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German Pages [536] Year 2014
Schriftenreihe des Forschungsinstitutes für politisch-historische Studien der Dr.-Wilfried-Haslauer-Bibliothek, Salzburg
Herausgegeben von Robert Kriechbaumer · Franz Schausberger · Hubert Weinberger Band 49
Andrea Brait · Michael Gehler (Hg.)
Grenzöffnung 1989 Innen- und Außenperspektiven und die Folgen für Österreich
Mit einer CD »Offene Grenzen, neue Barrieren und g ewandelte Identitäten. Meinungsumfrage 2011« ausgewertet und bearbeitet von Andrea Brait
2014 Böhlau Verlag Wien · Köln · Weimar
Gedruckt mit der Unterstützung durch:
Zukunftsfonds der Republik Österreich Amt der Niederösterreichischen Landesregierung
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Umschlagabbildung: © Kurt Kaindl (Salzburg)
© 2014 by Böhlau Verlag Ges.m.b.H & Co. KG, Wien Köln Weimar Wiesingerstraße 1, A-1010 Wien, www.boehlau-verlag.com Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Korrektorat: Meinrad Böhl, Leipzig Umschlaggestaltung: Michael Haderer, Wien Satz: Michael Rauscher, Wien Druck und Bindung: Theiss, St. Stefan im Lavanttal Gedruckt auf chlor- und säurefrei gebleichtem Papier Printed in the EU ISBN 978-3-205-79496-7
Inhaltsverzeichnis Andrea Brait · Michael Gehler Grenzöffnung 1989 – Offene Grenzen ? Zum Buch und Auswertung einer Umfrage. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 Ernst Bruckmüller Prag ist weiter weg als New York. Anmerkungen zum österreichischen Antislawismus . . . . . . . . . . . . . . . . 45
Wirtschaftliche Ost-Kontakte Fritz Breuss Auswirkungen der Ostöffnung 1989 auf Österreichs Wirtschaft . . . . . . . . . 67 Oliver Kühschelm Den »Osten« öffnen. Das Donaueuropäische Institut – Praktiken und Inszenierungen am Schnittpunkt von Politik und Unternehmerexpertise . . . . 109
Diplomatie und Einzelakteure Michael Gehler Bonn – Budapest – Wien. Das deutsch-österreichisch-ungarische Zusammenspiel als Katalysator für die Erosion des SED-Regimes 1989/90 . . . 135 Marcus Gonschor Die USA und der Umbruch in Mittel- und Osteuropa 1989/90. Eine Analyse der autobiografischen Darstellungen von Ronald Reagan, Helmut Kohl und George H. W. Bush/Brent Scowcroft.. . . . . . . . . . . . . 163
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Inhaltsverzeichnis
Helmut Wohnout Vom Durchschneiden des Eisernen Vorhangs bis zur Anerkennung Sloweniens und Kroatiens. Österreichs Außenminister Alois Mock und die europäischen Umbrüche 1989–1992 . . . . . . . . . . . . . 185 Maximilian Graf Österreich und das »Verschwinden« der DDR 1989/90. Ostdeutsche Perspektiven im Kontext der Langzeitentwicklungen . . . . . . . . 221
Grenzen im Wandel Juliane Holzheimer Grenzen der Grenzüberschreitung. Eine Analyse lebensgeschichtlicher Interviews mit DDR-Flüchtlingen des Jahres 1989.. . . . . . . . . . . . . . . . 245 Andreas Pudlat Kriminalitätsbekämpfung in Zeiten offener Grenzen. Österreichs Grenzräume im kriminalstrategischen Spannungsfeld . . . . . . . . 263 Angela Siebold Österreich im »grenzenlosen Europa« nach 1989. Polnische und deutsche Diskussionen um den österreichischen Schengen-Beitritt . . . . . . . . . . . . . 283
Erweiterung Europas Oliver Schwarz Die Erweiterung der Europäischen Union. Zum Wandel eines außenpolitischen Überinstruments . . . . . . . . . . . . . . 305 Gunther Hauser Das Jahr 1989 aus österreichischer und internationaler sicherheitspolitischer Perspektive.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 331 Georg Kreis Österreichs europapolitischer Aufbruch 1987–1995 a us der Sicht des schweizerischen Nachbarn. Die Wahrnehmung der NZZ. . . . . . . . . . . . . 349
Inhaltsverzeichnis
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Österreichs Politik aus Sicht der Nachbarn Miroslav Kunštát Die Tschechoslowakei und Österreich vor dem Umbruch 1989/90. . . . . . . . 367 Simon Gruber So nah und doch so fern. Slowakische Wahrnehmungen der Beziehungen zu Österreich 1989 und in der Folgezeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 385 László J. Kiss Politik und Wahrnehmung. Ungarns (Außen-)Politik im Übergang – Österreichs Außenpolitik im Zuge der Umbruchsjahre (1988–1991) . . . . . . . 405
Kultur- und identitätspolitische Folgen der Umbrüche Felicitas Söhner Der Umbruch von 1989. Eine Betrachtung semantischer Diskurse und historischer Verantwortung.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 429 Andreas Schimmelpfennig 1989 und die österreichische Identität der nationalen Minderheiten . . . . . . . 445 Christoph Kühberger 1989 im österreichischen Geschichtsunterricht. Über Zeitpunkte und Ikonen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 469 Andrea Brait Zur Konstruktion eines europäischen Gedächtnisortes. Blicke auf 1989 in den Jahren 1999 und 2009. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 483
Abkürzungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 509 Auswahlbibliografie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 515 Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 533 Personenregister.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 539
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Grenzöffnung 1989 – Offene Grenzen? Zum Buch und Auswertung einer Umfrage
Das Jahr 2014 ist zweifelsohne – nicht nur in Österreich – geprägt von einem Rückblick auf 1914 und auf den Beginn des »kurzen 20. Jahrhunderts«. Wie Eric Hobsbawm ausführte, brach mit dem Ersten Weltkrieg infolge der Massenmobilisierung, der veränderten Kriegsführung sowie insbesondere des Zusammenbruchs der Großreiche eine neue Epoche an.1 1989 endete das »kurze Jahrhundert« mit einer neuerlichen radikalen Änderung der politischen Konstellationen,2 das bipolare System mit zwei sich gegenüberstehenden politischen Ideologien sowie politischen und wirtschaftlichen Systemen, das ausgehend von der Russischen Februarrevolution und dem Oktoberputsch der Bolschewiki 1917 entwickelt worden war, ging seinem Ende zu. Ein unipolares System mit den USA als einziger Supermacht sollte die weltpolitische Konstellation in der Folge prägen.3 »1989« steht damit als Chiffre für eine ganze Reihe von Ereignissen :4 Der niedergeschlagene Volksaufstand am Platz des himmlischen Friedens in Peking wird dabei oftmals ausgeblendet, zumal sich die Demokratiebewegung an dieser Stelle nicht durchsetzen konnte. Vielmehr wird mit »1989« das Ende des Kalten Krieges in Europa verbunden, gleichwohl die neue Friedensordnung durch die Charta von Paris 1990 geschaffen wurde, sowie des Warschauer Paktes, obgleich dieser erst 1991 aufgelöst wurde. Damit sollte sich der Handlungsspielraum der meisten Staaten verändern, zumal sie seither in der Lage sind, »Allianzen zu wechseln und zwischen den Machtkonstellationen den eigenen Vorteil zu suchen«.5 Wie sehr die neuen Mög1 Die Konzentration auf das Jahr 1914 muss verwundern, zumal die für das Staatengefüge bedeutenderen Veränderungen 1918 eingetreten sind. 2 Vgl. Hobsbawm, Eric J. : Das Zeitalter der Extreme. Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts, München/ Wien 1995, S. 20 f. 3 Zu den Debatten, ob sich infolge der terroristischen Anschläge vom 11. September 2001 ein multipolares System zu entwickeln begann, vgl. u. a. Kaiser, Karl : Zeitenwende. Dominanz und Interdependenz nach dem Irak-Krieg, in : Internationale Politik 5/58 (2003), S. 1–8. Samuel Huntington spricht von einem uni-multipolaren System, vgl. Leitner, Ulrich : Imperium. Geschichte und Theorie eines politischen Systems, Frankfurt am Main 2011, S. 35 f. 4 Im Folgenden wird 1989 in Anführungszeichen gesetzt, wenn nicht das Jahr selbst, sondern das Konglomerat an Ereignissen gemeint ist, das damit in Verbindung gebracht wird. 5 Jäger, Thomas/Beckmann, Rasmus : Die internationalen Rahmenbedingungen deutscher Außenpolitik,
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lichkeiten aber auch Unsicherheit für diverse Staaten bedeuten, ist derzeit in der Ukraine zu beobachten.6 Das Denken in Kategorien des Kalten Krieges und des Ost-West-Konflikts ist noch nicht beendet. Selbst 25 Jahre nach dem Mauerfall in Berlin haben Menschen immer noch »die Mauer« im Kopf. Wie aber änderten sich die Voraussetzungen für kleinere Staaten und diejenigen, die sich – zumindest offiziell – im bipolaren System keiner Weltordnung zurechnen lassen wollten und sich als neutrale Staaten positionierten ? Welche Auswirkungen hatten die Veränderungen der weltpolitischen Konstellationen auf Österreich ?7 Der neutrale Staat hatte es sich, wie Christoph Reinprecht herausarbeitet, gut eingerichtet :8 »Ohne die bis 1989 wirksame bipolare Konstellation der Supermächte wäre das Österreich der Zweiten Republik nicht möglich gewesen.«9 Die positiven Auswirkungen des Kalten Krieges auf das neutrale Österreich mögen dazu beigetragen haben, dass österreichische Diplomaten die Entwicklungen falsch einschätzten und dann von der Geschwindigkeit der Veränderungen überrascht wurden. Erhard Busek erinnert sich etwa daran, dass im Bericht des österreichischen Botschafters in Polen »vor dem Runden Tisch 1989 stand, dass die Kommunisten an der Regierung bleiben würden und man die Solidarność völlig vernachlässigen könne. Viele Diplomaten hatten keine Strategie.«10 Hierbei ist allerdings zu fragen, ob die diplomatischen Vertreter Österreichs, verteilt über die verschiedenen Posten und Missionen in Europa und auf der ganzen Welt, überhaupt eine gemeinsame »Strategie« entwickeln konnten und ob dies nicht eigentlich Aufgabe und Funktion der Zentrale am Ballhausplatz gewesen wäre. Gleichwohl waren mit Blick auf die sich dann überstürzenden Ereignisse in Mittel- und Osteuropa die österreichischen Botschafter im Herbst 1989 teils überrascht, teils damit überfordert. Die Repräsentanten in Bonn und Berlin zeigten sich zum Beispiel noch im September davon überzeugt, dass die deutsche Teilung bestehen bleiben würde. Franz Wunderbaldinger in : Jäger, Thomas/Höse, Alexander/Oppermann, Kai : Deutsche Außenpolitik. Sicherheit, Wohlfahrt, Institutionen und Normen, 2., aktualisierte und erweiterte Aufl., Wiesbaden 2011, S. 15–43, hier S. 26. 6 Vgl. u. a. Snyder, Timothy : Die ukrainische Revolution als EU-Rettungsanker, in : Die Presse vom 1. März 2014, S. 32 f. 7 Vgl. dazu : Gehler, Michael : Kontinuität und Wandel : Österreichs Europa- und Integrationspolitik vor und nach dem Epochenjahr 1989, in : Fischer, Thomas/Gehler, Michael (Hg.) : Tür an Tür. Vergleichende Aspekte zu Schweiz, Liechtenstein, Österreich und Deutschland. Next Door. Aspects in comparison of Switzerland, Liechtenstein, Austria and Germany (Arbeitskreis Europäische Integration. Historische Forschungen. Veröffentlichungen 9), Wien/Köln/Weimar 2014, S. 259–292. 8 Vgl. hierzu auch : Luif, Paul : Österreich zwischen den Blöcken. Bemerkungen zur Außenpolitik des neutralen Österreich, in : Österreichische Zeitschrift für Politikwissenschaft 2/11 (1982), S. 209–220. 9 Reinprecht, Christoph : Österreich und der Umbruch in Osteuropa, in : Sieder, Reinhard/Steiner, Heinz/Tálos, Emmerich : Österreich 1945–1995. Gesellschaft Politik Kultur (Österreichische Texte zur Gesellschaftskritik 60), Wien 1995, S. 341–353, hier S. 341. 10 Busek : »Ich habe das Knistern der Geschichte gehört«, in : Kurier vom 2. März 2014, S. 18 f., hier S. 18.
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meinte noch im September, dass die DDR von der Bevölkerung akzeptiert werde, weil der Staat »im großen und ganzen funktioniert«11. Einige Monate später sollten die Einschätzungen anders aussehen. Was bedeutete nun also das Ende des Daseins »zwischen den Blöcken« für die »Insel der Seligen« ? Wenn 25 Jahre nach dem Ende der bipolaren Weltordnung ein Band vorgelegt wird, der nach der Bedeutung von »1989« für Österreich fragt, ist zu beachten, welche Rolle die zeitliche Nähe für die Analyse spielt. In methodischer Hinsicht bedeutet eine solche kurze Zeitspanne für die Zunft der Historiker einerseits eine große Herausforderung, wenn man einerseits bedenkt, dass Akten – wenn überhaupt – nur selektiv zugänglich sind. Andererseits bringt sie einen entscheidenden Vorteil, denn im Gegensatz zu vielen weiter zurückliegenden Ereignissen können noch sehr viele Zeitzeugen befragt werden.12 In inhaltlicher Hinsicht fehlt freilich noch eine Langzeitperspektive, und dennoch ist man bereits versucht, von einer Epoche vor und einer Epoche nach 1989 zu sprechen. Außerdem scheint »1989«, ähnlich wie die Französische Revolution von 1789, bereits als Vorbild eingestuft zu werden : So analysiert Cilja Harders den sogenannten »Arabischen Frühling« als »arabische[s] ›1989‹«.13 Dabei wird auch deutlich, wie positiv das Ende des »kurzen 20. Jahrhunderts« im Gegensatz zu dessen Beginn eingestuft wird. 1989 wurde innerhalb weniger Jahre zum Mythos stilisiert :14 Mit dem Schlagwort »1989« wird mehr verbunden als die Ereignisse, die in diesem Jahr stattfanden. Die Idee, einen solchen Band zu konzipieren, geht auf eine Ausschreibung zurück : 2010 wurde vom Zukunftsfonds der Republik Österreich ein Projekt zum Thema 11 Information betreffend »Das Gespenst der deutschen Wiedervereinigung«, 19. September 1989, BMeiA, Kt. ÖB-Berlin (Ost), Res 1989 (1–10)/24, GZ 22.17.01/4-II.6/89. Zu den österreichischen Einschätzungen des deutschen Einigungsprozesses vgl. insbesondere Gehler, Michael : Eine Außenpolitik der Anpassung an veränderte Verhältnisse : Österreich und die Vereinigung der Bundesrepublik Deutschland – DDR 1989/90, in : Gehler, Michael/Böhler, Ingrid (Hg.) : Verschiedene europäische Wege im Vergleich. Österreich und die Bundesrepublik Deutschland 1945/49 bis zur Gegenwart. Festschrift für Rolf Steininger zum 65. Geburtstag, Innsbruck/Wien/Bozen 2007, S. 493–530 ; Gehler, Michael : Österreich, die DDR und die Einheit Deutschlands 1989/90, in : Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 5/57 (2009), S. 427–452 ; Graf, Maximilian : Österreich und die DDR 1949–1989/90. Beziehungen – Kontakte – Wahrnehmungen, Wien 2012 (ungedruckte Dissertation), S. 815–840 ; Brait, Andrea : »Österreich hat weder gegen die deutsche Wiedervereinigung agitiert, noch haben wir sie besonders begrüßt«. Österreichische Reaktionen auf die Bemühungen um die deutsche Einheit, in : Deutschland-Archiv (erscheint 2014). 12 Vgl. hierzu : Gehler, Michael/Brait, Andrea : Österreich und die Umbrüche in Mittel- und Osteuropa 1985–1991. Erinnerungen von Akteuren aus Politik und Diplomatie (erscheint 2015). 13 Vgl. Harders, Cilja : Das arabische »1989«, in : Blätter für deutsche und internationale Politik 3/56 (2011), S. 46–49. 14 Vgl. Jankowski, Martin : Mythos 1989. Öffentliches Erinnern an die europäische Revolution von 1989, in : Deutschland Archiv 2/43 (2010), S. 307–314.
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»Österreich und seine Nachbarn. Kontinuitäten, Brüche, Neuansätze, Veränderungen der Identität seit 1989« in Aussicht gestellt, im Rahmen dessen eine »umfassende Darstellung und Beurteilung der (angenommenen) Transformation im Gefolge der Zäsur des Jahres 1989« erfolgen sollte.15 Damit wurde auf ein Forschungsdesiderat hingewiesen, das sich aus der Nicht-Zugänglichkeit klassischer Archivquellen ergab, aber auch aufgrund der Tatsache, dass sich die Geschichtswissenschaft von der akteurszentrierten politischen Geschichte abgewandt hatte.16 Ein sechsköpfiges Team unter der Leitung von Michael Gehler und nebst diesem bestehend aus Andrea Brait, Marcus Gonschor, Oliver Kühschelm, Andreas Pudlat sowie Andreas Schimmelpfennig reagierte auf die Idee des Zukunftsfonds mit dem Vorschlag einer breit angelegten Untersuchung, die sich den Veränderungen auf wirtschaftlicher, kultureller und diplomatischer Ebene widmen und auf unterschiedlichen Quellen basieren sollte. Das Konzept sollte überzeugen. Dank der Unterstützung des Zukunftsfonds der Republik Österreich sowie der Dr.-Wilfried-Haslauer-Bibliothek in Salzburg ist es nun möglich, einen Einblick in zentrale Ergebnisse des Projekts »Offene Grenzen, neue Barrieren und gewandelte Identitäten. Österreich, seine Nachbarn und die Transformationsprozesse in Politik, Wirtschaft und Kultur seit 1989« zu geben – und noch mehr : Gegen Ende der Projektlaufzeit fand im November 2012 in Salzburg unter dem Titel »Grenzöffnung – Grenzen im Kopf – Grenzüberwindung. Außenperspektiven auf die Bedeutung des Jahres 1989 für Österreich« eine international und interdisziplinär besetzte Tagung statt. Die erweiterten Beiträge sind Gegenstand dieses Bandes. Damit liegt zum ersten Mal ein Versuch vor, verschiedene Veränderungen, die sich infolge von »1989« für Österreich ergaben, vergleichend darzustellen. Trotz der einhelligen Meinung, dass »1989« auch für Österreich von großer Bedeutung war, hat sich die zeithistorische Forschung bislang noch sehr wenig mit diesem Themenkomplex auseinandergesetzt. Im Gegensatz zu Studien zu den revolutionären Bewegungen und Reformen in den sogenannten »Ostblockstaaten«17 gibt es zu den Auswirkungen auf die nicht unmittelbar von einem Systemwandel betroffenen Staaten nur wenige Detailstudien. Die Österreich betreffenden Analysen sind entweder 15 Vgl. Ausschreibungstext des Zukunftsfonds, http://www.zukunftsfonds-austria.at/?i=7 (online am 25. Juli 2010). 16 Vgl. Markowitz, Reiner : Von der Diplomatiegeschichte zur Geschichte der internationalen Beziehungen. Methoden, Themen, Perspektiven einer historischen Teildisziplin, in : Francia. Forschungen zur westeuropäischen Geschichte 3/32 (2005), S. 75–101, hier S. 76. 17 Neben zahlreichen Detailstudien vgl. etwa die zusammenfassende Analyse von Christoph Boyer mit einem Plädoyer, nicht »der Gefahr, der Suggestionswirkung der events und der moralischen Strahlkraft der Protagonisten zu erliegen« sowie sich aus dem »nationalhistoriographische[n] Tunnelblick« zu befreien : Boyer, Christoph : »1989« und die Wege dorthin, in : Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 1/59 (2011), S. 101–118, hier S. 101 (Hervorhebung im Original).
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sehr allgemein gehalten und in größere Untersuchungen eingebettet18 oder konzentrieren sich auf einen speziellen Politikbereich, wie beispielsweise zwei Artikel zur sicherheitspolitischen Dimension, die aus dem Projekt des Zukunftsfonds »Österreich und die Blöcke« hervorgegangen sind.19 Die Analyse der längerfristigen Folgen von 1989 erfolgte bislang hauptsächlich durch Ökonomen.20 Dazu kommen noch einige Analysen zur Öffnung der österreichisch-ungarischen Grenze.21 Der österreichische Anteil an den Aktionen und die Bedeutung dieser für die künftigen Entwicklungen wurden jedoch bislang nur unzureichend erforscht. Eine eigene Studie zur Haltung Österreichs hinsichtlich der Deutschen Frage22 stellt hier nur bedingt eine Ausnahme dar, wurde in diesem Aufsatz der Blick doch lediglich auf einen Aspekt des Umbruchjahres 1989 gerichtet, während die Folgen aller anderen 1989 eingeleiteten Veränderungen in der Staatenwelt für die Entwicklung in Österreich in diesem Rahmen nicht behandelt werden konnten. Wie Christoph Kühberger in seinem Beitrag »1989 im österreichischen Geschichtsunterricht. Über Zeitpunkte und Ikonen« herausarbeitet, erkannten auch die Historiker, welche sich an Gesamtdarstellungen zur Geschichte der Zweiten Republik versuchten, 1989 nicht als Zäsurjahr der ös18 So kommt in der großen Studie zur Außenpolitik Österreichs in der Zweiten Republik (Gehler) und auch in Oliver Ratholbs »Die paradoxe Republik« das Jahr 1989 zwar vor, jedoch konnten im Rahmen dieser Studien keine eingehenden Analysen der Folgen der geänderten Weltordnung für Österreich erfolgen, vgl. Gehler, Michael : Österreichs Außenpolitik der Zweiten Republik. Von der alliierten Besatzung bis zum Europa des 21. Jahrhunderts, 2 Bände, Innsbruck/Wien/Bozen 2005 ; Rathkolb, Oliver : Die paradoxe Republik. Österreich 1945–2005, Wien 2005. Auch im Sammelband »Austria in the twentieth century« wird die Frage, inwiefern das Jahr 1989 als Wendepunkt in der Entwicklung der Zweiten Republik wirkt, nicht beleuchtet, vgl. Steininger, Rolf/Gehler, Michael (Hg.) : Austria in the twentieth century (Studies in Austrian and Central European history and culture 1), New Brunswick 2002. Gehler vertritt darüber hinaus die These, dass das Jahr 1989 hinsichtlich der europäischen Integration für Österreich für Kontinuität steht, vgl : Gehler, Michael : Der österreichische EG-Beitrittsantrag vom 17. Juli 1989 : Mehr Kontinuität als Diskontinuität !, in : Bruckmüller, Ernst (Hg.) : Europäische Dimensionen österreichischer Geschichte (Schriften des Institutes für Österreichkunde 65), Wien 2002, S. 143–210. 19 Vgl. Malek, Manfred : Österreich und der Auflösungsprozess des Warschauer Pakts (1989–1991), in : Rauchensteiner, Manfried (Hg.) : Zwischen den Blöcken. NATO, Warschauer Pakt und Österreich (Schriftenreihe des Forschungsinstituts für politisch-historische Studien der Dr.-Wilfried-HaslauerBibliothek, Salzburg 36), S. 557–614 ; Pleiner, Horst : Österreich und die NATO am Ende des 20. Jahrhunderts, in : Rauchensteiner, Manfried (Hg.) : Zwischen den Blöcken. NATO, Warschauer Pakt und Österreich (Schriftenreihe des Forschungsinstituts für politisch-historische Studien der Dr.-WilfriedHaslauer-Bibliothek, Salzburg 36), S. 615–686. 20 Vgl. Stiefel, Dieter (Hg.) : Der »Ostfaktor«. Die österreichische Wirtschaft und die Ostöffnung 1989 bis 2009, Wien 2010. 21 Vgl. insbesondere Oplatka, Andreas : Der erste Riß in der Mauer. September 1989 – Ungarn öffnet die Grenze, Wien 2009. 22 Vgl. Gehler, Michael : Österreich, die DDR und die Einheit Deutschlands 1989/90, in : Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 5/57 (2009), S. 427–452.
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terreichischen Geschichte. Dies führte dazu, dass die Frage nach den Folgen für Österreich erst gar nicht gestellt wurde. Auch die Politikwissenschaft stellte diese bislang noch kaum.23 »1989« wird in den meisten Studien nur indirekt zum Thema, etwa wenn es um die europäische Integration Österreichs geht ; die Auswirkungen der Transformationsprozesse in Mittel- und Osteuropa auf das neutrale Österreich wurden hingegen nicht genauer untersucht. Unter Berücksichtigung sowohl der Tatsache, dass der Quellenkorpus zu »1989« für geschichtswissenschaftliche Analysen noch sehr unvollständig ist, als auch der mangelnden historischen Distanz, welche Vergleiche erst ermöglicht, konnte es nicht Ziel des vorliegenden Bandes sein, die Auswirkungen der vielfältigen Umbrüche des Jahres 1989 auf das neutrale Österreich umfassend zu analysieren. Vielmehr ging es darum, zielgerichtet einige Schlaglichter zu werfen. Dabei sollte aber nicht nur der Innenblick vertieft werden, sondern auch nach der Wahrnehmung der österreichischen Politik in den Nachbarstaaten gefragt werden. Der Band wird eingeleitet durch einen Text von Ernst Bruckmüller, der 1989 und die Einstellungen der Österreicher zu ihren Nachbarn in den darauffolgenden Jahren als Ausgangspunkt nimmt, um weit in die Geschichte und speziell ins 19. Jahrhundert zurückzublicken. In seinem Beitrag »Prag ist weiter weg als New York. Anmerkungen zum österreichischen Antislawismus« bietet er einen Überblick über die Entwicklung der Ressentiments gegenüber den Slawen. Mit Blick auf Umfragedaten wird gezeigt, dass es auch nach 1989 massive Ängste vor den »anderen« gab, die auf Haltungen zurückschließen lassen, die sich im Nationsbildungsprozess des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts in der Habsburgermonarchie ausbildeten. Bruckmüller macht damit deutlich, dass die Genese von Beziehungen zwischen Nationalitäten nicht von einem einzigen Jahr abhängig ist, auch wenn es noch so sehr eine Zäsur in den weltpolitischen Konstellationen bedeutet. Wenn über positive Auswirkungen von »1989« auf Österreich gesprochen wird, dann taucht meistens rasch das Stichwort »Osthandel« auf. Dass es sich dabei um keinen Mythos handelt, macht Fritz Breuss in seinem Text »Auswirkungen der Ostöffnung 1989 auf Österreichs Wirtschaft« deutlich. Die Handelsaktivitäten mit den mittel- und osteuropäischen Staaten, die ab 2004 beziehungsweise 2007 auch EUMitgliedstaaten werden sollten, konnten deutlich ausgeweitet werden. Trotz einiger negativer Aspekte, wie beispielsweise das Sinken der Lohnquote, sei Österreich, wie Breuss betont, der große »Gewinner« der Ostöffnung – dies aber auch deshalb, weil 23 So ergab eine Durchsicht aller Hefte der Österreichischen Zeitschrift für Politikwissenschaft, das sich selbst als »Leitmedium der österreichischen Politikwissenschaft« bezeichnet, nur einen einzigen Artikel, der sich explizit mit den Folgen der Umbrüche von 1989 für Österreich befasst : Wolfgruber, Elisabeth : Parteipolitischer Diskurs und Strategien in der Ausländer/innen/politik in Österreich 1989 bis 1993, in : Österreichische Zeitschrift für Politikwissenschaft 3/23 (1994), S. 299–314.
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Österreich 1995 Vollmitglied der EU wurde und ab 1999 an der Wirtschafts- und Währungsunion (WWU) teilnahm. Die »Mini-Globalisierung« brachte für Österreich mehr Handel sowie mehr Wirtschaftswachstum und Beschäftigung. Oliver Kühschelm analysiert in seinem Beitrag »Den ›Osten‹ öffnen. Das Donaueuropäische Institut – Praktiken und Inszenierungen am Schnittpunkt von Politik und Unternehmerexpertise«, wie in der Folge der Umbrüche von 1989 das Dispositiv des »Osthandels« durch das der »Ostöffnung« abgelöst wurde. Anhand des 1947 gegründeten Donaueuropäischen Instituts (das in Form der Organization for International Economic Relations bis heute existiert), das von Kühschelm als »Schnittstelle von Politik und Unternehmerhandeln« interpretiert wird, werden Narrative aufgezeigt, die sich in den Publikationen des Instituts, dem Donaueuropäischen Informationsdienst und dem West-Ost-Journal, immer wieder finden : Allen voran wurden die gutnachbarlichen Beziehungen und eine gemeinsame Vergangenheit in der Donaumonarchie beschworen. Mitteleuropa, der Donauraum sowie Donaueuropa fungierten auch bei diversen Veranstaltungen des Instituts als rhetorische Klammern, welche Politik, (Handels-)Diplomatie, Unternehmertum und eine (begrenzte) Öffentlichkeit zusammenführen sollten. Der Band bietet in der Folge einen Blick auf die Diplomatiegeschichte und die Rolle von politischen Akteuren. Michael Gehler konzentriert sich in seinem Beitrag »Bonn – Budapest – Wien : Das deutsch-österreichisch-ungarische Zusammenspiel als Katalysator für die Erosion des SED-Regimes 1989/90« auf die politischen Entwicklungen zwischen dem Frühjahr und Winter 1989, d. h. von der Intensivierung der Beziehungen zwischen Österreich und Ungarn bis zu den Reaktionen Österreichs auf den Fall der Berliner Mauer und die beginnenden Debatten um eine Deutsche Einigung. Sein Blick richtet sich auf zwei Events, im Rahmen derer Österreich seine Politik für eine internationale Medienöffentlichkeit inszenierte und damit die Geschichte wenn schon nicht prägen, so doch bestehende Vorwegnahmen und Entwicklungen nicht unmaßgeblich unterstützen sollte : Sowohl die Durchtrennung des Eisernen Vorhanges durch die Außenminister Alois Mock und Gyula Horn am 27. Juni 1989 als auch das von Otto und Walpurga von Habsburg sowie von ungarischen Reformkommunisten organisierte Paneuropäische Picknick am 17. August 1989 führten zu einer Intensivierung der Fluchtversuche von DDR-Bürgern über die ungarische Westgrenze, was die Instabilität des SED-Regimes weiter vorantrieb. Die These von Manfred Malek, dass Österreich »keinerlei Einfluss auf den Zerfallsprozess des Warschauer Paktes zwischen 1989 und 1991«24 hatte, scheint damit widerlegt. Gehler verweist mehrfach auf die Brückenbauerfunktion Österreichs : In Wien wurde nicht nur zahlreichen Flüchtlingen aus der DDR die Weiterreise in die Bundesrepublik ermöglicht, hier war auch der neutrale Ort, an dem Hans-Dietrich Genscher schon drei 24 Malek, M. 2010, S. 557.
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Tage nach dem Fall der Mauer über die Möglichkeit einer deutschen Einigung sprechen konnte. Es muss daher umso mehr überraschen, wie abwartend und uneins die österreichische Bundesregierung in den kommenden Wochen und Monaten agierte. In Anbetracht des klaren Urteils von Gehler, der die österreichisch-ungarischen Aktionen im Frühjahr und Sommer 1989 als entscheidend für die Geschwindigkeit der weiteren Entwicklungen einstuft, müssen die Erkenntnisse von Marcus Gonschor verwundern. Er präsentiert in seinem Text »Die USA und der Umbruch in Mittelund Osteuropa 1989/90. Eine Analyse der autobiografischen Darstellungen von Ronald Reagan, Helmut Kohl und George H. W. Bush/Brent Scowcroft« eine Studie, die sich auf der Basis von politischen Memoiren mit den persönlichen Kontakten auf der höchsten politischen Ebene befasst. Zwar beschäftigten sich die Politiker in ihren Erinnerungen mit den Massenausbrüchen von DDR-Bürgern über die ungarischösterreichische Grenze und brachten diese teilweise auch in einen Zusammenhang mit der Deutschen Frage, jedoch werden die österreichischen Akteure und politischen Strategien fast völlig ignoriert. Das Gleiche gilt auch für die Darstellungen deutscher Historiker, wie etwa die Andreas Rödders.25 Österreich erscheint dabei in den Memoiren von Reagan, Kohl sowie Bush/Scowcroft als ein Staat, der eine Grenze zu einigen Warschauer-Pakt-Staaten hatte, die sich dann »öffnete« – welchen Anteil Österreich an diesem Vorgang und speziell an seiner medialen Inszenierung hatte, wird nicht thematisiert ; ebenso findet sich in den politischen Erinnerungen kein Hinweis darauf, ob von den Staatsmännern über die Wirkung der österreichisch-ungarischen Grenzaktionen auf das Verhalten der Bürger der DDR nachgedacht wurde. Wie Gonschor herausarbeitet, strichen die Memoirenschreiber vielmehr die Bedeutung der immer wiederkehrenden persönlichen Kontakte, die zu gegenseitigem Vertrauen führten, sowie der deutsch-amerikanischen Absprachen heraus.26 Einen ebenfalls akteurszentrierten Ansatz verfolgt Helmut Wohnout in seiner Analyse »Vom Durchschneiden des Eisernen Vorhangs bis zur Anerkennung Sloweniens und Kroatiens. Österreichs Außenminister Mock und die politischen Umbrüche 1989–1992«. Ausgehend von der Haltung Österreichs zu den Reformbewegungen in Mittelosteuropa bis zum Frühherbst 1989 fokussiert Wohnout auf das Agieren von Mock und bestätigt Gehlers These : Mock konnte die Entwicklungen des Jahres 1989 ein einziges Mal entscheidend beeinflussen, nämlich als er im Rahmen einer symbolischen Inszenierung am 27. Juni 1989 den Eisernen Vorhang gemeinsam
25 Vgl. Rödder, Andreas : Deutschland einig Vaterland. Die Geschichte der Wiedervereinigung, München 2009. 26 Zu den persönlichen Kontakten der drei Politiker vgl. auch Gonschor, Marcus : Politik der Feder. Die Vereinigten Staaten und die Bundesrepublik Deutschland 1945/49 bis 1990 im Spiegel der Memoiren der US-Präsidenten und Bundeskanzler (Historische Europa-Studien 19), Hildesheim 2015 (in Vorbereitung).
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mit Ungarns Außenminister Horn durchtrennte. Die Bilder hiervon gingen um die Welt und zeigten auch den Bürgern der DDR, dass der Vorhang nicht mehr so eisern war, womit die bereits in Gang befindlichen Systemwandlungen weiter vorangetrieben wurden. Wohnout unterstreicht aber, dass Mock sich auch abseits dieses Medienereignisses für Mittel- und Osteuropa engagierte, insbesondere im Rahmen der Europäischen Demokratischen Union (EDU), durch seine Unterstützung der Position Kohls in der Deutschen Frage, in Form von Bemühungen um eine frühzeitige Anerkennung von Slowenien und Kroatien sowie durch sein Engagement für eine Intensivierung und den Aufbau von neuen Kooperationen im kulturellen und wissenschaftlichen Bereich. Maximilian Graf legt seiner Studie eine völlig andere Quellenbasis zugrunde. Er widmet sich in seinem Beitrag »Österreich und das ›Verschwinden‹ der DDR 1989/90. Ostdeutsche Perspektiven im Kontext der Langzeitentwicklungen« den ostdeutschen Wahrnehmungen der Politik Österreichs in den Jahren 1989/90. Die Akten der Grundorganisation der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) in Österreich zeigen, dass sich die Genossen lange an die Ostberliner Parteidirektiven hielten, dann aber doch verunsichert wurden und Maßnahmen einforderten, um das Flüchtlingsproblem zu lösen. Man befasste sich in der Folge nicht nur mit der Rolle von Ungarn, sondern auch mit der von Österreich, wie Graf auf der Basis von Besprechungsprotokollen nachweisen kann. Allerdings zeigt die Analyse von Graf auch, dass sich die Staatsführung der DDR um eine Aufrechterhaltung der bereits seit 1973 »normalisierten« Beziehungen zu Österreich bemühte – wie auch Wien die bilateralen Kontakte, auf diplomatischer Ebene ebenso wie im wirtschaftlichen und kulturellen Bereich sowie hinsichtlich der Besuchsdiplomatie, fortsetzte. Ein weiterer Abschnitt des Bandes ist den Veränderungen an den Grenzen gewidmet. Juliane Holzheimer analysiert in ihrem Beitrag »Grenzen der Grenzüberschreitung. Eine Analyse lebensgeschichtlicher Interviews mit DDR-Flüchtlingen des Jahres 1989« die Erinnerungen einiger Flüchtlinge aus der DDR. Ihre Analyse zeigt, wie sich die subjektiven Erinnerungen der Zeitzeugen in einem Spannungsverhältnis von individueller Gedächtnisleistung und kollektiven Gedächtnisdiskursen zu positionieren versuchen. Der Beitrag zeigt klar, dass die Flucht über Österreich von den meisten Menschen als Bruch in ihrer Biografie erlebt wurde. Auch die Erinnerungen der Zeitzeugen verweisen auf die Bedeutung des Abbaus des Stacheldrahtzaunes an der österreichisch-ungarischen Grenze, wurden doch Berichte darüber und über gelungene Absetzbewegungen in westdeutschen Medien vielfach zum Auslöser für den Entschluss zur Flucht. Das Erreichen des österreichischen Bodens wurde von allen Befragten als positiver Einschnitt erlebt, wenngleich alle – trotz Angeboten, in Österreich zu bleiben – in die Bundesrepublik weiterreisten.27 27 Vgl. ausführlicher (noch unter ihrem Mädchennamen publiziert) : Damm, Juliane : »Du bist hier ver-
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Andrea Brait · Michael Gehler
Die Studie von Andreas Pudlat »Kriminalitätsbekämpfung in Zeiten offener Grenzen. Österreichs Grenzräume im kriminalstrategischen Spannungsfeld« zeigt, dass die Grenzen 1989 vom Osten her zwar geöffnet, aber dann vom Westen rasch wieder geschlossen wurden. Zunehmende illegale Grenzübertritte und steigende Kriminalitätsraten bewogen die politischen Akteure in Österreich, den sogenannten »Assistenzeinsatz« zu starten. Wie Pudlat deutlich macht, ist die Konzentration auf die Ostgrenze aber nicht allein durch tatsächliche Bedrohungen zu erklären, zumal Statistiken zeigen, dass hinsichtlich diverser Vergehen das Augenmerk vielmehr auf die deutsch-österreichische Grenze gerichtet werden sollte. Der bis zum 15. Dezember 2011 andauernde »Assistenzeinsatz Schengen« ist demnach auch als populistische Maßnahme zu betrachten, die den nicht abgebauten Grenzen in den Köpfen entsprach. Auch Angela Siebold befasst sich in ihrem Beitrag »Österreich im ›grenzenlosen Europa‹. Polnische und deutsche Diskussionen um den österreichischen SchengenBeitritt« mit der österreichischen Ostgrenze. Sie konzentriert sich jedoch nicht auf das Jahr 1989, sondern verweist auf die längerfristigen Folgen der Grenzöffnungen. Zum zweiten Mal nach der Analyse der ostdeutschen Wahrnehmungen durch Graf wird im vorliegenden Band mit diesem Beitrag eine Außenperspektive ins Zentrum gestellt : Siebold beleuchtet Reaktionen der deutschen und polnischen Medien auf Österreichs Rolle im Schengen-Prozess. Dabei wird abermals deutlich, dass Österreich – hier im Speziellen Österreichs Schengen-Beitritt – vom Ausland – hier von deutschen und polnischen Medien – keine oder kaum Beachtung fand. Die Beteiligung Österreichs am Schengen-Raum wurde, wie Siebold feststellt, weder abgelehnt noch begeistert willkommen geheißen. Das Land wurde bei seiner Aufnahme in den Schengen-Raum nicht als Akteur (welcher mit dem »Assistenzeinsatz« eine »österreichische Lösung« gefunden hatte), sondern vielmehr als Transit- und Migrationsraum wahrgenommen, womit sich – korrespondierend mit dem Befund von Pudlat – auch in den Debatten über Österreich Vorstellungen einer Bedrohung aus dem Osten wiederfinden. Zu den langfristigen Folgen des Jahres 1989 ist neben der Erweiterung des Schengen-Raumes auch der EU-Beitritt Österreichs am 1. Jänner 1995 zu zählen. Dabei ist insbesondere zu bedenken, dass die begleitend zu den Bemühungen um den Beitritt geführten Debatten um die Neutralität von der neuen weltpolitischen Konstellation geprägt waren – Österreich war nun nicht mehr der Neutrale zwischen NATO und Warschauer Pakt. Von weitaus größerer Bedeutung, ja die Voraussetzung für eine europäische Integration, war »1989« aber für die mittel- und osteuropäischen Staaten, wie in der kehrt.« Eine lebensgeschichtliche Untersuchung der Flucht 1989 aus der DDR (Bamberger Beiträge zur Europäischen Ethnologie), Bamberg 2012.
Grenzöffnung 1989 – Offene Grenzen?
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Analyse von Oliver Schwarz deutlich wird. Er blickt in seinem Text »Die Erweiterung der Europäischen Union. Zum Wandel eines außenpolitischen Überinstruments« auf die durch die politischen und wirtschaftlichen Reformprozesse infolge des Jahres 1989 möglich gewordenen Osterweiterungen der Europäischen Union in den Jahren 2004 und 2007, die eine Integration aller östlichen Nachbarstaaten Österreichs brachten. Sein Augenmerk gilt den Bedingungen, die durch die Beitrittsaspiranten vor sowie teilweise auch nach der Aufnahme in die Union zu erfüllen waren. Er weist nach, dass sich die EU trotz zahlreicher Übergangslösungen nicht von ihren Grundsätzen trennte und die Mitgliedsstaaten dazu verpflichtete, den gemeinsamen Besitzstand (Acquis) vollständig zu übernehmen. Schwarz betont schließlich, dass eine weitere Erweiterung der EU in Richtung Südosten deutlich länger dauern sollte und letztlich auch dauerte. Die »proaktive Politik« Österreichs fördere aber die Beitrittsoptionen der Staaten des westlichen Balkans und sei dienlich, um neue Instabilitäten in der Region zu verhindern. Die weitere Bereitschaft Österreichs, die Balkanstaaten auch weiter bei ihrer Annäherung an die EU zu unterstützen, zeigte sich etwa bei einem Besuch des neuen österreichischen Außenministers Sebastian Kurz am 26. Februar 2014 in Belgrad. Kurz meinte, dass die Beitrittsbemühungen von Serbien auch aufgrund von wirtschafts- und sicherheitspolitischen Interessen Österreichs unterstützt würden.28 Allerdings ist zu konstatieren, dass diese Politik nur bedingt auf die internen Probleme einzelner Staaten einwirken kann und so freilich auf die zu Beginn des Jahres 2014 sich zuspitzenden Auseinandersetzungen in Bosnien und Herzegowina29 keinen Einfluss hatte. Genauer auf den österreichischen EU-Beitritt 1995 und die Folgen für die österreichische Sicherheitspolitik geht Gunther Hauser in seinem Beitrag »Das Jahr 1989 aus österreichischer und internationaler sicherheitspolitischer Perspektive« ein. Der Autor befasst sich insbesondere mit den Debatten um die österreichische Neutralität, die zu einem »sicherheitspolitischen Paradigmenwechsel« führten, wie Hauser betont : Die Diskussionen ergaben eine neue Auffassung der österreichischen Neutralitätspolitik, was die Beteiligung an der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) der EU sowie die Übernahme von neuen UN-mandatierten Militäreinsätzen ermöglichte. Die längerfristigen Folgen von »1989« beschäftigten das Bundesheer speziell an der österreichischen Ost- und Südostgrenze, zum einen im Rahmen des Assistenzeinsatzes und zum anderen im Rahmen der Kampfhandlungen im ehemaligen Jugoslawien. 28 Vgl. u. a. Roser, Thomas : Serbien-Beitritt bis 2018, in : Die Presse vom 27. Februar 2014, S. 8. 29 Vgl. u. a. den Hinweis auf der Seite des Außenministeriums, dass ein »erhöhtes Sicherheitsrisiko« bestehe : http://www.bmeia.gv.at/aussenministerium/buergerservice/reiseinformation/a-z-laender/bosnien-herze gowina-de.html (online am 22. Februar 2014).
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Andrea Brait · Michael Gehler
Auch Georg Kreis befasst sich in seinem Beitrag »Österreichs europapolitischer Aufbruch 1987–1995 aus der Sicht des schweizerischen Nachbarn. Die Wahrnehmung der NZZ« mit der Integration Österreichs in EU-Europa. Seine Analyse geht von der Berichterstattung des Schweizer Qualitätsblattes Neue Zürcher Zeitung aus, womit abermals die Außenwahrnehmung der österreichischen Politik untersucht wird. Sie zeigt, dass die Neutralitätsdiskussion in der Schweiz aufmerksam verfolgt wurde. Darüber hinaus kommt Kreis zum Schluss, dass die Westintegration Österreichs deutlich aufmerksamer verfolgt wurde als die Öffnung in Richtung Osten : Während die Beitrittsverhandlungen 1993/94, die Volksabstimmung am 12. Juni 1994 sowie der Beitritt am 1. Jänner 1995 selbst in zahlreichen Artikeln kommentiert wurden, findet sich in der NZZ zwar das Bild von Mock und Horn, wie sie den Stacheldraht zerschneiden, eine Bewertung der österreichischen Politik fehlt aber genauso wie eine Einschätzung zu den Folgen der politischen Umbrüche für Österreich. Die Außenwahrnehmungen werden schließlich noch in drei Texten vertieft. Miroslav Kunštát analysiert in seinem Beitrag »Die Tschechoslowakei und Österreich vor dem Umbruch 1989/90«, wie sich die Öffnungsprozesse in der Tschechoslowakei auf die Kontakte zum Nachbarstaat Österreich auswirkten. Er arbeitet heraus, wie sich Partnerschaftsvereinbarungen entwickelten, zahlreiche bilaterale Verträge geschlossen und Kontakte von tschechoslowakischen Oppositionellen zu österreichischen Akteuren intensiver wurden. Um die bilateralen Beziehungen nicht zu belasten, wurden Ende der 1980er-Jahre vor allem im Rahmen der Besuchsdiplomatie Streitfragen, wie insbesondere der Umgang mit den Beneš-Dekreten, ausgeblendet. Nach 1989 zeigte sich der klare Wunsch nach einer Verbesserung der Kontakte, was sich teilweise auch verwirklichen ließ. Allerdings kamen nach 1989 auch lange aufgeschobene Probleme wieder auf die Agenda : Kunštát verweist etwa auf die neuerliche Trübung des Verhältnisses, nachdem die Tschechische Republik die »Sanktionen« der EU-14 im Jahr 2000 unterstützt hatte. Während Kunštát die gesamte Tschechoslowakei sowie speziell die Tschechische Republik in den Blick nimmt, fokussiert Simon Gruber in seinem Text »So nah und doch so fern. Slowakische Wahrnehmungen der Beziehungen zu Österreich 1989 und in der Folgezeit« auf den slowakischen Landesteil beziehungsweise die Slowakei. Er weist nach, dass Österreich in der Slowakei zunächst als »Gelobtes Land« sowie als Symbol für Lebensstandard, Sauberkeit und Geld galt. 1989 wurden zahlreiche Kooperationsprojekte gestartet, die trotz slowakischer Enttäuschungen aufgrund nicht realisierter Infrastrukturprojekte zu einer positiven Wahrnehmung der slowakisch-österreichischen Zusammenarbeit beitrugen. Jedoch kam es Ende der 1990erJahre zu einer Abkühlung des Verhältnisses, was insbesondere auf Spannungen aufgrund der grenznahen Atomkraftwerke sowie die Abschottung des österreichischen Arbeitsmarktes zurückzuführen war und die durch Österreich unternommenen Bemühungen um einen slowakischen EU-Beitritt überlagerte.
Grenzöffnung 1989 – Offene Grenzen?
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László J. Kiss befasst sich in seinem Beitrag »Politik und Wahrnehmung : Ungarns (Außen-)Politik im Übergang – Österreichs Außenpolitik im Zuge der Umbruchsjahre (1988–1991)« nicht nur mit den bilateralen Beziehungen Österreichs zu Ungarn, sondern auch damit, wie die Außenpolitiken eingeschätzt wurden. Dabei verweist er insbesondere auf die – auch in anderen Texten besprochenen – Aktionen an der österreichisch-ungarischen Grenze im Jahr 1989 und betont deren hohe Symbolkraft. Wie Kiss betont, änderte sich das Bild der Grenze auf der österreichischen Seite jedoch nach dem Beitritt zur EU und dann nochmals, als auch Ungarn der EU beitrat : Die Euphorie des Jahres 1989 war in Österreich 15 Jahre später schon verflogen, wie Kiss meint. Die Wahrnehmung in Ungarn verlief hierzu asymmetrisch : 1989 war der Ausgangspunkt, um aus einer traditionell passiven außenpolitischen Rolle herauszukommen und Gestaltungsfreiheit zu erlangen. Die letzten vier Texte des Bandes befassen sich mit Einschätzungen zur langfristigen Bedeutung des Jahres 1989 (für Österreich). Felicitas Söhner leitet mit ihrem Beitrag »Der Umbruch von 1989 : Soziokulturelle Auswirkungen eines Paradigmenwechsels« diesen Teil des Sammelbandes ein. Ihr Text bietet eine Zusammenschau der Debatten um eine adäquate Begrifflichkeit für die Umbrüche, die 1989 ihren Ausgang nahmen. Ihre Analyse zeigt, dass sich die Narrative je nach Sprachraum und Nation stark unterscheiden. Während in Österreich gerne von einer »Ostöffnung« gesprochen wird (sowie von einem »annus mirabilis«), ist im slawischen Raum oft vom »Wechsel« und in Deutschland von der »Wende« die Rede, wie Söhner ausführt. Damit reflektieren diese Begriffszuschreibungen deutlich die Perspektiven der Staaten, die von »1989« direkt erfasst wurden, und von Staaten, die nur indirekt betroffen waren. Dass »1989« in seiner Vielschichtigkeit, Komplexität und internationalen Bedeutung mit keinem anderen Ereignis in der Geschichte zu vergleichen ist, zeigt sich insbesondere bei den verschiedenen Begleitworten für den Begriff »Revolution«, die gefunden wurden im Bemühen, »1989« zu erfassen. Resümierend stellt Söhner jedoch fest, dass keiner der bislang vorgeschlagenen Begriffe »1989« in all seinen Dimensionen gerecht werden kann. Andreas Schimmelpfennig befasst sich in seinem Beitrag »1989 und die österreichische Identität der nationalen Minderheiten« mit der Wahrnehmung durch jene Bevölkerungsteile, die als »Volksgruppen« vom gleichnamigen Gesetz erfasst wurden. Ausgehend von einem Blick auf wissenschaftliche Definitionen rund um Minderheiten und die Entwicklung der rechtlichen Grundlagen, die in Österreich und international zum Tragen kommen, beschäftigt sich Schimmelpfennig mit der »Pluralität des Österreichischen«. Sein Blick richtet sich schließlich auf der Basis von Interviews mit Politikern und Vertretern der Volksgruppen auf Veränderungen für diese Minderheiten, die durch »1989« angestoßen wurden. Schimmelpfennig kommt auf dieser Datenbasis zum Schluss, dass die Umwälzungen, die in diesem Jahr ihren Ausgang nahmen, von den Volksgruppen nicht als besonderer Einschnitt in Bezug
22
Andrea Brait · Michael Gehler
auf ihre gegenwärtige Situation verstanden würden. Auch die rechtlichen Besserstellungen seien keine direkte Folge von »1989«. Allerdings verweist Schimmelpfennig darauf, dass es positive Entwicklungen gebe, wie etwa Neuzugänge an der Wiener Komensky-Schule und ein verstärktes Interesse an der Erlernung der slowenischen Sprache durch deutschsprachige Österreicher. Wie schwierig die Bewertung der Bedeutung von »1989« für Österreich rund 25 Jahre danach ist, zeigen speziell die unterschiedlichen Ergebnisse der Analysen von Andrea Brait und Christoph Kühberger. Während Brait in ihrem Beitrag »Zur Konstruktion eines europäischen Gedächtnisortes. Blicke auf 1989 in den Jahren 1999 und 2009« mit Blick auf diverse politische Inszenierungen, wissenschaftliche Veranstaltungen und Ausstellungen die These aufstellt, dass sich speziell in Jubiläumsjahren auch in Österreich ein Bewusstsein für die Bedeutung des Jahres 1989 nachweisen lässt, meint Kühberger in seiner Studie »1989 im österreichischen Geschichtsunterricht. Über Zeitpunkte und Ikonen«, die privaten Erinnerungen seiner eigenen Familie, Schulbücher und Standardwerke zur österreichischen Geschichte analysierend, dass 1989 keine merklichen Auswirkungen auf das Privatleben der Österreicher hatte. Ausgehend von diesem Befund argumentiert Kühberger, dass 1989 für Österreich und die Österreicher kein zentraler »Erinnerungsort« sei. Damit weist er nach, dass auch von Historikern (wobei er auf Gehler als Ausnahme verweist) und Geschichtsdidaktikern das Jahr 1989 nicht als Einschnitt in der österreichischen Geschichte der Zweiten Republik angesehen wird. Kühberger plädiert für eine »Interpretation des Umbruchs in längeren Schnitten«, womit die in den 1990er-Jahren sichtbaren Folgen der Umbrüche für Österreich in den Blick genommen werden sollten, welche sich auch auf das Alltagsleben der Menschen auswirkten. Kühbergers abschließender Blick auf die auch in diesem Sammelband mehrfach erwähnte Bildikone, welche Mock und Horn bei der Durchschneidung des Eisernen Vorhanges zeigt, verweist auf den Ansatz von Brait. Ihr Beitrag beschäftigt sich nicht mit Auswirkungen, die »1989« auf Österreich und das Leben der Österreicher hatte oder nicht, und den daraus folgenden Bewertungen ; ihr geht es vielmehr darum, zu fragen, ob »1989« in Österreich als »europäischer« beziehungsweise »transnationaler Gedächtnisort« aufgefasst wird. Gegenstand ihrer Analyse ist das »kollektive Gedächtnis«, womit sie sich mit offiziellen Bezugnahmen auf das Jahr 1989 auseinandersetzt, die in den Jubiläumsjahren 1999 und 2009 auch in Österreich sehr vielfältig waren : Die Studie weist zahlreiche Medienberichte nach, welche nicht nur die Ereignisse an den österreichischen Ostgrenzen (inklusive zahlreicher Wiederabdrucke des Bildes, das Mock und Horn mit Drahtscheren in der Hand zeigt), sondern auch die weltweit verschiedenen Facetten des Jahres 1989 in den Blick nahmen, diverse Feierlichkeiten, die politisch Handelnde des Jahres 1989 – aber auch des jeweiligen Jubiläumsjahres – nutzten, um sich in Szene zu setzen, und zahlreiche wissenschaftliche Auseinandersetzungen, wie Tagungen und Ausstellungen. Die hierbei aktiven Journalisten, Politiker
Grenzöffnung 1989 – Offene Grenzen?
23
und Wissenschaftler trugen, wie Brait meint, dazu bei, den »Gedächtnisort 1989« – verstanden als imaginären »Ort« – zu konstruieren, wenngleich derzeit der nationale Blick dominiere. Die zunehmende zeitliche Distanz werde erst zeigen, ob »1989« auch Teil einer »Erinnerungskultur« wird, die von den Menschen mitgetragen wird. Für die Bewertung des Jahres 1989 durch die österreichische Bevölkerung interessierte sich das Projekt »Offene Grenzen, neue Barrieren und gewandelte Identitäten« von Beginn an. Zu diesem Zweck wurde im Juli 2011 durch GfK Austria eine österreichweite repräsentative Meinungsumfrage durchgeführt.30 Ergründet werden sollte die Einstellung der Österreicher zur Bedeutung des Jahres 1989 im Verhältnis zu anderen Ereignissen, zur Bewertung der östlichen Nachbarstaaten und zu den Auswirkungen der Grenzöffnungen. Der hierzu entwickelte Fragebogen umfasste 18 inhaltliche (sowie neun Statistik-)Fragen, zu denen es fast durchgängig vorgegebene Antwortmöglichkeiten gab, aber in vielen Fällen auch ein freies Feld, wodurch die Befragten weitere Antworten ergänzen konnten. Wie bei jeder Umfrage ergaben sich einige methodische Probleme : So ist insbesondere zu bedenken, dass der Fragebogen von den Forschungsinteressen des Projektteams geleitet war. Die Fragen und Antworten wurde einerseits so präzise und andererseits so allgemein verständlich wie möglich formuliert – ein Spannungsverhältnis, das nie ganz aufgelöst werden kann. Zu bedenken ist außerdem, dass die Ergebnisse von empirischen Sozialforschungen freilich immer Momentaufnahmen sind. Zwischen der Durchführung der Studie und der Publikation der Ergebnisse liegen in diesem Fall rund drei Jahre. Trotz dieser Einschränkungen lassen sich aus den Ergebnissen, wovon nachfolgend die Häufigkeitsauswertungen dargestellt werden, einige Tendenzen ablesen. Die Auswertungen erfolgten mit dem Statistikprogramm SPSS sowie mit Micro soft Excel, mit dem vor allem das Konfidenzintervall (KI 95 %)31 für die Prozentanteile berechnet und die grafische Darstellung der errechneten Daten aufbereitet wurde. Die Auswertung erfolgte unter Berücksichtigung der von GfK erstellten Variable »gewicht« – die Fälle wurden demnach gewichtet, wodurch eine Anpassung an die Grundgesamtheit (österreichische Bevölkerung32 mit Internetzugang ab 16
30 Die Fragen wurden vom Projektteam entwickelt, wobei dieses von Peter Diem eingehend beraten wurde. Ihm sei an dieser Stelle herzlich gedankt. 31 In den folgenden Berechnungen wird nur das für sozialwissenschaftliche Studien übliche 95 %-Konfidenzintervall (KI 95 %) berechnet. Nach diesem ist davon auszugehen, dass bei unendlichen vielen Stichproben aus der Grundgesamtheit 95 % aller berechenbaren Konfidenzintervalle den gesuchten Wert beinhalten. Vgl. Duller, Christine : Einführung in die Statistik mit EXCEL und SPSS. Ein anwendungsorientiertes Lehr- und Arbeitsbuch, 3., überarbeitete Aufl., Berlin/Heidelberg 2013, S. 219. 32 Unter »österreichischer Bevölkerung« wird im Folgenden die in Österreich lebende Bevölkerung verstanden, der Begriff ist hier nicht an die Staatsbürgerschaft gekoppelt, da diese nicht abgefragt wurde.
24
Andrea Brait · Michael Gehler
Jahren33) erreicht wird. Befragt wurden 1.031 Personen, der gewichtete Stichprobenumfang ist 1.000. Die CD-Beilage zum Sammelband enthält Häufigkeitsauswertungen zu allen Fragen sowie Kurztabellen aller inhaltlichen Fragen mit den Statistikfragen. In der Folge wird daher nur ein grober Überblick abgedruckt. Frage 1 zielte darauf ab, eine allgemeine Einschätzung zu den Auswirkungen des Falls des Eisernen Vorhangs und der Demokratisierung in den östlichen Nachbarstaaten Österreichs zu erhalten. Die Antworten zeigen klar, dass die überwiegende Mehrheit der Befragten34, über 91 %, der Auffassung ist, dass der Fall des »Eisernen Vorhangs« 1989 und die folgende Demokratisierung in den östlichen Nachbarstaaten Österreichs für Österreich für wichtig beziehungsweise sehr wichtig waren. Häufigkeit
Prozent
Gültige Prozente
KI 95 % Untergrenze
KI 95 % Obergrenze
sehr wichtig
613
61,3
61,3
58,3
64,3
eher wichtig
299
29,9
29,9
27,1
32,8
eher unwichtig
76
7,6
7,6
6,0
9,3
sehr unwichtig
11
1,1
1,1
0,5
1,8
1.000
100,0
100,0
Gesamt
Tabelle 1 : Auswertung Frage 1 : Wie wichtig waren Ihrer Ansicht nach der Fall des »Eisernen Vorhangs« 1989 und die folgende Demokratisierung in den östlichen Nachbarstaaten Österreichs für Österreich ?
Die folgende Frage zielte auf einen Vergleich verschiedener Ereignisse ab, die auf Österreich und die Österreicher unterschiedliche Auswirkungen hatten. Die Befragten wurden gebeten, eine Reihung vorzunehmen. Das Ergebnis der Rangreihungen zeigt, dass von den vorgegebenen politischen Veränderungen dem Fall des Eisernen Vorhanges 1989 die bedeutendsten Auswirkungen auf Österreich beigemessen werden. Erst an zweiter Stelle folgt (im Durchschnitt) der EU-Beitritt Österreichs 1995.35 33 Laut neuesten Statistiken haben bereits rund 80 % der österreichischen Bevölkerung Zugang zum Internet (Ende 2011 : 79 %), vgl. Gasser, Bettina : Das Medienforschungssystem in Österreich 2012. Studien und Methoden, Wien 2012, S. 48. 34 Wenn hier und im Folgenden von Befragten gesprochen wird, so bezieht sich der Begriff auf den gewichteten Stichprobenumfang, nicht auf die 1.031 Personen, die befragt wurden. Zumal die Anpassung an die Grundgesamtheit errechnet wurde, wäre es nicht korrekt, von »Bevölkerung« zu sprechen. Bei der Interpretation der Daten sind die dadurch entstehenden Rundungen zu beachten 35 Auch unter Berücksichtigung des 95 %-Konfidenzintervalls bleibt »Fall des ›Eisernen Vorhangs‹ 1989« auf Platz 1. Eine gewisse Verzerrung könnte allerdings dadurch zustande gekommen sein, weil die Antwortvorgaben chronologisch gereiht waren und demnach »Fall des ›Eisernen Vorhangs‹ 1989«
25
Grenzöffnung 1989 – Offene Grenzen?
sehr wichtig
61,35%
eher wichtig
29,92%
eher unwichtig
7,61%
sehr unwichtig
1,11% 0%
10%
20%
30%
40%
50%
60%
70%
80%
90%
100%
Diagramm 1 : Auswertung Frage 1 : Wie wichtig waren Ihrer Ansicht nach der Fall des »Eisernen Vorhangs« 1989 und die folgende Demokratisierung in den östlichen Nachbarstaaten Österreichs für Österreich ?
Arithmetisches Mittel der Rangreihungen
Standardfehler des Mittelwertes
KI 95 % Untergrenze
KI 95 % Obergrenze
Fall des »Eisernen Vorhangs« 1989
2,32
0,047
2,23
2,41
EU-Beitritt Österreichs 1995
2,75
0,058
2,64
2,87
Fall der Berliner Mauer 1989
3,41
0,058
3,30
3,52
Wegfall der Grenzkontrollen zum Schengen-Raum 1997
3,91
0,049
3,81
4,00
EU-Osterweiterung 2004 (Estland, Lettland, Litauen, Malta, Polen, Slowakei, Slowenien, Tschechien, Ungarn und Zypern als neue Mitglieder)
4,79
0,05
4,70
4,88
Deutscher Einigungsvertrag 1990
4,80
0,052
4,70
4,90
EU-Osterweiterung 2007 (Rumänien und Bulgarien als neue Mitglieder)
6,02
0,043
5,94
6,11
Tabelle 2 : Auswertung Frage 2 : Bitte reihen Sie die folgenden politischen Veränderungen in den letzten 20 Jahren nach ihren Auswirkungen auf Österreich.
immer an der ersten Stelle der Liste war. Die Werte der Standardabweichung zeigen außerdem, dass die Befragten durchaus unterschiedlich gereiht haben (Fall des »Eisernen Vorhangs« 1989 : 1,488 ; EU-Beitritt Österreichs 1995 : 1,841 ; Fall der Berliner Mauer 1989 : 1,838 ; Wegfall der Grenzkontrollen zum Schengen-Raum 1997 : 1,554 ; EU-Osterweiterung 2004 : 1,428 ; Deutscher Einigungsvertrag 1990 : 1,639 ; EU-Osterweiterung 2007 : 1,347).
26
Andrea Brait · Michael Gehler
Fall des „Eisernen Vorhangs“ 1989
EU-Osterweiterung 2007 (Rumänien und Bulgarien als Mitglieder)
2,32
Deutscher Einigungsvertrag EU-Beitritt Österreichs 1995
2,75 EU-Osterweiterung 2004 (Estland, Lettland, Litauen, Malta, P Slowakei, Slowenien, Tschechien, Ungarn und Zypern als n Mitglieder)
Fall der Berliner Mauer 1989
Wegfall der Grenzkontrollen zum Schengen-Raum
3,41
Fall der Berliner Mauer Wegfall der Grenzkontrollen zum Schengen-Raum 1997
3,91
EU-Beitritt Österreichs EU-Osterweiterung 2004 (Estland, Lettland, Litauen, Malta, Polen, Slowakei, Slowenien, Tschechien, Ungarn und Zypern als neue Mitglieder)
4,79
Deutscher Einigungsvertrag 1990
4,8
EU-Osterweiterung 2007 (Rumänien und Bulgarien als neue Mitglieder)
Fall des „Eisernen Vorhangs“
6,02
1
2
3
4
5
6
7
Diagramm 2 : Auswertung Frage 2 : Bitte reihen Sie die folgenden politischen Veränderungen in den letzten 20 Jahren nach ihren Auswirkungen auf Österreich.
Mit den folgenden Fragen beabsichtigte das Projektteam, die Einstellung der Österreicher zu seinen östlichen Nachbarn zu erforschen. Zunächst wurde nach der Reisetätigkeit in die östlichen Nachbarstaaten Österreichs (Tschechien, Slowakei, Ungarn, Slowenien) gefragt. Dabei zeigte sich, dass ein knappes Viertel der Befragten in den
27
Grenzöffnung 1989 – Offene Grenzen?
letzten fünf Jahren zehnmal oder öfter dorthin reiste. Etwas mehr Befragte gaben an, in diesem Zeitraum nie dorthin gereist zu sein. Ein knappes Drittel der Befragten (31,5 %) reiste zwischen 2006 und 2011 ein- bis dreimal in diese Staaten. Häufigkeit
Prozent
Gültige Prozente
KI 95 % Untergrenze
KI 95 % Obergrenze
0mal
241
24,1
24,1
21,4
26,8
1mal
116
11,6
11,6
9,6
13,6
2mal
110
11,0
11,0
9,1
12,9
3mal
89
8,9
8,9
7,1
10,7
4mal
51
5,1
5,1
3,7
6,5
5mal
109
10,9
10,9
9,0
12,8
6mal
23
2,3
2,3
1,4
3,2
7mal
7
0,7
0,7
0,2
1,2
8mal
14
1,4
1,4
0,7
2,1
9mal
1
0,1
0,1
0,0
0,3
10mal und öfter
238
23,8
23,8
21,2
26,4
Gesamt
1.000
100,0
100,0
Tabelle 3 : Auswertung Frage 3 : Wie oft sind Sie selbst in den letzten fünf Jahren, also seit 2006, in die östlichen Nachbarstaaten Österreichs (Tschechien, Slowakei, Ungarn, Slowenien) gereist ?
0mal
24,1%
1mal
11,6%
2mal
11,0%
3mal
8,9%
4mal
5,1%
5mal
10,9%
6mal
2,3%
7mal
0,7%
8mal
1,4%
9mal
0,1%
10mal und öfter
23,8% 0%
10%
20%
30%
40%
50%
60%
70%
80%
90%
100%
Diagramm 3 : Auswertung Frage 3 : Wie oft sind Sie selbst in den letzten fünf Jahren, also seit 2006, in die östlichen Nachbarstaaten Österreichs (Tschechien, Slowakei, Ungarn, Slowenien) gereist ?
28
Andrea Brait · Michael Gehler
Der Umfrage zufolge liegen die Hauptmotive für Reisen in die östlichen Nachbarstaaten Österreichs klar bei den Kategorien »Urlaub« und »Einkaufen«. Die Kategorie »Bildung« liegt mit 7,8 % der Nennungen an letzter Stelle. Die Antworten im »freien Feld« deuten darüber hinaus darauf hin, dass Arztbesuche, speziell Zahnbehandlungen, häufiger der Anlass für Besuche in diese Länder sind. (Die meisten der restlichen gegebenen Antworten fallen im weitesten Sinne in die Kategorie »Urlaub«, wie etwa »Essen«, »Sportveranstaltung«, »Wandern« etc.). Antworten N
Prozent
Prozent der Fälle
KI 95 % Untergrenze
KI 95 % Obergrenze
Urlaub
486
33,9
48,6
45,5
51,7
Einkaufen/Tanken
304
21,2
30,4
27,5
33,3
private Beziehungen
130
9,1
13,0
10,9
15,1
geschäftlich/dienstlich/Arbeit
86
6,0
8,6
6,9
10,3
Bildung
78
5,4
7,8
6,1
9,5
sonstiges
116
8,1
11,6
9,6
13,6
habe keine Reise in diese Staaten unternommen
23636
16,4
23,6
21,0
26,2
100,0
143,6
Gesamt
1.436
Tabelle 4 : Auswertung Frage 4 : Aus welchen Gründen sind Sie in den letzten fünf Jahren, also seit 2006, in die östlichen Nachbarstaaten Österreichs (Tschechien, Slowakei, Ungarn, Slowenien) gereist ? (Mehrfachantworten möglich)
Urlaub
48,6%
Einkaufen/Tanken
30,4%
private Beziehungen
13,0%
geschäftlich/dienstlich/Arbeit
8,6%
Bildung
7,8%
sonstiges
11,6%
habe keine Reise in diese Staaten unternommen
23,6% 0%
10%
20%
30%
40%
50%
60%
70%
80%
90%
100%
Diagramm 4 : Auswertung Frage 4 : Aus welchen Gründen sind Sie in den letzten fünf Jahren, also seit 2006, in die östlichen Nachbarstaaten Österreichs (Tschechien, Slowakei, Ungarn, Slowenien) gereist ? (Mehrfachantworten möglich)
36 Im Vergleich zur vorigen Frage fällt auf, dass bei dieser fünf Befragte weniger angaben, keine Reise in diese Staaten unternommen zu haben.
