haben können. Die Schutzbedürftigkeit eines Opfers einer Körperverletzung hängt nicht davon ab, ob sein Knöchelbruch die Ursache in einem rechtswidrigen Handeln staatlicher Organe oder in der Aktion eines Privatrechtssubjekts hat. In beiden Fällen wird er um Schutz mittels der Gewährung von Ersatzansprüchen vor dem Zivilgericht ersuchen. Dort wird er einen Amtshaftungsanspruch gegen den Staat, hier einen Anspruch gegen den Angreifer vor dem Zivilgericht geltend machen. Staatliches Verhalten kann aber über den individuellen Effekt hinaus auch überindividuelle Wirkung haben, die grundrechtlich bedeutsam ist. Hier unterscheiden sich, wie gleich zu zeigen sein wird, Schutz und Unterlassen von Staatseingriffen. Das BVerfG hat als eine Komponente der grundrechtlichen Beeinträchtigungsintensität105 durch Zivilurteile deren Präventivwirkung ausgemacht106. Mit Präventivwirkung hat es gemeint, daß eine staatliche Maßnahme auch Nichtbetroffene in der Rolle der unterlegenen Partei (Nicht-Parteien107 sollen hier aus105
Mehr zur Intensitätsrechtsprechung unten Abschn. E., 2. Teilabschn., 7. Abs., S. 90 - 91 mit Nachweisen in Fußn. 181; zur Dogmatik eingehender unten Kap. 3, Abschn. Α., 2. Teilabschn., 5. Abs., S. 128. 106 Andeutungsweise schon BVerfGE 28, 104 (112 Mitte): "...Auslegung geeignet (ist), den Bestand der Familie zu beeinträchtigen"; deutlicher, aber noch ohne den "Präventiv"-Begriff BVerfGE 54, 129 (139): "lähmende Wirkung" auf Diskussion; ausdrücklich erst später (siehe Nachweise in nachfolgender Fußnote). 107 Grundrechtliches Augenmerk hat die Nicht-Partei "Kind" in den Unterhalt-fÜrein-Kind-als-Schaden-Fällen in BVerfGE 88, 203 (296 oben) - Schwangerschaftsabrruch II -, erhalten, siehe zur Thematik statt vieler Roth, NJW 1994, 2402ff., m. w. Nachw.; auch hätten in dem Fall, in dem Urlauber eine Reisepreisminderung deswegen erhielten, weil sie störendes Verhalten geistig Behinderter wahrnahmen (AG Frankfurt, NJW 1980, 1965, re. Sp. oben, bestätigt durch LG Frankfurt, NJW 1980, 1169 [1170]), die Belange der Behinderten unter dem Gesichtspunkt grundrechtlicher Präventivwir-
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geklammert werden) von der Ausübung von Grundrechten abhalten108 und die Institutionalisierung von Grundrechtsausübung stören109 kann. Zu ergänzen ist: Grundrechtliche Präventivwirkung erfaßt nicht nur im Sinne der verfassungsgerichtlichen Formulierungen negative Generalprävention in bezug auf die Störer, sondern auch Stabilisierung von Erwartungen der Grundrechtsträger als potentieller Opfer 110: Die Abwicklung von Erwartungsenttäuschungen in bezug auf Privateingriffe wird "staatlich betreut" 111, dem Opfer wird gezeigt, daß es auch weiterhin auf Grundrechtsgeltung vertrauen kann112. Es wird demonstriert, daß die grundrechtlichen Meinungen des Störers unmaßgeblich sind113. Das grundrechtsschützende Urteil erlangt kommunikativ-symbolischen Gehalt114, der Grundrechtskonflikt wird auf ein formalisiertes Verfahren kanalisiert115. Die Präventivwirkung, die von der Verweigerung von Schutz gegen Privateingriffe in Grundrechte ausgeht, ist ungleich geringer als diejenige, die von einem staatlichen Eingriff in dasselbe Grundrecht ausgeht. Denn Schutzverweigerung kann mehrere Ursachen haben: fehlende Vermeidbarkeit des Privateingriffs, kollidierende Pflichten, Untauglichkeit der Schutzmittel oder Billigung116 des Privateingriffs. Die tatsächliche Ursache ist nicht sozialtypisch offenkundig, sie bedarf der Ermittlung. Greift der Staat selbst ein, besteht eine Vermutung dafür, daß er es bewußt deswegen tut, weil er die Grundrechtsein-
kung auf unbeteiligte Dritte beleuchtet werden können, Brox, NJW 1980, 1939 (1939, Ii. Sp. unten), spricht nur von "sozialen Folgen". 108 BVerfGE 81, 278 (290) - Urinieren auf die Bundesflagge - : "Fallübergreifende", "einschüchternde Wirkung"; 82, 43 (51, 2. Abs, a. E.): "Gewicht und Reichweite des Grundrechtsschutzes präjudizierende Einordnung, welche die freie geistige Auseinandersetzung über Gebühr einschränkt"; 83, 130 (146 oben) - Josefine Mutzenbacher -; 86, 1 (10, sub 2. a]) -"geb. Mörder" -; am deutlichsten wohl die Formulierung, es dürften (an das Vorliegen einer Frage) keine Anforderungen gestellt werden, die sich "abschreckend auf den Gebrauch der Meinungsfreiheit" auswirken: BVerfGE 85, 23 (34, ob. Drittel) - Mißstände im Pflegeheim - (Fettdruck nicht im Original) -. 109 Zum Beispiel die "Sicherung des Kommunikationsprozesses": BVerfGE 85, 23 (31 unten/32 oben) - Mißstände im Pflegeheim -: nämlich durch Entscheidungen, die den zum Schutzbereich der Meinungsfreiheit zu eng fassen, indem sie ihn nicht auf Fragen erstrecken. 110 Die Gedanken von Lesch, JA 1994, 590 (596 - 599, sub VI.) in bezug auf die Rekonstruktion einer funktionalen Vergeltungstheorie im Strafrecht sind auf die grundrechtliche Präventivwirkung übertragbar. 111 Vgl. Lesch, JA 1994, 590 (598, Ii. Sp. oben). 112 Vgl. Lesch, JA 1994, 590 (598, re. Sp, 2. Abs, a. E.). 113 Vgl. Lesch, JA 1994, 590 (598, Ii. Sp. Mitte), spricht vom unmaßgeblichen "Weltentwurf ' des Störers. 114 Vgl. Lesch, JA 1994, 590 (598, Ii. Sp. unten). 115 Vgl. Lesch, JA 1994, 590 (599, 2. Abs, a. E.). 116 Auf diese Intention stellt einseitig ab Schwabe, Die sogenannte Drittwirkung der Grundrechte, S. 66.
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Kap. 2: Grundrecht gegenüber der Zivilrechtsprechung
büße als im öffentlichen Interesse notwendig ansieht. Sein Handeln präjudiziell in gewisser Weise künftige Abwägungen zwischen Grundrechtsgut und öffentlichem Interesse und kann das "Grundrechtsklima", d.h. die bestehenden Auffassungen über grundrechtliche Werte, beeinflussen. Bloße Schutzverweigerung wirkt in dieser Hinsicht weniger stark. Hier fehlt die Identifikation des Staates mit der Grundrechtsverkürzung 117. Hätte sie der Angreifer nicht bewirkt, hätte es sie nicht gegeben. Der Staat wäre an ihr nicht interessiert gewesen. Das Notwehrrecht stellt eine Ausnahme dar: Hier liegt die Verletzung des Rechtsguts des Angreifers auch im öffentlichen Interesse. Wenn sich der Angreifer nicht vom Angriff abhalten läßt, besteht ein öffentliches Interesse an dem Risiko, daß seine Rechtsgüter geopfert werden. Die Notwehrbestimmungen werden daher zu Recht dem klassischem Eingriffsermächtigungsrecht gleichgestellt118. Sie regeln nicht wie das sonstige Deliktsrecht staatlichen Schutz gegenüber Grundrechtsbeeinträchtigungen, sondern ermächtigen Private direkt zum Selbstschutz. Es gibt noch einen weiteren Grund dafür, zwischen dem Verursachen von Grundrechtseinbußen durch staatliches Handeln und der Verursachung durch Unterlassen einen prinzipiellen Unterschied zu sehen. Wenngleich ein für andere nachteiliges Unterlassen, wie das BVerfG jüngst im Hinblick auf die Anforderungen des Art. 103 Abs. 2 GG an die Strafbarkeit von Verhaltensweisen entschieden hat, von der Verfassung im Grundsatz keineswegs gegenüber dem Tun als willensgesteuerte Körperbewegung privilegiert ist, sondern es allein auf "ein vom Willen beherrschbares Verhalten" ankommt119, unterscheidet die Rechtsordnung im Ausmaß der Sanktionen gleichwohl zwischen Handeln und Unterlassen als Willensäußerungsformen, und zwar unabhängig davon, welches Rechtssubjekt für das jeweilige Verhalten verantwortlich ist. Das spiegelt sich zum Beispiel in unterschiedlichen Strafandrohungen für das aktive und passive Herbeiführen von Rechtsverletzungen wider. Hilft A dem B, dessen freie Entscheidung, zu sterben, umzusetzen, so bleibt A straflos, wenn Β verabredungsgemäß bis zum Tod die Herrschaft über das zum Tod führende Geschehen und 117
Vgl. zum (noch geringeren) staatlichen Interesse an der Befriedigung des Gläubigers einer vertraglichen Verpflichtung mittels einer (grundrechtlichen) Belastung des Schuldners im Vollstreckungsrecht Wieser, ZZ? 98 (1985), 50 (54 Mitte); ausführlicher zum Kriterium des staatlichen "Eigeninteresses" siehe unten Kap. 4, Abschn. Ε. II. 2. a), 3. Abs., S. 345. 118 Canaris, AcP 185 (1985), 9 (12 oben); Pietzcker, Festschrift Dürig, S. 345 (354 unten), der diesen Fall von der bloßen Pflicht zur Duldung riskanten Verhaltens Dritter zu Recht deswegen unterscheidet, weil man dem Effekt der zu duldenden Handlungen ausweichen könne, nicht aber der Folge von Notwehr (zu ergänzen: es sei denn, man veranlaßt sie erst gar nicht); Schwabe, Die sogenannte Drittwirkung der Grundrechte, S. 40. 119 BVerfG, 1. Kammer des Ersten Senats, NJW 1994, 2412 (2413) - Kritik an Kassenärztlicher Vereinigung -.
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A keine Garantenstellung im Sinne von § 13 StGB hatte120. A darf jedoch nicht selbst die Herrschaft über das Geschehen haben, selbst wenn Β dies genauso frei wollte, sonst macht er sich nach § 216 StGB strafbar 121. Schneidet sich Β ausfreiem Entschluß einen Finger ab, bleibt A straffrei, wenn er zuschaut. Eine Bestrafung kommt jedoch in Betracht, wenn A die Rechtsgutverletzung selbst aktiv bewirkt und auf Wunsch des Β dessen Finger abschneidet. Hier kann die Zustimmung des Β unerheblich sein, weil er sich nicht selbst verstümmelt, sondern in eine durch Handeln eines anderen bewirkte Körperverletzung einwilligt (§ 226a StGB). Die unterschiedliche Sanktionsandrohung läßt sich zum einen materiell-rechtlich dadurch rechtfertigen, daß für Tun mehr Willensaktivität nötig ist, der Handelnde also mehr Gefährdungspotential schafft als der Unterlassende. Auch wird durch Duldung von Tun mehr nachahmendes Tun provoziert als durch Unterlassen ein Unterlassen anderer in gleicher Situation hervorgerufen wird, weil Unterlassen seltener planbar ist. Der Nachahmungseffekt von Duldung eines Tuns ist also gravierender und wahrscheinlicher als der von Unterlassen. Zum anderen läßt sich die unterschiedliche Sanktionsandrohung prozessual-präventiv dadurch begründen, daß dem Handelnden wegen der größeren Gefahr des Mißbrauchs der Einwilligung der Rechtsfertigungsmöglichkeit für eigenes rechtswidriges Handeln diese Möglichkeit von vornherein abgeschnitten wird 122 . Die Gleichstellung konstituierter Freiheit mit natürlicher Freiheit hat auch keinen dogmatischen Mehrwert, soweit es um Zivilrecht geht: Wenn die herrschende Eingriffsdogmatik fordert, die natürliche Freiheit müsse Eingriffsgegenstand sein123, hat dies den , daß der Rechtsanwender für das Vorliegen eines Schutzbereichseingriffs nur feststellen muß, ob Verhaltensmöglichkeiten reduziert oder gegenständlich erfaßbare Güterbestände gemindert wurden und welches Grundrecht das verhinderte Verhalten oder die geminderten Güterbestände thematisiert. Dieser Vorteil schwindet, wenn auch das Verkürzen gesetzlich gewährter grundrechtsgünstiger Schutzansprüche dem Eingriff des Staates gleichgestellt wird. Denn nun muß der Rechtsanwender zusätzlich zunächst die vorenhaltene grundrechtsgünstige Position bestimmen. Dann muß er im Sinne Lübbe-Wolffs die definierte Position einem grundrechtlichen Schutzauftrag zuordnen124. Dieses kann bei Normen mit Schutzmittelermessen schwierig sein. Dadurch wird gegenüber der oben vorgestellten Lösung, die Regeln der Staats120
Vgl. BGHSt 32, 262 (265); Kutzer, NStZ 1994, 110 (112, Ii. Sp., Mitte). Vgl. BGHSt 19, 135 (139 unten/140); Kutzer, NStZ 1994, 110 (111, re. Sp., 2. Hälfte, 112, re. Sp.). 122 Auf die Vermeidung von Beweisschwierigkeiten und eine funktionierende Strafrechtspflege stellt ab Hillgruber, Der Schutz des Menschen vor sich selbst, S. 85. 123 Lübbe-Wolff, Die Grundrechte als Eingriffsabwehrrechte, S. 75, m. w. Nachw. in Fußn. 3. 124 Lübbe-Wolff, Die Grundrechte als Eingriffsabwehrrechte, S. 119, 122. 121
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eingriffsdogmatik zu Eingriffsabwehrregeln im weiteren Sinne zu modifizieren, für das Zivilrecht kein Fortschritt erzielt, wie ein Vergleich zeigt: Ein Gericht weist die Unterlassungsklage des Gewerbetreibenden A gegen die Werbung des Β zurück. Nach der hier vorgeschlagenen Lösung wird eine Schutzpflichtverletzung durch das Gericht geprüft. Dabei werden die Verhältnismäßigkeitsregeln der klassischen Eingriffsdogmatik für die Beurteilung des streitgegenständlichen Privateingriffs des Β inzident herangezogen. Folgt man Lübbe-Wolffs Modell wird dasselbe Ergebnis über einen künstlichen Umweg erreicht: Die gerichtliche Schutzverweigerung wird als Eingriff des Staates in die grundrechtsgünstige Position "Wettbewerbsunterlassungsanspruch" geprüft. Dann wird untersucht, ob diese Position einen grundrechtlichen Schutzauftrag erfüllt. Das tut sie dann, wenn das Nichtgewähren der Position den A einem Privateingriff aussetzt, der grundrechtsnotwendigerweise verhindert werden müßte. Ist dies der Fall, steht fest, daß ein Eingriff des Staates vorlag. Gleichzeitig steht fest, daß der Staatseingriff grundrechtswidrig war. Nicht nur auf Umwege geleitet, sondern auch erschwert wird die Grundrechtsprüfung, wenn der Grundrechtsschutzzweck von Vorschriften nicht so offenkundig ist. Das gilt für Verfahrensvorschriften, die die Beteiligung des Grundrechtsträgers an der Durchführung von Vorhaben vorsehen, die ihn potentiell gefährden. Wenn diese fehlerhaft angewendet werden, muß es keinen Bezug zu einem konkret-individuellen Privateingriff des Gefahrverursachers in Grundrechte geben. Es besteht also kein Automatismus dahingehend, das staatliche Verhalten unter dem Gesichtspunkt ganz oder teilweise unterlassenen Privateingriffsabwehrschutzes zu betrachten. Die Kausalkette zwischen der fehlerhaften Nichtbeteiligung und der Verwirklichung der Grundrechtsgefahr kann schwach oder stark sein. Daher mußte das BVerfG im Fall "Mülheim-Kärlich" die Vorschriften des Atomgenehmigungsverfahrens zunächst auf ihre Grundrechtsrelevanz hin untersuchen125. Diese Rechtsfindungsleistung müßte gemäß Lübbe-Wolffs Modell schon bei der Auslegung des Eingriffsbegriffs erbracht werden. Der Nutzen des klassischen Eingriffsschemas würde verspielt. Das BVerfG tat, so gesehen, gut daran, die Falschanwendung als Schutzpflichtverletzung126, nicht als Grundrechtsverletzung durch Staatseingriff 127 anzusehen. Lübbe-Wolff selbst bezeichnet in dem auf staatliche Leistungen bezogenen Teil ihrer Arbeit das Vorgehen, staatliches "Unterlassen in Tun zu transformieren" als "Trick", der Unbestimmtheitsprobleme von der Folgenseite in die Vor-
125
BVerfGE 53, 30 (65 unten/66 oben) - "Mühlheim-Kärlich" -. BVerfGE 53, 30 (66 oben): "...Pflicht zum Schutz...". 127 So erwogen von: Lübbe-Wolff, Die Grundrechte als Eingriffsabwehrrechte, S. 107 oben. 126
. Eingriffsgi
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aussetzungsseite verschiebt128. Das trifft zu. Ist die durch Gesetz gewährte grundrechtsgünstige Position erst einmal im Hinblick auf ihren Inhalt und ihre grundrechtliche Notwendigkeit hin definiert, ist der Inhalt der richtigen Rechtsanwendung klar. Falschanwendung ist alles das, was von der Definition abweicht. Die Rechtsfolge heißt dann nur noch: "Unterlassen der Falschanwendung", und kann auf das zur Tatbestandsseite Ermittelte schlicht verweisen.