29
Grenzöffnung 1989 – Offene Grenzen?
Die Frage 5 (In welchem Jahr sind Sie geboren ?) diente als Auswahlfrage. Ziel der darauffolgenden Frage war eine Einschätzung, welche Staaten den Befragten am nächsten stehen. Hier wurde eine Unterscheidung zwischen der Situation vor den Umbrüchen, die 1989 ihren Ausgang nahmen, und danach intendiert, was jedoch von zu jungen Personen nicht beantwortet werden konnte. Das Projektteam entschied sich dafür, eine Einschätzung für die Zeit vor 1989 nur von solchen Personen abgeben zu lassen, die 1989 zumindest zehn Jahre alt waren. In der Folge konnten 768 Befragte eine Einschätzung für vor 1989 und für den Zeitpunkt der Befragung abgeben, 232 nur für den Zeitpunkt der Befragung.
Bundesrepublik vor 1989
Arithmetisches Mittel der Rangreihungen
Standardfehler des Mittelwertes
KI 95 % Untergrenze
KI 95 % Obergrenze
6,85
0,12
6,6148
7,0852
DDR vor 1989
2,16
0,10
1,9640
2,3560
Deutschland heute
7,24
0,10
7,0440
7,4360
ČSSR vor 1989
2,52
0,09
2,3436
2,6964
Tschechien heute
3,76
0,09
3,5836
3,9364
Slowakei heute
3,20
0,09
3,0236
3,3764
Ungarn vor 1989
3,67
0,11
3,4544
3,8856
Ungarn heute
4,39
0,10
4,1940
4,5860
Jugoslawien vor 1989
3,29
0,11
3,0744
3,5056
Slowenien heute
3,89
0,09
3,7136
4,0664
Italien vor 1989
5,57
0,11
5,3544
5,7856
Italien heute
5,86
0,10
5,6640
6,0560
Schweiz vor 1989
5,16
0,12
4,9248
5,3952
Schweiz heute
5,47
0,10
5,2740
5,6660
Polen vor 1989
1,63
0,08
1,4732
1,7868
Polen heute
2,33
0,08
2,1732
2,4868
Tabelle 5 : Auswertung Frage 6a/b : Welche der folgenden (Nachbar-)Staaten (Österreichs) [standen bzw.] stehen Ihnen persönlich am nächsten ? Drücken Sie das bitte anhand einer Skala von 0 bis 10 aus. 0 bedeutet »überhaupt nicht nahe«, 10 bedeutet »sehr nahe«. Dazwischen können Sie fein abstimmen.37
37 Die Tabelle und das Diagramm zeigen eine Zusammenschau der Ergebnisse aus den Fragen 6a und 6b. Das (gewichtete) Sample für die Zeit vor 1989 umfasst 768 Personen, jenes für den Zeitpunkt der Befragung (heute) 1.000 Personen.
30
Andrea Brait · Michael Gehler
6,85
Bundesrepublik vor 1989
2,16
DDR vor 1989
7,24
Deutschland heute
2,52
ČSSR vor 1989
3,76
Tschechien heute
3,20
Slowakei heute
3,67
Ungarn vor 1989
4,39
Ungarn heute
3,29
Jugoslawien vor 1989
3,89
Slowenien heute
5,57
Italien vor 1989
5,86
Italien heute
5,16
Schweiz vor 1989
5,47
Schweiz heute
1,63
Polen vor 1989
2,33
Polen heute
0
2
4
6
8
10
Diagramm 5 : Auswertung Frage 6a/b : Welche der folgenden (Nachbar-)Staaten (Österreichs) [standen bzw.] stehen Ihnen persönlich am nächsten ? Drücken Sie das bitte anhand einer Skala von 0 bis 10 aus. 0 bedeutet »überhaupt nicht nahe«, 10 bedeutet »sehr nahe«. Dazwischen können Sie fein abstimmen.
Es zeigt sich, dass sich die Österreicher den einzelnen (Nachbar-)Staaten (Österreichs) unterschiedlich nahe fühlen. Am nächsten fühlen sich die Österreicher heute Deutschland ; die Werte änderten sich gegenüber der Bundesrepublik Deutschland nach 1989 kaum, wohl aber gegenüber der DDR, der sich viele überhaupt nicht nahe fühlten. Bei den östlichen Nachbarstaaten konnten für die Zeit vor 1989 im Vergleich zu heute durchgängig geringere Naheverhältnisse festgestellt werden oder, um es positiv zu formulieren : Die Demokratisierungsprozesse führten durchgängig dazu, dass sich die Naheverhältnisse verbesserten. So liegen die Mittelwerte der Rangreihungen für die Tschechische Republik bei 3,76 und für die Slowakische Republik bei 3,20, während die Werte für die ČSSR bei 2,52 liegen.
31
Grenzöffnung 1989 – Offene Grenzen?
Die nächsten Fragen rekurrierten auf die Einschätzung der längerfristigen Folgen für Österreich. Die Antworten auf die Frage, wem die beiden Osterweiterungen der Europäischen Union (EU) nützten, sind sehr breit gestreut. Auffällig ist insbesondere die sehr geringe Nennung der Kategorie »der österreichischen Bevölkerung« (mit 16,6 % am seltensten genannt). Am häufigsten genannt wurde »der Bevölkerung in den östlichen Nachbarstaaten Österreichs« (60,2 %), gefolgt von »der österreichischen Wirtschaft/österreichischen Unternehmen« (59,8 %) und »Kriminellen« (58,9 %).38 Antworten N
Prozent
Prozent der Fälle
KI 95 % Untergrenze
KI 95 % Obergrenze
der Bevölkerung in den östlichen Nachbarstaaten Österreichs
602
13,4
60,2
57,2
63,2
der österreichischen Wirtschaft/ österreichischen Unternehmen
598
13,3
59,8
56,8
62,8
Kriminellen
589
13,1
58,9
55,9
61,9
den Unternehmen in den östlichen Nachbarstaaten Österreichs
569
12,6
56,9
53,8
60,0
Zuwanderern
562
12,5
56,2
53,1
59,3
der Europäischen Union (EU)
426
9,5
42,6
39,5
45,7
den Grenzregionen
382
8,5
38,2
35,2
41,2
grenzüberschreitenden Projekten im Kunst-, Kultur- und Wissenschaftsbereich
362
8,0
36,2
33,2
39,2
dem österreichischen Staat
227
5,0
22,7
20,1
25,3
der österreichischen Bevölkerung
166
3,7
16,6
14,3
18,9
24
0,5
2,4
1,5
3,3
4.507
100,0
450,7
sonstiges Gesamt
Tabelle 6 : Auswertung Frage 7 : Wem nützen Ihrer Einschätzung nach die beiden Osterweiterungen der Europäischen Union (EU) ? (Mehrfachantworten möglich)
38 Die Antworten im freien Feld brachten keine Erweiterung der Kategorien, da fast alle gegebenen Antworten einer der vorgegebenen Kategorien zuordenbar waren ; einzig die Punkte »Friedensprojekt« und »Frieden in Europa« liegen etwas abseits.
32
Andrea Brait · Michael Gehler
der Bevölkerung in den östlichen Nachbarstaaten Österreichs
60,2%
der österreichischen Wirtschaft/österreichischen Unternehmen
59,8%
Kriminellen
58,9%
den Unternehmen in den östlichen Nachbarstaaten Österreichs
56,9%
Zuwanderern
56,2%
der Europäischen Union (EU)
42,6%
den Grenzregionen
38,2%
grenzüberschreitenden Projekten im Kunst-, Kultur- und Wissenschaftsbereich
36,2%
dem österreichischen Staat
22,7%
der österreichischen Bevölkerung sonstiges
16,6% 2,4% 0%
10%
20%
30%
40%
50%
60%
70%
80%
90%
100%
Diagramm 6 : Auswertung Frage 7 : Wem nützen Ihrer Einschätzung nach die beiden Osterweiterungen der Europäischen Union (EU) ? (Mehrfachantworten möglich)
Ein anderes Bild von der »Ostöffnung« ergibt sich, wenn nach den »offenen Grenzen« infolge der Erweiterungen des Schengen-Raumes gefragt wird. Von rund zwei Drittel der Befragten werden diese als positiv eingestuft.
Häufigkeit
Prozent
Gültige Prozente
KI 95 % Untergrenze
KI 95 % Obergrenze
sehr positiv
284
28,4
28,4
25,2
31,6
eher positiv
398
39,8
39,8
36,3
43,3
eher negativ
219
21,9
21,9
19,0
24,8
sehr negativ
98
9,8
9,8
7,7
11,9
1.000
100,0
100,0
Gesamt
Tabelle 7 : Auswertung Frage 8 : Seit der Erweiterung des sogenannten Schengen-Raumes 2008 bzw. 2011 gibt es nun zu vielen europäischen Ländern keine Grenzkontrollen mehr. Wie empfinden Sie persönlich die offenen Grenzen in Europa ?
33
Grenzöffnung 1989 – Offene Grenzen?
sehr positiv
28,4%
eher positiv
39,8%
eher negativ
21,9%
sehr negativ
9,8% 0%
10%
20%
30%
40%
50%
60%
70%
80%
90%
100%
Diagramm 7 : Auswertung Frage 8 : Seit der Erweiterung des sogenannten Schengen-Raumes 2008 bzw. 2011 gibt es nun zu vielen europäischen Ländern keine Grenzkontrollen mehr. Wie empfinden Sie persönlich die offenen Grenzen in Europa ?
Ähnlich wie bei der Frage nach den Profiteuren der Osterweiterungen der EU sind auch bei der Frage danach, was mit den offenen Grenzen in Europa (infolge der Erweiterung des Schengen-Raumes 2008 bzw. 2011) verbunden wird, die Themen Wirtschaft und Kriminalität sehr präsent. Allerdings steht hier an erster Stelle der Punkt »neue Reisemöglichkeiten bzw. Reiseerleichterungen« (71,2 %). Auf diesen folgen dann die Kategorien »gestiegene Kriminalität« (63,7 %), »neue Chancen auf dem Arbeitsmarkt für Staatsangehörige der östlichen Nachbarstaaten Österreichs« (53,7 %), »Chancen für Unternehmen« (50,7 %) und »Zustrom von Migranten« (49,9 %).
34
Andrea Brait · Michael Gehler Antworten
neue Reisemöglichkeiten bzw. Reiseerleichterungen
N
Prozent
Prozent der Fälle
KI 95 % Untergrenze
KI 95 % Obergrenze
712
18,0
71,2
68,0
74,4
gestiegene Kriminalität
637
16,1
63,7
60,3
67,1
neue Chancen auf dem Arbeitsmarkt für Staatsangehörige der östlichen Nachbarstaaten Österreichs
537
13,6
53,7
50,2
57,2
Chancen für Unternehmen
507
12,8
50,7
47,2
54,2
Zustrom von Migranten
499
12,6
49,9
46,4
53,4
neue Einkaufsmöglichkeiten
322
8,1
32,2
28,9
35,5
neue Arbeitschancen für Österreicher
284
7,2
28,4
25,2
31,6
fehlende Sichtbarkeit des Grenzverlaufs
253
6,4
25,3
22,2
28,4
Assistenzeinsatz des österreichischen Bundesheeres
185
4,7
18,5
15,8
21,2
21
0,5
2,1
1,1
3,1
3.957
100,0
395,7
sonstiges Gesamt
Tabelle 8 : Auswertung Frage 9 : Was verbinden Sie alles mit den offenen Grenzen in Europa (infolge der Erweiterung des Schengen-Raumes 2008 bzw. 2011) ? (Mehrfachantworten möglich)
neue Reisemöglichkeiten bzw. Reiseerleichterungen
71,2%
gestiegene Kriminalität
63,7%
neue Chancen auf dem Arbeitsmarkt für Staatsangehörige der östlichen Nachbarstaaten Österreichs
53,7%
Chancen für Unternehmen
50,7%
Zustrom von Migranten
49,9%
neue Einkaufsmöglichkeiten
32,2%
neue Arbeitschancen für Österreicher
28,4%
fehlende Sichtbarkeit des Grenzverlaufs
25,3%
Assistenzeinsatz des österreichischen Bundesheeres sonstiges
18,5%
2,1% 0%
10%
20%
30%
40%
50%
60%
70%
80%
90%
100%
Diagramm 8 : Auswertung Frage 9 : Was verbinden Sie alles mit den offenen Grenzen in Europa (infolge der Erweiterung des Schengen-Raumes 2008 bzw. 2011) ? (Mehrfachantworten möglich)
Die nächsten Fragen setzten sich wieder damit auseinander, wie die Nachbarstaaten von den Österreichern bewertet werden. Die EU-Mitgliedschaft von den östlichen Nachbarstaaten wird mehrheitlich als positiv eingeschätzt, wobei die Mitgliedschaft
35
Grenzöffnung 1989 – Offene Grenzen?
Ungarn
KI 95 % ntergrenze U
KI 95 % bergrenze O
Tschechien
KI 95 % ntergrenze U
KI 95 % bergrenze O
Slowakei
KI 95 % ntergrenze U
KI 95 % bergrenze O
Slowenien
KI 95 % ntergrenze U
KI 95 % bergrenze O
von Slowenien am positivsten bewertet wurde (79,8 % positive Bewertuxcngen). Am wenigsten positiv wurde die Mitgliedschaft der Slowakei gesehen (31,4 % meinten, dass diese eher beziehungsweise sehr negativ sei).
sehr positiv
16,9
14,2
19,6
13,7
11,6
15,8
11,4
9,4
13,4
22,2
19,6
24,8
eher positiv
61,3
57,9
64,7
59,0
56,0
62,0
57,2
54,1
60,3
57,6
54,5
60,7
eher negativ
19,2
16,4
22,0
21,7
19,1
24,3
26,0
23,3
28,7
16,5
14,2
18,8
sehr negativ
2,6
1,5
3,7
5,7
4,3
7,1
5,4
4,0
6,8
3,7
2,5
4,9
Tabelle 9 : Auswertung Frage 10 : Wie bewerten Sie die EU-Mitgliedschaft von … ? (Angaben in %)
Ungarn
16,9%
Tschechien
61,3%
13,7%
19,2%
59,0%
21,7%
2,6%
sehr positiv
5,7%
eher positiv eher negativ
Slowakei
11,4%
Slowenien
57,2%
22,2% 0%
10%
26,0%
57,6% 20%
30%
40%
50%
5,4%
16,5% 60%
70%
80%
90%
sehr negativ
3,7% 100%
Diagramm 9 : Auswertung Frage 10 : Wie bewerten Sie die EU-Mitgliedschaft von … ?
Die Ergebnisse der nächsten Frage bestätigen den Eindruck von einer Wertschätzung der östlichen Nachbarn. Die Umfrage zeigt, dass fast zwei Drittel der Befragten vermehrte kulturelle und wirtschaftliche Beziehungen mit ihren östlichen Nachbarstaaten befürworten.
Häufigkeit
Ja
744
Nein Gesamt
Prozent 74,4
KI 95 % Untergrenze
KI 95 % Obergrenze
74,4
71,7
77,1
22,9
28,3
Gültige Prozente
256
25,6
25,6
1.000
100,0
100,0
Tabelle 10 : Auswertung Frage 11 : Was meinen Sie : Soll Österreich in Zukunft in vermehrtem Maße wirtschaftlich und kulturell in Beziehung mit seinen östlichen Nachbarstaaten treten ?
36
Andrea Brait · Michael Gehler
nein 25,6%
ja 74,4%
Diagramm 10 : Auswertung Frage 11 : Was meinen Sie : Soll Österreich in Zukunft in vermehrtem Maße wirtschaftlich und kulturell in Beziehung mit seinen östlichen Nachbarstaaten treten ?
Der tatsächliche Austausch mit den östlichen Nachbarstaaten wurde mit den folgenden Fragen näher ergründet. Zunächst sollte die offene Frage »Welche Markenprodukte, die aus den östlichen Nachbarstaaten Österreichs stammen, kennen Sie ?« darüber Auskunft geben, welche Markenprodukte aus diesen Staaten bekannt sind. Neben vielen fehlenden oder falschen Nennungen ergab diese Frage, dass die Marken Škoda (114 Nennungen) und Budweiser (68 Nennungen) am bekanntesten sind. Über zehn Nennungen erreichten auch Gorenje (35 Nennungen), Pilsner (16 Nennungen) und Elan (13 Nennungen). Darüber hinaus wurden noch mehrfach bestimmte Produktgruppen erwähnt, wie etwa Salami (48 Nennungen) und Autos (20 Nennungen). In 400 Nennungen wurde zum Ausdruck gebracht, dass keine Markenprodukte bekannt sind, wobei einige Befragte darauf hinwiesen, dass sie nur österreichische Produkte kaufen (was an der Stelle nicht abgefragt wurde). Um besser auswertbare Ergebnisse zu erhalten, wurde in der Folge noch eine Liste von Produkten vorgegeben und nach deren Bekanntheit gefragt. Die vorigen Angaben wurden hier bestätigt : Die in Österreich bekanntesten Marken aus Tschechien, der Slowakei, Ungarn und Slowenien sind Škoda (93,5 %), Budweiser (89,9 %) und Gorenje (88,4 %). Darauf folgen mit einem gewissen Abstand Pilsner (72,8 %) und Elan (45,3 %).
37
Grenzöffnung 1989 – Offene Grenzen? Antworten
Prozent der Fälle
Prozent
KI 95 % Untergrenze
KI 95 % Obergrenze
Adria [Wohnwagen]
132
2,7
13,2
11,1
15,3
Budweiser Budvar [Bier]
899
18,7
89,9
88,0
91,8
Elan [Ski]
453
9,4
45,3
42,2
48,4
Gorenje [Küchengeräte]
884
18,4
88,4
86,4
90,4
Herend [Porzellan]
115
2,4
11,5
9,5
13,5
Matador [Autoreifen]
109
2,3
10,9
9,0
12,8
Mattoni [Mineralwasser] Moser [Glas] Opavia [Süßwaren]
35
0,7
3,5
2,4
4,6
8
0,2
0,8
0,2
1,4
14
0,3
1,4
0,7
2,1
Pick [Wurst]
184
3,8
18,4
16,0
20,8
Pilsner Urquell [Bier]
720
15,0
72,0
69,2
74,8
Škoda [Autos]
935
19,4
93,5
92,0
95,0
Törley [Sekt]
123
2,6
12,3
10,3
14,3
Unicum [Magenbitter]
194
4,0
19,4
16,9
21,9
4
0,1
0,4
0,0
0,8
4.810
100,0
481,0
keines von diesen Gesamt
Tabelle 11 : Auswertung Frage 13 : Welche der folgenden Markenprodukte, die aus den östlichen Nachbarstaaten Österreichs stammen, sind Ihnen bekannt ? (Mehrfachantworten möglich)
Škoda [Autos]
93,5%
Budweiser Budvar [Bier]
89,9%
Gorenje [Küchengeräte]
88,4%
Pilsner Urquell [Bier]
72,0%
Elan [Schi]
45,3%
Unicum [Magenbitter]
19,4%
Pick [Wurst]
18,4%
Törley [Sekt]
12,3%
Adria [Wohnwagen]
13,2%
Herend [Porzellan]
11,5%
Matador [Autoreifen]
10,9%
Mattoni [Mineralwasser]
3,5%
Opavia [Süsswaren]
1,4%
Moser [Glas]
0,8%
keines von diesen
0,4% 0%
10%
20%
30%
40%
50%
60%
70%
80%
90%
Diagramm 11 : Auswertung Frage 13 : Welche der folgenden Markenprodukte, die aus den östlichen Nachbarstaaten Österreichs stammen, sind Ihnen bekannt ? (Mehrfachantworten möglich)
100%
38
Andrea Brait · Michael Gehler
Neben einer Förderung der kulturellen und wirtschaftlichen Beziehungen mit ihren östlichen Nachbarstaaten (Frage 11) befürworten die Befragten auch klar eine Förderung deutscher Sprache und Kultur in diesen ; über zwei Drittel der Befragten (69,8 %) meinten, dies sei ihnen »eher« beziehungsweise »sehr wichtig«.
Häufigkeit
sehr wichtig
Prozent
Gültige Prozente
KI 95 % Untergrenze
KI 95 % Obergrenze
28,3
28,3
25,5
31,1 44,6
283
eher wichtig
415
41,5
41,5
38,4
eher unwichtig
260
26,0
26,0
23,3
28,7
sehr unwichtig
41
4,1
4,1
2,9
5,3
1.000
100,0
100,0
Gesamt
Tabelle 12 : Auswertung Frage 14 : Wie wichtig ist für Sie die Förderung deutscher Sprache und Kultur in den östlichen Nachbarstaaten Österreichs ?
sehr wichtig
28,3%
eher wichtig
41,5%
eher unwichtig
sehr unwichtig
26,0%
4,1% 0%
10%
20%
30%
40%
50%
60%
70%
80%
90%
100%
Diagramm 12 : Auswertung Frage 14 : Wie wichtig ist für Sie die Förderung deutscher Sprache und Kultur in den östlichen Nachbarstaaten Österreichs ?
Annähernd ebenso viele Befragte (62,3 %) gaben an, dass ihnen die Lehre der Sprachen der östlichen Nachbarstaaten Österreichs in Österreich »eher« oder »sehr wichtig« sei.
39
Grenzöffnung 1989 – Offene Grenzen?
Häufigkeit
Prozent
Gültige Prozente
KI 95 % Untergrenze
KI 95 % Obergrenze
sehr wichtig
198
19,8
19,8
17,3
22,3
eher wichtig
425
42,5
42,5
39,4
45,6
eher unwichtig
297
29,7
29,7
26,9
32,5
sehr unwichtig
80
8,0
8,0
6,3
9,7
1.000
100,0
100,0
Gesamt
Tabelle 13 : Auswertung Frage 15 : Wie wichtig ist es, dass Sprachen der östlichen Nachbarstaaten Österreichs in Österreich gelernt werden ?
sehr wichtig
19,8%
eher wichtig
42,5%
eher unwichtig
29,7%
sehr unwichtig
8,0%
0%
10%
20%
30%
40%
50%
60%
70%
80%
90%
100%
Diagramm 13 : Auswertung Frage 15 : Wie wichtig ist es, dass Sprachen der östlichen Nachbarstaaten Österreichs in Österreich gelernt werden ?
Im Gegensatz zu dieser Bedeutungszuschreibung steht die Angabe, dass nur 5,4 % der Befragten eine oder mehrere Sprachen der östlichen Nachbarstaaten Österreichs (Tschechisch, Slowakisch, Ungarisch, Slowenisch) als Fremdsprache gelernt haben. ja nein eine dieser Sprachen ist meine Muttersprache Gesamt
Häufigkeit
Prozent
Gültige Prozente
KI 95 % Untergrenze
KI 95 % Obergrenze
54
5,4
5,4
4,0
6,8
937
93,7
93,7
92,2
95,2
9
0,9
0,9
0,3
1,5
1.000
100,0
100,0
Tabelle 14 : Auswertung Frage 16 : Haben Sie selbst eine oder mehrere Sprachen der östlichen Nachbarstaaten Österreichs (Tschechisch, Slowakisch, Ungarisch, Slowenisch) als Fremdsprache gelernt ?
40
Andrea Brait · Michael Gehler
ja
5,4%
nein
eine dieser Sprachen ist meine Muttersprache
93,7%
0,9%
0%
10%
20%
30%
40%
50%
60%
70%
80%
90%
100%
Diagramm 14 : Auswertung Frage 16 : Haben Sie selbst eine oder mehrere Sprachen der östlichen Nachbarstaaten Österreichs (Tschechisch, Slowakisch, Ungarisch, Slowenisch) als Fremdsprache gelernt ?
Das Projektteam plante außerdem noch zu ergründen, welche Auswirkungen die Veränderungen in der weltpolitischen Konstellation auf die österreichische Identität hatten und insbesondere auf die Einschätzung der viel zitierten Stellung als Kulturnation. In Bezug auf die Frage, ob Österreich als eigene Kulturnation wahrgenommen wird oder eher als Teil des deutschen oder europäischen Kulturraumes, brachte die Umfrage keine klaren Ergebnisse. Dass eine klare Zuteilung schwierig ist, zeigt sich insbesondere in der Tatsache, dass 114 % Nennungen erfolgten, d. h. von der Möglichkeit Gebrauch gemacht wurde, mehrere Antworten anzuklicken. Am häufigsten genannt wurde »Teil eines europäischen Kulturraumes«, was auf die Ausbildung von transnationalen Kulturräumen hindeutet.
Antworten N
Prozent
Prozent der Fälle
KI 95 % Untergrenze
KI 95 % Obergrenze
eine eigene Kulturnation
391
34,2
39,1
36,1
42,1
Teil des deutschen Kulturraumes
239
20,9
23,9
21,3
26,5
Teil eines europäischen Kulturraumes
471
41,2
47,1
44,0
50,2
3,0
5,6
nichts davon Gesamt
43
3,8
4,3
1.144
100,0
114,4
Tabelle 15 : Auswertung Frage 17 : Ist Österreich in Ihren Augen … ? (Mehrfachantworten möglich)
41
Grenzöffnung 1989 – Offene Grenzen?
eine eigene Kulturnation
39,1%
Teil des deutschen Kulturraumes
23,9%
Teil eines europäischen Kulturraumes
nichts davon
47,1%
4,3% 0%
10%
20%
30%
40%
50%
60%
70%
80%
90%
100%
Diagramm 15 : Auswertung Frage 17 : Ist Österreich in Ihren Augen … ? (Mehrfachantworten möglich)
Wie schon bei den vorigen Fragen, die sich auf die Auswirkungen der EU-Osterweiterungen beziehungsweise die Erweiterungen des Schengen-Raumes auf Österreich bezogen, ergab auch die Frage nach den Ebenen der Auswirkungen der Erweiterung der Europäischen Union um seine östlichen Nachbarstaaten auf Österreich ein klares Bild : Die größten Auswirkungen ergaben sich der Umfrage zufolge im wirtschaftlichen Bereich (85,5 %), gefolgt vom politischen (58,0 %). Die Antworten im freien Feld verwiesen zum größten Teil auf die Faktoren »Kriminalität« und »Migration«, was ebenfalls mit den Antworten auf andere Fragen korrespondiert.
Antworten N
auf Ebene der Diplomatie
330
Prozent
Prozent der Fälle
KI 95 % Untergrenze
KI 95 % Obergrenze 35,9
14,4
33,0
30,1
politisch
580
25,2
58,0
54,9
61,1
kulturell
405
17,6
40,5
37,5
43,5
wirtschaftlich
855
37,2
85,5
83,3
87,7
sportlich
98
4,3
9,8
8,0
11,6
sonstiges
29
1,3
2,9
1,9
3,9
2.298
100,0
229,8
Gesamt
Tabelle 16 : Auswertung Frage 18 : Auf welchen Ebenen, glauben Sie, hatte für Österreich die Erweiterung der Europäischen Union um seine östlichen Nachbarstaaten Auswirkungen ? (Mehrfachantworten möglich)
42
Andrea Brait · Michael Gehler
wirtschaftlich
85,5%
politisch
58,0%
kulturell
40,5%
auf Ebene der Diplomatie
33,0%
sportlich
9,8%
sonstiges
2,9%
0%
10%
20%
30%
40%
50%
60%
70%
80%
90%
100%
Diagramm 16 : Auswertung Frage 18 : Auf welchen Ebenen, glauben Sie, hatte für Österreich die Erweiterung der Europäischen Union um seine östlichen Nachbarstaaten Auswirkungen ? (Mehrfachantworten möglich)
Zuletzt sollte der Bereich Migration (von dem angenommen worden war, dass er von den Befragten als bedeutend eingeschätzt wird) noch gesondert untersucht werden. Die Verteilung der Antworten auf die Frage nach der Bezeichnung zweier Sportler, die österreichische Staatsbürger sind, jedoch nicht in Österreich geboren wurden, verweist auf die langsame Durchsetzung einer Begrifflichkeit, die gerne in den Medien gebraucht wird : »Österreicher mit Migrationshintergrund« (37,1 %). 17,6 % der Befragten bezeichnen sie als »Österreicher« ; dieser Begriff wird gefolgt von der Bezeichnung »Neo-Österreicher« (17,2 %) und »Zuwanderer« (10,0 %) ; 3,8 % bezeichnen die beiden Sportler als »Ausländer« und 1,6 % als »Migranten«. als Österreicher
Häufigkeit 176
Prozent
Gültige
KI 95 % Untergrenze
KI 95 % Obergrenze
17,6
17,6
15,2
20,0
als Neo-Österreicher
172
17,2
17,2
14,9
19,5
als Zuwanderer
100
10,0
10,0
8,1
11,9
als Österreicher mit Migrationshintergrund
371
37,1
37,1
34,1
40,1
16
1,6
1,6
0,8
2,4
als Migranten als Ausländer kenne sie nicht Gesamt
38
3,8
3,8
2,6
5,0
127
12,7
12,7
10,6
14,8
1.000
100,0
100,0
Tabelle 17 : Auswertung Frage 19 : Wie würden Sie persönlich die beiden Sportler Mirna Jukić und Zlatko Junuzović bezeichnen ?
43
Grenzöffnung 1989 – Offene Grenzen?
als Österreicher mit Migrationshintergrund
37,1%
als Österreicher
17,6%
als Neo-Österreicher
17,2%
als Zuwanderer
10,0%
als Ausländer
3,8%
als Migranten
1,6%
kenne sie nicht
12,7% 0%
10%
20%
30%
40%
50%
60%
70%
80%
90%
100%
Diagramm 17 : Auswertung Frage 19 : Wie würden Sie persönlich die beiden Sportler Mirna Jukić und Zlatko Junuzović bezeichnen ?
Zusammenfassend kann also konstatiert werden, dass sowohl die Meinungsumfrage als auch die Analysen der Autoren des Sammelbandes aufzeigen, dass mit »1989« alleine noch keine entscheidenden Veränderungen für Österreich eintraten, wenngleich die in diesem Jahr erfolgten Umwälzungen viele weitere Entwicklungen erst ermöglichten. Das Wissen um diese Voraussetzungskette hat wohl – so kann man zumindest mutmaßen – dazu geführt, dass dem Fall des Eisernen Vorhangs 1989 größere Bedeutung beigemessen wird als dem EU-Beitritt 1995.39 Die Veränderungen, die sich in den Jahren nach 1989 ergaben, werden teilweise als Chance für einen größeren Austausch gesehen, lösen aber auch Ängste aus, die von der Politik teilweise verstärkt und von den Medien weitertradiert werden. Dass sich die Grenzöffnungen massiv auf die Wirtschaft auswirkten, glauben nicht nur 85 % der Befragten, sondern dies lässt sich auch durch absolute Zahlen zur Wirtschaftsentwicklung belegen, wie der Beitrag von Breuss zeigt. Zuletzt sei den Herausgebern noch gestattet, einen großen Dank auszusprechen, denn ein solcher Band ist nur möglich, wenn einige wesentliche Voraussetzungen zusammenwirken. Die Tagung in Salzburg bot den Projektmitarbeitern die Möglichkeit, ihre Forschungsergebnisse und Thesen einem interessierten Publikum vorzustellen und mit Fachkollegen zu diskutieren, welche die Projektergebnisse durch
39 Dabei ist jedoch zu bedenken, dass der EU-Beitritt faktisch stärker auf das politische System Österreichs wirkte als die unmittelbaren Folgen von 1989 (man denke insbesondere an die Machtverschiebung von der Exekutive zur Legislative), vgl.u.a. Ucakar, Karl : Das politische System Österreichs und die EU, 4. akt. rev. Ausgabe, Wien 2014. Außerdem war die österreichische Politik Ende der 1980erJahre von den Debatten um die Kriegsvergangenheit Kurt Waldheims (»Waldheim-Debatte«) und um den neuen Vorsitzenden der FPÖ, Jörg Haider, geprägt.
44
Andrea Brait · Michael Gehler
ihre Expertisen enorm bereicherten. Den Vortragenden ist es zu verdanken, dass sie ihre Beiträge in der Folge überarbeiteten und ergänzten, sodass nun wissenschaftlich fundierte Texte vorliegen,40 die durchgängig auf Quellen basieren, die bislang noch kaum oder gar nicht ausgewertet wurden. Dass der Band gedruckt werden konnte, ist in erster Linie dem Zukunftsfonds der Republik Österreich geschuldet, welcher nicht nur die finanzielle Basis für das Projekt »Offene Grenzen, neue Barrieren und gewandelte Identitäten« zur Verfügung stellte, sondern auch die Drucklegung der Tagungsbeiträge förderte. Die Dr.-Wilfried-Haslauer-Bibliothek Salzburg ermöglichte die organisatorische Einbettung des Projekts sowie ebenfalls eine Mitfinanzierung des Bandes, wofür vor allem Univ.Prof. Dr. Robert Kriechbaumer zu danken ist, der auch das Konferenzgeschehen engagiert begleitet hat. Ebenso zu Dank verpflichtet sind die Herausgeber der Niederösterreichischen Landesregierung. Unser Dank gilt auch Kurt Kaindl, der nicht nur das Foto für das Cover zur Verfügung gestellt hat, sondern bei der Tagung seine Fotoausstellung in Plakatform gezeigt hat. Ein Dank ist darüber hinaus Christina Lullies geschuldet, die das Personenregister vorbereitet hat, Theresia Egger, die dieses überarbeitet hat und Meinrad Böhl, der sich bereitgefunden hat, alle Texte Korrektur zu lesen. Schließlich gilt es noch, Dr. Eva Reinhold-Weisz, Michael Rauscher und dem gesamten Böhlau-Verlag für die Unterstützung beim Weg vom Manuskript zum Buch zu danken. Trotz der wichtigen Grundlagenforschung, die von den Autoren geleistet wurde, bleibt zuletzt noch zu resümieren, dass der Band nur einen ersten Einstieg in die Forschungen zu Österreich und »1989« bieten kann. Jede These, die sich in den Texten findet, wirft weitere Fragen auf. Antworten auf diese bleiben weiteren Studien vorbehalten, die mit einer größeren zeitlichen Distanz erfolgen. Um Forschern die Gelegenheit zu geben, weiterführende Fragen zu stellen und auf der Basis von bislang unbekannten Quellen neue Thesen zu entwickeln, werden im Rahmen des Projekts »Offene Grenzen, neue Barrieren und gewandelte Identitäten« nicht nur wissenschaftliche Analysen erscheinen, sondern auch eine zweiteilige Quellenedition »Österreich und die Umbrüche in Mittel- und Osteuropa 1985–1991«, in der »Zeugnisse bi- und multilateraler Diplomatie« (2 Bände) und »Erinnerungen von Akteuren aus Politik und Diplomatie« publiziert werden. Das Forschungsprojekt versteht sich damit nicht nur als »Lieferant« des Jubiläumsjahres 2014, in dem neben dem vorliegenden Band auch eine Sondernummer der Zeitschrift »Zeitgeschichte« (3/2014) und ein Themendossier zur Didaktik von Geschichte, Sozialkunde und Politischer Bildung »Österreich und die Ostöffnung 1989« erscheinen. Diese sollen – wie die CD-Beilage – als Impulsgeber für weitere Grundlagenforschung fungieren. 40 Die unterschiedliche Textlänge hat nichts mit einer Gewichtung der einzelnen Fragestellungen zu tun.
Ernst Bruckmüller
Prag ist weiter weg als New York Anmerkungen zum österreichischen Antislawismus
Der Titel dieses Textes bezieht sich auf eine Erfahrung, die der Autor dieser Zeilen in seinen verschiedenen Vorlesungen an der Universität Wien über österreichische Geschichte immer wieder machte : Fragte man die Studierenden, ob denn jemand in den Wien zunächst benachbarten Städten wie Bratislava, Brno oder Győr gewesen sei, dann waren die Antworten meist zurückhaltend, verbunden eher mit einem gewissen Erstaunen ob der Frage. Diese jungen Leute waren in der Regel schon weit herumgekommen, nicht selten waren sie in New York oder auch schon in China gewesen, aber bis Pressburg, Brünn oder Raab hatte es nur in den seltensten Fällen gereicht. Diese Erfahrung half, die Fragestellung des folgenden Textes zu präzisieren. Es geht um die mentalen Hintergründe für so manche seltsame Inkonsistenzen in der österreichischen Politik zwischen etwa 1990 und 2004/11. Diese sehe ich in der Gleichzeitigkeit einer breit ausgedrückten Freude über das Ende des Kommunismus einerseits und in den zögerlichen bis geradezu hinderlichen Haltungen österreichischer Regierungen andererseits, wenn es um Anerkennungen, aber besonders zuletzt, 2004, als es um den EU-Beitritt der Nachbarstaaten Österreichs ging, wobei besonders die Tschechische Republik, partiell aber auch Slowenien mit verschiedenen Vorbehalten konfrontiert war. Generell setzte Österreich ebenso wie Deutschland die Schließung des eigenen Arbeitsmarktes für die damaligen Beitrittsländer bis 2011 durch. Nicht wenige Wortmeldungen österreichischer Politiker aus jener Zeit schienen mir eher als Beleg für fortdauernde Ablehnungsbilder als für rationale Politik. Meine Arbeitshypothese lautet wie folgt : Es haben sich im Laufe des deutsch-österreichischen Nationsbildungsprozesses im 19. und 20. Jahrhundert im Bewusstsein der deutschsprachigen Österreicher gewisse Ansichten und Haltungen herausgebildet, die eine Skepsis gegenüber oder sogar Ablehnung von slawischen Völkern ausdrücken, also auf eine Art Antislawismus hinauslaufen. Nationsbildungsprozesse werden sehr stark durch Distanzierungen geprägt und vorangetrieben. Ich vermute, dass diese Haltungen durch den eigentümlichen Gang der Geschichte über Jahrzehnte konserviert werden konnten, durch bestimmte Ereignisse immer wieder neuen Auftrieb erhielten und sich bis in die unmittelbare Vergangenheit auswirkten.1 1 Für die folgenden Überlegungen ist prinzipiell zu verweisen auf : Bruckmüller, Ernst : Nation Österreich. Kulturelles Bewußtsein und gesellschaftlich-politische Prozesse (Studien zu Politik und Verwal-
46
Ernst Bruckmüller
Daten aus den frühen 1990er-Jahren zeigen ziemlich deutlich, dass unter den (damals !) nicht besonders freundlich angesehenen Völkern slawische einen besonderen Rang einnahmen : Serben
32 %
Türken
24 %
Polen
21 %
Rumänen
21 %
Zigeuner
21 %
Slowenen
19 %
Kroaten
18 %
Juden
14 %
Deutsche
4 %
Tabelle 1 : »Fordern durch ihr Verhalten Feindseligkeit heraus«2
Ein ähnliches Bild der Ablehnung ergab die Frage nach jenen Menschen, mit denen man lieber keinen engeren räumlichen Kontakt hätte : »Lieber nicht als Nachbarn« hätten
49 %
der Österreicher
Zigeuner
43 %
Serben
41 %
Türken
34 %
Polen
34 %
Rumänen
31 %
Juden
31 %
Kroaten
30 %
Slowenen
8 %
Deutsche
Tabelle 2 : »Lieber nicht als Nachbarn«3
tung 4), 2. ergänzte und erweiterte Aufl., Wien/Köln/Graz 1996 (dort auch die gesamte ältere Literatur) ; ferner : Bruckmüller, Ernst : Entfernte Verwandte. Stereotypen, Klischees und Vorurteile in der Beurteilung der Slowenen seitens der (Ost-)Österreicher, in : Rozman, Franc (Hg.) : Sosed v ogledalu soseda od 1848 do danes. Der Nachbar im Spiegelbild des Nachbarn von 1848 bis heute (Prvo zasedanje slovensko-avstrijske komisije zgodovinarjev. Erste slowenisch-österreichische Historikertagung Bled, 9.–12.11.1993), Ljubljana 1995, S. 31–52. 2 Antisemitismus in Österreich 1991, in : Journal für Sozialforschung 1/32 (1992), S. 94–114, hier S. 95. Die Untersuchung wurde 1991 österreichweit vom Österreichischen Gallup Institut durchgeführt, n = 2.000. Auf diese Stelle wurde vom Autor hingewiesen in : Bruckmüller, Ernst : Österreichbewußtsein im Wandel. Identität und Selbstverständnis in den 90er Jahren, Wien 1994, S. 156 f. 3 Ebd.
Prag ist weiter weg als New York
47
Diese Ablehnungsbilder sind deutlich und ausgeprägt und vermögen – im Verein mit der hochgradigen Ausländerablehnung der obigen Tabelle 1 – etwas von der massiven Furcht vor den »anderen« zu vermitteln, die sehr viele Österreicherinnen und Österreicher zumindest um 1990 noch in starkem Maße beherrschte.4 Noch Anfang Juni 2011 berichtete Die Presse über diverse Friktionen zwischen Österreich und der Tschechischen Republik, was zur (tschechischen) Frage führte : »Warum mag uns Österreich nicht ?« Tatsächlich reagiert die österreichische Öffentlichkeit etwa auf tschechische Atomkraftwerke wesentlich hysterischer als auf deutsche oder schweizerische. Die Antwort wurde in den Problemen der Habsburgermonarchie gesucht.5 Wir werden uns daher auf der Suche nach der Herkunft einiger Ablehnungsstereotype gegen Slawen in die »Tiefe der Zeiten« (Heimito von Doderer) begeben müssen.
I. Stereotype über »die anderen« Die apriorische Ablehnung »anderer« ist kein neuartiges Phänomen. Jenő Szűcs6 hat in einem geistreichen Buch die mittelalterlichen Ablehnungsbilder zusammengestellt – Engländer hassten Franzosen (und umgekehrt), beide die Deutschen, die Polen lehnten die Tschechen ab, die Italiener fürchteten den »furor teutonicus« und verachteten gleichzeitig die Deutschen ob ihrer Unkultur (man schaue sich nur die Urteile des Äneas Silvio Piccolomini über die Österreicher und Steirer an !7). Es ist dies quer durch die Jahrhunderte zu verfolgen : Die jeweils »anderen« sind schlecht angezogen, essen unverdauliche Dinge, haben eine lächerliche Haartracht und reden unverständliches Zeug in Sprachen, die eher Tierlauten gleichen als einem menschlichen Idiom.8 Es gibt Verschärfungen, auf die hier nicht näher einzugehen ist, etwa die in Spanien entstehende Vorstellung vom bösen »Blut« von Juden oder Moriskos oder aber die antispanischen und antihabsburgischen Bilder, die sich insbesondere im 16. und
4 Vgl. Bruckmüller, E. 1996, beide Tabellen auf S. 141 (mit Bezug auf : Journal für Sozialforschung 1/32 [1992], S. 95–97). 5 Vgl. Schmidt, Hans-Jörg : Warum mag uns Österreich nicht ?, in : Die Presse vom 1. Juni 2011, S. 8. 6 Vgl. Szűűcs, Jenő : Nation und Geschichte. Studien (Beihefte zum Archiv für Kulturgeschichte 17), Köln/Wien 1981. 7 Der spätere Papst Pius II. hielt die Österreicher für albern und die Steirer für bösartig, vgl. Lhotsky, Alphons : Österreichische Historiographie, Wien 1962, S. 60. 8 Vgl. Ableitinger, Alfred : Freunde, Fremde, Feinde – Nationale Charaktere und Stereotype, in : Prisching, Manfred (Hg.) : Identität und Nachbarschaft. Die Vielfalt der Alpen-Adria-Länder (Studien zu Politik und Verwaltung 53), Wien/Köln/Graz 1994, S. 333–340.
48
Ernst Bruckmüller
17. Jahrhundert entwickelt haben.9 Im Wesentlichen entsprach noch die Vorurteilsskala des 18. Jahrhunderts, wie sie in der berühmten »steirischen Völkertafel« (unter anderem) im Wiener Volkskundemuseum überliefert ist, noch ganz dem traditionellen Muster.10 Mit der Aufklärung und Johann Gottfried Herders großem Entwurf über den Gang der Geschichte11 begann eine grundlegende Neuorientierung. Herders Interpretation der Geschichte der Menschheit (erschienen 1784 bis 1791) versuchte nachzuweisen, dass verschiedenen Völkern in diesem großen Drama auf dem Weg zur Humanität bestimmte Funktionen zukamen – die einen brachten die Schrift, andere das Recht (die Römer), wieder andere den Handel und so weiter. Dabei gelang Herder im ebenso kurzen wie folgenreichen »Slawenkapitel« eine epochemachende Charakterisierung : Die alten Slawen hätten ein »fröhliches, musikalisches Leben« geführt, sie seien »mildtätig, bis zur Verschwendung gastfrei, Liebhaber der ländlichen Freiheit, aber unterwürfig und gehorsam« gewesen. Daher hätten Franken und Sachsen sie unterworfen und zu Leibeigenen gemacht. Aber da in Herders Gegenwart an die Stelle des »kriegerischen Geistes« immer mehr der »stille Fleiß« und der »ruhige Verkehr der Völker« trete, würden auch die Slawen von ihrem »langen trägen Schlaf« erwachen und, von den Sklavenketten befreit, ihre schönen Gegenden »als Eigentum« nutzen können.12 Ein neues Autostereotyp war damit geboren, das nicht nur die bereits aktiven tschechischen, polnischen, slowakischen, serbischen usw. »Patrioten« beflügelte, die, als Söhne der Aufklärung, bereits die Geschichte und die Sprachkultur ihrer »Vaterländer« studierten, sondern noch Generationen von späteren nationalen »Erweckern«.13 Das gemütliche Bild der bäuerlichen, sangesfreudigen, herrschaftsfreien, demokratischen und friedlichen Slawen unter der Dorflinde wurde in der Folge scharf kontrastiert zu den aggressiven und den Feudalismus verbreitenden »Germanen« bzw. »Deutschen«. Besonders bei den an die Deutschen angrenzenden Völkern, den Tschechen, Polen und Slowenen, erfuhr in den Jahrzehnten zwischen etwa 1830 und 1900 diese Stereotypendichotomie eine starke Verbreitung. Gegen 9 Vgl. Pollmann, Judith : Eine natürliche Feindschaft : Ursprung und Funktion der schwarzen Legende über Spanien in den Niederlanden, 1560–1581, in : Bosbach, Franz (Hg.) : Feindbilder. Die Darstellung des Gegners in der politischen Publizistik des Mittelalters und der Neuzeit (Bayreuther Historische Kolloquien 6), Köln/Weimar/Wien 1992, S. 73–94. 10 Vgl. Stanzel, Franz Karl : Europäische Völkerspiegel, Heidelberg 1999 ; Stanzel, Franz Karl : Europäer, 2. Auflage, Heidelberg 1998. 11 Vgl. Herder, Johann Gottfried : Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit, Wiesbaden 1985. 12 Herder, J. 1985, S. 433–435. 13 Vgl. Sundhaussen, Holm : Der Einfluß der Herderschen Ideen auf die Nationsbildung bei den Völkern der Habsburgermonarchie, München 1973.
Prag ist weiter weg als New York
49
jene aggressiven Herrschaften hätten sich die Hussiten, die polnischen Könige im Kampf gegen den Deutschen Orden als Symbol der antislawischen deutschen Ostkolonisation und noch die böhmischen Adeligen im Kampf gegen Ferdinand II. 1619 gewehrt, siegreich oder heldenhaft unterliegend. Bei den Tschechen folgte auf den Weißen Berg (bila hora, 1620) die Zeit der Finsternis (obdobe temná), die erst durch das Licht der Aufklärung langsam beendet wurde. Auf ihr fußt die Arbeit der »natio nalen Erwecker«. Die Slowenen waren sogar seit tausend Jahren unterdrückt, seit die Karolinger die einheimischen karantanischen Herzöge abgesetzt hatten.14 Freilich hatte Herder auch einprägsame Formulierungen für die Folgen der jahrhundertelangen Unterdrückung gefunden, wie jene vom »langen trägen Schlaf« oder der »arglistigen, grausamen Knechtsträgheit«, welche die Slawen entwickelt hätten.
II. Die Entstehung von antislawischen Gefühlslagen bei den Deutsch-Österreichern Die Reaktionen der »Deutsch-Österreicher« auf das »Erwachen« der nicht deutschen Nationen waren zunächst Erstaunen, belustigte bis ärgerliche Abwertung, schließlich aus wachsender Angst gespeiste Aggression. Zuletzt steigerte sich die nationale Konkurrenz zum Kampf ums nationale Überleben bzw. um den »nationalen Besitzstand«.15 Erstaunen und Irritation über Ansprüche der nicht deutschen Nationen auf politische Gleichberechtigung und kulturelle Gleichrangigkeit lässt sich ab etwa 1840 feststellen. Um diese Zeit setzte sich Franz Grillparzer ausführlich mit den ungarischen Forderungen nach der Ersetzung des Lateinischen durch das Magyarische als ungarische Amtssprache auseinander, wobei er unter anderem feststellte, dass die ungarischen Slawen »sich die Sprache ihrer Bewältiger nie, als höchstens in den
14 Sowohl die tschechische als auch die slowenische Version der Unterdrückungssaga wurde tausendfach literarisch, wissenschaftlich, medial und in Schulbüchern verbreitet. Beide sind als nach wie vor lebendige Furcht- oder Abneigungsspender aktiv. Auf eine ausführliche Literaturliste muss hier verzichtet werden – es gäbe zu viel davon. Zur wechselvollen Geschichte der tschechischen Autostereotypen hat der große Historiker und Politiker František Palacký nicht unwesentlich beigetragen. Vgl. Kořalka, Jiří : František Palacký (1798–1876). Der Historiker der Tschechen im österreichischen Vielvölkerstaat (Studien zur Geschichte der österreichisch-ungarischen Monarchie 30), Wien 2007. Das slowenische Autostereotyp des seit der karolingischen Unterwerfung als Knechte, »hlapci«, unterdrückten und dahindämmernden slowenischen Volkes wurde besonders massiv von der Literatur verbreitet. Vgl. Vilfan, Sergij : Historische Stereotype in der Alpen-Adria-Region, in : Moritsch, Andreas (Hg.)/Krahwinkler, Harald (Red.) : Alpen-Adria. Zur Geschichte einer Region, Klagenfurt/Ljubljana/Wien 2001, S. 37–50, hier insbes. S. 46 f. 15 Vgl. Rauchberg, Heinrich : Der nationale Besitzstand in Böhmen, Wien 1905.
50
Ernst Bruckmüller
öffentlichen Verhandlungen, aufdrängen lassen« würden. Außerdem habe die ungarische Sprache keine Zukunft. Für die Slawen konnte er sich eine solche durchaus vorstellen, wenn nicht »an der Spitze das mit Recht verabscheute Russland stände«16. 1841 überlegte Grillparzer nach dem Erscheinen von Andrian-Werburgs »Österreichs Zukunft« Möglichkeiten für Reformen in Österreich und sah sie in einer deutsch regierten und durch deutsche Kultur zusammengehaltenen Habsburgermonarchie : »Die deutschen Provinzen Österreichs werden durch ihren Zusammenhang mit dem gebildeten Deutschland […] eine solche Oberhand erhalten, dass alle diese slawischen und magyarischen Bestrebungen wie Seifenblasen zerplatzen werden.«17 In den Revolutionen von 1848 begehrten die Völker nationale Gleichberechtigung oder sogar Selbstständigkeit. Die Ungarn erhielten eine eigene Regierung und gaben sich eine neue, vom ungarischen König (und österreichischen Kaiser) bestätigte Verfassung,18 die Tschechen bekamen als fast analoges Versprechen die »böhmische Charte«19. Auch unter den Slowenen entstand der Wunsch nach einem vereinigten Slowenien als einem neuen Kronland der Monarchie.20 Der bekannte Schriftsteller Anastasius Grün, Anton Graf Auersperg aus Unterkrain, gab sich da noch großzügig : »Möge Slovenia noch eine Weile an dem Arme ihrer älteren Schwester Austria wandeln ; dieser Leitung darf sie sich nicht schämen, sie ist zwar keine Minderbegabte, aber doch die Jüngere. Wenn sie einst die Tage ihrer vollständigen Reife erreicht hat, dann wird auch die Trennung natürlich und darum minder schmerzhaft sein.«21
Auersperg schien also zu akzeptieren, dass der Aufstieg dieser Nationalgesellschaften zu gleichberechtigten Kulturnationen nicht aufzuhalten war. Aber die Berufung auf 16 Hock, Stefan : Grillparzers Werke in fünfzehn Teilen, Elfter Teil : Studien I. Zur Philosophie und Geschichte, Berlin/Leipzig/Wien/Stuttgart [o. J.], S. 111–113. 17 Ebd., S. 114 f. 18 Vgl. Péter, Lászlo : Die Verfassungsentwicklung in Ungarn, in : Rumpler, Helmut/Urbanitsch, Peter (Hg.) : Verfassung und Parlamentarismus, 1. Teilbd. : Verfassungsrecht, Verfassungswirklichkeit, zentrale Repräsentativkörperschaften (Die Habsburgermonarchie 1848–1918 VII/1), Wien 2000, S. 239– 540, hier S. 262–279. 19 Vgl. Urban, Otto : Die tschechische Gesellschaft 1848–1918, Bd. 1, Wien/Köln/Weimar 1994, S. 52 f. 20 Vgl. Štih, Peter/Simoniti, Vasko/Vodopivec, Peter : Slowenische Geschichte. Gesellschaft – Politik – Kultur, Graz 2008, S. 248–252. 21 Cvirn, Janez : Die Slowenen mit deutschen Augen gesehen, in : Rozman, Franc (Hg.) : Sosed v ogledalu soseda od 1848 do danes. Der Nachbar im Spiegelbild des Nachbarn von 1848 bis heute (Prvo zasedanje slovensko-avstrijske komisije zgodovinarjev. Erste slowenisch-österreichische Historikertagung Bled, 9.–12.11.1993), Ljubljana 1995, S. 65–78, hier S. 71. Cvirn zitiert an dieser Stelle den ausführlichen Artikel von Melik, Vasilij : A. A. Auersperg in slovenski narod [A. A. Auersperg und die slowenische Nation], in : Zgodovinski časopis 2/41 (1987) S. 288.
Prag ist weiter weg als New York
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die »deutsche Kulturmission« war doch gar zu schön. Diese Berufung blieb – samt Überlegenheitsgefühl – nur möglich, solange die »kleinen« Nationen wirklich in jeder Hinsicht klein blieben. Die nationale, kulturelle Emanzipation ging daher in der Folge auch dem noblen Grafen Auersperg gar zu schnell. 1863 formulierte es Auersperg im krainischen Landtag sehr deutlich : »Was Krain an Wohlfahrt, an geistigen Gütern, an Rechts-Institutionen und anderen Vorzügen besitzt, […] das hat es dem Einfluß des deutschen Geistes zu verdanken.«22 Und so weiter. Nach der Niederschlagung der Revolution von 1848/49 sahen sich »die« Deutschen mehr denn je – wenn schon nicht als Besitzer, so doch – als Träger dieses Staates. Hof und Zentralbürokratie saßen im deutschsprachigen Wien, die Armee wurde auf Deutsch kommandiert, das Deutsche war weitestgehend (mit Ausnahme von Norditalien und den Gebieten an der Adria) die Sprache der Wirtschaft, des Handels, von Bildung und Wissenschaft. Der Neoabsolutismus wollte – historisch erstmalig ! – einen Einheitsstaat verwirklichen, als dessen verbindende Sprache nur das Deutsche vorstellbar sein sollte. Und die Träger des Deutschen, »die« Deutschen, waren schon deshalb privilegiert, weil diese Sprache ihre Muttersprache war, während alle anderen sie eben zusätzlich lernen mussten. Aus dieser Stellung zum Staat leitete Joseph Redlich eine gewisse Inklination der Deutschen zur Monarchie und zum Obrigkeitsstaat ab, während die Nichtdeutschen zu diesem Staat tendenziell in Opposition gestanden wären. Seine Begründung : Damals gab es nur eine »deutsche« Bourgeoisie : »Für diese aber ist überall der ›Staat‹ als Inbegriff der zentralistisch geleiteten und daher im gesamten Staatsgebiete gleichmäßig und zuverlässig arbeitenden öffentlichen Gewalt sozusagen ein unentbehrliches Produktionsinstrument […].«23 Und weiter : »Für die Deutschen Österreichs und ihre politische Entwicklung war es nun entscheidend, daß, während der nationale Gedanke der nichtdeutschen Nationalitäten diese immer stärker in die Demokratie und damit immer wieder in die Idee der Revolution hineintrieb, die Deutschen immer mehr sich mit dem bestehenden ›Staat‹ identifizierten und daher den in diesem verkörperten Grundanschauungen vom Staat als militärischer und bureaukratischer Zwangsgewalt sich immer mehr näherten. […]«24
Das war auch deshalb nicht unverständlich, weil bei einer konsequenten, wenn auch langsamen Demokratisierung des politischen Lebens die bevorzugte Stellung 22 Cvirn, J. 1995, S. 71. 23 Redlich, Joseph : Das österreichische Staats- und Reichsproblem. Geschichtliche Darstellung der inneren Politik der Habsburgischen Monarchie von 1848 bis zum Untergang der Monarchie, 2 Bde., Leipzig 1920 und 1926, hier Bd. I/2, S. 71. 24 Redlich, J. 1926, Bd. II/2, S. 27.
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der und des Deutschen nicht zu halten sein würde – machten sie doch gerade etwa ein Viertel der Gesamtbevölkerung der Monarchie aus (und etwa ein Drittel jener der westlichen Reichshälfte), während alle slawischen Völker etwa 50 % ausmachten. Zwar wurden durch den Ausgleich von 1867 die Ungarn ebenfalls (endgültig !) zu einer herrschenden Nation mit ihrerseits starken slawischen und romanischen Minderheiten, doch änderte das nichts am Grundproblem : Minderheiten herrschten über Mehrheiten. Freilich war auch diese Mehrheit keine einheitliche Masse, sondern bestand wiederum aus Tschechen, Polen, Ukrainern, Slowaken, Slowenen, Kroaten und Serben und noch ein paar kleineren Gruppierungen in Südungarn. Wie auch immer : Jede Forderung einer slawischen Gruppe nach mehr Gleichberechtigung, Autonomie oder staatsrechtlicher Besserstellung erschien den Deutschen stets als eine gegen sie und ihre bevorzugte Stellung gerichtete Forderung ! Grillparzers entsetzter Ausruf : »Herr Professor Palacky ist wahnsinnig geworden«, als Reaktion auf die Forderung nach eigenen Regierungen für die einzelnen Königreiche und Länder ist nur aus ebendieser Geistigkeit zu verstehen.25 Die deutschsprachigen bildungsbürgerlichen Schichten fühlten sich als die führenden Kulturträger der Monarchie. Sie hätten seit Jahrhunderten die westliche »deutsche« Kultur den minder entwickelten Völkern des Ostens vermittelt. Und nur die Verbreitung dieser »deutschen« Kultur werde alle diese minder zivilisierten Stämme der Habsburgermonarchie mit der Zeit zu vollwertigen Mitgliedern der kultivierten europäischen Gesellschaft machen. Bis dahin aber hatte es noch seine gute Weile, und bis auf Weiteres galt für diese unentwickelten Völker Friedrich Hebbels lange fortwirkende böse Begrifflichkeit von den »struppigen Karyatidenhäuptern« der »Bedientenvölker« : »[…] auch die Bedientenvölker rütteln am Bau, den jeder tot geglaubt, die Czechen und Polacken schütteln ihr struppig Karyatidenhaupt«.26 25 Vgl. Hock, Stefan : Grillparzers Werke in fünfzehn Teilen, Elfter Teil : Studien I. Zur Philosophie und Geschichte, Berlin/Leipzig/Wien/Stuttgart [o. J.], S. 142. – Grillparzer bezeichnet hier Palacký als »germanisierten Tschechen«, der so wie alles andere von den Deutschen gelernt habe : »Denn woher stammt dieses Geschrei von Nationalität, dieses Voranstellen von einheimischer Sprach- und Altertumswissenschaft anders als von den deutschen Lehrkanzeln, auf denen gelehrte Toren den Geist einer ruhig verständigen Nation bis zum Wahnsinn und Verbrechen gesteigert haben ? Dort ist die Wiege einer Slavomanie […].« (Ebd., S. 142 f.) 26 Hier zitiert nach Lengauer, Hubert : Kulturelle und nationale Identität. Die deutsch-österreichische Problematik im Spiegel von Literatur und Publizistik der liberalen Ära, in : Lutz, Heinrich/Rumpler, Helmut (Hg.) : Österreich und die deutsche Frage im 19. und 20. Jahrhundert, Wien/München 1982, S. 189–211, hier S. 199.
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Das hier bemühte Stereotyp der tragenden, aber eben nicht weiter bemerkenswerten »Bedientenvölker« wurde in der politischen Diskussion der 1860er- bis 1870erJahre um die Begriffe »klerikal, föderalistisch, rückschrittlich« ergänzt, während die »Deutschen« sich als »liberal, verfassungstreu, fortschrittlich« identifizierten. Ein gutes Beispiel einer flott geschriebenen antiklerikalen, antiföderalistischen und antislawischen Propagandaschrift in genau diesem Sinne war etwa Walter Rogges27 Werk zur österreichischen Geschichte von 1849 bis 1873 : Die »struppigen Karyatidenhäupter« werden bei ihm zum ständig verwendeten antislawischen Stereotyp. Diese nationalen Stereotype drangen zeitgleich in die Karikatur ein. Während im satirischen Bild der tschechischen Karikatur die Deutschen als sture Bürokraten oder, in der Steigerungsform des politischen Kampfes, als dürre Typen mit Brille, in Felle gehüllt und mit »Germanenhelmen« mit Hörnern lächerlich gemacht wurden, war die Darstellung der Tschechen in den Wiener Karikaturzeitschriften, etwa im »Kikeriki«, auch nicht gerade nobel. Die Forderung nach dem »böhmischen Staatsrecht« wurde durch die Darstellung eines recht schlappen böhmischen Löwen verhöhnt, in dessen Fell sich vielleicht auch noch die »Wenzels-Läuse« tummelten, hässliche, gnomenartige Figuren mit runden Gesichtern, vorstehenden Zähnen und kleinen runden Hüten – das blieb das Tschechen-Stereotyp bis zum Ende der Monarchie.28 Selbst- und Fremdbilder können einander entsprechen, freilich mit Verschiebungen : So ist der »deutsche Michel« (= der Deutsch-Österreicher), eine Figur mit Zipfelmütze, in der deutsch-österreichischen Publizistik nett und sympathisch, in der tschechischen ein »bösartiger, verfetteter Gnom mit Zipfelmütze«. Dagegen wurde der »Reichsdeutsche« meistens als Preuße mit Pickelhaube und Uniform charakterisiert, als »Prušák«.29 Im Übrigen galten sowohl in der tschechischen wie auch in der slowenischen Publizistik die Deutschen als überheblich, ihre Vorherrschaft ausnützend und aggressiv. Diese Aggressivität wurde bei den Südslawen, insbesondere den Slowenen, vor allem mit den »deutschen« Ansprüchen auf eine Brücke nach Triest 27 Walter Rogge, Journalist und Historiker (1822–1892), stammte aus Elbing (Elbląg, Polen), war nach Studien in Königsberg und Bonn Lehrer in Elbing, ging 1848 nach Berlin, versuchte sich als Journalist und Zeitungsgründer in Paris und war von 1854 bis 1861 Redakteur des Pester Lloyd in Pest, 1859/60 bei der Ostdeutschen Post und der Presse in Wien, blieb bis 1866 in Wien. Seine zeitgeschichtlichen Bücher über Österreich von 1849 bis in die 1870er-Jahre sind kenntnisreiche liberal-deutschnationale Tiraden : Österreich von Világos bis zur Gegenwart, 3 Bde., Leipzig/Wien 1872/73, und Österreich seit der Katastrophe Hohenwart-Beust, 2 Bde., 1879. Vgl. Österreichisches Biographisches Lexikon (weiterhin : ÖBL), Bd. IX, Wien 1988, S. 211 f. 28 Vgl. Suppan, Arnold : Nationale Stereotypen in der Karikatur, in : Wolfram, Herwig/Pohl, Walter (Hg.) : Probleme der Geschichte Österreichs und ihrer Darstellung, Wien 1991, S. 259–284, hier S. 266 f. 29 Vgl. ebd., S. 264.
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in Verbindung gebracht.30 Die »deutsche Brücke« nach Triest wurde unter anderem auch von dem steirischen Dichter Rudolf Hans Bartsch gefordert.31 Eine bedeutende Verschärfung der gegenseitigen Ablehnungsbilder brachte die Vorstellung, die verschiedenen Nationen der Habsburgermonarchie befänden sich in einem steten Wettstreit, ja sogar in einem veritablen »Kampf ums Dasein«.32 Diese darwinistische Ausweitung der nationalen Selbst- und Fremdbilder bietet schließlich den Hintergrund für die Annahme, dass nur die eine oder die andere nationale Gemeinschaft in einem bestimmten Raum überleben könne. Werde ihr »Besitzstand«33 geschmälert, bedeute das à la longue den »nationalen Tod« für diese Gesellschaft. Dieser Besitzstand wurde über die Zählung von Sprechern der einen oder anderen Sprache gemessen. Jede Volkszählung seit etwa 1880 führte daher zu gesteigerter Hysterie, nicht nur bei den nationalistischen Führungsgruppen.34 Die einzelnen »Volksstämme« waren ja nicht durch administrative oder staatliche Grenzen getrennt oder geschützt, zumindest seit der Dezemberverfassung 1867 herrschte Freizügigkeit : Tschechen konnten sich in »deutschen« Städten niederlassen und umgekehrt. Die wachsende Mobilität größerer Teile der Bevölkerung war zweifellos ein die Ängste der verschiedenen Nationen schürendes Phänomen. Die Veränderungen durch Wanderungen oder durch gestiegene oder reduzierte Natalität wurden über die alle zehn Jahre erfolgenden Volkszählungen dokumentiert. Aber nicht nur die Volkszählungen, auch die Ausdehnung des Wahlrechtes verunsicherte die Deutschen immer mehr. Je mehr Demokratie, desto mehr Slawen in den gesetzgebenden Körperschaften ! 30 Die »Brücke nach Triest« war eine ständige Forderung der Deutschnationalen, sie wurde auch im Rahmen der Diskussion um das allgemeine Männerwahlrecht vom Kärntner Abgeordneten Arthur Lemisch thematisiert, der mit diesem Argument ein deutsches Mandat in Krain forderte (das dann tatsächlich für den Wahlbezirk Gottschee geschaffen wurde). Vgl. Rahten, Andrej : Ivan Šusteršič. Der ungekrönte Herzog von Krain. Die slowenische katholische Bewegung zwischen trialistischem Reformkonzept und jugoslawischer Staatsidee, Wien 2012, S. 126. Vgl. dazu auch Cvirn, Janez : Trdnjavski trikotnik. Politična orientacija Nemcev na Spodnjem Štajerskem (1861–1914) [Das Festungsdreieck. Die politische Orientierung der Deutschen in der Untersteiermark (1861–1914)], Maribor 1997, S. 284–294. 31 Vgl. Grdina, Igor : Die deutsch-slowenischen Beziehungen aus der Sicht der slowenischen Geisteseliten in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, in : Rozman, Franc (Hg.) : Sosed v ogledalu soseda od 1848 do danes. Der Nachbar im Spiegelbild des Nachbarn von 1848 bis heute, Ljubljana 1995, S. 119–152, hier S. 120. 32 Vgl. Vilfan, Sergij : Wirtschaftsgeschichte und Rechtsgeschichte. Der Grazer Beitrag zur Theorie, Graz 1985. 33 Der »nationale Besitzstand« wurde zu einer zentralen Kampfvokabel in der späten Habsburgermonarchie. Vgl. Rauchberg, Heinrich : Der nationale Besitzstand in Böhmen, 3 Bde., Wien 1905. 34 Vgl. Brix, Emil : Die Umgangssprachen in Altösterreich zwischen Agitation und Assimilation. Die Sprachenstatistik in den zisleithanischen Volkszählungen 1880 bis 1910 (Veröffentlichungen der Kommission für neuere Geschichte Österreichs 72), Wien 1982.