II. Auslegung des Eingriffsbegriffs durch Schwabe Ältere Versuche, den Eingriffsbegriff auf Fälle staatlichen Unterlassens auszudehnen, stammen von Schwabe und Murswiek 129. Eingegangen werden soll hier nur auf Schwaben Auffassung, weil er sie ausführlich für zivilrechtliche Normen konkretisiert hat. Anders als Lübbe-Wolff hält Schwabe daran fest, daß ein Eingriff des Staates nur ein staatliches Handeln sein könne. Nach seiner Ansicht ist das Nichtverhindern oder -verbieten von Grundrechtsbeeinträchtigungen Privater deswegen ein Eingriff, weil die Privateingriffe Privater dem Staat als dessen Handeln zuzurechnen seien. Daß Schwabes Zurechnungsmodell im Ansatz der Formulierung in Art. 1 Abs. 1 Satz 2 GG, die zwischen staatlicher Achtung und staatlichem Schutz von Grundrechten unterscheidet, nicht Rechnung trägt, wurde bereits bemerkt130. Allerdings bedarf es einer besonderen Erörterung seiner Auffassung im Hinblick auf die gerichtliche Zivilrechtsanwendung. Hier scheint seine Theorie von größerer Überzeugungskraft zu sein als im übrigen. Denn ein Zivilgericht, das dem Opfer eines Privateingriffs Schutz nicht zuerkennt, unterläßt nicht nur etwas. Vielmehr manifestiert sich seine Entscheidung, Schutz zu unterlassen, in rechtsgestaltender Aktivität: Es gibt seine Entscheidung nicht nur einfach bekannt, sondern bewirkt auch, daß ein Schutzbegehren zu demselben Streitgegenstand aussichtslos wäre. Das ist ein Unterschied zu dem, was bisher als "gerichtliches Unterlassen" galt: das Unterlassen jedweder gerichtlichen Entscheidung, wenn die Pflicht besteht, zumindest irgendeine Entscheidung zu treffen 131. Das "qualifizierte gerichtliche Unterlassen", die Schutzverweigerung, verwehrt dem Opfer nicht nur Handeln, sondern belastet es auch mit formeller und materieller Rechtskraftwirkung. Verweigert das Zivilgericht Schutz gegen einen bevorstehenden Privateingriff, ergibt sich daraus für das Opfer faktisch das Verbot, den Angriff selbst abzuwehren132. Schwabe sieht daher in der schutzabweisenden Entscheidung eine Duldungsver128
Lübbe-Wolff Die Grundrechte als Eingriffsabwehrrechte, S. 227, Fußn. 60 unten. Zu Murswiek S. o. Kap. 1, Abschn. Α. I. 1. c), a. E., S. 23 mit Fußn. 52. 130 S. ο. Kap. 1, Abschn. A. I. 2. c), S. 36. 131 BVerfGE 10, 302 (306, sub II. 2.). 132 Lübbe-Wolff, Die Grundrechte als Eingriffsabwehrrechte, S. 173 oben; vgl. Schwabe, Probleme der Grundrechtsdogmatik, S. 213 unt. Drittel. 129
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pflichtung 133. Wäre dies so, wäre jede zivilgerichtliche Schutzabweisung ein Staatseingriff, denn staatliche Duldungsverpflichtungen verkürzen unstreitig natürliche Freiheit. Indes liegt in der gerichtlichen Schutzabweisung kein Befehl, den streitgegenständlichen Privateingriff zu dulden134. Duldungspflichten schafft der Staat dort, wo er an dem zu duldenden Verhalten und dessen Wirkung ein eigenes Interesse135 hat. Tritt die Wirkung nicht ein, ist das Ziel der Duldungsverpflichtung nicht erreicht. Daher ist der Staat daran interessiert, daß der Adressat der Duldungspflicht der Wirkung des zu duldenden Verhaltens nicht ausweicht. Schützt der Staat nicht gegen einen Privateingriff, muß er an der Wirkung dieses Privateingriffs selbst nicht interessiert sein. Er hätte keinen Anlaß gehabt, den Privateingriffseffekt selbst herbeizuführen. Das Opfer dürfte daher ohne weiteres dem Privateingriff ausweichen, wenn es das kann136. Der Unterschied zwischen Duldungspflicht und Schutzverweigerung soll im folgenden Beispiel noch einmal verdeutlicht werden: Spricht der Staat gegenüber A die Verpflichtung aus, eine Blutentnahme zu dulden, ist er an der Grundrechtseinbuße selbst interessiert. Er benötigt sie für die Feststellung strafrechtsrelevanten Verhaltens. A dürfte der Vornahme der Blutprobe nicht ausweichen. Verweigert der Staat hingegen dem A gegen eine bevorstehende Staubemission aus der Anlage des Β Schutz, verpflichtet er A keineswegs zur Duldung im eigentlichen Sinn, wenn auch der Wortlaut des § 906 Abs. 2 Satz 2 BGB ("..zu dulden..") diesen Eindruck erweckt. A könnte der Emission nämlich durch Umzug ausweichen. Der Staat selbst ist nicht daran interessiert, daß gerade A Emissionen erduldet. Er vertritt das öffentliche Interesse nur insoweit, als er es mit diesem für unvereinbar hält, den Β von der Ausübung seines Gewerbes abzuhalten. Dabei kommt es ihm nicht darauf an, ob A, Β oder C darunter leiden.
133 Schwabe, Probleme der Grundrechtsdogmatik, spricht auch von der "Erlaubnis" des nicht verbotenen Verhaltens (S. 214 oben), was schon zu weit geht, denn der Staat kann andere Gründe gehabt haben, das Verhalten nicht zu verbieten, als den, es für erlaubt zu halten (etwa den, das Verbot für unverhältnismäßig zu halten); an anderer Stelle spricht er von "Dulden" (S. 213, 2. Hälfte), obwohl er selbst den Begriff des "Duldens" für unglücklich hält (S. 15f.). 134 Offen gelassen von: Lübbe-Wolff, Die Grundrechte als Eingriffsabwehrrechte, S. 173. 135 Zur Bedeutung des staatlichen Eigeninteresses schon oben S. 78. 136 Vgl. oben Kap. 1, Abschn. Α. I. 2. c), S. 36 mit Nachweisen in Fußn. 155; was den zivilrechtlichen Duldungsbegriff angeht (§ 906 BGB), weicht dieser freilich von hier verwendeten Definition des Duldens ab: Ein staatliches Eigeninteresse an den Immissionen als solchen gibt es nicht, der Staat gibt nur zu erkennen, sie nicht abwehren zu wollen. Der Duldungspflichtige ist nicht gehindert, den Immissionen auszuweichen. Schwabe, der diesen Duldungsbegriff zugrundelegt, wählt als Beispiel gleichwohl eine Situation, in der faktisch keine Ausweichmöglichkeit besteht (S. 215 oben), er legt also letztlich doch einen Duldungsbegriff zugrunde, der mehr meint als bloßes "Erlauben".
D. Folgerung für das Grundrecht gegenüber den Zivilgerichten
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Daran zu denken ist noch, daß eine schutzabweisende Entscheidung eine Pflicht zum Unterlassen von Selbsthilfe enthalten könnte. Schwabe erkennt in der Schutzverweigerung die Pflicht des Opfers, sich nicht selbst gegen den Angriff zu wehren137. Mit "wehren" kann Schwabe außer "um Rechtsschutz" ersuchen auch "sich selbst verteidigen" gemeint haben. Wird A der Schutz gegen eine zu erwartende ehrkränkende Behauptung des Β versagt, läge darin Schwabe zufolge das Verbot an A, nicht gewaltsam das Äußern der Behauptung zu verhindern. Das Verbot gewaltsamer Selbsthilfe besteht jedoch unabhängig von staatlichen Entscheidungen zu Schutzbegehren138. Nach der engen Grundrechtstatbestandstheorie139 fällt gewaltsame Freiheitsausübung als offensichtlicher Mißbrauch von Freiheit 140 deshalb sogar nicht mehr in den Schutzbereichs des Grundrechts 141. Der Staat stellt also nur eine Pflicht fest, die unabhängig vom konkretisierenden Tätigwerden des Gesetzgebers oder der Rechtsanwendung stets aktuell ist, begründet aber keine neue142.
D. Folgerung für das Grundrecht gegenüber den Zivilgerichten Das Grundrecht gegenüber den Zivilgerichten ist für die eine der am Rechtsstreit beteiligten Parteien ein Eingriffsunterlassungs- für die andere ein Schutzrecht. In jeder der beiden Funktionen profitiert der Grundrechtsschutz von der klassischen Eingriffsdogmatik, hier direkt, dort indirekt. Das kommt daher, weil auf das Zivilrecht, soweit es sich zu in Form von Privateingriffen ausgetragenen Konflikten zwischen Privatrechtssubjekten verhält, also Deliktsrecht oder Eheund Familienrecht ist, ein modifiziertes Staatseingriffsschema paßt: Zwischen dem nur Grundrechtsschutz auslösendem Privateingriff und dem eine Grundrechtsverletzung darstellenden Privateingriff kann so klar unterschieden werden, wie im Hinblick auf den Staatseingriff. Das unterscheidet die Eingriffsunterlassungsrechte im öffentlichen Recht und die Schutzgrundrechte im Zivilrecht von den Grundrechten gegenüber staatlichem Handeln im Leistungsbereich. In jeder der beiden Funktionen (Eingriffsunterlassungs- und Privatein137
Schwabe, Probleme der Grundrechtsdogmatik, S. 213 unt. Drittel. Lübbe-Wolff, Die Grundrechte als Eingriffsabwehrrechte, S. 173 Mitte. 139 Vertreter: Isensee, NJW 1986, 1645 (1646, re. Sp. oben); Rüfner, in: BVerfG und GG II, S. 453 (459, letzt. Abs. - 461, vor b]); Vertreter der "weiten Tatbestandstheorie": Hillgruber, Der Schutz des Menschen vor sich selbst, S. 115 unten; Merli, JB1. 1994, 233 (234, re. Sp., ob. Drittel). 140 Nicht gleichzusetzen mit dem "präformierten Schutzbereich" der Grundrechte (dazu Lübbe-Wolff, Die Grundrechte als Eingriffsabwehrrechte, S. 87 - 102), denn dieser schließt sozialschädliche Freiheitsausübung aller Art vom Grundrechtsschutz aus, nicht nur die gewaltsamere. 141 Isensee, Festschrift Sendler, S. 39 (51, sub 4.). 142 Vgl. Lübbe-Wolff, Die Grundrechte als Eingriffsabwehrrechte, S. 172 Mitte. 138
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griffsabwehrpflicht) bindet das Grundrecht die Zivilgerichte hinsichtlich eines bestimmten Falls gleich stark oder gleich schwach143. Denn wo eine Zivilnorm Staatseingriffsermessen gewährt, gewährt sie auch Schutzermessen.
E. Durchsetzung des Grundrechts im Zivilrecht Da sich sowohl Staatseingriffs- als auch Privateingriffsabwehrfälle durch ein Eingriffsschema im weiteren Sinne strukturieren lassen und, bezogen auf einen bestimmten Fall, die Gerichte gleich intensiv binden, stellt sich die Frage nach verfassungsprozessualen Konsequenzen. Sie lautet: Werden in der verfassungsgerichtlichen Praxis an Verfassungsbeschwerden gegen Zivilgerichtsentscheidungen, die Privateingriffsabwehrschutz versagen, strengere oder zumindest gleich strenge Zulässigkeitsanforderungen gestellt wie an Gerichtsentscheidungen, die auf klassische Weise (etwa Lüth-Urteil 144) in Grundrechte eingreifen? Auf den ersten Blick scheint das BVerfG diese Frage zu bejahen. Es vertritt die Ansicht, eine Verfassungsbeschwerde gegen eine Gerichtsentscheidung müsse in der Regel nicht näher auf ihre Zulässigkeit hin geprüft werden145. Ein vom Beschwerdeführer angegriffenes Urteil betreffe diesen gegenwärtig, weil die Anwendung des abstrakten Rechtssatzes auf den konkreten Sachverhalt in aller Regel zu einem "konkreten Eingriff in die Rechtssphäre des Betroffenen" führe 146. Diese Begründung vermag jedoch nur die Selbstbetroffenheit ausreichend zu erklären. Diese ist tatsächlich bei Gerichtsentscheidungen aller Art unproblematisch. Denn wer in einem Rechtsstreit unterliegt, ist zweifellos von der Gerichtsentscheidung selbst betroffen, unabhängig davon, ob er selbst verurteilt oder ob sein Antrag auf Verurteilung der anderen Gegenpartei abgewiesen wird 147 . Inwieweit aber ein "konkreter Eingriff in die Rechtssphäre des Betroffenen" auch die vom BVerfG geforderte Gegenwärtigkeit und Unmittelbarkeit grundrechtlicher Betroffenheit verbürgt, bedarf der genaueren Untersuchung. Wenn unter grundrechtlicher Betroffenheit zu verstehen wäre, der vom 143
Im Ergebnis auch Klein, DVB1. 1994,489 (496, Ii. Sp. oben). Daß die Gerichtsentscheidung im Lüth-Fall in das Eingriffsschema paßt, sehen so auch ausdrücklich Canaris , JuS 1989, 161 (167, re. Sp. oben); ders., Grundrechte und Privatrecht, S. 31, der diesen Fall als unproblematisch "abwehrrechtlich" relevanten betrachtet und in den Ausführungen des BVerfG zur Wechselwirkung die verschleierte Anwendung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes erblickt (S. 167, re. Sp, 2. Abs.), während er für den Blinkfüer-Fall die grundrechtliche Schutzgebotsfunktion bemüht [S. 168, sub b)]), sowie Miebach, Willkür- und Abwägungskontrolle, S. 6, und Classen , AöR 112 (1997), 65 (72). 145 BVerfGE 53, 30 (48). 146 BVerfGE 72, 1 (5 unten). 147 Unstreitig, z. B. Fleury, Verfassungsprozeßrecht, Rdn. 298, S. 69 oben. 144
E. Durchsetzung des Grundrechts im Zivilrecht
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Verfassungsbeschwerdeführer angegriffene staatliche Akt müsse zu einer Verkürzung natürlicher Freiheit führen, also ein Staatseingriff im klassischen Sinne sein, wäre eine Verfassungsbeschwerde gegen Schutz versagende Gerichtsentscheidungen unzulässig. Denn das BVerfG verlangt vom Beschwerdeführer, substantiiert darzutun, daß eine Verletzung durch den von ihm angegriffenen Akt in einem seiner Grundrechte möglich ist 148 . Da eine unmittelbare Verkürzung natürlicher Freiheit durch die Gerichtsentscheidung im Falle der Abweisung von Schutzanträgen ausgeschlossen ist 149 , wäre, wenn die gerade vorgestellte Definition grundrechtlicher Betroffenheit richtig wäre, auch jede Möglichkeit der Verletzung in eigenen Grundrechten ausgeschlossen. Denn die Schutzantragsabweisung betrifft zwar unstreitig aktuell und unmittelbar eine "Rechtssphäre" in Gestalt der beantragten Position. Sie betrifft aber eben nicht in jedem Fall eine grundrechtlich geschützte Rechtssphäre150. Indes definiert das BVerfG wie die herrschende Meinung151 "Betroffenheit" im Sinne des Art. 93 Abs. 1 Nr.4a GG, § 90 Abs. 1 BVerfGG augenscheinlich nicht auf den klassischen Eingriffsbegriffs bezogen. Das ergibt sich vor allem aus der "Mülheim-Kärlich"-Entscheidung: Dort subsumierte das BVerfG zunächst in gewohnter Weise die Verwaltungsgerichtsentscheidung unter den Begriff "Akt der öffentlichen Gewalt" im Sinne des Art. 93 Abs. 1 Nr.4a GG, § 90 Abs. 1 BVerfGG 152. Als es jedoch die gegenwärtige und unmittelbare Betroffenheit der Beschwerdeführer prüfte, machte es nicht die rechtsschutzversagende Gerichtsentscheidung, sondern die streitgegenständliche Freigabeentscheidung der staatlichen Verwaltung zum Gegenstand der Betroffenheitsprüfung 153. Das folgt zum einen aus seinen allgemeinen Ausführungen zur Wirkung des Freigabebescheids des rheinland148 Möglichkeit hinreichend deutlich vortragen: BVerfGE 64, 1 (12 oben); Verletzungsmöglichkeit dartun: 74, 358 (369); 59, 63 (82 oben); Beeinträchtigung hinreichend dartun: 34, 384 (394); 67, 90 (94 oben); substantiierte Ausführungen, die Möglichkeit einer Verletzung hinreichend deutlich machen: 68, 176 (184, sub Β. I.); Ausführungen müssen Möglichkeit einer Verletzung erkennen lassen: 88, 384 (400, sub 3.); Möglichkeit schlüssig behaupten: 15, 256 (261 unten); 26, 116 (134); 38, 139 (146 oben); 43, 154 (165); 59, 216 (225); nach Sachverhalt darf Verletzung nicht ausgeschlossen sein: 70, 35 (50); Sachverhalt vortragen, nach dem Verletzung möglich ist: 17, 252 (258); 55, 372 (383); 56, 87 (94); 56, 146 (160); 56, 175 (181 unten); Betroffenheit schlüssig darlegen: 85, 117 (120, sub 2. a]); Sachverhalt schlicht behaupten: BVerfGE 1, 208 (237). 149 Oeter, AcP 1994, 529 (536 oben). 150 Zu pauschal meint daher Bleckmann, DVB1. 1988, 938 (939, re. Sp. unten/940, Ii. Sp. oben) jede zwischen Privatleuten ergehende Gerichtsentscheidung sei am Maßstab der grundrechtlichen Schutzpflicht zu beurteilen (es sei denn, Bleckmann meint nicht den individuellen Schutzanspruch). 151 Beispielsweise Kley/Rühmann, in: Umbach/Clemens, BVerfGG, § 90, Rdn. 48: Selbstbetroffenheit reiche. 152 BVerfGE 53, 30 (48). 153 BVerfGE 53, 30 (48).
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pfälzischen Wirtschafts- und Verkehrsministeriums auf die Rechtspositionen der Beschwerdeführer 154. Zum anderen stellte das BVerfG bei der folgenden Prüfung unmittelbarer und gegenwärtiger grundrechtlicher Relevanz der Rechtsposition auf das Unterlassen gefahrvorbeugender Maßnahmen der Verwaltung ab 155 . Es spricht sogar davon, die Verfassungsbeschwerde "betreffe" die staatliche Teilerrichtungsgenehmigung für das Kernkraftwerk 156, obwohl der Gegenstand der Verfassungsbeschwerde die Gerichtsentscheidung war. Das BVerfG prüfte also die Gerichtsentscheidung als Gegenstand der Verfassungsbeschwerde, stellte aber hinsichtlich der Anforderungen grundrechtlicher Betroffenheit auf den Streitgegenstand der Gerichtsentscheidung ab. Es maß also inzident das streitgegenständliche Verhalten an Grundrechten. Dafür, daß gleichwohl die Gerichtsentscheidung der Gegenstand der Verfassungsbeschwerde blieb, spricht klar die fallbezogene Konkretisierung der Zulässigkeitsanforderungen durch das BVerfG: Es formuliert, "die Billigung der behördlichen Entscheidung durch die Verwaltungsgerichte" müsse geeignet sein, grundrechtlich geschützte Rechtspositionen zu verletzen157. Somit war es nicht die Zufälligkeit der Wortwahl, sondern vielmehr Konsequenz, wenn das BVerfG im Obersatz seiner Prüfung von den Verfassungsbeschwerdeführern verlangte, sie müßten darlegen, daß der von ihnen angegriffene Akt geeignet sei, sie selbst unmittelbar, gegenwärtig in ihrer grundrechtlich geschützten Rechtsposition zu treffen 158. Das BVerfG sprach also bewußt nicht von einem Eingriff in grundrechtlich verbürgte (im Sinne von: natürliche) Freiheit durch den Akt der öffentlichen Gewalt, sondern von der Betroffenheit grundrechtlich geschützter Positionen. Denn natürliche Freiheit kann durch klageabweisende Verwaltungsgerichtsentscheidungen nicht verkürzt werden, wohl aber erne Rechtsposition des Klägers. Diese Rechtsposition ist der Schutzanspruch gegen das Verwaltungsgericht 159. Grundrechtlich war der Schutzanspruch im "Mülheim-Kärlich"-Fall deswegen, weil das vom Staat begehrte Verhalten dem Schutz von Leben und Gesundheit der Kläger diente. Würde das BVerfG die grundrechtliche Betroffenheit durch Zivilgerichtsentscheidungen genauso prüfen wie im "Mülheim-Kärlich"-Fall, ließe sich die anfangs des Abschnitts gestellte Frage nach der verfassungsprozessualen Gleichbehandlung von Schutzversagungs- und Staatseingriffsfällen mit "Ja" beantworten. Denn der Streitgegenstand einer Zivilgerichtsentscheidung kann auch in 154
BVerfGE 53, 30 (48). BVerfGE 53,30 (51). 156 BVerfGE 53, 30 (51 oben). 157 BVerfGE 53, 30 (49, Fettdruck nicht im Original). 158 BVerfGE 53, 30 (48). 159 Auch Oldiges, Festschrift Friauf, S. 281 (302), sieht in irrigen Klageabweisungen Verletzungen von grundrechtlichen Schutzgeboten. 155
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Antragsabweisungsfällen ein grundrechtsverkürzendes Verhalten sein, gegen das das einfache Recht Schutzpositionen gewährt. Die zivilgerichtliche Abweisung von Schutzbegehren kann also ebenfalls eine "grundrechtlich geschützte Rechtsposition" im Sinne der verfassungsgerichtlichen Zulässigkeitsanforderungen beeinträchtigen. Gegen die Erlaubnis des BVerfG, in Zivilrechtsfällen die Zulässigkeit von Verfassungsbeschwerden so zu prüfen wie im "Mülheim-Kärlich"-Fall, ließe sich einwenden, im Fall "Mülheim-Kärlich" sei der Streitgegenstand ein grundrechtsverkürzendes staatliches Verhalten gewesen, die Verwaltungsgerichtsentscheidung selbst verkürze zwar nichts, komplettiere aber die Grundrechtsverkürzung. Im Zivilrechtsfall müßte dagegen Verhalten von Privatrechtssubjekten grundrechtlich geprüft werden, das laufe auf unmittelbare Drittwirkung hinaus. Ein solcher Einwand würde nicht überzeugen: Auch im Fall "Mülheim-Kärlich" war nämlich der Streitgegenstand keineswegs ein staatliches Verkürzen natürlicher Freiheit in Form eines klassischen Eingriffs. Das BVerfG stellte dort vielmehr klar: Das Grundrecht werde nicht erst durch "eine faktische Verletzung der geschützten Rechtsgüter beeinträchtigt", sondern durch das Außerachtbleiben von Vorbeugemaßnahmen160. Obwohl sich das staatliche Unterlassen von schützender Verfahrensbeteiligung in der Genehmigung des rheinland-pfälzischen Wirtschafts- und Verkehrsministeriums manifestierte, prüfte das BVerfG dies zu Recht nicht unter dem Gesichtspunkt des staatlichen Eingriffs, sondern dem der Schutzpflichtverletzung 161. Es spricht schon in der Zulässigkeitsstation nicht von "GrundrechtseingrifF', sondern "nachteiligen Wirkungen für den grundrechtlichen Schutzbereich"162. Was den möglichen Einwand der unmittelbaren Drittwirkung durch die Hintertür angeht, so hat sich das BVerfG mit seiner Schutzpflichtlösung zu Recht nicht dem Vorwurf aussetzen müssen, es mache den privaten Betreiber des Kernkraftwerks zum Grundrechtsadressaten, weil es auf die grundrechtliche Wirkung seines Verhaltens abstelle. Ansonsten wäre jeder Schutzpflicht-Fall ein Fall unmittelbarer Drittwirkung der Grundrechte. Das ist er aber nicht, weil sowohl über Klagen gegen den Staat als auch gegen Privatrechtssubjekte stets durch einen Akt hoheitlicher Gewalt entschieden wird. Dieser ist der spätere Gegenstand der Verfassungsbeschwerde, wenn es auch der Verletzungseffekt ist, der die verfassungsgerichtliche Prüfung in materiell-rechtlicher Hinsicht bestimmt. Somit muß es dem BVerfG auch erlaubt sein, bei der Zulässigkeitsprüfung von Verfassungsbeschwerden gegen Zivilgerichtsentscheidungen die Betrof160 161 162
BVerfGE 53, 30 (51). BVerfGE 53, 30 (57). BVerfGE 53, 30 (49 unten).
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fenheit dadurch zu ermitteln, daß es auf die grundrechtlich nachteilige Wirkung durch das streitgegenständliche (private) Verhalten abstellt, wenn es eine solche Wirkung gibt. Dogmatisch begründen ließe sich das nicht nur mit der inzidenten Anwendbarkeit der Verhältnismäßigkeitskriterien auf staatliches Verhalten zu Privateingriffen, sondern auch (direkter) mit der staatseingriffsähnlichen Wirkung totaler Verweigerung von Schutz163 gegen Privateingriffe: Die schutzverweigernde staatliche Entscheidung verfestigt den Privateingriffseffekt 164. Das Opfer empfindet das staatliche Verhalten nicht nur als Nichtleistung von geforderten Mitteln gegen einen grundrechtlichen Nachteil, sondern auch als Bekräftigung des Nachteils selbst. Die nicht schützende Entscheidung kann mit der Genehmigung privaten Handelns durch die Exekutive verglichen werden. So wie der Staat dort gemäß der Formulierung des BVerfG eine gewisse "Mitverantwortung"165 für den Privateingriff trägt, hat er sie hier auch. Das macht das staatliche Verhalten zwar noch nicht zu einem staatlichen Eingriff 166. Auch die staatliche Genehmigung privater Grundrechtsgefährdung ist ja vom BVerfG nicht als Eingriffs- sondern Schutzpflichtproblem angesehen worden 167. Wohl aber wirkt die gerichtliche Entscheidung, nicht zu schützen, wegen der Mitverantwortung für den Privateingriffseffekt "staatseingriffsähnlich." 168 Denn nicht nur der Effekt des Privateingriffs ist für das Opfer eingriffsgleich, sondern die staatliche aktive Bestätigung des Effekts wirkt wie ein Staatseingriff. Auch beim BVerfG taucht dieser Gedanke auf, wenngleich dort in bezug auf Rechtsnormen: Es hält nämlich fest: In bezug auf Schutzvorschriften, bei deren Anwendung der Staat Mitverantwortung trage (dort: Verfahrensnormen, betreffend die Genehmigung von Kernkraftwerksbau), seien "nicht weniger strenge Maßstäbe anzulegen als bei der Prüfung staatlicher Eingriffsgesetze" 169. Statt "eingriffsgleich" bietet sich in Anlehnung an die Terminologie des BVerfG auch der Ausdruck "verletzungsgleiche Beeinträchtigung"170 an. Doch wurde dieser Ausdruck im Hinblick auf gesetzgeberisches Unterlassen gebraucht. Das trägt we-
163 Pietzcker, Festschrift Dürig, S. 345 (354 oben) meint sogar, der Lüth-Fall sei auch im Falle der fachgerichtlichen Klageabweisung ein Fall des (echten) Eingriffs in die Rechte Veit Harlans gewesen. 164 Von "Bestätigung" und "Perpetuierung" sprach damals schon Dürig, Festschrift Nawiasky, S. 157 (158, Fußn. 2). 165 Vgl. BVerfGE 53, 30 (58). 166 S. o. Abschn. C. I I , S. 81f.; bezüglich der Baugenehmigung richtig zwischen Schutz- und Eingriffsunterlassungspflicht abgrenzend: Schwerdtfeger, NVwZ 1982, 5 (7, re. Sp. Mitte). 167 BVerfGE 53, 30 (57). 168 Gedanke auch bei Schneider, DVB1. 1969, 325 (334, re. Sp, sub D.) was das öffentliche Recht angeht. 169 BVerfGE 53, 30 (58). 170 BVerfGE 66, 39 (59) - Nato-Nachrüstung -.
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niger eingriffsähnliche Züge, was die Vorsicht des BVerfG in der Wortwahl in der dortigen Entscheidung rechtfertigt. Indes schlägt das BVerfG diesen Weg nicht ausdrücklich ein. Bei der Entscheidung über Angriffe gegen Entscheidungen von Zivilgerichten bedient es sich vielmehr der Formel des gerichtlichen Verkennens. Zivilgerichte verletzen danach Grundrechte, wenn sie den Einfluß der Grundrechte auf das anzuwendende Zivilrecht verkannt haben und darauf eine Entscheidung zum Nachteil der Prozeßpartei beruht ("Hecksche Formel") 171. Gerichte verkennen grundrechtlichen Einfluß auf das von ihnen anzuwendende Recht, wenn ihnen Auslegungsfehler zur Last fallen, die auf einer grundsätzlich unrichtigen Anschauung von der Bedeutung eines Grundrechts beruhen172. Früher, aber auch in allerneuester Zeit wieder (Kammerentscheidung)173 sprach bzw. spricht das BVerfG von der Verletzung "spezifischen" Verfassungsrechts. Daraus folgt für die Darlegung der Zulässigkeit: Der Beschwerdeführer muß die Möglichkeit geltend machen, daß das Zivilgericht grundrechtliche Ausstrahlung verkannt habe174. Ob es demzufolge ausreicht, wenn er pauschal die Ansicht vertritt oder ob er den Obersatz benennen muß, den das Zivilgericht fälschlicherweise gebildet hat, ist nicht klar. Damit bleibt auch unklar, ob mit der Heckschen Formel Zulässigkeitsanforderungen verschärft oder abgemildert werden. Jedenfalls aber werden sie verändert. Auch das wäre noch hinnehmbar, wenn das BVerfG in allen Fällen, also sowohl bei Privateingriffs- als auch bei Staatseingriffsfällen, veränderte Anforderungen an die Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde gegen Zivilgerichtsentscheidungen stellte. Das tut es aber offenbar nicht. Den staatlichen Eingriff durch ein Zivilgericht mißt es ohne weiteres an Verhältnismäßigkeitskriterien 175. Da es in diesen Fällen, statt die Hecksche Formel zu zitieren, ausführt, eine "grundrechtlich unrichtige Anschauung" dürfe nicht "im Ergebnis zu einer unverhältnismäßigen Beeinträchtigung" führen 176, und weni171 Seit BVerfGE 7, 198 (206 unten) - Lüth - st. Rspr., zuletzt BVerfGE 89, 214 (230, 1. Hälfte) - Bürgschaft -. 172 Seit BVerfGE 18, 85 (93, vor b]) - Spezifisches Verfassungsrecht -, zuletzt BVerfG, 2. Kammer des Zweiten Senats NJW 1995, 383 (384, Ii. Sp., vor b]). 173 BVerfGE 1, 418 (420 unten); 18, 85 (92 unten); nun wieder BVerfG, 2. Kammer des Zweiten Senats NJW 1995, 383 (384, Ii. Sp., vor b]). 174 MaunzJSchmidi-BleibtreufKiQinßJisamQT, BVerfGG, § 92, Fußn. 22, i. V. mit § 90 Rdn. 122; Schiaich, Das Bundesverfassungsgericht, Rdn. 214 a. E., S. 140; vgl. schon BVerfGE 3, 213 (220 oben), wenn auch nicht im Zulässigkeitsteil der Entscheidung: es müsse "behauptet" werden, daß durch die fachgerichtliche Auslegung der Norm "ein verfassungswidriger Sinn" gegeben worden sei. 175 BVerfGE 85, 248 (260, sub cc]): Erforderlichkeit, S. 261f.: Zumutbarkeit - ärztliches Werbeverbot -; BVerfG, NJW 1993, 1969 (1970, sub b]) - SB-Großmarkt -; ablehnender, was die Anwendung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes angeht, noch BVerfGE 30, 173 (199) - Mephisto -, hier stellte das BVerfG sogar die Eingriffsqualität des mit der Verfassungsbeschwerde angegriffenen Gerichtsurteils in Frage. 176 BVerfGE 85, 248 (258 oben).
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Kap. 2: Grundrecht gegenüber der Zivilrechtsprechung
ger aussagekräftig davon spricht, das Fachgericht müsse "die Beachtung grundrechtlicher Normen sicherstellen"177, oder, nachdem es die Bedingungen verfassungsgerichtlicher Kontrolle im Sinne der Heckschen Formel nennt, ausführt, "es sei denn", das betreffende Grundrecht werde "übermäßig stark" 178 oder "unverhältnismäßig"179 eingeschränkt, ist davon auszugehen, daß das BVerfG die Hecksche Formel nicht benötigt, wenn es einen staatlichen Eingriff unter Verhältnismäßigkeitsgesichtspunkten prüft. Ob die Hecksche Formel tatsächlich überflüssig wird, wenn eine Verhältnismäßigkeitsprüfung möglich ist, soll später geklärt werden180. Hier ist wichtig, daß das BVerfG allem Anschein nach bei Staatseingriffen im Verein mit Eingriffsermessen auf die Hecksche Formel verzichtet und diese deswegen auch kaum als Maßstab für die Prüfung der Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde verwenden kann. Dann bleibt aber nur die Darlegung eines staatlichen Eingriffs als Zulässigkeitsvoraussetzung übrig. Deswegen ist es nicht verständlich, wenn das BVerfG bei einer Verfassungsbeschwerde gegen die gerichtliche Verweigerung von Schutz gegen Privateingriffe nicht entsprechend den Privateingriff als Zulässigkeitsvoraussetzung ausreichen läßt. Daß es dies nicht tut, sagt es zwar nicht ausdrücklich. Denn auch in diesen Fällen verwendet es auf die Hecksche Formel in der Zulässigkeitsstation kem Wort, macht sie aber in der Begründetheit um so intensiver zum Ausgangspunkt jeder weiteren Prüfung, mißt also dem Privateingriff nicht die Bedeutung zu, die es in anderen Fällen dem staatlichen Eingriff beimißt. Damit steht freilich noch nicht fest, daß das BVerfG nicht insgeheim auch im Zivilrecht auf den streitgegenständlichen Verletzungseffekt abstellt, wenn es die grundrechtliche Betroffenheit des Verfassungsbeschwerdeführers als Zulässigkeitsvoraussetzung der Verfassungsbeschwerde untersucht. Dafür spricht folgendes: Die Beeinträchtigungsintensität, von der nach ständiger Rechtsprechung des BVerfG die verfassungsgerichtliche Kontrolldichte abhängt181, ist ein Produkt aus der Schwere der objektiven Pflichtverletzung 182 in Gestalt des gerichtlichen 177
BVerfG, NJW 1993, 1969, sub 2. a). BVerfGE 87, 287 (323, sub II. 1.) - Anwalt und Zweitberuf-. 179 BVerfG, 2. Kammer des Ersten Senats, NJW 1995, 712 (712, sub 2, 1. Abs.); NJW 1995, 775 (776 oben). 180 S. u. Kap. 4, Abschn. E. III. 2., S. 351f. 181 Seit BVerfGE 42, 143 (149 oben) - DGB - st. Rspr., siehe nur BVerfGE 54, 208 (215) - Böll -; 61, 1 (6, a. E.) - "NPD Europas" -; in neuerer Zeit ausdrücklich BVerfGE 81, 278 (292 oben): - Urinieren auf die Bundesflagge -; 83, 130 (145 unten) - Josefine Mutzenbacher -; BVerfG, 2. Kammer des Ersten Senats, NJW 1995, 951 (952, re. Sp, 2. Abs.); ausführliche Übersicht bei Scherzberg, Grundrechtsschutz und Eingriffsintensität, S. 41 - 86. 182 Auch Oldiges, Festschrift Friauf, S. 281 (288, 3. Abs.), erklärt das, was dem Zivilgericht als Grundrechtsverstoß vorgeworfen wird, auf der „Ebene des objektiven Rechts". 178
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Verkennens und der Nachhaltigkeit des staatlichen Eingriffs 183. Obwohl in Klageabweisungsfällen die Beeinträchtigungsintensität eigentlich nur noch von der Schwere der objektiven Pflichtverletzung des Gerichts (Verkennen) abhängen dürfte, weil kein staatlicher Eingriff in Grundrechte in Sicht ist, hat das BVerfG im "Böll"-Fall dennoch auf die Intensität der Verkürzung subjektiver Freiheit durch die gerichtliche Entscheidung abgestellt184. Damit kann es nur die Verkürzung durch das das Schutzbegehren veranlassende Privatrechtssubjekt, hier durch den Bild-Journalist Waiden, gemeint haben. Es analysiert auch im allgemeinen nicht etwa eingehend die Wirkung des Aktes der öffentlichen Gewalt, also der zivilgerichtlichen Entscheidung, sondern die des streitgegenständlichen Privateingriffs, also etwa der Beeinträchtigung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts Bölls durch Waiden185 oder der Beeinträchtigung der Pressefreiheit der Bild-Zeitung durch Wallraff 186. Der Privateingriffseffekt ist hier sozusagen die "subjektiv-grundrechtliche Komponente" der Beeinträchtigung. Ihn rechnet das BVerfG dem staatlichen Verhalten, also der gerichtlichen Klageabweisung, zu. Das ergibt sich deutlich aus dem Böll-Urteil 187. Damit tut das BVerfG unausgesprochen das, was es, wie oben188 dargestellt, auch im Falle der verwaltungsgerichtlichen Abweisung einer Klage auf grundrechtsschützende Verfahrensbeteiligung tat: Es prüft die Aktualität und Unmittelbarkeit grundrechtlicher Betroffenheit, indem es den Streitgegenstand, nicht aber den hoheitlichen Akt auf seine grundrechtsverkürzende oder schutzverweigernde Wirkung untersucht. Ansatzpunkt für eine zufriedenstellende dogmatische Bewältigung des inhaltlich richtigen Vorgehens des BVerfG könnten seine Ausführungen im "Mülheim-Kärlich"-Fall zur faktischen Grundrechtsverletzung 189 sein. Das BVerfG könnte seine Ausführungen im Hinblick auf die Zivilgerichtsbarkeit mit seinen Worten ergänzen: Das Grundrecht wird nicht erst durch eine faktische Verletzung der geschützten Rechtsgüter oder (so im "Mülheim-Kärlich"-Fall) 183
Dafür spricht, daß das BVerfG die Nachhaltigkeit des Eingriffs und die Beeinträchtigungsintensität (hier meint es mit Beeinträchtigungsintensität nicht den Obergriff, das Produkt der beiden Kriterien, sondern das objektive Verkennen) nebeneinander ("und") als Kriterien benennt, so auch Lincke, EuGrZ 1986, S. 60 (67, Ii. Sp. oben). 184 BVerfGE 54, 208 (215); so auch BVerfGE 61,1 (6). 185 BVerfGE 54, 208 (217 Mitte): Die Äußerungen (Waldens) seien geeignet, das Persönlichkeitsrecht (Bölls) zu beeinträchtigen. 186 BVerfGE 66, 116 (140 - 143, sub III.) - Wallraff-; das kritisiert Canaris , Grundrechte und Privatrecht, S. 58, zu vordergründig damit, daß ein Privatrechtssubjekt nicht gegen Grundrechte verstoßen könne. 187 BVerfGE 54, 208 (216 oben): Die gerichtliche Feststellung, die Äußerungen (Waldens) seien nicht falsch, träfen den Kem der Persönlichkeitssphäre (Bölls), wenn sie nicht getan werden durften. 188 S. o. S. 85f. 189 BVerfGE 53, 30 (51).