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Aus dem Gefühl einer wachsenden Gefährdung einer privilegierten Stellung resultierte die ab den 1880er-Jahren zunehmende Radikalisierung des österreichischen Deutschnationalismus. Dabei wurde das Slawenbild geschärft : Sie wurden jetzt nicht nur als brave, arbeitsame Bauern registriert, sondern immer öfter als reaktionäre Anhänger katholisch-slawisch-föderalistischer Umgestaltungs- bzw. Vernichtungspläne gesehen, geführt von tschechischen und slowenischen Hetzpfaffen, die den nur von den Deutschen kommenden Fortschritt überall bekämpften, wo es ihnen nur möglich war. Freilich blieb man sich gegenseitig nichts schuldig – die Vorwürfe reichten bis hin zu Vernichtungswünschen, die man dem nationalen Gegner vorwarf. In den Wahlkämpfen wurden die Töne immer schärfer. Janez Cvirn hat diese Verschärfung des Tons am Beispiel der deutschen Sprachinseln in der slowenischen Untersteiermark untersucht und dargestellt.35 Man kann aber diese Beispiele beliebig erweitern, an jeder Sprachgrenze. Gegen Ende des Jahrhunderts kamen Boykottaufrufe dazu : Die antisemitischen Parteien riefen dazu auf, nicht bei Juden, ungarische, tschechische, slowenische Vereine und Organisationen beschworen ihre Anhänger, nicht bei Deutschen zu kaufen – jeder sollte nur zu den »Seinen« gehören.36 In Cilli/Celje führte das schließlich dazu, dass auch das gesellschaftliche Leben völlig getrennt war : Wer im slowenischen »Narodni dom« bei einer Tanzveranstaltung war, wurde im »Deutschen Haus« gesellschaftlich geschnitten und umgekehrt.37 In der deutsch-slowenischen Auseinandersetzung war die deutsche »Brücke zur Adria« eine immer wiederkehrende Forderung der Deutschnationalen, deren Ablehnung ein wichtiges Argument der katholisch-nationalen Partei der Slowenen für ein Zusammengehen mit den Kroaten war. Denn alleine sei man gegen 60 Millionen Deutsche zu schwach. Und am starken Rückgang des Slowenentums in Kärnten konnte man ja die Macht der Deutschen und den Erfolg ihrer Germanisierungsbestrebungen erkennen.38 In diese ebenso vielstimmige wie misstönende Kakofonie mischte sich auch die Trivialliteratur. Ihre meinungsbildende Wirkung ist nur mehr schwer nachzuvollziehen. Aber zieht man ins Kalkül, dass ein so enorm populärer Schriftsteller wie Peter Rosegger, der zwar kein nationalistischer Hetzer, aber dennoch ein großer Förde35 Vgl. Cvirn, J. 1997. 36 In Ungarn formierte sich 1906 eine Boykottbewegung gegen österreichische Waren, deren Symbol eine Tulpe war. Vgl. dazu Wolf, Franz : Die Tulpenbewegung in Ungarn. Wirtschaftliche und politische Auseinandersetzungen zwischen Österreich und Ungarn (Dissertationen der Universität Wien 145), 2 Bde., Wien 1979. Analoge Bewegungen traten auch bei anderen Nationalbewegungen auf, so bei den Tschechen, vgl. Albrecht, Caherine : The Rhetoric of Economic Nationalism in the Bohemian Boycott Campaigns in the Late Habsburg Monarchy, in : Austrian History Yearbook 32 (2001), S. 47–67. 37 Vgl. Cvirn, J. 1997. 38 Vgl. Rahten, A. 2012, insbes. S. 218 f.
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rer des »Deutschen Schulvereins«39 war, dann wird man eine solche Unterstützung nicht gering schätzen dürfen.40 Ähnlich, aber wohl noch eindeutiger zu beurteilen sind die Romane Karl Bienensteins. Sein Wachau-Roman »Deutsches Sehnen und Kämpfen« zeichnet die Tschechen als wichtigste Feinde des deutschen Volkes in Österreich – personifiziert in einem intriganten tschechischen Geistlichen, dann aber – und noch viel bedrohlicher – in einer tschechischen Siedlungsgesellschaft, die versucht, hier, in diesem »deutschen Osterland«, auf abgehausten Bauernhöfen tschechische Siedler einzunisten. Natürlich hat der Pater dabei seine Finger im schmutzigen Spiel. Die ganze Geschichte ist im Wesentlichen ebenso wie bei Rosegger eine massive Propaganda für das deutschnationale Organisationswesen, das als einziger Schutz vor der drohenden »Verslawung« gesehen wird. Denn das Traumbild des tschechischen Paters Zadravsdil sah so aus (mit Blick von Maria Taferl, zur Donau hinunter) : »[…] in all den hundert Orten, die da wie Perlen in grüner Flut im Segen wohlbebauter Fluren und raunender Wälder lagen, der Deutsche heimatlos geworden und an seiner Stelle der Tscheche, der geliebte Volksgenosse. Bis zu den Alpen hin sein Reich und dort reicht ihm, vom Süden her vorgedrungen, sein Bruder, der Slowene, die Hand […].«41
Tschechen und Slowenen – die nördlichen und südlichen »Feinde« der Deutschen Österreichs, der Deutsch-Österreicher, hier zu einem einzigen Bild zusammengeschlossen, zu einem klaren, bedrohlichen Feindbild. Zuletzt wird das Selbstbild der »edlen Deutschen« mit dem Klischee der »bösartigen Slawen« konfrontiert : »Der Deutsche ist der Mensch der Sehnsucht […], der Mensch des Friedens […]. Darum ist der Deutsche überall ein Aufbauender, ein Werkmann am Hause des Herrn. Darum aber auch der Neid und Haß der anderen gegen ihn, derer, die nicht Aufbauer, sondern Zerstörer sind, wie insbesondere die Slawen […].«42
39 Zum nationalen Vereinswesen umfassend und vergleichend Drobesch, Werner : Vereine und Interessenverbände auf überregionaler (cisleithanischer) Ebene, in : Rumpler, Helmut/Urbanitsch, Peter (Hg.) : Die Habsburgermonarchie 1848–1918, Bd. VIII : Politische Öffentlichkeit und Zivilgesellschaft, 1. Teilbd. : Vereine, Parteien und Interessenverbände als Träger der politischen Partizipation, Wien 2006, S. 1029–1132, insbes. S. 1076–1127. 40 Vgl. Marketz, Sabine : Biographie Peter Roseggers, in : Schöpfer, Gerald (Hg.) : Peter Rosegger 1843– 1918, Graz 1993, S. 13–31, hier S. 31 : Rosegger unterschrieb eigenhändig 20.000 Bittbriefe des Deutschen Schulvereins zur Förderung deutscher Schulen an den Sprachgrenzen. Seine Zeitschrift »Heimgarten« veröffentlichte Roseggers Aufruf. Insgesamt kamen über drei Millionen Kronen zusammen. 41 Bienenstein, Karl : Deutsches Sehnen und Kämpfen. Ein Wachau-Roman, 3. Auflage, Stuttgart 1927, S. 58. 42 Bienenstein, K. 1927, S. 352.
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III. Das Fortleben der antislawischen Klischees nach 1918 Während des Ersten Weltkrieges erlebten die alten Vorurteile eine neue Konjunktur. Der Konkurrenzkampf steigerte sich zum großen Endkampf des Germanentums gegen das Slawentum, als dessen kulturbedrohende Vormacht Russland gesehen wurde.43 Slawischen, insbesondere tschechischen Truppenkörpern innerhalb der k. u. k. Armee wurden mangelnde Kampfbereitschaft, ja sogar Hochverrat vorgeworfen. Doch erscheinen diese Vorwürfe, die von tschechischer Seite – bestätigend ! – als heldenmütiger Kampf für den künftigen Staat interpretiert wurden, bei einer genauen Analyse der Vorkommnisse nicht haltbar : Sowohl die Gefangennahme von Teilen des IR 28 in den Karpaten am 3. April 1915 wie auch die von Teilen des Pilsener IR 35 und des Neuhauser IR 79 am 2. Juli 1917 waren nicht freiwillige Desertionen, sondern Aufgaben nach harten Kämpfen mit den Russen. Erhebliche Schuld trugen in beiden Fällen – wie langwierige Gerichtsverfahren ergaben – Führungs- und Aufklärungsfehler innerhalb der k. u. k Armee. Eine öffentliche Rehabilitierung unterblieb jedoch, sodass die deutschnationale Propaganda das Bild von den verräterischen Tschechen liebevoll weiterpflegen konnte – mit großem Erfolg in Bezug auf das österreichische Tschechenbild späterer Zeiten.44 Das Slawen-Feindbild wirkte sich in zahlreichen Denunziationen und Festnahmen aus, die für die Untersteiermark detailliert dokumentiert wurden.45 Slawische Soldaten des alten Österreich konnten sich da schon die Frage stellen, was sie in einer Armee zu suchen hatten, in der ein deutschnationaler Fähnrich erklärte, nur das Deutsche sei eine »Staatssprache«, die übrigen, Slowenisch, Kroatisch, Tschechisch 43 Das Bild vom dauernden Kampf zwischen Germanen und Slawen wurde schon vor 1914 im Deutschen Reich geprägt. Es ist wohl die Folge der von Otto von Bismarck entrierten Ansiedlungspolitik in Posen und Westpreußen mit dem Ziel, diese weitgehend polnischen Provinzen in deutschsprachige zu verwandeln. Vgl. Nipperdey, Thomas : Deutsche Geschichte 1866–1918. Machtstaat vor der Demokratie, München 1992, S. 276 f. 44 Suppan, Arnold : Tschechische und jugoslawische Geschichtsmythen zum Ersten und Zweiten Weltkrieg, in : Suppan, Arnold (Hg.) : Auflösung historischer Konflikte im Donauraum. Festschrift für Ferenc Glatz zum 70. Geburtstag, Budapest 2011, S. 657–678. Suppan zitiert Lein, Richard : Pflichterfüllung oder Hochverrat ? Die tschechischen Soldaten Österreich-Ungarns im Ersten Weltkrieg, Wien 2011, sowie Lein, Richard : The »Betrayal« of the k.u.k. Infantry Regiment 28. Truth or Legend ?, in : Prague Papers on the History of International Relations (2009), S. 325–348. Die ebenso falsche wie wirkungsvolle deutschnationale Darstellung : Das Verhalten der Tschechen im Weltkrieg. Die Anfrage der Abg. Dr. Schürff, Goll, Hartl, Knirsch, Dr. v. Langenhan und K. H. Wolf im österreichischen Abgeordnetenhause. Wörtliche Wiedergabe nach dem stenographischen Protokoll, Anhang II der Beilagen zur 49. Sitzung des Abgeordnetenhauses vom 5. Dezember 1917, Zahl 1749/I, Wien 1918, S. 4553–4828. 45 Moll, Martin : Kein Burgfrieden. Der deutsch-slowenische Nationalitätenkonflikt in der Steiermark 1900–1918, Innsbruck/Wien/Bozen 2007, insbes. S. 362–445.
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usw., nur »Quatschsprachen«.46 Dass aus tschechischen Kriegsgefangenen in Russland tatsächlich eine »tschechoslowakische Legion« gebildet wurde, zum Kampf gegen die Mittelmächte, belebte diese Abneigung natürlich weiter. Gleichzeitig bereiteten tschechische Politiker im Exil und in der Heimat die Gründung eines souveränen Staates vor.47 Dieser wurde tatsächlich am 28. Oktober 1918 gegründet.48 Einen neuen südslawischen Staat der Slowenen, Kroaten und Serben gab es am darauffolgenden Tag. Er schloss sich am 1. Dezember 1918 mit Serbien zum Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen zusammen (Königreich SHS).49 Obwohl insbesondere die Slowenen in nationaler Hinsicht nicht viel weniger Kriegsverlierer als die (Deutsch-)Österreicher waren, denn sie verloren etwa ein Drittel des »nationalen« Territoriums an Italien und konnten nur kleine Teile Kärntens sowie die Untersteiermark gewinnen, gehörten sie in der Folge ebenso zu den Siegermächten wie die Tschechen oder Polen. Mit den Letzteren hatte Österreich freilich keine gemeinsame Grenze. Aber die Grenzziehungen, insbesondere zur neuen Tschechoslowakei, wurden in Österreich als schweres Unrecht wahrgenommen, während der deutsch-österreichische Erfolg bei der Kärntner Volksabstimmung neben der Erwerbung des Burgenlandes und dem Erhalt von Radkersburg die einzigen Lichtblicke in den als katastrophal wahrgenommenen Friedensbedingungen von St. Germain boten. Wie auch immer : Das neue Österreich, als (zweiter) deutscher Nationalstaat konzipiert, grenzte nicht nur an das siegreiche Italien, sondern auch an zwei slawische, mit Frankreich in der Kleinen Entente verbündete Siegerstaaten, die mit ihren neuen deutschen Minderheiten nicht besonders nobel umgingen : Deutsche Staatsbeamte, Lehrer und Eisenbahner wurden insbesondere im SHS-Staat entlassen50 und an die 46 So eine Tagebucheintragung des slowenischen Leutnants der Reserve im krainischen IR 27 Franc Rueh vom 2. Februar 1917. Vgl. Vilfan, Igor (Hg.)/Rueh, Franc : Moj dnevnik [Mein Tagebuch] 1915– 1918, S. 91. 47 Vgl. Urban, Otto : Die tschechische Gesellschaft 1848–1918, Bd. 1, Wien/Köln/Weimar 1994, S. 902– 930. 48 Die Ereignisse des 28. Oktober 1918 sind immer noch am spannendsten dargestellt bei Plaschka, Richard : Cattaro – Prag. Revolte und Revolution. Kriegsmarine und Heer Österreich-Ungarns im Feuer der Aufstandsbewegungen vom 1. Februar und 28. Oktober 1918, Graz/Köln 1963, S. 195–297. 49 Vgl. Štih, P./Simoniti, V./Vodopivec, P. 2008, S. 310 f. 50 Vgl. Dolenc, Ervin : Entaustrifizierung der Politik, Verwaltung und Kultur in Slowenien, in : Nećak, Dušan/Jesih, Boris/Repe, Božo/Vodopivec, Peter (Hg.) : Slovensko-avstrijski odnosi v 20. stoletju. Slowenisch-österreichische Beziehungen im 20. Jahrhundert, Ljubljana 2004, S. 95–111, hier insbes. S. 101 : Nach den Demonstrationen in Marburg/Maribor am 27. Jänner 1919 wurden 36 Mittelschullehrer und 200 bis 300 Grundschullehrer entlassen. Sie wanderten nach Österreich aus. Ihre Posten wurden durch slowenische Flüchtlinge aus dem italienisch gewordenen Küstenland eingenommen. Weiters sollen nach diesen Angaben nach der Volksabstimmung im Oktober 1920 214 Lehrer aus Kärnten nach Slowenien gekommen sein. Vgl. auch Hafner, Hertha : Der sozio-ökonomische Wandel der österreichischen Staatsangestellten 1914–1924, Wien 1991 (ungedruckte Dissertation), S. 275 f.
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neue Grenze geschickt. Man sollte allerdings nicht übersehen, dass sehr viele Slowenen im Küstenland, vor allem aus dem öffentlichen Dienst, in den nun italienisch gewordenen Gebieten ebenfalls ihre Stellungen verloren und vielfach nach Slowenien emigrierten.51 Alle diese Vorgänge waren ein schwerer Schock für das traditionelle deutsch-bürokratische Selbstbewusstsein. Doch kein Unheil ohne einen (kleinen) Vorteil : Österreich, wir sagten es schon, konnte sich jetzt unbeschwert als »deutscher« Staat konzipieren, Deutsch wurde endlich zur Staatssprache, das Bekenntnis zur deutschen Nation wurde zur Voraussetzung für die Aufnahme in den Staatsdienst der jungen Republik. Man hat nationalslowenische Beamte und Lehrer in Kärnten nach der Volksabstimmung umgehend amoviert – das war freilich auch eine Retourkutsche gegenüber der Handlungsweise des südslawischen Staates.52 Auch zahlreiche national bewusste slowenische Priester – mindestens 43 – verließen Kärnten.53 Nationalistische Klischees blühten daher zwischen 1918 und 1938 kräftig weiter – auf beiden Seiten. So riefen südslawische Publikationen vielfach die frühere Unterdrückung der slawischen Völker durch die überhebliche deutsche Wiener Bürokratie in Erinnerung.54 Auch ein anderes, gar nicht so seltenes Stereotyp über die gemütlichen Österreicher und insbesondere die Wiener begegnet in diesen Polemiken. So forderte der slowenische Politiker Janko Brejc die Österreicher und insbesondere die Wiener auf, ihre Rolle als »rentier commode« abzulegen und endlich einmal zu arbeiten !55 Bei Allgemein und sehr detailreich zum Verhältnis Österreichs zum SHS-Staat bzw. zu Jugoslawien vgl. Suppan, Arnold : Jugoslawien und Österreich 1918–1938. Bilaterale Außenpolitik im europäischen Umfeld, Wien/München 1996, insbes. S. 662–667. Vgl. ferner Rumpler, Helmut/Suppan, Arnold (Hg.) : Geschichte der Deutschen im Bereich des heutigen Slowenien 1848–1941 (Schriftenreihe des Österreichischen Ost- und Südosteuropa-Instituts 13), Wien/München 1988. 51 Vgl. Štih, P./Simoniti, V./Vodopivec, P. 2008, S. 330. (Mehr als 10.000 Slowenen aus dem Küstenland waren nach Slowenien geflüchtet.) 52 Der SHS-Außenminister Momčilo Ninčić wies in seiner Rede vor dem Parlament, der Skupština, in Belgrad am 8. Juni 1923 darauf hin, dass die meisten slowenischen Lehrer Kärnten verlassen mussten, nur mehr drei seien dort geblieben, sie könnten aber nicht als Lehrer angestellt werden, weil ihnen die österreichische Staatsbürgerschaft fehle, die ihnen nicht zuerkannt worden sei, weil sie zur Abstimmungszeit »im Dienst unserer Behörden« gestanden hätten. Vgl. Suppan, A. 1996, S. 832. Vgl. auch Haas, Hanns/Stuhlpfarrer, Karl : Österreich und seine Slowenen, Wien 1977, S. 34–36. Hier ist von 29 entlassenen und 30 versetzten Priestern die Rede, weiters von 32 (Wutte) bis 58 (Belgrad) entlassenen slowenischen Lehrern. 53 Vgl. Tropper, Peter : Verleumdet ? Verfolgt ? Vertrieben ? Die Stellung des slowenischen Klerus in Kärnten zwischen den Jahren 1914 und 1921, in : Drobesch, Werner/Malle, Augustin (Hg.) : Kärnten und die nationale Frage, Bd. 2 : Nationale Frage und Öffentlichkeit, Klagenfurt/Celovec/Ljubljana/ Laibach/Wien/Dunaj 2005, S. 249–264, hier S. 255–258. 54 So Stanko Erhartič in seiner unter dem Pseudonym Carinthiacus erschienen Schrift : Die Lage der Slowenen unter Österreich und jene der Deutschen im Königreiche der Serben, Kroaten und Slowenen, Ljubljana 1925. Hier nach einem Verweis bei Suppan, A. 1996, S. 942. 55 Zitiert nach ebd., S. 944.
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den Slowenen wurde nach der verlorenen Volksabstimmung immer wieder der Ruf nach einer »Erlösung« der unterdrückten slowenischen Brüder in Kärnten laut. Umgekehrt schrieb der bekannte Kärntner Historiker Martin Wutte über die Slowenen : »Die Slowenen sind nun einmal ein störrisches, ewig unzufriedenes Völkchen, maßlos in ihren Forderungen und in der Art, diese zu vertreten, und trotz ihrer geringen Zahl schwer in ein größeres Ganzes einzufügen.«56 Das Verhältnis zum SHS-Staat (seit 1929 Jugoslawien) blieb die ganze Zeit über einigermaßen gespannt, wobei die Republik Österreich in der geringen Bereitschaft, »ihre« Minderheit mit ausreichenden Schulen usw. auszustatten, dem Nachbarstaat um nichts nachstand.57 In den österreichischen Karikaturen der Zwischenkriegszeit verschwanden allerdings die Slowenen zugunsten der Serben, sie wurden sozusagen »serbisiert«.58 Gegenüber den Tschechen pendelte sich einerseits ziemlich rasch die wenig problematische Anerkennung als unabhängiger Staat ebenso ein wie die Neigung, die Probleme der Deutschböhmen und Deutschmährer mit diesem Staat nicht mehr auf Österreich zu beziehen. Andererseits lebten die alten Stereotype weiter. Diese Fortdauer einer gewissen deutsch-bürgerlichen Überheblichkeit brachte Hilde Spiel im englischen Exil einmal in eine peinliche Situation : Sie nahm an einer Lesung tschechischer Literatur – Lyrik – teil. Dabei machte sich offenbar jenes alte Stereotyp selbstständig und sie sagte zu einer englischen Bekannten, dass sie diese »großartige Lyrik« in der Sprache »unserer geliebten Köchinnen und Schneider nicht nur seltsam, sondern leider auch komisch« anmute. Die Engländerin antwortete prompt : »You – you – Herrenvolk.«59 Der »Anschluss« Österreichs an Hitlers Reich, die Reduktion und schließlich die Vernichtung der Tschechoslowakei, der Sieg über Polen und der Überfall auf Jugoslawien 1941 waren von breiter antislawischer Propaganda der Nationalsozialisten und dem Versuch begleitet, ein selbstständiges politisches und kulturelles Leben von Polen, Tschechen, Slowenen und Serben zu vernichten (die Kroaten und Slowaken fallen als »Verbündete« da heraus). Waren schon 1939 die Kulturorganisationen der Kärntner Slowenen aufgelöst worden, so erfolgten ab 1941 weitere Verschärfungen. 1942 schließlich folgte die Deportation von fast 1.000 Personen aus der slowenischen Volksgruppe in mehrere deutsche Lager ins »Altreich«.60 Die Zwangsaussiedlungen, Verhaftungen und Gräueltaten der Deutschen in allen diesen besetzten Gebieten, aber auch in Kärnten, führten zu Widerstandshandlungen und zu Partisanenbewe56 Wutte, Martin : Der Kampf um Südkärnten, Graz 1925, S 13 f. (Zitiert nach Suppan, A. 1996, S. 943.) 57 Vgl. ebd., insbes. S. 831–838. Vgl. ferner : Rumpler, H./Suppan, A. 1988. 58 Vgl. Suppan, A. 1991, S. 276. 59 Vgl. Spiel, Hilde : Die hellen und die finsteren Zeiten. Erinnerungen 1911–1946, München 1989, S. 193 f. Bereits zitiert in : Bruckmüller, E. 1996, S. 149. 60 Vgl. Karner, Stefan : Die Aussiedlung von Kärntner Slowenen 1942, in : Karner, Stefan/Moritsch, Andreas (Hg.) : Kärnten und die nationale Frage, Bd. 1 : Aussiedlung – Verschleppung – nationaler Kampf, Klagenfurt/Celovec/Ljubljana/Laibach/Wien/Dunaj 2005, S. 21–52, insbes. S. 28–33.
Prag ist weiter weg als New York
61
gungen.61 Diese »Banden« waren trotz schärfster Repression nirgends völlig zu besiegen. Im früheren Jugoslawien konnten sie sich nach der Kapitulation Italiens im Sommer 1943 vielfach die Waffen der abziehenden oder von den Deutschen kaltgestellten italienischen Einheiten sichern und wurden dadurch zu einer ernst zu nehmenden militärischen Kraft. Die teilweise Eroberung von Partisanengebieten im Herbst und Winter 1943/44, besonders in Teilen Sloweniens, durch Wehrmacht, Polizei und SS änderte daran nichts Grundlegendes mehr. Das Slowenen-Feindbild in Kärnten wurde hingegen weniger durch die Ereignisse auf dem früheren und späteren jugoslawischen Staatsgebiet als die in Kärnten selbst beeinflusst. Hier waren gerade als Folge der Deportationen von 1942 Partisanengruppen entstanden, die ihr Operationsgebiet von 1943 bis 1945 gegen den hier sehr starken Gegner nur langsam ausweiten konnten.62 Bei Kriegsende besetzten slowenische Partisanen und Einheiten der jugoslawischen Armee Südkärnten, inklusive Klagenfurt. Während der Anwesenheit dieser Truppen wurden etwa 200 Personen aus Kärnten nach Jugoslawien deportiert, 96 von ihnen sind bis heute »verschollen«.63 Ebenso wie die Besetzung von Teilen Kärntens 1919/20 durch slowenische bzw. serbische Truppen trägt diese Erfahrung zur Fortdauer antislawischer (insbesondere antislowenischer) Affekte und Haltungen bei. Dass die Ursachen für diese Deportationen in der zeitlich davor liegenden Brutalität der deutschen Besatzung in Slowenien (und im Vorgehen der nationalsozialistischen Behörden gegen slowenische Kärntner) liegen, wird hingegen eher selten reflektiert. Ebenso wenig reflektiert wird die nationalsozialistische deutsche Herrschaft in Tschechien, die wiederum die gewalttätige Vertreibung der deutschen Bevölkerung aus der Tschechoslowakei auslöste.64 In der österreichischen Erinnerung ist insbesondere der »Brünner Todesmarsch« haften geblieben, da dieser Akt der Vertreibung die Opfer nicht nach Deutschland, sondern nach Österreich brachte.65 Von etwa 27.000 Menschen fanden Hunderte, vielleicht sogar einige Tausend, den Tod. 61 Vgl. Štih, P./Simoniti, V./Vodopivec, P. 2008, insbes. S. 362–381. 62 Vgl. Škerl, France : Koroška v narodnoosvobodilnem boju [Kärnten im nationalen Befreiungskampf], in : Liška, Janko/Brglez, Franček/Klemenčič, Vladimir/Stergar, Janez/Sturm, Borut Marjan/Žaucer, Pavle (Hg.) : Koroški Slovenci v Avstriji včeraj in danes [Kärntner Slowenen in Österreich gestern und heute], Celovec/Ljubljana 1984, S. 50–62. 63 Vgl. Karner, Stefan/Hartl, Susanne : Die Verschleppung von Kärntnern 1945 durch jugoslawische Partisanen, in : Karner, Stefan/Moritsch, Andreas (Hg.) : Kärnten und die nationale Frage, Bd. 1 : Aussiedlung – Verschleppung – nationaler Kampf, Klagenfurt/Celovec/Ljubljana/Laibach/Wien/Dunaj 2005, S. 53–78. 64 Vgl. Perzi, Niklas. Die Beneš-Dekrete. Eine europäische Tragödie, St. Pölten/Linz/Wien 2003, S. 226. 65 Vgl. Hrabovec, Emilia : Vertreibung und Abschub. Deutsche in Mähren 1945–1947 (Wiener Osteuropa Studien 2), Frankfurt am Main/Berlin/Bern/New York/Paris/Wien 1995 ; Hrabovec, Emilia : Neue Aspekte zur ersten Phase der Vertreibung der Deutschen aus Mähren 1945, in : Plaschka, Richard Georg/ Haselsteiner, Horst/Suppan, Arnold/Drabek, Anna M. (Hg.) : Nationale Frage und Vertreibung in der Tschechoslowakei und Ungarn 1938–1948, Wien 1997, S. 117–140.
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Ernst Bruckmüller
Die Rache der Sieger fiel in den befreiten slawischen Staaten besonders grausam aus – so empfanden das die Betroffenen, und so empfand das auch vielfach die österreichische Bevölkerung. Dazu kam das Verhalten der Roten Armee in den von den Nazis befreiten Gebieten, das ebenfalls zahlreiche antirussische Vorurteile zu bestätigen schien. Schließlich und endlich hatten die allermeisten Staaten (Ost-)Mitteleuropas das historische Unglück, dass sich gerade hier der reale Sozialismus nach sowjetischem Muster verwirklichte : Die beiden in Deutschland und vor allem Österreich traditionellen Feindbilder von den bösen, den Deutschen und Österreichern feindlich gegenüberstehenden Slawen und vom noch schlimmeren Bolschewismus fielen daher in eines zusammen. Es gab also zwischen 1918 und 1989 keinen Anlass, bestehende kollektive Feindbilder zu überprüfen oder gar zu korrigieren ! Solche Korrekturen wurden allerdings dann vorgenommen, wenn sich in diesen Nachbarländern Widerstände gegen das kommunistische System regten oder gar Unabhängigkeitsbewegungen entstanden. Dabei sehen wir von Ungarn 1956 ab – die Ungarn konnten in Österreich stets mit einem eher positiven Vorurteil rechnen. Aber auch den Tschechen und Slowaken schlug 1968 sehr viel Sympathie entgegen, als ihr Versuch, einen »Sozialismus mit menschlichem Antlitz« zu kreieren, brutal niedergeschlagen wurde. Der ORF sendete damals noch Monate nach der Niederschlagung des »Prager Frühlings« neben den Nachrichten in englischer und französischer Sprache auch solche auf Tschechisch, als Service nicht nur für Flüchtlinge, sondern auch für Bewohner des Nachbarstaates. Eine durchaus analoge Sympathiewelle gab es für Slowenien im Zusammenhang mit der Unabhängigkeitserklärung im Juni 1991. Erst später konnten ältere Ablehnungsbilder wieder verstärkt aufleben, einerseits in Zusammenhang mit der österreichischen Ablehnung der Atomkraft als Energielieferant (»Mochovce-TemelinKrško-Syndrom«), andererseits mit den von Rechtspopulisten, Trivialmedien und Gewerkschaften geschürten Ängsten vor einer Überschwemmung des Arbeitsmarktes im Vorfeld der EU-Aufnahmen von 2004.
IV. Zusammenfassung 1. Nationale Stereotype sind geronnene Bilder. Sie entstehen aus Abstraktionsvorgängen, die – zumeist von Intellektuellen – in einem sehr komplexen Prozess der Verarbeitung historischer und jeweils gegenwärtiger Verhältnisse und Ereignisse vorgenommen wurden und werden. Über gewisse Verbreitungsagenturen (Schule, Presse, Karikaturen, Romane, Geschichtsschreibung etc.) erlangen sie gesellschaftliche Anerkennung und Gültigkeit. Sie definieren ab diesem Zeitpunkt die gesellschaftliche Wahrnehmung der nationalen Nachbarn als »die
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anderen« und dienen als Filter, durch den diese Wahrnehmung jeweils geleitet wird. 2. Nationale Stereotype existieren als Auto- und als Heterostereotype. Beide Formen stehen bei benachbarten Nationen oft in einer gewissen Beziehung zueinander : Ein Heterostereotyp kann ein Autostereotyp verstärken, in diesem Fall passen sie zusammen wie zwei aneinanderliegende Puzzle-Teile. Ein bekanntes Beispiel für diesen Typ : Österreicher halten sich selbst für etwas rückständig, etwas langsam, aber nett und gemütlich (Autostereotyp) – und werden auch von den Deutschen so eingeschätzt (Heterostereotyp). Oder : Deutsche (Deutsch-Österreicher) sahen sich allen Slawen gegenüber als überlegenes Kulturvolk, das den »Unteren« die Segnungen der »deutschen« Kultur vermitteln müsse. Demgegenüber existier(t)en bei Tschechen, noch viel stärker aber bei Slowenen, Autostereotype als verknechtetes, unterworfenes Volk. 3. Antislawische Stereotype in der österreichischen Bevölkerung sind in ihrer Entstehung zwar leicht – in den Nationalitätenspannungen des alten Österreich – zu verorten, aber schwer zu bekämpfen, weil sie sich nach 1918 scheinbar als »realistisch« herausgestellt haben, denn : • die slawischen Nachbar- und Nachfolgestaaten gehörten zu den Siegern, Österreich (und Ungarn) zu den Besiegten, und daher gehörten auch • die deutschsprachigen Bevölkerungsgruppen zu den neuen Minderheiten in Mitteleuropa, während sie bis 1918 als Teil der Mehrheitsbevölkerung (wenigstens im ehemaligen »Zisleithanien«) gegolten hatten. • Im Allgemeinen setzte sich diese Unterscheidung nicht nur zwischen 1938 und 1945 fort, sondern auch nach 1945 – alle slawischen Staaten haben nicht nur die deutschsprachigen Populationen entrechtet und vertrieben, sondern wurden auch noch kommunistisch : Das befestigte alle alten Vorurteile und bereicherte sie um wichtige neue Varianten. 4. Stereotype können aber auch bewusst abgebaut werden – so sind derzeit die angeblich uralten und tief eingefleischten antiitalienischen Stereotype bei den Österreichern kaum mehr abrufbar. 5. Die letzte Feststellung führt wieder zurück zur Erkenntnis, dass Stereotype gesellschaftliche Produkte sind und dass auch ihre Verbreitung, ihr »Verkauf«, jeweils gesellschaftlich bestimmt ist. Damit liegt die Verantwortung für ihre Wirkung nicht bei den Stereotypen selbst, sondern bei jenen gesellschaftlichen Akteuren, die sie schaffen und einsetzen – aber auch relativieren und abbauen können.
Fritz Breuss
Auswirkungen der Ostöffnung 1989 auf Österreichs Wirtschaft I. Einleitung 1 Nach Jahrzehnten des Kalten Krieges wurde im Sommer 1989 der Eiserne Vorhang durchschnitten, und ein paar Monate später fiel in Berlin die Mauer zwischen Ost und West. Das hat nicht unmittelbar etwas mit der Europäischen Union (EU) zu tun, denn die kommunistische Planwirtschaft und Unterdrückungsherrschaft war total morsch und reif für eine Implosion. Das Jahr 1989 markiert aber – mehr noch als der Beginn der Französischen Revolution 1789 – eine unblutige Revolution im Osten mit einschneidenden Ereignissen : dem Zerfall der Supermacht UdSSR und seines Militärbündnisses Warschauer Pakt sowie der Auflösung des Rats für gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW). Die ehemaligen Ostblock- bzw. RGW- und WarschauerPakt-Staaten wurden in die Unabhängigkeit entlassen. Der Beginn der friedlichen Wiedervereinigung Europas war damit möglich geworden. Das Jahr 1989 mit seinen Umbrüchen im Osten ist nicht nur historisch bedeutend für Europa, sondern es markiert auch eine weltpolitische Zäsur. Das Regime des Kommunismus und der Planwirtschaft, das in Osteuropa ein Dreivierteljahrhundert geherrscht hatte, zerbrach. Man muss nicht unbedingt die plakative Metapher vom »Ende der Geschichte« von Francis Fukuyama2 bemühen, um zu erkennen, dass seit 1989 – jedenfalls in Europa – Demokratie und Marktwirtschaft über Kommunismus und Planwirtschaft gesiegt haben. Die Europäischen Gemeinschaften (EG) haben nach der Ostöffnung 1989 relativ rasch auf die neuen Möglichkeiten im Osten mit Handelserleichterungen und einem Angebot zur EU-Mitgliedschaft reagiert. Noch rascher als in die EG und später in die EU drängten die Staaten Mittel- und Osteuropas (die MOEL) in die North Atlantic Treaty Organization (NATO). Das Sicherheitsbedürfnis war in diesen Staaten offensichtlich noch größer als der Wunsch, wirtschaftlich am Binnenmarkt der EU teilzunehmen. 1 Dieser Beitrag stützt sich zum Teil auf eine frühere Analyse der Auswirkungen des »Ostfaktors« auf Österreichs Wirtschaft, vgl. Breuss, Fritz : Die österreichische Wirtschaft seit der Ostöffnung, in : Stiefel, Dieter (Hg.) : Der »Ostfaktor« – Österreichs Wirtschaft und die Ostöffnung 1989 bis 2009, Wien/ Köln/Weimar 2010, S. 115–157. 2 Vgl. Fukuyama, Francis : The End of History and the Last Man, Washington, D. C. 1992.
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Fritz Breuss
Österreich hat als Randstaat am Eisernen Vorhang die Ostöffnung aus mehreren Gründen begrüßt. Zum einen hat der Wegfall des Stacheldrahts die politische Sicherheit erhöht, zum anderen konnte es die neuen wirtschaftlichen Chancen im Osten relativ rasch und erfolgreich nutzen. Und Österreich rückte politisch-geografisch von einer östlichen Randlage ins Zentrum Europas.
II. Eine kurze Integrationsgeschichte Österreichs Nicht zuletzt der Zusammenbruch des Kommunismus (Fall der Berliner Mauer 1989 und die Deutsche Wiedervereinigung 1990 ; Auflösung von UdSSR, Warschauer Pakt und RGW 1991) hat dem neutralen Österreich die Chance eröffnet, einen Antrag auf Mitgliedschaft in der EU zu stellen. Am 17. Juli 1989 überreichte Außenminister Alois Mock – nachdem er in einem symbolischen Akt zusammen mit seinem ungarischen Amtskollegen Gyula Horn am 27. Juni 1989 den Stacheldrahtzaun (Symbol des »Eisernen Vorhangs«) an der österreichisch-ungarischen Grenze bei Sopron durchschnitten hatte3 – dem EG-Ratspräsidenten Roland Dumas das formelle Beitrittsgesuch Österreichs zu den Europäischen Gemeinschaften.4 Nach der relativ positiven Stellungnahme der Kommission (Avis) im April 1991 begannen die Beitrittsverhandlungen, die am 1. Jänner 1995 zum EU-Beitritt führten.5 Zwischenzeitlich hatte Österreich noch als Mitglied der European Free Trade Association (EFTA) ein Jahr lang (1994) dem Abkommen über den Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) angehört (siehe Tabelle 1).
1989
Ostöffnung – Fall der Berliner Mauer (9. November) • Österreich stellt EG-Beitrittsantrag (17. Juli)
1990
Deutsche Wiedervereinigung (3. Oktober)
1991
Zerfall der UdSSR, Auflösung des Warschauer Paktes und des RGW
1993
Europäischer Rat in Kopenhagen : Einladung an die MOEL, der EU beizutreten (22. Juni) • Kopenhagener Beitrittskriterien • Europaabkommen – asymmetrische Handelsliberalisierung EU-MOEL • EU-Binnenmarkt
3 Vgl. dazu den Beitrag von Helmut Wohnout in diesem Band. 4 Vgl. Breuss, Fritz : Warum wächst die Wirtschaft in Österreich rascher als in Deutschland ?, WIFO Working Papers, Nr. 280, Oktober 2006 ; Gehler, Michael : Der lange Weg nach Europa. Österreich vom Ende der Monarchie bis zur EU, Innsbruck 2002, Bd. 2 : Dokumente. 5 Die genauen Schritte und innenpolitischen Prozesse vom Beitrittsantrag bis zum EU-Beitritt zeichnet Gehler, untermauert mit vielen Dokumenten, genau nach, vgl. Gehler, Michael : Der lange Weg nach Europa. Österreich vom Ende der Monarchie bis zur EU, Innsbruck 2002, Bd. 1 : Darstellung.
Auswirkungen der Ostöffnung 1989 auf Österreichs Wirtschaft 1994
69
EWR-Teilnahme Österreichs
1995
4. EU-Erweiterung um Finnland, Österreich und Schweden (EU-15)
1999
Start der WWU (2002 – Euro wird gesetzliches Zahlungsmittel im Euro-Raum)
2004
5. EU-Erweiterung (EU-25) (1. Mai)
2007
Abschluss der 5. EU-Erweiterung (EU-27) • Slowenien tritt dem Euro-Raum bei
2008
Malta und Zypern treten dem Euro-Raum bei
2009
Die Slowakei tritt dem Euro-Raum bei (EUR-16) Schwere globale Finanz- und Wirtschaftskrise – »Große Rezession«
2010
Ausbruch der »Griechenland-Krise« und danach der »Euro-Krise«
2011
Estland tritt dem Euro-Raum bei – Euroraum-17
2012
Die »Economic Governance« der WWU wird reformiert (Europäisches Semester, Sixpack, Fiskalpakt)
2013
6. EU-Erweiterung (EU-28) : Kroatien tritt der EU bei (1. Juli)
2013/14
Einrichtung eines Teils der »Bankenunion«, einer gemeinsamen Bankenaufsicht bei der EZB
Tabelle 1 : Eine kurze Integrationsgeschichte Österreichs seit der Ostöffnung
Zeitlich parallel zu den Verhandlungen mit Österreich, Finnland, Norwegen (dieses Land hat in einem Referendum 1994 den EU-Beitritt zum zweiten Mal seit 1972 abgelehnt) und Schweden hat die EU zahlreiche Integrationsschritte gesetzt. Relativ früh wurde mit den MOEL eine gehobene handelspolitische Integration durch die Europaabkommen (EA) vereinbart. Damit war neben einer asymmetrischen Liberalisierung des bilateralen Handels (die EU beseitigte die Zollschranken 1997, die MOEL 2002) zwischen der EU und den MOEL auch eine »Beitritts-Option« verbunden. Der Europäische Rat in Kopenhagen hat am 22. Juni 1993 explizit die MOEL eingeladen, EU-Mitglieder zu werden, sofern sie die sogenannten Kopenhagener Kriterien (Demokratie, Marktwirtschaft, Mitgliedschaftsverpflichtungen, Aufnahmefähigkeit) erfüllen.6 Zuvor wurde durch den Vertrag von Maastricht per 1. Jänner 1993 der Binnenmarkt in Kraft gesetzt, der durch die vier Freiheiten (Waren-, Dienstleistungs-, Kapital- und Personenverkehr) die Wirtschaftsdynamik in der EU heben sollte. Da dies in einer Zwischenbilanz noch nicht erkennbar war, hat der Europäische Rat im März 2000 in der Lissabon-Agenda für das kommende Jahrzehnt (bis 2010) das ehrgeizige Wachstumsziel, die EU zum »wettbewerbsfähigsten und dynamischsten wissensbasierten Wirtschaftsraum in der Welt zu machen«, ausgerufen. Angesichts des bescheidenen Erfolgs der »Lissabon-Agenda«7 gibt es seit 2010 6 Vgl. EU, Europäischer Rat Kopenhagen : Schlussfolgerungen des Vorsitzes, Kopenhagen, 21.–22. Juni 1993, S. 13. 7 Vgl. Breuss, Fritz : Die Lissabon-Strategie – Post 2010 : Wie soll es weitergehen ?, in : Die Zukunft der
70
Fritz Breuss
mit der Strategie »Europa 2020«8 eine Neuauflage der EU-Wachstumsstrategie als Begleitprogramm zum EU-Binnenmarkt. Am 1. Jänner 1995 – nach viereinhalbjährigen Verhandlungen – wurden Finnland, Österreich und Schweden im Rahmen der vierten EU-Erweiterung Mitglieder der EU. Damit wuchs die EU auf 15 Mitglieder an. Die nächsten großen integrationspolitischen Schritte der EU waren der Start der Wirtschafts- und Währungsunion (WWU) am 1. Jänner 1999 und die Einführung des Euro (2002) als gesetzliches Zahlungsmittel. Die WWU ist mit elf Mitgliedern gestartet und ist seit 2011 auf 17 Mitglieder angewachsen. Der Beitrittsprozess – die EU-Erweiterung gegenüber dem Osten Europas – dauerte rund zehn Jahre. Im Juni 1993 sprachen die Staats- und Regierungschefs des Europäischen Rats in Kopenhagen die Einladung an die MOEL aus, Mitglieder der EU zu werden. Die konkreten Verhandlungen begannen im März 1998 mit zunächst sechs Ländern, gefolgt von den restlichen sechs im Februar 2000. Zuvor (im Juli 1997) hatte die Europäische Kommission zur Vorbereitung auf die große EU-Erweiterung in der »Agenda 2000« die notwendigen institutionellen und politischen Reformen (GAP, Strukturpolitik) und den Finanzbedarf beschrieben. Beschlossen wurde sie vom Europäischen Rat im März 1999 in Berlin. Der Beitrittsvertrag wurde wiederum auf der Sitzung des Europäischen Rats in Kopenhagen im Dezember 2002 abgeschlossen (daher war es ein Beitrittsprozess von »Kopenhagen bis Kopenhagen«). Nach der Ratifizierung fand der EU-Beitritt von zehn neuen Mitgliedstaaten am 1. Mai 2004 statt. Die EU-15 wurde um Estland, Lettland, Litauen, Malta, Polen, die Slowakei, Slowenien, Tschechien, Ungarn und Zypern auf EU-25 aufgestockt. Die fünfte und größte EU-Erweiterungsrunde fand mit der Aufnahme Bulgariens und Rumäniens als neue Mitglieder am 1. Jänner 2007 ihren Abschluss. Die 27 Mitglieder umfassende EU hatte 504 Mio. Einwohner (USA : 315 Mio.) und erwirtschaftete ein Brutto-Nationaleinkommen (BNE = BIP plus/minus Primäreinkommen aus der/in die Welt) zu Kaufkraftparitäten von 17.116 Mrd. USD (USA : 15.097). Allerdings hat die Aufnahme ärmerer Staaten aus Mittel- und Osteuropa das durchschnittliche BNE pro Kopf der EU-27 auf 33.982 USD gesenkt (USA : 48.450). Gegenüber der EU-15 stieg die Einwohnerzahl um 26 %, die absolute Wirtschaftsleistung wurde um 13 % höher, aber das BIP pro Kopf schrumpfte um 11 %.9 Durch die EU-Erweiterung ist auch der Euro-Raum um fünf Länder an-
Wirtschaftspolitik der EU : Beiträge zum Diskussionsprozess »Lissabon Post 2010«, Bundesministerium für Wirtschaft und Arbeit (BMWA), Wien, Oktober 2008, S. 127–173. 8 Vgl. EU, Europa 2020 : Eine Strategie für intelligentes, nachhaltiges und integratives Wachstum, Mitteilung der Kommission, Brüssel, 3. März 2010. 9 Vgl. Breuss, Fritz : Erweiterungs- und Nachbarschaftspolitik der EU, in : WIFO-Monatsberichte 8/80 (2007b), S. 641–660.
Auswirkungen der Ostöffnung 1989 auf Österreichs Wirtschaft
71
gewachsen (2007 um Slowenien, 2008 um Malta und Zypern, 2009 um die Slowakei und 2011 um Estland). Parallel zu diesen integrationspolitischen Ereignissen hat sich die EU auch selbst immer wieder institutionell durch Änderungen der Verträge erneuert : Die erste Erneuerung erfolgte 1987 noch vor der Ostöffnung mit der Einheitlichen Europäischen Akte (EEA). Der Binnenmarkt und die WWU sind primärrechtlich im Maastricht-Vertrag von 1993 niedergelegt. Der Amsterdam-Vertrag (1999) war nur ein Zwischenspiel zum Nizza-Vertrag (in Kraft seit 1. Februar 2003). Nachdem der Verfassungsvertrag an den negativen Referenden in Frankreich und den Niederlanden 2005 gescheitert war, wurde als Ersatz der Vertrag von Lissabon am 1. Dezember 2009 in Kraft gesetzt.
III. Chancen und Risiken durch die Ostöffnung und EU-Erweiterung Österreichs Wirtschaft konnte durch die Ostöffnung ihr Produktions- und Außenhandelspotenzial um rund ein Zehntel steigern.10 Zusätzlich zu der durch den EUBeitritt 1995 ermöglichten weiteren Westöffnung haben das Jahr 1989 und später die EU-Erweiterung eine stärkere Ostöffnung und damit eine stärkere Dynamisierung der österreichischen Wirtschaft ermöglicht. Damit konnte Österreich auch zum ersten Mal stärker an der Globalisierung teilnehmen. 1. Zunehmende »Mini«-Globalisierung durch Außenhandel und FDI Während etwa die Schweiz stärker an der weltweiten Globalisierung beteiligt ist,11 d. h. ihren Exportradius weiter auf die Industriestaaten und Schwellenländer (BRIC) ausgedehnt hat, nimmt Österreich stärker an der »Mini«-Globalisierung teil. Darunter verstehe ich die Verflechtung der österreichischen Volkswirtschaft via Außenhandel und Direktinvestitionen mit den MOEL. Der deutliche Trendbruch in der Außenhandelsorientierung Österreichs (d. h. in der zunehmenden Globalisie10 Vgl. Breuss, Fritz : EU-Osterweiterung : Ein Wachstumsimpuls für den gesamten Wirtschaftsraum ?, in : Caesar, Rolf/Lammers, Konrad/Scharrer, Hans-Eckart (Hg.) : Europa auf dem Weg zum wettbewerbsfähigsten und dynamischsten Wirtschaftsraum der Welt ? – Eine Zwischenbilanz der LissabonStrategie (Veröffentlichungen des Hamburgischen Welt-Wirtschafts-Archivs 76), Baden-Baden 2005, S. 137–163. 11 Vgl. Breuss, Fritz : Österreich und Schweiz – Ökonomische Erfahrungen mit und ohne Mitgliedschaft in der Europäischen Union, in : Breuss, Fritz/Cottier, Thomas/Müller-Graff, Peter-Christian (Hg.) : Die Schweiz im europäischen Integrationsprozess (Schriftenreihe des Arbeitskreises Europäische Integration e. V. 61), Baden-Baden/Basel 2007d, S. 63–110.
72
Fritz Breuss
rung) lässt sich am steileren Anstieg der Export- und Importquoten ablesen. Diese Entwicklung hatte kurz nach der Ostöffnung Anfang der Neunzigerjahre eingesetzt, wurde begünstigt durch den EU-Beitritt und die damit ermöglichte stärkere Teilnahme am EG-Binnenmarkt und gewann neue Impulse durch die EU-Erweiterung (siehe Abbildung 1). Die Ostöffnung und noch stärker die EU-Erweiterung haben aber auch eine beachtliche Umlenkung der Handelsströme von West nach Ost bewirkt (siehe Tabelle 2 und Abbildung 2). 60 55
Ostöffnung
Exporte insgesamt
50
Importe insgesamt
45 40
Warenimporte
35 30 25
Warenexporte
20 15
1976 1978 1980 1982 1984 1986 1988 1990 1992 1994 1996 1998 2000 2002 2004 2006 2008 2010
Abbildung 1 : Zunehmende Globalisierung via Außenhandel (Export- und Importquoten : Exporte und Importe in % des BIP) Exporte und Importe insgesamt = Waren plus Dienstleistungen; Quellen : FIW und WIFO
Bis zum EU-Beitritt 1995 stieg der Anteil der Exporte in die EU-15 um rund fünf Prozentpunkte, während jener mit Osteuropa nur mäßig zunahm. Seither schrumpfte der Anteil mit der EU-15 um rund elf Prozentpunkte, während er mit Osteuropa um fast zehn Prozentpunkte anstieg, jener mit den zwölf neuen EU-Mitgliedstaaten um rund sechs Prozentpunkte. Der Handel mit dem übrigen Osten ist noch rasanter gestiegen als mit den zwölf neuen EU-Mitgliedstaaten. Die Exporte in die MOEL29 (MOEL-10 plus GUS plus Balkanstaaten) haben seit 1995 sogar um fast zehn Prozentpunkte zugenommen. Der Handel mit dem Rest der Welt ist seit 1995 nur geringfügig gestiegen, während er von 1980 bis 1995 um rund fünf Prozentpunkte schrumpfte.
73
Auswirkungen der Ostöffnung 1989 auf Österreichs Wirtschaft
EU-271) EU-15 12 neue EUMitgliedsländer 1) MOEL-101) Euro-Raum 17 MOEL-29 Bulgarien Rumänien Polen Ungarn ČSFR Tschechien 1) Slowakei1) Ehem. Jugoslawien Slowenien1) Baltikum (Estland, Lettland, Litauen) 1) Malta und Zypern 1) Andere Länder (Insgesamt – EU-27) PIIGS BRIC
1980 71,6 61,0 10,6
1985 67,6 60,1 7,5
1990 75,3 67,9 7,4
1995 77,2 65,9 11,3
2000 74,7 61,1 13,6
2005 73,2 58,5 14,6
2008 72,2 54,6 17,6
2009 71,0 54,7 16,2
2010 70,5 54,6 16,0
2011 69,7 53,5 16,2
10,5 52,5 14,0 0,7 1,1 2,7 2,2 1,4 1,1 0,4 3,3 2,3 0,1
7,4 51,5 12,1 0,8 0,3 1,2 2,6 1,1 0,8 0,3 2,3 1,3 0,1
7,3 61,2 10,4 0,3 0,2 0,9 2,2 1,9 1,4 0,5 2,7 1,7 0,1
11,2 63,1 14,2 0,3 0,4 1,4 3,6 3,7 2,7 1,0 2,8 1,7 0,1
13,5 57,8 16,5 0,3 0,7 1,6 5,0 4,0 2,9 1,1 3,3 1,8 0,2
14,5 56,6 19,3 0,5 1,5 2,0 3,4 4,8 3,1 1,7 3,9 1,8 0,5
17,5 54,0 23,7 0,8 2,0 2,8 3,1 5,8 3,7 2,0 4,5 2,2 0,4
16,1 54,5 21,8 0,6 1,7 2,6 3,1 5,7 3,7 2,0 4,4 2,2 0,2
15,8 54,2 21,3 0,5 1,5 2,5 3,1 5,9 3,8 2,1 3,9 2,0 0,3
16,0 53,0 21,5 0,5 1,5 2,8 3,1 5,9 3,9 2,0 3,7 1,9 0,3
0,1 28,4
0,1 32,4
0,1 24,7
0,1 22,8
0,1 25,3
0,1 26,8
0,1 27,8
0,1 29,0
0,1 29,5
0,1 30,3
12,9
11,7
13,1 2,4
12,1 2,9
12,6 2,3
12,5 3,7
12,2 5,2
11,2 5,7
10,6 6,3
10,1 6,3
1) WIFO-Schätzungen für 1980 bis 1990. MOEL-10 … Bulgarien, Estland, Lettland, Litauen, Polen, Rumänien, Slowakei, Slowenien, Tschechien, Ungarn; MOEL-29 … MOEL-10 + GUS + Balkanstaaten; PIIGS … Portugal, Irland, Italien, Griechenland, Spanien; BRIC … Brasilien, Russland, Indien, China; Quelle: WIFO-Berechnungen Tabelle 2 : Immer stärkere Ostorientierung des österreichischen Außenhandels (regionale Exportanteile in % der Gesamtexporte)
Diese Umlenkung der Handelsströme wurde besonders stark gefördert durch die Erweiterung der Europäischen Zollunion im Zuge der EU-Erweiterung seit 1994. Nach Modellberechnungen12 hat sich der Handel Österreichs mit der EU-15 um 0,6 Prozentpunkte verringert, jener mit den zehn neuen EU-Mitgliedstaaten konnte um 7,3 Prozentpunkte gesteigert werden. Noch stärker waren die Zuwächse im Handel mit Bulgarien (+28 %) und Rumänien (+16 %).
12 Vgl. Breuss, Fritz : Erfahrungen mit der fünften EU-Erweiterung, in : WIFO-Monatsberichte 12/80 (2007c), S. 933–950, hier S. 941.
74
Fritz Breuss Ostöffnung
80.0
EU-Beitritt
WWU
EU-Erweiterung EU-27
70.0
EU-15
60.0 EUR-17 50.0
40.0
Drittstaaten
30.0
20.0
EU-Neue PIIGS
10.0
0.0
Abbildung 2 : Regionale Verteilung der österreichischen Exporte im Zuge der europäischen Integration (Anteile in % der Gesamtexporte); EU-Neue = zwölf neue EU-Mitgliedstaaten ; Drittstaaten = Gesamtexporte minus EU-27: Quelle : Daten von Tabelle 2
2. Österreich nutzt das »Ostfenster« im Außenhandel … Die Ostöffnung, aber noch stärker die EU-Erweiterung haben dazu beigetragen, dass Österreich seine komparativen Vorteile stärker ausspielen konnte als zuvor. Das spiegelt sich sowohl in der Drehung der Export- und Importquoten (siehe Abbildung 1) als auch im Handelsbilanzsaldo (siehe Abbildung 3). Erst seit Anfang dieses Jahrhunderts haben die Exportquoten die Importquoten überschritten. Das gilt insbesondere für den Handel von Waren und Dienstleistungen (also Exporte und Importe insgesamt). Die Handelsbilanz, d. h. der Saldo von Warenexporten und Warenimporten, war in Österreich traditionell defizitär. Erst seit dem EU-Beitritt (Teilnahme am EGBinnenmarkt) und besonders seit der EU-Erweiterung hat Österreich erstmals einen Ausgleich bzw. sogar einen Überschuss erzielt. Noch beeindruckender ist die Verbesserung der Leistungsbilanz. Sie enthält neben den Warenströmen auch alle Arten von Dienstleistungen und Transfers. Der Saldo, der seit dem EU-Beitritt bis
Auswirkungen der Ostöffnung 1989 auf Österreichs Wirtschaft
75
2002 ein Defizit aufwies, verwandelt sich seither in einen beachtlichen Überschuss (siehe Abbildung 3). Die Drehung in der Handelsbilanz kam hauptsächlich durch die Ausschöpfung der komparativen Vorteile im Handel mit Osteuropa zustande (siehe Abbildung 4).
15
Ostöffnung
13 11
EU-Beitritt Leistungsbilanz
9 7 5 3 1 -1 -3 -5
Handelsbilanz
-7 -9 -11 -13 -15
1976 1978 1980 1982 1984 1986 1988 1990 1992 1994 1996 1998 2000 2002 2004 2006 2008 2010 Handelsbilanz laut Außenhandelsstatistik
Handelsbilanz laut Zahlungsbilanz
Leistungsbilanz
Abbildung 3 : Österreichs Handels- und Leistungsbilanz [Mio. EUR]; Quellen : OeNB, WIFO, FIW
76
Fritz Breuss
15000 Drittstaaten 10000 5000
12 EU-Neue
PIIGS
0 -5000
Welt EU-27
-10000 -15000
EU-15
-20000 EUR-17 -25000
Ostöffnung
EU-Beitritt
EU-Erweiterung
1980 1981 1982 1983 1984 1985 1986 1987 1988 1989 1990 1991 1992 1993 1994 1995 1996 1997 1998 1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011
-30000
Abbildung 4 : Österreichs Handelsbilanz nach Regionen [Mio. EUR] EU-Neue = zwölf neue EU-Mitgliedstaaten ; Drittstaaten = Gesamtexporte minus EU-27 Quellen : OeNB, WIFO, FIW
3. … und seine Firmen investierten kräftig im Osten Die zunehmende Globalisierung Österreichs seit der Ostöffnung zeigte sich einerseits in der Ausweitung des Handels mit Osteuropa und andererseits in einer verstärkten Internationalisierung der Produktion in diesen Ländern via Direktinvestitionen. Seit dem EU-Beitritt und verstärkt nach der EU-Erweiterung hat Österreich seine Direktinvestitionstätigkeit ausgeweitet. Seit 2002 steigen die FDI (Foreign Direct Investments) Österreichs im Ausland stärker als jene des Auslandes in Öster reich. Ebenso wie im Außenhandel entwickelte sich Österreich zunehmend von einem Defizit- zu einem Überschussland im Bereich der Direktinvestitionen (siehe Abbildung 5).
Auswirkungen der Ostöffnung 1989 auf Österreichs Wirtschaft
11.0
77
FDI aktiv
10.0 9.0 8.0 7.0 6.0 5.0 4.0 3.0 2.0 1.0 0.0
FDI passiv 1995 1996 1997 1998 1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011
Abbildung 5 : Zunehmende Globalisierung via Direktinvestitionen (FDI aktiv und passiv in % des BIP) FDI = Foreign direct investment ; FDI aktiv = österreichische Direktinvestitionen im Ausland ; FDI passiv = Direktinvestitionen des Auslandes in Österreich; Quelle : OeNB
Dass die Ostöffnung, der EU-Beitritt und vor allem die EU-Erweiterung die treibenden Kräfte hinter der Zunahme der Globalisierung der österreichischen Firmen waren, zeigt das regionale Muster der FDI (siehe Abbildung 6). Auswertungen der Oesterreichischen Nationalbank (OeNB) belegen, dass die FDI-Aktivitäten in Osteuropa viel rentabler waren als jene in den übrigen Weltregionen, inklusive in den Ländern der EU-15.13 Die Eigenkapitalrendite österreichischer Direktinvestitionsfirmen lag in den MOEL zuletzt bei rund 10 % (MOEL-19 : 15 %), weltweit bei 8 % und in der EU-15 bei 5 %.14 Österreich ist in vielen MOEL einer der wichtigsten Direktinvestoren. Nach Statistiken des Wiener Instituts für Internationale Wirtschaftsvergleiche (wiiw)15 nimmt Österreich in folgenden Ländern den ersten Platz ein : Bosnien-Herzegowina, Slowenien, Bulgarien, Rumänien 13 Vgl. Keppel, Catherine/Sieber, Susanne : Grenzüberschreitende Direktinvestitionen in und aus Österreich, in : Kompetenzzentrum Forschungsschwerpunkt Internationale Wirtschaft (FIW) (Hg.) : Österreichs Außenwirtschaft 2008, Wien, Dezember 2008, S. 135–153, hier S. 149. 14 Vgl. OeNB, Direktinvestitionen 2006 : Österreichische Direktinvestitionen im Ausland und ausländische Direktinvestitionen in Österreich, Stand per Ende 2006, Statistiken, Sonderheft, Oesterreichische Nationalbank, Wien, Dezember 2008, S. 14. 15 Siehe Hunya, Gábor : FDI in the CEECs under the Impact of the Global Crisis : Sharp Declines, 2009 wiiw Database on Foreign Direct Investment in Central, East and Southeast Europe, Wien, May 2009.
78
Fritz Breuss
und Kroatien. An zweiter Stelle liegt es in Serbien. Den dritten Platz nimmt es in der Slowakei, in Ungarn, in Tschechien und in Mazedonien ein. In der Ukraine liegt Österreich mit einem FDI-Volumen von rund 20 Mrd. EUR an vierter Stelle. Allerdings haben sich infolge der globalen Finanz- und Wirtschaftskrise die FDI-Aktivitäten in den MOEL 2008 und 2009 deutlich abgeschwächt.16 28000
Insgesamt Europa
23000
MOEL-29
18000
13000
EU-27
8000
Euroraum-17 EU-15
3000 ROW
-2000
1995
1996
1997
1998
1999
2000
2001
2002
2003
2004
2005
2006
2007
2008
2009
2010
2011
Abbildung 6 : Österreichs Firmen nutzen die »emerging markets« vor der Haustüre (FDI aktiv in Mio. EUR) ROW = Rest der Welt = Insgesamt minus Europa; Quelle : OeNB
4. Wachstumsperformance seit der Ostöffnung Österreichs Wirtschaft ist seit der Ostöffnung 1989 um durchschnittlich 2,1 % pro Jahr gewachsen (siehe Tabelle 3). In den letzten Jahren seit der EU-Erweiterung hat sich das Wirtschaftswachstum infolge der »Großen Rezession« von 2009 auf 1,6 % pro Jahr verlangsamt. Damit erzielte Österreich gegenüber den Vergleichsländern der EU-15 seit 1989 einen Wachstumsbonus von 0,3 Prozentpunkten und seit der EU-Erweiterung 2004 sogar einen von 0,8 Prozentpunkten. Gegenüber Deutschland schrumpfte der Wachstumsvorsprung von zuvor (seit der Ostöffnung) 0,7 Prozentpunkten auf 0,2 Prozentpunkte seit der EU-Erweiterung 2004.17 16 Vgl. Hunya, Gábor : Short-lived recovery, 2012 wiiw Database on Foreign Direct Investment in Central, East and Southeast Europe, Wien, May 2012. 17 Vgl. auch Breuss, F. 2006.
79
Auswirkungen der Ostöffnung 1989 auf Österreichs Wirtschaft BIP-Wachstum [%] 23 Jahre Ostöffnung (1989–2012)*)
17 Jahre EU-Beitritt (1995–2012)
13 Jahre WWUMitglied (1999–2012)
8 Jahre EU- Erweiterung (2004–2012)
2,1
2,0
1,7
1,6
12 neue EU-MS
3,5
3,3
3,4
3,0
EU-27
1,8
1,7
1,5
1,0
EU-15
1,8
1,6
1,4
0,8
Deutschland
1,4
1,3
1,3
1,4
Schweiz
1,7
1,8
1,8
2,0
USA
2,5
2,4
1,8
1,3
Österreich
*) Wachstumsraten, berechnet von 1993–2012. Tabelle 3 : Wachstum des realen BIP in unterschiedlichen Integrationsphasen Quelle : Eigene Berechnungen mit Daten der AMECO-Datenbank (Europäische Kommission)
6.0
Ostöffnung
5.0 4.0 Inlandsnachfrage 3.0
BIP, real %
2.0 1.0
Netto-Exporte
0.0 EU-Beitritt 1961 1963 1965 1967 1969 1971 1973 1975 1977 1979 1981 1983 1985 1987 1989 1991 1993 1995 1997 1999 2001 2003 2005 2007 2009 2011 2013
-1.0
Netto-Exporte = Exporte minus Importe von Waren und Dienstleistungen Durchschnittliche jährliche Wachstumsraten : 1966–1988 (Inlandsnachfrage : +3,5 % ; Netto-Exporte : +0,1 % ; BIP, real : +3,6 %) 1989–2012 (+2,0 % ; +0,4 % ; +2,4 %) Abbildung 7 : »Mini«-Globalisierung nach Ostöffnung und EU-Beitritt (Beiträge zum BIP-Wachstum real in Prozentpunkten); Quelle : Eigene Berechnungen mit Daten der AMECO-Datenbank (Europäische Kommission)
80
Fritz Breuss
Den Beitrag, den die Zunahme des Außenhandels seit der Ostöffnung und seit der EU-Erweiterung geleistet hat, kann man durch den Wachstumsbeitrag der NettoExporte ermitteln. Er gibt an, um wie viel Prozentpunkte die Netto-Exporte zum BIP-Wachstum beigetragen haben. Wie Abbildung 7 zeigt, war der positive Wachstumsbeitrag der Netto-Exporte zum österreichischen BIP-Wachstum vor der Ostöffnung bescheiden. Er hat sich aber seit 1989 – und vor allem seit dem EU-Beitritt 1995 – mit +0,4 Prozentpunkten vervierfacht (siehe Abbildung 7). 5. Die Kehrseite der Globalisierung Österreich hat sicherlich gesamtwirtschaftlich von der Ostöffnung stark profitiert. Dennoch sieht die Bevölkerung die Ostöffnung – sowie die weiteren Bestrebungen der EU zur Erweiterung – zunehmend skeptisch. Ein Grund könnte – neben der immer latent vorhandenen Ausländerfeindlichkeit – die Angst um den Arbeitsplatz18 sein, ein anderer könnte mit dem Druck auf die Löhne verbunden sein. a) Der Druck auf die Löhne Tatsächlich hat sich im Zuge der zunehmenden Beteiligung Österreichs am Globalisierungsprozess die Einkommensverteilung stark zuungunsten der Lohneinkommensbezieher verschlechtert. Das drückt sich zum einen in einem Sinken der Lohnquote (gemessen an der bereinigten Lohnquote = [Pro-Kopf-Lohn] / [BIP, nominell pro Beschäftigtem]) aus (siehe Abbildung 8), zum anderen in der langsameren Entwicklung der Pro-Kopf-Löhne im Vergleich zum realen BIP-Wachstum (siehe Abbildung 9 und Tabelle 4).
18 Im Special Eurobarometer 251, »The Future of Europe« (vgl. Eurobarometer, The Future of Europe, Special Eurobarometer 251, Brussels, May 2006, S. 56), findet man die Antwort. Auf die Frage, ob zukünftige Erweiterungen die Probleme auf den nationalen Arbeitsmärkten erhöhen würden, antworteten die Österreicher und Österreicherinnen zu 75 % mit Ja, die Deutschen sogar zu 80 % mit Ja. Im EU-Durchschnitt betrugen die Jastimmen nur 63 %. In der jüngsten Befragung der Österreichischen Gesellschaft für Europapolitik (vgl. Österreichische Gesellschaft für Europapolitik [ÖGfE] : Würden Sie einen EU-Beitritt von … begrüßen, ablehnen oder ist es Ihnen egal ?, Wien 2012) wird einer EU-Erweiterung von der österreichischen Bevölkerung eine klare Absage erteilt. Die Aufnahme weiterer Balkanstaaten (Albanien 68 %, Bosnien und Herzegowina 58 %, Mazedonien [FYROM] und Montenegro 55 %, Serbien 61 %, Kosovo 68 %), aber auch der Türkei (65 %), wird zu mehr als 50 % abgelehnt. Nur Island (33 % Befürworter, 37 % Gegner) wäre noch relativ erwünscht.
81
Auswirkungen der Ostöffnung 1989 auf Österreichs Wirtschaft 70 Ostöffnung
68
Österreich
66 64 62
USA
60
Westdeutschland
58 56 Deutschland vereinigt
54
2012
2010
2008
2006
2004
2002
2000
1998
1996
1994
1992
1990
1988
1986
1984
1982
1980
1978
1976
1974
1972
1970
1968
1966
1964
1962
50
1960
52
Abbildung 8 : Die Kehrseite der Globalisierung – Sinkende Lohnquoten (bereinigte Lohnquoten in %) Bereinigte Lohnquote = (Pro-Kopf-Lohn) / (BIP, nominell pro Beschäftigtem) Quelle : Eigene Berechnungen mit Daten der AMECO-Datenbank (Europäische Kommission)
Zum einen gilt es zu erklären, warum die Lohnquote seit den 1970er-Jahren in fast allen Industriestaaten relativ stark gesunken ist, zum anderen, warum die Lohnquote in Österreich stärker sinkt als in anderen Industriestaaten (siehe Abbildung 8). Laut Breuss19 ist dafür vor allem die zunehmende Globalisierung verantwortlich und im Falle Österreichs das hohe Engagement in Osteuropa : • Globalisierung : Ein Anstieg der Nettoexporte um 1 % des BIP führt in den Industriestaaten zu einer um 0,3 Prozentpunkte geringeren Lohnquote, in Osteuropa zu einem ebenso großen Anstieg. • »Mini«-Globalisierung (Ostöffnung und EU-Erweiterung) : Wächst der Anteil der Exporte in die neuen EU-Mitgliedstaaten um einen Prozentpunkt, verringert das die Lohnquote in den alten EU-Mitgliedstaaten um 0,1 Prozentpunkte. In den neuen EU-Mitgliedstaaten führt ein vergleichbarer Anstieg der Exporte in die EU-15 zu einer Verringerung der Lohnquote um fast 0,5 Prozentpunkte.
19 Vgl. Breuss, Fritz : Globalization, EU Enlargement and Income Distribution, WIFO Working Papers, Nr. 296, June 2007, publiziert im International Journal of Public Policy (IJPP) 1–2/6 (2010a), S. 16–34.