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Kap. 2: Grundrecht gegenüber der Zivilrechtsprechung
durch Unterlassen von Vorbeugemaßnahmen (zu ergänzen: nicht nur der staatlichen Verwaltung, sondern auch der Zivilgerichte [Beispiel: Unterlassungsklage]) beeinträchtigt, sondern auch (nun folgt die eigentliche Ergänzung bezüglich der Zivilgerichte) durch Unterlassen von Maßnahmen, welche die Wirkung faktischer Grundrechtsverletzung beseitigen oder wirkungsbedingt Schaden ausgleichen.
Kapitel 3
Grundrechtliche Relevanz der Vertragsrechtsprechung Das vorhergehende Kapitel ergab: Wenden die Gerichte Zivilrecht an, reagieren sie auf Begehren, deren Gegenstand der Schutz vor Privateingriffen ist. Privateingriffe sind Ereignisse, die Chancen der Ausübung vorhandener Freiheit reduzieren und von anderen Privatrechtssubjekten herbeigeführt wurden. Anders ausgedrückt sind Privateingriffe Verhaltensweisen von Individuen, die vorhandene ("natürliche") Freiheit verkürzen. Die Grundrechte der Freiheitsinhaber haben die Funktion von Privateingriffsabwehrrechten. Wie die Unterlassungsrechte gegenüber Staatseingriffen wirken auch die Privateingriffsabwehransprüche negatorisch im weiteren Sinne. Denn sie schützen Freiheit, deren Umfang mit Hilfe von Hindernissen, also negativ definiert wird. Die grundrechtlichen Pflichten der Zivilgerichte lassen sich in bezug auf diese Hindernisse inhaltlich mit einer Klarheit bestimmen, welche die von Leistungspflichten prinzipiell übertrifft: die Verhinderung von Privateingriffen, die Beseitigung von Privateingriffswirkung oder der Ersatz von Schäden, die Folge der Privateingriffswirkung sind. Die Nichterfüllung der Privateingriffsabwehrpflichten löst grundrechtliche Schutzansprüche aus und kann unter Umständen (prinzipielle Schutzverweigerung) staatseingriffsähnlich wirken. Die Erfüllung dieser Pflichten löst gegen den Staat gerichtete Eingriffsunterlassungsansprüche der eingreifenden Privatrechtssubjekte aus. Daher schafft eine jede solche Normanwendung Kollisionen grundrechtlicher Pflichten, deren Bewältigung einen grundrechtlichen Nachteil der im Rechtsstreit unterlegenen Partei bewirkt. Diese Ergebnisse können indes nur für den Teil des Zivilrechts Geltung beanspruchen, der sich zu Privateingriffen verhält. Das sind neben dem Deliktsrecht auch Normen, die dem Staat eine Regelungskompetenz für Privateingriffsrisiken in besonderen Gewaltverhältnissen zuweisen (Ehe- und Familienrecht). Die im folgenden zu beantwortende Frage lautet, ob sich auch das Vertragsrecht mit Hilfe einer Ausweitung des Staatseingriffs- zum Eingriffsschema im weiteren Sinne dogmatisch bewältigen läßt. Zwar können auch aus der Anwendung von Vertragsrecht unzweifelhaft grundrechtsverkürzende Ereignisse in Form von Gerichtsentscheidungen als Staatseingriffen resultieren, wenn Grundrechte Vertragsgegenstand sind. Doch ist zum einen erörterungswürdig, ob dies nicht für bestimmte Gerichtsentscheidungen, und zwar die, die gegen Gläubiger von vertraglichen Ansprüchen ergehen, generell zu verneinen ist (dazu jetzt Kapitel 3)·
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Kap. 3: Grundrechtliche Relevanz der Vertragsrechtsprechung
Zum anderen ist im Vertragsrecht das Besondere, daß bei seiner Anwendung staatliche Eingriffe durch die Entscheidung darüber determiniert sind, ob der Vertrag wirksam ist. Während es also im Deliktsrecht nur den Privateingriff, die Entscheidung über die Zulässigkeit und das Gebotensein einer Privateingriffsreaktion und die Privateingriffsreaktion selbst gibt, gibt es im Vertragsrecht vertragsbezogenes Verhalten der Parteien (Vertragsabschlußerklärungen), den Vertragsabschluß, die Störung der Vertragsabwicklung, die Entscheidung über die Wirksamkeit des Vertrags, die Entscheidung über die Zulässigkeit und Gebotensein einer Vertragsdurchsetzung und die Vertragsdurchsetzung selbst, also ein beachtliches Entscheidungselement und zwei beachtliche Ereignisse mehr. Das zusätzliche Entscheidungselement gibt Anlaß zum Nachdenken, ob nicht dem Ereignis staatlicher Vertragsdurchsetzung ein Ereignis "Vertragsbewirkung", hervorgerufen durch auf Vertragsabschluß gerichtete Erklärung eines Güterverzichts, vorausgeht, das in die Grundrechtsdogmatik zu integrieren ist und in ihr das spezifisch vertragsrechtliche Element ausmacht, weil es sich von den Ereignissen "Staatseingriff ' und "Privateingriff ' grundlegend unterscheidet. Anhand dieses "Vorereignisses" könnten grundrechtliche Pflichten zu beschreiben sein, die bei bloßer Orientierung an der sich zum Vertrag verhaltenden Gerichtsentscheidung übersehen werden könnten. So wie im Deliktsrecht untersucht wird, ob der Privateingriff schutzauslösend ist, könnte im Vertragsrecht untersucht werden, ob nicht der Vertragsabschluß als "Privateingriff gegen sich selbst" ein schutzauslösendes Ereignis oder als Freiheitsnutzung ein schutzôedürftiges Ereignis besonderer Art ist. Wäre dies so, gäbe es zwei grundrechtliche Pflichten, die jede für sich selbständig wahrgenommen werden müßten: die eine anläßlich der Entscheidung über die Wirksamkeit des Vertrags (oder vielleicht auch noch anläßlich einer Entscheidung über ein gefahrenabwehrrechtlich begründetes Verbot des Vertragsabschlusses), die andere anläßlich der Entscheidung über das Bestehen und die Vollstreckung vertraglicher Ansprüche. Die sich auf die Wirksamkeit des Vertrags beziehende grundrechtliche Pflicht wäre die vertragsrechtsspezifische, da es sich selbst rechtlich bindendes, grundrechtlich relevantes Verhalten nur im Vertragsrecht gibt. Mit beiden Pflichten beschäftigen sich allgemein Kapitel 4 und in bezug auf die Gerichte Kapitel 6. Nicht erörtert werden soll in dieser Arbeit das unter dem Aspekt des Kontrahierungszwang möglicherweise grundrechtlich interessante Ereignis "Nicht-Vertragsabschluß". Zwar wird eine etwaige grundrechtliche Pflicht zum Vertragsabschluß gerne und vor allem in Stellungnahmen zur Schülerzeitungsentscheidung des BVerfG 1 dem Thema "Privatautonomie und Grundrechte" zugerechnet2, weil es um "negative Vertragsabschlußfreiheit" geht. In Wahrheit wäre jedoch eine Kontrahierungspflicht eine solche Pflicht,
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BVerfGE 86, 122ff. Oldiges, Festschrift Friauf, S. 281 (292 - 295).
Kap. 3: Grundrechtliche Relevanz der Vertragsrechtsprechung
die sich nicht aus vertraglichen Abreden ergibt, sondern aus Umständen, die in nicht abredespezifischem menschlichem Verhalten wurzeln. Der Abschlußzwang wäre nur eine besondere Rechtsfolge, die an eine (außer) vertraglichen, ζ. B. auf Notlagen oder Diskriminierungsverboten beruhende grundrechtlichen Pflicht geknüpft wird. Der Nicht-Vertragsabschluß wäre eine besondere Erscheinungsform des Privateingriffs. Die den Schutz gegen Privateingriffe gewährende Rechtsfolge hat nur deswegen etwas mit Privatautonomie zu tun, weil das Opfer gerade den Vertragsabschluß als Schutzmittel begehrt. Nicht erörtert werden sollen außerdem Verfügungsgeschäfte wie die dingliche Einigung oder der Abtretungsvertrag. Eine Aufspaltung in dogmatisch eigenständig zu behandelnde grundrechtliche Pflichten ist hier nicht veranlaßt, weil der Zustand, den die Einigung bezweckt, eintritt, ohne daß es eines staatlichen Handelns bedarf, welches neben dem "Vorereignis" Einigung zusätzlich staatlichen Schutz auslösen könnte. Schließlich kann hier auch die Frage nach einer Erörterung von Dreiecksbeziehungen nicht übergangen werden, zumal das ganze Kapitel 6 einer Vertragskonstellation (Bürgschaft) gewidmet ist, in der sich das Problem der Tauschgerechtigkeit, dessen grundrechtliche Relevanz noch zu untersuchen sein wird, mehrdimensional stellt (Gläubiger - Schuldner - Bürge). In der Tat kommt dem Innenverhältnis zwischen Bürge und Hauptschuldner eine wesentliche Bedeutung für die Beantwortung der Frage zu, welche grundrechtlichen Pflichten die Gerichte oder den Gesetzgeber treffen, die aus dem Vertrag zwischen Bürgen und Gläubiger Rechtsfolgen ableiten bzw. dafür Normen bereitstellen. Doch bleibt es hier wie auch in anderen Dreiecksbeziehungen dabei, daß es für die gnmôrechtsdogmatische Erfassung des Verhältnisses der Parteien, die den Rechtsstreit austragen - und das sind abgesehen vom hier nicht zu behandelnden Sonderfall der Haupt- und Nebenintervention oder der Streitverkündung immer zwei - nicht erheblich ist, inwieweit die grundrechtlichen Pflichten des Gerichts gegenüber einer der Parteien durch deren Beziehung zu einer dritten Partei inhaltlich ausgefüllt werden. Die Beziehung Schuldner - dritte Partei mag die noch unter grundrechtlichen Aspekten zu behandelnden Voraussetzungen für ein Kräftegleichgewicht zwischen Gläubiger und Schuldner wesentlich beeinflussen, weil sie auf Seiten des Schuldners dessen - noch ausführlich zu erörternde - Entscheidungsfreiheit berührt 3. Grundrechtsdogmatisch werden jedoch die Ereignisse erfaßt, die auch das streitentscheidende Zivilgericht oder der Gesetzgeber verarbeitet, wenn sie in bezug auf diese Parteien grundrechtlich relevante Rechtsfolgen anordnen bzw. bereitstellen, also Vertragsschluß und Vertragsdurchsetzung. Demnach ist eine Differenzierung zwischen zweiund mehrseitigen Vertragsbeziehungen nicht angezeigt.
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Zöllner, AcP 196 (1996), 1 (15), legt denn auch Wert auf die Feststellung, nicht der Gläubiger, sondern der Schulter wirke auf den Bürgen fremdbestimmend.
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Kap. 3: Grundrechtliche Relevanz der Vertragsrechtsprechung
A. Vereitelung eines vertraglichen Anspruchs Gerichte, die Vertragsrecht anwenden, können wie die anderen Zivilgerichte grundrechtsverkürzende Ereignisse hervorrufen oder sich dazu verhalten: Verurteilt ein Gericht beispielsweise auf Antrag des X den Y, entsprechend der zwischen ihnen bestehenden Vereinbarung eine bestimmte Wertung über X nicht mehr zu äußern, greift es äußerlich 4 in klassischer Weise in dessen Meinungsfreiheit ein 5 . Weist es den Antrag des V ab, W die vertraglich gestattete, nun aber nicht mehr gewollte Nutzung seines Grundstücks zu verbieten, verhält es sich privateingriifserlaubend und somit staatseingriffsähnlich 6. Die Bewältigung vertragsrechtlicher Fälle mit dem Eingriffsschema scheint7 erst problematisch zu werden, wenn Gerichte vertragliche Ansprüche nicht durchsetzen, sondern abweisen. Die zivilgerichtliche Abweisung deliktsrechtlicher Begehren unterliegt, wie das vorhergehende Kapitel ergeben hat, dem Maßstab grundrechtlicher Schutzpflichten in Gestalt von Pflichten zur Abwehr von Privateingriffen. Das Zivilgericht verhält sich grundrechtsgemäß oder grundrechtswidrig zu Eingriffen des Angreifers in Grundrechte des Opfers und kann dessen Grundrecht in seiner Funktion als Schutzanspruch verletzen. Fraglich ist, ob für Gerichte, die vertragliche Ansprüche abweisen, Entsprechendes gilt: Verhalten 4
Damit ist natürlich noch nichts darüber gesagt, inwieweit das Beruhen der Verurteilung auf vertraglicher Vereinbarung die Anwendbarkeit bestimmter Eingriffsabwehrregeln modifizieren kann. Siehe dazu unten Kap. 6, Abschn. G. I I , S. 339 - 350. 5 Oeter, AcP 1994, 529 (535 unten/536 oben); das BVerfG hat die Eingriffsqualität von Zivilurteilen nie ausdrücklich bejaht. Zunächst war von der Möglichkeit der "Verletzung" durch Verkennen der Ausstrahlungswirkung die Rede, und das in bezug auf ein klassisch eingreifendes Zivilurteil: BVerfGE 7, 198 (207 oben); später wurde die Eingriffsqualität von Zivilurteilen sogar ausdrücklich in Zweifel gezogen (BVerfGE 30, 173 [199 Mitte] - Mephisto -); diese Zweifel wurden in der Folgezeit nicht mehr geäußert, gleichwohl tauchten statt dem Eingriffsbegriff meist nur Wendungen wie "verkürzen" (BVerfGE 42, 163 [168 unten] - Echternach -; 54, 208 [215 Mitte] - Böll -), "treffen" (BVerfGE 42, 163 [169 oben]), "beschränken" (BVerfGE 42, 163 [169 oben]), "aktualisieren" (BVerfGE 42, 143 [147 unten] - DGB -) und "beeinträchtigen" (BVerfGE 42, 163 [169 oben])) auf, und selbst das nur inzident, nämlich im Rahmen der Formel von der Beeinträchtigungsintensität ("Je intensiver die Zivilgerichte... verkürzen": etwa BVerfGE 61, 1 (6, a. E.) - "NPD Europas"), immerhin hat das BVerfG schon davon gesprochen, das Zivilurteil des BGH greife in die grundrechtliche Sphäre des Unterlegenen ein (BVerfGE 54, 208 [215, letzt. Abs, a. Α.] - Böll -), an die "Begründung des Eingriffs" seien bestimmte Anforderungen zu stellen (BVerfGE 42, 143 [149, vor 2.] - DGB -), und es schickt in allen neueren Fällen, in denen es (Straf)Gerichtsurteile kontrolliert, den Obersatz voraus, bei "Eingriffen" in die Meinungsfreiheit ... (kontrolliere es schon die unzutreffende Erfassung oder Würdigung einer Äußerung): etwa BVerfGE 85, 1 (13 unten) - "Kritische Bayer-Aktionäre" (Fettdruck nicht im Original). 6 S. o. Kap. 2, Abschn. 5, 2. Teilabschn, 4. Abs, S. 88f. 7 Die vorsichtige Formulierung ist angezeigt, weil später noch zu untersuchen sein wird, inwieweit nicht auch die Durchsetzung vertraglicher Ansprüche Schwierigkeiten bei der Anpassung an das Eingriffsschema verursacht.
Α. Vereitelung eines vertraglichen Anspruchs
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sie sich zu einem Eingriff des Anspruchsgegners in ein Grundrecht des Anspruchstellers oder verkürzen sie auf andere Weise Grundrechte des Anspruchstellers? Untersucht werden nur "rein vertragliche Ansprüche". "Rein" soll zum einen heißen: Ansprüche, die nur anläßlich von Vertragsabschlüssen entstehen, deren Inhalt die Vertragsparteien aber nicht beeinflussen könne, fallen nicht darunter. Dazu gehören Ansprüche, welche Güter schützen, die vertragsbedingt häufiger oder intensiver Einwirkungen anderer ausgesetzt sind, als sie es ohne Vertrag wären. Diese Ansprüche haben zwar auch, aber nicht ausschließlich eine vertragsrechtsspezifische Funktion: Sie schützen Güter vor deliktischen Einwirkungen, so wie auch das Deliktsrecht Güter schützt. Der vertragsrechtsspezifische Unterschied ist, daß sie auch Güter schützen, die das Delikstrecht nicht schützen würde (Vermögen8), die aber wegen der Enge an sozialem Kontakt und der sich daraus ergebenden "gesteigerten Einwirkung auf die Belange" der Vertragsparteien 9 schutzbedürftig sind. Für diesen Schutz ist das Deliktsrecht nicht konzipiert10, die Lücke schließt das Vertragsrecht. Nicht "rein vertraglich" sind in diesem Sinne etwa die gesetzlichen Ansprüche aus culpa in contrahendo und positiver Vertragsverletzung 11. Zum anderen sollen hier auch solche nicht-gesetzlichen vertraglichen Ansprüche als nicht "rein vertraglich" bezeichnet werden, die grundrechtlich schutzwürdige Güter intensiver schützen, als es die Normen des Deliktsrechts ermöglichen würden. Den Inhalt dieser Ansprüche können die Vertragsparteien zwar beeinflussen, sie sind also an sich originär vertraglich. Doch erfüllen auch sie, wenngleich diesmal nicht von Gesetzes wegen, sondern nach dem ausdrücklichen Willen der Parteien Aufgaben des deliktsrechtlichen Güterschutzes. Hier sollen jedoch nur solche Ansprüche untersucht werden, die nur vertragliche Zwecke und nicht auch Zwecke anderer Normen, insbesondere einen gesetzlichen Schutzzweck erfüllen. Ein Beispiel für originär, aber nicht rein vertragliche Ansprüche wäre: A verspricht B, ihm im Falle einer fahrlässigen Gesundheitsverletzung zuzüglich der Behandlungskosten pauschal 5000 DM zu zahlen und Beweiserleichterungen hinsichtlich der Schadenskausalität zu gestatten. Ein weiteres Beispiel ist das Versicherungsrecht, denn es schützt Grundrechtsgüter gegen Gefährdungsrisiken wirkungsvoller, als es bloßes Privatein8 Zur Ausweitung des Güterschutzes auf das Vermögen von Vertragspartnern Karsten Schmidt, JZ 1991, 157 (160, Ii. Sp. unten); für die Rechtsprechung BGH, NJW 1985, 1769 (1771, sub III. 1.). 9 Daraus leitet der BGH (NJW 1983, 2814 (2814, sub 2. a)]) die Schutzfunktion der pVV ab. 10 Esser/Schmidt, Schuldrecht I, S. 97 oben. 11 Zur Integritätsschutzfunktion der pVV: BGH, NJW 1983, 2814 (2814, sub 2. a]); Schünemann, JuS 1987, 1 (7, li. Sp., sub b]) sowie der c. i. c.: BGHZ 6, 330 (333 unten); zu c. i. c. und pVV: Gottwald, JuS 1982, 877 (878. Ii. Sp. Mitte): ein "SWiw/zverhältnis" (Schreibfehler? gemeint: Schuldverhältnis?) entstehe schon ab Beginn des geschäftlichen Kontakts. 7 Floren
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Kap. 3: Grundrechtliche Relevanz der Vertragsrechtsprechung
griffsabwehrrecht vermag. Ansprüche dieser Art sind wegen ihrer Doppelfunktion, sowohl Grundrechtsgüter zu schützen, als auch das Erfüllungsinteresse zu befriedigen, interessant. In der Praxis wirft zwar ihre vollständige M'c/tferfüllung keine selbständigen grundrechtsdogmatischen Fragen auf, weil sie bis zu einem bestimmten Umfang des vertraglichen Schutzanspruchs stets mit deliktsrechtlichen Ansprüchen konkurrieren. Die Schlechterfüllung, also die Nichterfüllung des Anspruchsteils, der über das grundrechtlich Notwendige hinausgeht, könnte jedoch das Problem aufwerfen, inwieweit vertragliche Ansprüche, die Grundrechtsschutz ausgestalten, ähnlich wie schutzkonkretisierende Gesetze bestehende staatliche Pflichten zum grundrechtlichen Schutz des gesetzlich geschützten Guts verstärken können. Unabhängig von dem, was der folgende Abschnitt zum grundrechtlichen Status vertraglicher Ansprüche ergibt, könnte zur Erfüllung solcher Ansprüche mit Doppelfunktion eine auf irgendeine Weise aus Grundrechten ableitbare Pflicht bestehen12. Ob dies tatsächlich so ist und gegebenenfalls auf welche Weise Grundrechte diese Pflicht statuieren, müßte in einer eigenen Untersuchung geklärt werden. Eine solche Untersuchung würde allerdings diese Arbeit, die sich das Ziel der grundrechtlichen Einordnung spezifisch vertraglicher Ansprüche gestellt hat, überfrachten und soll hier unterbleiben. Gerichte, die sich zu rein vertraglichen Ansprüchen verhalten, reagieren wie die in Kapitel 2 erwähnten, deliktsrechtlichen Schutz gewährenden Gerichte auf Ereignisse, die von Privatrechtssubjekten stammen: Sie verhindern punktuell erfaßbares Verhalten, das den Vertragszweck vereiteln kann, und kompensieren Folgen fehlgeschlagener Vertragsabwicklung. Sie reagieren, zusammenfassend gesagt, auf Vertragsstörungen aller Art. Fraglich ist aber, inwieweit Vertragsstörungen nicht nur Ereignisse, sondern auch übergreifend, weil grundrechtsverkürzend, sein können. Diese Eigenschaft haben Ereignisse nur, wenn sie vorhandene Chancen von Freiheitsausübung reduzieren 13. Weigert sich zum Beispiel A, dem Β das vereinbarte Wegerecht über sein Grundstück einzuräumen und hat dieses Recht eine ausschließlich vertragliche Grundlage, so ist die Weigerung des Β prima facie nicht das, was bislang als "PrivateingrifF definiert wurde: A nimmt dem Β keine vorhandenen Freiheitschancen, sondern enttäuscht dessen Erwartung, demnächst mehr Freiheit zu haben als vorher. Entspricht das Gericht dem Begehren des B, schützt es also ein Interesse, das auf mehr gerichtet ist als auf Ausübung und Erhalt natürlicher Freiheit. Es ist zu untersuchen, inwieweit dieses Interesse grundrechtlichen Schutz genießt. 12
So fragte etwa Diederich, MDR 1994, 525 (529, Ii. Sp.), ob es grundrechtlich nicht geboten sei, die Pflicht, grundrechtsdienliche vertragliche Nebenpflichten zu erfüllen, also den Fall der pVV, mit Schmerzensgeldansprüchen zu bewehren, obwohl auch hier (wie früher im Fall des allgemeinen Persönlichkeitsrechts) wieder § 847 BGB der Anwendung des § 253 BGB im Wege steht. 13 S. o. Kap. 1, Abschn. 4, S. 83f.
Α. Vereitelung eines vertraglichen Anspruchs
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I. Vertraglicher Anspruch und Freiheit Grundrechte verbürgen Freiheiten. Die Antwort auf die Frage nach der grundrechtlichen Schutzwürdigkeit des Interesses des Β im gerade genannten Beispiel ist nur zu finden, wenn geklärt wird, was das Interesse des Β mit Freiheitsausübung zu tun hat. Da es mit der "Vertragsfreiheit" einen Begriff gibt, der sowohl die Freiheit als auch den Vertrag thematisiert, liegt es nahe, sich einer Klärung des Zusammenhangs zwischen Freiheit und dem Interesse des Β über den Begriff "Vertragsfreiheit" zu nähern. Diesen Weg geht Hillgruber. Er führt aus, der Gläubiger werde dadurch, daß der Schuldner die Erfüllung seines Anspruchs verweigere, in seiner Vertragsfreiheit beschränkt14. Denn seine vertragliche Rechtsposition habe er durch Grundrechtsausübung erlangt15.
1. Anspruchsrealisierung als grundrechtliche Gewährleistung der Nutzung von Vertragsfreiheit? Die Vertragsfreiheit wird durch jedes Verhalten ausgeübt, das für den Inhalt eines Vertrages von Bedeutung ist. Bs Weigerung, sich vertragsgemäß zu verhalten, kann den Inhalt des Vertrages mit A nicht mehr beeinflussen. A und Β hatten bereits mit Abgabe ihrer vertragskonstituierenden Willenserklärungen ihre Vertragsabschlußfreiheit ausgeübt. Fraglich kann allenfalls sein, ob sie sie real genutzt haben, was hier aber noch unterstellt werden soll. Soweit also ein die Vertragsfreiheit verbürgendes Grundrecht — ob es eines gibt und welches es ist, soll zunächst offen bleiben — negatorisch wirkt, ist es nicht beeinträchtigt. Weder Β noch das Gericht haben A bei der Ausübung der Vertragsfreiheit gestört. Nach allgemeiner, richtiger Ansicht verbürgen Grundrechte Freiheiten indes nicht nur insoweit, als sie gegen Störungen von Freiheitsausübung schützen. Vielmehr gewährleisten sie die Nutzungsbedingungen der Freiheit mit, und zwar auch dort, wo die Nutzungsbedingungen nicht durch Staats- oder Privateingriffe verlorengegangen sind und kompensiert werden müssen, sondern von Anfang an nicht vorhanden waren. Das führt zu der Frage, ob der Anspruch des A möglicherweise eine grundrechtlich notwendige Nutzungsbedingung seiner Vertragsfreiheit ist, die herzustellen das Gericht grundrechtlich verpflichtet ist. Zu klären ist zunächst, was unter "Nutzung von Vertragsfreiheit" zu verstehen ist. Die Vertragsfreiheit gehört zu den Freiheiten, die ausübbar sind. Mit "Ausübbarkeit" ist gemeint: Freiheiten dieser Art lassen sich nicht wie zum Beispiel 14
So auch Eschenbach/Niebaum, NVwZ 1994, 1079 (1080, re. Sp.), die ausdrücklich auf das "individuelle Abwehrrecht" abstellen. 15 Hillgruber, AcP 1991, S. 69 (73).
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Kap. 3 : Grundrechtliche Relevanz der Vertragsrechtsprechung
das Recht auf Leben und Gesundheit schon durch bloße Substanzerhaltung, sondern erst durch ein Verhalten des Freiheitsinhabers (Freiheitsausübung) verwirklichen, das Thema des Freiheitsrechts ist. Nur dann, wenn es Möglichkeiten eines solchen Verhaltens gibt, sind diese Freiheiten nutzbar. Wird die in Betracht kommende Verhaltensmöglichkeit realisiert, wird Freiheit genutzt. Wenn gesagt wird, daß Grundrechte Nutzungsbedingungen gewährleisten, ist damit gemeint: Grundrechte verpflichten den Staat zur Bereitstellung eines gewissen Vorrats von Freiheitsnutzungs-, also -ausübungsmöglichkeiten. Von der Nutzbarkeit und Nutz ung von Freiheit ist der Nutz en der Freiheitsausübung zu unterscheiden: Der Freiheitsgebrauch nützt dem Inhaber, wenn ihm daraus ein Vorteil erwächst. Ein Vorteil des Freiheitsgebrauchs ist mindestens die Nutzung selbst. Soweit der Nutzen der Freiheitsausübung nicht über die Freiheitsausübung als solche hinausgeht ("selbstexekutive"16 Freiheit), ist er grundrechtlich garantiert. Wird aber von der Nutzung der Freiheit ein Vorteil erwartet, der sich nicht in der Nutzung als solcher erschöpft, wird die Realisierung dieses Vorteils durch das die Freiheitsausübung schützende Grundrecht nicht gewährleistet. Insoweit gibt es keine "Nutzengarantie"17. Wer beispielsweise von seiner Meinungsäußerung erwartet, sie werde eine Diskussion in eine bestimmte Richtung lenken, oder wer von dem Einsatz seines Eigentums oder seiner Arbeitskraft erhofft, er werde bestimmte neue Handlungsmöglichkeiten eröffnen, kann nicht geltend machen, der grundrechtliche Schutz der Meinungsäußerungs-, Eigentums- oder Berufsfreiheit verschaffe ihm einen Anspruch darauf, daß die Diskussion die erhoffte Richtung nehme oder die mit dem Eigentumseinsatz bezweckte Erweiterung des Handlungsspielraums tatsächlich eintrete. Er kann unter dem Gesichtspunkt des Grundrechtsschutzes nur vorbringen, mangels Möglichkeiten, die Freiheit zu nutzen, erst gar nicht die Chance zu haben, irgendwelche Vorteile zu realisieren, die er sich von der Nutzung der Freiheit erhofft. Auch kann er sich darauf berufen, seine Möglichkeiten der Freiheitsnutzung eröffneten ihm ungleich weniger Vorteilschancen als anderen, die dieselbe Freiheit nutzen ("Chancengleichheit"). Für das Eigentumsgrundrecht des Vermieters hat das BVerfG beispielsweise formuliert, es räume keinen Anspruch auf "höchstmögliche Rendite aus dem Eigentumsobjekt" ein18. Anders
16
Höfling, Vertragsfreiheit, S. 27, sub b); siehe auch die Definition der "natürlichen Freiheit" bei Roth, Faktische Eingriffe in Freiheit und Eigentum, S. 162 unten. 17 Hart, AG 1984, 66 (71, Ii. Sp. oben) formuliert, das Privatrecht sichere die Freiheit des Haben- und Erwerbentonneras, nicht des Habens; von "Grundrechtssubstanz" und "Grundrechtsertrag" spricht Friedrich Klein, DÖV 1973, 433 (437, sub I. 4.) (Fettdruck nicht im Original). 18 BVerfGE 71, 230 (250 Mitte); so schon für den Kiesabbau BVerfGE 58, 300 (345, sub 2. a], a. E.) - Naßauskiesung -; vgl. auch BVerfGE 38, 348 (371, vor IV.): kein Anspruch des Vermieters auf sofortige und maximal günstige Verwertung des Eigentums; BVerfG, NJW 1995, 511 (512, Ii. Sp. unten) - Mietpreisbindung im Beitrittsgebiet -: keine Gewährleistung der "einträglichsten Nutzung" (Fettdruck nicht im Original).
Α. Vereitelung eines vertraglichen Anspruchs
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verhält es sich dann, wenn der von Freiheitsausübung erwartete Nutzen seinerseits eine notwendige Nutzungsbedingung für andere Grundrechte ist. Für die Vertragsfreiheit bedeutet all dies: Einen Nutzen, der über die bloße Nutzung hinausgeht, kann ein Anspruchsinhaber aus dem Gebrauch der Vertragsfreiheit erst ziehen, wenn sein Anspruch realisiert wird, sei es durch den Anspruchsschuldner, sei es durch das Gericht. Erst dann nützt ihm die Ausübung seiner Vertragsfreiheit real. Deswegen wird, sollte die Vertragsfreiheit grundrechtlich garantiert sein, der vertragliche Anspruch jedoch noch nicht zu einer grundrechtlichen Position. Nur wer behaupten könnte, seine Möglichkeiten, Vertragsfreiheit zu nutzen, böten ihm keine oder schlechtere Vorteilschancen als anderen in seiner Position, könnte vorbringen, der Staat verteile die Nutzungsbedingungen ungleich. Im Beispiel würde A jedoch nicht reklamieren, jemand anderes hätte im Unterschied zu ihm Chancen gehabt, einen umfangreicheren Anspruch zu begründen, oder größere Chancen gehabt, den Anspruch zu realisieren. Ihm würde es vielmehr darauf ankommen, die konkret wahrgenommene Chance zu einem konkreten Nutzen zu verwerten. Da dieser Nutzen über die bloße Nutzung der Vertragsfreiheit hinausgeht, hätte er darauf aber keinen grundrechtlich garantierten Anspruch. Wo aber der Nutzen der Ausübung von Vertragsfreiheit seinerseits eine Nutzungsbedingung dafür ist, etwa Erwerbsgrundlagen zu sichern (Arbeitslohn als vertragliche Gegenleistung) oder die Einschränkungen von Eigentumsnutzung zu kompensieren (Mietzins als vertragliche Gegenleistung), berührt die Schmälerung von Nutzenerwartungen das Berufs- 19 bzw. Eigentumsgrundrecht20. Das BVerfG garantiert Nutzen freilich indirekt, und zwar auch dann, wenn er keine spezial-grundrechtliche Funktion hat, indem es aus Art. 2 Abs. 1 GG einen "angemessenen Spielraum auf Entfaltung von Unternehmerinitiative" ableitet21. Die Grenzen zwischen dem Vertragsabschluß zum Zwecke der Vermögensmehrung als Selbstzweck (Selbstverwirklichung, Lust, Zufriedenheit) und dem Vertragsabschluß zum Zwecke der Nutzung anderer Grundrechte bzw. der Inanspruchnahme eines Mindestspielraums an Unternehmerinitiative sind freilich schwer zu bestimmen. Bezogen auf das oben22 gebrachte Beispiel führt dies zum Ergebnis: Die Vertragsfreiheit wäre, wenn man gemäß dem bisher Gesagten unterstellt, sie sei grundrechtlich geschützt, ein ungeeigneter Maßstab für die Prüfung einer
19 Bezüglich der Regelung des Vergütungsniveaus von Zahntechnikern BVerfGE 68, 193 (216, sub I., vor 1.); bezüglich des Anwaltshonorars BVerfGE 83, 1 (13, sub C., vor 1.). 20 BVerfGE 37, 132 (142, sub 2.). 21 BVerfGE 29, 260 (267 oben); 50, 290 (366) - Mitbestimmung -. 22 S. o. vor a), 2. Abs., S. 98.
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Kap. 3 : Grundrechtliche Relevanz der Vertragsrechtsprechung
Grundrechtsverletzung des A durch Nichterfüllung seines Anspruchs23. Denn A hat sie mit realen Nutzen-Chancen bereits ausgeübt. Das gilt sowohl dann, wenn man das Ausbleiben der Anspruchsbefriedigung unter dem Blickwinkel des Nutzungshindernisses betrachtet, als auch dann, wenn man es unter dem Aspekt des Umgangs mit Nutzungsbedingungen der Vertragsfreiheit sieht. Hillgruber hatte gleichwohl im Ergebnis recht, wenn er den anspruchstellenden Prinzipal in dem von ihm zitierten Handelsvertreter-Fall als durch das Verhalten des Vertreters grundrechtlich betroffen ansah. Denn der Anspruch des Prinzipals hatte gleichzeitig die Funktion, wettbewerbsbedingte Nachteile für dessen Berufsausübungsfreiheit zu kompensieren; er war gemäß der obigen Definition 24 nicht "rein vertraglich." Der Vertreter beeinträchtigte durch sein Handeln die Nutzbarkeit der Berufsfreiheit des Prinzipals, insbesondere dessen Interesse daran, daß seine Kenntnisse und Verbindungen nicht für einen seine Absatzchancen mindernden Wettbewerb ausgenutzt werden würden25. Allerdings hätte Hillgruber richtigerweise schon zu Anfang seines Aufsatzes, nicht erst an späterer Stelle Art. 12 GG statt der Vertragsfreiheit als betroffenes Grundrecht benennen sollen. Sollte das Gericht im Beispielsfall dem A den Anspruch gegen Β nicht zuerkennen, würde es also dessen Recht auf Vertragsfreiheit nicht verletzen. Ob andere Freiheiten berührt sind, insbesondere die, die von der Ausübung der Vertragsfreiheit profitieren, soll der nächste Abschnitt klären.