82
Fritz Breuss
• FDI : Ein Anstieg der Direktinvestitionen des Westens in den Osten (Netto-FDIExporte) um 1 % des BIP drückt die Lohnquote im Westen um 0,1 Punkte, in den neuen EU-Mitgliedstaaten führt die Zunahme der FDI-Importe um 1 % des BIP zu einem Anstieg der Lohnquote um 0,1 Punkte. Da Österreich im Osten am stärksten von allen alten EU-Mitgliedstaaten über Außenhandel und FDI engagiert ist, erklärt dies die großen Einbußen in der Lohnquote (der übrigens in Deutschland ähnlich ist ; siehe Abbildung 8). 8 6 BIP, real 4 2 0 -2
BIP, real pro Kopf Reallöhne pro Beschäftigte
-6
1960 1962 1964 1966 1968 1970 1972 1974 1976 1978 1980 1982 1984 1986 1988 1990 1992 1994 1996 1998 2000 2002 2004 2006 2008 2010 2012 2014
-4
Abbildung 9 : Wer gewinnt, wer verliert ? – Fragen der Einkommensverteilung (jährliche Wachstumsraten in %); Quelle : Eigene Berechnungen mit Daten der AMECO-Datenbank (Europäische Kommission).
Das durchschnittliche jährliche Wachstum der Reallöhne pro Kopf war in den 1960er- und 1970er-Jahren höher bzw. gleich hoch wie jenes des realen BIP pro Kopf. Seit Anfang der 1980er-Jahre und besonders seit der Ostöffnung 1989 sind die Reallöhne pro Kopf um 0,8 Prozentpunkte pro Jahr langsamer gewachsen als das reale BIP pro Kopf (siehe Abbildung 9 und Tabelle 4).
83
Auswirkungen der Ostöffnung 1989 auf Österreichs Wirtschaft
Reallöhne pro Beschäftigtem BIP, real pro Kopf BIP, real
1961–1970 4,9
1971–1980 3,7
1981–1990 1,6
1991–2000 1,4
2001–2010 0,5
1989–2013 0,9
4,1
3,5
2,1
2,3
1,1
1,7
4,7
3,6
2,3
2,7
1,5
2,2
Tabelle 4 : Reallöhne pro Beschäftigtem, BIP, real pro Kopf, und BIP, real (durchschnittliche jährliche Wachstumsraten in %); Quelle : Eigene Berechnungen mit Daten der AMECO-Datenbank (Herbstprognose 2012 der Europäischen Kommission)
Im Vergleich dazu die Werte einiger Nicht-EU-Staaten : Norwegen : 193, Schweiz : 157, USA : 149, Island : 113, Japan : 107, Kroatien (EU-Mitglied 2013) : 59, Türkei : 56, Montenegro : 42, Serbien : 34, Mazedonien FYR : 37. 270
269
250 230 210 190 170 150
130 130 129 128 126 122 118 115
130 110
109 107
98 97
90
109 108 90 85 83 80
75 75 75
70
69 69 67 65 62 50 46
50 30
EU-15
EUR-17
Bulgarien
Lettland
Rumänien
Polen
Ungarn
Estland
Litauen
Griechenland
Portugal
Slowakei
Tschechien
Malta
Slowenien
Zypern
Italien
Spanien
Frankreich
Großbritannien
Belgien
Finnland
Dänemark
Deutschland
Irland
Schweden
Österreich
Luxemburg
Niederlande
10 -10
Abbildung 10 : Entwicklungsniveaus der erweiterten EU – eine Union von Arm und Reich (BIP pro Kopf zu Kaufkraftstandards, KKS ; EU-27 = 100) : 2012; Quelle : AMECO-Datenbank (Europäische Kommission)
Parallel zum beachtlichen Gefälle im Einkommensniveau pro Kopf (siehe Abbildung 10) zwischen den alten und neuen EU-Mitgliedstaaten, gibt es auch große Unterschiede in den Arbeitskosten. Die Arbeitskosten in der Sachgütererzeugung betrugen 2011 in Ländern, die 2007 der EU beigetreten sind, gerade einmal 9 % (Bulgarien) bzw. 11 % (Rumänien) des Niveaus in Österreich. In Slowenien, das das höchste Entwicklungsniveau der neuen EU-Mitgliedstaaten aufweist, betrugen die
84
Fritz Breuss
Arbeitskosten immerhin auch nur 43 % der Arbeitskosten in Österreich. In Euro ausgedrückt, kostete die Arbeitsstunde in der Industrie in Bulgarien 2,80 Euro, in Slowenien 13,70 Euro und in Österreich 31,90 Euro.20 Wolfgang Pointner kommt in seiner Studie21 zu den Verteilungseffekten des österreichischen Außenhandels auf die Löhne in der Industrie anhand der Analyse von Firmendaten des European Structure of Earnings Survey (ESES) für 1996–2002 zu folgenden Ergebnissen : • Importe aus Niedriglohnländern (z. B. Osteuropa) hatten einen dämpfenden Effekt auf das Niveau der Industrielöhne in Österreich. • Exporte in die Hochlohnländer hatten einen dämpfenden Effekt auf das Wachstum der Industrielöhne. Dies wird vom Autor als Evidenz für die »Basarökonomie«Hypothese (Hans-Werner Sinn) interpretiert. Das heißt : Der Anstieg des Importgehalts von Exporten reduziert den heimischen Wertschöpfungsanteil, der durch Exporte generiert wird. • Die Änderung der Lohnverteilung (innerhalb der Lohndezile) zwischen 1996 und 2002 fiel leicht zugunsten der Hochqualifizierten aus. Aber der Autor findet keine Bestätigung für einen Anstieg der ungleichen Lohnverteilung durch die internationale Arbeitsteilung. b) Die Angst um den Arbeitsplatz Die zunehmende Beteiligung Österreichs an der Globalisierung, insbesondere an der »Mini«-Globalisierung seit der Ostöffnung, hat zum einen Arbeitsplätze geschaffen, zum anderen Arbeitsplätze ins Ausland verlagert. Die Zunahme der Produktion für den steigenden Export schuf Arbeitsplätze in Österreich, die Internationalisierung der Produktion via FDI hat Arbeitsplätze im Ausland (möglicherweise auf Kosten der Beschäftigung im Inland) geschaffen. Laut Statistiken der Oesterreichischen Nationalbank ist der Anteil der Beschäftigung in ausländischen Töchtern österreichischer Firmen relativ zur Gesamtbeschäftigung in Österreich stark angestiegen : insgesamt von einem Anteil von rund 2 % im Jahr 1990 auf über 20 % im Jahr 2010 (siehe Abbildung 11)22. Die Dynamik der durch FDI im Ausland geschaffenen Arbeitsplätze geht vor allem auf die Direktinvestitionstätigkeit österreichischer Firmen in Osteuropa zurück. 20 Vgl. Leoni, Thomas : Lohnstückkosten in der Warenherstellung 2011 rückläufig, in : WIFO-Monatsberichte 9/2012, S. 723–736, hier S. 735. 21 Vgl. Pointner, Wolfgang : The Distributional Effects of Trade on Austrian Wages, Focus on European Economic Integration, OeNB, Q1/2009, S. 36–56. 22 Vgl. Keppel, C./Sieber, S. 2008, S. 147.
85
Auswirkungen der Ostöffnung 1989 auf Österreichs Wirtschaft
Insgesamt
20.0
Europa
18.0 16.0
MOEL-29
14.0 EU-27
12.0 10.0 8.0 6.0
Euroraum-17
4.0 2.0
EU-15
ROW
0.0
Abbildung 11 : Beschäftigung in ausländischen Töchtern österreichischer Firmen wächst (Anteil der Beschäftigten bei österreichischen Direktinvestitionsunternehmen im Ausland in % der unselbstständig Beschäftigten in Österreich); Quelle : OeNB
Die Teilnahme an der Globalisierung kann verschiedene Formen annehmen. Sie führt auf jeden Fall zu einer Fragmentierung der Wertschöpfung, die man auch als Outsourcing via FDI bezeichnen kann. In einer frühen Studie von Rene Dell’mour, Peter Egger, Klaus Gugler, Michael Pfaffermayr und Yvonne Wolfmayr-Schnitzer23 wurden die Effekte der Fragmentierung der Wertschöpfung (Outsourcing = importierte Zwischenprodukte) via FDI in Osteuropa auf die Produktivität und den Arbeitsmarkt (Beschäftigte, Löhne) in Österreich in der Periode 1990–1998 untersucht. Sie kommen zu folgenden Ergebnissen : • Es gibt keine signifikante Korrelation zwischen inländischen Beschäftigten und solchen von österreichischen Firmen im Ausland. • Der Anstieg der Exporte (bzw. auch des Outsourcings) führt in Österreich zu 23 Vgl. Dell’mour, Rene/Egger, Peter/Gugler, Klaus/Pfaffermayr, Michael/Wolfmayr-Schnitzer, Yvonne : Outsourcing of Austrian Manufacturing to Eastern Countries : Effects on Productivity and the Labor Market, in : Arnd, Sven/Handler, Heinz/Salvatore, Dominick (Hg.) : Eastern Enlargement – The Sooner, the Better ? European Academy of Excellence, Conference held in Vienna, 16 and 17 June 2000, Wien 2000, S. 249–296.
86
• • • •
Fritz Breuss
einem stärkeren Anstieg von hoch qualifizierten Arbeitskräften relativ zu den weniger qualifizierten. Der Anstieg der Importe führt zu gegenteiligen relativen Beschäftigungseffekten in Österreich. Der gesamte Arbeitsmarkteffekt von Outsourcing ist aber insgesamt gering. Outsourcing führt zu einer Steigerung der gesamten Faktorproduktivität in Österreich. Höhere Lohnflexibilität in Österreich kann mögliche Beschäftigungsverluste im Inland durch Outsourcing verhindern.
In einer aktuelleren Studie untersuchen Martin Falk und Yvonne Wolfmayr24 die Frage, ob Auslandsaktivitäten österreichischer Firmen (via FDI) in der Welt bzw. in Osteuropa zu einer Reduktion der Beschäftigten in den Mutterfirmen führen. Sie untersuchen also die Substitutionsbeziehung zwischen Beschäftigung von FirmenMüttern und ihren Töchtern. Anhand von AMADEUS-Daten (34.000 Firmen in 14 EU-Mitgliedstaaten) in der Periode 2000–2004. Sie erhalten folgende Ergebnisse : • Das Substitutionsverhältnis zwischen den Beschäftigten der Mutterunternehmen und ihren Töchtern in den EU-14-Ländern ist stärker als zwischen Müttern und Töchtern in Osteuropa. • Die Substitutionselastizität in der Gesamtwirtschaft insgesamt und in den WestWest-Beziehungen beträgt -0,3, für die West-Ost-Beziehungen -0,07. Im Industriebereich ist sie höher (-0,45 insgesamt, West-Ost-Verhältnis -0,28) als im Nicht-Industriebereich (-0,27 insgesamt und im West-West-Verhältnis, im WestOst-Verhältnis +0,03). Wolfgang Koller und Robert Stehrer25 untersuchen mittels Input-Output-Analyse die Beschäftigungseffekte von Outsourcing und Internationalisierung über Außenhandel in der Periode 1995–2003. Die Verlagerung der Produktion (Outsourcing) führte demnach zu Beschäftigungsverlusten, die zunehmenden Exporte zu Beschäftigungsgewinnen. Zwischen 1995 und 2000 wurden durch die Internationalisierung in Österreich insgesamt pro Jahr 7.489 Arbeitsplätze geschaffen (durch Outsourcing bzw. Importe gingen 8.913 bzw. 7.780 verloren, durch Exporte konnten 24.182 gewonnen werden). In der Periode 2000–2003 wurden insgesamt pro Jahr 4.309 Arbeitsplätze in Österreich geschaffen (Outsourcing –4.701, Importe +3.772, Exporte +5.238). 24 Vgl. Falk, Martin/Wolfmayr, Yvonne : The Impact of Outward FDI in Central and Eastern Europe on Employment in the EU-15 Countries, FIW Research Report 16, Juni 2008. 25 Vgl. Koller, Wolfgang/Stehrer, Robert : Outsourcing and Employment : A Decomposition Approach, FIW Research Report 18, Juni 2008.
Auswirkungen der Ostöffnung 1989 auf Österreichs Wirtschaft
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Während die meisten Studien die Internationalisierung der österreichischen Wirtschaft bzw. die zunehmende Teilnahme an der Globalisierung auf die Volkswirtschaft insgesamt (BIP und Beschäftigung) positiv einschätzen, sieht dies Özlem Onaran26 in einem eher düsteren Licht. Sie findet, dass das Ostengagement der österreichischen Wirtschaft netto Arbeitsplätze gekostet hat. Bezüglich der Effekte auf Lohnquote und Reallöhne sind ihre Ergebnisse widersprüchlich. Sie untersucht die Effekte der Globalisierung via Außenhandel (Exporte/Importe 1990–2005) bzw. FDI (1996– 2005) auf Löhne, Beschäftigung und die Lohnquote in Österreich und kommt zu folgenden Ergebnissen : • Beschäftigungseffekte (1990–2005) : Durch die FDI-Aktivitäten österreichischer Firmen im Ausland wurden in der Gesamtwirtschaft im Inland 123.179 (in der Industrie 48.145) Arbeitsplätze vernichtet. Die Importe haben 53.262 Arbeitsplätze gekostet. Durch den Außenhandel (Netto-Exporte) wurden 60.507 Arbeitsplätze geschaffen. • Der Beschäftigungsverlust betrug in Österreich durch FDI und Außenhandel zwischen 1990 und 2005 pro Jahr insgesamt 9.650, das Engagement in Osteuropa 13.686 Arbeitsplätze. • Effekte auf die Reallöhne : Die FDI-Aktivitäten hatten einen neutralen Einfluss. Durch den Außenhandel (Netto-Exporte) stiegen sogar die Reallöhne in der Gesamtwirtschaft um 14 % ! • Effekte auf die Lohnquote : Die FDI-Aktivitäten haben die Lohnquote in der Gesamtwirtschaft um einen Prozentpunkt (in der Industrie um 18 %) gedrückt. Der zunehmende Außenhandel (Netto-Exporte) führte dagegen zu einem Anstieg der Lohnquote um 18 Prozentpunkte (in der Industrie sogar um 19 Prozentpunkte) ! 6. Das »Ostengagement« österreichischer Banken – Vorteile und Risiken27 a) Direktinvestitionen Die Unternehmen des österreichischen Finanzsektors (Banken und Versicherungen), vor allem die Banken, haben die Chancen der Ostöffnung nach 1989 rasch und massiv zur Ausweitung ihrer Geschäftstätigkeit genutzt. Der in der Planwirtschaft brachliegende Bankensektor wurde vor allem von österreichischen Banken als neue Stand-
26 Vgl. Onaran, Özlem : The Effects of Globalization on Employment, Wages and the Wage Share in Austria, Study commissioned by the Chamber of Labour of Vienna, March 2008 ; Zusammenfassung der Ergebnisse : http://wien.arbeiterkammer.at/pictures/d50/MuG_100.pdf (online am 19. Dezember 2012). 27 Dieses Kapitel stützt sich auf die Analyse in Breuss, Fritz : EU-Mitgliedschaft Österreichs – Eine Evaluierung in Zeiten der Krise, in : WIFO-Studie, Oktober 2012, S. 37–39.
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Fritz Breuss
ortchance (»window of opportunity«) gesehen. Relativ rasch haben österreichische Banken nach 1989 Schritt für Schritt osteuropäische Banken aufgekauft bzw. neue Filialen errichtet. Von den gesamten Beständen an Direktinvestitionen im Ausland betrug jener des Sektors »Finanz- und Versicherungswesen« (laut aktueller OeNBStatistik über Direktinvestitionen) 62.992 Mio. EUR, das waren 40,9 % aller FDIBestände (Gesamtkapital zu Markpreisen) österreichischer Unternehmen im Ausland (154.017 Mio. EUR). Gegenüber 1996 (letzte vollständige Erhebung) stieg der FDIBestand des Sektors »Finanz- und Versicherungswesens« um 59.711 Mio. EUR bzw. sein Anteil um 9,3 Prozentpunkte am gesamten aktiven FDI-Bestand österreichischer Unternehmer. b) Beschäftigung Ein ähnliches Bild zeigt die Entwicklung der Beschäftigten bei österreichischen Direktinvestitionsunternehmen im Ausland. Auch hier dominiert der Sektor »Finanzund Versicherungswesen« mit einem Anteil von 24,5 % (vor dem Sektor »Handel« mit 20,9 %) die Beschäftigungsentwicklung im Ausland durch aktive FDI. 2010 beschäftigte der Sektor »Finanz- und Versicherungswesens« 175.972 Menschen. Die Unternehmer aller österreichischen Wirtschaftssektoren beschäftigten 2010 im Ausland 718.104 Personen (oder 21,4 % der unselbstständig Beschäftigten in Österreich). Auch der Zuwachs um 162.997 Beschäftigte (Zuwachs des Anteils um 14,9 Prozentpunkte) seit 1996 ist im Sektor »Finanz- und Versicherungswesen« beachtlich. c) Wertschöpfung Die starke Ausdehnung der Produktionsstandorte österreichischer Unternehmen in die neuen »emerging markets« in Osteuropa, die man als »Mini«-Globalisierung bezeichnen kann, hat zweifellos Wertschöpfung und Arbeitsplätze im Ausland geschaffen. Die »Mini«-Globalisierung hat aber auch zum Erhalt und zur Stärkung des Standorts Österreich beigetragen. Eine sektorale Analyse der Wachstumsbeiträge der Sektoren der österreichischen Wirtschaft zeigt, dass der Sektor »Kredit- und Versicherungswesen« seit 1995 (EU-Beitritt Österreichs) im Vergleich mit der Periode zuvor mit +0,14 Prozentpunkten pro Jahr am meisten aller Wirtschaftssektoren zum BIP-Wachstum beigetragen hat. d) Osteuropa-Exponierung Die österreichischen Banken sind in Osteuropa sehr stark engagiert. Das »OstExposure« (d. h. die Auslandsforderungen Österreichs) beträgt derzeit (laut BISErhebungen) 254 Mrd. USD oder rund 85 % des österreichischen BIP. Insgesamt
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erreicht das Ostengagement österreichischer Banken 20,6 % aller Auslandsforderungen. Österreichs Banken sind am stärksten in der näheren Nachbarschaft (Ungarn, Polen, Slowenien, Slowakei und in den Balkanstaaten) präsent. Sie halten in diesen Ländern auch die höchsten Marktanteile. Aus diesem starken Ostengagement in den »emerging markets« erwirtschafteten die österreichischen Banken in den letzten Jahren (bis zur »Großen Rezession« 2009) jeweils die höchsten Gewinnzuwächse und sicherten somit auch den inländischen Standort. e) Risiken Die globale Finanz- und Wirtschaftskrise (GFC) 2008/09 hat aber auch die negativen Seiten des Ostengagements aufgezeigt. Da manche osteuropäischen Länder in arge Bedrängnis gerieten, kam es zu Kreditausfällen. Zum Teil wurden auch die stark gepushten Fremdwährungskredite (in CHF und EUR) infolge der ungünstigen Wechselkursentwicklung zu Problemfeldern. Nicht zuletzt Aussagen prominenter US-Ökonomen wie Paul Krugman (April 2009) prophezeiten Österreich ein ähnliches Schicksal wie Island. Insbesondere wegen des hohen Osteuropa-Exposures österreichischer Banken könne Österreich die Staatspleite drohen, ähnlich wie Island und Irland. Die Folge war ein Anstieg der Spreads für österreichische Staatsanleihen. Um eine Panik der österreichischen Banken (Abzug aus Osteuropa, Aufgabe des Ostengagements mit der Folge eines »Sudden-Stop-Phänomens«) und einen Abzug des Kapitals zu verhindern, wurde die »Vienna Initiative« ins Leben gerufen. f) Vienna Initiative Die »Vienna Initiative« (VI) wurde im Jänner 2009 von mehreren Institutionen mit Interesse an der Stabilisierung Osteuropas ins Leben gerufen.28 Unter der Führung der EBRD nahmen an dieser kooperativen Initiative teil : IMF, EIB, Weltbank, Europäische Kommission, EZB (Beobachter), Finanzministerien im Westen und Osten und die großen Bankengruppen, die in Osteuropa aktiv waren. Ziele der VI waren : • Vermeidung eines unkontrollierten Abzugs wichtiger Bankgruppen aus Osteuropa (dies hätte eine veritable Bankenkrise in den MOEL verursacht). • Sicherstellen, dass die Mutterbanken sich öffentlich verpflichten, ihre Exposures im Osten zu halten und ihre Filialen zu rekapitalisieren als Teil des umfangreichen Zahlungsbilanz-Stützungsprogramms von IMF und EU (z. B. in Bosnien und Herzegowina, Ungarn, Lettland, Rumänien und Serbien). 28 Vgl. European Bank for Reconstruction and Development (EBRD) : Vienna Initiative – moving to a new phase, London 2012a.
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Fritz Breuss
• Sicherstellen, dass nationale Bankenrettungsprogramme auch den Filialen in Osteuropa zugutekommen. • Übereinstimmung über die Grundprinzipien des Krisenmanagements und der Krisenlösung in Osteuropa. Empfängerländer sind für die geeigneten Makropolitiken zuständig, die Bankengruppen und deren Heimatländer unterstützen die Filialen mit Mitteln zur Wechselkursstabilisierung und Rekapitalisierung. • Verstärkte grenzüberschreitende Kooperation und Informationsaustausch. Die »Vienna Initiative« erlebte im Jahr 2012 eine Neuauflage mit der »Vienna Initiative 2«29. Im Rahmen der »VI-II« werden die non-performing loans (NPL) gemeinsam mit den Partnern unter die Lupe genommen und kontrolliert. So erfolgreich und stabilisierend die VI auch war, sie konnte nicht verhindern, dass die Ratingagentur Standard & Poor’s Österreich im Jänner 2012 – hauptsächlich wegen der Osteuroparisiken der österreichischen Banken – von AAA auf AA+ herabstufte. Das hatte aber auf die Spreads österreichischer Staatsanleihen keinen negativen Einfluss. g) Österreichs Banken stabilisieren Osttöchter und werfen immer noch hohe Renditen ab Im Finanzstabilitätsbericht der Oesterreichischen Nationalbank30 werden die Risiken des Ostengagements der österreichischen Banken vorsichtig beurteilt. Gleichzeitig wird für den Fall Österreich der Erfolg der »Vienna Initiative« nachgezeichnet. Die Wichtigkeit der grenzüberschreitenden Kreditvergabe österreichischer Banken für die Volkswirtschaften der CESEE-Region (Zentral-, Ost- und Südeuropa) geht aus den Daten der OeNB (2008–2011) hervor. Gemessen an den jeweiligen Auslandsschulden erreichte die Vergabe von Direktkrediten österreichischer Banken in Kroatien 39 %, in Slowenien 27 %, in Rumänien 21 %, in Tschechien 14 %, in Ungarn und der Slowakei jeweils 12 % und in Bulgarien 11 %. Gemessen am BIP machte der Anteil der Direktkredite österreichischer Banken in Kroatien und Slowenien mehr als 30 % aus. Für Ungarn, Rumänien und Bulgarien lagen die Werte zwischen 10 % und 16 %. Im Durchschnitt der Jahre 2008 bis 2011 wiesen Österreichs Institute gegenüber Kreditnehmern in CESEE-Ländern ein in Anspruch genommenes Kreditvolumen von 113 Mrd. EUR aus – mit einem Spitzenwert von 123 Mrd. EUR im III. Quartal 2008. Der Anteil der Fremdwährungskredite an den Krediten an 29 Ebd.; European Bank for Reconstruction and Development (EBRD) : European Banking Coordination »Vienna Inititative«, Working Group on NPLs in Central, Eastern and Southeastern Europe, EBRD, EIB, World Bank, IMF, ECB, European Commission, 2012b. 30 Vgl. Oesterreichische Nationalbank : Finanzstabilitätsbericht 23, Wien Juni 2012a ; Oesterreichische Nationalbank : Finanzstabilitätsbericht 24, Wien, Juni 2012b.
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private Haushalte war Ende 2011 in Ungarn, Rumänien, der Ukraine und Kroatien mit 65 % bis 77 % weiterhin auf gefährlich hohem Niveau. Ungarn hat mit einem Gesetz zu Fremdwährungskrediten im September 2011 durch eine spezielle Regelung (Rückzahlungsoption von Fremdwährungskrediten zu einem fixen Wechselkurs [180 Forint je Schweizer Franken und 2.050 Forint je Euro]), der günstiger als der Marktwechselkurs ist, für österreichische Tochterbanken erhebliche Verluste verursacht. Das Fremdwährungsgesetz und die hohen Bankensteuern verursachten z. B. der Erste Group in Ungarn Verluste von 567 Mio. EUR, im 1. Halbjahr 2012 weitere 72,7 Mrd. EUR.31 2011 lag die Gesamtkapitalrentabilität nach Steuern (RoA) der CESEE-Tochterbanken mit 0,7 % über jener des österreichischen Heimatmarktes. Gleiches galt für die Eigenkapitalrentabilität nach Steuern (RoE) : Sie lag in den CESEE-Ländern bei 6,1 % und in Österreich nur bei 1,6 %.32 Die Exponierung österreichischer Banken in der CESEE-Region belief sich Ende 2011 auf rund 216 Mrd. EUR. Der Großteil betraf die neuen EU-Mitgliedsländer des Jahres 2004. Allerdings ist das Ausfallsrisiko aus politischen Gründen wieder gestiegen.33 Für neue Befürchtungen hinsichtlich einer möglichen Kürzung der konzerninternen Liquiditätsversorgung sorgte Ende 2011 die Auflage der OeNB, dass die Auslandstöchter die Kreditexpansion weitgehend über lokale Kundeneinlagen refinanzieren müssten. Der Beobachtungszeitraum ist noch zu kurz, um die Auswirkungen beurteilen zu können.
IV. Charakteristika der österreichischen Wirtschaftsentwicklung seit der Ostöffnung Die Ostöffnung hat – wie bereits erwähnt – die Produktions- und Internationalisierungsmöglichkeiten der österreichischen Volkswirtschaft vergrößert. Eine Ausdehnung des Produktionspotenzials führte zu höherem Output, mehr Beschäftigung und insgesamt mehr Einkommen – ob auch zu mehr Wohlfahrt, ist eine offene Frage. Von der Ostöffnung haben vor allem die bereits im Außenhandel engagierten Firmen profitiert, sie hat aber auch jenen, die bisher vorwiegend für den inländischen Markt produzierten, vor allem den KMUs, den Sprung ins Ausland erleichtert. Die Ausschöpfung der neuen Nachfrage in Osteuropa hat Österreichs Handels- und 31 Vgl. Ungarn : Erste Group kauft Konkurrenz Private-Banking ab, in : Die Presse online vom 9. August 2012, http://diepresse.com/home/wirtschaft/international/1276950/Ungarn_Erste-Group-kauft-Konkur renz-PrivateBanking-ab (online am 10. Februar 2014). 32 Vgl. Oesterreichische Nationalbank 2012a, S. 40. 33 Vgl. ebd., S. 9.
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Leistungsbilanz, die zuvor chronisch defizitär bzw. höchstens ausgeglichen waren, in Überschüsse verwandelt, was die zunehmende Ausschöpfung der komparativen Vorteile der österreichischen Wirtschaft unterstreicht. Zusätzlich hat die österreichische Wirtschaft, die bisher eher ein Netto-Importeur von Direktinvestitionen war, seit der Ostöffnung immer mehr an der Globalisierung durch die Internationalisierung ihrer Produktion und Dienstleistungen teilgenommen. Plötzlich wurde Österreich zum Netto-Exporteur von FDIs. Im Zuge der stärkeren Teilnahme an der Globalisierung hat sich auch die Wirtschafts- und Außenhandelsstruktur stark gewandelt. 1. Makroperformance Die Ostöffnung hat den alten EU-Mitgliedstaaten, vor allem Österreich, neue Märkte und damit Wirtschaftswachstum gleich zu Beginn beschert. Die Volkswirtschaften der neuen EU-Mitgliedstaaten in Osteuropa erlitten aber zu Beginn der Ostöffnung eine veritable Transformationskrise mit einem Einbruch in der gesamten Wirtschaftsleistung von rund 10 % (siehe Abbildung 12). Für die alten Industriestaaten bedeutet die im Zuge der GFC 2008/09 ausgelöste Wirtschaftskrise eine der tiefsten Rezessionen (»Große Rezession« 2009) seit der großen Depression von 1929. Für die neuen EU-Mitgliedstaaten, die zwar auch in den Taumel der Rezession geraten sind, war die Krise von 2009 aber eher ein Déjà-vu von 1990/91. Die gesamten Wirtschaftsleistung Österreichs seit 1989 (die Makroperformance) kann sich insgesamt durchaus sehen lassen (siehe Tabelle 5). Das jährliche Wirtschaftswachstum betrug – trotz starken Wachstumseinbruchs 2009 – im Durchschnitt 2,3 %. Insofern war die Ostöffnung und EU-Erweiterung ein »Turbo« für das österreichische Wirtschaftswachstum. Verbunden mit dem gestiegenen Wirtschaftswachstum war auch eine Beschleunigung der Beschäftigung, sie stieg von 2,96 Mio. im Jahr 1989 auf 3,62 Mio. im Jahr 2013. Der Anstieg der Export- und FDI-Quoten in Prozent des BIP dokumentiert die zunehmende Globalisierung ebenso wie die schrittweise Verbesserung der Handels- und Leistungsbilanzpositionen. Die positive Entwicklung dieser Indikatoren unterstreicht, dass Österreich seit der Ostöffnung die Chancen im Außenhandel genutzt hat. Auf der Negativseite der zunehmenden Globalisierung muss man die Schieflage der Einkommensverteilung und die leichte Zunahme der Arbeitslosigkeit verbuchen. Die Reallöhne pro Beschäftigtem wuchsen langsamer als das reale BIP pro Kopf, was zu einem Sinken der Lohnquote führte. Auch die realen Nettoeinkommen entwickelten sich durchwegs langsamer als das reale BIP.
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Auswirkungen der Ostöffnung 1989 auf Österreichs Wirtschaft
10 EU-Neue (Ost)
7.0
Welt
5.0 3.0 Österreich
1.0 -1.0
EU-27
-3.0 -5.0 -7.0
-11.0
1989 1990 1991 1992 1993 1994 1995 1996 1997 1998 1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014
-9.0
Abbildung 12 : Wirtschaftswachstum in Ost und West (BIP, real, prozentuale Veränderung gegenüber dem Vorjahr); Quellen : IMF, World Economic Outlook, October 2012 ; Europäische Kommission, Herbstprognose 2012 MOEL-29 : MOEL-10 (zehn neue EU-MS) + GUS + Rest-Südeuropa + Georgien
1989 2013 Absolutgrößen BIP, real (Mrd. EUR, 2005 Preise) BIP pro Kopf, real (1.000 EUR, 2005 Preise) Reallöhne pro Beschäftigtem Lohnquote, bereinigt (in % BIP) *) Inflationsrate (HVPI) Erwerbstätige (1.000) Unselbständig Beschäftigte (1.000) Arbeitslosenquote (1.000) *) Exportquote, Güter & Dienste, gesamt (in % BIP) *) Exportquote Güter, gesamt (in % BIP) *) Exportquote, Güter, MOEL-29 (in % BIP) *) Leistungsbilanz (in % BIP) FDI, Bestand aktiv gesamt (Mrd. EUR)*) FDI, Bestand aktiv MOEL-29 (Mrd. EUR)*)
165,9 21,8
278,0 32,8
61,7
57,6
3473,4 2962,6 373,2 36,4 24,6 4,8 0,2 3,7 0,4
4173,2 3622,8 556,3 60,4 45,4 8,7 1,4 224,7 71,3
1989–2013 %-Veränd. pro Jahr 2,3 1,8 1,0 -2,2 2,1 0,8 0,9 0,3 24,0 20,8 6,3 1,2 72,0 23,4
*) Differenz zwischen und 2013 in %-Punkten oder %-Punkten *) Differenz zwischen 1989 1989 und 2013 in %-Punkten oder %-Punkte des des BIPBIP Tabelle 5 : Makroökonomische Performance seit der Ostöffnung; Quellen : AMECO-Datenbank der Europäischen Kommission (Herbstprognose 2012), OeNB, FIW, WIFO
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Einem Anstieg des BIP, der Beschäftigung sowie der Gewinne der Unternehmen stehen Lohneinbußen der unselbstständig Beschäftigten gegenüber. Die Ostöffnung war daher für die österreichische Volkswirtschaft insgesamt ein großer Erfolg, nicht aber für alle Beteiligten. Eine Wohlstandsbewertung hängt davon ab, wie man Wohlstand definiert. Misst man sie am verfügbaren Bündel an Gütern, die die privaten Haushalte konsumieren können, so kommt man – weil die Konsumausgaben der privaten Haushalte langsamer wuchsen als das reale BIP – zu dem Schluss, dass die Wohlfahrt der Konsumenten zwar zugenommen hat, aber nur unterproportional gestiegen ist. Das ergibt sich auch aus dem Zurückbleiben der Entwicklung der realen verfügbaren Einkommen im Vergleich zur Entwicklung des realen BIP. Ob durch die Ostöffnung die Produktvielfalt gestiegen ist, ist schwer zu beurteilen ; da die von dort stammenden Produkte jedoch meist qualitativ nicht besser sind als jene von den reichen Industriestaaten des Westens, muss die Antwort eher negativ ausfallen. 2. Strukturwandel in Produktion und Außenhandel Durch die starke Ausweitung des Außenhandels mit Osteuropa könnte man erwarten, dass sich sowohl die Wirtschaftsstruktur als auch jene des Außenhandels stark verändert hat. a) Wandel in der Wertschöpfung Unterteilt man die Entwicklung der sektoralen Wertschöpfung in Österreich seit 1976 in zwei Perioden, eine vor und eine nach der Ostöffnung, so zeigt sich folgendes Bild (siehe Tabelle 6): • Über die gesamte Periode 1976–2008 weist Österreich das Standardmuster der sektoralen Veränderung einer sich entwickelnden Volkswirtschaft auf : Der Primärsektor (stark die Landwirtschaft) und auch der Sekundärsektor (besonders der Bergbau und die Sachgüterproduktion, die Industrie) schrumpfen, der Tertiärsektor (Dienstleistungen) gewinnt zunehmend an Bedeutung. • Innerhalb des Tertiärsektors haben in Österreich vor allem das Realitätenwesen (Grundstücks- und Wohnungswesen) und die unternehmensbezogenen (sonstigen wirtschaftlichen) Dienstleistungen stark zugenommen. Interessanterweise ist das Banken- und Versicherungswesen kaum stärker geworden, ebenso wenig die Dienstleistungen des Staates (öffentliche Verwaltung). • Der Trend des Strukturwandels in Österreich liegt voll auf der Linie der traditionellen »Dreisektoren-Hypothese« und lässt keine Besonderheiten seit der Ostöffnung erkennen.
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Auswirkungen der Ostöffnung 1989 auf Österreichs Wirtschaft
Nr. I
II
III
Sektoren 1 Land- und Forstwirtschaft, Fischerei Primärsektor: 1 2 Bergbau und Herstellung von Waren (Sachgütererzeugung) 3 Energie-, Wasserversorgung, Abfallentsorgung 4 Bau Sekundärsektor: 2+3+4 5 Handel 6 Verkehr 7 Beherbergung und Gastronomie 8 Informatik u. Kommunikation 9 Finanz- und Versicherungswesen 10 Grundstücks- und Wohnungswesen 11 Sonstige wirtschaftl. Dienstleistungen 12 Öffentliche Verwaltung 13 Erziehung und Unterricht, Gesundheits- und Sozialwesen 14 Sonstige Dienstleistungen Tertiärsektor: 5 bis 14
1976–1988 4,4 4,4 23,9
1989–2011 2,2 2,2 20,0
Veränderung -2,3 -2,3 -3,9
3,7
3,5
0,2
7,9 35,5 14,3 5,6 3,8 2,6 5,5 5,5 3,5 6,0 10,8
7,5 31,0 13,2 5,3 4,3 3,4 5,6 8,3 6,9 6,2 11,2
-0,4 -4,4 -1,2 -0,3 +0,4 +0,7 +0,1 +2,8 +3,4 +0,2 +0,4
2,5 60,1
2,7 66,9
+0,3 6,7
Tabelle 6 : Strukturwandel der österreichischen Wirtschaft : 1976–2011 (Anteile der Sektoren an der BruttoWertschöpfung zu Herstellungspreisen in %); Quelle : Statistik Austria : Volkswirtschaftliche Gesamtrechnungen
b) Versteinerung der Warenstruktur im Export durch den Osthandel ? Die Zunahme der Handelsdynamik mit den Transformationsländern in Osteuropa hat zwar zu einer Ausschöpfung der komparativen Vorteile Österreichs insgesamt geführt. Sichtbares Ergebnis dieser Entwicklung ist die Verbesserung der Handelsbilanzposition Österreichs im Handel mit den MOEL (siehe Abbildung 3). Da es sich bei den neuen Mitgliedstaaten in Osteuropa aber durchwegs nicht um besonders konkurrenzfähige Länder handelt, hatte Österreich zunächst leichtes Spiel mit seinen hochwertigen Industrieprodukten. Mit zunehmendem Fortschreiten des Transformationsprozesses in den MOEL haben sich die relativen Vorteile Österreichs verringert.34 Allerdings hat die leichte Markteroberung in Osteuropa auch eher zu einer Versteinerung der alten Exportgüterstruktur geführt (siehe Tabelle 7).
34 Vgl. Wolfmayr, Yvonne : Österreichs Außenhandel mit den EU-Beitrittsländern, in : WIFO-Monatsberichte 4/77 (2004), S. 231–249.
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Fritz Breuss
12.0 10.0
93.0
Ostöffnung Industriewaren
89.0 Roh- und Brennstoffe
88.0 87.0 86.0
4.0 Agrarwaren 2.0
91.0 90.0
8.0 6.0
92.0
85.0 84.0 83.0
0.0
82.0
Abbildung 13 : Warengrobstruktur der österreichischen Exporte 1975–2008 (Anteile in % der Gesamtexporte) Agrarwaren (linke Skala) = 0 + 1 + 4 ; Roh- und Brennstoffe (linke Skala) = 2 + 3 ; Industriewaren (rechte Skala) = 5–9 (SITC-Einsteller); Quellen : FIW und WIFO
Interessanterweise hat sich der Trend zum Export hochwertiger Industriewaren, der Mitte der 1970er-Jahre einsetzte, Anfang der 1990er-Jahre verlangsamt bzw. sogar zu einem Rückgang des Anteils von Industriewaren an den Gesamtexporten geführt (siehe Abbildung 13 und Tabelle 7). Demgegenüber ist der Anteil der Agrarwaren im selben Zeitraum gestiegen. Der Rückgang des Anteils von Roh- und Brennstoffen kam seit der EU-Erweiterung 2004 zum Stillstand. Dieser eigenartige Strukturwandel hängt aber nicht nur mit der Bearbeitung der »leichten« Märkte in Osteuropa zusammen, sondern auch mit den geänderten handelspolitischen Bedingungen durch den EU-Beitritt Österreichs 1995. Durch den Eintritt in die Gemeinsame Handelspolitik und Zollunion der EU konnte Österreich seine Chancen im Export von Agrarprodukten stärker wahrnehmen als zuvor, als es von der Gemeinsamen Agrarpolitik (GAP) ausgeschlossen war. Auf der anderen Seite wurde der Konkurrenzdruck auf dem Binnenmarkt der EU-15 größer, d. h. die Ausschöpfung der komparativen Vorteile in der EU-15 schwieriger, was sich auch in einer Verschlechterung der Handelsbilanzposition Österreichs vis-à-vis der EU-15 spiegelt (siehe Abbildung 3).
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Auswirkungen der Ostöffnung 1989 auf Österreichs Wirtschaft
Exporte nach: Agrarware (0, 1, 4) Roh- und Brennstoffe (2, 3) Fertigwaren (5–9) davon: Chem. Erzeugnisse (5) Bearbeitete Waren (6) Stahl Maschinen, Fahrzeuge (7) KFZ Konsumnahe Fertigwaren (8)
10 EU-Neue (Ost) EU-15 Gesamt 2011 1992/2011 2011 1989/2011 2011 1989/2911 % %-Veränd. % %-Veränd. % %-Veränd. 7,7 -0,8 7,4 -0,2 6,9 3,3 10,5 5,4 7,5 4,3 6,7 0,0 81,8 -4,6 85,1 -4,1 86,5 -3,2 13,6 23,5 6,4 32,2
0,6 2,4 3,0 -5,3
10,6 25,0 6,6 36,2
2,4 -7,5 -0,1 0,3
12,8 23,4 6,1 37,8
3,5 -9,6 -1,5 3,4
8,0 10,6
4,5 -4,2
11,7 12,4
3,1 -0,2
10,1 11,5
3,5 -1,5
Tabelle 7 : Warenstruktur der österreichischen Exporte – Ost, West und insgesamt : 1989–2011 (Anteile der Sektoren an der Brutto-Wertschöpfung insgesamt in %); Ziffern in Klammern = SITC-Nummern; Quellen : FIW, WIFO
Handelsbilanz in Mio. €
Faktoreinsatz Traditionelle Sachgüter Arbeitsintensiv Kapitalintensiv Marketingorientiert Technologieorientiert Humankapital Niedrige Qualifikation Mittlere Qualifikation (Arbeiter) Mittlere Qualifikation (Angestellte) Hohe Qualifikation Qualitätswettbewerb Schwacher Qualitätswettbewerb Mittlerer Qualitätswettbewerb Intensiver Qualitätswettbewerb Sachgütererzeugung
RCAWert
Österreich Anteile Anteile in % der BRIC in %1)
2011
Marktanteile am Weltexport in % 2010
EU-27 Anteil Anteil in % der BRIC in %1) 2011
3,430 726 -6,906 -172 -1,680
0,26 0,41 -0,20 0,07 -0,26
28,3 13,4 20,0 13,7 24,6
2,46 0,86 0,67 0,51 1,93
1,64 1,32 1,11 1,32 0,95
21,9 8,9 24,4 12,7 32,0
2,26 0,68 1,45 0,62 2,56
-2,717 2,140 -7,117 3,092
0,12 0,26 -0,31 -0,04
28,4 26,3 23,7 21,6
1,13 1,01 1,32 2,96
1,25 1,65 0,86 1,33
25,1 20,2 32,2 22,4
1,32 1,67 2,13 2,45
-2,110 -4,392 1,900 -4,603
0,08 -0,06 -0,02
29,2 25,2 45,6 100,0
1,12 1,45 3,86 6,43
1,20 1,07 1,34 1,23
26,8 26,9 46,3 100,0
1,64 1,51 4,42 7,57
.
RCA = revealed comparative advantage (der RCA-Wert stellt den EU-27-Exportmarktanteil eines Branchentyps im Verhältnis zum österreichischen Markanteil an den Gesamtexporten dar) ; EU-27 inklusive Intra-EU-Handel BRIC = Brasilien, Russland, Indien und China Tabelle 8 : Strukturwandel des Außenhandels nach WIFO-Taxonomie : Österreich und EU-27 Quelle : Reinstaller, Andreas/Sieber, Susanne : Veränderung der Exportstruktur in Österreich und der EU, in : WIFO-Monatsberichte 8/85 (2012), S. 657–668, hier S. 663.
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Eine etwas mehr in die Tiefe gehende Strukturanalyse unterstreicht die These von der »Versteinerung« der Exportgüterstruktur seit der Ostöffnung und EU-Erweiterung. Unterteilt man die Exporte der Sachgütererzeugung nach drei Beurteilungskriterien – nach dem Faktoreinsatz, der Mitarbeiterqualifikation und dem Qualitätswettbewerb –, so zeigt sich folgendes Muster (siehe Tabelle 8) : • Demnach sind die Exportanteile Österreichs bei anspruchsvollen Produktkategorien (z. B. technologieorientiert ; hohe Qualifikation ; intensiver Qualitätswettbewerb) deutlich niedriger als in der EU-27, haben jedoch, ebenso wie jene in den zwölf neuen EU-Mitgliedstaaten, aufgeholt. In Letzteren dominieren die Exporte der Kategorien mit weniger anspruchsvollen Wettbewerbsmerkmalen (traditionelle Sachgüter ; arbeitsintensive Güter ; niedrige und mittlere Qualifikationen ; schwacher und mittlerer Qualitätswettbewerb). Österreich dominiert immer noch im Bereich traditioneller Sachgüter (siehe Tabelle 8). • Die Position Österreichs hat sich bei den anspruchsvolleren Warenkategorien seit 1996 zwar gegenüber den Staaten der EU-27 verbessert, die Lücke ist aber nicht kleiner geworden. • Das zeigt auch der Anstieg der Anteile des intraindustriellen Handels nach dem Grubel-Lloyd-Index.35 Der Anstieg ist ein Indikator dafür, dass Österreich mit den neuen EU-Mitgliedstaaten zunehmend auch ähnliche Produkte auszutauschen beginnt. Der Dienstleistungshandel Österreichs hat zwar mit den neuen EU-Mitgliedstaaten in den letzten zehn Jahren stark zugenommen, die Hauptabnehmer österreichischer Dienstleistungen liegen aber immer noch im Westen. 75 % der österreichischen Dienstleistungsexporte gehen in die EU-27. In die EU-15 wurden 2007 62 % aller österreichischen Dienstleistungsexporte geliefert (25 Mrd. Euro), aber nur 57 % aller Dienstleistungsimporte stammten von dort. 13 % der Exporte und 17 % der Importe entfielen auf die zwölf neuen EU-Mitgliedstaaten.36
35 Vgl. Wolfmayr, Y. 2004, S. 244. 36 Vgl. Matt, Ina : Österreichs Außenhandel mit Dienstleistungen, in : Kompetenzzentrum Forschungsschwerpunkt Internationale Wirtschaft (FIW) (Hg.) : Österreichs Außenwirtschaft 2008, Wien, Dezember 2008, S. 116–128.
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3. Eingeschränkte Freizügigkeit : politischer Segen oder ökonomischer Schaden ? a) Immigration kurz nach 1989 Nach der Ostöffnung erlebte Österreich – vor allem ausgelöst durch den Zerfall Jugoslawiens – einen massiven Zustrom von Migranten und Arbeitskräften37. In der Phase 1989–1992 betrug der kurzfristige Zustrom ausländischer Arbeitskräfte rund 100.000 Personen. Nach Modellberechnungen von Breuss und Fritz Schebeck38 stieg dadurch die Arbeitslosenquote kumulativ bis 1994 um 2,6 Prozentpunkte. Es kam zu einem Druck auf die Löhne (die Lohnquote sank kumulativ innerhalb von fünf Jahren um 0,6 Prozentpunkte). Dies dämpfte den Preisauftrieb und verbesserte die Wettbewerbsfähigkeit im Export. Dadurch lukrierte Österreich einen »Immigration surplus«, gemessen am kumulierten BIP, von 0,2 Prozentpunkten innerhalb von fünf Jahren. Der Anstieg der Arbeitslosigkeit verursachte im Staatshaushalt einen Anstieg des Defizits um 0,2 Prozentpunkte des BIP. Nach dieser ersten Welle von Immigranten kurz nach der Ostöffnung wurde der Zutritt ausländischer Arbeitskräfte zum österreichischen Arbeitsmarkt auf 9 % der Beschäftigten beschränkt. b) Einschränkungen der Freizügigkeit 2004 und 2007 Anlässlich der EU-Erweiterung 2004 wurde – hauptsächlich seitens Deutschlands und Österreichs – eine siebenjährige Übergangsregelung (Ausnahme von der Freizügigkeit der Arbeitskräfte) im Beitrittsvertrag ausgehandelt. Die Übergangsregelung wurde nach der 2 + 3 + 2-Regel gestaltet. Während der ersten Phase 2004–2006 liberalisierten drei alte EU-Mitgliedstaaten (Großbritannien, Irland und Schweden) sofort den Zugang zu ihren Arbeitsmärkten. Die meisten anderen EU-Staaten öffneten ihre Arbeitsmärkte nach der zweiten Phase (2006–2009). In der dritten Phase (2009–2011) hatten nur noch Deutschland und Österreich die Arbeitsmärkte für Ar37 Fassmann und Münz schätzten die Migrationsströme von Ost (aus Polen, Rumänien, der Slowakei, Tschechien und Ungarn) nach West (nach Österreich) für die Periode 1990–1995 mit einem Migrationsmodell mit folgenden Bestimmungsgrößen : Lohnunterschiede (Differenzen des BIP pro Kopf) zwischen Sender- und Empfängerland, geografische Distanz, außenwirtschaftliche Verflechtung, Migrationspolitik, die Arbeitsmarktlage im Entsendeland. Vgl. Fassmann, Heinz/Münz, Rainer : Die »neue« Ost-West-Wanderung als Folge der Ostöffnung : Bestimmungsfaktoren, Strukturmerkmale und Entwicklungstendenzen, in : Holzmann, Robert/Neck, Reinhard (Hg.) : Ostöffnung : wirtschaftliche Folgen für Österreich, Wien 1996, S. 21–53. 38 Vgl. Breuss, Fritz/Schebeck, Fritz : Ostöffnung und Osterweiterung der EU : Ökonomische Auswirkungen auf Österreich, in : WIFO-Monatsberichte, 2/69 (1996), S. 139–151 ; vgl. auch Breuss, Fritz : Reale Außenwirtschaft und Europäische Integration, Frankfurt am Main 2003, S. 166 f.
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beitskräfte aus den neuen EU-Mitgliedstaaten geschlossen39. Allerdings hat Öster reich sektoral den Arbeitsmarkt geöffnet, vor allem für die dringend gesuchten Facharbeitskräfte. Auch anlässlich des Beitritts Bulgariens und Rumäniens 2007 wurde der Zugang zu den Arbeitsmärkten in die anderen Mitgliedstaaten nach der 2 + 3 + 2-Regel bis 2013 (in den einzelnen Mitgliedstaaten unterschiedlich) beschränkt.40 Am 8. Juni 2009 akzeptierte die Europäische Kommission die Verlängerung der Übergangsregelungen für den österreichischen Arbeitsmarkt bis zum 30. April 2011. c) Entgangenes Wachstumspotenzial Die Fortdauer der Beschränkung einer der vier Grundfreiheiten des Binnenmarktes (die Freizügigkeit der Arbeitskräfte) ist zwar politisch (zur Besänftigung der inländischen Bevölkerung) verständlich, ökonomisch aber nicht unbedingt ein Vorteil. Nach allen theoretischen Überlegungen41 und Modellberechnungen42 verzichtete Österreich dadurch auf den sogenannten »Immigration surplus«43, der dadurch entsteht, dass durch billigere Arbeitskräfte kostengünstiger produziert und über gewonnene internationale Wettbewerbsfähigkeit ein höheres BIP erzielt werden kann. Auch die Europäische Kommission44 kommt zu dem Schluss, dass jene Länder, die ihre Arbeitsmärkte sofort nach der EU-Erweiterung geöffnet haben, auch einen höheren BIP-Zuwachs erzielten. Demnach sind aus den zehn neuen EU-Mitgliedstaaten in Osteuropa zwischen 2004 und 2007 991.000 Personen in die EU-15-Staaten emigriert : am meisten aus Polen (627.000), gefolgt von Litauen (121.000) und der Slowakei (92.000), Lettland (62.000), Tschechien (44.000), Ungarn (31.000), Estland (14.000) und Slowenien (1.000). In den anderen neuen Mitgliedstaaten gab es keine Veränderung. In der Periode 2004–2007 stieg das BIP in Irland um kumuliert 4,2 Prozentpunkte (bei einer Zahl von 162.000 Immigranten aus den neuen EU-Mitglied39 Siehe die Details der Regelungen der einzelnen EU-Mitgliedstaaten nach der Erweiterung 2004 auf der Webseite der Europäischen Kommission : http://ec.europa.eu/social/main.jsp ?catId=507&langId=de (online am 12. Dezember 2012). 40 Siehe die Details der Regelungen der einzelnen EU-Mitgliedstaaten nach der Erweiterung 2007 auf der Webseite der Europäischen Kommission : http://ec.europa.eu/social/main.jsp ?catId=508&langId=de (online am 12. Dezember 2012). 41 Vgl. Borjas, George J. : The Economic Benefits from Migration, in : Journal of Economic Perspectives 2/9 (1995), S. 3–22. 42 Vgl. Breuss, F./Schebeck, F. 1996 ; Breuss, Fritz : Benefits and Dangers of EU Enlargement, in : Empirica 3/29 (2002), S. 245–274. 43 Vgl. Borjas, G. 1995. 44 Vgl. D’Auria, Francesca/Mc Morrow, Kieran/Pichelmann, Karl : Economic impact of migration flows following the 2004 EU enlargement process : A model based analysis (Economic Papers 349), Brüssel 2008.
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staaten), in Großbritannien um einen Prozentpunkt (532.000 Immigranten) und in Schweden um 0,2 Prozentpunkte (nur 12.000 Immigranten). Obwohl Österreich den Arbeitsmarkt abschottete, waren trotzdem 26.000 Immigranten (verteilt auf einige wenige Sektoren) zu verzeichnen. Dadurch stieg kumuliert innerhalb von vier Jahren das reale BIP um 0,4 Prozentpunkte (»Immigration surplus«). In Deutschland, das ebenfalls den Arbeitsmarkt für Arbeitskräfte aus dem Osten verschloss, stieg die Zahl der Immigranten aus den neuen EU-Mitgliedstaaten um 96.000, was zu einem Zuwachs des realen BIP von kumuliert 0,2 Prozentpunkten führte. Die Entsendeländer verzeichneten durch den Abgang von Arbeitskräften einen »Migration loss« in Form eines schrumpfenden BIP. Am stärksten spürten dies Litauen (–4,7 % kumulierter Rückgang des realen BIP zwischen 2004 und 2007), gefolgt von Lettland (–3,5 %), Polen und der Slowakei (jeweils –2,1 %), dann Estland (–1,3 %). Geringer waren die Verluste in Tschechien (-0,5 %) und Ungarn (-0.4 %) bzw. in Slowenien (-0,1%).45 d) Öffnung des Arbeitsmarktes – Bisherige Erfahrungen46 Am 1. Mai 2011 endete für die 2004 zur Europäischen Union beigetretenen Staaten Osteuropas (Estland, Lettland, Litauen, Polen, Ungarn, Slowakei, Slowenien, Tschechien ; für Malta und Zypern war der Arbeitsmarkt sofort geöffnet worden) die siebenjährige Übergangsfrist zur Beschäftigungsbewilligung (Ausnahme von der Arbeitnehmerfreizügigkeit, einer der vier Grundfreiheiten des Binnenmarktprogrammes). Für Arbeitskräfte aus Bulgarien und Rumänien endet diese Übergangsregelung am 31. Dezember 2013. Ab 1. Mai 2011 gilt für Staatsbürger der acht Länder Osteuropas, die 2004 der EU beitraten, die volle Arbeitnehmerfreizügigkeit in Österreich : Wollen sie in Österreich ein Beschäftigungsverhältnis eingehen, ist dafür eine Bewilligung nicht mehr erforderlich. Sie dürfen auch sonst keinen Beschränkungen unterworfen werden, die nicht auch für Österreicher gelten. Am 1. Mai 2011 fielen auch die Beschränkungen der Dienstleistungsfreiheit im Hinblick auf das Entsenden von Arbeitnehmern aus den oben genannten acht Ländern – namentlich Ungarn, Polen, Tschechien, Slowakei, Slowenien, Estland, Lettland und Litauen – nach Österreich weg.
45 Zu ähnlichen Ergebnissen kommt die umfangreiche Studie von Brücker et al. für die Europäische Kommission, vgl. Brücker, Herbert/European Integration Consortium : Labour mobility within the EU in the context of enlargement and the functioning of the transitional arrangements. Final report, Nuremberg, May 2009. 46 Dieses Kapitel stützt sich auf die Analyse in Breuss, F. 2012, S. 35 f.
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Der Zustrom der Arbeitskräfte aus den acht neuen EU-Ländern Estland, Lettland, Litauen, Polen, Tschechien, der Slowakei, Slowenien und Ungarn seit dem 1. Mai 2011 entsprach mit rund 29.500 weitgehend den vor der Gewährung der Freizügigkeit bestehenden Erwartungen. Ein großer Teil der aus diesen Ländern neu zugewanderten Arbeitskräfte arbeitete dabei nur kurze Zeit (z. B. als Saisonbeschäftigte) in Österreich. Die regionale Verteilung der Zuwanderung wurde hingegen weitgehend durch regionale Besonderheiten der Arbeitskräftenachfrage sowie durch die Grenznähe bestimmt.47 Den größten Anteil an den neu Zugewanderten machten mit 43 % die Ungarn aus, gefolgt von slowakischen und polnischen Staatsangehörigen. Es kam zu einer deutlichen regionalen und branchenmäßigen Konzentration : Mehr als 50 % der neu Beschäftigten traten in der Ostregion in den Arbeitsmarkt ein (davon ca. 9.000 in Wien und 6.000 in NÖ) und arbeiteten in nur drei Sektoren – Gastronomie, Bau und Arbeitnehmerüberlassung. 4. Ausblick : Das Leben nach den Krisen in Europa Die globale Finanzkrise 2007/08, die – nach dem Platzen der Immobilienblase – ihren Ausgang in den USA genommen hatte und sich 2009/10 über eine Banken- zu einer der schwersten weltweiten Wirtschaftskrisen der Nachkriegszeit im Jahr 2009 ausweitete (»Große Rezession«), erfasste West- und Osteuropa gleichermaßen. Während der Westen aber genügend Mittel für Konjunkturpakete aufbringen konnte, fehlte diese Option den armen neuen EU-Mitgliedstaaten im Osten weitestgehend. Das heißt, sie »erlitten« die Krise und konnten teilweise nur durch internationale Hilfsprogramme – durch den Internationalen Währungsfonds und teilweise auch für die Mitgliedstaaten, die nicht dem Euro-Raum angehören, durch die EU – unterstützt werden. Koordinierte Zahlungsbilanzhilfen gab es für Lettland, Rumänien und Ungarn sowie für die Nicht-EU-Staaten Bosnien-Herzegowina, Serbien und die Ukraine.48 Mit Ausbruch der Griechenland-Krise Anfang 2010 und der folgenden EuroKrise in anderen Peripherieländern der Eurozone kamen weitere Störungen des europäischen Wirtschaftsgeschehens hinzu. Griechenland, Irland und Portugal stehen unter den »Euro-Rettungsschirmen« zur Stabilisierung ihrer Schuldendynamik und
47 Vgl. Huber, Peter/Böhs, Georg : Arbeitsmarktöffnung 2011. Monitoring der Arbeitsmarktauswirkungen der Zuwanderung aus den neuen EU-Mitgliedsländern im Regime der Freizügigkeit – Begleitende Beratung und Analyse (Sozialpolitische Studienreihe 12), Wien 2012. 48 Näheres über die Krisenhilfspakete für Europa kann man auf der IMF-Webseite »The IMF and Europe« erfahren, vgl. http://www.imf.org/external/region/eur/index.aspx (online am 12. Dezember 2012).
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Reformierung ihrer Volkswirtschaften – allerdings verbunden mit einer wachstumsdämpfenden Austeritätspolitik. Die Euro-Krise hat auch zu einem starken Umbau des wirtschaftspolitischen Designs der Wirtschafts- und Währungsunion (Eurozone) seit 2010 geführt mit vielen neuen Elementen stärkerer Budgetkontrolle (»Sixpack«, Fiskalpakt, Europäisches Semester etc.) und einer aktiveren Geldpolitik seitens der EZB. Weitere Schritte zur »Vertiefung« der WWU stehen an (Bankenunion, eigener Haushalt für die Eurozone etc.), bis hin zu einer »Fiskalunion«. Die Euro-Krise hat insgesamt zur Verunsicherung in Europa geführt und zu einer Abkühlung der Konjunktur. Die Wachstumsaussichten für die nächsten Jahre sind nach Ansicht aller Institutionen (IMF, Europäische Kommission, OECD etc.) sehr trübe. Das gilt auch für die Entwicklung in Osteuropa in den neuen EU-Mitgliedstaaten. Österreich ist überzeugt, dass das Wachstumspotenzial in Osteuropa – trotz Abflachung infolge der dämpfenden Effekte der Euro-Krise – noch längst nicht ausgeschöpft ist, da sich diese Länder immer noch in der Transformation befinden und noch ein beträchtliches Stück aufzuholen haben, um sich dem Durchschnitt des Pro-Kopf-Einkommens der EU anzunähern. Daher ist davon auszugehen, dass nach Überwindung der schlimmsten Wirtschaftskrise seit der Großen Depression von 1929 die Volkswirtschaften der neuen EU-Mitgliedstaaten zwar weiter kräftig wachsen werden, dass aber mit abnehmenden Grenzerträgen gerechnet werden muss. Der bisherige Wachstums-Turbo Osteuropa wird nicht mehr so viel Kraft ausstrahlen wie bisher.
V. Von der Ostöffnung bis zur EU-Erweiterung – welche Effekte ? Mit dem historischen Ereignis der Ostöffnung hat sich Europa grundlegend verändert. Der Zusammenbruch des Kommunismus 1989, der Fall der Berliner Mauer und die Deutsche Wiedervereinigung 1990 haben den Osten für den Westen »geöffnet«. Die EU hat relativ rasch die mittel- und osteuropäischen Länder (MOEL) mit Europaabkommen an sich gebunden und den bilateralen Handel liberalisiert. Gleichzeitig ist die Integration der EU vorangeschritten, 1993 durch die Schaffung des Binnenmarktes, 1995 durch die Erweiterung um Finnland, Österreich und Schweden und 1999 durch die Bildung der Wirtschafts- und Währungsunion (WWU). Mit der Aufnahme von zehn neuen Mitgliedstaaten im Jahr 2004 und Bulgarien und Rumänien im Jahr 2007 war der Erweiterungsprozess der EU auf 27 Mitglieder nur vorläufig abgeschlossen. Kroatien wurde im Juli 2013 das 28. Mitglied der EU. Mit der Türkei verhandelt die EU seit Oktober 2005 über einen Beitritt. Mit Island wird seit Juni 2010 über einen Beitritt verhandelt, mit Montenegro seit Juni 2012. Mit den übrigen Ländern des Westbalkans – Mazedonien und Serbien sind Beitrittskandidaten ; Albanien, Bosnien und Herzegowina und Kosovo sind potenzielle Kandidaten – wird
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noch nicht über einen Beitritt verhandelt, solche Verhandlungen könnten aber bald eröffnet werden. Letztlich – und das ist erklärte EU-Politik seit der Agenda von Thessaloniki vom Juni 2003 – sollen aber alle Länder des Westbalkans in naher Zukunft eine EU-Beitrittsoption erhalten. Neben der reinen Erweiterungspolitik verfolgt die EU mit ihrer Europäischen Nachbarschaftspolitik (ENP) eine Politik der Einbindung aller Nachbarstaaten im Süden (Nordafrika), im Nahen Osten (Israel, Libanon, Palästinensische Behörde, Syrien) und in Osteuropa (Ukraine, Weißrussland) in einen »Ring of Friends«. Mit Russland gibt es Sonderbeziehungen in Form eines Partnerschaftsabkommens.49 1. Große Erwartungen Eine ökonomische Bewertung der Ostöffnung im Falle Österreichs wird dadurch erschwert, dass sie von den verschiedenen Integrationsschritten der EU (EU-Beitritt, WWU-Teilnahme, EU-Erweiterung50), die seit 1989 unternommen wurden, überlagert wurde. Dennoch zeigen sowohl Ex-ante-Studien51 als auch eine Ex-postBewertung52, dass Österreich von allen Integrationsschritten wirtschaftlich profitiert hat. Die Berechnungen der möglichen Integrationseffekte ex ante wurden allesamt mittels Modellsimulationen durchgeführt. Dabei wurden jeweils die theoretisch zu erwartenden Effekte in den Modellen berücksichtigt. Trotz der Tatsache, dass Österreich einer der Hauptgewinner der Ostöffnung und der EU-Erweiterung gewesen ist, steht die Bevölkerung nach Umfragen im Eurobarometer der EU53 im Allgemeinen und einer weiteren EU-Erweiterung im Besonderen54 sehr skeptisch gegenüber. Die Erwartungen – wie immer am Beginn eines neuen Integrationsschrittes – sind in der Regel sehr hoch. Eine wirtschaftliche Integration wird mit neuen Chancen auf mehr Außenhandel und Produktivitätssteigerung und somit auf Zuwächse in der Wirtschaftsleistung und Beschäftigung verbunden. Frühe Bewertungen der Ostöffnung von 198955 kommen mittels Modellberechnungen zu dem Schluss, dass da49 Vgl. Breuss, F. 2007b. 50 Eine ökonomische Bewertung der fünften EU-Erweiterung mit besonderem Schwerpunkt Bulgarien und Rumänien findet man in Breuss, Fritz : An Evaluation of the EU’s Fifth Enlargement : With Special Focus on Bulgaria and Romania, in : Keereman, Filip/Szekeley, Istvan (Hg.) : Five years of an Enlarged EU – A Positive Sum Game, Berlin/Heidelberg 2010, S. 221–248. 51 Siehe die Zusammenfassung in Breuss, F. 2012, S. 43. 52 Vgl. Breuss, F. 2012 und das folgende Unterkapitel. 53 Siehe die Webseite der Europäischen Kommission (Eurobarometer) : http://ec.europa.eu/public_opinion/index_en.htm (online am 12. Dezember 2012). 54 Vgl. ÖGfE 2012. 55 Vgl : Breuss, Fritz/Schebeck, Fritz : Ostöffnung und Osterweiterung der EU : Eine Neubewertung der ökonomischen Auswirkungen auf Österreich nach der Agenda 2000, in : Palme, Gerhard (Hg.) : Regi-
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durch das reale BIP in Österreich im Durchschnitt pro Jahr um 0,5 Prozentpunkte gesteigert werden könnte und rund 77.000 neue Arbeitsplätze geschaffen werden könnten. 2. Was hat die Europaintegration Österreich insgesamt gebracht ? Nachträglich betrachtet erhält man ein realistischeres Bild von den Auswirkungen der Ostöffnung und der folgenden Integrationsschritte auf Österreichs Wirtschaft. Österreich ist als kleine Volkswirtschaft stärker vom Zugang zu einem größeren Markt ohne Handels- und sonstige Schranken abhängig als große Länder. Die Wirtschaft hat deshalb von der steten Ausweitung der Handelsmöglichkeiten nach Osteuropa durch die Ostöffnung und durch die Teilnahme am wachsenden EU-Binnenmarkt56 erheblich profitiert. Im gesamten Zeitraum seit der Ostöffnung 1989 (bis 2012) wuchs das reale BIP in Österreich mit 2,1 % um 0,3 Prozentpunkte pro Jahr rascher als im Durchschnitt der EU-15 (siehe Tabelle 3). Der Wachstumsvorsprung gegenüber Deutschland beträgt sogar 0,7 Prozentpunkte, gegenüber der Schweiz 0,4 Prozentpunkte. Nur in den USA war ein etwas stärkeres Wachstum zu verzeichnen. Ein ähnlicher Vorsprung ergab sich für die anderen Unterperioden (EU-Mitgliedschaft, WWU-Teilnahme und EU-Erweiterung ; siehe Tabelle 3). Die GFC 2009 dämpfte die Dynamik nicht nur in den Ländern der EU-15, sondern insbesondere auch in den neuen EU-Ländern erheblich. a) Gesamteffekte pro Jahr im Überblick Durch die zeitliche Parallelität von Ostöffnung, EU-Beitritt, WWU und EU-Erweiterung überlagern die Integrationseffekte der einzelnen Integrationsschritte einander teilweise. Daher kann man die verschiedenen Integrationseffekte nicht einfach ad-
onale Auswirkungen der EU-Integration der MOEL, Studie des WIFO und des ÖIR im Auftrag der ÖROK, Wien 1998a, S. 23–42 ; Breuss, Fritz/Schebeck, Fritz : Kosten und Nutzen der EU-Osterweiterung für Österreich, in : WIFO-Monatsberichte 11/71 (1998b), S. 741–750. 56 Nach den Schätzungen von Levchenko und Zhang (Vgl. Levchenko, Andrei A./Zhang, Jing : Comparative Advantage and the Welfare Impact of European Integration, NBER Working Paper 18061, May 2012) hat Österreich von der Handelsintegration des Ostens in den Westen seit 2000 durch Ostöffnung, Europaabkommen und EU-Erweiterung mit einer Wohlstandssteigerung (Zuwachs an realem BIP pro Kopf) von 0,4 % am meisten aller Länder Westeuropas (im Durchschnitt +0,1 %) profitiert (Deutschland : +0,2 % ; Portugal mit +0,02 % am wenigsten). Der Osten konnte dagegen eine durchschnittliche Wohlfahrtssteigerung von 7,9 % verzeichnen, wobei die baltischen Staaten und Bulgarien mit jeweils über +10 % am meisten von der Handelsintegration profitierten, Polen mit +3,9 % am wenigsten.