2. Anspruchsrealisierung als grundrechtliche Gewährleistung der Nutzung anderer Freiheiten? Die Ausübung der Vertragsfreiheit erweitert die Nutzungsmöglichkeiten anderer Freiheiten. Die Realisierung eines vertraglichen Anspruchs schafft zusätzlich zu den vorhandenen Freüieitsnutzungsmöglichkeiten weitere. Denn das Verhalten des Vertragspartners, das Gegenstand des eigenen vertraglichen Anspruchs ist, schafft mehr Raum für eigenes Handeln oder beläßt weniger Raum für störendes Handeln des anderen. Die Erweiterung eigenen Freiheitsraums drückt sich häufig in Vermögenszuwachs aus. Fraglich ist, ob das Vorenthalten erhoffter Freiheitserweiterung das Grundrecht verkürzt, welches diejenige Freiheit verbürgt, deren Erweiterung Gegenstand des vertraglichen Anspruchs ist. 23 Willi Geiger, Die Grundrechte in der Privatrechtsordnung, S. 43, unt. Drittel, sieht ebenfalls in der individuellen Vertragsfreiheit nur die Abschlußfreiheit; auch Schapp, AcP 192 (1992), 355 (380) kritisiert Hillgruber unter Hinweis darauf, das Schuldverhältnis grenze nicht die Vertragsfreiheit ab. 24 S. o. vor a), S. 97. 25 Das Interesse des Prinzipals wird zuletzt beschrieben vom BGH, NJW 1994, 384 (385, sub e]).
Α. Vereitelung eines vertraglichen Anspruchs
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Dann könnte beispielsweise die Nichterfüllung des Anspruchs des A, das Grundstück des Β zu betreten, die Handlungsfreiheit des A verletzen. Es wurde bereits festgestellt, daß als Grundrechtsverkürzungen nur solche Ereignisse in Betracht kommen, die Chancen der Ausübung vorhandener Freiheit reduzieren. Der vertragliche Anspruch birgt zwar einefreiheitsbezogene Chance. Die Chance bezieht sich aber auf Freiheit, die es im Zeitpunkt eines den Anspruch vereitelnden Ereignisses noch gar nicht gibt, sondern nur erhofft ist. Da der Staat versprochen hat, die Hoffnung des Anspruchsgläubigers zu realisieren, wenn dies der Anspruchsschuldner nicht tut, hat der Anspruchsgläubiger zwar nicht nur eine Hoffnung auf mehr Freiheit, sondern auch ein Recht gegen den Staat auf Realisierung der erhofften Freiheitsmehrung. Es bedürfte aber immer noch einer Begründung dafür, warum eine Beeinträchtigung dieses Rechts auch das die Freiheit verbürgende Grundrecht des Anspruchsgläubigers beeinträchtigt. Dargelegt werden müßte, daß das Nichtgewähren versprochener Freiheitsmehrung ebenso grundrechtlichen Schutz des Betroffenen auslöst wie das Mindern von Freiheit. Der Tatbestand der Grundrechtsverkürzung mag mehr oder weniger Merkmale des klassischen Staatseingriffs enthalten, in jedem Fall knüpft er an eine nachteilige Veränderung eines gegebenen Zustandes an. Das Vorenthalten von Vorteilen, ob sie versprochen wurden oder nicht, verändert aber für sich genommen keinen gegebenen Zustand. Nur dann, wenn der erhoffte Vorteil die Funktion hat, eine individuelle grundrechtswidrige Situation zu verändern (Beispiele: Schadensersatzanspruch gegen Private, Anspruch auf Sozialleistung gegen den Staat), ist sein Nichtgewähren einem Mindern vorhandener Freiheit gleichzustellen. Der rein vertragliche Anspruch dient aber nicht dazu, eine Freiheit des Anspruchstellers mit grundrechtsnotwendiger Nutzbarkeit auszustatten. Gäbe es etwa im oben genannten Beispiel den Vertrag nicht, wäre der Staat aus keinem, insbesondere aus keinem grundrechtlichen Gesichtspunkt heraus verpflichtet, A das Betreten des Grundstücks des Β zu ermöglichen26. Demnach verkürzt das Vorenthalten erhofften Freiheitszuwachses für sich genommen das die Freiheit verbürgende Grundrecht nicht, und zwar auch dann nicht, wenn der Zuwachs in irgendeiner Form vom Staat zugesichert war 27. Auch unter diesem Gesichtspunkt ist also ein vertraglicher Anspruch kein
26 Weil der Staat nur auf Antrag des Gläubigers handele, verneint Wieser, ZZP 98 (1985), 50 (54 Mitte), das öffentliche Interesse an der Zwangsvollstreckung. Dieses Argument läßt sich auch im Hinblick auf das Interesse des Gläubigers im Erkenntnisverfahren vorbringen, es ist aber nur richtig, wenn damit der konkrete Vermögensvorteil des Gläubigers gemeint ist. Denn das davon abstrahierbare Interesse am Rechtsfrieden ist durchaus öffentlich und auch von Grundrechten ableitbar, siehe dazu unten Kap. 6, Abschn. C. II. 4., 3. Abs., S. 320f. 27 Im Ergebnis auch Schapp, AcP 192 (1992), 355 (380), mit der Begründung, das Schuldverhältnis sei keine Folge von Freiheitsverletzung.
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Kap. 3: Grundrechtliche Relevanz der Vertragsrechtsprechung
grundrechtlicher. Es bleibt die Suche danach, ob enttäuschte Hoffnung auf Freiheitsmehrung dann grundrechtliche Ansprüche bewirken kann, wenn sie — wie im Falle des Vertrags — ein bestimmtes Verhalten des Hoffenden motiviert hatte, das sich nun wegen Zweckfortfalls als nachteilig für ein Grundrecht erweist (3.). Auch ist zu überlegen, ob der Gesetzgeber nicht im Falle des Eigentumsgrundrechts unter bestimmten Voraussetzungen Hoffnung auf Freiheitserweiterung zu einem Grundrechtsgut verselbständigt hat (4.).
3. Anspruchsrealisierung
als grundrechtlicher
Schutz von Vertrauen?
Hoffnung kann jemanden zu einem Verhalten veranlassen, das er nicht an den Tag legen würde, hätte er die Hoffnung nicht. Wo Hoffnung Verhalten steuert, nennt man dies Vertrauen. Für Vertrauende ist das Erhoffte als Verhaltensmotiv so wichtig wie für andere nur das Reale. Tritt der erhoffte Zustand nicht ein, wird das durch Vertrauen veranlaßte Verhalten nachträglich semes Sinns beraubt28. Der Zweckfortfall von Verhalten könnte ein weiterer Ansatzpunkt für ein Aufspüren grundrechtlicher Relevanz vertraglicher Ansprüche sein. Verhalten genießt Grundrechtsschutz, soweit sich in ihm die Nutzung von Freiheit manifestiert. Der Zweckfortfall von Verhalten kann nichts daran ändern, daß das Verhalten Freiheitsnutzung ist. Jeden Zweckfortfall zum Nutzungshindernis zu machen, würde durch die Hintertür die oben verworfene grundrechtliche Garantie nützlicher Folgen der Freiheitsnutzung bewirken29. Allerdings darf nicht vernachlässigt werden, daß Freiheit auf eine Weise genutzt werden kann, die nicht einmal die Nutzung für sich genommen als Vorteilerscheinen läßt, wenn ihr Zweck fortfällt. Stellt sich die Nutzung angesichts des Zweckfortfalls gar als Nachteil heraus und ist dieser Nachteil grundrechtlicher Art, handelt es sich rückbetrachtend bei der Freiheitsnutzung um eine Mischung aus Fremd- und "Selbstbeeinträchtigung" eines Grundrechts. Das beeinträchtigende Verhalten liegt in einer Freiheitsnutzung, der man die beeinträchtigende Wirkung zu dem Zeitpunkt, in dem sie stattfindet, nicht ansieht. Der Beeinträchtigungserfolg besteht im zweckvereitelnden Verhalten anderer, das äußerlich gar nicht gegen das beeinträchtigte Grundrecht gerichtet ist. Freiheitsnutzung stellt sich häufig deswegen im nachhinein als "Selbstbewirkung" von Nachteilen heraus, weil sie durch finanzielle Aufwendungen des Nutzers 28
Bassenge, Das Versprechen, S. 32, 1. Abs, a. E. Treffend Leisner, Grundrechte und Privatrecht, S. 394 unten: die Grundrechte schützen Freiheit, also einen "Zustandnicht Vertrauen in den Rechtsverkehr (Fettdruck nicht im Original, Kursivdruck im Original); anders wohl Bassenge, Das Versprechen, S. 29, sub 5, der Vertrauen gegen grundlose Enttäuschungen offenbar so schützen will, wie die Ehre gegen Beleidigungen oder die Gesundheit gegen Körperverletzungen. 29
Α. Vereitelung eines vertraglichen Anspruchs
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ermöglicht wurde. Solche Nutzung nennen das BVerfG und andere Gerichte "betätigtes Vertrauen" oder "Vertrauensinvestition" 30. Man kann auch von "riskanter" Freiheitsnutzung sprechen. Das BVerfG schützt betätigtes Vertrauen zu Recht in besonderem Maße gegenüber zweckvereitelndem Verhalten: Betätigtes Vertrauen ist gegenüber Enttäuschung empfindlicher als sonstiges Vertrauen. Es veranlaßt nämlich nicht nur die Wahl einer Verhaltensmöglichkeit, die sich für den Enttäuschten gegenüber anderen Optionen als weniger nützlich darstellt, sondern hat Nachteile in Gestalt der investierten Güter zur Folge. Das Eingehen vertraglicher Verpflichtungen ist typischerweise riskante Freiheitsnutzung. Wird der mit der Verpflichtung korrespondierende Anspruch nicht oder nicht rechtzeitig erfüllt, stellt sich das versprochene Verhalten im nachhinein aus der Sicht des Versprechenden als Nachteil dar, oft in Gestalt einer Einbuße an materiellen Gütern. Auf den nachteilsaktualisierenden Zweckfortfall reagiert der Staat im Vertragsrecht, indem er entstandene Nachteile beim enttäuschten Vertragspartner kompensiert und drohende verhindert: Er befreit ihn davon, seine Leistungsverpflichtung zu erfüllen (§§ 320, 323 Abs. 1 Hs. 2 BGB), und gewährt ihm im Falle von zu vertretender Unmöglichkeit oder verschuldetem Verzug auch Ansprüche auf Rückgewähr des vergeblich Geleisteten (§§ 325 Abs. 1 Satz 1, Fall 2, 326 Abs. 1 Satz 2, Fall 2, i. V. mit § 327 Satz 1 i. V. mit § 346 BGB) und Ersatz vertrauensbedingten Schadens (§ 307 Abs. 1 Satz 1 BGB). Wurden grundrechtlich geschützte Güter aufgegeben oder droht infolge der vertraglichen Verpflichtung ihr Verlust, haben die Rückgewähr- und Freistellungsansprüche grundrechtlichen Charakter. Mit dem Zweckfortfall ist auch das zum Zeitpunkt der Selbstaufgabe des Grundrechtsguts vorhandene Einverständnis des später enttäuschten Grundrechtsträgers hinwegzudenken. Der Rückgewähranspruch hat Züge des grundrechtlichen Folgenbeseitigungsanspruchs, der Freistellungsanspruch den Charakter eines Schadensersatzanspruchs. Die Abweisung dieser Ansprüche kann somit sekundäre Pflichten zur Unterlassung staatlicher Eingriffe verletzen. Die Enttäuschung betätigten Vertrauens kann ferner dem Vertragspartner als Privateingriff in die vom Enttäuschten investierten Güter zuzurechnen sein. In diesem Fall ist die Gewährung der genannten Ansprüche Privateingriffsabwehrschutz. Soll auch fahrlässige Beeinträchtigung als Privateingriff gelten, müßte der Weg über eine grundrechtlich gebotene, durch die Rechtsprechung zu vermittelnde "private Schutzpflicht" zur Wahrung für fremde Güter gegangen werden, die der Anspruchsteller zu achten hat. In der Tat beruhen ja die Ansprüche aus culpa in contrahendo und positiver Vertragsverletzung auf der Konstruktion von privaten "Schutzpflichten", die dem einen Vertragsteil für Güter des anderen oblie-
30 BVerfGE 75, 246 (280 Mitte) - Schließung von Rechtsbeistandsberufen -; BAG, NJW 1994, 538 (542, li. Sp., sub b]); NJW 1994, 1490 (1494, re. Sp., sub b]).
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Kap. 3 : Grundrechtliche Relevanz der Vertragsrechtsprechung
gen, wenn er zu ihm vertragsbezogen in Kontakt tritt 31 . Andere private Schutzpflichten kommen als Fortwirkung des Eigentumsgrundrechts in Betracht wie etwa der Rückgabeanspruch des Vermieters aus § 556 BGB, der Darlehensrückzahlungsanspruch aus § 607 BGB oder die Herausgabe- und Aufwendungsersatzansprüche aus Geschäftsbesorgungsverhältnissen. Diese privaten Pflichten grundrechtlich abzusichern könnte ähnlich gut möglich sein, wie die staatliche Pflicht, diese Pflichten zu realisieren, grundrechtlich verankert werden kann, wenngleich begrifflich ("Schut2ß/7/c/tf") die Grundrechtsträger den Grundrechtsadressaten bedenklich nahe gerückt werden. Doch wie auch immer sich die grundrechtliche Relevanz der Sekundäransprüche begründen ließe, sie "färbt" weder auf den hier interessierenden primären "rein" vertraglichen Anspruch, also den primären Leistungsanspruch, ab, noch auf die Ansprüche auf Ersatz des Erfüllungsschadens ("positives Interesse": §§ 325 Abs. 1 Satz 1 Fall 1, 326 Abs. 1 Satz 2 Fall 1 BGB). Das Ziel des Primäranspruchs ist ja nicht die Erstattung vertrauensvoll investierter Grundrechtsgüter, sondern die Realisierung der Hoffnung auf Freiheitszuwachs aus dem Güterbestand des Gegners. Die Durchsetzung von Rückgewähr- oder Gegenleistungsverweigerungsansprüchen realisiert noch nicht den Primäranspruch. Wäre also A im oben32 genannten Beispiel als Gegenleistung die Verpflichtung eingegangen, seinerseits Β das Betreten des eigenen Grundstücks zu gestatten, lassen sich die das Schicksal seiner Leistungsverpflichtung betreffenden Ansprüche sowie sein Rücktrittsrecht zwar grundrechtlich (Art. 14 GG) begründen. Denn das bereits erfolgte oder zu erwartende Betreten seines Grundstücks betrifft nachteilig sein eigentumsgrundrechtlich geschütztes Recht, Einwirkungen auf sein Grundstück auszuchließen. Die grundrechtliche Relevanz seines eigenen Anspruchs wird aber dadurch nicht geklärt. Als vierter und letzter Erklärungsansatz für eine mögliche grundrechtliche Gewährleistung des Primäranspruchs des A bleibt somit übrig, daß der Gesetzgeber Ansprüche dieser Art zu Grundrechtsgütern konstituiert hat. Grundrechtsgüter kann der Gesetzgeber nur dort selbst "schaffen", wo Grundrechte vollständig rechtserzeugte Schutzbereiche haben. Das Eigentumsgrundrecht erfüllt dieses Kriterium.
31
Zur integritätsschützenden Funktion von c. i. c. und pVV siehe schon oben vor I , 1. Teilabschn, S. 97f. mit Fußn. 8; Ausdruck "private Schutzpflicht" auch bei Canaris , Festschrift Larenz, S. 27 (84 - 110): Lorenz, SchuldR I, § 9 I 2, S. 110; Stürner, JZ 1976, 384 (386f, sub III.). 32 S. o. vor I , 2. Abs., S. 98.
Α. Vereitelung eines vertraglichen Anspruchs
4. Anspruchsrealisierung
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als Eigentumsschutz?
a) Meinungsstand Der Einfluß des Eigentumsgrundrechts auf die Auslegung von Vertragsrechts wurde bisher sowohl vom Schrifttum als auch vom BVerfG geradezu tabuisiert. Das BVerfG hat noch nie eine falsche Eigentumszuordnung zwischen Vertragspartnern als staatlichen Eingriff in das Eigentumsgrundrecht geprüft. Dürig hat die Ansicht vertreten, wenn ein Zivilgericht die Herausgabeklage eines Eigentümers rechtsirrig abweise, so sei Streitgegenstand nur die Frage des Eigentumsübergangs, nicht aber das subjektiv-öffentliche Eigentumsgrundrecht der unterlegenen Partei33. Der Bundesverfassungsrichter Henschel wandte sich der Auffassung von Verfassungsbeschwerdeführern, die unrichtige Auslegung von Vertragsrecht führe schon deswegen zu Eigentumsgrundrechtsverletzungen, weil Güter falsch zugeordnet würden, eher spöttisch als ernsthaft zu34. Die Bundesverfassungsrichterin Rupp-v.Brünneck brachte in einem Minderheitsvotum die unrichtige Zuordnung von Grundstückseigentum durch ein Gericht als Musterbeispiel für eine "nicht unmittelbare" und daher nicht verfassungsgerichtlich überprüfbare Grundrechtsverletzung 35. Demgegenüber vertritt Peters in einer neueren Monographie über die eigentumsgrundrechtliche Relevanz der Gutglaubensvorschriften die Auffassung, ihre Anwendung bedeute den "Verlust klassischen Eigentums"36. Doch sei die Tätigkeit der Gerichte keine Enteignung, weil sie schlichtender Art sei37, ein Entzug von Eigentum sei an Sozialbindungsgrundsätzen zu messen38. Ausführlichere Stellungnahmen sind nicht zu verzeichnen.
b) Eigentumszuordnung und Eigentumsverletzung Das Eigentumsgrundrecht schützt Vermögenswerte Rechte, die dem Berechtigten von der Rechtsordnung in der Weise zugeordnet sind, daß er die damit verbundenen Befugnisse nach eigenverantwortlicher Entscheidung zu seinem
33
Dürig,, DÖV 1958, 194 (195, Fußn. 2). Henschel, BRAK-Mitt. 1985, S. 8 (10 a. E.). 35 BVerfGE 42,143,154 (155, sub a]) - DGB -; mit diesem Ansatz auch Waldner, ZZP 98 (1985), 200 (211, sub 3. a]). 36 Peters, Der Entzug des Eigentums an beweglichen Sachen durch gutgläubigen Erwerb, S. 19-21. 37 Peters, S. 33 Mitte. 38 Peters, S. 26-32. 34
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Kap. 3: Grundrechtliche Relevanz der Vertragsrechtsprechung
privaten Nutzen ausüben darf 39 . Zu diesen Rechten gehören auch vertragliche Ansprüche 40. Daß deren Beseitigung den Schutz des Art. 14 GG zugunsten des Forderungsinhabers auslöst, hat das BVerfG ausdrücklich anerkannt 41, jedoch zur Bedingung gemacht, der Anspruch müsse durchsetzbar sein 42 . Mit Durchsetzbarkeit meint das BVerfG in bezug auf ein subjektiv-öffentliches Recht, im konkreten Fall auf einen Interventionsanspruch gegen die EWG aus Art. 7 Abs. 1 u. 2 Verordnung Nr. 120/67/EWG, dieses müsse rechtlich so ausgestaltet sein, daß es "eigentumsähnlich verfestigt" sei 43 , das bloße Bestehen einer Erwerbschance, einer Verdienstmöglichkeit 44 reiche nicht 45 . Die ausgestaltende Regelung dürfe nicht nur die Verrechtlichung von etwas sein, was sonst nur eine bloße Erwerbschance sei, sie müsse vielmehr ausschließen, daß dem Anspruchsinhaber sein Recht ersatzlos entzogen werden könne 46 . Das sei dann der Fall, wenn das Recht seinem Inhaber deswegen eingeräumt worden sei, damit ein vorhandener vermögenswerter Rechts- oder Güterbestand gesichert werde 47 . Diese Voraussetzung wiederum sei (in bezug auf öffentlich-rechtliche Ansprüche) jedenfalls 48 dann gegeben, wenn die eingeräumte Rechtsstellung auf eigene
39 BVerfGE 79, 174 (191); BVerfGE 83, 201 (209 oben) - Vorkaufsrecht -; die Privatnützigkeit als das entscheidende Kriterium für Eigentumsgrundrechtsschutz stellt auch heraus Papier, Maunz/Dürig/Herzog, Art. 14 GG, Rdn. 366 - 370, 372, 2. Abs. 40 BVerfGE 28, 119 (141 unten) - SpielbankenVO -; 42, 263 (292) - Contergan 45, 142 (179) - Interventionsanspruch -; 68, 193 (212). 41 BVerfGE 42, 263 (292); 45, 142 (179). 42 BVerfGE 42, 263 (293 Mitte), Fettdruck hier, wie auch in den folgenden Zitaten (bis Fußn. 66) nicht im Original. 43 BVerfGE 45, 142 (170 Mitte). 44 BVerfGE 28, 119 (142); 45, 142 (171 oben); 45, 272 (296 Mitte): "in Zukunft liegende Chancen" seien nicht geschützt; 51, 193 (222) - Warenzeichen -; BVerfGE 65, 196 (209, sub 1. a]) - Betriebliche Unterstützungskasse I -; BVerfGE 83, 201 (211, sub 3.) - Vorkaufsrecht -. 45 Oder, um mit den Worten des BGH zu sprechen, das "Erworbene", nicht das erst zu "Erwerbende" ist geschützt: BGHZ 111, 349 (356 unten) - KakaoVO -: die Chance, Produkte nicht unrentabel abzusetzen, gehöre nicht zu dem durch Art. 14 GG geschützten Bestand des Unternehmens; BGH, NJW 1994, 1468. a. E.; NJW 1994, 2229 (2230 unten); BVerwGE 95, 341 (348 unten): nur der "vorhandene, konkrete Bestand an Rechten und Gütern" sei geschützt. 46 BVerfGE 45, 142 (171 Mitte). 47 So schon BVerfGE 1, 264 (277 unten/278 oben); BVerfGE 45, 142 (171 Mitte); genauso die Rechtsprechung zu der Europäischen Menschenrechtskonvention: EuGMR, EuGrZ 1996, 386 (390, re. Sp.). 48 Die Eigenleistung ist nach der Rechtsprechung des BVerfG keine unabdingbare Voraussetzung für den eigentumsgrundrechtlichen Schutz privat-rechtlicher Ansprüche, macht die betreffende Position aber "besonders schutzwürdig" (BVerfGE 1, 263 [278 oben]; vgl. auch BVerfG, NJW 1995, 511 (512, li. Sp, sub I. 2, 1. Abs, a. E.) Mietpreisbindung im Beitrittsgebiet; der eigentumsgrundrechtliche Schutz öffentlichrechtlicher Ansprüche hängt dagegen davon ab, inwieweit die beanspruchte Position ein Äquivalent eigener Leistung oder nur staatlicher Gewährung ist (BVerfGE 14, 288
Α. Vereitelung eines vertraglichen Anspruchs
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Leistung zurückzuführen sei49. Für den Interventionsanspruch treffe dies nicht zu, weil er im Allgemeininteresse bestimmte Abläufe des Marktgeschehens tendenziell steuern solle50. Den aufgrund des Interventionsanspruchs bestehenden Abnahmeanspruch aus dem Kaufvertrag mit der Vorratsstelle rechnet das BVerfG zwar als Vermögenswerte Position zum Schutzbereich des Art. 14 GG51. Wenn aber der BGH meine, der Anspruch sei durch Anfechtung des Kaufvertrags seitens der Vorratsstelle rückwirkend vernichtet worden, betreffe dies, so das BVerfG, eine Modalität der AnsçrwAisentstehung und somit eine Frage des einfachen Rechts52. Auch in anderen Entscheidungen hat das BVerfG nicht unter dem Gesichtspunkt des Eigentumseingriffs überprüft, ob das Fachgericht die Frage der Entstehung eines Vermögenswerten Anspruchs richtig beurteilt hat53, sondern nur dem Individuum bereits zustehende Rechtspositionen geschützt54. Bezüglich der fachgerichtlichen Auffassung zur Entstehung von Eigentum hat es nur den Willkürmaßstab ("offensichtliche Unhaltbarkeit") herangezogen55. Geiger hat sich in seinem Minderheitsvotum zur Entscheidung über den Interventionsanspruch der Begründung der Mehrheit mit folgenden Argumenten nicht angeschlossen: Der Interventionsanspruch sei dem Beschwerdeführer jedenfalls auch in seinem Interesse eingeräumt worden56, diese Rechtsmacht sei auch durch Art. 14 GG geschützt. Denn sie könne von dem geldwerten Abnahmeanspruch aus dem Kaufvertrag nicht getrennt werden57, der Interventionsanspruch drücke den Abnahmeanspruch nur als Rechtsfigur aus58, er stelle somit selbst eine geldwerte fungible und daher grundsätzlich eigentumsgrundrechtlich schutzwürdige59 Position dar 60. Diese habe der Gesetzgeber nicht nur einfach als Chance verrechtlicht und somit ähnlich wie einen Spiel- oder Wettanspruch
[289 oben]; BVerfG, 1. Kammer des Ersten Senats, NJW 1995, 514 [515, li. Sp., sub 2., vor 1.] - Hamburger Feuerkasse -); so ist auch die Interpretation der EigenleistungsRechtsprechung des BVerfG bei Papier, Maunz/Dürig/Herzog, Art. 14 GG, Rdn. 418. 49 BVerfGE 45, 142 (170 Mitte). 50 BVerfGE 45, 142 (171 Mitte bis 179, vor 2.). 51 BVerfGE 45, 142 (179 unten). 52 BVerfGE 45, 142 (180, 1. Abs.). 53 BVerfGE 20, 31 (34, sub 5.) - Ehemaklerlohn -; 51, 193 (218 oben/219 oben) Weinbergrolle -. 54 BVerfGE 20, 31 (34, sub 5.); 28, 119 (142 oben) - SpielbankenVO -; 30, 292 (334 unten); 68, 193 (222 unten) - Zahntechniker-Innung -. 55 BVerfGE 51, 193 (218 oben/219 oben). 56 BVerfGE 45, 142 (182 [183, sub 2.]). 57 BVerfGE 45, 142 (182 [183, sub 3., 2. Abs. ]). 58 BVerfGE 45, 142 (182 [184, 1. Abs. ]). 59 BVerfGE 45, 142 (182 [183, sub 3., 1. Abs. ]). 60 BVerfGE 45, 142 (182 [184 Mitte]).
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Kap. 3 : Grundrechtliche Relevanz der Vertragsrechtsprechung
geschwächt. Vielmehr habe er sie mit einer solchen Garantie von Vertrauensschutz ausgestaltet, mit der er auch solche anderen Positionen ausgestaltet habe, mit denen ein wirtschaftendes Unternehmen rechnen müsse61. Der Interventionsanspruch genieße somit den Schutz des Art. 14 GG62. Geiger gelangt aber dann im Ergebnis zur Mehrheitsmeinung, indem er die an die Schutzwürdigkeit der Position zu knüpfenden Rechtsfolgen aus Art. 14 GG modifiziert 63: Die Position sei vom Gesetzgeber als eine von Anfang an mit dem Mangel der rückwirkenden Vernichtbarkeit, also dem Mangel der Nichtverläßlichkeit entstandene ausgestaltet worden64. Daher könne eine rückwirkende Vernichtung durch Anfechtung seitens der Vorratsstelle nicht das Eigentumsgrundrecht verletzen65. Eine Analyse der Interventionsanspruchs-Entscheidung ergibt folgendes Bild: Hinsichtlich des Schutzbereichs des Eigentumsgrundrechts hätten sich Mehrheits- und Minderheitsmeinung vor allem dann unterschieden, wenn der Streitgegenstand etwa eine Aufhebung des Interventionsanspruchs durch den Gesetzgeber gewesen wäre. Während die Senatsmehrheit den Beschwerdeführer schon deswegen abschlägig beschieden hätte, weil sie dessen Abnahmeanspruch schon mangels eigentumsrechtlicher Verfestigung nicht für schutzfähig gehalten hätte, hätte Geiger den Anspruch wegen seiner Verknüpfung mit dem Vertragsanspruch und dessen Vermögenswert in den Schutzbereich des Art. 14 GG einbezogen und dann geprüft, ob seine Beseitigung eine verfassungsmäßige Inhaltsund Schrankenbestimmung gewesen wäre. Was aber den hier interessierenden vertraglichen Abnahmeanspruch für sich genommen angeht, so hätten — die Nichtexistenz des öffentlich-rechtlichen Interventionsanspruchs unterstellt — wohl beide hinsichtlich seiner Zugehörigkeit zum Schutzbereich des Art. 14 GG zu demselben Ergebnis gelangen müssen, weil beide das Eigentum in der Entstehungsphase schwächer schützen als in seinem Bestand, wenngleich es in Nuancen Unterschiede gibt: Die Mehrheit beruft sich darauf, daß die Frage der Entstehung von Eigentum nur der Anwendung einfachen Rechts zuzuordnen sei. Geiger sieht eine Eigentumsposition bereits ab dem Ereignis geschützt, ab dem sie typischerweise und prima facie entstehen konnte (Vertragsabschluß), selbst wenn ein Gericht noch darüber befindet, ob sie auch tatsächlich entstanden ist. Er spricht dieser Position aber die Eigenschaft, eigentumsgrundrechtliche Abwehransprüche auszulösen, nur gegenüber solchen das Eigentum in Frage stellenden Geschehnissen zu, die nicht die Mängel manifestieren, mit denen diese Position von Anfang an entstanden war. Eigentum, das mittels Verträgen geschaffen wird, entsteht aber grundsätzlich mit dem "Mangel", daß ein Gericht es 61 62 63 64 65
BVerfGE BVerfGE BVerfGE BVerfGE BVerfGE
45, 45, 45, 45, 45,
142 (182 [184, unt. Drittel]). 142 (182 [185 oben]). 142 (182 [185, sub 4., vor a) ]). 142 (182 [185, sub 4. b) -186 oben]). 142 (182 [186 oben]).
Α. Vereitelung eines vertraglichen Anspruchs
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im Fall des Streites zwischen den Vertragspartnern so zuordnet, wie es derjenige, der sich dessen berühmt, nicht wünscht. Letztlich wollen, das ergeben auch die anderen oben genannten Entscheidungen, beide das Eigentum offenbar erst dann schützen, wenn es in dem Sinne verfestigt ist, daß es vorhanden ist, also dem Individuum bereits zusteht. Eigentum steht einem Individuum in diesem Sinne aber erst dann zu, wenn es ihm unwiderruflich zugeordnet ist. Solange aber ein Zivilgericht mit der Zuordnung befaßt ist, ist das Eigentum noch nicht zugeordnet. Gegen diese Interpretation der BVerfG-Rechtsprechung spricht auch nicht dessen Contergan-Urteil: Dort hatte der Gesetzgeber mit einem Stiftungsgesetz "Hilfswerk behinderte Kinder" den Contergan-Geschädigten Leistungen versprochen und in § 23 des Gesetzes gleichzeitig sonstige Ansprüche der Geschädigten gegen den Contergan-Hersteller ausgeschlossen. Dadurch waren unter anderem Ansprüche der Geschädigten aus einem vorangegangenen Vergleichsvertrag mit dem Hersteller betroffen. Obwohl hier noch kein Fachgericht den Geschädigten Ansprüche zuerkannt hatte, hat das BVerfG gleichwohl diesen Ansprüchen Eigentumsgrundrechtsschutz gegenüber der sie beseitigenden Wirkung des Stiftungsgesetzes zuerkannt. Es hat sie wörtlich als "entstanden und auch durchsetzbar" bezeichnet66. Offenbar setzt für das BVerfG die Durchsetzbarkeit von vertraglichen Ansprüchen nicht unbedingt voraus, daß diese rechtskräftig zuerkannt wurden, vielmehr läßt es das BVerfG ausreichen, wenn über deren Bestand kein Streit zwischen den Individuen besteht, die diese Ansprüche zur Entstehung gebracht haben, jedoch ein Angriff auf die entstandenen Rechtspositionen von dritter Seite erfolgt. "Verfestigt" wie etwa das absolut, also gegenüber jedermann, geschützte Sacheigentum sind demnach Forderungen nicht erst dann, wenn der Inhaber gegenüber dem Schuldner eine "feste" Position hat, sondern schon dann, wenn angreifende Dritte an dem die Forderung begründenden Rechtsverhältnis nicht beteiligt sind. Dann ist gegenüber diesen Dritten diese Forderung eine verfestigte Aussicht. Demnach sind auch Nutzungsrechte aus jederzeit kündbaren, rein obligatorischen Nutzungsverträgen gegenüber Dritten verfestigte Aussichten und begründen eigentumsgrundrechtliche Abwehransprüche der Nutzer gegenüber Dritten. Die entgegenstehende Rechtsprechung des BGH 67 verlangt eine Verfestigung im Rechtsverhältnis zwischen Nutzungsberechtigtem und Nutzungsrechtsschuldner auch dann, wenn es um den Schutz des Nutzungsrechts gegenüber Dritten geht. Das widerspricht dem Zweck des Eigentumsschutzes im Verhältnis zwischen Privaten und ist spätestens seit der Entscheidung des BVerfG für einen eigentumsgrundrechtlichen Schutz des Mietrechts68 (der nicht etwa eine Erschwernis der Kündbarkeit oder gar eine Unkündbarkeit der Nutzung voraussetzt) mit der
66 67 68
BVerfGE 45, 263 (292f, sub 5.). BGHZ 117, 236 (239, sub c]) - Femwasserleitung -. BVerfGE 89,1 (6 - 8, sub 2. a]) - Mieteigentum -.