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dieren. In der vorliegenden Berechnung57 wurden deshalb die Effekte der einzelnen Integrationsschritte mit einem einheitlichen Integrationsmodell separat berechnet und wurde auch eine Gesamtbewertung unter Einbeziehung aller erfassten Integrationsimpulse simuliert. Insgesamt bewirkten die Integrationsschritte in Österreich pro Jahr einen zusätzlichen Anstieg des realen BIP um 0,5 bis 1,0 Prozentpunkte und die Schaffung von rund 17.000 Arbeitsplätzen (siehe Tabelle 9). Die Arbeitslosenquote sank jährlich um 0,7 Prozentpunkte, die Inflationsrate um 0,2 Prozentpunkte. Die Importquote erhöhte sich insgesamt stärker als die Exportquote. Der gesamte Integrationsprozess trug zu einer Verschlechterung der Leistungsbilanz bei, die vor allem auf die EU-Mitgliedschaft und die WWU-Teilnahme zurückgeht. Die Ostöffnung setzte hier positive Impulse. Ostöffnung und EU-Erweiterung vergrößerten die Chancen und Möglichkeiten Österreichs, an der Globalisierung (in Osteuropa an der »Mini«Globalisierung) aktiv teilzunehmen. Der Wohlstand Österreichs (BIP pro Kopf real) wurde seit 1989 um 0,4 Prozentpunkte pro Jahr stärker gesteigert als in der EU-15. Die Integrationseffekte (BIP- und Beschäftigungswachstum) der einzelnen Integrationsschritte seit 1989 sind in Tabelle 9 aufgelistet. Tabelle 9 Seite 106
Gesamteffekte Ostöffnung (seit 1989) EU-Beitritt (seit 1995) WWU-Teilnahme (seit 1999) EU-Erweiterung (seit 2004)
BIP, real % in % +0,5 bis +1,0 +0,2 +0,6 +0,4 +0,4
Beschäftigte in 1.000 +17.000 +3.400 +12.600 +8.700 +7.600
Tabelle 9 : Integrationseffekte der österreichischen Europaintegration (reales BIP und Beschäftigte, Effekte pro Jahr); Quelle : Breuss, F. 2012, S. 64.
b) Gesamteffekte im Zeitverlauf Der Verlauf der simulierten Integrationseffekte der österreichischen Integration in die EU zeigt, dass jeweils zu Beginn eines Integrationsschritts (EU-Mitgliedschaft 1995, WWU-Teilnahme 1999 ; EU-Erweiterungen 2004 und 2007) die Wachstumseffekte ansteigen und in der Folge abklingen (siehe Abbildung 14). Lediglich im Falle der Ostöffnung gibt es einen relativ konstanten Impuls auf das österreichische Wirtschaftswachstum von rund 0,2 Prozentpunkten pro Jahr. Insbesondere nach den Krisen (»Große Rezession« 2009 und Euro-Krise 2010) haben sich die Wachstumsimpulse der Mitgliedschaft Österreichs in der EU und WWU merklich abgekühlt. 57 Vgl. Breuss, F. 2012, S. 43 f.
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1.8 1.6 1.4 1.2
Gesamt EU-Beitritt
1.0 0.8 0.6
WWUTeilnahme
EU-Erweiterung
0.4 0.2
Ostöffnung
0.0 -0.2
Abbildung 14 : Effekte der Teilnahme Österreichs an allen Integrationsschritten seit 1989 (reale BIP-Steigerungen pro Jahr in %); Quelle : Breuss, F. 2012, S. 64.
Die in Tabelle 9 ausgewiesenen durchschnittlichen Effekte pro Jahr verschleiern etwas den wahren Verlauf der berechneten Integrationseffekte, indem sie suggerieren, die dort ausgewiesenen durchschnittlichen Wachstumseffekte würden permanent in dieser Höhe weiterwirken. Tatsächlich führt wirtschaftliche Integration – d. h. der Beitritt eines Landes zu einer Integrationsgemeinschaft (EU) – zu anfänglichen Wachstumsimpulsen (vor allem durch einen notwendigen Anpassungs- und Produktivitätsschock), die langsam abklingen. Es gibt also in der Regel eher »abnehmende Grenzerträge der Integration«. Auch nach dem Abklingen der Wachstumseffekte liegt infolge der Teilnahme an allen Stufen der Integration das Einkommensniveau um 21 Prozentpunkte höher. Aber der Wohlstandsgewinn durch die Teilnahme an der europäischen Integration wird nicht nur durch das Wachstum und Niveau des BIP pro Kopf allein bestimmt, sondern umfasst auch die Zunahme der Produktvielfalt und die Ausweitung der Wahlmöglichkeiten (Freizügigkeit und »Schengen« ermöglichen eine Erleichterung bei Arbeitskräftewanderung und Reisen ; Letzteres wird auch erleichtert durch den Euro). Zudem kommt es durch die volle Teilnahme am EU-Binnenmarkt zu einem permanenten Druck auf die Preise und damit zur Verbesserung der Kaufkraft. Dieser Effekt wird durch die EU-Erweiterungen und damit die Vergrößerung des Binnenmarktes ständig verstärkt. Dies wird auch in den Schätzungen von Harald Badinger58 bestä58 Vgl. Badinger, Harald : Growth Effects of Economic Integration : Evidence from the EU Member States, in : Weltwirtschaftliches Archiv (Review of World Economics) 1/141 (2005), S. 50–78.
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tigt. Es gibt keinen dauerhaften Effekt auf die Wachstumsraten durch Integration, wie einige Autoren der Neuen Wachstumstheorie des Außenhandels59 suggerieren, sondern nur einmalige Impulse für das Wirtschaftswachstum, die das BIP-Niveau erhöhen und dann wieder abklingen.
VI. Schlussfolgerungen Österreich hat insgesamt von der Ostöffnung wirtschaftlich profitiert. Verbunden mit dem gestiegenen Wirtschaftswachstum war auch ein beschleunigter Anstieg der Beschäftigungszahlen. Die Ostöffnung, der EU- und WWU-Beitritt sowie die EU-Erweiterung wirkten auf die österreichische Volkswirtschaft wie ein Wachstums-Turbo. Nimmt man alle Integrationsschritte zusammen, so könnte das Wirtschaftswachstum in Österreich integrationsbedingt um 0,5 % bis 1 % höher gewesen sein als ohne diese politischen Umwälzungen. Es dürften dadurch jährlich rund 17.000 zusätzliche Arbeitsplätze geschaffen worden sein. Die Plausibilität dieser Modellergebnisse wird durch den Vergleich der Wirtschaftsentwicklung Österreichs mit Ländern in der EU und außerhalb unterstrichen. So lag der Wachstumsvorsprung Österreichs vor Deutschland und der Schweiz ebenfalls in der Größenordnung der obigen Integrationseffekte. Dieser »Wachstumsbonus« ist ohne die Integrationswirkungen der Teilnahme Österreichs an allen EU-Projekten schwer bis gar nicht erklärbar. Die Ostöffnung hat es Österreich auch ermöglicht, stärker als zuvor an der Globalisierung (»Mini«-Globalisierung in Osteuropa) teilzunehmen. Davon zeugen ein steilerer Anstieg der Export- und FDI-Quoten in Prozent des BIP sowie eine deutlich verbesserte Handels- und Leistungsbilanzposition. Die positive Entwicklung dieser Indikatoren unterstreicht, dass Österreich seit der Ostöffnung die Chancen im Außenhandel genutzt hat. Auf der Negativseite der zunehmenden Globalisierung muss man die Schieflage der Einkommensverteilung und die leichte Zunahme der Arbeitslosigkeit verbuchen. Die Reallöhne pro Beschäftigtem wuchsen langsamer als das reale BIP pro Kopf, was sich auch in einem Sinken der Lohnquote spiegelte. Auch die realen Nettoeinkommen entwickelten sich durchwegs langsamer als das reale BIP. Einem Anstieg von BIP, Beschäftigung sowie Gewinnen der Unternehmen stehen Lohneinbußen der unselbstständig Beschäftigten gegenüber. Die Ostöffnung war daher für die österreichische Volkswirtschaft insgesamt ein großer Erfolg, nicht aber für alle Beteiligten.
59 Für einen Überblick siehe Breuss, Fritz : Reale Außenwirtschaft und Europäische Integration, Frankfurt am Main 2003, Kapitel 8.
Oliver Kühschelm
Den »Osten« öffnen Das Donaueuropäische Institut – Praktiken und Inszenierungen am Schnittpunkt von Politik und Unternehmerexpertise
Über Jahrzehnte hinweg gab der Kalte Krieg eine Blockkonstellation vor, in deren Rahmen sich »Osthandel« als kommerzielle Praxis einspielte. 1989 änderte sich dieser Horizont radikal. An die Stelle des Osthandels, eingebettet in die »West-Ost-Beziehungen«, trat die »Ostöffnung«. Wir können mit Michel Foucault von Dispositiven sprechen, die jeweils ein Bündel an Organisationen und Institutionen, Medien, Praktiken, Diskursen und konzeptuellen Klammern umfassen. Das Dispositiv meint als analytischer Begriff den spezifischen Zusammenhalt eines solchen »heterogenen Ensembles«.1 Die Ostöffnung oder die West-Ost-Beziehungen bilden übergreifende Räume für diskursives und materiales Handeln. Andererseits befassten sich mit je bestimmten Aspekten je andere gesellschaftliche Subsysteme und ihre Expertenkulturen. Zu untersuchen gilt es daher, über welche Schnittstellen die Spezialdiskurse integriert oder zumindest miteinander verkoppelt wurden. Das Donaueuropäische Institut erfüllte diese Funktion im Dispositiv des Osthandels, der wirtschaftlichen Kommunikation über die Blockgrenze hinweg, und am Übergang zum Dispositiv der Ostöffnung. Das Donaueuropäische Institut als Schnittstelle, das ist zunächst einmal eine Organisation, 1947 gegründet und in der Mutation zur »Organization for International Economic Relations« (OIER) bis heute existent. Das sind Medien, konkret der Donaueuropäische Informationsdienst und das West-Ost-Journal. Das sind weiterhin Praktiken : Vorträge und Tagungen, häufig, aber nicht nur, in Wien, wo das Donaueuropäische Institut seinen Sitz hatte, sowie grenzüberschreitende Kontaktanbahnungen, etwa in Form einer Entsendung von Wirtschaftsdelegationen in die ostmitteleuropäischen Nachbarländer Österreichs. Das sind Akteure, buchstäblich als Verkörperung der Idee einer Schnittstelle, wie die Präsidenten des Instituts, Eduard Heinl und Fritz Bock, beide Handelsminister, jeweils mehrfach, aber auch mehr als nur das ; andererseits Unternehmer, etwa der Generaldirektor von Henkel Austria Franz Kafka, unter dessen Ägide in den 1980erJahren die Expansion des Konzerns nach Ungarn mit dem Label »ÖsterreichUngarn« inszeniert wurde. Das sind Diskurse um Verständigung, gutnachbarliche 1 Vgl. Bührmann, Andrea D./Schneider, Werner : Vom Diskurs zum Dispositiv. Eine Einführung in die Dispositivanalyse, Bielefeld 2008.
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Beziehungen, eine gemeinsame Vergangenheit, namentlich jene der Habsburgermonarchie, vor allem aber um den Osthandel. Das ist der Verweis auf »Mitteleuropa«, den »Donauraum« oder eben »Donaueuropa«, als rhetorische und konzeptuelle Klammern so diffus wie suggestiv. In der Beschäftigung mit dem Donaueuropäischen Institut als Schnittstelle greifen wir zum einen Anregungen auf, die in die Geschichte von (internationaler) Politik eine kulturgeschichtliche und diskursanalytische Perspektive einbringen.2 Zum Zweiten hakt die Studie in das Interesse an Expertenkulturen und an social engineering ein.3 Sie stellt sich mithin die Frage, wie die funktionale Differenzierung moderner Gesellschaften für Akteure handhabbar gemacht wird. Das Donaueuropäische Institut ist drittens aus wirtschafts- und unternehmensgeschichtlicher Perspektive interessant, zumal, wenn man solche Forschung ohne ökonomistische Verengung betreiben will.4 Sobald Unternehmer die Rede vom Donauraum oder von Mitteleuropa im Mund führen, liegt der Verdacht einer bloß vorgeschobenen Inszenierung nahe, die ein Kalkül der Profitmaximierung verdeckt. Doch selbst wenn Unternehmer auf Gewinnanreize wie pawlowsche Hunde reagierten, wäre immer noch zu fragen, wie denn dieser in der Unternehmeranthropologie angelegte Reiz kulturell gestaltet wurde.5
2 Vgl. Schattenberg, Susanne : Die Sprache der Diplomatie oder Das Wunder von Portsmouth. Überlegungen zu einer Kulturgeschichte der Außenpolitik, in : Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 1/56 (2008), S. 3–26 ; Mergel, Thomas : Überlegungen zu einer Kulturgeschichte der Politik, in : Geschichte und Gesellschaft 28 (2002), S. 574–606 ; Müller, Martin : Doing discourse analysis in Critical Geopolitics, in : l’Espace Politique 3/12 (2010), http://espacepolitique.revues.org/index1743.html (online am 12. November 2012) ; Nonhoff, Martin : Politischer Diskurs und Hegemonie. Das Projekt »Soziale Marktwirtschaft«, Bielefeld 2006. 3 Vgl. Etzemüller, Thomas (Hg.) : Die Ordnung der Moderne : social engineering im 20. Jahrhundert, Bielefeld 2009 ; Brückweh, Kerstin/Schumann, Dirk/Wetzell, Richard F./Ziemann, Benjamin (Hg.) : Engineering Society : the Role of the Human and Social Sciences in Modern Societies, 1880–1980, Basingstoke 2012. 4 Vgl. Berghoff, Hartmut/Vogel, Jakob (Hg.) : Wirtschaftsgeschichte als Kulturgeschichte. Dimensionen eines Perspektivenwechsels, Frankfurt am Main 2004 ; Hilger, Susanne/Landwehr, Achim (Hg.) : Wirtschaft – Kultur – Geschichte. Positionen und Perspektiven, Stuttgart 2011. 5 In Anlehnung an E. P. Thompsons pointierte und immer noch überzeugende Kritik an einer quantifizierend angelegten, reduktionistischen Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, die an jenem Punkt zu fragen aufhört, an dem es erst spannend wird. Vgl. Thompson, Edward P. : The Moral Economy of the English Crowd in the Eighteenth Century, in : Thompson, Edward P. : Customs in Common, New York 1991, S. 185–258, besonders S. 186 f.
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I. Vom Osthandel zur Ostöffnung 6 Die Veränderung hatte ihren spektakulären Moment, den Sommer und Herbst des Jahres 1989, aber so markant die politischen Ereignisse dieser Monate auch waren, so ist doch nicht zu übersehen, dass sich bereits seit Längerem die wirtschaftlichen Dinge im Fluss befanden ; zuerst in Ungarn – für Österreich von besonderer Bedeutung, da es sich um einen Nachbarstaat handelte –, dann mit der von Michail Gorbatschow ausgerufenen Perestroika in der Sowjetunion selbst wie in anderen Teilen ihrer osteuropäischen Machtsphäre. Österreichische Unternehmen erblickten schon bald Investitionsmöglichkeiten, die auch von der Wirtschaftsberichterstattung als neue Chancen im »Osten« publiziert wurden. Im Rückblick kann man hier den Beginn einer Entwicklung erkennen, die eine Ablösung des Osthandelsdispositivs erforderte. Den Zeitgenossen war das nicht transparent, zumal das auffälligste Kennzeichen des Dispositivs Osthandel seine Begrenztheit war : ein Betätigungsfeld für Österreichs Unternehmen, um aus einer ansonsten als ungünstig erlebten Randlage Vorteil zu schlagen. Das Potenzial, diese in eine zentrale Position zu verwandeln, barg der Osthandel aber nicht. Seine ökonomische Relevanz lässt sich anhand des Auf und Ab der Außenhandelsanteile jener Staaten zeigen, deren Territorien zum Teil oder zur Gänze im ehemaligen Herrschaftsgebiet der Habsburgermonarchie lagen :7 der Tschechoslowakei, Ungarns, Polens, Rumäniens und Jugoslawiens. Für das Österreich der Ersten Republik hatten diese Staaten in Summe noch die wichtigsten Handelspartner dargestellt, wenngleich der größte auch damals schon Deutschland war. Aber die Tschechoslowakei und Ungarn reichten als Zielgebiete des österreichischen Exports nahe an das Deutsche Reich (und Italien) heran. In der zweiten Hälfte der 1940er-Jahre, als ein zerstörtes und besetztes Deutschland vorübergehend als Faktor im internationalen Handel ausfiel, besaß eine Orientierung auf den Absatzmarkt Ostmitteleuropa er6 Für ausführlichere wirtschaftsgeschichtliche Rekonstruktionen vgl. Resch, Andreas : Der österreichische Osthandel im Spannungsfeld der Blöcke, in : Rauchensteiner, Manfried (Hg.) : Zwischen den Blöcken. NATO, Warschauer Pakt und Österreich (Schriftenreihe des Forschungsinstituts für politischhistorische Studien der Dr.-Wilfried-Haslauer-Bibliothek, Salzburg 36), Wien/Köln/Weimar 2010, S. 497–556 ; Resch, Andreas : Austrian Foreign Trade and Austrian Companies’ Economic Engagement in Eastern Europe, in : Bischof, Günter/Karlhofer, Ferdinand (Hg.) : Austria’s International Position after the End of the Cold War, New Orleans 2013, S. 198–223 ; Komlosy, Andrea : Austria and the Permeability of the Iron Curtain : From Bridge-Building to Systemic Change, in : Enderle-Burcel, Gertrude/Franaszek, Piotr/Stiefel, Dieter/Teichova, Alice (Hg.) : Gaps in the Iron Curtain : Economic Relations Between Neutral and Socialist Countries in Cold War Europe, Krakow 2009, S. 107–124 ; vgl. auch den Beitrag von Fritz Breuss in diesem Band ; außerdem Breuss, Fritz : Österreichs Außenwirtschaft 1945–1982, Wien 1983, S. 124–146. 7 Daten nach Butschek, Felix : Österreichische Wirtschaftsgeschichte von der Antike bis zur Gegenwart, Wien/Köln/Weimar 2011, S. 399, 402.
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neuerte Aktualität für Österreich. Der Kalte Krieg und die Abschottung zweier auch wirtschaftlich getrennter Systeme machten die Perspektive eines integrierten Donauraums unrealistisch ; die vom Wirtschaftswunder angetriebene Bundesrepublik Deutschland avancierte rasch zum weithin wichtigsten Handelspartner. Nachdem die Blockgrenzen stabilisiert waren und die Phase der friedlichen Koexistenz begann, wurden die Handelsbeziehungen in die nunmehr sozialistischen Länder im Norden, Osten und Süden Österreichs wieder verdichtet – als Osthandel, der die Existenz separater Welten nicht grundsätzlich infrage stellte. In den 1970er-Jahren nahm er kreditfinanziert an Fahrt auf, um sich Anfang der 1980er-Jahre stark einzubremsen, als die USA zu einer drastischen Hochzinspolitik umschwenkten. In Österreich schrumpfte der Exportanteil Ostmitteleuropas wieder. 1990 gingen deutlich über zwei Drittel der österreichischen Exporte nach Deutschland, aber nur 8 % in die »Nachfolgestaaten« der Habsburgermonarchie. An diesem Punkt wendete sich aber das Blatt. Der Anteil Ostmitteleuropas am österreichischen Export stieg in den 1990er-Jahren stark an, ohne allerdings das Ausmaß der Zwischenkriegszeit zu erreichen. Für Österreich verhieß die Ostöffnung die Rückkehr in die Mitte Europas – das Ende der Brückenfunktion, aus der es im Übergang noch Gewinn zu schöpfen galt, und an ihrer Stelle einen Platz im Zentrum. Österreich und besonders Wien sollten nicht mehr Vermittlung zwischen Ost und West betreiben, sondern Ort von Entscheidungen sein, die von Unternehmenszentralen aus in die Transformationsstaaten und alsbald neuen EU-Mitgliedsländer reichten. »Wir erleben eine neue Gründerzeit : Österreichs Unternehmen haben dank der rasanten Reformen in Osteuropa die historische Chance, erstmals zu echten ›Multis‹ zu wachsen«, heizte das österreichische Wirtschaftsmagazin Gewinn die Fantasie seiner Leser an.8 Es ging um eine Imagination der Größe, die sich je nach Publikum national(ökonomisch) oder betriebswirtschaftlich ausbuchstabieren ließ. Österreichische Unternehmen waren im Ostmitteleuropa der frühen 1990er-Jahre in der Tat besonders aktive Investoren, am stärksten zunächst in Ungarn, wo sie 1993 ein Viertel des Bestands aller ausländischen Direktinvestitionen hielten. In Slowenien und der Slowakei erreichte 2001 der Marktanteil der österreichischen Direktinvestitionen sogar rund 28 %.9 Gemessen an der geringen Größe der österreichischen Volkswirtschaft handelt es sich um erstaunlich hohe Werte.
8 Lang, Dagmar : Die goldenen Geschäfte mit dem Osten, in : Gewinn 1/1990, S. 60–71, hier S. 60. 9 Sieber, Susanne : Direktinvestitionen österreichischer Unternehmen in Ost-Mitteleuropa, in : Monatsberichte des Österreichischen Institutes für Wirtschaftsforschung 8 (2006), S. 613–626, hier S. 617.
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II. Etablierung einer Schnittstelle Die Gründung des Instituts datiert aus dem Frühjahr 1947, eine Eröffnungstagung fand im April statt. Es wurde als »Zentralstelle zur Erforschung und praktischen Behandlung aller mit dem Donauproblem in Zusammenhang stehenden Fragen, insbesondere auf wirtschafts- und verkehrspolitischem Gebiet« vorgestellt. In seinem Präsidium und Kuratorium seien »alle maßgebenden Personen des politischen und wirtschaftlichen Lebens« vertreten.10 Politisch war die Nähe zur Österreichischen Volkspartei (ÖVP) schon aufgrund des Gründers und ersten Präsidenten kein Geheimnis : Eduard Heinl verkörperte die christlichsoziale Parteitradition in jener Linie, die auf das Wiener Kleinbürgertum zurückwies. Zwar betonte man, dass sich um das Institut leitende Persönlichkeiten »sowohl der Arbeitgeber wie Arbeitnehmer« scharten, und erhob damit den Anspruch von sozialpartnerschaftlicher Ausgeglichenheit, dem stand jedoch eine faktische Dominanz von Interessenvertretungen der Unternehmer gegenüber. Die Bundeskammer der gewerblichen Wirtschaft vollzog im Juni 1947 ihren »korporativen Beitritt«.11 Die Kammer spielte in der Zweiten Republik eine tragende Rolle in der Exportförderung, indem sie ein weitgespanntes Netz von Außenhandelsstellen aufbaute.12 Die von ihr entsandten Handelsdelegierten genossen (und genießen) diplomatischen Status, die Verzahnung mit dem Außenministerium, zumal seiner wirtschaftspolitischen Abteilung, war eng. Für den sozialistischen Osten etablierte die Kammer ein »Ostreferat« als Beratungsstelle für Unternehmer, die in diesen Ländern Geschäfte machen wollten. Die inhaltliche Nähe zu den Anliegen des Donaueuropäischen Instituts ist offensichtlich. Als einer von drei Vizepräsidenten des Instituts fungierte denn auch der Präsident der Handelskammer für Oberösterreich Josef Klein. Den Rang von Vizepräsidenten bekleideten außerdem – so der Stand von 1948 – der Generaldirektor der Österreichischen Nationalbank Franz Bartsch und der Großindustrielle Manfred Mautner-Markhof. Martin Kink, seines Zeichens Präsident der Wiener Handelskammer, stand wiederum dem Kuratorium vor. Dieses Gremium erlaubte die Einbindung weiterer einflussreicher Akteure. 1968, also nach zwei Jahrzehnten der Organisationsentwicklung, umfasste es 86 Persönlichkeiten aus den Bereichen Wirtschaft und Politik. Neben das österreichische Kuratorium waren außerdem ein deutsches und ein europäisches getreten.
10 Das Donaueuropäische Institut, in : Donaueuropäischer Informationsdienst, Nr. 12 vom 20. April 1947, S. 1. 11 Korporativer Beitritt der Bundeskammer …, in : Donaueuropäischer Informationsdienst, Nr. 17 vom 6. Oktober 1947, S. 1. 12 Vgl. Meyer, Christian : Exportförderungspolitik in Österreich. Von der Privilegienwirtschaft zum objektiven Förderungssystem, Wien 1991, S. 190–205.
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Die Funktionsträger des Instituts wechselten in den Jahrzehnten seit der Gründung zwar gelegentlich, und der Personenkreis erweiterte sich ; unverändert blieb aber der Charakter einer Institution, deren Gremien sich hauptsächlich aus Unternehmern rekrutierten – unter Anleitung von Politikern freilich. Die Besetzung der Spitzenposition markierte Kontinuität : Auf Heinl, den mehrfachen Handelsminister, folgte 1957 Bock, der ebenfalls in mehreren Regierungen und noch deutlich länger in dieser Funktion amtierte. In der Ersten Republik hatten die Unternehmerorganisationen das Handelsministerium als äußerst zugänglich für ihr Lobbying wahrgenommen,13 und auch das Donaueuropäische Institut unter Führung von ÖVP-Handelsministern repräsentierte die Vorstellung einer Gemeinsamkeit von volkswirtschaftlichen Kalkülen mit den von Unternehmern verfolgten betriebswirtschaftlichen Zielen. So machte es sich das Institut auch angelegen, das Ansehen unternehmerischer Tätigkeit zu stärken. Unternehmern wie Unternehmenshistorikern schien dies häufig in der österreichischen Gesellschaft besonders ungenügend zu sein.14 Eine Tagung des Instituts befasste sich 1958 mit dem »Unternehmer in unserer Zeit«15, und 1966 vergab das Institut im Rahmen seines »wissenschaftlichen Aufbauwerks« Preise für die Behandlung des Themas »Die Aufwertung des Unternehmertums in der öffentlichen Meinung«.16 Orientierung und Selbstverständnis des neuen Instituts lassen sich an diesen Vernetzungen deutlich erkennen. Um seine Anliegen zu rekonstruieren, ist es aber vor allem auch aufschlussreich, sich mit der (wirtschafts-)politischen Biografie seines ersten Präsidenten Heinl17 zu beschäftigen. Wenn es über Heinls Leistungen hieß : »Sein ureigenes Fachgebiet war die Wirtschaft«18, so war eine Form von Wirtschaft gemeint, die einer korporatistisch verfassten Gesellschaft beziehungsweise einem »organisierten Kapitalismus«19 ent13 Vgl. Sturmayr, Gerald : Industrielle Interessenverbände : Ringen um Einheit, in : Tálos, Emmerich/ Dachs, Herbert/Hanisch, Ernst/Staudinger, Anton (Hg.) : Handbuch des politischen Systems : Erste Republik, 1918–1933, Wien 1995, S. 339–352. 14 Vgl. Kühschelm, Oliver/Pförtner, André : Unternehmer, Firmen und Produkte als österreichische »Gedächtnisorte«, in : Brix, Emil/Bruckmüller, Ernst/Stekl, Hannes (Hg.) : Memoria Austriae III. Unternehmer, Firmen, Produkte, Wien 2005, S. 9–42, hier S. 22–25. 15 Güntner, Hans/Dolberg, Richard (Hg.) : Das Donaueuropäische Institut in Wien. 1947–1967. Zwanzig Jahre Pionier im Donauraum, Wien 1968, S. 73. 16 Ebd., S. 84 f. 17 Vgl. Hafenscher, Christine : Der Wirtschaftspolitiker Eduard Heinl (1880–1957), Wien 1973 (ungedruckte Dissertation) ; Heinl, Eduard : Über ein halbes Jahrhundert. Zeit und Wirtschaft, Wien 1948 ; Österreichischer Klub (Hg.) : Eduard Heinl. Ein Leben für Österreich, Wien 1955. 18 Unser Präsident, Bundesminister a. D. Dr. Eduard Heinl – Präsident der Creditanstalt-Bankverein, in : Donaueuropäischer Zeitungsdienst 7/1948, S. 1–2, hier S. 1. 19 Vgl. Hilferding, Rudolf : Das Finanzkapital. Eine Studie über die jüngste Entwicklung des Kapitalismus, Wien 1910.
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sprach. Heinls wirtschaftliches Verständnis rührte nicht aus unternehmerischer Erfahrung, sondern war kameralistischer Natur. Den Grundstein hatten Kurse in Staatsverrechnung und Buchhaltung gelegt, die er als junger Beamter besuchte, um Aufgaben in der Finanzverwaltung erfüllen zu können.20 Später wurde er in den Aufsichtsorganen zahlreicher großer Unternehmen als Verwaltungsrat tätig. Die Funktionsbezeichnung verrät, welche Kompetenz in dieser Position gefragt war : die des erfahrenen Bürokraten. Im Feld der Politik pflegte Heinl, der 1919 in den Nationalrat gewählt wurde, eher den Kompromiss und die Kooperation als die Zuspitzung. Er erwarb sich den Ruf eines »entgegenkommenden Sachwalters« – so das allerdings bürgerliche Neue Wiener Journal.21
III. Informationen, Lobbying und Kontakte Medien und Praktiken verliehen dem Institut zum Ersten seine formale Kohäsion : durch Riten des Vereinswesens wie die Vorstandswahlen ebenso wie durch feststehende Veranstaltungsformate. Zum Zweiten sorgten sie für inhaltliche Kohärenz : durch die Rekurrenz von Aussagen, von Themen und Rhetoriken. Als Medien seien hier konkret die Zeitschriften des Instituts untersucht. Ihnen lagerten sich verschiedene Praktiken an – von der Redaktion bis zur Lektüre –, ohne in den Artefakten der Kommunikation selbst sichtbar zu werden. Wir erfahren von ihnen nur ausnahmsweise, wenn sie in den Medien selbst thematisiert werden. Die Zeitschriften sind auch die wichtigste Quelle, um die übrigen Praktiken des Vereinslebens zu rekonstruieren, die das Donaueuropäische Institut ab 1947 aufnahm (und um genau zu sein : wieder aufnahm). Diese Praktiken erfüllten pragmatische Funktionen genauso, wie sie als Vehikel für symbolische und ideologische Projektionen dienten. Unternehmerisches Handeln im Bereich des Exports sollte unterstützt werden. Die praktische Orientierung, das Ziel, Geschäftsbeziehungen zu ermöglichen, wurde andererseits – wie schon weiter oben erwähnt – auch als politische Hoffnung inszeniert. Die nationalistisch »vergifteten« Beziehungen sollten am nüchternen Kalkül von Unternehmern genesen. Generell bemühten sich die Protagonisten des Donaueuropäischen Instituts, symbolische und pragmatische Ansprüche einer Mitgliedschaft, die vorwiegend aus Unternehmern und Wirtschaftspolitikern bestand, gleichermaßen zu bedienen ; beide Dimensionen zeigen sich oft bis zur Ununterscheidbarkeit ineinander verschränkt. Zunächst zu den Medien : Bereits 1946 wurde der Zeitungsdienst mit geringfügig geändertem Namen als Donaueuropäischer Informationsdienst wieder ins Leben geru20 Vgl. Hafenscher, C. 1973, S. 4 f. 21 Ausgabe vom 27. Februar 1926, zitiert nach Hafenscher, C. 1973, S. 106.
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fen. Wie zuvor betreuten Hermann Reitzer und Hans Güntner die redaktionellen Agenden. Die beiden Wirtschaftsjournalisten traten auch als Mitgründer des Donaueuropäischen Instituts auf. Der Titel Informationsdienst – ebenso gut wie zuvor Zeitungsdienst – kündigte dem Leser Neuigkeiten an, als ein für ihn verwertbares Wissen. Das Blatt wandte sich exklusiv an die Mitglieder und sollte ihnen einen Vorsprung sichern. Nichtmitgliedern dürfe der Informationsdienst nicht zugänglich gemacht werden, hieß es im Tätigkeitsbericht des Instituts von Dezember 1948. Die angestrebte Öffentlichkeit war und blieb die begrenzte Innenwelt des diskutierenden Vereins.22 Das Blatt erschien in vierzehntäglichem Rhythmus und in einem Umfang, der zwischen zehn und 20 Seiten schwankte. Es brachte knappe Wirtschaftsmeldungen, vorwiegend aus dem ostmitteleuropäischen Raum. Ab 1948 veröffentlichte die Zeitschrift auch stets Warenlisten, um Angebot und Nachfrage zusammenführen. Die Mitglieder waren angehalten, ihre Export- und Importwünsche auf diesem Weg kundzutun.23 Ein drittes Element bildeten etwas längere wirtschaftspolitische Berichte und die schriftlichen Fassungen von Vorträgen, die das Institut veranstaltet hatte. Der Schwerpunkt lag auf Ökonomie und Wirtschaftspolitik, aber das Spektrum umfasste ebenso weitgreifende kulturhistorische Narrative. Wenn versucht wurde, die konkreten Anliegen von Unternehmen in große Zusammenhänge einzubetten, so war das wenigstens aus Sicht der Protagonisten des Instituts keine Draufgabe, auf die man leicht hätte verzichten können. 1968 legte man in dieser Hinsicht sogar nach. Das Donaueuropäische Institut verfügte von nun an über ein zweites Publikationsorgan, das West-Ost-Journal, das Platz für außenpolitische Statements und wirtschaftswissenschaftliche Expertise bot. Als Autoren firmierten namhafte Akteure aus Diplomatie und Politik, Ökonomen, leitende Funktionsträger in Banken, staatlichen und parastaatlichen Wirtschaftsinstitutionen sowie unternehmerischen Interessenvertretungen. Viele Beiträge stammten aus Österreich, doch von Beginn an rekrutierte das Journal auch zahlreiche Texte aus dem Ausland. Man brüstete sich mit einer entsprechenden Reichweite : »[I]n 80 Ländern der Welt verbreitet und gelesen«, lautete die Eigenwerbung in den 1980er-Jahren.24 Das WestOst-Journal richtete sich allerdings an eine Öffentlichkeit von Experten und Funktionsträgern. Das Zielpublikum spezifizierte Bock, als er 1970 in einem Editorial befriedigt den Erfolg des neuen Blatts resümierte :
22 1970 wurde das Blatt so charakterisiert : »vertraulicher, alle vierzehn Tage erscheinender und nur für Mitglieder bestimmter Donaueuropäischer Informationsdienst«. Die Arbeitsbereiche des Donaueuropäischen Instituts, in : West-Ost-Journal 4/3 (1970), S. 55. 23 Export-Kooperation der Mitglieder des »Donaueuropäischen Institut«, in : Donaueuropäischer Informationsdienst vom 10. April 1948, S. 1. 24 Zum Beispiel West-Ost-Journal 5/22 (1989), S. 29 ; oder auch auf S. 41 : »›West-Ost-Journal‹ – Mehr als 100.000 Leser in aller Welt.«
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»Was hier geschrieben wird, wird also überall dort gelesen, wo es gelesen werden soll, in den Regierungskanzleien, den Botschaften, den Handels- und Wirtschaftsvertretungen, den Kammern und den Organisationen, die sich mit den west-östlichen Wirtschaftsbeziehungen, sei es in der Theorie oder auf dem Gebiet praktischer Geschäftsverbindungen, befassen.«25
Seit 1947 lud das Donaueuropäische Institut zu Vorträgen ein. Die Themen reichten von »Wirtschaftsplanung und Volkswirtschaft in Polen«26 über »Österreichs Handelsabkommen mit den Donaustaaten«27 bis zu »Maria Theresias Erbe in der Zeit«28. Um über Wien und Österreich hinauszuwirken, griff man das bereits in der Zwischenkriegszeit etablierte Format der mitteleuropäischen Wirtschaftstagungen auf, an dem sich auch die Protagonisten des Donaueuropäischen Instituts bereits vor 1938 versucht hatten.29 Im Oktober 1947 richtete man eine Wirtschaftstagung in Wien aus. Das Thema lautete : »Wien und der Donauraum«. Eine internationale Tagung zu veranstalten, die Unternehmer und Wirtschaftspolitiker zusammenführte, avancierte fortan zu einem Fixpunkt im Jahreslauf des Instituts. Diese Tagungen fanden in Österreich statt, aber als weitere Aktivität kamen Handelstagungen in den RGW-Staaten hinzu, wie sie zum Beispiel im April 1975 in Budapest und im Oktober desselben Jahres in Bukarest stattfanden ; und um einen zeitlichen Sprung Richtung Ostöffnung zu tun : Im November 1988 wurde in Prag eine Tagung zu »Veränderungen in der Wirtschaft der ČSSR« organisiert,30 im November des folgenden Jahres eine Tagung in Budapest. Letztere wurde als »echte Chance zu direkten Gesprächen mit Entscheidungsträgern der obersten Führungsebene und führenden ungarischen Wirtschaftsrepräsen tanten«31 beworben. Der Vorsprung, den das Institut vor allem seinen Mitgliedern verschaffen wollte, beschränkte sich also nicht darauf, Sachinformation in Aussicht zu stellen. Seine Proponenten hatten das Donaueuropäische Institut wesentlich als Kontaktbörse aufgesetzt – wenngleich anfangs auf Wien beschränkt. So organisierte man monatliche Exportabende mit Vorträgen, an die sich ein »gemütliches Beisammensein« anschloss. Diesen Aspekt hob 1949 ein Flugblatt32 besonders hervor, um 25 Bock, Fritz : Zwei Jahre »West-Ost-Journal«, in : West-Ost-Journal 5/3 (1970), S. 1 f. 26 Donaueuropäischer Informationsdienst vom 31. März 1948, S. 1. 27 Beilage zum Donaueuropäischen Informationsdienst : Vortrag von Hellmuth Boller, dem Leiter der Handelspolitischen Abteilung der Wiener Handelskammer, beim Exportabend vom 3. November 1948. 28 Vortrag von Josef Klaus vom 11. Jänner 1955, in : Aus der Mitgliedschaft. Beilage zum Donaueuropäischen Informationsdienst, Nr. 2, 1955. 29 Vgl. Reitzer, H. 1955. 30 West-Ost-Journal 6/21 (1988), S. 37 31 West-Ost-Journal 5/22 (1989), S. 57. 32 Eingelegt in Donaueuropäischer Informationsdienst, Nr. 8, 1949 (Universitätsbibliothek Wien).
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die Veranstaltungen den Mitgliedern schmackhaft zu machen : Die Abende seien Ort für »persönlichen Kontakt«, Erfahrungsaustausch und »Anknüpfung wertvoller geschäftlicher Verbindungen«. Viele Mitglieder hätten daraus nicht nur Anregungen, sondern »auch ganz konkrete geschäftliche Vorteile« gezogen. Neben dem Austausch unter Gleichen wurde Lobbying gegenüber dem Staat als dem zentralen wirtschaftspolitischen Akteur geboten. Wenn angekündigt wurde, dass der Abschluss eines Handelsvertrags mit der Tschechoslowakei bevorstehe, so knüpfte sich daran die Aufforderung : »Wir laden alle unsere Mitglieder ein, uns ihre speziellen Wünsche und Anregungen […] bekannt zu geben. Wir werden alles daran setzen, daß diese weitestgehende Berücksichtigung finden.«33 Das Versprechen besaß vermutlich insofern Attraktivität, als der Präsident des Instituts in dieser Sache nur mit sich selbst in seiner Funktion als Handelsminister in Kontakt treten musste. Mit Bock blieb der direkte Draht zu ministeriellen Schaltstellen erhalten : Ab 1956 amtierte er mehr als ein Jahrzehnt als Handelsminister, und in der Regierung Josef Klaus war er zwei Jahre lang auch Vizekanzler. 1968 trat Bock von diesen Funktionen zurück, doch der Zugang, den ein ÖVP-geführtes Handelsministerium garantierte, blieb erhalten. Als sich 1970 der Machtwechsel zur Regierung Bruno Kreisky vollzog, konnte Bock im West-Ost-Journal Beunruhigung über einen wahrscheinlichen Kurswechsel in der Außenpolitik sowie (Außen-)Wirtschaftspolitik nicht verbergen, obwohl sich das Blatt selbst die Rolle innenpolitischer Neutralität auferlegt hatte. Dem Vorstand des Donaueuropäischen Instituts gehörten zwar auch Politiker der Sozialistischen Partei Österreichs an und zu Vorträgen wie Tagungen kamen weiterhin hochrangige Vertreter der – jetzt sozialdemokratischen – Regierung, der neue Handelsminister Josef Staribacher dürfte sich jedoch primär anderer Institutionen bedient haben, wenn er Osthandelsexpertise benötigte.34 1968 erschien eine Festschrift für das Institut, das inzwischen seit 25 Jahren bestand. Als »Leitlinie« seines Arbeitsstils wurde das Bestreben hervorgehoben, »an die in Betracht kommenden Personen in Schlüsselstellungen heranzukommen« ; und zwar nicht nur an die offiziellen Ansprechpartner, sondern an Akteure, deren Position man mit einer Reihe von Synonymen zu fassen suchte : »›Inspirator‹, ›Meinungsbildner‹, ›Graue Eminenz‹, ›Drahtzieher‹, ›Agierender hinter den Kulissen‹«. Es sei der Vorteil des Instituts, dass es sich abseits des Protokollarischen bewegen könne.35 Trotz 33 Bevorstehender Abschluß der Handelsvertragsverhandlungen mit der Tschechoslovakei, in : Donaueuro päischer Informationsdienst vom 20. November 1947, S. 1 ; vgl. auch Heinl, E. 1946, S. 3. 34 So die mündliche Einschätzung von Maximilian Graf, der die Tagebücher von Staribacher für seine Dissertation durchgearbeitet hat. Vgl. Graf, Maximilian : Österreich und die DDR 1949–1989/90. Beziehungen – Kontakte – Wahrnehmungen, Wien 2012 (ungedruckte Dissertation). : Der Arbeitsstil und die Probleme des Donaueuropäischen Instituts, in : Güntner, 35 Dolberg, R. H./Dolberg, R. 1968, S. 63–69, hier S. 68.
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der ostentativen Abgrenzung gegenüber dem Vorgehen staatlicher Diplomatie stellte gerade diese unverkennbar das Modell bereit, an dem sich das Institut orientierte. Im Februar 1974 veranstaltete das Donaueuropäische Institut im Verein mit dem Klub der Handelsräte ein »Round-Table-Gespräch«, das Diplomaten aus 37 Ländern zusammenführte. Man habe »aktuelle Wirtschaftsfragen« mit Handelsminister Staribacher erörtert, erfahren wir aus dem Donaueuropäischen Informationsdienst, der seinerseits einen Bericht der Wochenpresse zitiert : »Russen saßen an einem der langen Tische mit Chinesen, beim Büfett sprachen Portugiesen mit Vertretern des Ostblocks, es war wie eine Mini-UNO, nur weitaus freundlicher …«36 Das skizzierte Bild schmeichelte den Protagonisten des Donaueuropäischen Instituts. Es entsprach dessen Selbstbild als privater Kanal für Außenhandelsdiplomatie, entbunden von manchen unfreundlichen Zwängen. Das Bild einer Mini-UNO fügte sich auch passgenau zu den Aspirationen des Instituts, das 1973 einen Konsultativstatus beim Wirtschafts- und Sozialrat der Vereinten Nationen erhielt.37 Für den internationalen Gebrauch trat die Organisation nunmehr als OIER auf, als Organisation für internationale Wirtschaftsbeziehungen. Wenn man sich um eine »Internationalisierung« des Donaueuropäischen Instituts bemühte, so hieß das vor allem eine Intensivierung der Beziehungen zu deutschen Politikern und Unternehmern. Deutschland in Plänen für Donaueuropa berücksichtigen zu müssen schien sich zwar in der ersten Nachkriegzeit erledigt zu haben,38 doch erlebte Westdeutschland in den 1950er-Jahren sein eindrucksvolles ökonomisches Comeback. Deutschlands Relevanz als wirtschaftspolitischer Akteur war somit für Österreich rasch wiederhergestellt, und um zu beantworten, wie man im Donaueuropäischen Institut das Verhältnis zu Deutschland sah, genügt es, die Festschrift von 1968 aufzuschlagen und sich die umfängliche Liste von Unternehmern zu vergegenwärtigen, die dem deutschen Kuratorium des Instituts angehörten. In einem von Bock präsidierten Institut suchte man die Nähe zum christdemokratisch regierten Deutschland und innerhalb desselben zu dem von der Christlich-Sozialen Union (CSU) dominierten Bayern. 1973 wurde unter Vorsitz des ehemaligen bayerischen Finanzministers Otto Schedl ein eigenes bayerisches Kuratorium eingerichtet,39 und im Vorstand des Donaueuropäischen Instituts fungierte sein Nachfolger Ludwig Huber als einer von sechs Vizepräsidenten.40
36 Round-Table-Gespräch, in : Donaueuropäischer Informationsdienst März (1974), S. 1. 37 UN-Konsultativstatus für Donaueuropäisches Institut, in : Donaueuropäischer Informationsdienst 2/30 (1973), S. 1. 38 Vgl. Heinl, E. 1946, S. 5 f. 39 Donaueuropäisches Institut in Bayern, in : Donaueuropäischer Informationsdienst 4/30 (1973), S. 2, und 5/30 (1973), S. 1. 40 Weitere Internationalisierung des Donaueuropäischen Instituts, in : Donaueuropäischer Informationsdienst Mai/31 (1974), S. 1–2, hier S. 1.
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Bei aller ideologischen und personellen Kontinuität innerhalb des Donaueuropäischen Instituts, die bis hin zur Personalunion zwischen Präsident und Handelsminister reichte, ist doch – wohl auch biografisch von dem durch die Habsburgermonarchie geprägten Heinl zu dem eine Generation jüngeren Bock – an einem zentralen Punkt eine Verschiebung zu konstatieren : in der dominanten Orientierung nach Westeuropa. Für Österreich bot sich zwar unter den Bedingungen des Kalten Kriegs nach Osten wie nach Westen nur die Perspektive einer begrenzten Integration. Gerade Bock zählte aber innerhalb der ÖVP zu jenen, die trotz Neutralität einen exklusiv wirtschaftspolitisch begründeten Anschluss an die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft forcierten.41 Es ist dies alles andere als nebensächlich : Hier also erblickte der Präsident des Donaueuropäischen Instituts Österreichs wirtschaftliche Zukunft, nicht in Ostmitteleuropa.42
IV. Donaueuropa Das Donaueuropäische Institut verschrieb sich schon durch seine Namensgebung einer konzeptuellen Klammer, die auf Raumvorstellungen aufruhte. Diese sind seit den 1990er-Jahren zu einem viel bearbeiteten kulturwissenschaftlichen Forschungsfeld geworden ; das gilt auch für die »Einbildung ›Osten‹«43. Solche Imaginationen lassen sich mit Ernesto Laclau als privilegierte Signifikanten analysieren, deren paradoxes Charakteristikum darin besteht, dass sie aus (relativer) Bedeutungsleere Wirkmacht schöpfen.44 Diese Dynamik hat auch schon Roland Barthes in seiner Analyse des Mythos beobachtet.45 Um die Mythenproduktion im Diskurs zu untersuchen, ist außerdem die kognitive Linguistik relevant, da sie zeigt, wie metaphorische Projektionen oder Überblendungen heterogene Ausgangsdomänen zu intuitiv eingängigen Vorstellungen zusammenspannen.46 Wir haben hier daher eingangs von kon41 Vgl. Gehler, Michael : Österreichs Außenpolitik der Zweiten Republik. Von der alliierten Besatzung bis zum Europa des 21. Jahrhunderts, Innsbruck/Wien 2005, S. 227–234, 300–306, 331–337 ; Rathkolb, Oliver : Die paradoxe Republik : Österreich 1945 bis 2005, Wien 2005, S. 287 ; vgl. auch Bock, Fritz : Die Integrationspolitik vor dem Eisernen Vorhang (hrsg. vom Donaueuropäischen Institut), Wien 1968a, S. 3. 42 Vgl. neuerlich Bock, F. 1968a. 43 Bernhardt, Petra : Einbildung »Osten«. Persistenz und Wandel einer Raumkategorie, 1989–2007, Wien 2011 (ungedruckte Dissertation). 44 Vgl. Laclau, Ernesto : Ideologie und Post-Marxismus, in : Nonhoff, Martin (Hg.) : Diskurs – radikale Demokratie – Hegemonie. Zum politischen Denken von Ernesto Laclau und Chantal Mouffe, Bielefeld 2007, S. 25–39. 45 Vgl. Barthes, Roland : Mythen des Alltags, Frankfurt am Main 1996. 46 Vgl. Lakoff, George/Johnson, Mark : Leben in Metaphern. Konstruktion und Gebrauch von Sprachbildern, 5. Aufl., Heidelberg 2007 ; Fauconnier, Gilles/Turner, Mark : The Way We Think. Conceptual Blending and the Mind’s Hidden Complexities, New York 2003.
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zeptuellen Klammern gesprochen : von fungiblen semantischen Containern, die eine Verständlichkeit jenseits eines spezifischen Wissens sicherstellen. Sie sind suggestiv genug, um Emotion und Zustimmung zu erzeugen, aber hinreichend vage, um eine Verwendbarkeit zu gewährleisten, die nicht nur an enge historische Konstellationen gebunden ist. Auf einem solch schmalen Grat wandern auch Mitteleuropa, der Donauraum oder Donaueuropa. Sie verbinden sich ebenso mit Vorstellungen von Partnerschaftlichkeit und Kooperation zwischen Gleichen wie mit Imaginationen von Hierarchie, die sich entlang von Dichotomien anordnet : von Herrschern und Beherrschten, Lehrenden und Lernenden, Zivilisationsbringern und Empfängern des Lichts der Aufklärung und des Komforts. In wirtschaftsstrategischen Diskussionen war Mitteleuropa schon lange präsent. Bereits um 1850 wurde von Handelsminister Karl Ludwig von Bruck das »handelspolitische Zusammenfassen Mitteleuropas«47 als eine Option propagiert, die das Habsburgerreich gegen den Konkurrenten Preußen stärken sollte.48 In den 1920erJahren boten sich der Donauraum und Mitteleuropa ebenfalls als Lösung an – nun für die neue österreichische Kleinstaatlichkeit.49 Heinl beteiligte sich am Versuch, diese als Ausgangspunkt für eine regionale Handelspolitik positiv in Szene zu setzen und sie vor einen europäischen Horizont zu platzieren.50 Den Wirtschaftsbeziehungen mit den Nachfolgestaaten der Habsburgermonarchie widmete Heinl erhebliche Aufmerksamkeit, ob als Handelsminister oder in seinen zahlreichen anderen Funktionen. So stand er als Präsident der 1927/28 gegründeten Österreichisch-Tschechoslovakischen Gesellschaft vor, die den wechselseitigen Reiseverkehr fördern und Kontakte verdichten sollte. 1937 tat sie sich mit der Österreichisch-Jugoslavischen Gesellschaft zusammen, um den Donaueuropäischen Zeitungsdienst herauszugeben. Das Periodikum verbreitete wirtschaftspolitische Positionen, die auf eine Reintegration des Donauraums setzten. 47 Bruck, Karl Ludwig : Vorschläge zur Anbahnung der österreichisch-deutschen Zoll- und Handelseinigung (erstmals veröffentlicht in der Wiener Zeitung vom 26. Oktober 1849), in : Charmatz, Richard : Minister Freiherr von Bruck, der Vorkämpfer Mitteleuropas. Sein Lebensgang und seine Denkschriften, Leipzig 1916, S. 157–163, hier S. 162. 48 Vgl. Drobesch, Werner : Die ökonomischen Aspekte der Bruck-Schwarzenbergschen »Mitteleuropa«Idee, in : Plaschka, Richard Georg (Hg.) : Mitteleuropa – Idee, Wissenschaft und Kultur im 19. und 20. Jahrhundert. Beiträge aus österreichischer und ungarischer Sicht, Wien 1997, S. 19–42. 49 Vgl. Matis, Herbert : »Eine neue Wirtschaftsordnung für Mitteleuropa …« Mitteleuropäische Wirtschaftskonzepte in der Zwischenkriegszeit, in : Matis, Herbert/Teichova, Alice (Hg.) : Österreich und die Tschechoslowakei 1918 bis 1938. Die wirtschaftliche Neuordnung in Zentraleuropa in der Zwischenkriegszeit, Wien/Köln/Weimar 1995, S. 230–255. 50 Vgl. Die Kleinstaaten als Stützpunkte für den Aufbau des zukünftigen Europas, in : Donaueuropäischer Zeitungsdienst vom 20. November 1937, S. 1 f. In dieser Tradition später auch : Dolberg, Richard : Die Welt braucht den Kleinstaat. Denkschrift verfaßt anläßlich der Organisation des »Kleinstaaten-Instituts« auf Grund von Vorarbeiten des Studienkomitees »Kleinstaat« des Österreich-Instituts, Wien 1968.
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Einen wichtigen Bezugspunkt bildete das internationale Netzwerk von Unternehmern und Wirtschaftspolitikern, das um die Mitteleuropäische Wirtschaftstagung entstand.51 Der Unternehmer Julius Meinl,52 dessen Industrie- und Handelskonzern in vielen Ländern Mittelosteuropas aktiv war, hatte für die Tagung 1925 nach Wien geladen. Organisatorisch maßgeblich beteiligt war der Ministerialbeamte Richard Dolberg.53 Nach 1945 zählte er im Donaueuropäischen Institut zu den aktivsten Mitgliedern und fungierte in den 1960er-Jahren als geschäftsführendes Vorstandsmitglied. An der Wirtschaftstagung und dem aus ihr hervorgegangenen Mitteleuropäischen Wirtschaftstag nahm auch der ungarische Wirtschaftspolitiker und -publizist Elemér Hantos federführenden Anteil. Er gehörte zu den prononciertesten Stimmen, die Mitteleuropa als ein Gegengewicht zur wirtschaftlichen Hegemonie Deutschlands forcierten.54 Der Donaueuropäische Zeitungsdienst berichtete oft und beifällig über seine Aktivitäten. Übereinstimmung gab es auch mit den Anliegen der Paneuropa-Union, die Richard Coudenhove-Kalergi ins Leben gerufen hatte.55 Dieser war später ein gern gesehener Vortragender im Donaueuropäischen Institut, so wie nach ihm Otto von Habsburg, und als das Donaueuropäische Institut 1964 Preise »für zeitgebotene Leistungen«56 auslobte, wurde Coudenhove-Kalergi »in der ersten Reihe«57 bedacht. Wie die meisten Angehörigen der österreichischen Wirtschaftselite war Heinl überzeugt, dass die »Donaumonarchie« einen idealen wirtschaftlichen Zusammenhang gebildet hatte. Dass sich der Blick aus dem Zentrum, insbesondere aus Wien, von der Perspektive anderer, peripherer und peripherisierter Regionen unterschied, blendete die Argumentation aus.58 Heinl konzedierte, dass der »Freiheitsrausch« in 51 Vgl. Sachse, Carola : »Mitteleuropa« und »Südosteuropa« als Planungsraum. Der Mitteleuropäische Wirtschaftstag im Kontext, in : Sachse, Carola (Hg.) : »Mitteleuropa« und »Südosteuropa« als Pla nungsraum. Wirtschafts- und kulturpolitische Expertisen im Zeitalter der Weltkriege, Göttingen 2010, S. 13–45 ; Freytag, Carl : Deutschlands »Drang nach Südosten«. Der Mitteleuropäische Wirtschaftstag und der »Ergänzungsraum Südosteuropa« 1931–1945, Göttingen 2012. 52 Vgl. Kühschelm, Oliver/Pförtner, André : Unternehmer, Firmen und Produkte als österreichische »Gedächtnisorte«, in : Brix, Emil/Bruckmüller, Ernst/Stekl, Hannes (Hg.): Memoria Austriae III. Unternehmer, Firmen, Produkte, Wien 2005, S. 9–42, hier S. 22–25. 53 Vgl. Dolberg, R. 1968, S. 63 ; Dolberg, Richard : Die Mitteleuropäische Wirtschaftstagung am 8. und 9. September 1925 in Wien, Wien 1925. 54 Vgl. Müller, Nils : Die Wirtschaft als »Brücke der Politik«. Elemér Hantos’ wirtschaftspolitisches Programm in den 1920er und 1930er Jahren, in : Sachse, Carola (Hg.) : »Mitteleuropa« und »Südosteuropa« als Planungsraum. Wirtschafts- und kulturpolitische Expertisen im Zeitalter der Weltkriege, Göttingen 2010, S. 87–114 ; Haslinger, Peter : Hundert Jahre Nachbarschaft. Die Beziehungen zwischen Österreich und Ungarn. 1895–1994, Frankfurt am Main/Wien 1996, S. 198–200. 55 Vgl. Ziegerhofer-Prettenthaler, Anita : Botschafter Europas. Richard Nikolaus Coudenhove-Kalergi und die Paneuropa-Bewegung in den zwanziger und dreißiger Jahren, Wien 2004, S. 271–328. 56 Güntner, H./Dolberg, R. 1968, S. 84. 57 Bock, Fritz, Zum Geleit, in : Güntner, H./Dolberg, R. 1968, S. 6. 58 Vgl. Stiefel, Dieter : Die große Krise in einem kleinen Land : Österreichische Finanz- und Wirtschafts-
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den sich vom Zentrum lossagenden Nachfolgestaaten vorübergehend die Stimme der Vernunft übertönt habe, doch »die natürliche Geographie des Donauraumes« verlangte aus seiner Sicht »gebieterisch« eine Zusammenarbeit.59 Mitte der 1920erJahre, nach Konsolidierung des neuen Staatengefüges, hielt er den geeigneten Moment für gekommen, um die Kooperation zu intensivieren.60 Die Sorge um einen Verlust staatlicher Souveränität wies er als »atavistische, heute aber völlig unbegründete Angst« zurück.61 Wenn von Wien aus der Donauraum propagiert wurde, ging es aber denn doch um die einstige und wieder zu erlangende Funktion des Zentrums. Heinl sah Österreich noch Anfang März 1938 in der Rolle eines »primus inter pares«, dazu berufen, »die Führung in der wirtschaftlichen Vereinheitlichung des Donauraumes zu übernehmen«.62 Nach 1945 nahm das Donaueuropäische Institut den Appell an die Vernunft mit denselben Überlegungen und derselben Rhetorik wieder auf. 1948 begeisterte man sich für das programmatische Buch des Publizisten Richard Kutschera, das als erstes nach dem Krieg die These der »Lebenseinheit Donauraum« vertrat.63 Postuliert wurde wiederum eine Vernunft, die sich in die Einsicht der geografischen Notwendigkeit schickt.64 Die Donaugemeinschaft enthalte keine Spitze gegen irgendeinen Staat, lautete die frohe Botschaft, die das Konzept in den Nachbarländern akzeptabel machen sollte. Ein Merkmal der donaueuropäischen »Vernunft«, wie sie seit den 1920er-Jahren formuliert und nach 1945 weitergetragen wurde, war ihr Anspruch, »praktisch« zu sein. Das sollte sie befähigen, gegen ideologische Verirrungen, namentlich den Nationalismus (und später den Kommunismus), anzutreten. Ein klarer Blick stand von sogenannten »Wirtschaftspraktikern«65 zu erwarten. Darunter waren am Export politik, 1929–1938 (Studien zu Politik und Verwaltung 26), Wien 1988, S. 321 ; Berger, Peter : Der Donauraum im wirtschaftlichen Umbruch nach dem Ersten Weltkrieg : Währung und Finanzen in den Nachfolgestaaten Österreich, Ungarn und Tschechoslowakei, 1918–1929 (Dissertationen der Wirtschaftsuniversität Wien 35), Wien 1982. 59 Heinl, Eduard : Donau-Europa – ein Programm, in : Donaueuropäischer Zeitungsdienst vom 3. Juni 1937, S. 1 f. 60 Vgl. Heinl, Eduard : Die Wiener Messe und der Neubau des Wirtschaftsgebietes im Donauraum, in : Donaueuropäischer Zeitungsdienst vom 14. August 1937. 61 Heinl, E. 1937, S. 2. 62 Heinl, Eduard : Die Wiener Messe und der Übergang zum freien Zahlungsverkehr, in : Donaueuropäischer Zeitungsdienst vom 5. März 1938. 63 Vgl. Kutschera, Richard : Lebenseinheit Donauraum. Zwischen Ost und West, Linz 1948 ; Marjanović, Vladislav : Die Mitteleuropa-Idee und die Mitteleuropa-Politik Österreichs 1945–1995, Frankfurt am Main/Wien 1998, S. 20–22 ; Marschik, Matthias/Sottopietra, Doris : Erbfeinde und Haßlieben. Konzept und Realität Mitteleuropas im Sport, Münster 2000, S. 78. 64 »Durchbruch zur Vernunft« heißt das Schlusskapitel, das wie das Einleitungskapitel auszugsweise im Donaueuropäischen Informationsdienst (Nr. 8 vom 15. März 1948, S. 1–4) abgedruckt wurde. 65 Wirtschaftspraktiker an die Front ! Zur Donauraum-Frage, in : Donaueuropäischer Zeitungsdienst vom
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interessierte Unternehmer, aber auch der Wirtschaftspolitiker Heinl zu verstehen. Wirtschafts- und Handelspolitik wurde als unideologische Praxis begriffen. Daher schien es schlüssig, wenn der Wirtschaftshistoriker Arnold Winkler einen Vortrag über »nationale Sympathien und Antipathien in der Geschichte des Donauraumes«, den er 1947 im Donaueuropäischen Institut hielt, mit der Hoffnung schloss, dass es Österreich gelingen möge, die Führung (!) »in der Ablehnung des Nationalismus und Förderung des Ökonomismus« zu übernehmen.66
V. Vermittler zwischen den Blöcken Im August 1947 stellte der Donaueuropäische Informationsdienst apodiktisch fest : »In der Arbeit des ›Donaueuropäischen Institut‹ spielt der angebliche Gegensatz zwischen Ost und West keine Rolle. Mit diesem Gegensatz ist es so bestellt, wie mit allen Schlagworten einer künstlich aufgeplusterten Propaganda : Sie werden in die Welt gesetzt, verbreitet, vergrößert und treiben ihr Unwesen, ohne daß sich die breiten Massen, die durch den Unfug des Schlagwortes verwirrt und beunruhigt werden, die Mühe nehmen, mit kühlem Überlegen zu prüfen, was sich in Wirklichkeit dahinter verbirgt. Das ›Donaueuropäische Institut‹ dient nicht Schlagworten, sondern der praktischen Wirklichkeit.«67
Die Passage beansprucht für das Donaueuropäische Institut wiederum die Rolle als Stimme der Vernunft. Sie vermag zwischen dem hitzigen propagandistischen Diskurs und einer Wirklichkeit zu differenzieren, die bei »kühlem Überlegen« zugänglich wird. Davon verspricht man sich Handlungsfähigkeit – im Unterschied zu der den »breiten Massen« zugeschriebenen Verwirrung. Die Trennung von bloßem Gerede einerseits und Wirklichkeit, praktischer zumal, andererseits ist freilich eine rhetorische Operation, die ins Leere geht, wenn politisch-militärisches Handeln und seine Repräsentation im ideologischen Diskurs ineinandergreifen, wie sie das im »Kalten Krieg« taten. »Unfug« mochte es ja sein, doch an der Ernsthaftigkeit seiner Durchführung besteht im Rückblick nicht jener Zweifel, an den sich der Donaueuropäische Informationsdienst noch klammerte. Die politische und militärische Konfrontation 16. Oktober 1937 ; Heinl, Eduard : Die Wiener Messe und der Übergang zum freien Zahlungsverkehr, in : Donaueuropäischer Zeitungsdienst vom 5. März 1938 ; vgl. auch Heinl, Eduard : Probleme und zukünftige Gestaltung der österreichischen Handelspolitik (Politische Zeitprobleme 9), Wien 1946, S. 3. 66 Winkler, Arnold : Nationale Sympathien und Antipathien in der Geschichte des Donauraumes, in : Donaueuropäischer Informationsdienst, Nr. 18 vom 20. Juni 1947, S. 2–4, hier S. 4. 67 Der Wohlstand Europas ist unteilbar, in : Donaueuropäischer Informationsdienst, Nr. 24 vom 20. August 1947, S. 1–3, hier S. 1.
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ließ sich auf Dauer zwar nicht ignorieren, doch blieb es Strategie des Instituts, neben oder hinter dem »angeblichen Gegensatz« die »praktische Wirklichkeit« von Handelskontakten zu pflegen. Das Institut verstand sich denn auch als »Selbsthilfeaktion der österreichischen Wirtschaft«.68 Da die Planwirtschaften Osteuropas hohe Einstiegshürden für Außenstehende errichteten, bestand Bedarf nach Institutionen, die als privilegierte Drehscheibe von Informationen und Kontakten auftraten. Als das Präsidium des Instituts 1967 beschloss, ein zweites Periodikum neben dem Donaueuropäischen Informationsdienst herauszubringen, entschied man sich für den Titel West-Ost-Journal. Man kann hierin eine Verschiebung des Akzents beobachten : von der Imagination eines zusammenhängenden (Donau-)Raums zur Konstatierung zweier getrennter Räume, des »Westens« und des »Ostens«, die der Vermittlung bedürfen. Für das Blatt hatte jedes Thema exakt zwei Seiten, eine westliche und eine östliche. Im Paradigma der Fachzeitschriften, die sich mit dem Osten befassten, nahm das West-Ost-Journal als Alleinstellungsmerkmal für sich in Anspruch, systematisch Beiträge aus beiden Lagern einander gegenüberzustellen. Bock, der viele Jahre die redaktionelle Oberhoheit ausübte, betonte rückblickend, dass man die Texte stets »völlig unzensuriert« abgedruckt habe.69 Diese Versicherung war unverkennbar auf die Artikel aus dem kommunistischen Machtbereich gemünzt, der den Blattverantwortlichen ideologisch fernstand. Die Umwälzungen von 1989 warfen eine Frage auf, die Bock am Ende dieses Jahres in seinem Editorial so formulierte : »Was also bleibt für das Thema ›West-Ost‹ noch übrig ?« War das Profil des Instituts noch zeitgemäß, wenn man die drastisch geänderten Rahmenbedingungen in Rechnung stellte, die sich für die 1990er-Jahre abzeichneten ? Etwaige Zweifel dieser Art räumte Bock sogleich aus : »Es wäre weit verfehlt anzunehmen, daß es jetzt keine west-östlichen Probleme mehr gäbe.«70 1992, aus Anlass des 25-jährigen Jubiläums der Zeitschrift, bekräftigte Bock, dass man »auch in den nächsten 25 Jahren genug Material zur Berichterstattung haben« werde.71 Dennoch entsprachen dem Ende des Kalten Krieges als epochaler Zäsur in Mittelosteuropa Brüche im Kontext des Donaueuropäischen Instituts. Zum einen in personeller Hinsicht : 1990 starb Otto Karner, der langjährige Chefredakteur des West-Ost-Journals,72 und zur selben Zeit zog sich der bald 80-jährige Bock von seiner Tätigkeit für die Zeitschrift zurück, für die er bis dahin fast alle Leitartikel verfasst
68 Fortschreitende Wirtschaftskooperation im Donauraum, in : Donaueuropäischer Informationsdienst, Nr. 20 vom 10. Juli 1947, S. 1–3, hier S. 2. 69 Bock, Fritz : Fünfundzwanzig Jahre, in : West-Ost-Journal 1/25 (1992), S. 3. 70 [Bock, Fritz :] West-Ost – eine Unzahl neuer Aufgaben, in : West-Ost-Journal 6/22 (1989), S. 1–2, hier S. 1. 71 Bock, F. 1992, S. 3. 72 Vgl. † Chefredakteur Otto Karner in : West-Ost-Journal 5/23 (1990), S. 3.
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hatte.73 Bock starb 1993, und den personellen Brüchen folgten mediale : Das Journal wurde 1996 eingestellt, der Informationsdienst bald darauf. Auch die Marke Donaueuropäisches Institut wurde aufgegeben. Die Einrichtung firmiert heute als Organization for International Economic Relations (OIER). Der Name verrät keine Bindung mehr an eine spezifische Machtkonstellation oder an einen geografischen Raum.74 Die Unternehmen, welche die Dienste der Organisation in Anspruch nehmen, kommen freilich weiterhin vor allem aus Deutschland und Österreich.75
VI. 1989 – »Zurück zur Monarchie ? « 76 Diese Frage wurde von einem Cover des Wirtschaftsmagazins Cash Flow aufgeworfen. Sie bezog sich auf die Perspektive eines mittelosteuropäischen Markts, der österreichischen Unternehmen nun neuerlich offenzustehen versprach. Die »Monarchie« fungiert als das suggestive Kürzel für diesen Raum, ehemals – und bald wieder ? – ein Binnenmarkt. Um die patrimoniale Dimension dieser Herrschaft ging es Cash Flow bei seiner Variante eines »Zurück in die Zukunft« nicht. Stolz berichtete man über die aufwendige Herstellung des Coverfotos.77 Es zeigte den Kaiser, aber nicht einfach nur diesen, sondern einen als Kaiser kostümierten Schauspieler. Die Inszenierung erlaubte einen Schwebezustand zwischen Distanz und Identifikation, ein doppeltes Bewusstsein, wie es mit der rhetorischen Figur der Ironie einhergeht. In welche Richtung auch immer die Rezipienten den Schwebezustand auflösten, das Magazin konnte sich als außer Obligo betrachten. Das eben ist der Vorteil des Spiels mit der »Habsburgermonarchie« als einem Signifikanten, der sich nur noch auf historische und fiktionale Referenten bezieht : Man kann jederzeit behaupten, es wäre nicht ernst gemeint. Andererseits verschmilzt gerade die Inszenierung des alten Kaisers die imperiale Macht mit einer Vorstellung großväterlicher Gutmütigkeit. Sie lädt ein, diesen so heimelig beherrschten Innenraum beziehungsweise Binnenmarkt zu betreten. In methodologischer Hinsicht ergibt sich die Frage, wie man solche Imaginationen fassen kann. Wir können verschiedene theoretische Zugänge in Anschlag bringen, die jeweils darauf abzielen, dass Konzepte, die eine Verständlichkeit jenseits des
73 Vgl. Bock, Fritz : Dank an alle Leser, in : West-Ost-Journal 5/23 (1990), S. 51. 74 Auf der Website werden in der Rubrik »über uns« als besonderer Fokus »strategischer Kommunikation« Afrika, Zentralasien, China und Südamerika, nicht aber Ostmitteleuropa erwähnt, vgl. http:// www.oier.eu/de-oier-as-cooperating-partner.html (online am 20. Dezember 2012). 75 Telefonische Auskunft von Generalsekretärin Kari Aina Eik, 30. Oktober 2012. 76 Cash Flow 4/1990, Cover. 77 Ein Königreich für einen Kaiser, in : Cash Flow 4/1990, S. 146.
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spezifischen Wissens sicherstellen, fungible semantische Container sind.78 Sie sind suggestiv genug, um Emotion und Zustimmung zu erzeugen, aber hinreichend vage, um eine Verwendbarkeit zu gewährleisten, die nicht nur an enge historische Konstellationen gebunden ist. »Nach 70 Jahren …« überschrieb Bock im September 1989 seinen Leitartikel im West-Ost-Journal.79 Noch bevor sich diese in den Folgemonaten tatsächlich im gesamten ostmitteleuropäischen, bis dahin sozialistischen Raum vollzogen, kommentierte Bock »weltpolitische Veränderungen« als das Ende einer Geschichte. »Nach 70 Jahren …« nahm eine Periodisierung vor, indem sie einen zeitlichen Anfang nannte und einen Schluss nahelegte – eine Epoche war vorbei und wurde eingeklammert. Bock rechnete 70 Jahre zurück und stieß auf »zwei Wurzeln« der Veränderungen : zum einen die fehlgeleitete Wirtschaftspolitik auf dem ideologischen Boden des Marxismus. Die Russische Revolution und die Errichtung der Sowjetunion als Gründungsereignisse dieser »Wurzel« werden aber nicht erwähnt, denn vor 70 Jahren fand zum anderen das statt, was Bock in den Mittelpunkt seines Leitartikels rücken wollte, nämlich die Auflösung »der jahrhundertealten mitteleuropäischen Gesamtstruktur. Sie war beherrscht von der staatlichen Konstruktion der alten Donaumonarchie, die in politischer und wirtschaftlicher Beziehung ein echter Integrationsraum gewesen ist.« Hier sah Bock »die wesentliche Ursache«. Die Aussage scheint klar, aber so wie Cash Flow ging es auch dem Ehrenpräsidenten des Donaueuropäischen Instituts darum, Eindeutigkeit zu vermeiden. Gegenläufige Aussagen wurden platziert, um den Raum sekundärer Signifikation zu öffnen, hier den Mythos Osten. Bock relativierte seine Behauptung vom Donauraum als »wesentlicher Ursache« bereits im Voraus mit einer »captatio benevolentiae«, die auf den »österreichischen Charakter« des Journals hinwies. »So möge das Nachfolgende verstanden werden.« Der Einleitung, die um Nachsicht bat, korrespondierte der Schluss : »Wenn eingangs von einer ›österreichischen Wurzel‹ der jüngsten politischen Entwicklungen gesprochen wurde, so ist dies ein Thema für die Historiker, deren Aufgabe es ist, historische Wurzeln bloßzulegen. Nicht mehr.« An dem Punkt hätte der Leser verstanden haben können, dass die Ausführungen Bocks in einem wirtschafts- und geopolitischen Diskurs, den das Journal führen wollte, so recht besehen nichts zu suchen hatten. Der anschließende und letzte Satz des Editorials vollzog aber die Wendung der Wendung : »Es sei denn, daß damit die wirtschaftspolitischen Diskussionen in Mitteleuropa als das dargestellt werden sollen, was sie sind : [E]ben einen Weg für die autonomen Volkswirtschaften im Donauraum zu suchen und zu finden.« 78 Siehe dazu weiter oben bzw. Laclau E. 2007 (privilegierte/entleeerte Signifikanten), Barthes, R. 1996 (Mythos als sekundäres semiologisches System), Lakoff, G./Johnson, M. 2007 (kognitive Metapher), Fauconnier, G./Turner, M. 2003 (conceptual blending). 79 Bock, Fritz : Nach 70 Jahren …, in : West-Ost-Journal 5/22 (1989), S. 1–2.
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Die beiden Texte (definiert als Sinnzusammenhang, der visuelle und verbale Modi der Kommunikation umfasst) gleichen einander darin, dass sie die Habsburgermonarchie als Referenz platzieren, ohne sie mit aller Konsequenz als Argument in den Diskurs einzuspeisen, das einer Logik der Beweisführung unterläge und sich somit Kritik stellen müsste. Sie unterscheiden sich dadurch, dass das Cover des Wirtschaftsmagazins visuell und verbal kommuniziert, der Leitartikel hingegen nur auf den sprachlichen Modus zugreift – Bilder spielen auch hier eine zentrale Rolle : die Wurzel als Metapher von historischer Kausalität und die Spezifizierungen des Raums, genauer des Donauraums als eines Integrationsraums. Fremd ist dem staatstragend würdevollen West-Ost-Journal die augenzwinkernde Schmissigkeit des Magazinstils. Die Unterschiede in der Ausführung desselben konzeptuellen Manövers entsprechen ihrer Platzierung in je anderen Segmenten eines medialen Diskurses, der die Neuaufstellung von unternehmerischen Ressourcen begleitete, sie zum Teil nachvollzog, zum Teil vorbereitete. Cash Flow und das West-Ost-Journal sprachen (unter anderem) zu Unternehmern – wie aber sprachen Unternehmer selbst ? 1987 ließ Franz Kafka, der Generaldirektor von Henkel Austria, die Leser des WestOst-Journals an seiner »ganz persönliche[n] Vision« teilhaben :80 »die Erschließung zusätzlicher Märkte im Bereich der Nachfolge-Staaten.« Kafka verfolgte dieses Ziel mit großer Konsequenz, um dem österreichischen Konzernableger, der seit 1983 als Henkel Austria firmierte, gegenüber der deutschen Zentrale Gewicht zu verleihen. Der österreichische Markt alleine genügte dafür nicht. Konzernintern wurden 1984 Weichen gestellt : Die Düsseldorfer Konzernmutter übertrug es ihrer österreichischen Gesellschaft, die südosteuropäischen COMECON-Märkte zu erschließen. Als der Beitrag Kafkas im West-Ost-Journal erschien, war kurz zuvor die Henkel Budapest Chemie gegründet worden. An der als Joint Venture aufgesetzten Verkaufsgesellschaft hielt die Henkel Austria 51 % des Stammkapitals. Sie verfügte somit bereits über die Mehrheit, ein Novum für einen westlichen Investor. Auch Schritte in Richtung einer Produktion in Ungarn waren bereits getan worden. In der Tschechoslowakei und in Jugoslawien zeigte der Henkel-Konzern ebenfalls bald Präsenz. Der Artikel im West-Ost-Journal feierte somit eine Investitionspolitik, die gerade im Begriff war, sich zur unternehmerischen Erfolgsstory zu entwickeln. Überschrieben war der Beitrag mit dem doppeldeutigen Titel : »Henkel jetzt in Österreich-Ungarn.« Zum einen konnte man den Titel als Hinweis auf Herkunfts- und Zielland der Investition von Henkel lesen ; zum anderen platzierte die Kombination der beiden Ländernamen als »Österreich-Ungarn« eine historische Referenz, deren Aktualität das Adverb »jetzt« unterstrich. In der Gegenwart des Jahres 1987 konnte man sich zwar real nicht mehr im Rahmen des längst verflossenen Doppelstaats Österreich-Ungarn bewegen, doch genau auf diesem Verstoß beruhte der Witz 80 Dieses und die folgenden Zitate : Kafka, Franz : Henkel jetzt in Österreich-Ungarn, in : West-Ost-Journal 3–4/20 (1987), S. 42.
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des Titels. Das hier skizzierte unternehmerische Imaginäre begnügte sich aber nicht mit fruchtloser Nostalgie, sondern verfolgte den Anspruch, »neue Wirklichkeiten« zu schaffen, wie es im dritten Absatz des Artikels hieß. Wenn man in Rechnung stellt, dass die »neuen Wirklichkeiten« offensichtlich an alte anknüpften, somit eine Wiederkehr darstellen sollten, nimmt sich eine andere Feststellung zu Beginn des Beitrags paradox aus : »Deshalb gehört es zu den Grundpfeilern unserer Unternehmenspolitik, die Gegenwart aus dem Blickwinkel der Zukunft zu gestalten.« Im Weiteren gab der Artikel einen Überblick über die Aktivitäten Henkels in Ungarn. Zu diskutieren gilt es, ob Kafka, indem er mit dem Verweis auf die Donaumonarchie ansetzte, nur auf das ideologische Ambiente des Donaueuropäischen Instituts reagierte. Haben wir es mit einer rhetorischen Gefälligkeit gegenüber dem Institut zu tun, exklusiv für dieses Forum konstruiert ? Die Frage können wir verneinen. Auch die Firmenzeitschrift berichtete 1987 über die Expansion in Ungarn – unter dem Titel : »Henkel für Österreich-Ungarn«.81 Der Text war erzählend angelegt und schilderte den Tag der Vertragsunterzeichnung : »Eine stattliche Henkel-Austria-Delegation hatte sich in den frühen Morgenstunden in den Zug gesetzt, um nach Budapest zu fahren, auf nostalgischen k. u. k.-Spuren zu wandeln und dabei zielsicher in die Zukunft zu marschieren.« »Zurück in die Zukunft« also auch hier, und neuerlich am Schluss des Artikels, der die Perspektive eines Einstiegs in der Tschechoslowakei eröffnete : »Zur k. u. k.-Monarchie gehörte bekanntlich nicht nur Ungarn. Und Prag ist ja gewiß auch eine sehr schöne Stadt […].« Die Anklänge an ein untergegangenes Reich bedienten Nostalgiegefühle nach einstiger Größe, die sich nun aber nicht mehr als unrettbar verloren darstellte. Erhellend ist eine Grafik, mit der Henkel Austria 1993 seine Erfolge als Investor in Ostmitteleuropa illustrierte (siehe Abbildung 1). Das österreichische Stammhaus – die D üsseldorfer Mutter bleibt passenderweise aus dem Bild – ist links als Balken repräsentiert, aufgebaut aus Textfeldern, in welchen die Namen der Unternehmensgesellschaften eingetragen sind. In einem Bildaufbau, der eine deutliche Links-rechts-Struktur aufweist, markiert die linke Position visuell den Ausgangspunkt.82 Das Ziel der Tätigkeit, hier der Investitionen, ist als geografischer Raum gegeben: die ostmittel- und südosteuropäischen Staaten, in denen Henkel durch Niederlassungen, Lizenzproduktionen oder gar durch eigene Herstellung am Markt vertreten ist. »Die größte Henkel Austria aller Zeiten« lautet die Subscriptio der Grafik. Sie unterbreitet ein Identifikationsangebot an die eigenen Mitarbeiter, sich als stolze Angehörige des Henkel-Reichs zu fühlen, zugleich aber den Stolz auf die Größe des Konzerns mit einer Nation, der österreichischen, zu verbinden. Mit ähnlich gestalteten Inseraten trat die Henkel Austria im West-Ost-Journal auf. 81 Henkel Revue vom Juli 1987, S. 6–7. 82 Vgl. Kress, Gunther/Leeuwen, Theo van: Reading Images: The Grammar of Visual Design, 2. Aufl., London 2006, S. 179–285.
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Abbildung 1: Henkels Expansion in Mittelosteuropa Quelle: Henkel Report 2/1993, S. 3
Die Inszenierungen für den Binnengebrauch von Henkel Austria und die Perspektiven, die von Henkel und anderen im West-Ost-Journal entfaltet wurden, stimmten in entscheidenden Punkten überein. In Wien hielt man 1993 eine Henkel-interne »Mitteleuropa-Konferenz« ab,83 und 1989 hatte Henkel Austria im ungarischen Eger ein »Südosteuropa Symposium« veranstaltet. Es thematisierte »Österreich als Brücke zwischen EG und Comecon«. Zu den über 60 Teilnehmern zählten Wolfgang Schüssel und Tamas Beck, die Wirtschaftsminister von Österreich respektive Ungarn.84 Wie auffällig einander die (para-)staatliche Welt des Donaueuropäischen Instituts und jene von Henkel Austria glichen, lag nicht zuletzt daran, dass sich der Konzern in der Gestaltung seiner Außenbeziehungen so wie auch das Donaueuropäische Institut an Rhetoriken und Praktiken staatlicher Diplomatie orientierte. Als Kafka seinen 50. Geburtstag feierte, wurde ein großes Fest gegeben : »Die Republik 83 Vgl. 1. Wiener Mitteleuropa-Konferenz, in : Henkel Report 10/1993, S. 1–3. 84 Südosteuropa Symposium, in : Henkel Revue vom Jänner 1990, S. 5–6.
Den »Osten« öffnen
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war zu Gast bei Henkel«, überschrieb die Firmenzeitschrift ihren Bericht.85 Dem Titel korrespondierte ein Foto, das mehr als eine Seite einnahm. Es zeigte, wie Bundespräsident Kurt Waldheim Kafka als Repräsentanten von Henkel die Hand schüttelte. Staatsoberhäupter unter sich. Als Kafka 1990 unerwartet mit erst 54 Jahren starb, formulierte die Firmenzeitschrift in ihrem Nachruf : »Seine Arena waren auch die wechselseitigen Beziehungsgeflechte zwischen Unternehmenswirtschaft, Wirtschaftspolitik, Gesellschaft, Politik und Öffentlichkeit.«86 Auch das Donaueuropäische Institut wollte diese Arena bespielen, und so ist es kein Zufall, dass sich die Wege des Instituts und von Henkel respektive Kafka in ihrem Interesse für Ostmitteleuropa kreuzten.
VII. Conclusio Was waren zusammengefasst die Charakteristika des Donaueuropäischen Instituts als einer Schnittstelle von Politik und Unternehmerhandeln ? Das Institut versprach Selbsthilfe der Wirtschaft, jedoch unter staatlicher Anleitung. Seine Inszenierungen, Praktiken und Perspektiven waren dem Modell staatlicher (Handels-)Diplomatie entlehnt. Vor allem große Unternehmen konnten hier anschließen, weil ihre Organisationsstruktur und Außenperspektive selbst Wesentliches dem Staat als konzeptueller Metapher verdankte. Donaueuropa wiederum war jener privilegierte Signifikant, der Raum und Geschichte mit wirtschaftspolitischen und unternehmerischen Erwartungen verknüpfte. Zumindest auf Basis der vom Autor eingesehenen Quellen, nämlich der Publikationen des Instituts, ist es schwer zu entscheiden, ob das Donaueuropäische Institut seinen Mitgliedern kommerziellen Nutzen brachte oder ob es primär den intellektuellen Austausch über handelspolitische und -diplomatische Fragen gestattete ; welchen Tiefgang diese Auseinandersetzung erreichte oder ob die Kontaktpflege und Selbstinszenierung von Politikern, Diplomaten, Unternehmern im Vordergrund stand. Ging es um Geschäftsabschlüsse oder wurde bloß geredet ? Verwendeten Unternehmer und Wirtschaftspolitiker die Bezüge auf Donaueuropa als Deckmantel, um ihre betriebs- und volkswirtschaftlichen Absichten zu verschleiern, oder legitimierte man umgekehrt nationale und imperiale Größenfantasien, indem man auf deren wirtschafts- und unternehmenspolitische Zweckrationalität pochte ? Vielleicht ist es aber nicht nur schwierig, solche Fragen zu beantworten, sondern sind sie insofern falsch gestellt, als sie ein ausschließendes Entweder-oder nahelegen. Im Kern war das Donaueuropäische Institut nicht das eine oder das andere, nicht bloß ein be85 Die Republik war zu Gast bei Henkel, in : Henkel Revue vom Dezember 1986, S. 4–6. 86 Wir trauern um Gen. Dir. KR Prof. Franz Kafka, in : Henkel Report 4/1990, S. 1–3, hier S. 2.
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triebs- und volkswirtschaftliches Instrument und auch nicht nur Forum für die mehr oder minder punktgenaue außen- und wirtschaftspolitische Reflexion. Vielmehr war es – so schon die eingangs aufgestellte These – eine Schnittstelle, die verschiedene gesellschaftliche Subsysteme, am augenfälligsten Politik und Wirtschaft, verknüpfte. Die Rolle des Donaueuropäischen Instituts ließe sich noch präziser umreißen, würde man die Relationen innerhalb des vielmaschigen Netzes von Institutionen rekonstruieren, die sich in Österreich, aber auch in anderen »westlichen« Ländern mit Ostmitteleuropa beschäftigten. Diese Feststellung kann hier nur ein Desiderat markieren, doch ist bereits ein flüchtiger Abgleich aufschlussreich : Wissenschaftliche Einschätzungen zu den ökonomischen Aussichten des Osthandels erhielt man zuverlässiger vom Wiener Institut für Internationale Wirtschaftsvergleiche ; für die Kontaktanbahnung ebenso wie für den Informationsbedarf praktischen Unternehmerhandelns gab es die Wirtschaftskammer mit ihren Außenhandelsstellen ; eine journalistische Aufbereitung boten Magazine wie der Trend in kurzweiliger und doch gut informierter Form. Ein Charakteristikum des Donaueuropäischen Instituts war seine Nähe zu staatlicher Diplomatie, die sich in seinen Praktiken und seinem Selbstverständnis manifestierte. Das West-Ost-Journal druckte Grundsatzreden mit der dem Genre immanenten Gefahr der Plattitüde ab ; das Institut lud zu Veranstaltungen, die man als Mini-UNO gleichermaßen feiern oder denunzieren konnte. Für Unternehmer, zumal jene an der Spitze von Konzernen, boten sich hier Chancen der Kontaktpflege wie der Selbstinszenierung. Immer wieder wird man außerdem auf eine Dienstleistung des Instituts gestoßen, die in einer Projektion nationaler Bedeutung bestand. Sie rekurrierte auf die Habsburgermonarchie als Ideal, das zwar nur halb zugegeben, aber durch Metaphern des Organischen subkutan bekräftigt wurde. Wenn wir etwa die kühnen Volten, die Bock in seinem Leitartikel »nach 70 Jahren …« vollzog, als Spleen eines betagten Politikers abtäten, entginge uns, wie sich seine Rede von einer »österreichischen Wurzel« in eine Diskurstradition einschrieb, die weit über das Donaueuropäische Institut hinausreichte. Das Institut lässt sich auch dadurch als Teil des Dispositivs der WestOst-Beziehungen im weiteren und des Osthandels im engeren Sinn begreifen ; die Ostöffnung erfüllte seine Mission – und beendete sie dadurch.
Michael Gehler
Bonn – Budapest – Wien Das deutsch-österreichisch-ungarische Zusammenspiel als K atalysator für die Erosion des SED-Regimes 1989/90
Vorbemerkung Das Jahr 1989 hat mit der Öffnung der Berliner Mauer am 9. November als europäisches Großereignis globalhistorische Wirkungen entfaltet.1 Bei der Auslösung dieses geschichtlichen Vorgangs spielten im Vorfeld die Ereignisse an der ungarisch-österreichischen Grenze im Juni, August und September eine ganz wesentliche Rolle. Das Verhältnis der österreichischen Akteure zu den revolutionären Geschehnissen in Mittel- und Osteuropa, die von Polen ihren Ausgang nahmen, die ungarische Grenzöffnung und das dabei bestehende Zusammenspiel zwischen Bonn, Budapest und Wien sowie die folglich massenhaft einsetzenden revolutionären Ereignisse in der DDR aus der Sicht der österreichischen Akteure stehen im Mittelpunkt dieses Beitrags.
I. Österreichs Akteure und Mitteleuropa 1989 standen der Abschluss der KSZE-Nachfolgekonferenz, der Beginn der Verhandlungen über Vertrauens- und Sicherheitsbildende Maßnahmen (VVSBM) in Wien sowie der österreichische EG-Beitrittsantrag vom 14. Juli im Mittelpunkt der großkoalitionären Außenpolitik.2 Maßgebliche Akteure waren Bundeskanzler Franz Vranitzky (SPÖ), Vizekanzler und Außenminister Alois Mock (ÖVP) sowie der Wiener Vizebürgermeister und spätere Wissenschaftsminister Erhard Busek (ÖVP). Sie hätten von ihrem Charakter und Interesse her kaum unterschiedlicher sein können. Vranitzky betrachtete den mittelosteuropäischen Raum im Unterschied zu Busek von einer nüchternen Warte aus : »Es gab mehrere Ansätze unter der Überschrift ›Mitteleuropakooperation‹. Ich bemühte mich dazu auf der bilateralen Ebene mit den jeweiligen Regierungen – notwendi1 Grosser, Pierre : 1989. L’année où le monde a basculé, Paris 2009. 2 Gehler, Michael : Österreichs Weg in die Europäische Union, Innsbruck/Bozen/Wien 2009.
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gerweise schon vor der sanften Revolution und selbstverständlich danach. Erhard Busek leistete wichtige Schrittmacherdienste durch Kontakte mit den ›Dissidenten‹ während der KP-Zeit, von denen nicht wenige ›danach‹ wichtige Funktionen bekleiden und bekleideten.«3
War Vranitzky westlich und international ausgerichtet,4 so war Busek deutlich mittelund osteuropaorientiert. Nahezu im Alleingang knüpfte er schon vor 1989 Kontakte unterschiedlicher Intensität und stellte enge Beziehungen zu Regimekritikern und Oppositionsgruppen her. Der Blick von außen bestätigt hingegen den pragmatischen Zugang Vranitzkys und dessen Priorität für die Annäherung an die EG.5 Er räumte den Ereignissen 1989/90 auch in seinen Erinnerungen keinen prominenten Platz ein. Die österreichische Innenpolitik dominiert seine Darstellung. Mittelosteuropa war für ihn von geografischer Natur mit einer wirtschaftlich-kulturellen Dimension ohne politischen Gehalt.6 Er war, wie gesagt, international ausgerichtet und dabei keineswegs nur einseitig westorientiert : »So verstanden, geht der Europagedanke weit über das hinaus, was heute Brüssel darstellt. Ich füge hinzu, daß ein umfassend kulturell verstandenes Europa nicht ausschließlich westlich fixiert sein darf. Es wäre kurzsichtig, auf das kreative Potential Osteuropas mutwillig oder fahrlässig zu verzichten. Hochmut steht uns im Westen nicht an. Wir sollten versuchen, unsererseits auch vom Osten zu lernen.«7
Mock war ein »glühender Verfechter« des EG-Beitritts, während der Kanzler als »milder Befürworter« galt.8 Der Außenminister sah sich der »Ostpolitik« von Bundeskanzler Josef Klaus (1964–1970) verpflichtet – Österreichs damalige Außenminis3 Zitat aus den persönlichen schriftlichen Mitteilungen von Dr. Franz Vranitzky für den Verfasser vom 5. Juni 2008, S. 3 ; Thurnher, Armin/Vranitzky, Franz : Franz Vranitzky im Gespräch mit Armin Thurnher, Frankfurt am Main 1992, S. 75 ; siehe auch Busek, Erhard : »Der strategische Vorteil der Österreicher gegenüber den Deutschen liegt in der Mentalität«, in : Gehler, Michael/Scharlemann, Imke (Hg.) : Zwischen Diktatur und Demokratie. Erfahrungen in Mittelost- und Südosteuropa. Hildesheimer Europagespräche II (Historische Europastudien 10), Hildesheim/Zürich/New York 2013, S. 457–497. 4 Gehler, Michael : Paving Austria’s Way to Brussels : Chancellor Franz Vranitzky (1986–1997) – A Banker, Social Democrat and Pragmatic European Leader, in : Journal of European Integration History (JEIH) 2/18 (2012), S. 159–182, hier S. 165–170. 5 Direkte Zitate des deutschen Journalisten : Sommer, Theo : Österreich, Deutschland und darüber hinaus, in : Keck, Edi/Krammer, Karl/Lederer, Heinz/Mailath-Pokorny, Andreas/Rathkolb, Oliver (Hg.) : Die ersten 10 Jahre. Franz Vranitzky, Wien 1996, S. 146–155, hier S. 152. 6 Vranitzky, F./Thurner, A. 1992, S. 86. 7 Ebd., S. 49. 8 Österreich – Debatte über das strittige Thema Europa : Die Angst vor dem Echo aus Brüssel, in : Süddeutsche Zeitung vom 30. Juni 1989, S. 3.
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ter Bruno Kreisky (1959–1966) und Lujo Tončić-Sorinj (1966–1968) hatten erstmals Budapest, Bukarest und Warschau Besuche abgestattet. Bereits 1969 hatte Mock als Unterrichtsminister Václav Havel für den österreichischen Staatspreis für europäische Literatur vorgeschlagen. Auch später sollte er ähnliche Signale an Dissidenten aussenden : Er war der erste westliche Außenminister, der bei einem Besuch in Prag bei Außenminister Bohuslav Chnoupek im Juli 1987 den Oppositionellen Havel zu sehen wünschte. Im September 1988 traf er sich bei seinem Moskau-Besuch mit dem sowjetischen Regimekritiker Andrej Sacharow. Im Rahmen der KSZE-Nachfolgekonferenz in Wien (1986–1989) kam es zu bilateralen Gesprächen mit den Außenministern George Shultz, Eduard Schewardnadse, Geoffrey Howe und Hans-Dietrich Genscher. Bei dieser Gelegenheit setzte Mock angesichts der Verhaftung von Havel am 21. Februar 1989 die Anwendung des KSZE-Überprüfungsmechanismus für Menschenrechtsfragen in Gang.9 Gemeinsamkeiten zwischen Mock und Vranitzky bestanden in der Förderung von Regionalprojekten – wie der Quadragonale (Österreich, Ungarn, Italien und Jugoslawien) bei einem Treffen am 11./12. November 1989 in Budapest sowie auch der Pentagonale (zuzüglich ČSFR) ab Mai 1990 – im Sinne der Entwicklung spezifischer Vorhaben in der engeren Region Mitteleuropas und der Multilateralisierung der österreichischen Außenpolitik.10
II. Bonn, Wien und Budapest : Ungarns schrittweise Öffnung seiner Grenze zu Österreich 1. Intensivierung der österreichisch-ungarischen Beziehungen im Februar und der Abbau der Grenzanlagen im Mai 1989 Wien hatte schon vor langer Zeit mit Ost-Berlin erfolglos über die Abschaffung der Sichtvermerkspflicht verhandelt. Ungarn lockerte dagegen seit 1986 sukzessive die 9 Bei seinem Besuch in Prag am 7. und 8. März 1990 traf er den neuen Staatspräsidenten Havel und Kardinal František Tomášek. Am 14. März konnte er beim Besuch in Budapest bei der Umbenennung der »Straße der Volksrepublik« in »Andrássy-Straße« mitwirken. Andrássy war von 1871–1879 k. u. k. Minister des Äußern gewesen. Vgl. Eichtinger, Martin/Wohnout, Helmut : Alois Mock. Ein Politiker schreibt Geschichte, Graz 2008, S. 191–192, hier S. 196. 10 Brix, Emil : Die Mitteleuropapolitik von Österreich und Italien im Revolutionsjahr 1989, in : Gehler, Michael/Guiotto, Maddalena (Hg.) : Italien, Österreich und die Bundesrepublik Deutschland in Europa/Italy, Austria and the Federal Republic of Germany. Ein Dreiecksverhältnis in seinen wechselseitigen Beziehungen und Wahrnehmungen von 1945/49 bis zur Gegenwart/A Triangle Relationship : Mutual Relations and Perceptions from 1945/49 to the Present (Institut für Geschichte der Universität Hildesheim, Arbeitskreis Europäische Integration, Historische Forschungen, Veröffentlichungen 8), Wien/Köln/Weimar 2012, S. 455–467, hier S. 459.
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Ausreisebestimmungen nach Österreich.11 Aufgrund der schon unter KP-Chef János Kádár seit Ende der 1960er-Jahre eingeleiteten Annäherung Ungarns an den Westen hatte das Verhältnis zur DDR mehr und mehr gelitten.12 Der Beschluss des Politbüros der Ungarischen Sozialistischen Arbeiterpartei (USAP) zur Einführung eines weltweit gültigen Reisepasses vom 19. Mai 1987 war ein bemerkenswertes Zeichen. Die Sperranlagen an der Grenze zu Österreich verloren dadurch ihren Zweck zur Verhinderung der Flucht ungarischer Bürger.13 Der Befehlshaber der ungarischen Grenztruppen, Generalmajor János Szekely, legte auf Verlangen des Innenministeriums am 5. Oktober 1987 ein streng geheimes Memorandum »über den technischen Zustand der am westlichen Grenzabschnitt errichteten elektronischen Signalanlage und über die Erfahrungen ihres Einsatzes« vor. Die Defizite und Missstände waren offenkundig. Trotz Verbesserungen wurde der Alarm nicht durch Flüchtlinge, sondern durch Wild oder wetterbedingte Einflüsse ausgelöst. Der vielfache Fehlalarm wirkte demotivierend auf die Grenztruppen. Székely schlug moderne Grenzsicherungsmaßnahmen vor. Die Personenkontrollen sollten aber bestehen bleiben.14 Der Abbau der Grenzanlagen wurde dann nach der Ablösung Kádárs im Mai 1988 denkbar. Im Februar 1989 entschied das Politbüro der USAP aus Kostengründen, die Signalzäune nicht mehr zu erneuern, und im März beschloss die ungarische Regierung konsequenterweise deren Demontage.15 Zur gleichen Zeit fanden abwechselnd auf dem ungarischen Schloss Nagycenk und auf österreichischem Boden in Rust im Burgenland erste Begegnungen zwischen Vranitzky und dem neuen ungarischen Ministerpräsidenten Miklós Németh in Form von Vieraugengesprächen im Delegationsrahmen statt. Themen waren die jeweilige wirtschafts- und innenpolitische Lage sowie die bilateralen Beziehungen. Was Németh Vranitzky berichtete, war im Sinne der Lockerung der Verhältnisse in Ungarn höchst aufschlussreich. Er sprach von einer »zweiten Reformära«, einem Prozess, der 1986 mit der Erkenntnis eingesetzt habe, dass Wirtschaftsreformen in alten politischen Strukturen nicht mehr durchführbar sein würden. Angestrebt wurden daher seit Mai 1988 in beschleunigter Form die Trennung von Staat und Partei, die Errichtung eines demokratischen, unabhängigen Rechtsstaats, die Entstehung eines »völlig neuen politischen Systems« und die rasche Schaffung von 11 Klambauer, Otto : Der Kalte Krieg in Österreich. Vom Dritten Mann zum Fall des Eisernen Vorhangs, Wien 2000, S. 171. 12 Vehres, Gerd : Ungarn-Fan im Strudel der Gefühle, in : Malchow, Birgit (Hg.) : Der Letzte macht das Licht aus. Wie DDR-Diplomaten das Jahr 1990 im Ausland erlebten, Berlin 1999, S. 103–125, hier S. 107. 13 Vgl. dazu auch den Beitrag von László J. Kiss in diesem Band. 14 Gron, Stefan : »Partner DDR« ? Zur Entwicklung der bilateralen Beziehungen zwischen Österreich und der Deutschen Demokratischen Republik, Wien 2005 (ungedruckte Diplomarbeit), S. 86 f. 15 Klambauer, O. 2000, S. 173.
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Voraussetzungen für eine Marktwirtschaft durch ein Banken-, Steuerreform- und ein Körperschaftsgesetz.16 Die Frage eines Mehrparteiensystems bzw. des Pluralismus im Rahmen eines Einparteiensystems hatte laut Németh Bevölkerung und Partei in zwei Lager gespalten. Im Zuge der ZK-Sitzung vom 10./11. Februar 1989 war die Partei ihm zufolge initiativ geworden, und zwar im Interesse der Schaffung eines Mehrparteiensystems im Rahmen des Sozialismus, damit verschiedene Parteien mit verschiedenen Programmen in Wettstreit treten konnten. Keime für neue Parteien seien vorhanden. Mit tatsächlichen Parteigründungen sei im Laufe des Jahres zu rechnen, und in der Frage der Bewertung der Ereignisse des Jahres 1956 sei das ZK zu einem Kompromiss gelangt : Einerseits hätten sie den Charakter eines »Volksaufstandes« gehabt, andererseits habe es sich gegen Ende um eine »Konterrevolution« gehandelt. Dieser »Bewertungsbeschluss« habe bewirkt, so Németh, dass die Partei nicht zerrissen wurde und keine persönlichen Konsequenzen gezogen werden mussten, sodass die Hoffnung bestehe, Partei und Bevölkerung hätten die gleiche Sicht der Ereignisse. Németh vermittelte Vranitzky den Eindruck, Ungarn sei sich der großen Verantwortung als Pionier der politischen Reformen in der sozialistischen Welt »bewusst«. In Ungarn war Németh zufolge eine neue politische Wettbewerbssituation im Entstehen begriffen, auf die niemand vorbereitet sei. Eine Übergangszeit sei notwendig, was das ZK eingeplant habe. Für die Zukunft sei mit einer Koalitionsregierung zu rechnen. Németh sprach das Problem von Arbeitsbewilligungen für ungarische Arbeitnehmer in Österreich an, worauf Vranitzky Lösungen zusicherte. Das Projekt der mit Österreich geplanten (letztlich aber nicht realisierten) gemeinsamen Weltausstellung wurde laut Németh trotz kritischer Stimmen von der Regierung unterstützt. Als wesentlich wurden die gemeinsame Planung und Durchführung von Projekten (Joint Ventures) bezüglich Automobil- und Eisenbahnindustrie sowie die Erkundung (externer) Finanzierungsmöglichkeiten erachtet. Im Vieraugengespräch, z. T. im Beisein des burgenländischen Landeshauptmanns Johann Sipötz und seines Stellvertreters Franz Sauerzopf, wurden die Errichtung neuer Grenz- und Eisenbahnübergänge bei Pamhagen und Fertörakos/Mörbisch sowie die Prüfung einer Zollfreiheitszone in Sopron und die Konkretisierung dieses Vorschlags beim nächsten Treffen vereinbart. Vranitzky bekundete die feste Absicht, bei einem EG-Beitritt Österreichs die Neutralität zu wahren. Alle Beitrittsbestrebungen seien so zu verstehen, dass die Pflege der »ausgezeichneten Beziehungen zu Ungarn nicht vernachlässigt« würden. Der vollständige Abbau der 16 Resuméprotokoll »Österreich-Ungarn ; Grenztreffen HBK-MP Nemeth (13.2.1989)« vom 14. Februar 1989, BMeiA, Kt. Ungarn 1989, GZ 222.18.22/12-II.3/89 ; Graf, Maximilian : Die Welt blickt auf das Burgenland 1989 – Die Grenze wird zum Abbild der Veränderung, in : Graf, Maximilian/Lass, Alexander/Ruzicic-Kessler, Karlo (Hg.) : Das Burgenland als internationale Grenzregion im 20. und 21. Jahrhundert, Wien 2012, S. 135–179.
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technischen Grenzsperren wurde von Németh bis 1991 angekündigt. Das bedeutete zugleich neue Verpflichtungen zwischen den beiden Staaten durch die Intensivierung der organisatorischen und technischen Zusammenarbeit.17 Genscher verfolgte seine eigene Art der Ungarn-Diplomatie und –Politik, die teilweise neben bzw. parallel zu der Helmut Kohls und Horst Teltschiks stand. Über ein Kabinettsmitglied der Bundesrepublik und über FDP-Politiker ließ er früh die Verhältnisse in Budapest sondieren. So zum Beispiel, als der deutsche Wissenschaftsminister Jürgen Möllemann (FDP) vom 15. bis 18. Februar auf Einladung des ungarischen Ministers für Kultur und Bildung, Tibor Czibere, Budapest besuchte. Der Austausch ging weit über Kulturfragen und Wissenschaftskooperationen hinaus.18 Im März erfolgte der Beitritt Ungarns zur Genfer Flüchtlingskonvention, der am 12. Juni in Kraft trat. Der Abbau der ungarischen Grenzanlagen setzte am 2. Mai 1989 ein.19 Wien war von Ungarns Botschafter in Österreich, Janos Nagy, unterrichtet worden, der Mock ein Stück Stacheldraht vom Eisernen Vorhang überreichte. Der Außenminister wertete diese Handlung als Zeichen der ungarischen Bereitschaft zur Öffnung, hielt sich aber mit öffentlichen Erklärungen noch zurück, um »diesen politischen Lockerungsversuch Ungarns nicht [zu] gefährden«.20 Vranitzky beobachtete die Entwicklung im Nachbarland ebenfalls. Am 25. Mai bestand unter den Regierungsmitgliedern Einigkeit, die ungarischen Reformbestrebungen zu unterstützen.21 Ost-Berlin registrierte die Entwicklung dagegen mit verständlichem Argwohn. Der Staatsratsvorsitzende und Chef des Politbüros der SED, Erich Honecker, ließ in einer ersten Reaktion Außenminister Oskar Fischer nach Moskau entsenden, um im Kreml gegen die Entscheidung der Budapester Regierung zu protestieren.22 DDRVerteidigungsminister Heinz Keßler hatte dem Politbüro am 9. Mai über die beginnenden Demontagearbeiten an der ungarisch-österreichischen Grenze Bericht erstattet, jedoch versichert, dass mit dem ungarischen Demontagebeschluss auch der Streifendienst unter verstärktem Einsatz von für den Grenzdienst ausgebilde-
17 Resuméprotokoll »Österreich-Ungarn ; Grenztreffen HBK-MP Nemeth (13.2.1989)« vom 14. Februar 1989, BMeiA, Kt. Ungarn 1989, GZ 222.18.22/12-II.3/89. 18 Fernschreiben »Besuch BM Möllemann in Ungarn, 15.–18.2.1989 in Budapest«, Deutsche Botschaft Budapest an Auswärtiges Amt, 20. Februar 1989, PA AA, ZA 140.701 E. 19 Minutiös : Oplatka, Andreas : Der erste Riss in der Mauer. September 1989 – Ungarn öffnet die Grenze, Wien 2009, S. 87–104 und für die weitere Entwicklung : S. 154–199 ; Gaddis, John Lewis : Der Kalte Krieg. Eine neue Geschichte, München 2007, S. 302 f.; Stöver, Bernd : Der Kalte Krieg. Geschichte eines radikalen Zeitalters 1947–1991, München 2007, S. 443 ; Kowalczuk, Ilko-Sascha : Endspiel. Die Revolution von 1989 in der DDR, München 2009, S. 346. 20 Mock, Alois : Mahnmal »Eiserner Vorhang«, in : Sandgruber, Roman (Hg.) : Der Eiserne Vorhang. Die Geschichte – Das Ende – Die Mahnung, Linz 1999, S. 5–8, hier S. 7 f. 21 Klambauer, O. 2000, S. 179. 22 Ebd., S. 178.
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ten Diensthunden erhöht worden sei.23 Mit dieser Erklärung hatte sich die DDRFührung laut dem Historiker Stefan Gron zunächst zufriedengegeben und war damit auch davon ausgegangen, dass die ungarische Westgrenze weiterhin gesichert sei und die Regierung in Budapest auch ohne Sperranlagen an der Grenzsicherung festhalten werde. So sah man in Ost-Berlin keinen Anlass, die Urlaubsreisen zu verbieten, und bis Herbst 1989 konnten mehrere Tausend DDR-Bürger nach Ungarn fahren.24 2. Die Durchtrennung des Eisernen Vorhangs durch den österreichischen und den ungarischen Außenminister am 27. Juni 1989 – ein symbolträchtig inszeniertes Ereignis mit Folgen Das Durchschneiden des Eisernen Vorhangs durch die Außenminister Alois Mock und Gyula Horn am 27. Juni betraf nur noch letzte Überreste der bereits weitgehend entfernten Stacheldrahtzäune. Die medial inszenierte symbolische Öffnung des Eisernen Vorhangs und die von Fernsehkameras gelieferten, weltweit verbreiteten Bilder der Vorgänge stimulierten die größte Fluchtwelle von DDR-Bürgern seit dem Mauerbau 1961. Beide Minister erörterten während eines Arbeitsfrühstücks im Rahmen des Besuchs von Horn in Österreich (27.–29. Juni) Fragen der europäischen Integration und eine ungarische Teilnahme daran. Horn sah die Integration als aus »objektiven Gründen« zustandegekommen. Er war besorgt über eine mögliche Abschottung seitens der Europäischen Gemeinschaften. Ungarn strebe ein Abkommen über Zollpräferenzen mit der EG an, wie es Jugoslawien besaß, und mittelfristig ein »echtes Freihandelsabkommen«. Dazu war eine vorausgehende Liberalisierung der ungarischen Wirtschaftsordnung und die Konvertibilität des Forint erforderlich. Gleichzeitig wollte Ungarn seine Zusammenarbeit mit der European Free Trade Association (EFTA) in Genf intensivieren, wobei sich Horn eine gemeinsame Erklärung der EFTA wie die gegenüber Jugoslawien vorstellte. Er regte bei Mock die Schaffung eines Sonderfonds der EFTA für Ungarn in der Größenordnung von 80–100 Mio. US-Dollar an, was zwar nicht die Sanierung der ungarischen Wirtschaft, aber Impulse für viele Unternehmen bewirken sollte. Was den Europarat betraf, zeigte sich Ungarn über die erreichte Annäherung zufrieden und bezüglich einer Vollmitgliedschaft »nicht ungeduldig«. Mock sagte die politische Unterstützung für eine ungarische EFTA-Annäherung zu und warf die Frage auf, ob nicht ein größerer Fonds für alle reformwilligen osteuropäischen Staaten geschaffen werden könnte. Horn unterstrich, dass Ungarn dem angestrebten EG-Beitritt Österreichs grundsätzlich positiv gegenüberstehe. Die Sorge gelte der Er23 Bericht Heinz Keßlers vom 6. Mai 1989, zitiert nach : Schlich, Gereon : »Verleumdung, Beleidigung und grobe Einmischung«. Die Öffnung der ungarisch-österreichischen Grenze im Herbst 1989 im Spiegel der SED-Akten, in : Deutschland Archiv 2/32 (1999), S. 242–253, hier S. 243. 24 Gron, S. 2005, S. 89.
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haltung der besonderen Qualität der bilateralen Beziehungen.25 Mock betonte, dass die österreichische Europapolitik auf zwei Säulen ruhe : der Teilnahme an der westeuropäischen Integration (EG, EFTA, Europarat) und der Nachbarschaftspolitik. Im Hinblick auf den Stand und die absehbare Entwicklung der EG sah er keinen Grund für ungarische Besorgnisse. Horn gab zu verstehen, dass noch niemals zuvor so positive Aussichten für eine Einigung in der Abrüstungsfrage bestanden hätten, »der Teufel sitze aber im Detail«. Als Beispiel nannte er die Probleme mit den Luftstreitkräften (»nicht alles sei in einem Arbeitsgang lösbar«). Erforderlich sei jedenfalls ein neuer politischer Impetus, der durch eine gemeinsame Erklärung auf hoher Ebene, am besten schon im Herbst des Jahres, erfolgen könnte. Mock stimmte zu und erinnerte an den Vorschlag von Schewardnadse, eine Tagung auf Ebene der Staats- und Regierungschefs abzuhalten. Er erläuterte die pragmatische Rolle der »Non-aligned and Neutral (N+N-)States« im KSZE-Rahmen, die derzeit eher Zurückhaltung übten, aber trotz der Schwierigkeiten der internen Konsensfindung für Krisensituationen stets als Vermittler zur Verfügung stünden. Horn wollte die mangelnde Übereinstimmung über ein Abschlussdokument bei der Pariser KSZE-Tagung nicht dramatisieren. Man solle das Konsensprinzip nicht aufgeben, obwohl es auch Nachteile gebe. So eröffne es ein bis zwei Ländern die Möglichkeit, Entscheidungen zu verhindern, wobei der ungarische Außenminister auf Rumänien hinwies. Er machte auch auf die große Bedeutung der Gemeinsamen Erklärung der Bundesrepublik und der UdSSR vom 13. Juni 1989 aufmerksam, in welcher die Notwendigkeit zur Änderung der inneren politischen Rahmenbedingungen und das Recht auf Selbstbestimmung der Deutschen festgeschrieben worden war.26 Mock unterstrich den »Sprung nach vorne«, den das Wiener KSZE-Schlussdokument gebracht habe, sodass vom KSZE-Treffen in Paris über die »menschliche Dimension« wenig Neues zu erwarten gewesen sei. Wahrscheinlich werde auch Kopenhagen keine großen Fortschritte bringen, die sich die Sowjetunion wohl für das Moskauer Treffen 1991 vorbehalte.27 25 Vgl. dazu ausführlicher den Beitrag von László J. Kiss in diesem Band. 26 Information »BRD-Sowjetunion ; Gemeinsame Erklärung vom 13.6.1989« vom 15. Juni 1989, BMeiA, Kt. 224.18.02–225.03.00/1989/50, GZ 225.01.01/17-II.3/89 ; »Achtung des Selbstbestimmungsrechts der Völker«, in : Bulletin [der deutschen Bundesregierung], 15. Juni 1989, Nr. 61, S. 542–544, hier S. 542 ; Dokument 2 : »Gespräch des Bundeskanzlers Kohl mit Generalsekretär Gorbatschow Bonn, 12. Juni 1989« ; Dokument 3 : »Gespräch des Bundeskanzlers Kohl mit Generalsekretär Gorbatschow Bonn, 13 . Juni 1989« ; Dokument 4 : »Delegationsgespräch des Bundeskanzlers Kohl mit Generalsekretär Gorbatschow Bonn, 13. Juni 1989«, in : Küsters, Hanns Jürgen/Hofmann, Daniel : Dokumente zur Deutschlandpolitik. Deutsche Einheit. Sonderedition aus den Akten des Bundeskanzleramtes 1989/90, München 1998, S. 276–299 ; ergänzend : Hilger, Andreas (Hg.) : Diplomatie für die deutsche Einheit. Dokumente des Auswärtigen Amts zu den deutsch-sowjetischen Beziehungen 1989/90 (Schriftenreihe der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 103), München 2011. 27 Amtsvermerk »Offizieller Besuch des ungarischen AM Horn ; Gespräche mit HBM, 26. 6. 1989 ; Internationale Themen«, BMeiA, Kt. ÖB Bonn/Res. 1989 (2b–5), GZ 222.18.23/25-II.SL/89, Zl. 187-Res/89.
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Mock erläuterte die Grundsätze der österreichischen Haltung zu den Reformbestrebungen in Mittel- und Osteuropa : Es handle sich um souveräne Entscheidungen der jeweiligen Staaten. Österreich reagiere differenziert, d. h. es unterstütze die Reformen in Polen, Ungarn und der UdSSR im Rahmen seiner Möglichkeiten, wobei es sichtliche Zurückhaltung zu zeigen gelte, was Bulgarien, die ČSSR, die DDR und Rumänien angehe. Die Unterstützung dürfe nicht irritieren, wobei er für Hinweise immer dankbar wäre. Die Öffnung Osteuropas entwerte nicht die Rolle Österreichs, sondern weite seine Möglichkeiten aus. Die einsetzende Entwicklung verringere die Systemunterschiede und stärke, weil spannungsmindernd, Frieden und Stabilität in Europa. Die österreichische Neutralität ermögliche einen qualifizierten Beitrag zum Geschehen. Aus der Entwicklung ergäben sich Chancen zur Überwindung der Phase der »friedlichen Koexistenz«, der nun eine Phase »breiter Kooperation« folgen könne. Langfristig könne dies zu einer dritten Phase, zu einem »Gemeinsamen Europäischen Haus«, führen.28 Mock nahm dabei direkt Bezug auf Formeln von Nikita S. Chruschtschow und Michail Gorbatschow und sah darin eine Perspektive für eine dynamische Weiterentwicklung. Mit dem medial inszenierten, symbolträchtigen 27. Juni nahmen die Fluchtversuche von DDR-Bürgern über die ungarische Westgrenze zu. Unter ihnen verbreitete sich die Stimmung, »man könne da jetzt ganz einfach über die Grenze nach Österreich hinüberspazieren«29, wie der DDR-Botschafter in Budapest, Gerd Vehres, kritisierte. Die österreichischen Behörden vermerkten am 17. Juli, dass seit Beginn der Demontagearbeiten hundert Ostdeutsche über die »grüne Grenze« nach Österreich geflüchtet waren.30 Viele Fluchtversuche misslangen allerdings, da die Grenze noch scharf kontrolliert wurde. Zudem versuchten nach Ungarn entsandte Mitarbeiter der DDRStaatssicherheit Fluchtabsichten zu verhindern. In der Folge nahm die Flüchtlingszahl dennoch deutlich zu, da Budapest aufgrund einer Direktive vom 8. August Personen, die beim unerlaubten Grenzübertritt gefasst wurden, nicht mehr in die DDR abschob, sondern lediglich ermahnte, in Zukunft derartige Versuche zu unterlassen.31 3. Das »Paneuropa-Picknick«, ein Todesfall an der Grenze und der Durchbruch auf Schloss Gymnich bei Bonn im August 1989 Am 13. August war Staatssekretär Jürgen Sudhoff vom Auswärtigen Amt zu ersten Gesprächen über die Flüchtlingsproblematik nach Budapest unterwegs, wo er mit
28 Ebd. 29 Vehres, G. 1999, S. 108. 30 Angesichts einer Massenflucht von DDR-Bürgern über die ungarisch-österreichische Grenze öffnete Ungarn am 11. September die Grenze nach Österreich, in : Archiv der Gegenwart, 11. September 1989, S. 33743. 31 Gron, S. 2005, S. 90.
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Horn konferierte, der wissen ließ, dass die DDR-Führung zwar vermieden hatte, Ungarn öffentlich zu verurteilen, doch hinter den Kulissen Ost-Berlin, Bukarest und Prag den Druck auf die ungarischen Reformer erhöhten.32 Am 14. August informierte Horn die bundesdeutsche Regierung über den Entschluss, DDR-Bürger nicht mehr wie bislang zwangsweise in ihre Heimat zurückzuschicken. Die massenhafte Fluchtbewegung und die steigende Zahl Ostdeutscher, die in der bundesdeutschen Botschaft in Budapest auf ihre Ausreise warteten, machten diese Reaktion erforderlich. Ungarn errichtete Notlager für solche DDR-Bürger, die nach Beendigung ihres Urlaubs nicht mehr nach Hause fahren wollten, und rief dazu auf, dass sich die beiden deutschen Staaten um eine Lösung bemühen.33 Kohl erhielt während seines Österreich-Urlaubs in St. Gilgen einen Anruf von Németh, der mitteilte, dass kein Deutscher gegen seinen Willen in die DDR zurückgeschickt werde.34 Ost-Berlin protestierte schließlich heftig gegen die »Untätigkeit« Budapests. Vehres überschüttete Horn mit Vorwürfen, für die Eskalation der Lage verantwortlich zu sein, was »das deutsche Volk nicht verzeihen« könne. Horn erwiderte, dass Ungarn nichts dafür könne, wenn ostdeutsche Urlauber nicht mehr nach Hause wollten. Als Vehres auf die Einhaltung des bilateralen Abkommens über den Reiseverkehr von 1969 pochte, ging Horn in die Offensive und machte klar, dass diese Vereinbarung noch zu Kádárs Zeiten abgeschlossen worden sei.35 Das unter der Schirmherrschaft von Otto und Walpurga von Habsburg stehende und mit ungarischen Reformkommunisten, wie Imre Pozsgay, gemeinsam organisierte Picknick der Paneuropa-Union in der Grenzregion auf ungarischem Boden am 19. August sollte Signal- und Testcharakter mit Blick auf die Reaktion Moskaus haben. Ungarns Außenminister informierte Mock noch am gleichen Tage telefonisch über die Entscheidung der Budapester Regierung, die geöffneten Tore nicht mehr zu schließen. Er bat ihn, dies auch seinen Amtskollegen im Westen zu sagen. Mock informierte daraufhin mehrere westeuropäische Außenminister über diese sensationelle Nachricht.36 Dieses Ereignis mit »Event«-Charakter war aber nicht für die Bereitschaft Ungarns zur offiziellen Grenzöffnung ausschlaggebend, sondern ein tragischer Zwischenfall : 32 Kohl, Helmut : Ich wollte Deutschlands Einheit. Dargestellt von Kai Diekmann und Ralf Georg Reuth, Berlin 1996, S. 68. 33 Angesichts einer Massenflucht von DDR-Bürgern über die ungarisch-österreichische Grenze öffnete Ungarn am 11. September die Grenze nach Österreich, in : Archiv der Gegenwart, 11. September 1989, S. 33743. 34 Kohl, H. 1996, S. 70. 35 Horn, Gyula : Freiheit, die ich meine. Erinnerungen des ungarischen Außenministers, der den Eisernen Vorhang öffnete, Hamburg 1991, S. 310–311. 36 Klambauer, O. 2000, S. 181.
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In der Nacht vom 21. auf den 22. August war der DDR-Bürger Kurt-Werner Schulz bei einem Handgemenge mit einem ungarischen Grenzbeamten erschossen worden. Eine Kugel soll sich aus der Maschinenpistole des Beamten gelöst haben. Der Vorfall ereignete sich auf österreichischem Territorium im Gemeindegebiet Lutzmannsburg. Nach Verständigung Österreichs durch die ungarischen Behörden trat umgehend eine Grenzkommission zur Klärung zusammen. Mock äußerte sein Bedauern über das tragische Geschehnis.37 Ein weiterer Todesfall ereignete sich einige Tage später. Ein 40-jähriger Ostdeutscher erlitt nach geglückter Flucht einen Herzinfarkt. Die Überführung der Leiche übernahm das Deutsche Rote Kreuz. Die Obduktion ergab, dass der Mann gesund, aber am Ende seiner Kräfte war. Fünf Tage lang hatte er ohne Essen in einer Budapester Kirche ausgeharrt, um seine Verlobte aus der Bundesrepublik zu treffen.38 Németh gab viele Jahre später in einem TV-Interview bekannt, dass die tödlichen Zwischenfälle, vor allem der Tod von Schulz, zum Auslöser für die ungarische Bereitschaft zur Öffnung der Grenze wurden. Engste Mitarbeiter hatten Németh darauf aufmerksam gemacht, dass er angesichts des »aggressiven« Verhaltens von DDR-Flüchtlingen für weitere Zwischenfälle und Todesopfer die Verantwortung tragen müsse.39 Die interne Entscheidung war gefallen, freilich aber noch nicht auf höchster Ebene zwischen Budapest, Bonn und Wien akkordiert. Am 22. August wiederholte Kohl, der einen Tag zuvor aus dem Urlaub nach Bonn zurückgekehrt war, öffentlich seine Bereitschaft zu einem Treffen mit Honecker, wenn damit Erleichterungen für die Menschen in der DDR erreicht werden könnten. In seiner Verlautbarung hießt es : »Wir alle sind in diesen Wochen durch die Berichte und Bilder aus Budapest und OstBerlin aufgewühlt, die uns vor Augen führen, wie Männer, Frauen und Kinder – unsere deutschen Landsleute – einen Weg in die Freiheit suchen. Niemanden in unserem Land darf das Schicksal dieser Menschen gleichgültig lassen.«40
Die DDR-Flüchtlinge schlichen weiter durch Maisfelder, wateten durch Sümpfe, durchschwammen den Neusiedler See, robbten über Felder und nutzten jede unübersichtliche Stelle an der ungarisch-österreichischen Grenze. Sie ließen ihre Fahrzeuge, die »Trabbis«, ja sogar die wertvolleren »Wartburgs« in Ungarn zurück. Laut dem bundesdeutschen Botschafter in Wien, Graf Dietrich von Brühl, hatte 37 Mock bedauert tragischen Grenzzwischenfall, APA-Bericht 0263 5 AI vom 22. August 1989. 38 Kein Ende der Fluchtwelle von DDR-Bürgern, APA-Bericht 0117 5 AI vom 28. August 1989. 39 20 Jahre Paneuropa-Picknick, Bericht in der Nachrichtensendung »Zeit im Bild 2« (ORF) vom 19. August 2009 (zitiert nach O-Ton). 40 Kohl, H. 1996, S. 68.
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»die Stunde der Burgenländer« geschlagen. Ohne »ihre unschätzbare Hilfe für die Deutschen aus der DDR« hätte die Fluchtbewegung vor der Öffnung der Grenze nie das Ausmaß angenommen, die sie dann bekam. Diese Hilfe erstreckte sich von der Unterstützung bei der Flucht über erste Hilfemaßnahmen in den an der Grenze gelegenen Häusern und Informationen, wo Busse zur Botschaft bereitstanden, bis zu längeren Familienaufenthalten, wenn die Flüchtlinge erschöpft eintrafen. Bürgermeister der kleinsten Dörfer an der ungarischen Grenze richteten Betreuungsstationen in Sporthallen und ähnlichen Gebäuden ein.41 Sonnenbrände waren zu bekämpfen, Babys litten unter unzähligen Mückenstichen, ärztliche Hilfe – etwa bei der Verwendung von Salben – war notwendig. Spenden standen bereit : Spielsachen, Windeln, Kleidung, Nahrungsmittel und Medikamente bis hin zu Körperpflegemitteln, einschließlich des in der DDR nicht erhältlichen Duschgels. Die deutschen Botschaftsräumlichkeiten waren überfüllt. Reservierte Zimmer in einfachen Hotels reichten nicht mehr aus. Helmut Zilk, Bürgermeister von Wien, stellte Jugendherbergen zur Verfügung. Das Österreichische Rote Kreuz, der Malteserhilfsdienst und mehrere Wiener Pfarrgemeinden nahmen Flüchtlinge auf.42 Die ungarische Regierung hatte mit der Freigabe der Ausreise der Flüchtlinge aus der deutschen Botschaft in Budapest praktisch und symbolisch gegen den Warschauer Pakt verstoßen. Zum ersten Mal durften ostdeutsche Bürger ohne Rückkehr in die DDR nach Westdeutschland ausreisen. Bisher mussten sie stets in ihre Heimatorte in der DDR zurückfahren und wurden von dort bestenfalls gegen ein hohes Lösegeld der Regierung der Bundesrepublik in den Westen entlassen. Die ungehinderte Gruppenausreise der Botschaftsflüchtlinge hingegegen war neu.43 Eine »große Lösung« für die in den Lagern lebenden Flüchtlinge erforderte Gespräche auf höchster Ebene. Sie rückte für Bonn näher, als der den Deutschen aufgeschlossene ungarische Botschafter in Bonn, István Horváth, Kohls außenpolitischen Berater Teltschik kontaktierte und den Wunsch Némeths vorbrachte, sich unter Wahrung höchster Diskretion mit dem deutschen Bundeskanzler so rasch wie möglich 41 Bericht von Botschafter i. R. Dr. Dietrich Graf von Brühl : Flucht in die Freiheit. Die Flüchtlingsbewegung aus Ungarn im Jahre 1989, o. O., o. J., S. 3, mit Begleitschreiben an den Verfasser vom 20. November 2005. Ich danke Herrn Botschafter von Brühl (†) ganz herzlich für die Verwertungsmöglichkeit dieses Berichts sowie zahlreiche Gespräche. Siehe auch den »Zeugen des Umbruchs« Brühl, Dietrich von : Deutsche Erfahrungen mit Österreich, in : Gehler, Michael/Böhler, Ingrid (Hg.) : Verschiedene europäische Wege im Vergleich. Österreich und die Bundesrepublik Deutschland 1945/49 bis zur Gegenwart. Festschrift für Rolf Steininger zum 65. Geburtstag, Innsbruck/Wien/Bozen 2007, S. 579–584 ; Schöne, Jens : The Peaceful Revolution. Berlin 1989/90 – The Path to German Unity, Berlin 2009, S. 53–69, hier S. 54–61 ; Interview von Andrea Brait und Michael Gehler mit Gräfin Maria Octavia von Brühl, Wien, 26. Februar 2013 ; Graf, M./Lass, A./Ruzicic-Kessler, K. 2012. 42 Ebd. (Brühl, D. o. J.), S. 4. 43 Ebd. (Brühl, D. o. J.), S. 7.
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zu treffen. Unter Beiziehung von Genscher, der sich gerade von einem Herzinfarkt erholt hatte, und Kohls engsten Vertrauten Teltschik, Eduard Ackermann, Rudolf Seiters und Juliane Weber fand das Treffen unter größter Geheimhaltung statt, vor allem um das äußerst gespannte Verhältnis zwischen Budapest und Ost-Berlin nicht weiter zu verschärfen. Mit einer ungarischen Regierungsmaschine landeten Németh, Horn und Horváth am 25. August auf dem militärischen Teil des Flughafens KölnBonn und wurden von dort mit einem Hubschrauber des Bundesgrenzschutzes zum Schloss Gymnich bei Bonn geflogen, wo das gewünschte Treffen stattfinden sollte.44 Einen Tag nach der Ankunft ausgeflogener DDR-Botschaftsflüchtlinge aus Budapest in Wien-Schwechat also kamen Németh und Horn auf Gymnich zusammen, um geheime Gespräche mit Kohl und Genscher zu führen.45 Németh berichtete von Informationen, wonach Honecker sich mit Nicolae Ceauşescu zusammengetan und gemeinsame Schritte gegen Ungarn geplant habe.46 Im Laufe des Gesprächs bezüglich der Ausreise der deutschen Flüchtlinge in Ungarn bekräftigte Németh, dass eine Abschiebung zurück in die DDR nicht infrage komme, und fügte hinzu : »Wir öffnen die Grenze. Wenn uns keine militärische oder politische Kraft von außen zu einem anderen Verhalten zwingt, werden wir die Grenze für DDR-Bürger geöffnet halten.« Die Ausreise der Flüchtlinge solle bis Mitte September 1989 erfolgen.47 Kohl war tief bewegt. Über die für ihn entscheidende Frage, wie Moskau auf die ungarischen Absichten reagieren würde, erhielt er Aufschluss in einem Telefonat mit Gorbatschow, nachdem er berichtet hatte, was er mit Németh und Horn besprochen hatte. Auf die Frage, ob mit seiner Unterstützung zu rechnen sei, schwieg Gorbatschow 44 Kohl, H. 1996, S. 71 f. 45 Über dieses Gespräch siehe den Vermerk Genschers vom 25. August 1989 in : Küsters, Hanns Jürgen/ Hofmann, Daniel : Dokumente zur Deutschlandpolitik. Deutsche Einheit Sonderedition aus den Akten des Bundeskanzleramtes 1989/90, München 1998, S. 377. Der Vermerk selbst beinhaltet allerdings kein Wort von der Öffnung der ungarischen Grenze für die DDR-Flüchtlinge, sondern hält lediglich die schwierige wirtschaftliche Lage Ungarns fest, die von Ministerpräsident Németh berichtet wurde ; ohne dass sie die Rolle Österreichs und Mocks im Zusammenhang mit der österreichisch-ungarischen Grenzöffnung erwähnen, siehe die Standardwerke von Rödder, Andreas : Deutschland einig Vaterland. Die Geschichte der Wiedervereinigung, München 2009, S. 72–75 ; Schwarz, Hans-Peter : Helmut Kohl. Eine politische Biographie, München 2012, S. 526. Im Unterschied zu Rödder und Schwarz siehe Grosser, P. 2009, S. 44 f. und Kowalczuk, I.-S. 2009, S. 350–351, S. 377, die das historische Faktum berücksichtigen. 46 Kohl, H. 1996, S. 71 f. 47 Ebd. Am Ende der Aufzeichnung folgt zu den Flüchtlingen eine versteckte Anmerkung, ebd., S. 380 ; siehe auch Kohl, Helmut : Erinnerungen 1982–1990, München 2005, S. 915–923, hier S. 921–923 ; bezüglich der Instrumentalisierung des DDR-Flüchtlingsproblems und des intensivierten Reformprozesses in Mitteleuropa siehe Sawczuk, Janusz : Turbulentes 1989. Genese der deutschen Einheit (Nationalisms across the Globe 6), Oxford/Bern/Berlin/Bruxelles/Frankfurt am Main/New York/Wien 2011, S. 174–206.
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zunächst, um dann vielsagend zu antworten : »Die Ungarn sind gute Leute.« Für Kohl war ab diesem Moment klar, dass Németh und Horn nicht auf eigene Faust gehandelt hatten, sondern sie sich des »Segens« aus Moskau sicher waren. Für Kohl war das »abseits der Öffentlichkeit im Dreieck Bonn – Budapest – Moskau« Vereinbarte ausschlaggebender als das ohnedies schon funktionierende Kooperationsdreieck Bonn – Wien – Budapest.48 Am 21. August hatte Genscher bereits in einem Interview erklärt, man ermuntere niemanden in der DDR, die Heimat zu verlassen. Wer aber komme, dem müsse in der Not geholfen werden. Im gleichen Atemzug teilte er mit, dass er seine »fähigsten Mitarbeiter« eingeschaltet habe, um Hilfe sicherzustellen. Er nannte den ehemaligen Regierungssprecher und Staatssekretär im Auswärtigen Amt Jürgen Sudhoff und seinen Kabinettschef Michael Jansen. Sudhoff hielt sich mehrfach in Budapest auf, Jansen weilte sowohl in Budapest als auch in Wien. Jansen war für die Organisation der Hilfe in Österreich die entscheidende Person. Er hatte Botschafter von Brühl, der sich vorsorglich in Tirol »im Urlaub« befand, auf seinen Posten zurückbeordert, woraufhin dieser noch am gleichen Tag nach Wien reiste. Jansen war am 25. August in Wien, um von Mock die österreichische Zustimmung für die Durchreise zu erhalten, die dieser umgehend erteilte. Wichtige Details wurden zwischen dem 28. August und dem 10. September mit dem Leiter der Konsularabteilung des Außenministeriums, Botschafter Erik Nettel, und seinem Stellvertreter Erich Kussbach geklärt und Einvernehmen erzielt. Von Brühl erinnert sich : »Es waren angenehme Gespräche. Das Ziel war klar : Der Weg mußte gebahnt werden. Aber gestaltete sich nicht so einfach, wie es sich heute anhört, war doch Österreich durch einen Vertrag mit Berlin-Ost gebunden, nur solche Personen aus der DDR einreisen zu lassen, die über ein Einreisevisum verfügten.«49
DDR-Außenminister Oskar Fischer hatte beim Kurzbesuch Horns in Ost-Berlin am 31. August noch offen gedroht und anschließend dem erkrankten Honecker berichtet, dass Ungarn »Schritte zur Ermöglichung der Flucht der DDR-Bürger vorbereitet, die sich alle gegen die Interessen der DDR richten. Diese Maßnahmen sind offenbar bereits mit der BRD und über die BRD mit Österreich abgestimmt.«50 Nachdem Horn die Entscheidung seiner Regierung hartnäckig verteidigt hatte, überlegte die DDR-Führung, auf Österreich einzuwirken, um den Flüchtlingsstrom einzudämmen. Fischer legt in einer Politbürositzung am 5. September einen Katalog von außenpolitischen Maßnahmen vor. Für besonders wichtig hielt er »ein schnelles 48 Kohl, H. 1996, S. 75. 49 Brühl, D. o. J., S. 7. 50 Nach amtlichen Dokumenten zitiert bei Kohl, H. 1996, S. 80 f.
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Gespräch mit Österreich, da Mock unser bisheriges Stillschweigen als Einverständnis betrachten könnte«. Man müsse verdeutlichen, dass Österreich »alles unterlassen sollte, was die Spannungen verschärft«.51 Volkskammerpräsident Horst Sindermann bekräftigte : »Man muß mit Vranitzky sprechen : Fallen Sie schon wieder auf den deutschen Chauvinismus herein ?«52 Das wichtigste Problem war für Österreich mit Blick auf die Wahrung des Neutralitätsstandpunkts die Frage, wie die Durchreise der Flüchtlinge zu organisieren sei. Die Regierung blieb bei ihrer Entscheidung, die sie schon bei den Botschaftsflüchtlingen aus Budapest getroffen hatte : Das Österreichische Rote Kreuz (ÖRK) wurde beauftragt und damit deutlich gemacht, dass es sich um eine humanitäre Aktion handelte. Dabei waren die Nutzung privater Busse und das Heraushalten der staatlichen Österreichischen Bundesbahnen (ÖBB) aus dem Transport zur Wahrung des Neutralitätsstandpunkts dienlich. Eine Kombination von Schiene und Bus oder gar ein Transport nur auf der Schiene war auszuschließen, weil sich die großen Lager in Ungarn nicht in der Nähe von Bahnhöfen befanden. Die Zahl der Flüchtlinge war zu groß. Es war nicht machbar, diese Vielzahl von Menschen umzuladen. Die Masse der Flüchtlinge sollte daher mit Reisebussen auf drei großen Routen, die vom ÖRK mit Betreuungsund Versorgungsstellen vorbereitet wurden, an die deutsche Grenze gebracht werden. Grenzübertrittsstellen nach Deutschland waren Passau und Freilassing.53 An den Betreuungsstationen an den österreichisch-ungarischen Grenzstellen gaben ÖRK-Helferinnen und -Helfern jedem »Trabbi«-Fahrer, der sich als DDRBürger ausweisen konnte, 700 Schilling, die für den Kraftstoffverbrauch bis zur deutschen Grenze ausreichten. Das ÖRK bereitete Karten vor, auf denen die Durchfahrtswege verzeichnet waren. Das Problem des Visumvertrags zwischen Österreich und der DDR wurde von Wien im Sinne einer »österreichischen Lösung« flexibel geregelt : In jeden Ausweis der DDR-Flüchtlinge wurde ein loses Blatt mit Visumsstempel eingelegt. Nur der Name des Flüchtlings wurde eingetragen, und die Einreise war genehmigt. Das Einlegeblatt wurde an der deutschen Grenze wieder herausgenommen, womit dem Visumsabkommen Genüge getan war. Für die deutsche Botschaft in Wien galt die Weisung aus Bonn : »Geld spielt keine Rolle.« Die Kosten wurden dem ÖRK ersetzt.54 51 Protokoll der SED-Politbürositzung vom 5. September 1989, in : Stephan, Gerd-Rüdiger (Hg.) : »Vorwärts immer, rückwärts nimmer !« Interne Dokumente zum Zerfall von SED und DDR 1988/89, Berlin 1994, S. 119. 52 Ebd., S. 123. 53 Brühl, D. o. J., S. 8 ; Jansen, Michael : »Vielleicht sah Genscher mit der Deutschen Einheit seine Mission nach achtzehn Jahren als Außenminister als erfüllt an«, in : Gehler, Michael/Meyer, Hinnerk (Hg.) : Deutschland, der Westen und der europäische Parlamentarismus. Hildesheimer Europagespräche I (Historische Europa-Studien 5), Hildesheim/Zürich/New York 2012, S. 148–172, hier S. 169 f. 54 Brühl, D. o. J., S. 9.