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Kap. 3: Grundrechtliche Relevanz der Vertragsrechtsprechung
Rechtsprechung des BVerfG nicht mehr zu vereinbaren69. Das BVerfG macht die ausreichende Verfestigung einer Position richtigerweise nicht von der rechtlichen Vernichtbarkeit durch sie rechtlich erzeugende Personen abhängig, sondern von den tatsächlich vorhandenen Möglichkeiten, diese Position zum Zeitpunkt des seine Nutzung störenden Ereignisses zum Vorteil des Nutzers einzusetzen. Es formuliert, nicht die rein theoretische, irgendwann mögliche70, sondern nur die tatsächlich zum Zeitpunkt des hoheitlichen Handelns bestehende Nutzungsmöglichkeit sei durch Art. 14 GG geschützt71. Auf Forderungen erfolgen eigentumsgrundrechtlichen Schutz auslösende Angriffe demnach dann, wenn die Individuen, die sie selbst nicht rechtlich begründet haben, deren Durchsetzung vereiteln, oder aber, wenn die Forderungsentstehung begründende Individuen die Durchsetzung vereiteln, nachdem zuvor entweder ein Gericht rechtskräftig über den Forderungsbestand entschieden hat oder die beteiligten Individuen die Forderung anerkennen, deren Durchsetzung aber gleichwohl vereiteln. Daraus folgt für den Contergan-Fall: Hätten die Beschwerdeführer sich gegen ein Gerichtsurteil gewandt, das gerade darüber zu befinden gehabt hätte, ob sich die Ansprüche überhaupt aus dem Vergleich ergeben, hätten sie sich gemäß dem Verständnis des BVerfG nicht auf Art. 14 GG berufen können, weil dies die Entstehung noch nicht durchsetzbarer Ansprüche betroffen hätte. Ferner läßt sich dieser Interpretation der BVerfG-Judikatur nicht entgegenhalten, im Sachverständigenhaftungs-Beschluß hätten vier Richter dem Anspruch den Schutz des Eigentumsgrundrechts unter Hinweis auf das ConterganUrteil zubilligen wollen, obwohl das Fachgericht gerade über die Zuordnung des Haftungsanspruchs entscheiden mußte72. Dort war das Motiv der vier Richter die Funktion des Schadensersatzanspruchs, Äquivalent für Einbußen an anderen Grundrechtsgütern zu sein73. Gerade wenn der Schadensersatzanspruch die Ausübung anderer Grundrechte sichern will, spricht aber viel gegen die Auffassung der vier Richter, Art. 14 GG heranzuziehen. In diesen Fällen ist nämlich das von der Einbuße betroffene Grundrecht das, welches den Anspruch stützt (dort Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG, den die vier Richter ausdrücklich benennen74). Zwar war auch im Contergan-Urteil mit der Funktion des Eigentums argumentiert worden, Äquivalent für Lebenseinbußen zu sein75. Entscheidend war aber wohl doch, daß dieses Äquivalent so durchsetzbar war wie sonstige zu Ei69
So auch Schulte, JZ 1995, 159 (160, Ii. Sp. unten/re. Sp. oben). BVerfGE 16, 232 (248); 58, 300 (345, sub 2. a], a. E.) - Naßauskiesung -; BGHZ 125 (299-302). 71 BVerfGE 16, 232 (248); 58, 300 (352 unten). 72 BVerfGE 49, 305 (323, sub 1., 2. Abs.). 73 BVerfGE 49, 305 (323, sub 1., 2. Abs. mit Bezug auf BVerfGE 45, 263 [wohl auf 293 Mitte]). 74 BVerfGE 49, 305 (323, sub 1., 1. Abs.). 75 BVerfGE 45, 263 (293 Mitte). 70
Α. Vereitelung eines vertraglichen Anspruchs
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gentum verfestigte Positionen. Allein der Umstand, daß eine begehrte Ersatzleistung Äquivalent für etwas Vorhandenes sein soll, macht es selbst noch nicht zu etwas Vorhandenem, solange gerade noch mit Hilfe des Gerichts darüber gestritten wird, ob überhaupt etwas in ersatzpflichtiger Weise eingebüßt wird und damit überhaupt ein Anspruch auf die Ersatzleistung besteht. So wie die Gerichte beim vertraglichen Anspruch mit der Entscheidung über sein Entstehen (Bestehen und Mängel einer Einigung, rückwirkende Vernichtung, Hemmung des Anspruchs durch Gestaltungserklärungen, Publizitätserfordernisse) erst über seine Zuordnung entscheiden, so entscheiden sie auch beim Schadensersatzanspruch mit der Entscheidung über den Ersatzgrund (Grundrechtseinbuße) erst über die Zuordnung dessen, was der Anspruch beim Anspruchsteller an neuem Eigentum schaffen soll. Anders verhält es sich bei solchen Ansprüchen, die dadurch entstehen, daß der Anspruchsinhaber etwas von seinem vorhandenen Eigentum zwecks Schaffung eines Gegenwertes eingesetzt hat76. Das trifft etwa für sozialversicherungsrechtliche Ansprüche zu. Das BVerfG 77 stellt sie daher zu Recht unter den Schutz des Art. 14 GG. Würde demnach der Versuch unternommen werden, den vertraglichen Anspruch, wenn schon nicht als bereits verfestigtes Eigentumsrecht, so aber doch als öffentlich-rechtlichen Anspruch gegen eine staatliche Instanz (Zivilgericht) zu betrachten, so würde schon der Eigenleistungsgesichtspunkt gegen dessen eigentumsgrundrechtlichen Schutz sprechen: Zwar ist ein vertraglicher Anspruch bei äußerlicher Betrachtung auch erst aufgrund eines Eigentumseinsatzes seines Inhabers entstanden. Die Vorleistung könnte man als eine Art "Eigenleistung" betrachten. Doch ist der Anspruch, mit dem der betreffende Vertragspartner möglicherweise das eingesetzte Gut, seine "Eigenleistung", zurückerhalten bzw. verweigern will, eben nicht der spezifisch vertragliche, also der Erfüllungsanspruch, sondern der davon unterscheidbare Rückgewähranspruch auf die bereits erbrachte Gegenleistung (aus Gesetz, etwa §§ 326 Abs. 1, 327, 346 BGB, oder Vertrag) bzw. das Recht, den Gegenlei76 Auf den Erwerb der Position durch "Arbeit und Leistung" zum Zwecke der Existenzsicherung (vgl. BVerfGE 1, 264 [277 unten/278 oben.]; 14, 288 [293 unten]; 24, 220 [226]) stellt das BVerfG auch außerhalb der Befassung mit sozialversicherungsrechtlichen Positionen ab: BVerfGE 72, 175 (193, sub II. 1.); grundlegend zu einer funktionsorientierten Auslegung des verfassungsrechtlichen Eigentumsbegriffs BVerfGE 36, 281 (290 unten); vgl. auch BVerwG, NJW 1995, 511 (512, li. Sp., sub 2., 2. Abs., a. E.) - Mietpreisbindung im Beitrittsgebiet -: Bei Aufrechterhaltung von Eigentumsbindungen durfte der Gesetzgeber berücksichtigen, inwieweit Eigentumspositionen auf staatlicher Leistung oder auf eigener Leistung beruhten (Fettdruck nicht im Original). 77 Grundlegend BVerfGE 53, 257 (290) - Versorgungsausgleich -; 69, 272 (300 Mitte) - Krankenversicherungsrechtliche Aussicht der Rentenversicherten auf beitragsfreie Krankenversicherung; rentenversicherungsrechtlicher Anspruch auf Regelleistung -; fortgeführt in BVerfGE 72, 9 (186, sub I. vor 1.) - Arbeitslosengeld -; 76, 220 (235, sub 1., a. E.) - Unterhalts- und Übergangsgeld -. 8 Floren
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Kap. 3: Grundrechtliche Relevanz der Vertragsrechtsprechung
stungsanspruch nicht zu erfüllen (§ 320 BGB). Wie Ansprüche dieser Art, wenn sie auf den Rückerhalt grundrechtlich schutzwürdiger Güter gerichtet sind, zu beurteilen sind, wurde schon erörtert 78. Wie ein Anspruch auf Rückgewähr einer Vermögensposition eigentumsgrundrechtlich zu bewerten ist, soll später79 erörtert werden. Fazit: Das BVerfG hält vertragliche Ansprüche nur dann für eigentumsgrundrechtlich schutzwürdig, wenn sie wie folgt verfestigt sind: Entweder es besteht über den Bestand der Forderung kein Streit zwischen denen, die auf ihr Entstehen Einfluß haben können (das können auch Dritte sein: § 771 ZPO), dann ist diese Forderung gegenüber der Vereitelung ihres Entstehens oder ihrer Durchsetzung eines jeden Rechtssubjekts eigentumsgrundrechtlich geschützt. Oder es bestand zwar Streit, der jedoch zugunsten desjenigen rechtskräftig entschieden wurde, der sich nun gegen einen die Durchsetzung vereitelnden Angriff zur Wehr setzt, der nicht mehr von der Streitentscheidung herrührt. Das heißt letztlich: Gerichte, die über die Zuordnung von Eigentum entscheiden, können denjenigen, der im Wege des vertraglichen Anspruchs die Zuordnung von Eigentum an sich begehrt, nicht gerade in diesem Eigentum verletzen. Kauft also Β in Abwandlung des Beispielsfalls 80 von A dessen Grundstück und wird ein Kaufpreis von 300.000 DM vereinbart, so greift das Gericht, das A den Kaufpreisanspruch oder Β das Grundstück versagt, nicht schon deswegen in deren Eigentum ein, weil es dieses falsch zuordnet. Der Auffassung des BVerfG zu vertraglichen Ansprüchen, die es offenbar hat, ist zu folgen. Sie bedarf jedoch einer Begründung, die sich so weit wie möglich auf den Text der Grundrechtsnorm des Art. 14 GG stützt. Die Wendung des BVerfG, die Frage der Entstehung von Eigentum sei eine Frage des einfachen Rechts, ist zu dünn. Auch die Frage von Eingriffen in bestehendes Eigentum ist selbstverständlich durch einfaches Recht geregelt. Ein Ansatzpunkt ftlr eine grundrechtsdogmatisch befriedigende Begründung bietet die unumstrittene Unterscheidbarkeit zwischen Enteignung und Inhaltsbestimmung, zu welcher der Normtext (Abs. 1 einerseits/Abs. 3 andererseits des Art. 14 GG) Anlaß gibt: Das Eigentumsgrundrecht hat "zwei Schutzbereiche": In den einen dringt der Staat schon dann ein, wenn er Eigentum inhaltlich bestimmt, wenn er also Rechte und Pflichten hinsichtlich solcher Rechtsgüter generell und abstrakt festlegt, die als Eigentum im Sinne der Verfassung zu verstehen sind81. Er tut das, indem er zum Beispiel neue Eigentumsrechte schafft oder alten einen anderen Inhalt gibt. In den anderen Schutzbereich dringt er erst ein, wenn er in bestehende Rechtspositionen eingreift. Das BVerfG sieht freilich selbst in der Be78 79 80 81
S. o. Abschn. 3., 3. Abs, 2. Hälfte, S. 105. S. u. Kap. 6, Abschn. C. I. 1, S. 300. S. o. vor I , 2. Abs, S. 98. BVerfGE 52, 1 (27, 2.Hälfte); 58, 300 (330 unten) - Naßauskiesung -.
Α. Vereitelung eines vertraglichen Anspruchs
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seitigung konkreter Rechtspositionen noch Inhaltsbestimmung, wenn es sich nicht um Enteignung handelt. Letztere ist nach seiner Rechtsprechung nur gegeben, wenn konkrete subjektive Positionen zur Erfüllung eines öffentlichen Zwecks entzogen werden82. Allerdings unterliegt der Entzug vorhandener eigentumsrechtlich geschützter Positionen nach neuerer Ansicht des BVerfG besonderen Schranken. Art. 14 Abs. 3 GG, so das BVerfG, sei ein mittelbarer Maßstab für die Zulässigkeit solcher Eingriffe 83. Was noch Inhaltsbestimmung und was schon Enteignung ist und ob man nicht eine dritte Art von eigentumsgrundrechtlich relevantem Handeln ("nicht enteignende Eigentumsemgriffe") anerkennen sollte, kann hier offenbleiben. Denn gerichtliches Handeln, durch das vom Gesetzgeber ausgestaltete Eigentumspositionen zugeordnet werden, kann per definitionem nicht bestehende Eigentumspositionen verändern oder gar entziehen. Es schafft ja gerade erst die Positionen, die eigentumsrechtlichen Schutz genießen sollen. Es liegt also ein Teil staatlicher Inhaltsbestimmung vor. Die gerichtliche Inhaltsbestimmung vollendet die gesetzlich begonnene. Dem kann nicht entgegengehalten werden, der Gesetzgeber habe bereits Eigentum zugeordnet, die Gerichte verhielten sich deshalb zu bereits entstandenen Positionen. Denn der Gesetzgeber hat mit der Inhaltsbestimmung nur eine Voraussetzung für die Zuordnung von Eigentum geschaffen, die Zuordnung selbst aber den das Eigentumsgrundrecht nutzenden Rechtssubjekten überlassen. Wenn aber die Parteien sich über das Ergebnis ihrer zuordnenden Tätigkeit nicht einig sind, kann man schlecht behaupten, der streitige Anspruch sei bereits zugeordnet. Man muß vielmehr davon ausgehen, daß ab der Rechtshängigkeit und bis zur Rechtskraft einer gerichtlichen Entscheidung die Kompetenz, Eigentum zuzuordnen, an das Gericht übertragen wurde. Denkbar ist allerdings noch, daß Art. 14 GG neben dem Eigentumseingriffsunterlassungsrecht ein daneben bestehendes individuelles Recht auf richtige Eigentumszuordnung gewährt. Der Schutzzweck des Art. 14 GG ist es jedoch nicht, eine gerechte Güterverteilung zu garantieren. Grundrechte können nur gleiche Chancen des Nutzens von Grundrechtsausübung durch gleiche Nutzungsbedingungen gewährleisten84. Inhaltsbestimmende Tätigkeit des Gesetzgebers kann demnach insofern gegen Art. 14 GG verstoßen, als Inhaltsbestimmung ein Defizit an Eigentumsnutzungsbedingungen verursachen kann. Denn wo es in einem Güteraustauschbereich an Möglichkeiten fehlt, Eigentum oder eigentumsähnliche Rechte herauszubilden, kann mangels Eigentum auch keine Eigentumsnutzung stattfinden. Die Eigentumsfreiheit existiert nur rechtlich,
82
Grundsätzlich BVerfGE 20, 351 (361, sub c], a. A.) - Tollwütiger Hund ferner BVerfGE 24, 367 - Hamburgisches Deichordnungsgesetz -; 79, 174 (191 unten); 70, 191 (200 oben). 83 BVerfGE 83, 201 (212). 84 S. o. Abschn. I , 2. Abs., S. 99f.
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Kap. 3 : Grundrechtliche Relevanz der Vertragsrechtsprechung
nicht real, wenn "Sachbereiche, die zum elementaren Bestand grundrechtlich geschützter Tätigkeit im Vermögensbereich gehören, der Privatrechtsordnung entzogen werden"85. Daher muß der Gesetzgeber insbesondere natürlich abgrenzbare Güter auch abgrenzen und gegebenenfalls durch Inhaltsbestimmung eigentumsfähig machen86. Den um Zuordnung streitenden Parteien stehen jedoch Eigentumsinstitute zur Verfügung, die sie nutzen können und mit dem Vertrag auch genutzt haben. Der Nutzen ist aus ihrer Sicht zwar erst realisiert, wenn ihnen das erhoffte Eigentum auch endgültig zugeordnet wurde. Es gibt aber eben keine grundrechtliche Nutzengarantie, sondern nur eine Garantie gleicher Chancen, Nutzen zu erzielen. Die Nutzen-Chancen werden aber schon dann gewährleistet, wenn die gesetzgeberische Inhaltsbestimmung Art. 14 GG genügt; wahrgenommen werden die Nutzen-Chancen mit dem Vertragsschluß. Ausnahmsweise kann es freilich Fälle geben, in denen die falsche Zuordnung dieselbe Wirkung hat, wie ein Eingriff, der die Voraussetzungen des BVerfG für eine enteignende und daher mittelbar an Art. 14 Abs. 3 GG zu messende Wirkung 87 aufweist. In diesem Fall würde es sich um einen "enteignungsgleichen Eingriff' 88 seitens des Gerichtes handeln. Es könnte dann ein Eingriff in das Eigentum durch das falsch zuordnende Gericht vorliegen; da diese Situation der Schuldner eines Anspruchs eher erleben wird als der Gläubiger, wird diese Möglichkeit in dem sich speziell mit den Belangen des Schuldners befassenden Teil der Arbeit 89 ausführlicher besprochen.
II. Folgerung für die grundrechtliche Relevanz der Anspruchsvereitelung 1. "Verfassungsprozessuale
Lösung"
Der vorhergehende Abschnitt hat ergeben: Die Nichtrealisierung rein vertraglicher Ansprüche verkürzt grundsätzlich keine Grundrechte des Anspruchstellers. Sie ist also kein staatlicher Eingriff in dessen Grundrechte. Sie verhält sich aber auch nicht zu einem Grundrechtseingriff des Anspruchsgegners, weil die Nichterfüllung des Anspruchs durch den Schuldner kein Grundrecht des
85
BVerfGE 58, 300 (339 Mitte). Leisner, HStR VI, § 149, Rdn. 67f., 71. 87 Dazu gerade der erste der beiden diesem Absatz vorhergehenden Absätze. 88 In Anlehnung an die Wortwahl des BGH betreffend rechtswidrige Eingriffe der Exekutive, die keine Enteignungen sind; hätte ein rechtmäßiger Eingriff ("enteignender Eingriff') dieselbe Wirkung, muß dies in verfassungswidrigem Gesetzesrecht seine Ursache haben. 89 S. u. Kap. 6, Abschn. C. I. 2., S. 301 - 306. 86
Α. Vereitelung eines vertraglichen Anspruchs
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Gläubigers verletzt. Damit hat sich die Erforschung der grundrechtlichen Relevanz vertraglicher Ansprüche aber noch nicht erledigt. Denn das BVerfG fordert für die Zulässigkeit von Verfassungsbeschwerden gegen Gerichtsentscheidungen nicht, daß diese die grundrechtlich geschützte Freiheit einer Partei verkürzen. Vielmehr läßt es einen (nicht notwendig grundrechtlichen) Nachteil ausreichen, der auf der Verletzung der gerichtlichen Pflicht beruht, Grundrechte bei der Anwendung einfachen Rechts als Richtlinien zu beachten90. Angesichts dieser Rechtsprechung können Entscheidungen von Gerichten, durch welche die Erfüllung vertraglicher Ansprüche verweigert wird, in der Praxis keine Probleme der verfassungsgerichtlichen Kontrolle hervorrufen. A könnte im Beispiel ohne weiteres Verfassungsbeschwerde gegen ein Urteil erheben, das ihm die Erfüllung des Anspruchs gegen Β verweigert, sofern er darlegt, daß das Urteil auf dem Verkennen eines seiner Grundrechte beruht. Die "verfassungsprozessuale Lösung" kann jedoch nur befriedigen, wenn sie sich materiell-grundrechtlich begründen läßt. Zwar bedarf es, wie oben ausgeführt wurde, für die Auslösung grundrechtlichen Schutzes keines Vorliegens eines staatlichen Eingriffs im klassischen Sinne. Statt dessen reicht eine eingriffsähnliche Wirkung staatlichen Verhaltens aus. Doch auch eine solche Wirkung ist in bezug auf die Anspruchsvereitelung nicht ersichtlich, da eine Grundrechtsverkürzung vom Zivilgericht weder aktiv bewirkt wird noch Gegenstand seiner Entscheidung ist. Mindestens sollte die vom BVerfG als ausreichend angesehene nachteilige Betroffenheit durch die Gerichtsentscheidung mit dem vom Gericht angewendeten Grundrecht in einem Zusammenhang stehen, der die Subsumtion unter das Tatbestandsmerkmal "in Grundrechten verletzt sein" des Art. 93 Abs. 1 Nr.4a, § 90 Abs. 1 BVerfGG hinreichend plausibel erscheinen läßt. Ein solcher Zusammenhang ist vom BVerfG nach richtiger Ansicht91 bisher nur behauptet, nicht begründet worden. Im Lüth-Urteil hatte das BVerfG die Verkennung der Ausstrahlungswirkung der Grundrechte auf das einfache Recht durch das Zivilgericht als individuelle Grundrechtsverletzung angesehen, dies jedoch nur darauf gestützt, daß das Zivilgericht auch Träger öffentlicher Gewalt sei92. Durch den Zusatz, die Geltungskraft des subjektiven Grundrechts werde durch den objektiv-rechtlichen Gehalt verstärkt 93, beide Grundrechtskomponenten durchdrängen sich gegenseitig94, wird das Ergebnis nur veranschaulicht, nicht begründet. Die Eigenschaft des Zivilgerichts, Träger öffentlicher Gewalt zu sein, erfüllt nur eines der 90
S. o. Kap. 2, Abschn. E., 2. Teilabschn, 5. Abs, S. 87f. Hermes, Grundrecht auf Schutz von Leben und Gesundheit, S. 110. 92 BVerfGE 7, 198 (207). 93 BVerfGE 7, 198 (205); 35, 79 (114). 94 Dieses allerdings ohne zivilrechtlichen Hintergrund, sondern in bezug auf die Rundfunkfreiheit: BVerfGE 74, 297 (323 unten). 91
118
Kap. 3 : Grundrechtliche Relevanz der Vertragsrechtsprechung
beiden Tatbestandsmerkmale des Art. 93 Abs. 1 Nr.4a, § 90 Abs. 1 BVerfGG. Das BVerfG hat nicht erklärt, wie eine falsche Grundrechtsamve«