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4. Offizielle Grenzöffnung und eine denkwürdige Europa-Rede Genschers in Wien am 14. September Wenige Stunden vor seiner Abreise zum CDU-Bundesparteitag erhielt Kohl von Horváth die Nachricht aus Budapest, dass die Grenzöffnung unmittelbar bevorstehe. Das zeitliche Zusammentreffen dieses Ereignisses mit dem Bremer Parteitag gab Kohl die Gelegenheit, die putschartigen Angriffe seiner innerparteilichen Kritiker um Kurt Biedenkopf, Heiner Geißler, Lothar Späth und Rita Süssmuth abzuwehren. Der Zeitpunkt des Bekanntwerdens verdankte sich einem Zufall, und zwar dem Aufenthalt des außenpolitischen Sprechers der SPD-Bundestagsfraktion Karsten Voigt in Ungarn. Dieser hatte sich Anfang September zu Gesprächen in Budapest aufgehalten und war von Horns Staatssekretär László Kovács unter dem Siegel höchster Verschwiegenheit unterrichtet worden, dass die ungarische Regierung die DDRBürger am 6. September ausreisen lassen werde. Noch in Budapest brachte Voigt dies jedoch westdeutschen Reportern zur Kenntnis, wodurch die Sache alsbald publik war, worauf die Ungarn beschlossen, den Termin auf die Nacht vom 10. zum 11. September zu verlegen, was Kohl mit Blick auf die innerparteilichen Frondeure in Bremen zu Hilfe kam.55 Vehres benachrichtigte am 8. September die DDR-Führung über die bevorstehende Öffnung der Grenze für den 11. September ab 0 Uhr. Nicht mehr rückkehrwilligen DDR-Bürgern werde ab diesem Zeitpunkt die Ausreise in Drittländer ermöglicht, wenn diese bereit seien, sie durchzulassen oder aufzunehmen.56 Der ostdeutsche Diplomat sah bereits das deutsch-österreichische Zusammenspiel voraus : Das österreichische Außenministerium bekräftige seine Bereitschaft zur Genehmigung des Transits der DDR-Bürger ohne Visum, falls die Bundesrepublik die Aufnahme gewährleiste. In diesem Falle werde die Bundesrepublik nicht einmal zu einer öffentlichen Erklärung gezwungen. Eine interne Mitteilung Bonns an Wien genüge, dass die Aufnahme der DDR-Bürger garantiert sei.57 Wie von Brühl in einem Telefax an das Auswärtige Amt meldete, funktionierte die deutsch-österreichische Kooperation über die amtlichen und Rot-Kreuz-Stellen via Bonn – München – Wien – Budapest in den entscheidenden Tagen reibungslos : »Bei der [bundesdeutschen] Botschaft [in Wien] meldeten sich am 11.09.89 mehr als 500 Einzelpersonen, die wie bisher weitergeleitet wurden : Fahrkarte nach Gießen oder Schöppingen, Zehrgeld, sonstige Kosten. Am 12.09. liefen auf diese Weise rd. 200, am 55 Kohl, H. 1996, S. 80. 56 Erstes Fernschreiben von DDR-Botschafter Vehres vom 8. September 1989, in : Kohl, H. 1996, S. 134 f. 57 Ebd., S. 135 f.
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13.09. rd. 250 Personen durch. […] Aus Budapest liefen am 12.09. noch 4 Busse des OERK [Österreichischen Roten Kreuzes] ab, die am 11.09. noch nicht genutzt worden waren. Am 13.09. liefen 7 Busse ab, die neu nach Budapest entsandt worden waren. Die Busse fassen etwa je 50 Personen. […] Eine Koordinationsgruppe, bestehend aus Vertretern des OERK, des OEAM [Österreichischen Außenministeriums], des OEIM [Österreichischen Innenministeriums] und mir traf sich am 11. und 13.09. und löste sich am 13.09. auf. Bei den Gesprächen wurden im Wesentlichen Detailfragen erörtert. […] Die Zusammenarbeit mit dem Koordinator der Einsatzleitung in München war hervorragend, auch während der betreffenden Nächte. So konnten Schwierigkeiten jeweils in höchstens 2 Stunden gelöst werden. Trotz Überlastung der Telefonleitungen war auch die Zusammenarbeit mit der [bundesdeutschen] Botschaft Budapest sehr gut.«58
Am 10./11. September wurde Ungarns Grenze zu Österreich tatsächlich zur freien Ausreise geöffnet. Kohl kannte das Datum infolge einer Abmachung von Teltschik mit dem ungarischen Ministerpräsidenten Németh seit dem 4. September. Genscher war spätestens seit dem 7. September im Bilde, nachdem Horn in Budapest Mitarbeiter des Auswärtigen Amtes informiert hatte. Bonn hatte Budapest zudem erhebliche finanzielle Zusicherungen gegeben (insgesamt rund eine Milliarde DM, die Hälfte kam vom Bund, die andere von Ländern, v. a. von Bayern und Baden-Württemberg) und damit die schon vorhandene ungarische Bereitschaft zur Freigabe der Grenzöffnung noch verstärkt.59 Erleichtert konnte Kohl am Rande des Bremer Parteitags die Meldung verkünden, die seine innerparteilichen Gegner zum Verstummen brachte : »Vor wenigen Minuten hat der ungarische Außenminister die Entscheidung seiner Regierung bekanntgegeben, daß ab heute nacht null Uhr Deutsche aus der DDR in ein Land ihrer Wahl von Ungarn aus ausreisen können. Wir wissen sowenig wie die ungarischen Behörden, wie groß die Zahl unserer Landsleute aus der DDR ist, die gegenwärtig in Ungarn sind und die Chance wahrnehmen, Ungarn verlassen zu können. Das erste, was ich sagen darf, ist ein Wort des herzlichen Dankes an die ungarische Regierung und an die ungarischen Behörden. Wir sind uns nicht zuletzt auf Grund unserer Gespräche in den vergangenen Wochen sehr wohl bewußt, welche Entscheidung die ungarische Regierung getroffen hat. Es ist eine Entscheidung der Menschlichkeit, es
58 »Fernschreiben Transit von DDR-Flüchtlingen durch Österreich, hier : die ersten 3 Tage vom 11. bis 13.09.1989«, PA AA, ZA 147.168. 59 Oplatka, A. 2009, S. 216–230, hier S. 223–230. Teltschik hatte schon seit 1984 Kontakte mit ungarischen Politikern hergestellt, u.a. mit Nemeth, dem späteren Ministerpräsidenten. Vgl. dazu Interview von Michael Gehler mit Horst Teltschik in Hildesheim, 25. Juni 2014
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ist eine Entscheidung der europäischen Solidarität. Und ich bin für diese Entscheidung sehr, sehr dankbar. Ich will gleichzeitig die Gelegenheit wahrnehmen, allen in Ungarn, aber auch allen in Österreich – das gilt auch für die österreichische Regierung und für viele Bürgerinnen und Bürger im Burgenland –, sehr herzlich zu danken. Danken dafür, daß sie sich um die Deutschen aus der DDR, die jetzt in Ungarn sind oder, aus Ungarn kommend, in den letzten Wochen die Grenze überschritten haben und nach Österreich kamen, in einer besonderen Weise bemüht haben.«60
Zwei Tage später telegrafierte Kohl an Németh : »[F]ür den großherzigen Akt der Menschlichkeit, den Ihr Land in diesen Tagen Tausenden meiner Landsleute erweist, möchte ich Ihnen im Namen aller Deutschen aufs herzlichste danken. In meinen Dank schließe ich Ihre Mitarbeiter, insbesondere Herrn Außenminister Horn, sowie die karitativen Organisationen und alle Bürger Ihres Landes ein, die in den vergangenen Wochen großzügig und selbstlos geholfen haben. Die weltweite Zustimmung, die Ihre Politik jetzt erntet, würdigt den Mut und die Entschlossenheit Ihres Handelns genauso wie Ihre humanitären Beweggründe, die in den besten Traditionen Europas wurzeln und auf den festen Boden der KSZE-Dokumente von Helsinki, Madrid und Wien gegründet sind. Ihre Politik ist richtungsweisend und vorbildlich für eine europäische Friedensordnung, in der der Mensch mit seiner Würde und seinen Rechten im Mittelpunkt der Politik steht. Herr Ministerpräsident, was Ungarn in diesem Tagen für uns geleistet hat, werden wir nie vergessen. Sie haben in überwältigender Weise Ihr Wort gehalten, sich für die menschliche Lösung eines Problems einzusetzen, das in der deutschen Teilung begründet ist. Auch ich stehe meinerseits zu dem, was wir während Ihres kürzlichen Besuchs in der Bundesrepublik besprochen haben.«61
Verspätet beriet das paralysierte SED-Politbüro am 12. September in Ost-Berlin Gegenmaßnahmen, die vom Ministerium für Staatssicherheit hektisch entwickelt worden waren, besaß aber weder politische Argumente noch konkrete Druckmittel gegenüber Budapest. Überlegungen zur Abberufung des Botschafters wurden fallen gelassen. Über verschärfte Kontrollen von nach Ungarn reisenden DDR-Touristen
60 Dank an Ungarn für Menschlichkeit und Solidarität. Erklärung vom Abend des 10. September 1989, unmittelbar nach Bekanntgabe der Entscheidung der ungarischen Regierung, die aus der DDR geflüchteten Deutschen aus Ungarn ausreisen zu lassen, in : Kohl, Helmut : Die deutsche Einheit. Reden und Gespräche. Mit einem Vorwort von Michail Gorbatschow, Bergisch-Gladbach 1992, S. 64 f., hier S. 64. 61 Faksimileabdruck des Dank-Telegramms von Helmut Kohl an Miklós Németh vom 12.9.1989 in : Kohl, H. 1996, S. 82 f.
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wurde erst gar kein Beschluss mehr gefasst. In einer Protestnote forderte Ost-Berlin von Budapest, die Grenzöffnung unverzüglich rückgängig zu machen, was umgehend zurückgewiesen wurde. Ungarn berief sich auf die Wiener Vertragsrechtskonvention und die clausula rebus sic stantibus.62 Die UdSSR verhielt sich im bilateralen Konflikt zwischen Ost-Berlin und Budapest punktuell neutral, während das aufeinander abgestimmte Dreieck Bonn – Wien – Budapest den Transfer von Zehntausenden Ostdeutschen in den Westen organisierte und damit einen weiteren Keil in die verunsicherten »Ostblock«-Staaten trieb. Dem kommunistisch-orthodoxen Dreieck Ost-Berlin – Prag – Bukarest standen die reformorientierten Polen und Ungarn und ihre Verbindung mit Österreich und der Bundesrepublik Deutschland gegenüber. Drei Tage nach der Grenzöffnung, am 14. September, hielt Genscher eine denkwürdige, ja historische Rede in der Österreichischen Nationalbibliothek in Wien, die von der Zeitgeschichtsforschung bisher völlig unbeachtet geblieben ist. Sie trug den Titel : »Europäische Gemeinschaft – Auf dem Weg zur Europäischen Union. Das ganze Europa – Auf dem Weg zu sich selbst«.63 Ein erster Hintergrund lässt sich unschwer erraten. Es ging um eine Darstellung des Sachstands der Entwicklungen in den Europäischen Gemeinschaften, hatte doch Österreich in Brüssel seit Juli seinen EG-Beitrittswunsch deponiert. Doch es gab noch einen viel näherliegenden aktuellen Anlass : Genscher sprach seine Dankbarkeit dafür aus, »hier in Wien, in dieser durch und durch europäischen Stadt«, sprechen zu können, und dankte »der österreichischen Bundesregierung und allen Österreichern […] für das Verständnis und für die Hilfsbereitschaft, mit denen sie unsere deutschen Mitbürger aus der DDR empfangen haben«. Er pries das Gastland über die Maßen : »Österreich bringt damit eine Gesinnung zum Ausdruck, die ihre Wur62 Zu den Hintergründen und den detailliert geschilderten Entwicklungen siehe Oplatka, A. 2009, S. 170– 184, 184–199 sowie 199–230 ; ohne auf die deutsch-österreichisch-ungarische Zusammenarbeit im Sommer 1989 auch nur im Ansatz einzugehen : Lehmann, Ines : Die Außenpolitik der DDR 1989/90. Eine dokumentierte Rekonstruktion, Baden-Baden 2011 ; zur Außen- und Europapolitik von Kohl : Buchstab, Günter/Kleinmann, Hans-Otto (Bearb.) : Helmut Kohl. Berichte zur Lage 1989–1998. Der Kanzler und Parteivorsitzende im Bundesvorstand der CDU Deutschlands (Forschungen und Quellen zur Zeitgeschichte 64), Düsseldorf 2012, S. XXXII–XXXVI, XL–XLIII, 12–14, 38 f., sowie dort die Dokumente : 9. Oktober 1989 (S. 11–17) ; 6. November 1989 (S. 36) ; 15. November 1989 (S. 37–39, 43–48) ; 27. November 1989 (S. 52–59) ; 15. Jänner 1990 (S. 71–75) ; und 11. Juni 1990 (S. 145–150). 63 Rede des Bundesministers des Auswärtigen in der National-Bibliothek in Wien, Bonn, 14. September 1989, Sperrfrist : 17 h, Hans-Dietrich Genscher, »Europäische Gemeinschaft – Auf dem Weg zur Europäischen Union. Das ganze Europa – Auf dem Weg zu sich selbst«. Es gilt das gesprochene Wort. Abzüge der Redezettel enthalten handschriftliche Ergänzungen von Brühl betreffend Abweichungen Genschers vom vorliegenden Redetext [DvB], Privatnachlass Dietrich Graf von Brühl, Rettenschöß. Der Redetext findet sich interessanterweise nicht in : Genscher, Hans-Dietrich : Unterwegs zur Einheit. Reden und Dokumente aus bewegter Zeit, Berlin 1991.
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zeln in den besten Traditionen der europäischen Kultur- und Geistesgeschichte hat.« Im gleichen Atemzug übermittelte er auch den Dank »hinüber nach Ungarn an das ungarische Volk und an seine Regierung, die sich mit ihrer ebenso menschlichen wie mutigen Entscheidung zu den großen Traditionen der ungarischen Geschichte und zu Europa bekannt haben. Wir werden das niemals vergessen. Diejenigen bei uns, die bei den Reformen in Mittel- und Osteuropa [immer wieder, DvB] Taten statt Worte einfordern, sollten erkennen, das war eine Tat, eine Tat der Menschlichkeit. Europa besinnt sich auf sich selbst, das europäische Haus entsteht. Wie es entsteht und wann es vollendet wird, das ist auch in unsere Hand gelegt. [Bewegende Bilder/historische Entwicklung, DvB].«64
Genschers Ausführungen zeugen von bemerkenswertem Optimismus und erstaunlichem Weitblick, wobei er, ermöglicht durch den anvisierten Binnenmarkt und die Wirtschafts- und Währungsunion im Rahmen der EG, ein neues und friedliches Europa am nicht mehr allzu fernen Horizont verhieß. Man lebe »in einer Zeit, in der die globalen ökonomischen und politischen Bedingungen für das kommende Jahrhundert nachhaltig vorgeprägt werden«. Traditionelle wirtschaftliche Machträume würden an Gewicht »zugunsten neuer regionaler Wachstumszentren« verlieren und althergebrachte Strukturen internationaler Arbeitsteilung ihr regionales und sektorales Profil verändern : »Geopolitische Macht- und Einflusssphären beginnen sich aus ihrer Erstarrung zu lösen. In Europa stehen wir vor neuen und realistischen Chancen für die Gestaltung einer gemeinsamen Zukunft. Die neue Dynamik des europäischen Einigungsprozesses in der Europäischen Gemeinschaft, die atemberaubenden Reformen in der Sowjetunion und anderen Staaten des Warschauer Pakts, die Annäherung im West-Ost-Verhältnis – all dies sind Entwicklungen von historischer Dimension. Die Europäische Gemeinschaft ist ein Kernelement der heutigen und der zukünftigen Struktur Europas. Sie ist ein Beispiel schon verwirklichter europäischer Friedensordnung. Sie ist der größte und schönste Sieg der europäischen Geschichte, sie ist der Sieg über nationalen Egoismus, sie ist ein Sieg, der kein Menschenleben und keinen Tropfen Blut kostete. Die Dynamik und die Anziehungskraft der Europäischen Gemeinschaft entfalten sich immer mehr.«65
Die Wirtschafts- und Währungsunion wurde nicht auf dem Altar der deutschen Einheit geopfert. Wie Genscher in Wien deutlich machte, war dieses Vorhaben schon 64 Ebd. 65 Ebd.
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längst abgesprochen. Die geplante Einheitswährung entsprach für Genscher »dem Gebot der politischen und ökonomischen Konsequenz und Glaubwürdigkeit«. Er verwies auf den Februar 1988, als er ein Memorandum zur Schaffung eines einheitlichen europäischen Währungsraums und einer europäischen Zentralbank vorgelegt hatte, um »eine substantielle Diskussion in Gang zu bringen«. Er räumte ein, nicht sicher gewesen zu sein, »daß es in einer so kurzen Zeit gelingen würde, solche weitgehenden Beschlüsse des Europäischen Rats [in Hannover, MG] herbeizuführen«.66 Dieser hatte schließlich im Juni 1989 in Madrid einstimmig beschlossen, die erste Stufe der schrittweisen Verwirklichung der Wirtschafts- und Währungsunion am 1. Juli 1990 zu beginnen und eine Regierungskonferenz zur Festlegung der anschließenden Stufen zusammentreten zu lassen, sobald die erste Stufe begonnen haben würde. Die zwölf Finanzminister der EG hatten wenige Tage zuvor in Antibes grundsätzliche Einigung über eine Stärkung der Rolle des Ausschusses der EG-Notenbankgouverneure erzielt. Genscher hielt fest, dass dieser Ausschuss »zu einem Nukleus für ein europäisches Zentralbanksystem werden« könne. Weitgehende Einigkeit bestehe »über die Notwendigkeit einer verstärkten wirtschaftspolitischen Koordinierung zwischen den Mitgliedstaaten«. Nach weiteren Ausführungen über die Realisierung der Währungsunion widmete sich Genscher dem »Brief Österreichs« nach Brüssel : »Wir unterstützen den österreichischen Beitrittsantrag nachhaltig. Wir werden innerhalb der Europäischen Gemeinschaft entschiedene Gegner eines Ausschlusses neuer Mitglieder, wir werden entschlossene Anwälte einer für die Erweiterung offenen Europäischen Gemeinschaft sein. Wir können nicht denen zustimmen, die Bedenken haben. [DvB]. Österreich gehört zu den Ländern, die auf den Beitritt gut vorbereitet sind. Die europäische Gesinnung seiner Bürger muß den Vergleich mit niemandem in der Gemeinschaft scheuen. Nicht die Europäische Gemeinschaft oder einzelne ihrer Mitglieder als Vormund, sondern das souveräne Österreich selbst muß entscheiden, ob sein Status eine Mitgliedschaft mit allen Rechten und Pflichten auch in der Perspektive der Europäischen Union zuläßt.«67
Im letzten Teil seiner Rede widmete sich Genscher ganz der aktuellen Entwicklung der ostdeutschen Flüchtlingsbewegung, indem er betonte, dass es im wohlverstandenen politischen und wirtschaftlichen Interesse der Bundesrepublik liege, die Reformpolitik in den Ländern Mittel- und Osteuropas erfolgreich fortzuführen, die er als Politik begriff, die auf Freiheit und auf der Achtung der Menschenrechte gegründet sein müsse. Die Reformer benötigten wirtschaftliche und finanzielle Zusammenarbeit. Man dürfe sie nicht büßen und bezahlen lassen für die Fehler ihrer Vorgän66 Ebd. 67 Ebd.
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ger. Die Reformpolitik in den östlichen Staaten sei auch eine Herausforderung an den Westen. Die Geschichte werde urteilen, ob diese bestanden werde und »wir die Chancen erkennen, die in dieser Entwicklung auch für uns liegen«. Dies erfordere, »dass wir auch unsere deutsche Verantwortung erkennen« : »Alles, was Europa in West und Ost zusammenführt, führt auch die Menschen der unteilbaren deutschen Nation zueinander. Alles, was Europäer voneinander trennt, das trennt nur eine Nation, die deutsche. Wir handeln in dem Bewußtsein, daß auch Jahrzehnte der Trennung aus dem e i n e n Europa nicht zwei, aus der e i n e n deutschen Nation nicht zwei gemacht haben. Nationen gründen sich nicht auf Ideologien. Es gibt weder eine kapitalistische noch eine sozialistische deutsche Nation. Die eine deutsche Nation gehört zu den Realitäten, von denen bei dem Bau des europäischen Hauses auszugehen ist. Diese Realität findet ihre Bestätigung im Bewußtsein der Menschen in beiden deutschen Staaten.«68
An die Adresse Ost-Berlins richtete Genscher eindringliche Worte : »Die Führung der DDR sollte erkennen, daß die Verweigerung der Reformpolitik die wirkliche Ursache des großen Ausreisedrangs vor allem junger Menschen ist. Diese jungen Menschen suchen eine Perspektive, eine Perspektive der Menschlichkeit, der Freiheit und der Individualität. Wir wollen keine Entvölkerung der DDR, aber nicht wir können die Ursachen beseitigen, das können nur die Verantwortlichen in der DDR. Reformverweigerung in der DDR birgt aber auch die Gefahr von Instabilität und Isolierung der DDR in einer immer breiteren Reformbewegung in Europa. Wir wollen das nicht, wir wollen eine bessere Zusammenarbeit mit der DDR, eine Zusammenarbeit, die in der Vergangenheit gute Fortschritte für die Deutschen in beiden deutschen Staaten und für Europa gebracht hat.«69
Genscher verwies auf die historische Aufgabe der Deutschen, »einen besonderen Beitrag zur Überwindung der Trennung Europas zu leisten«, und berief sich auf Frankreichs Staatspräsident François Mitterrand, der kürzlich geäußert habe, dass dies aufgrund der geografischen Lage und der Geschichte Deutschlands nur allzu verständlich sei. Genscher erinnerte an die Verträge der Bundesrepublik aus den 1970er-Jahren mit Moskau, Warschau und Prag und an den Grundlagenvertrag mit der DDR, die die Schlussakte von Helsinki und den KSZE-Prozess erst möglich gemacht hätten. Für ihn waren dies Ausgangspunkte für die Entwicklung, »die es heute möglich erscheinen lassen, daß Europa wieder zusammenfindet«.70 68 Ebd. (Hervorhebung im Original). 69 Ebd. 70 Ebd.
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Das naheliegendste Motiv für seine Rede war die Vorbereitung des Terrains für die Lösung des ostdeutschen Flüchtlingsproblems in der Tschechoslowakei, nachdem es in Ungarn bereits geregelt worden war. Genschers Ausführungen sind vor dem unmittelbaren Hintergrund der intensiven Bemühungen um die Öffnung der Botschaft in Prag zu sehen. Am 23. September stand die Reise nach New York zur Generalversammlung der Vereinten Nationen an. Unmittelbar davor hatte er in Kaiserslautern, der Patenstadt der Flüchtlinge aus seiner Heimatstadt Halle an der Saale, vor deren Jahrestreffen gesprochen und sich noch in Interviews mit dem Rundfunk im amerikanischen Sektor (RIAS) und dem Zweiten Deutschen Fernsehen (ZDF) geäußert. Die Botschaft der Rede in Wien bestand darin, »die Öffentlichkeit auf bedeutende Entwicklungen vorzubereiten, ohne die Gespräche über die Öffnung der Prager Botschaft negativ zu beeinflussen«. Wien erschien Genscher dafür »ein besonders geeigneter Ort«. Österreich hatte zusammen mit der Schweiz und Finnland »eine außerordentlich konstruktive Rolle bei den Verhandlungen über die Schlussakte von Helsinki und bei der daraus folgenden KSZE-Politik gespielt«. Genscher erinnert im Rückblick dabei an ein Gespräch mit dem britischen Botschafter in Bonn, der die Rede einige Tage später als »bemerkenswert« bezeichnete.71 5. Die Bewältigung der ostdeutschen Flüchtlingsbewegung und die Beurteilung der revolutionären Ereignisse in der DDR aus österreichischer Sicht Die deutsche Botschaft in Wien versorgte in der Zeit vom 10. Juli bis 13. November direkt rund 15.000 Flüchtlinge mit Geld, Fahrkarten und Ausweisen. Zusätzlich hatte das ÖRK ab dem 11. September an rund 5.000 oder mehr Personen Benzingeld à 700 ATS ausgegeben. Mit Bussen des ÖRK oder aus Ungarn kamen mehr als 20.000 Flüchtlinge durch Österreich nach Deutschland, sodass die gesamte gezählte Flüchtlingswelle rund 40.000 Personen umfasste. Ungezählt blieben die vielen, die von westdeutschen Touristen aus Ungarn mitgenommen wurden oder direkt von der österreichisch-ungarischen Grenze von westdeutschen Verwandten abgeholt wurden. So waren es insgesamt bis zu 50.000 Flüchtlinge im Sommer und Herbst 1989, die ihren Weg in die Bundesrepublik durch Österreich gewählt hatten. Die Kosten der deutschen Botschaft im Haushaltsjahr 1989, darunter Zehrgeld, Hotelkosten, Fahrkarten, Bus- und allgemeine Betreuungskosten, betrugen rund 3,8 Mio. DM. Mit dem ÖRK wurden rund 1,5 Mio. DM abgerechnet, insgesamt war also ein Betrag von 5,2 Millionen DM (rund 40 Millionen ATS) aufzubringen.72 Die deutschösterreichisch-ungarische Kooperation hatte – ohne es zu ahnen beziehungsweise 71 Persönlicher Brief von Hans-Dietrich Genscher an den Verfasser vom 4. Februar 2009. 72 Brühl, D. o. J., S. 10 f.
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und absichtsvoll bewusst so zu handeln – zur Verschärfung der Erosion des SEDRegimes beigetragen und war so teuer nicht gewesen. Die Frage der Zusammenarbeit mit den Medien war für beide Seiten von Anfang an ein Drahtseilakt. Einerseits war, wie Brühl betont, »ohne das Bild vom Durchschneiden des Stacheldrahts durch die beiden Außenminister, das durch die Welt ging, und die Reaktion der fluchtwilligen DDR-Bürger darauf der schnelle Zusammenbruch des Sozialismus in seiner kommunistischen Ausprägung undenkbar«. Das »tägliche Trommeln« der Medien durch Meldungen über die wachsende Zahl der Fluchtwilligen hielt den Druck der Öffentlichkeit auf die Politik, zu helfen, aufrecht. Ohne den Einfluss der Medien wären die Ereignisse des Sommers 1989 nicht vorstellbar gewesen. Angaben über Flüchtlinge mussten andererseits stets unterbleiben. Schon das Erscheinen vor der Fernsehkamera konnte Repressalien gegenüber den in der DDR zurückgebliebenen Verwandten der Flüchtlinge auslösen. Für Botschafter Brühl stand fest : »Ohne die schnelle Verbreitung der Nachricht über die Beseitigung des Todesstreifens, vor allem das außerordentlich publikumswirksame Bild von der Durchtrennung des Stacheldrahts durch die beiden Außenminister am 27.6.1989 wäre es wahrscheinlich nicht so schnell zu der Flüchtlingsbewegung gekommen.«73 Bonn würdigte Wien : Dank und Sympathie wurden für die österreichische Haltung zum Ausdruck gebracht. Kohl bedankte sich persönlich bei den Burgenländern. Am Ballhausplatz wurde registriert, wie die Bundesrepublik die »Mahnung beharrlicher Geduld«, die bleibende Westintegration, die aktive Beteiligung der BRD am europäischen Einigungsprozess und die »erleichterte Dankbarkeit« für Vertrauensbekundungen der Verbündeten, wie durch US-Präsident Bush, artikulierte.74 Die Virulenz der Deutschen Frage im Herbst 1989 und die sich rasch anbahnende deutsche Einigung überraschten sowohl Österreichs Diplomatie und Politik als auch die öffentliche Meinung. Österreichs Botschafter in Ost-Berlin, Franz Wunderbaldinger, und Österreichs Botschafter in Bonn, Friedrich Bauer, waren Anfang September 1989 »übereinstimmend davon überzeugt, dass das Gerede [von der ›Wiedervereinigung‹, M. G.] nicht ernst zu nehmen sei« : »Niemand in politischer Verantwortung«, so Bauer, strebe eine solche an. »Das Nebeneinander der beiden Staaten würde von praktisch allen akzeptiert. Das maximale und von fast allen politischen Parteien getragene Ziel einer ›Deutschlandpolitik‹ wäre lediglich, die zwischen diesen beiden Staaten bestehenden Kontakte auf allen Ebenen zu verdichten.«75 73 Ebd., S. 11 f., Zitat hier S. 12 ; siehe Teltschik, Horst : 329 Tage. Innenansichten der Einigung, Berlin 1991, S. 39. 74 Schreiben der ÖB Bonn an das BMaA vom 10. November 1989 betreffend »BRD ; Regierungserklärung des Bundeskanzlers zur Lage der Nation im geteilten Deutschland (8.11.1989)«, BMeiA, ÖB Bonn 1989, GZ 21.56.02/2-A/89. 75 Gehler, Michael : Österreich, die DDR und die Einheit Deutschlands 1989/90, in : Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 5/57 (2009), S. 427–452 ; alle folgenden Zitate stammen aus : Information »Das
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Wunderbaldinger machte deutlich, »dass es auch in der DDR keinen großen Druck zu radikalen Veränderungen gäbe. Mit plötzlichen Aufwallungen und Kursänderungen sei nicht zu rechnen. Weil er im Großen und Ganzen funktioniert, würde der Staat von der Bevölkerung auch akzeptiert.«76 Gesandter Thomas Nowotny, der am Ballhausplatz in der Zentrale saß, bezweifelte all dies : »In beiden deutschen Staaten gibt es Anzeichen für eine grundsätzliche Änderung des politischen Klimas.« Verwiesen wurde auf den Historikerstreit in der Bundesrepublik, in dem »Deutschlands Kriegsschuld relativiert« worden sei, und die Infragestellung der polnisch-deutschen Grenze. Einen »DDR-Nationalismus« gebe es wahrscheinlich nicht, bestenfalls das Gefühl einer gewissen Heimatverbundenheit. An gewisse komfortable Einrichtungen, wie sichere Arbeitsplätze, billige Grundnahrungsmittel und Wohnungen, habe man sich zwar gewöhnt, das reiche aber nicht für eine eigene Identität aus. Die »Wiedervereinigung« stehe in Zukunft sehr wohl auf der politischen Tagesordnung beider deutscher Staaten, und die westeuropäischen Staaten könnten dagegen formell nichts einwenden.77 Für die österreichische Diplomatie und Politik kam der Fall der Berliner Mauer völlig überraschend. In den ersten Wochen und Monaten nach dem 9. November wurde nicht mit der deutschen Einigung gerechnet. Das Thema war tabu. Die Begeisterung und Freude über die unerwarteten Ereignisse in Ostdeutschland hielten sich am Ballhausplatz in Grenzen.78 Bauer fasste die Haltung Wiens so zusammen : »Wir haben weder gegen die Wiedervereinigung agitiert, noch haben wir sie in einem gewissen Zeitpunkt besonders begrüßt.«79 Gespenst der Wiedervereinigung« vom 19. September 1989, BMeiA, Kt. ÖB Berlin (Ost)/Res 1989 (1–10)/24, GZ 22.17.01/4-II.6/89. 76 Ebd. 77 Ebd. Der Berichterstatter Thomas Nowotny reagierte offensichtlich auf Überlegungen in puncto Neutralisierung Osteuropas, die in US-Medien aufgebracht bzw. revitalisiert worden waren, siehe Kristol, Irving : Why not Neutralize Eastern Europe ?, in : International Herald Tribune vom 13. September 1989, S. 4 ; siehe auch Lemke, Christiane : Die Ursachen des Umbruchs 1989. Politische Sozialisation in der ehemaligen DDR, Darmstadt 1991, S. 276–278 ; siehe auch Korte, Karl-Rudolf : Deutschlandpolitik in Helmut Kohls Kanzlerschaft. Regierungsstil und Entscheidungen 1982–1989 (Geschichte der Deutschen Einheit in vier Bänden 1), Stuttgart 1998, S. 479–483 ; Weidenfeld, Werner/Wagner, Peter M./Bruck, Elke : Außenpolitik für die deutsche Einheit. Die Entscheidungsjahre 1989/90 (Geschichte der Deutschen Einheit 4), Stuttgart 1998, S. 300–345. Zum deutschen Historikerstreit siehe Elvert, Jürgen : Erdmann-Debatte und Historikerstreit. Zwei Historikerkontroversen im Vergleich, in : Gehler, Michael/Böhler, Ingrid (Hg.) : Verschiedene europäische Wege im Vergleich. Österreich und die Bundesrepublik Deutschland 1945/49 bis zur Gegenwart. Festschrift für Rolf Steininger zum 65. Geburtstag, Innsbruck/Wien/Bozen 2007, S. 454–467. 78 Das ist das einhellige Urteil der beiden Botschafter Bauer und Wunderbaldinger, die gleichzeitig Vertreter in Ost-Berlin und Bonn waren. Interviews von Michael Gehler mit beiden Botschaftern, Wien, 4. Mai 2007. 79 Interview von Michael Gehler mit Friedrich Bauer, Wien, 4. Mai 2007.
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Im Oktober und November 1989 nahm die Bundesregierung daher zunächst eine abwartende und dann eine deutlich akzentuierte, am Status quo orientierte, v. a. aber neutralitätspolitisch korrekte Haltung ein. Vranitzky versuchte bei gleichzeitigem Wohlwollen gegenüber dem Reformprozess in der DDR einen Beitrag zur Normalisierung, aber auch zur Stabilisierung des ostdeutschen Übergangsregimes und damit der bestehenden Verhältnisse zu leisten. Auf wirtschaftlichem Gebiet sollten die Beziehungen intensiviert werden und eine Verstärkung des bis dato betriebenen ökonomischen Bilateralismus erfolgen. Vranitzky war der erste westliche Staatsgast zu Besuch bei der neuen DDR-Regierung unter Hans Modrow am 24. November 1989, wobei Österreichs Bundeskanzler auch der DDR-Opposition seine Aufwartung machte und West-Berlins Regierendem Bürgermeister Walter Momper einen Besuch abstattete.80 Am 24. November hatte Kohl auf dem Zukunfts-Bundesparteitag der ÖVP in Graz eine Rede gehalten. Er war sich der Sensibilitäten angesichts der deutsch-deutschen Entwicklungen beim südlichen Nachbarn bewusst und mahnte zur Vorsicht. Nach seiner Rückkehr aus Österreich bemerkte er im CDU-Bundesparteivorstand : »Da ging ein Titelblatt dieser Woche, dieses österreichischen Spiegels, ›profil‹, durch die Reihen der vielen, vielen Leute – es war eine für österreichische Verhältnisse Riesenveranstaltung –, ›Der schlafende Riese‹, und da sieht man die Bundesrepublik überernährt, aber wie sie jetzt die Muskeln spannt. Und dieses Bild ist symptomatisch für einen Teil dessen, was da herumgeht. Deswegen müssen wir, bei allem, was wir tun, mit sehr viel Klugheit vorgehen.«81
In seinem Zehn-Punkte-Programm vom 28. November schlug der deutsche Bundeskanzler Kohl vorsichtig-tastend nur konföderative Strukturen beider deutscher Staaten vor.82 Seine Verärgerung über den von Vranitzky und Finanzminister Ferdinand Lacina angeregten »Ost-West-Fonds« musste er unterdrücken. Aufgrund der von Österreich ins Gespräch gebrachten 5 Milliarden Schilling (rund 710 Millionen DM) dürfte Bonn zwar keine Sorge verspürt haben, da sie auch für Polen und nicht nur für die DDR geplant waren. Kohl befürchtete aber vielmehr, so Bauer, dass der österreichische Vorschlag zum Nukleus einer größeren westeuropäischen Stützungsaktion werden könnte, zumal auch eine Europäische Bank für Wiederaufbau
80 Gehler, M. 2009, S. 430–435 ; als erste gehaltvolle Studie siehe Gron, S. 2005, S. 86–101 ; Gron folgend detailliert, umfassend und quellengesättigt : Graf, Maximilian : Österreich und die DDR 1949– 1989/90. Beziehungen – Kontakte –Wahrnehmungen (ungedruckte Dissertation), Wien 2012, S. 793– 840, hier S. 818–822. 81 Dokument vom 27. November 1989, in : Buchstab, G./Kleinmann, H.-O. 2012, S. 58 f. 82 Weidenfeld, W./Wagner, P. S./Bruck, E. 1998, S. 97–110.
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und Entwicklung (European Bank for Reconstruction and Development = EBRD) im Entstehen begriffen war, um deren Sitz in Wien sich Vranitzky beworben hatte. Letztlich bekam London den Zuschlag. Modrows Bitte um finanzielle Unterstützung im Ausmaß von 15 Milliarden DM sollte bei seinem Besuch im Februar 1990 in Bonn von Kohl schroff abgelehnt werden. Der österreichischen Initiative war es um einen reibungslosen Übergang von der Plan- zur Markwirtschaft im mittelständischen Bereich sowie um eine Sicherung und Hebung der österreichischen Konkurrenzfähigkeit gegangen.83 Als am 26. Januar 1990 DDR-Ministerpräsident Modrow in Begleitung von Außenminister Oskar Fischer, Außenwirtschaftsminister Gerhard Beil und Tourismusminister Bruno Benthien zu einem Besuch in Österreich in Wien weilte, wurde die vorübergehende Suspendierung der Visumpflicht beschlossen, die am 1. Februar in Kraft trat.84 Beim Besuch des neu gewählten DDR-Ministerpräsidenten Lothar de Maizière in Wien am 25. Juli 1990 bewertete Vranitzky die Vereinigung der beiden deutschen Staaten bereits »als Ereignis größter politischer Tragweite, das wie kein anderes die Überwindung der Teilung Europas verkörpere und gleichzeitig erlaube, eine tragfähige Friedensordnung an die Stelle der jahrzehntelangen Blockkonfrontation zu setzen«.85
III. Zusammenfassung Österreich reagierte frühzeitig und aufgeschlossen auf die Reformbestrebungen in den mittel- und osteuropäischen Staaten. Stärkste Sympathien gab es für die Veränderungen in Ungarn, z. T. auch, aber schon weniger für die Situation in Polen, während die Entwicklungen in der Tschechoslowakei, Rumänien und Bulgarien skeptisch bis kritisch verfolgt wurden. Das Ende der DDR lag auf einer ganz anderen Ebene und sollte die Lage schlagartig ändern. Der Zusammenbruch der SED-Diktatur wurde in Wien mit gemischten Gefühlen aufgenommen. Die österreichische Bundesregierung sprach nicht mit einer Stimme zu den deutsch-deutschen Veränderungen. Während Vranitzky (SPÖ) eine offene, gewogene bis freundliche Haltung einer reformorientierten DDR gegenüber zum Ausdruck brachte, setzte Mock
83 Brief von Botschafter Friedrich Bauer an den Verfasser vom Juli 2007. 84 Gehler, M. 2009, S. 437–443. 85 Siehe die Chronologie 25. Juli 1990, in : Österreichisches Jahrbuch für Internationale Politik 1990, Wien 1991, S. 146, sowie auch das Dokument 10 : Erklärung des österreichischen Bundeskanzlers, Dr. Franz Vranitzky, anläßlich der deutschen Einigung, Wien, 3. Oktober 1990, in : Österreichische außenpolitische Dokumentation. Texte und Dokumente November 1990 (BMfaA), Wien 1990, S. 51 f.
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(ÖVP) mit klaren Bekenntnissen zur Politik Kohls andere Akzente. Großkoalitionärer Dissens war unverkennbar. Die unterschiedliche Haltung der österreichischen Regierungsspitzen zur deutsch-deutschen Entwicklung war auch in den verschiedenen Herangehensweisen zur EG begründet. Mock forcierte den EG-Beitrittskurs und zählte hier auf die bundesdeutsche Unterstützung, wie er sich auch frühzeitig positiv für Kohls Deutschlandpolitik aussprach. Vranitzky agierte mit Blick auf den EG-Beitrittsantrag bedachtsam und vorsichtig – stets unter Betonung und strikter Wahrung der staatlichen Neutralitätspolitik. Das hatte seine stärker etatistisch-ökonomisch-pragmatische Herangehensweise an die Reformbewegungen in Mittel- und Osteuropa zur Folge, während Mocks Haltung stärker von antikommunistischen, d. h. ideologischen, aber auch humanitären und kulturpolitischen Motiven getragen war. Die ÖVP war mit Busek und Mock in der zweiten Hälfte der 1980er-Jahre mehr mittel- und osteuropaorientiert als die SPÖ unter Vranitzky. Abgesehen von der für alle Beteiligten überraschend schnell einsetzenden deutschen Einigungsbewegung wurden die Veränderungen in den übrigen Staaten erstaunlich richtig beurteilt. Für Kohl war drei Wochen nach vollzogener deutscher Einheit am 22. Oktober 1990 im Bundesparteivorstand der CDU völlig klar, dass von Budapest und Wien ausgehend europäische Geschichte geschrieben worden ist, von der er auch politisch profitieren sollte, wenn er festhielt : »Aus meiner Sicht stellt sich in diesem Jahrfünft zwischen der Öffnung der österreichisch-ungarischen Grenze – denn das war der Anfang des schnellen Endes des Honecker-Regimes, Anfang September 1989 – und der Wahl zum Europäischen Parlament im Juni 1994 eine geschichtliche Herausforderung.«86 Es sollten jene Jahre sein, die Helmut Kohl dank der Vorgänge zwischen Österreich und Ungarn im Frühjahr und Sommer 1989 sowie einer gelungenen Dreiecksbeziehung Bonn – Wien – Budapest zum Architekten des neuen Europas werden ließen.87 Entscheidend politisch in den Gang der Geschichte eingreifen konnte Österreich lediglich im Vorfeld der Maueröffnung in Berlin durch das symbolische Aufschneiden des Eisernen Vorhangs und die gewährte Fluchthilfe und Unterstützung für die Ostdeutschen. Das österreichisch-ungarische Vorspiel im Sommer 1989 war allerdings wesentlich für die Rasanz der Entwicklung im Herbst 1989 in Deutschland.
86 Dokument vom 22. Oktober 1990, in : Buchstab, G./Kleinmann, H.-O. 2012, S. 192. 87 Vgl. das aufschlussreiche und umfassende Kapitel »Der Architekt des neuen Europa (1991–1998)«, in : Schwarz, H.-P. 2012, S. 619–862.
Marcus Gonschor
Die USA und der Umbruch in Mittel- und Osteuropa 1989/90 Eine Analyse der autobiografischen Darstellungen von Ronald Reagan, Helmut Kohl und George H. W. Bush/Brent Scowcroft
I. Einleitung Die Vereinigten Staaten von Amerika (USA) spielten während der Phase der Umbrüche in Mittel- und Osteuropa 1989/90 als westliche Führungsmacht eine wichtige Rolle. Ausgehend von den autobiografischen Texten der US-Präsidenten Ronald Reagan und George H. W. Bush, der »A World Transformed« gemeinsam mit seinem vormaligen Nationalen Sicherheitsberater Brent Scowcroft verfasst hat, sowie – um eine weitere Perspektive zu erhalten – jener des deutschen Bundeskanzlers Helmut Kohl, sollen im Folgenden • einerseits die Wichtigkeit des gegenseitigen persönlichen Verhältnisses der Staatsmänner für die Gestaltung des politischen Prozesses und • andererseits die Rolle der USA auf dem Weg zur deutschen Einheit im Kontext der Umbrüche in Mittel- und Osteuropa rekonstruiert werden.1 Es geht also um die rückblickende Interpretation durch die drei Akteure. Während die Autobiografie Reagans zu einem großen Teil auch die Phasen seines Lebens thematisiert, bevor er im Januar 1981 als 40. US-Präsident inauguriert 1 Reagan, Ronald : An American Life. The Autobiography, New York/Toronto/London/Sydney 1990, ist im Jahr der deutschen Einheit erschienen. Im Unterschied zu Reagan, der sein Leben autobiografisch in einem Band zusammengestellt hat, umfassen die sogenannten »Erinnerungen« des ehemaligen deutschen Bundeskanzlers Helmut Kohl (bislang) ganze vier Bände : Kohl, Helmut : Erinnerungen 1930–1982, München 2004 ; Kohl, Helmut : Erinnerungen 1982–1990, München 2005 ; Kohl, Helmut : Erinnerungen 1990–1994, München 2007 ; Kohl, Helmut : Vom Mauerfall zur Wiedervereinigung. Meine Erinnerungen, München 2009. Damit sind Kohls Darstellungen zeitlich weiter von den in den Werken behandelten Phasen und Ereignissen entfernt als : Bush, George/Scowcroft, Brent : A World Transformed, New York 1998.
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wurde, beschränken sich die Memoiren Bushs und Scowcrofts ausschließlich auf die Jahre 1989 bis 1991 – also nur einen Teil der bis 1993 dauernden Präsidentschaft. Kohl hat gleich mehrere Bände seiner Erinnerungen vorgelegt, wobei hier nur jener Band, der sich auf die Jahre 1982 bis 1990 bezieht, und der Sonderband zur deutschen Einheit von Bedeutung sind. Genau diese Bände beziehen sich wie jener Bushs ausschließlich auf das Leben als Amtsträger und sind daher im Unterschied zu Reagans Autobiografie als Memoiren zu bezeichnen. In Letzteren geht es viel weniger um »die individuelle Lebensgeschichte« als vielmehr um »Gedanken, Erinnerungen und Beobachtungen meist einer Figur des öffentlichen Lebens zu ihrer Zeit, Begegnungen mit anderen Persönlichkeiten, der von ihr mitgestalteten Politik«.2 Prinzipiell gilt für Memoiren – weniger für Autobiografien – das Prinzip des Belegens. Die Autoren erstreben »eine möglichst exakte Rekonstruktion« der Vergangenheit.3 Sie verfügen über vielfältige Instrumentarien zur Unterstützung des rein kognitiven Erinnerungsprozesses. Autobiografien und Memoiren entstehen nicht aus der reinen Gedächtnisleistung, sondern gestützt auf zahlreiche Tagebücher, Briefkorrespondenzen, persönliche Aufzeichnungen, Gesprächsnotizen, Reden, Interviews und auch offizielle Dokumente im Privatbesitz des jeweiligen ehemaligen Amtsträgers.4 Die Autoren der in diesem Beitrag untersuchten Werke, also Reagan, Kohl und Bush/Scowcroft, verweisen auch explizit im Vorwort ihrer Monografien darauf, dass ihre Darstellungen auf einem umfassenden Quellenkorpus und zuweilen sogar wissenschaftlicher Recherche bzw. Unterstützung beruhen. Persönliche Hilfen werden also nicht verschwiegen.5 Es lässt sich daher eine relative Transparenz im Umgang mit der Entstehung dieser autobiografischen Schriften konstatieren. Ob das jeweilige Werk indessen tatsächlich aus der Feder des qua Titel fixierten Autors, also des ehemaligen Akteurs, oder eines sogenannten »Ghostwriters« oder »Eckermanns« stammt, ist insofern auch weniger bedeutsam. Da die Werke nämlich auf zahlreichen Quellen basieren, anhand derer sich frühere Eindrücke, Einstellungen, Empfindungen usw. rekonstruieren lassen, und darüber hinaus die Akteure kraft ihres Namens 2 Wagner-Egelhaaf, Martina : Autobiographie, Stuttgart/Weimar 2000, S. 6. 3 Neumann, Bernd : Identität und Rollenzwang. Zur Theorie der Autobiographie, Frankfurt am Main 1970, S. 43–59. 4 Reagan integriert z. B. in seine Autobiografie immer wieder Auszüge aus seinem Tagebuch, das mittlerweile auch publiziert ist : Brinkley, Douglas (Hg.) : The Reagan Diaries, New York 2007. 5 Bei Bush, G./Scowcroft, B. 1998, S. ix, heißt es dazu und mit Blick auf persönliche Assistenz bei der Entstehung ihres Werkes etwa : »James [McCall] was an invaluable addition to our writing team. […] He was able to identify, uncover, or track down the materials that found their way into the book« ; Kohl, H. 2004, S. 11 f., rekurriert auch auf für die Abfassung seiner Erinnerungen wertvolle »Protokolle des CDU-Präsidiums und des CDU-Bundesvorstands«.
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für die Inhalte stehen – vergleichbar mit einer Rede, die auch nicht immer aus der Feder des vortragenden Redners stammen muss –, ist die vermeintliche Existenz eines Nebenschreibers in diesem Zusammenhang nicht ausschlaggebend. Schließlich ist der konkrete Einfluss eines solchen auch zumeist kaum nachweisbar.6 Gleichwohl bedürfen die Memoiren natürlich eines quellenkritisch-methodischen Umgangs seitens des Historikers. In dem vorliegenden Beitrag erfolgt daher eine vergleichendgegenüberstellende Untersuchung der retrospektiven Darstellungen Reagans, Kohls und Bushs/Scowcrofts mit Blick auf die oben angeführten Aspekte.
II. Die persönlichen Beziehungen zwischen Ronald Reagan und Helmut Kohl sowie George Bush und Helmut Kohl Der Aspekt der persönlichen Beziehungen wurde bislang generell aufgrund seiner schwierigen Mess- und Fassbarkeit sowie der mangelnden Operationalisierungsmöglichkeiten in der Forschung vernachlässigt – jedenfalls mit Blick auf die transatlantischen Beziehungen.7 Der Ansatz einer vergleichenden Memoirenanalyse kann hier Abhilfe leisten, da in Memoiren nicht selten wichtige Charakterisierungen und Hinweise auf persönliche Beziehungen zu finden sind.8 Nach übereinstimmenden Angaben von Kohl und Reagan trafen sich beide zum ersten Mal bereits vor ihren jeweiligen Übernahmen des Präsidenten- beziehungsweise Kanzleramtes. Kohl erinnert sich etwa an ein Treffen im Jahr 1978. Der damalige Gouverneur von Kalifornien, Reagan, steckte zu dieser Zeit gerade im innerparteilichen Vorwahlkampf der Republikaner und hatte sich angeschickt, seine außenpolitischen Kompetenzen zu erweitern : »Der ehemalige Schauspieler wurde total unterschätzt und galt als politisch inkompetent, als er 1978 die Bundesrepublik besuchte. […] Mir fiel auf, dass er zwar von Europa so gut wie keine Ahnung hatte, aber die bei Politikern eher selten anzutreffende 6 Vgl. Engelbrecht, Jörg : Autobiographien, Memoiren, in : Rusinek, Bernd-A./Ackermann, Volker/Engelbrecht, Jörg (Hg.) : Einführung in die Interpretation historischer Quellen. Schwerpunkt Neuzeit, Paderborn 1992, S. 27–43, hier S. 67. 7 Eine Studie, die versucht, diesem Trend zuwiderzulaufen, ist : Aschmann, Birgit (Hg.) : Gefühl und Kalkül. Der Einfluss von Emotionen auf die Politik des 19. und 20. Jahrhunderts (Historische Mitteilungen 62), München 2005. Besonders hervorzuheben ist hier der Beitrag : Biermann, Rafael : Zur Bedeutung freundschaftlicher Verbundenheit in der Politik. Eine Annäherung am Beispiel des deutschen Einigungsprozesses, in : Aschmann, B. 2005, S. 197–230. 8 Siehe auch die Dissertation des Autors : Politik der Feder. Die Vereinigten Staaten und die Bundesrepublik Deutschland 1945/49 bis 1990 im Spiegel der Erinnerungen von US-Präsidenten und Bundeskanzlern (erscheint 2015).
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Fähigkeit besaß, zuzuhören. Sein Interesse an der Frage der deutschen Teilung war sehr groß.«9
Als Kohl im Oktober 1982 zum deutschen Bundeskanzler gewählt wurde, kannte er den damaligen US-Präsidenten Reagan, der seit Januar 1981 im Amt war, also bereits persönlich. Das Treffen im Jahr 1978 war nicht das einzige, bevor beide Politiker ihr Spitzenamt erreicht hatten.10 Von Reagan erfahren wir, dass sich die beiden am 15. November 1982 bereits zum fünften Mal trafen : »This will be my fifth meeting with him but now he is chancellor of the Federal Republic of Germany. […] Our meeting was good. He is entirely different than his predecessor [Helmut Schmidt (SPD), M. G.] very warm and outgoing. Mrs. Kohl is the same and very charming. We did hit it off and I believe we’ll have a fine relationship.«11
Obgleich klar ist, dass in der Frage der internationalen Beziehungen dem Faktor der persönlichen Verbindungen ein im Unterschied zu inhaltlichen Fragen nur relativer Stellenwert zugerechnet werden darf, gehören der Faktor »Chemie« und das »Miteinander-Auskommen« dennoch dazu.12 Zwar ist offenkundig, dass in der Ideologie beziehungsweise politischen Ausrichtung Verbündete kaum einen vollständigen Bruch ihrer Beziehungen zueinander riskieren werden, wenn die »Chemie nicht stimmt«. Allerdings ist es gleichsam selbstverständlich, dass bei gegenseitiger Sympathie etwaige Interessendivergenzen leichter und weniger konfliktreich ausgetragen werden können. Bush hält fest, dass zwar persönliche Sympathien in der internationalen Politik tendenziell hinter den Sachfragen zurückstehen, allerdings von unschätzbarem Wert bei Meinungsunterschieden sein können : »I believed that personal contact would be an important part of our approach to both diplomacy and leadership of the alliance and elsewhere. Some feel emphasis on personal relationship between leaders is unimportant or unnecessary. Henry Kissinger once argued to me that these are no substitutes for deep national interests. […] For me, personal 9 Kohl, H. 2004, S. 582. 10 Vgl. ebd. 11 Reagan, R. 1990, S. 560. 12 In Bezug auf die Faktoren »Chemie« bzw. »persönliche Sympathie« siehe auch den aussagekräftigen Titel des Zeitzeugengesprächs mit dem ÖVP-Politiker Sixtus Lanner in Bezug auf die transnationale Zusammenarbeit europäischer christlich-demokratischer und konservativer Parteien : »Wenn die Chemie nicht stimmte, nützte auch gemeinsame Ideologie wenig«, in : Gehler, Michael/Gonschor, Marcus/ Meyer, Hinnerk/Schönner, Johannes : Mitgestalter Europas. Transnationalismus und Parteiennetzwerke europäischer Christdemokraten und Konservativer in historischer Erfahrung, Sankt Augustin/ Berlin 2013, S. 69–79, hier S. 69.
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diplomacy and leadership went hand in hand. […] If a foreign leader knows the character and the heartbeat of the president (and vice versa), there is apt to be far less miscalculation on either side. Personal relationships may not overcome tough issues dividing two sides, but they can provide enough goodwill to avoid some misunderstandings.«13
Auch Kohl teilt diese Meinung uneingeschränkt.14 Wie Reagan kannte der Deutsche auch George Bush bereits persönlich, als dieser als 41. US-Präsident am 20. Januar 1989 ins Weiße Haus einzog. Immerhin amtierte der Texaner schon zwei Legislaturperioden als Reagans Vizepräsident von 1981 bis 1989. Während dieser Phase sind sich der Amerikaner und Kohl verschiedentlich begegnet.15 Bush akzentuiert daher : »I was fortunate ; I had known many of the current foreign leaders for years, often before I took office, and that would help strengthen trust.«16 Aus der Sicht Kohls steht Bush in einer Kontinuität zu Reagan – insbesondere, was das Verhältnis zu »den Deutschen« angeht.17 Auch Bush fällt umgekehrt ein sehr positives Urteil über den deutschen Kanzler : »[H]e was the consummate politician, perhaps the most skilled I have ever seen, and I admire him. […] When push came to shove, I always found he tried to come through for the United States and the alliance. A huge, affable man, Helmut seems at times like an enormous bear. He loves a good joke.«18
Wie schon Kohl Bush eine deutschen- bzw. europafreundliche Ader bescheinigt,19 meint der Amerikaner umgekehrt über den Deutschen : »Ever since I had known Helmut Kohl, I had thought him to be friendly to the United States and a firm believer in NATO solidarity.«20 Man denke hier nur an den kontrovers diskutierten 13 Bush, G./Scowcroft, B. 1998, S. 60. 14 Vgl. Kohl, H. 2009, S. 246 : »Es ist natürlich ein Irrtum zu glauben, dass Freundschaften politische Probleme beseitigen könnten. Schließlich geht es in der internationalen Politik um die Interessen des eigenen Landes. Wahr ist aber auch : Wenn man sich gut versteht, wenn man schon einen gemeinsamen Weg gegangen ist und sich freundschaftliche Beziehungen entwickelt haben, ist auch das politische Geschäft einfacher. Was im Privaten gilt, gilt auch in der Politik : Wesentlich für stabile Beziehungen ist das Vertrauen in die Verlässlichkeit des Partners.« 15 Kohl, H. 2004, S. 192 ; Bush, G./Scowcroft, B. 1998, S. 64. 16 Bush, G./Scowcroft, B. 1998, S. 61. 17 Kohl, H. 2004, S. 974. 18 Bush, G./Scowcroft, B. 1998, S. 64 f. 19 Kohl, H. 2009, S. 215, betont, dass die zwei für den Kurs der US-Außenpolitik entscheidenden Akteure, nämlich der Präsident und der Außenminister, beide sehr deutschenfreundlich waren : »Wie George Bush ist auch ›Jim‹ Baker uns Deutschen immer mit vorbehaltloser Sympathie gegenübergetreten.« 20 Bush, G./Scowcroft, B. 1998, S. 64.
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Beschluss der Regierung Kohl von 1983, die NATO-Nachrüstung durchzuführen, was sich später im Hinblick auf die transatlantischen Beziehungen insbesondere im Einheitsprozess in politisches Kapital ummünzen ließ.21
III. Die USA, die Einheit Deutschlands und die Transformation Europas im Spiegel der politischen Memoiren Erst seit dem Amtsantritt Michail Gorbatschows im März 1985 wurde die Deutsche Frage für den 40. US-Präsidenten »wieder interessant«, während sie zuvor »zum politischen und deklamatorischen Ritual« degeneriert war.22 Reagan selbst führt den Beginn des Wandels gegen Ende der 1980er-Jahre auf Veränderungen innerhalb der UdSSR zurück. Gorbatschow habe aus Selbsterhaltungstrieb und aufgrund der Erfahrungen mit dem Reaktorunfall von Tschernobyl einen Wandel angestoßen.23 Kaum ein Wort verliert Reagan in »An American Life« hingegen über den vonseiten der Bevölkerung in den Staaten Mittel- und Osteuropas ausgehenden 21 Krieger, Wolfgang : Verteidigung durch Entspannung ? Die deutsch-amerikanischen Sicherheitsbeziehungen 1968–1990, in : Junker, Detlef (Hg.) : Die USA und Deutschland im Zeitalter des Kalten Krieges 1945–1990 in zwei Bänden, Bd. II : 1968–1990, Stuttgart/München 2001, S. 177–199, hier S. 194, hebt hervor, dass Kohl sich durch die Durchsetzung der Nachrüstung einen »politischen Kredit« in Washington erarbeitet hatte. 22 Hacke, Christian : Die USA und die deutsche Frage, in : Junker, D. 2001, S. 35–45, hier S. 44, hält darüber hinaus fest : »Ronald Reagan mag 1987 [im Zusammenhang seiner Rede in Berlin im Juni, M. G.] manchen Deutschen erschreckt, vielleicht sogar belustigt haben, im historischen Rückblick hat er viele Deutsche beschämt. Reagan personifizierte auf couragierte Weise die amerikanische Verpflichtung für die Einheit Deutschlands in einem freien Europa, weil dieses Ziel den amerikanischen Interessen und Grundwerten entsprach.« Reagan, Ronald 1990, S. 698, brandmarkt etwa die Mauer, da sie »imprisoned people in a social system they didn’t want to be part of«. In seiner berühmten Rede in Berlin im Juni 1987 hatte er die Deutsche Frage in den größeren Kontext der Ost-West-Beziehungen, ja ideologisierend in den Kampf zwischen Freiheit und kommunistischer Unterdrückung eingeordnet und sie somit auch »entnationalisiert« ; Schwabe, Klaus : Weltmacht und Weltordnung. Amerikanische Außenpolitik von 1898 bis zur Gegenwart. Eine Jahrhundertgeschichte, 3. ergänzte und erweiterte Aufl., Paderborn 2011, S. 408, spricht für die Phase Mitte der 1980er-Jahre von »Reagans allmähliche[r] Bekehrung von einem ›Kalten Krieger‹ zu einem Entspannungspolitiker«, da der Präsident nun u. a. vom amerikanischen Rüstungsvorsprung gegenüber der Sowjetunion überzeugt war ; Kohl, H. 2005, S. 642 : Ein wichtiger Schritt auf dem Weg zu den Umbrüchen von 1989 ist aus der Perspektive Kohls der Abschluss des INF-Abkommens im Dezember 1987 gewesen. Dieses habe eine »neue Dynamik« gebracht. 23 Vgl. Reagan, R. 1990, S. 708 : »Seventy years of Communism had bankrupted the Soviet Union economically and spiritually. Gorbachev must have realized it could no longer support or control Stalin’s totalitarian empire ; the survival of the Soviet Union was more important to him. […] I’m convinced the tragedy of Chernobyl a year after Gorbachev took office also affected him and made him try harder to resolve Soviet differences with the West.«
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Druck – ganz im Gegensatz zu Bush und Scowcroft.24 Insbesondere mit Blick auf die Berücksichtigung der DDR spiegelt Reagans »An American Life« die grundsätzliche Einstellung Washingtons gegenüber Ost-Berlin wider : Zumeist bewegte es sich aus Sicht Amerikas im »Schatten der Bundesrepublik«25 beziehungsweise in »Bonns Schatten«26. Wenn überhaupt, verwendet Reagan in seiner Darstellung Ostdeutschland rein funktional, um den Kommunismus insgesamt zu verdammen, wie das folgende Beispiel zeigt, in dem übrigens auch Österreich das einzige Mal in seinen retrospektiven Darstellungen auftaucht (kein einziger österreichischer Politiker wird genannt) : »Wherever the comparisons have been made between free and closed societies – West Germany and East Germany, Austria and Czechoslovakia, Malaysia and Vietnam – it is the democratic countries that are prosperous and responsive to the needs of their people. And one of the simple but overwhelming facts of our time is this : Of all the millions of refugees we’ve seen in the modern world, their flight is always away from, not toward, the Communist world.«27
Wenige Monate nach dem Ausscheiden Reagans aus dem Weißen Haus hatte Ungarn im Mai 1989 mit dem Abbau der Grenzanlagen zu Österreich begonnen.28 Auch in Polen, das spätestens seit der Verhängung des Kriegsrechts im Jahr 1981 nicht mehr zur Ruhe gekommen war, gab es starke Bestrebungen zu mehr Reformen.29 Aus Sicht der Bush-Regierung waren diese beiden Staaten die am weitesten fortgeschrittenen und qualifiziertesten Länder im Hinblick auf einen Wandel des kommunistischen Systems. Genau deshalb wurde in Washington beschlossen, dass der Präsident diesen Ländern nicht nur einen symbolischen Besuch im Sommer 1989 abstatten, sondern gleichfalls auch wirtschaftliche Unterstützung in Aussicht stellen solle, da beide 24 Vgl. Bush, G./Scowcroft, B. 1998, S. 112–126 ; zu den Umbruchsjahren in Mittelosteuropa siehe etwa : Dalos, György : Der Vorhang geht auf. Das Ende der Diktaturen in Osteuropa, Bonn 2009. 25 Ostermann, Christian F. : Im Schatten der Bundesrepublik : Die DDR im Kalkül der amerikanischen Deutschlandpolitik 1949–1989/90, in : Larres, Klaus/Oppelland, Torsten (Hg.) : Deutschland und die USA im 20. Jahrhundert. Geschichte der politischen Beziehungen, Darmstadt 1997, S. 230–255, hier S. 250, folgert, dass die DDR nur eine »untergeordnete Bedeutung« für Washington spielte, sie wohl aber ein wichtiger »Faktor« in der »Deutschland- und UdSSR-Politik« der Vereinigten Staaten war. 26 Ostermann, Christian : In Bonns Schatten : Die Beziehungen zwischen Washington und Ost-Berlin, in : Junker, D. 2001, S. 152–162 ; auch : Bortfeldt, Heinrich : Im Schatten der Bundesrepublik, in : Junker, D. 2001, S. 466–475. 27 Reagan, R. 1990, S. 555. 28 Vgl. Winkler, Heinrich August : Der lange Weg nach Westen II. Deutsche Geschichte 1933–1990, Bonn 2005, S. 481 ; auch Bush, G./Scowcroft, B. 1998, S. 145, berichten von der Grenzöffnung zwischen Österreich und Ungarn seit Mai 1989. 29 Vgl. Dalos, G. 2009, S. 33.
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Länder »fit political and economic reform criteria for US support«30. Die Polen summierten ihren Finanzbedarf für die nächsten drei Jahre bereits vor Bushs Visite auf circa zehn Milliarden US-Dollar. Die Zeiten waren allerdings bereits vorüber, in denen die USA über scheinbar unbegrenzte Mittel für außenwirtschaftliche Hilfen verfügten. Für die Regierung Bush galt es daher, die engsten westlichen Verbündeten mit Blick auf ökonomische Hilfen zu konsultieren, wie auch die G7 als geeignetes Forum für solche Fragen angesehen wurde.31 Obwohl Gorbatschow während seiner Rede in Straßburg am 6. Juli 1989 angedeutet hatte, dass Moskau nicht in die Reformen und Transformationsprozesse in den mittelosteuropäischen Staaten eingreifen wolle, zweifelten Bush und Scowcroft nach wie vor an Gorbatschows Aufrichtigkeit, da der sowjetische Generalsekretär sein Bekenntnis zu einer sozialistischen Zukunft Mittelosteuropas beibehielt.32 Ein sichtbares Zeichen der Entspannung war die mehrfache, wenn auch nicht ganz eindeutige Widerrufung der sogenannten Breschnew-Doktrin durch Gorbatschow, etwa während einer Konferenz des Warschauer Paktes im Juli 1989.33 Die US-Regierung terminierte das Ende der Breschnew-Doktrin auf Sommer 1989 und stellte gleichzeitig eine tiefe Spaltung des östlichen Bündnisses fest – in reform orientierte Staaten, wie Ungarn und Polen, auf der einen und reaktionäre Staaten, wie die Tschechoslowakei, Rumänien und die DDR, auf der anderen Seite.34 Vom 9. bis 13. Juli 1989 erfolgte schließlich der Besuch des US-Präsidenten in Polen und Ungarn. Bush fasst seine Maxime vom Sommer 1989 wie folgt zusammen : »We could support freedom and democracy but we had to do so in a way that would not make us appear to be gloating over Gorbachev’s political problems with Party hard-liners as he moved away from the iron-fisted policies of his predecessors. I was not going to back off my principles because it might offend Gorbachev. But hot rhetoric would needlessly antagonize the militant elements within the Soviet Union and the [Warsaw, 30 Bush, G./Scowcroft, B. 1998, S. 112. 31 Vgl. Bush, G./Scowcroft, B. 1998, S. 113. 32 Vgl. ebd., S. 114 f. 33 Jones, Christopher : Gorbačevs Militärdoktrin und das Ende des Warschauer Paktes, in : Diedrich, Torsten/Heinemann, Winfried/Ostermann, Christian F. (Hg.) : Der Warschauer Pakt. Von der Gründung bis zum Zusammenbruch 1955 bis 1991, Bonn 2009, S. 245–271, hier S. 256 f., verweist auf die Diskussion in der Forschung, wann die sowjetische Führung tatsächlich von der Breschnew-Doktrin abrückte. Während Matthew I. Ouimet meint, dass Moskau schon im Zuge der Polenkrise 1981 davon abgerückt sei, plädiert Jones dafür, das Ende der Breschnew-Doktrin auf den 25. Oktober 1989 zu terminieren, da hier die Ostblockländer öffentlich erklärten, »dass ihre Staaten auf den Ersteinsatz von bewaffneter Gewalt gegen ein gegnerisches Bündnis, einen neutralen Staat oder einen Staat des eigenen Bündnisses verzichten würden«. Zur Aufgabe der Breschnew-Doktrin vgl. auch den Beitrag von Maximilian Graf in diesem Band. 34 Vgl. Bush, G./Scowcroft, B. 1998, S. 115.
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M. G.] Pact, and might cause them to rise up against these changes and perhaps against their perpetrator, Gorbachev.«35
Genau dieser Standpunkt führte schließlich auch dazu, dass das Weiße Haus sich für die Präsidentschaftskandidatur des für die Verhängung des Kriegsrechts in Polen 1981 zuständigen Kommunisten General Wojciech Jaruzelski im Sommer 1989 aussprach, was Bush rückblickend als »ironic« bezeichnet : »Here was an American president trying to persuade a senior communist leader to run for office.« Dies geschah, weil man Jaruzelski als Stabilitätsfaktor eingestuft hatte, der eine »smooth transition« in Polen ermöglichen sollte.36 Darüber hinaus bot der US-Präsident den Polen »limited proposals for economic support« an,37 was er ebenso während seines anschließenden Aufenthaltes in Ungarn tat. Im Gegenzug für die gesetzliche Regelung der Reisefreiheit in Ungarn sollte Budapest wirtschaftliche Hilfen in der Höhe von mehreren Millionen US-Dollar sowie den Status als »most-favored-nation (MFN)« erhalten.38 Auch die Verbündeten Washingtons waren bei der Finanzierung der Wirtschaftshilfe für die im Umbruch befindlichen Staaten Mittel- und Osteuropas entscheidend, vor allem die Bundesrepublik Deutschland, die von Scowcroft explizit hervorgehoben wird.39 Ungarn spielte indessen eine wichtige Rolle mit Blick auf die dorthin und in die Tschechoslowakei geflüchteten DDR-Bürger. Ende August 1989 erfolgte ein Besuch des ungarischen Ministerpräsidenten Miklós Németh in Bonn bei Kanzler Kohl, um über die Möglichkeit der Öffnung der ungarischen Westgrenze zu sprechen. Mit dieser Initiative, die gleichfalls auf wirtschaftliche Unterstützung des Westens abzielte, sei der »Anfang vom Ende des SED-Regimes« eingeleitet worden, konstatiert Kohl in der Retrospektive.40 Nachdem Budapest am 10. September 1989 tatsächlich die Grenzen zu Österreich geöffnet hatte und die Ostdeutschen die Grenze passieren konnten, verlieh dieser
35 Ebd. 36 Ebd., S. 117. 37 Ebd., S. 120. 38 Ebd., S. 125 f.; in Bezug auf die MFN- bzw. Meistbegünstigungsklausel vgl. auch : Pollert, Achim/ Kirchner, Bernd/Morato Polzin, Javier : Das Lexikon der Wirtschaft. Grundlegendes Wissen von A bis Z, Bonn 2004, S. 230 : Die MFN-Klausel ist eine »Vereinbarung im internationalen Handel, wonach ein Staat einem anderen alle außenhandelspolitischen Vorteile (z. B. Zollermäßigungen) einräumt, die er bereits einem dritten Staat zugestanden hat.« 39 Vgl. Scowcroft, in : Bush, G./Scowcroft, B. 1998, S. 140, der schreibt : »We settled on an agreement to back a $1-billion stabilization fund for Poland, of which the United States would contribute $200 million – to be delayed until Polish negotiations with the IMF were completed. The remainder would come from Europe, especially Germany.« 40 Kohl, H. 2009, S. 46.
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Schritt der Deutschen Frage auch aus Washingtoner Sicht einigen Aufschwung. Für den Nationalen Sicherheitsberater Scowcroft barg die Massenausreise ostdeutscher Bürger gar die Frage der deutschen Einheit : »Yet to reform the system was to undermine the basic premise for a separate East German state – without socialism there was no longer continued justification for two Germanies. It begged the question of reunification.«41 Washington hatte allerdings noch keine konkrete Position in Bezug auf eine eventuelle deutsche Einheit. Im Rückblick auf den Monat Mai 1989 hält Scowcroft nämlich fest : »We had not yet formulated a detailed position on the subject, nor had we discussed it with the Germans.«42 Dass man hier noch keine detaillierte Konzeption entwickelt hatte, passt zudem in das Bild von der Washingtoner Unklarheit über Gorbatschows wahre Absichten und Ziele.43 Während Bush und Scowcroft die Implikationen der Öffnung der ungarischösterreichischen Grenze mit Blick auf die Deutsche Frage reflektieren, äußern sie sich mit keinem Wort zur Rolle der österreichischen Politik und Diplomatie in diesem Kontext. Wie auch in Reagans Autobiografie wird in »A World Transformed« kein einziger österreichischer Akteur namentlich erwähnt. Anders formuliert : Österreichs Rolle während der Umbruchsphase 1989 wird in der Rückschau gänzlich marginalisiert. Im Gegensatz dazu wird aber die Bedeutung des ungarischen Ministerpräsidenten Németh, ein »Reformer«, wie Scowcroft rückblickend meint, positiv bewertet. Immerhin hatte dieser schon im November 1988 ein Vorhaben zur erlaubten Gründung nicht kommunistischer Parteien vorgestellt.44 In der Rückschau auf den Besuch des US-Präsidenten im Juli 1989 in Ungarn folgert der ehemalige Sicherheitsberater sogar überschwänglich : »Hungary was again becoming a beacon of light in European culture, and on its border with Austria it was removing the ugly symbol of Europe’s division.«45
41 Bush, G./Scowcroft, B. 1998, S. 146. 42 Ebd., S. 83. Scowcroft gibt auch zu : »I was concerned about unnecessarily stimulating German nationalism«. Nicht nur bei Thatcher und Mitterrand gab es also Bedenken gegenüber einer möglichen Renationalisierung Deutschlands, sondern auch in einigen Washingtoner Kreisen. Solche Auffassungen habe der US-Präsident hingegen niemals geteilt. Bush und Scowcroft meinen darüber hinaus : »By late summer, the turmoil in Eastern Europe reached high tide and now swept into East Germany – the keystone of the Warsaw Pact and the Soviet Union’s most reliable ally. […] In response to repression and economic deprivation, East Germans began to take advantage of their August vacations and freer travel to flee their country.« 43 Vgl. Bush, G./Scowcroft, B. 1998, S. 114 f. 44 Ebd., S. 38. 45 Ebd., S. 125 ; Horn, Gyula : Freiheit, die ich meine. Erinnerungen des ungarischen Außenministers, der den Eisernen Vorhang öffnete, Hamburg 1991, S. 294 f., bilanziert die Bedeutung des Bush-Besuchs im Sommer 1989 in Ungarn als »besonders wichtig, weil damit die Führungsmacht der entwickelten Welt zum Ausdruck brachte, daß sie die Veränderungen in Ungarn unterstützte«.
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Diese positive Einschätzung der Rolle Ungarns wird auch von Kohl in seinen »Erinnerungen« geteilt, da die »ungarischen Reformkommunisten […] sich bezüglich der ausreisewilligen Deutschen aus der DDR […] als äußerst standfest und mutig erwiesen« hätten. Genau deshalb wollte sich die Bundesregierung auch nicht nur mit einem eigenen Kredit in Höhe von einer halben Milliarde DM erkenntlich zeigen, sondern gleichfalls auch innerhalb der EG und in den Vereinigten Staaten für weitere Hilfen für das mitteleuropäische Land eintreten.46 Obwohl der Ludwigshafener darüber hinaus im Gegensatz zu Bush und Scowcroft wenigstens einmal den österreichischen Außenminister Alois Mock im Kontext der symbolischen Öffnung der österreichisch-ungarischen Grenze am 28. Juni 1989 anspricht, geht auch er nicht näher auf die Rolle der Wiener Politik in diesem Zusammenhang ein. Wohl aber thematisiert er kurz die Bedeutung Österreichs für die über Ungarn geflohenen Ostdeutschen infolge des »Paneuropäische[n] Picknick[s]« vom 19. August 1989. Mit Blick auf Letzteres notiert Kohl : »Es war eine großartige Sache, die immer auch mit dem Namen Otto von Habsburg verbunden bleiben wird. Als während des Picknicks – wie vorgesehen – für kurze Zeit der Grenzzaun geöffnet wurde, rannten Hunderte Menschen einfach über die ungarische Grenze nach Österreich. Ermöglicht hatte dies Miklós Németh, der über mehrere Kilometer die Grenzposten hatte abziehen lassen. Es war ein unbeschreibliches Gefühl, diese Bilder im Fernsehen zu sehen – Bilder von Menschen, die durch das Schilfmeer am Neusiedler See in die Freiheit wateten. In Österreich haben sie überglücklich den Boden geküsst und sich umarmt. Es war eine große Stunde in unserer Geschichte, übrigens auch eine große Stunde in der Geschichte der Burgenländer, dass die Leute so unglaublich zueinander standen.«47
Kein Wort verliert Kohl – wie Bush und Scowcroft – dagegen über die österreichische Politik. Diese war aus Sicht des deutschen Diplomaten im Bundesaußenministerium, Michael Jansen, in jenem Sommer 1989 »ausgesprochen solidarisch und hilfsbereit« mit Blick auf die Weiterreise der DDR-Flüchtlinge in die Bundesrepublik, wobei das Wiener Außenamt zumindest die Frage der Finanzierung des Einsatzes des Österreichischen Roten Kreuzes, das die Notversorgung der Ostdeutschen gewährleisten sollte, eindeutig geregelt wissen wollte. Kohl soll auf die Nachfrage Jansens aber unmissverständlich geantwortet haben : »Sie können den Österreichern sagen : Kosten spielen keine Rolle, wir kommen für alles auf !«48 46 Kohl, H. 2009, S. 47–50 ; vgl. dazu auch : Dalos, G. 2009, S. 94. 47 Kohl, H. 2009, S. 35–41. 48 Jansen, Michael : »Vielleicht sah Genscher mit der Deutschen Einheit seine Mission nach achtzehn Jahren als Außenminister als erfüllt an«, in : Gehler, Michael/Meyer, Hinnerk (Hg.) : Deutschland, der
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Am 9. November 1989 schließlich billigte auch das SED-Regime in Ost-Berlin, nachdem das »Stalinist government of Erich Honecker«, so Bush/Scowcroft, Mitte Oktober 1989 abgelöst worden war, den DDR-Bürgern offiziell weitgehende Reisefreiheitsrechte zu, die zu einem Ansturm von DDR-Bürgern auf die Grenzen führten.49 Infolge des Mauerfalls kam es nunmehr aus übereinstimmender Sicht der Akteure Bush und Kohl darauf an, möglichst deeskalierend zu handeln und einen weiteren Massenexodus von Ost- nach Westdeutschland zu verhindern.50 Insofern blieb Washington bei der bereits während der Reisen Bushs nach Polen und Ungarn praktizierten Taktik, einerseits kein rhetorisches Öl ins Feuer zu gießen, andererseits aber die demokratischen Bestrebungen in Mittel- und Osteuropa auch nicht zu marginalisieren. In seinem Tagebuch notierte Bush am 8. November 1989 jedenfalls : »I keep hearing the critics saying we’re not doing enough on Eastern Europe ; here the changes are dramatically coming our way, and if any one event – Poland, Hungary, or East Germany – had taken place, people would say this is great. But it’s moving fast – moving our way – and you’ve got a bunch of critics jumping around saying we ought to be doing more. What they mean is, double spending. It doesn’t matter what, just send money, and I think it’s crazy. And if we mishandle it, and get way out looking like [promoting dissent is] an American project, you would invite crackdown, and […] that could result in bloodshed.«51
Das Ziel der Regierung Bush nach dem Fall der Mauer blieb es, »den Prozeß der Entspannung nicht zu gefährden«, etwa indem man den Reformkommunisten Gorbatschow innenpolitisch nicht in Gefahr brachte. Es galt, offiziell »jeden Triumphruf über den Fall der Mauer und den Zerfall der Sowjetmacht in Europa« zu unterlassen.52 Der Präsident und sein Sicherheitsberater betonen in der Rückschau insbesondere die innenpolitischen Gefahren für Gorbatschow, die sich aus einem Verlust der DDR ergeben konnten. Hier war man sich im Unklaren, was die Zukunft bringen würde.53 Westen und der europäische Parlamentarismus. Hildesheimer Europagespräche I, Hildesheim/Zürich/ New York 2012, S. 148–172, hier S. 170. 49 Görtemaker, Manfred : Kleine Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, Bonn 2004, S. 354 f. 50 Vgl. Kohl, H. 2005, S. 954. 51 Bush, G./Scowcroft, B. 1998, S. 148 und S. 150 : Die von Gorbatschow artikulierten Befürchtungen, die USA oder die Bundesrepublik würden gar noch Öl ins Feuer gießen, seien dagegen völlig aus der Luft gegriffen. Washington selbst habe erkannt, dass Zurückhaltung und Vorsicht das richtige Rezept sind. In einem Brief an den Kreml-Chef schrieb der US-Präsident daher etwa : »As I see it, […] the FRG leadership has acted with the utmost responsibility, emphasizing the importance of a deliberate step-by-step approach to change in the GDR and the need to avoid destabilizing the situation in Europe. […] We have no intention of seeking unilateral advantage from the current process of change in the GDR and in other Warsaw Pact countries, nor is it our wish to destabilize the situation.« 52 Schwabe, K. 2011, S. 415 f. 53 Bush, G./Scowcroft, B. 1998, S. 190, wo der ehemalige Sicherheitsberater Bushs festhält : »Like [Mar-
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Trotz der offiziellen »strategic silence«54 der US-Regierung stand für Bush aber außer Frage, dass den Deutschen – wie auch allen Völkern Europas – ein Recht auf Selbstbestimmung eingeräumt werden müsse. Kohl hatte nach dem Mauerfall kaum Zweifel an dieser Haltung des US-Präsidenten : »Bush verstand sehr genau, dass der Westen die Deutschen tief enttäuschen, ja verstören würde, wenn er sich ihre berechtigte Forderung nach Selbstbestimmung nicht zu eigen machte. Schließlich hatten die westlichen Verbündeten der Bundesrepublik genau diese Unterstützung seit Abschluss des Deutschlandvertrages im Jahr 1952 immer wieder für den Tag X zugesichert. Nun war der Augenblick gekommen.«55
Gerade aus den westeuropäischen Nachbarländern der Bundesrepublik aber wurde Washington signalisiert, dass die Deutsche Frage nicht von akuter Dringlichkeit sei : »We should not be talking about national boundaries, which should be respected. […] We should also avoid talk about the German problem.«56 Der Faktor Zeit wurde aus Sicht von Bush und Kohl in zweierlei Hinsicht wichtig – Verzögerung und Gelassenheit beziehungsweise Schnelligkeit und Druck. Es kam auf die Balance und die richtige Dosierung an. Aus Kohls Sicht war es von Bedeutung, mit seinem Zehn-Punkte-Plan von Ende November 1989 in die »Offensive« – also in Richtung deutscher Einheit – zu gehen.57 Im Kontext der Verkündung dieses Planes war man in Washington damit beschäftigt, den amerikanisch-sowjetischen Gipfel auf Malta, der für Anfang Dezember 1989 angesetzt war, vorzubereiten. Aus Sicht des Weißen Hauses war Kohls »Offensive« auch als Zeichen für diesen zu verstehen : »It was clear he wanted to be sure that Gorbachev and I did not come to garet, M. G.] Thatcher, we recognized that the loss of East Germany might exacerbate political problems in the Soviet Union, causing a conservative backlash and jeopardizing Gorbachev’s reforms and perhaps even his hold on power.« 54 William Forrest Harlow zitiert nach : Paterson, Thomas G./Clifford, J. Garry/Maddock, Shane J./ Kisatsky, Deborah/Hagan, Kenneth J. : American Foreign Relations. Volume 2. A History Since 1895, Boston 2010, S. 443. 55 Kohl, H. 2005, S. 989 ; vor allem Schabert, Tilo : Prüfung der Macht. Zu den ›Erinnerungen‹ von Helmut Kohl, in : Merkur 3 (2006), S. 265–270, äußert sich etwa sehr kritisch mit Blick auf die Aussagen über die französische Politik unter Staatspräsident Mitterrand in den Memoiren des Ludwigshafeners ; Kleinmann, Hans-Otto : Die Ära Kohl – Ein Literaturbericht. Zweiter Teil, in : Buchstab, Günter/ Kleinmann, Hans-Otto (Hg.) : Historisch-Politische Mitteilungen. Archiv für Christlich-Demokratische Politik, Köln/Weimar/Wien 2008, S. 471–522, hier S. 504, meint allerdings in Anlehnung an Klaus Hildebrand, dass Schabert »nicht eigentlich eine wissenschaftliche Studie« zur französischen Deutschlandpolitik vorgelegt habe, »sondern eine mit ›philosophierenden Bemühungen‹«, weshalb die Kritik des Politikwissenschaftlers Schabert an Kohls Erinnerungen zu entkräften sei. 56 Bush, G./Scowcroft, B. 1998, S. 193. 57 Kohl, H. 2009, S. 108.
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our own agreement on Germany’s future, as had Stalin and Roosevelt in the closing months of World War II.«58 Kohl teilt diese Einschätzung. Er versuchte, wie er in seinen »Erinnerungen« schreibt, Bush davon zu überzeugen, »in Malta keinen Festlegungen zuzustimmen, die den Handlungsspielraum unserer Deutschlandpolitik einschränken könnten«, und versicherte zugleich, dass Bonn friedliche und keine revanchistischen beziehungsweise revisionistischen Ziele verfolge, wie es auch keinen nationalen Alleingang anstrebe.59 Einen Tag nach einem bilateralen Treffen zwischen Bush und Kohl Anfang Dezember 1989 begann der NATO-Gipfel in Brüssel. Hier wurde öffentlich gemacht, was der US-Präsident und der Bundeskanzler bereits intern am Tag zuvor festgestellt hatten : deutsch-amerikanische Interessenübereinstimmung in der Deutschen Frage. Scowcroft teilt diese Meinung und sieht in dem tags zuvor stattgefundenen Treffen zwischen Präsident und Kanzler einen Meilenstein : »In my view, this meeting with Kohl marked a turning point. There seemed a perfect conjunction of the minds of reunification, and the atmosphere of comradeship in a great venture was palpable to me. The easygoing discussion seemed to give Kohl the confidence, almost visible to me at the time, that he had the President behind him.«60
Gemeinsam mit Bush legte Kohl – dieses Bild zeichnen zumindest die Memoiren der Akteure – in der weiteren Folge dann die grundsätzliche Strategie fest : Es sollte eine deutsche Einheit im Rahmen der europäischen Einheit und innerhalb der NATO-Strukturen verwirklicht werden. Auch der Historiker Klaus Schwabe teilt diese Meinung und hält fest, dass in Brüssel im westlichen Bündnis eine generelle »Übereinstimmung« erzielt wurde, bei der von deutscher Seite den amerikanischen Konditionen »für eine schrittweise deutsche Wiedervereinigung« zugestimmt wurde (vor allem der NATO-Mitgliedschaft), während von amerikanischer Seite der Verbleib von US-Truppen in Europa als Sicherheitsgarantie zugesagt wurde. Diese Botschaft war insbesondere an die Adressen Londons und Paris’ gerichtet.61 Auch Bushs Sicherheitsberater betont rückblickend : »[W]e hoped to keep US forces in Central Europe (the ›central zone‹, which meant Germany) while the Soviets withdrew«.62 Mit der konkreten Gestaltung der Einheit Deutschlands konnte erst ab Februar 1990 begonnen werden, was Kohl auf die »dramatische Wende« von Moskau zu-
58 Bush, G./Scowcroft, B. 1998, S. 194. 59 Kohl, H. 2005, S. 998. 60 Bush, G./Scowcroft, B. 1998, S. 195. 61 Schwabe, K. 2011, S. 417. 62 Bush, G./Scowcroft, B. 1998, S. 199.
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rückführt.63 Der Vorsitzende des Ministerrates der DDR, Hans Modrow, hatte Ende Januar 1990 und damit nur wenige Tage vor einem Besuch Kohls in Moskau der sowjetischen Führung die aussichtslose Lage der DDR geschildert und in seinem Konföderationsplan »Für Deutschland, einig Vaterland« die »militärische Neutralität« beider Vertragsstaaten, also der Bundesrepublik und der DDR, vorgeschlagen.64 Aus westlicher Perspektive war eine Neutralität Deutschlands allerdings vollkommen inakzeptabel. Nur wenige Tage vor der Präsentation des modrowschen Plans hatte etwa der französische Staatspräsident François Mitterrand65 dem amerikanischen Präsidenten mitgeteilt : »We cannot allow the neutralization of Germany.« Auch Margaret Thatcher lehnte eine gesamtdeutsche Neutralität ab, da diese die westeuropäische Sicherheitsarchitektur vollkommen zerstören würde, wie Bush betont : »It was clear Margaret still feared the worst from German reunification and, like Mitterrand, worried that the Germans might ›go neutral‹ and refuse to permit stationing nuclear weapons on their soil.«66 Zu diesem Zeitpunkt standen sich Ost und West also noch immer mit unterschiedlichen »Maximalforderungen« hinsichtlich der Zukunft Deutschlands gegenüber – allerdings unter anderen Vorzeichen als etwa noch in den späten 1940er- und 1950er-Jahren : »Die DDR war inzwischen so schwach, daß sie auf die Perspektive der deutschen Einheit angewiesen war ; die Sowjetunion war nicht mehr stark genug, um die deutsche Vereinigung zu verhindern.« Moskau konfrontierte den Westen mit der Neutralitätsforderung, während der Westen sich auf die NATO-Option versteift hatte.67 Bush hatte nach eigenen Angaben keinen Zweifel an der absolut loyalen Haltung des deutschen Kanzlers zum Westen : »I trusted Kohl not to lead the Germans down a special separate path.« Außer Frage stand für ihn zudem, dass sich Deutschland längst auf dem Weg zur Einheit befand.68 In einem Schreiben an den deutschen Bundeskanzler machte der Präsident mit Blick auf die Gespräche in Moskau deutlich : »I was deeply gratified by your rejection of proposals for neutrality [Modrow-Plan, M. G.] and your firm statement that a united Germany would stay in the North Atlantic alliance. In this connection I endorse the idea put forward that a component of a united 63 Kohl, H. 2009, S. 190. 64 Görtemaker, M. 2004, S. 366. 65 Lappenküper, Ulrich : Mitterrand und Deutschland. Die enträtselte Sphinx, München 2011, S. 279, konstatiert, dass der französische Staatspräsident sich trotz seiner ablehnenden Haltung einem neuen großen Deutschland gegenüber »nicht aufraffen« konnte, »das Recht auf Selbstbestimmung« in Abrede zu stellen. Dies habe er deshalb nicht getan, da es »keine Macht in Europa gab, die die Entwicklung stoppen konnte«. 66 Bush, G./Scowcroft, B. 1998, S. 211 f. 67 Winkler, H. A. 2005, S. 547. 68 Bush, G./Scowcroft, B. 1998, S. 213.
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Germany’s membership in the Atlantic alliance could be a special military status for what is now the territory of the GDR. We believe that such a commitment could be made compatible with the security of Germany, as well as of its neighbours, in the context of substantial, perhaps ultimately total, Soviet troop withdrawals from Central and Eastern Europe. In support of your position, I have said I expect that Germany would remain as a member of NATO.«69
Kurz vor dem geplanten Besuch Kohls bei Gorbatschow war aber noch US-Außenminister James Baker in Moskau zu Gast – und zwar auch, um Neutralitätsplänen für ein Gesamtdeutschland, wie etwa kurz zuvor von Modrow lanciert, umgehend eine Absage zu erteilen.70 In einem die Aussprachen in der sowjetischen Kapitale zusammenfassenden Brief an den deutschen Kanzler erklärte Baker, »dass Gorbatschow und Schewardnadse die Einheit Deutschlands nunmehr als unabwendbar ansähen«. Zudem hatte Baker Moskau gegenüber präjudizierend deutlich gemacht, »dass die Bundesregierung in Übereinstimmung mit der US-Administration eine deutsche Neutralität strikt ablehne« und »Zwei-plus-Vier-Gespräche« angeregt habe. Für Kohl war das Ergebnis seiner anschließenden Besprechungen mit Generalsekretär Gorbatschow auch nicht zu verachten : Zwar konnte (noch) keine Übereinkunft hinsichtlich des militärischen Status eines vereinigten Deutschlands erzielt werden, wohl aber in Bezug auf den »Zwei-plus-Vier-Prozess« und dahin gehend, dass »die inneren Aspekte der deutschen Einheit selbst zu regeln« sind.71 Für das Weiße Haus war insbesondere der Zwei-plus-Vier-Modus ein zentraler Aspekt auf dem Weg zur Einheit. Die von britischer Seite etwa vorgeschlagene Lösung im KSZE-Rahmen lehnte Washington dagegen strikt ab : »A CSCE summit to ratify a reunification agreement could develop into a peace conference on Germany opening up old wounds and unresolved disputes.«72 Kurz nach der Rückkehr aus Moskau sah Kohls Terminkalender für Mitte/Ende Februar 1990 ein weiteres Gespräch mit Präsident Bush vor – übrigens die erste 69 Schreiben des Präsidenten Bush an Bundeskanzler Kohl vom 9. Februar 1990, in Küsters, Hanns Jürgen/Hofmann, Daniel (Bearb.) : Dokumente zur Deutschlandpolitik. Deutsche Einheit. Sonderedition aus den Akten des Bundeskanzleramtes 1989/90, München 1998, S. 784–785, hier S. 784 f. 70 Bush, G./Scowcroft, B. 1998, S. 214, berichten im Gegensatz zu Kohl nicht detailliert von den Hintergründen des bakerschen Besuchs in Moskau ; siehe dazu auch : Gespräch Gorbačevs mit dem amerikanischen Außenminister, Baker, am 9. Februar 1990, in : Galkin, Aleksandr/Tschernjajew, Anatolij (Hg.) : Michail Gorbatschow und die deutsche Frage. Sowjetische Dokumente 1986–1991, München 2011, S. 310–316. 71 Kohl, H. 2009, S. 199. 72 Bush, G./Scowcroft, B. 1998, S. 236 ; auch : Küsters, Hanns Jürgen : Das Ringen um die deutsche Einheit. Die Regierung Helmut Kohl im Brennpunkt der Entscheidungen 1989/90, Freiburg/Basel/Wien 2009, S. 136 ; auch : Küsters, H. J./Hofmann, D. 1998, S. 85.
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und bislang einzige Einladung an einen deutschen Kanzler zu bilateralen Gesprächen in Camp David.73 Nicht nur daran zeigt sich die auch aus amerikanischer Sicht der Bundesrepublik beigemessene zentrale Rolle während der Phase der Umbrüche von 1989/90. Bush drängte hier auf ein entschiedenes Bekenntnis Kohls zur Unverrückbarkeit der polnischen Westgrenze und zum wiederholten Male auf »a firm commitment from Kohl that the FRG would seek full membership in NATO for a united Germany«.74 Letzterer Punkt schien dem US-Präsidenten wohl auch deshalb so wichtig zu sein, da in einer publizierten Meinungsumfrage vom 15. Februar 1990 ganze 58 Prozent der Bundesdeutschen die Neutralität eines vereinten Deutschlands bejaht hatten.75 Von der Frage der künftigen NATO-Mitgliedschaft Deutschlands hing nämlich auch zu einem großen Teil die militärische Bindung der Vereinigten Staaten an den europäischen Kontinent ab, schließlich lagen gerade auf bundesrepublikanischem Territorium diverse US-Truppenstützpunkte : »The lesson we drew from this bloody history was that the United States had to continue to play a significant role in European security, whatever developed with respect to the Soviet Union. The vehicle for that role must be NATO. The alliance was the only way the US could keep forces in Europe as a visible commitment to its security and stability. In addition, a united Germany as a full member of the alliance was key to our presence. Germany held our bases. If it left the alliance, it would be difficult if not impossible to retain American troops in Europe. We needed Helmut Kohl’s commitment to keep Germany in the alliance and American troops on its soil.«76
Während des Treffens in Camp David sollte Kohl aber gewisse Irritationen bei Bush auslösen, weil er gerade jene Stationierung amerikanischer Truppen in Deutschland mit einem eigenen Vorschlag zu gefährden schien (Kohl geht in seinen »Erinnerungen« im Unterschied zu Bush im Übrigen nicht auf diesen Aspekt ein) : In Bezug auf den künftigen militärischen Status des vereinigten Deutschlands hatte der Kanzler die Frage aufgeworfen, ob es nicht sinnvoll sei, einen ähnlichen Status wie Frankreich in der NATO anzustreben, d. h. außerhalb der militärischen Strukturen. Das war eine schockierende Vorstellung für Bush, der nichts anderes als eine volle NATO-Mitgliedschaft Deutschlands anstrebte, wie er rückblickend festhält :
73 Vgl. Zelikow, Philip/Rice, Condoleeza : Sternstunde der Diplomatie. Die deutsche Einheit und das Ende der Spaltung Europas, Berlin 1997, S. 298. 74 Bush, G./Scowcroft, B. 1998, S. 248. 75 Zelikow, P./Rice, C. 1997, S. 286. 76 Bush, G./Scowcroft, B. 1998, S. 230 f.
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Kohl »floated a disturbing idea. ›If West Germany is a member of NATO, should it be done in the way we are handling France ?‹ he asked. ›What about German military integration of the new Germany ? Is this a good idea ? But we do not want any special military status for all Germany, as occured after 1918.‹ […] I was quick to respond. One France in the alliance, with its special arrangements, was enough for me. ›The concept of Germany being in NATO is absolutely crucial‹, I reminded him.«77
Kohl hingegen spricht in seiner Darstellung generell davon, dass für ihn »die deutsche Nato-Mitgliedschaft und die Präsenz amerikanischer Streitkräfte in Europa und Deutschland elementare Voraussetzung für die Sicherheit des Kontinents« gewesen seien und erwähnt mit keinem Wort seine Gedankenspiele hinsichtlich der Abstinenz eines geeinten Deutschlands gegenüber den militärischen Strukturen der NATO – so wie dies vor allem auch von Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher befürwortet wurde.78 Tatsächlich vertraten Kohl und Bush auf der abschließenden Pressekonferenz aber eine gemeinsame, nämlich die amerikanische Position, dass »a united Germany should remain a full member of the North Atlantic Treaty Organization including participation in its military structure«.79 Scowcroft spricht nach diesem Treffen in Bezug auf die Kooperation zwischen Präsident und Kanzler dann – fast schon glorifizierend – vom »Bush-Kohl train«80. Aber auch Kohl teilt diese Meinung und erwähnt »eine gewisse Arbeitsteilung« zwischen Washington und Bonn : Die USA sollten innerhalb der NATO vor allem London zum Einlenken bewegen, während die Bundesrepublik innerhalb der EG insbesondere auf Frankreich einwirken sollte.81 Washington vertraute des Weiteren auch den mündlichen Zusagen Kohls in der Grenzfrage.82 Auf westlicher Seite stand damit hinsichtlich der äußeren Aspekte der Einheit eine weitestgehend gemeinsame deutsch-amerikanische Position, ja eine »Maximalposition«, wie Kohl meint,83 fest. Der wohl entscheidende Punkt war nun, den neben Bush wichtigsten Akteur hinsichtlich der deutschen Einheit von der westlichen Position – einer vollen NATO77 Bush, G./Scowcroft, B. 1998, S. 252 f.; vgl. auch : Winkler, H. A. 2005, S. 551 ; sowie : Zelikow, P./Rice, C. 1997, S. 302. 78 Kohl, H. 2009, S. 217–219 ; zur Haltung Genschers vgl. auch : Hacke, Christian : Das Modell eines neutralen wiedervereinigten Deutschlands und die Zeitenwende 1989/90, in : Geppert, Dominik/ Wengst, Udo (Hg.) : Neutralität – Chance oder Chimäre ? Konzepte des Dritten Weges für Deutschland und die Welt, München 2005, S. 275–288, hier S. 280. 79 Bush, G./Scowcroft, B. 1998, S. 255. 80 Ebd., S. 257. 81 Kohl, H. 2009, S. 218–220 ; Zelikow, P./Rice, C. 1997, S. 302 ; Küsters, H. J. 2009, S. 136. 82 Zelikow, P./Rice, C. 1997, S. 293. 83 Kohl, H. 2009, S. 218.
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Mitgliedschaft eines vereinigten Gesamtdeutschlands – zu überzeugen : Michail Gorbatschow. Ein erster Durchbruch gelang während des amerikanisch-sowjetischen Gipfeltreffens in Washington Ende Mai 1990. Hier wurde Bush zum »Wegbereiter« für die Einheit Deutschlands, wie Kohl meint.84 Dramatischer als der Ludwigshafener schildert freilich Bush das Treffen mit Gorbatschow, schließlich hatte der Generalsekretär des ZK der KPdSU eine Mitgliedschaft Gesamtdeutschlands im westlichen Militärbündnis zuvor noch kategorisch ausgeschlossen. Bush erinnert sich : »I reminded Gorbachev that the Helsinki Final Act stated that all countries had the right to choose their alliances. To me, that meant Germany should be able to decide for itself what it wanted. Did he [Gorbachev, M. G.] agree ? To my astonishment, Gorbachev shrugged his shoulders and said, yes, that was correct. The room became suddenly quiet. […] ›Do you and I agree that a united Germany has the right to be non-aligned, or a member of NATO, in a final document ?‹ asked Gorbachev. ›I agree with that, but the Germans want to be in NATO‹, I replied. ›But if they want out of NATO, we will respect that. They are a democracy.‹ – ›I agree to say so publicly, that the United States and the USSR are in favor of seeing a united Germany, with a final settlement leaving it up to where a united Germany can choose‹, said Gorbachev. ›I would put it differently‹, I said. ›We support a united Germany in NATO. If they don’t want in, we will respect that.‹ – ›I agree‹, answered Gorbachev. ›With the second part ?‹ I asked. ›With both parts‹, responded Gorbachev.«85
Kohl relativiert die Ereignisse von Washington gleichwohl, da der KPdSU-Generalsekretär noch »eine gesamtdeutsche Nato-Mitgliedschaft kategorisch abgelehnt« habe. Es habe aber gegolten : »Man müsse Gorbatschow beim Wort nehmen.«86 Die finale Übereinkunft mit Gorbatschow konnte Kohl aus seiner Sicht dann während des Treffens im Kaukasus Mitte Juli 1990 erreichen, als die sowjetische Führung um Gorbatschow und Schewardnadse den westlichen Standpunkt der Mitgliedschaft Gesamtdeutschlands in der NATO akzeptierte – nicht zuletzt auch im Gegenzug für massive wirtschaftliche Hilfe durch die Bundesrepublik. Bonn gestand Moskau zudem zu, »dass sich die Nato-Strukturen auch nach einem Abzug der sowjetischen Truppen aus Ostdeutschland nicht auf dieses Gebiet erstrecken dürften«87, was Bush dem Kanzler schon im Februar 1990 als mögliche Option eröffnet hatte.
84 Ebd., S. 297. 85 Bush, G./Scowcroft, B. 1998, S. 282. 86 Kohl, H. 2009, S. 327. 87 Ebd., S. 341 ; siehe auch : Gespräch des Bundeskanzlers Kohl mit Präsident Gorbatschow im erweiterten Kreis Archys/Bezirk Stawropol, 16. Juli 1990, in : Küsters, H. J./Hofmann, D. 1998, S. 1355–1367.
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IV. Resümee Im Hinblick auf die Jahre 1989/90 spielt die deutsche Einheit im Rahmen der Umbrüche in Europa sowohl aus Kohls wie auch aus Bushs und Scowcrofts retrospektiver Sicht eine entscheidende Rolle, obgleich die Deutsche Frage und die Antwort darauf immer wieder in Interdependenz zu den parallelen Transformationsprozessen in Europa insgesamt gesetzt werden (müssen) : Die Öffnung der ungarischen Grenze zu Österreich war mit Blick auf die Beschleunigung der Ereignisse in der DDR von zentraler Bedeutung, so wie sich auch die litauische Unabhängigkeitserklärung im März 1990 auf den Einheitsprozess Deutschlands auszuwirken drohte.88 Zunächst nämlich hatte sich Washington vornehmlich auf Polen und Ungarn konzentriert.89 Die Rolle Österreichs in diesem europäischen Transformationsprozess wird derweil sowohl von den US-Präsidenten Reagan und Bush als auch von Bundeskanzler Kohl in ihren jeweiligen autobiografischen Darstellungen kaum thematisiert, sondern vielmehr marginalisiert. Stattdessen wird ein Schwerpunkt auf das deutsch-amerikanische Zusammengehen in dieser Phase gelegt. Entscheidend aus amerikanischer Sicht war es, die bisherige NATO-Sicherheitsarchitektur nicht durch die umwälzenden Veränderungen zu gefährden, sondern sie allenfalls für die eigenen Ziele zu nutzen. Washington konnte sich während dieser Phase auf keine strategische Konzeption stützen, sondern handelte zumeist ad hoc.90 Die spezifisch amerikanische Rolle während der europäischen Umbruchsphase charakterisiert der damalige Nationale Sicherheitsberater Brent Scowcroft rückblickend wie folgt : »It would be gratifying to say our Eastern European policy – altered from support of those states most rebellious toward the Soviet Union to backing moves for greater freedom – had been among the catalysts of the changes. It was not. But our policy did provide solid encouragement and allowed us to react properly to events. [… O]ur policy evolved, perhaps unconsciously, from quietly supporting the transformations to cultivating Soviet acquiescence, even collaboration, in them.«91
88 Zu diesem Schluss gelangt auch Wirsching, Andreas : 1989. Die Mauer fällt. Das Ende des doppelten Deutschlands, in : Wengst, Udo/Wentker, Hermann (Hg.) : Das doppelte Deutschland. 40 Jahre Systemkonkurrenz, Bonn 2008, S. 357–374, hier S. 369 : »Die finale Krise der DDR war daher keineswegs nur ›hausgemacht‹, wie viele glaubten, sondern im Gegenteil : Erst das exogene Element, nämlich das von Gorbatschow tolerierte Auftauen des kommunistischen Eispanzers und das damit einhergehende Erwachen der ostmittel- und osteuropäischen Völker, steigerte das alte Dilemma der DDR zur tödlichen Bedrohung.« 89 Vgl. Bush, G./Scowcroft, B. 1998, S. 300. 90 Vgl. ebd. 91 Ebd., S. 180 f.
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Was ferner sowohl in Ansätzen in Reagans Darstellungen als auch vor allem in Bushs und Kohls Erzählungen sehr deutlich wird, ist die Wichtigkeit des ständigen persönlichen Austausches untereinander in dieser schwierigen und bisweilen chaotischen Phase der Umbrüche in den mittel- und osteuropäischen Staaten. Der ständige Austausch gründete im Falle Bushs und Kohls wie zuvor auch Reagans und Kohls nach ihrem eigenen Dafürhalten zudem auf jahrelangem gegenseitigen Vertrauen, auf Sympathie und identischen politischen Überzeugungen. Umgekehrt trug auch der ständige transatlantische Austausch zur gegenseitigen Vertrauensbildung bei. Ausgehend von den Memoiren des Kanzlers und jener der Präsidenten waren die Grundvoraussetzungen für solide persönliche Beziehungen gegenseitige Aufgeschlossenheit, Vertrauen, die richtige »Chemie« und eine grundsätzliche politische Übereinstimmung – insbesondere der Glaube an die NATO. Festzuhalten bleibt mit Blick auf die persönlichen Verbindungen dieser Akteure : Alle drei Politiker hatten bereits, bevor sie ihr höchstes Amt erreichten, persönliche Kontakte zu internationalen Akteuren hergestellt, die ihrerseits entweder bereits ein wichtiges politisches Amt innehatten oder es möglicherweise erlangen würden. All das taten sie, weil sie persönlich-vertrauensvolle Beziehungen zu internationalen Akteuren als wichtiges Element der globalen Politik begriffen. Wichtige Grundvoraussetzung für gegenseitiges Vertrauen und gute Beziehungen ist eine regelmäßige Kommunikation. Sowohl Bush als auch Kohl berichten von der Wichtigkeit und Intensität des ständigen gegenseitigen persönlichen Austausches – via Telefon und im Rahmen gemeinsamer Treffen.92 Es ist in der Tat so, dass die Akteure rückblickend zumeist für sich »die Rolle des eigentlichen Vaters des Erfolgs« beanspruchen,93 allerdings unterlassen sie es auch nicht, die weiteren Akteure, neben Kohl und Bush vor allem Gorbatschow, die jeweiligen Außenminister und so weiter in ihre Geschichten einzuordnen und deren Beitrag (mehr oder weniger) zu würdigen. Sie schildern ihre Erlebnisse auf der höchsten politischen Ebene. Ausgehend von den vergleichenden Untersuchungen der Memoiren der zentralen Akteure kann somit das Diktum von Werner Weidenfeld hinsichtlich der Bedeutung von Einzelakteuren im Kontext der deutschen Einheit gestützt werden : »Erst die strukturellen Rahmenbedingungen ermöglichten die Wiedervereinigung. Zielrichtung und Geschwindigkeit des Prozesses wurden allerdings ungewöhnlich stark vom Zusammenspiel der beteiligten Spitzenpolitiker beeinflußt.«94 92 Über die Verständigung mit George Bush heißt es bei Kohl, H. 2005, S. 871 : »Mit ihm hatte ich von Beginn seiner Amtszeit an ein ausgezeichnetes Verhältnis, und in den ersten Monaten des Jahres 1989 telefonierte ich mit George Bush so häufig wie mit keinem anderen Staatsmann.« 93 Wolfrum, Edgar : Die geglückte Demokratie. Geschichte der Bundesrepublik Deutschland von ihren Anfängen bis zur Gegenwart, Bonn 2007, S. 442. 94 Weidenfeld, Werner : Außenpolitik für die deutsche Einheit. Die Entscheidungsjahre 1989/90, Stuttgart 1998, S. 638.
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Vom Durchschneiden des Eisernen Vorhangs bis zur Anerkennung Sloweniens und Kroatiens Österreichs Außenminister Alois Mock und die europäischen Umbrüche 1989–1992
Bis heute wird Österreichs Außenpolitik im Zusammenhang mit dem Jahr 1989 und den folgenden Umbrüchen im Bewusstsein der Österreicher mit der Person des von 1987 bis 1995 amtierenden Außenministers Alois Mock in einem unmittelbaren Kontext gesehen. Dies hängt nicht zuletzt mit den signifikanten Bildern vom Durchschneiden des Eisernen Vorhangs zusammen. Sie sind zu einer optischen Metapher für das Ende der bipolaren Nachkriegsordnung geworden. An den Anfang des Beitrags sei ein biografischer Hinweis gestellt. Mock stand 1989 schon im letzten Drittel einer langen politischen Laufbahn, die in den 1960erJahren begonnen hatte. Im April 1989 musste er als Vizekanzler und Parteiobmann der Österreichischen Volkspartei (ÖVP) abtreten, und es schien während der Turbulenzen um seine Ablöse eine Zeit lang, als würde er am Ende seiner politischen Karriere angelangt sein. Erst nach einem zähen innerparteilichen Ringen gelang es ihm, wenigstens das Amt des Außenministers zu behalten. Kurze Zeit später setzte jene Entwicklung ein, die Mock durch seine Mitwirkung bei den europäischen Umbruchsprozessen des Jahres 1989 und seine Rolle beim österreichischen EU-Beitritt in Österreich zu einem, wenn auch seit den 1990er-Jahren von Krankheit gezeichneten, politischen Mythos werden ließ. Sein Name wird heute in einem Atemzug mit Leopold Figl, Julius Raab und Bruno Kreisky genannt. Einer der beiden genannten Aspekte, nämlich Mocks Rolle im Zuge der österreichischen Bestrebungen um einen Beitritt zur Europäischen Gemeinschaft (EG) beziehungsweise Europäischen Union (EU), muss in diesem Beitrag außer Betracht gelassen werden, seine Integrationspolitik wird nur an einigen Stellen am Rande gestreift. Im Mittelpunkt steht vielmehr sein Agieren während der politischen Umwälzungen 1989 bis 1992. Dabei soll insbesondere der Frage nachgegangen werden, inwieweit der österreichischen Außenpolitik in der europäischen Umbruchssituation der Jahre 1989–1992 die Rolle eines Akteurs zukam. In welchen Momenten war sie aktiv mitgestaltend, wo fand sie sich nur in der Position eines passiven, wenn auch geopolitisch zentral gelegenen Zaungastes wieder ? Und schließlich : Wie verhielt es sich in diesem Kontext mit der österreichischen Binnensicht und der internationalen Außenwahrnehmung ?
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Vier Schlüsselaspekte werden näher beleuchtet : erstens die Haltung Österreichs gegenüber seinen östlichen Nachbarn bis zum Frühherbst 1989 ; zweitens die Haltung Mocks zur Deutschen Frage nach dem Mauerfall ; drittens die bis heute kontrovers beurteilte Politik Mocks gegenüber den Nachfolgestaaten Jugoslawiens 1991/92 ; abschließend werden, viertens, österreichische Aktivitäten auf der Ebene der regionalen Zusammenarbeit behandelt sowie in kursorischer Form auf die kulturpolitischen Initiativen Mocks infolge der Umwälzungen 1989 eingegangen.
I. Mock und die Reformbewegungen jenseits des Eisernen Vorhangs Schon lange vor seinem Amtsantritt als Außenminister hatte sich Mock mit den Entwicklungen in Osteuropa auseinandergesetzt. Als Kabinettschef des damaligen Bundeskanzlers Josef Klaus hatte er dessen »Ostpolitik« in der zweiten Hälfte der 1960er-Jahre wesentlich mitgetragen, seit den 1980er-Jahren hatte er sich auch als Präsident der Europäischen Demokratischen Union (EDU) mit den Entwicklungen jenseits des Eisernen Vorhangs befasst, wobei die EDU – schon aufgrund ihres Selbstverständnisses – jeder Form der Opposition gegen den Kommunismus Sympathie und, soweit möglich, Unterstützung entgegenbrachte.1 Einen weiteren Baustein in Mocks Erfahrungshorizont im Jahr 1989 bildeten jene Kontakte, die sich seine Partei, die ÖVP bzw. einzelne ihrer Teile in den 1980erJahren mit Dissidenten und Regimegegnern jenseits des Eisernen Vorhangs erarbeitet hatte. Es seien hier zwei Initiativen genannt : die von Erhard Busek hergestellten Verbindungen mit seinen seit 1979 regelmäßig durchgeführten Besuchs- und Delegationsreisen zu Oppositionellen im gesamten ostmitteleuropäischen Raum sowie die seitens der Christlichen Gewerkschafter um den Bundessekretär der Fraktion Christlicher Gewerkschafter (FCG), Günther Engelmayer, nach Verhängung des Kriegsrechts 1981 geknüpften Kontakte zur Untergrundgewerkschaft Solidarność in Polen. Seit seinem Amtsantritt als Außenminister hatte Mock einige bewusste Akzente und Gesten im Hinblick auf die politische und menschenrechtliche Situation östlich und nördlich von Österreichs Grenzen gesetzt. Dazu zählte, dass er den von den kommunistischen Staaten vertretenen Standpunkt, wonach die Erörterung
1 Vgl. Eichtinger, Martin/Wohnout, Helmut : Alois Mock. Ein Politiker schreibt Geschichte, Wien/ Graz/Klagenfurt 2008, S. 148–153 sowie S. 300 f. Zu den Aktivitäten der EDU im Hinblick auf Ostmitteleuropa vor und unmittelbar nach 1989 vgl. Schollum, Esther : Die Europäische Demokratische Union und der Demokratisierungsprozess in Ost-, Mittel- und Südosteuropa, in : Khol, Andreas/Ofner, Günther/Stirnemann, Alfred (Hg.) : Österreichisches Jahrbuch für Politik 1991, Wien/München 1992, S. 491–523.
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von landesbezogenen Menschenrechtsfragen eine Einmischung in innere Angelegenheiten bedeute, offen infrage stellte. Dies fand seinen Ausdruck unter anderem darin, dass Mock darauf bestand, bei Reisen in die entsprechenden Länder mit prominenten Dissidenten zusammenzutreffen, so beispielsweise im Sommer 1987 mit Václav Havel oder im Herbst 1988 mit Andrei Sacharow. Dies war davor nicht üblich gewesen und wurde von den Gastländern widerstrebend und stets nur außerhalb des offiziellen Besuchsprogramms akzeptiert. Mock war bewusst, dass Europa im Begriff war, sich zu verändern, doch hatte auch er nicht die Dimension der bevorstehenden Umwälzungen vorausgesehen oder gar mit ihnen gerechnet. Aufmerksam registrierte er allerdings, wie mit Michail Gorbatschow Reformen jenseits des Eisernen Vorhangs in Gang gekommen waren ; »a wind of change is blowing also in Eastern Europe«, wie er es damals formulierte.2 Im Herbst 1988 analysierte er die Situation folgendermaßen : »Wer hätte geglaubt, dass sich wenige Jahre nach den Ereignissen in der DDR 1953, in Ungarn 1956 und in der ČSSR 1968 mit einer Entwicklung in der Sowjetunion, die durch Begriffe wie Glasnost (Öffentlichkeit), Perestrojka (Umbau) und Uskorenie (Beschleunigung) gekennzeichnet ist, grundsätzlich neue Perspektiven eröffnen. Diese erlauben es, eine Überwindung der historisch gewachsenen Teilung unseres Kontinents nicht mehr völlig ins Reich der Phantasie zu verweisen. Dabei verstehe ich jeden, der dieser Realutopie mit Skepsis und Zögern gegenübersteht. Zu wenig davon ist schon Realität.«3
Er sah Europa vor dem Übergang von einer »Periode der bloßen Koexistenz« zu einer »Phase breitester Kooperation«. Für Österreich bedeutete dies, seine Europapolitik auf zwei Grundpfeiler zu stützen : die »ökonomisch gebotene« Teilnahme am Binnenmarkt sowie »[…] unsere Nachbarschafts- und Ostpolitik […], eine Politik, die uns unsere geographische Lage ebenso nahelegt, wie eine geschichtliche Erfahrung erleichtert, die Jahrhunderte zurückreicht. Der Donauraum, eine Replik des großen Europa, ist ein hochaktuelles Thema : Während die kulturellen Bindungen das Erbe der Vergangenheit verkörpern, stellen Zollsenkungen, Joint ventures und grenzüberschreitende Umweltverschmutzung die Herausforderungen der Gegenwart dar.«4
2 So die Einschätzung Mocks bei der EDU-Parteiführerkonferenz in Rhodos im September 1988. Eichtinger, M./Wohnout, H. 2008, S. 52. 3 Mock, Alois : Europa – Realitäten und Visionen, in : Europäische Rundschau. Vierteljahreszeitschrift für Politik, Wirtschaft und Zeitgeschichte 3/16 (1988), S. 3–7, hier S. 3 (Hervorhebung im Original). 4 Ebd., S. 7 (Hervorhebung im Original).
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Liest man diese Zeilen, so ließe sich darüber spekulieren, ob Mock eine Vorahnung hatte ; vielleicht war es auch nur der Ausdruck einer weltanschaulich fundierten Hoffnung. Doch eines wird deutlich : Mock rechnete mit keinem unmittelbar bevorstehenden Systembruch. Die von ihm genannten Joint Ventures beispielsweise waren zu einem erfolgreichen Beispiel der bilateralen Zusammenarbeit zwischen Österreich und Ungarn unter Zugrundelegung des unterschiedlichen weltanschaulichen und ökonomischen Status quo geworden. Am Beginn der Entwicklungen 1989 stand die unter österreichischer Gastgeberschaft im Jänner stattgefundene Folgekonferenz der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) in Wien. Das multilaterale Treffen im Rahmen des KSZE-Prozesses wurde zu einem Erfolg. Es bahnte den Weg für eine neue Qualität in den Ost-West-Beziehungen sowohl im Hinblick auf die Überwachung der Menschenrechte als auch hinsichtlich der internationalen Abrüstungsverhandlungen. Im Osten sah man vor allem die in Fragen der Abrüstung erzielten Fortschritte positiv, im Westen schätzte man den bei der Konferenz beschlossenen »Mechanismus der menschlichen Dimension« hoch ein.5 Im Laufe des Jahres 1989 setzte Außenminister Mock diesen Überwachungsmechanismus dreimal in Gang : bei Menschenrechtsverletzungen in der Tschechoslowakei, Rumänien und Bulgarien.6 Im Falle der Tschechoslowakischen Sozialistischen Republik (ČSSR) trug der KSZE-Mechanismus mit zum Erfolg bei. Havel, am 21. Februar 1989 verhaftet und zu neun Monaten Haft verurteilt, wurde nach weltweiten Protesten im Mai von den Prager Behörden wieder auf freien Fuß gesetzt. Als die mittelosteuropäischen Reformbestrebungen durch die Entwicklungen beim Nachbarn Ungarn und den legendären »Runden Tisch« in Polen das kommunistische Machtmonopol im Laufe des Frühjahrs 1989 aufzuweichen begannen, definierte Mock die österreichische Haltung – durchaus bedächtig – folgendermaßen : Es handle sich um souveräne Entscheidungen der jeweiligen Staaten, die aber Österreich im Rahmen seiner Möglichkeiten unterstütze. Eine Öffnung östlich von Österreichs Grenzen würde die Optionen des Landes aufwerten. Dies galt insbesondere im Hinblick auf die besondere Qualität der bereits bestehenden bilateralen Beziehungen zu Ungarn im Sinne der traditionellen österreichischen »Nachbarschaftspolitik«, es sei in diesem Zusammenhang etwa die damals geplante gemeinsame Weltausstellung Wien/Budapest erwähnt. Darüber hinaus hatte Mock auch im
5 »The final document […] was a breakthrough in various respects. This was particularly true with regard to the human dimension of the Helsinki process.« Fischer, Thomas : Austria and the Helsinki Process, in : Suppan, Arnold/Mueller Wolfgang (Hg.) : »Peaceful Coexistence« or »Iron Curtain«. Austria, Neutrality, and Eastern Europe in the Cold War and Détente, 1955–1989 (Europa Orientalis 7), Wien 2009, S. 168–202, hier S. 200. 6 Außenpolitischer Bericht 1989 (Jahrbuch der österreichischen Außenpolitik), Wien o. J. [1990], S. 87.
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Hinblick auf Ungarn bereits die Perspektive der europäischen Integration im Blick.7 Er widmete daher den Entwicklungen in Ungarn sowie jenen in Polen ein besonderes Augenmerk. Demgegenüber verhielt man sich gegenüber Bulgarien, der ČSSR, der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) und Rumänien, wo man kaum Reformpotenzial sah, zurückhaltend.8 Mock unterbreitete wiederholt Vorschläge, die auf eine Unterstützung der reformwilligen Länder abzielten, so als er sich im Mai 1989 dafür aussprach, Polen und Ungarn einen Beobachterstatus im Europarat einzuräumen.9 Im Juni machte er bei der Ministerkonferenz der Europäischen Freihandelsassoziation (EFTA) in Kristiansund einen Vorstoß für ein massives gemeinsames wirtschaftliches Hilfspaket von EG, EFTA und USA für die Reformstaaten in Höhe von sechs Milliarden US-Dollar. Er war zwar von Frankreichs Außenminister Roland Dumas zu diesem Vorstoß ermuntert worden, fand aber damit kaum Resonanz.10
II. Mock und Horn durchschneiden den Grenzzaun – eine symbolische Geste mit weitreichenden Folgen Zum retrospektiv zentralen Ereignis in der ersten Hälfte des Jahres 1989 sollte aus österreichischer Sicht der 27. Juni 1989 werden. Einen Moment lang griff Außenminister Mock aktiv in den Gang der weltpolitischen Ereignisse ein. Es handelte sich dabei um die ostentativ gesetzte Geste, als die Außenminister Österreichs und Ungarns, Alois Mock und Gyula Horn, den Eisernen Vorhang an der gemeinsamen Grenze durchschnitten. Das Bild vom 27. Juni ist zu einer der visuellen Ikonen des Jahres 1989 geworden. Es hatte aber weit über den symbolischen Akt hinaus auch eine eminente realpolitische Auswirkung im Sinne einer Dynamisierung der in Gang gekommenen Entwicklung in den Reformländern. Die Episoden rund um die Urheberschaft zu der Idee können an dieser Stelle vernachlässigt werden. Es reicht festzuhalten, dass die Initiative dazu vom österreichischen Außenministerium ausgegangen ist und es einige Zeit dauerte, bis sich Ungarns Gyula Horn bereitfand, mitzumachen.11 In der historischen Betrachtung viel 7 Gehler, Michael : Deutschland. Von der Teilung zur Einigung. 1945 bis heute, Wien/Köln/Weimar 2010, S. 307–309. 8 Gehler, Michael : Austria, the Revolutions, and the Reunification of Germany, in : Mueller, Wolf gang/Gehler, Michael/Suppan, Arnold (Hg.) : The Revolutions of 1989. A Handbook (erscheint 2014). Der Verfasser ist Michael Gehler für die Zurverfügungstellung des Manuskripts dieses Beitrags zu Dank verpflichtet. 9 Mock würdigt Perestroijka. »Historische« Entwicklung in Osteuropa, in : Die Presse vom 5. Mai 1989, S. 2. 10 Mock will Osthilfe forcieren. Sechs-Milliarden-Dollar-Plan Wiens, in : Die Presse vom 31. August 1989, S. 1 f. 11 Eichtinger, M./Wohnout, H. 2008, S. 192 f. Im Jahr 2009, anlässlich des 20. Jahrestags des Ereignisses,
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wesentlicher ist, dass der faktische Abbau der Grenzanlagen zu diesem Zeitpunkt schon voll im Gange war. Es hatte sich bei der Aktion also um keine Initialzündung gehandelt, mit der ein Prozess mit einer spektakulären Geste in Gang gesetzt wurde, sondern um eine symbolische Bestätigung eines Vorgangs, der schon längst am Laufen war. Denn wie wir spätestens seit der präzisen Darstellung von Andreas Oplatka aus dem Jahr 2009 wissen, hatte das Politbüro der ungarischen Kommunisten schon Ende Februar 1989 den Beschluss gefasst, die veralteten und ständig Pannen hervorrufenden Sperranlagen entlang der österreichischen Grenze zu demontieren. Es war der ungarische Innenminister István Horváth, der einer Aufforderung des neuen, reformfreudigen Ministerpräsidenten Miklós Németh folgend, den Abbau beantragt hatte. Der ungarische Staat konnte und wollte sich die finanziell aufwendige Instandhaltung der elektronischen Sperrzäune nicht länger leisten. Anfang Mai 1989 hatte dann der tatsächliche Abbau an allen vier Grenzschutzabschnitten zu Österreich begonnen.12 Der gemeinsame Auftritt von Mock und Horn an der Grenze war also eine Art medialer Nachvollzug eines Prozesses, der schon seit fast zwei Monaten im Gange war, allerdings in einer massenmedial geschickt inszenierten Weise. Es wurde daraus eine Aktion mit weitreichenden Folgen, insbesondere in der DDR. Zwar war über den Abbau der »technischen Grenzsperren« im westdeutschen Fernsehen, das auch bis weit in die DDR hinein empfangen werden konnte, bereits im Mai berichtet worden. Doch am 27. Juni bekamen die Ostdeutschen via ARD-Tagesschau die eindrücklichen und ideologisch aufgeladenen Bilder vom Durchschneiden des Grenzwurden in einem Beitrag an der Schilderung, wonach die Anregung zu der gemeinsamen Aktion der beiden Außenminister vom Pressefotografen Mocks ausgegangen sei, Zweifel geäußert. Vgl. Freitag, Wolfgang : So viel Anfang vom Ende, in : Die Presse (Spectrum), 20.6.2009, S. I–II, hier S. II. Der Verfasser zitiert darin Mocks damaligen Pressesprecher Gerhard Ziegler mit der Aussage, die Idee, den Grenzzaun im Rahmen eines Medientermins zu durchschneiden, sei anlässlich einer Vorsprache des damaligen ungarischen Botschafters bei Mock entstanden. Der 1989 als ungarischer Botschafter in Berlin amtierende István Horváth wiederum kommt in demselben Beitrag mit der Bemerkung zu Wort, er vermeine sich zu erinnern, von Gyula Horn gehört zu haben, die Initiative sei überhaupt von ungarischer Seite ausgegangen. Für diese Aussage findet sich allerdings weder in seinen eigenen Memoiren (Horváth, István : Die Sonne ging in Ungarn auf. Erinnerungen an eine besondere Freundschaft, München 2000) noch in denen Gyula Horns (Horn Gyula : Freiheit, die ich meine. Erinnerungen des ungarischen Außenministers, der den Eisernen Vorhang öffnete, Hamburg 1991) ein Anhaltspunkt. Dagegen hält Mocks damaliger Sekretär Martin Eichtinger an der bisher gängigen Version der Genesis des Bildes fest. Vgl. dazu zuletzt und im Detail : Eichtinger, Martin : »Ich glaube, dass das eines der großen Bilder der europäischen Geschichte geworden ist.«, in : Jelinek, Gerhard/ Schuöcker-Mosser, Birgit : Generation Österreich. Prägende Momente der Zweiten Republik. Von Zeitzeugen packend erzählt, Wien 2012, S. 219–225. 12 Oplatka, Andreas : Der erste Riss in der Mauer. September 1989 – Ungarn öffnet die Grenze, Wien 2009, S. 42–48 sowie S. 87 f. Schon früher, wenngleich nicht so im Detail : Horvath, I. 2000, S. 292– 294.
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Abbildung 1 : Alois Mock und Gyula Horn inszenieren die Grenzöffnung entlang des Eisernen Vorhangs; Quelle: HOPI-MEDIA e. U.
zauns in ihre Wohnzimmer geliefert. Die Fernsehaufnahmen stellten in größtmöglicher Anschaulichkeit unter Beweis, dass der Eiserne Vorhang brüchig geworden war. Paul Schulmeister, langjähriger Deutschlandkorrespondent des ORF, beschrieb die ungeheure Symbolkraft der Bilder vom 27. Juni 1989 wie folgt : »Die Botschaft der Bilder, die um die Welt gingen, lautete : Ungarn verzichtet auf Gewalt an den Grenzen. […] Was 1989 passierte, war neu – die erste ›Fernsehrevolution‹ in der Geschichte. […] Seit den Fernsehbildern von der Beseitigung des Stacheldrahtes durch die Außenminister Mock und Horn wusste jeder im Osten, dass es da eine ungesicherte Grenze gab, ohne Alarmanlagen, Minen oder elektrische Zäune.«13
13 Schulmeister, Paul : Wende-Zeiten. Eine Revolution im Rückblick, St. Pölten/Salzburg 2009, S. 246 sowie S. 255. Helmut Kohl sah in der Aktion »das Signal zum Aufbruch« für ausreisewillige DDRBürger (Kohl, Helmut : Erinnerungen 1982–1990, München 2005, S. 910). Ähnlich die Einschätzung des damaligen westdeutschen Botschafters in Österreich, Dietrich Graf von Brühl : »Ohne […] das außerordentlich publikumswirksame Bild von der Durchtrennung des Stacheldrahts durch die beiden
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Zusammengefasst lässt sich sagen : Mock hatte mit seinem »genialen Medien-Coup«14 vom 27. Juni 1989 den Prozess der Desintegration im Osten, vor allem in der DDR, massiv beschleunigt und verstärkt.
III. Zwischen der unblutigen Grenzöffnung im Burgenland und dem gewaltsamen Sturz Ceauşescus Österreichs Grenzen blieben noch für einige Zeit lang ein »Hotspot« der sich ab nun überstürzenden Ereignisse des Jahres 1989. Der österreichischen Außenpolitik kam aber während der Entwicklung im Spätsommer und Frühherbst 1989 nicht mehr die Rolle eines Akteurs im engeren Sinn zu. Denn die weitere Entwicklung, die zum Transit der ostdeutschen Flüchtlinge via Ungarn und Österreich in die Bundesrepublik führte, wurde in diskreten Verhandlungen zwischen der deutschen und der ungarischen Regierung vorbereitet, in die, das lässt sich nach dem derzeitigen Stand der Forschung schon recht klar sagen, Österreich nicht oder bestenfalls bloß im Vollzug der woanders getroffenen Entscheidungen eingebunden war. Dies galt schon für die Ereignisse rund um das sogenannte »Paneuropa-Picknick« vom 19. August 1989. An diesem Tag sollte es zur ersten Massenflucht von DDRBürgern seit dem Mauerbau 1961 kommen. Die Initiatoren waren ungarische Oppositionelle, die einen international bekannten Schirmherrn suchten und diesen im Präsidenten der Paneuropa-Union, Otto von Habsburg, fanden. Ungarischerseits konnte der führende Reformer in der Regierung, Imre Pozsgay, für die Aktion gewonnen werden. Regierungschef Németh unterstützte das Vorhaben und wies die ungarischen Grenzeinheiten an, sich »flexibel« zu verhalten.15 Die temporäre Grenzöffnung wurde seitens der Veranstalter mit den lokalen österreichischen Behörden koordiniert, das Außenministerium in Wien war nicht direkt involviert. In einer jüngst erschienenen Studie zu den Ereignissen entlang der österreichischungarischen Grenze anno 1989 mutmaßt Maximilian Graf, dass die führenden ungarischen Reformpolitiker bewusst das Picknick zu einem Testballon für die Grenz öffnung werden lassen wollten,16 ähnlich wie Michael Gehler, der dem Ereignis Außenminister am 27.6.1989 wäre es wahrscheinlich nicht so schnell zu der Flüchtlingsbewegung gekommen.« Zitiert nach : Gehler, M. 2010, S. 314. 14 So die Formulierung des österreichischen Diplomaten und späteren Staatssekretärs Hans Winkler. Winkler, Hans : Der »Ostfaktor« – politische Perspektiven, in : Stiefel, Dieter (Hg.) : Der »Ostfaktor«. Die österreichische Wirtschaft 1989–2009, Wien/Köln/Weimar 2010, S. 25–38, hier S. 26. 15 Moser, Lisa Anna : Das Paneuropäische Picknick vom 19. August 1989, in : Der Donauraum. Zeitschrift des Instituts für den Donauraum und Mitteleuropa 3–4/49 (2009), S. 341–353, hier S. 342. 16 Graf, Maximilian : Die Welt blickt auf das Burgenland. 1989 – Die Grenze wird zum Abbild der Ver-
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»Signal- und Testcharakter« beimisst.17 Die Sowjetunion Gorbatschows hatte bis zu diesem Zeitpunkt keinen Einwand gegen die ungarische Politik der Grenzöffnung erhoben, aber zugleich die ungarische Regierung im Unklaren darüber gelassen, ob und wie weit man deren Vorgehen billigen würde. Die Massenflucht von DDRBürgern über die österreichisch-ungarische Grenze wurde nun unkommentiert zur Kenntnis genommen ; man signalisierte den Ungarn, dass sie die Sache nach ihrem Gutdünken regeln sollten. Zum Zeitpunkt des Paneuropa-Picknicks waren die direkten Gespräche zwischen Ungarn und der Bundesrepublik zur Lösung der Flüchtlingsfrage bereits im Gange, letztendlich ausschlaggebend für die ungarische Entscheidung zur Grenzöffnung wurde die Tatsache, dass im letzten Augustdrittel zwei Zwischenfälle beim illegalen Grenzübertritt einen tödlichen Ausgang genommen hatten. Wie bereits erwähnt, war das offizielle Österreich in die Fühlungnahme zwischen seinen beiden Nachbarn nicht eingebunden. Bundeskanzler Franz Vranitzky erklärte dementsprechend auch am 22. August, dass Österreich keine Vermittlerrolle zwischen den beiden deutschen Staaten und Ungarn wahrnehmen würde.18 Am 25. August kam es dann zum ungarisch-westdeutschen Geheimgipfel zwischen den Regierungschefs und Außenministern auf Schloss Gymnich bei Bonn, wo die dann am 11. September stattgefundene Grenzöffnung und im Gegenzug weitere deutsche Wirtschaftshilfen fix vereinbart wurden.19 Zeitgleich zu diesem Treffen wurde Mock am 25. August von der deutschen Seite betreffs der zu erwartenden Flüchtlingsströme kontaktiert. Man fand sich rasch, österreichischerseits wurden unbürokratisch zehntausende Visa ausgestellt und die Betreuung der Flüchtlinge dem Österreichischen Roten Kreuz übertragen.20 Bei der gewählten Vorgehensweise war nach außen hin die österreichische Neutralität gewahrt. Die Kosten wurden dem Roten Kreuz von der Bundesrepublik refundiert.21 änderung, in : Graf, Maximilian/Lass, Alexander/Ruzicic-Kessler, Karlo (Hg.) : Das Burgenland als internationale Grenzregion im 20. und 21. Jahrhundert, Wien 2012, S. 135–179, hier S. 163. 17 Gehler, M. 2010, S. 310. 18 Graf, M. 2012, S. 172. 19 Vgl. Küsters, Hanns Jürgen : Das Ringen um die deutsche Einheit. Die Regierung Helmut Kohl im Brennpunkt der Entscheidungen 1989/90, Freiburg/Basel/Wien 2009, S. 54–57. 20 In seinen Memoiren erinnert sich Heinrich Treichl, der damalige Präsident des Österreichischen Roten Kreuzes, von Außenminister Mock telefonisch mit dem Ersuchen kontaktiert worden zu sein, den Transport der Flüchtlinge bis zur deutschen Grenze zu organisieren. Er erklärte sich dazu bereit ; binnen Stunden seien etwa fünfzig Reisebusse angemietet worden. Die Betreuung in Österreich erfolgte durch die lokalen Mitarbeiter des Roten Kreuzes. So wurde es möglich, die ausreisewilligen Ostdeutschen binnen weniger Tage mit dem Nötigsten zu versorgen und in Passau den Behörden der Bundesrepublik Deutschland wohlbehalten zu übergeben. Vgl. Treichl, Heinrich : Fast ein Jahrhundert. Erinnerungen, Wien 2003, S. 342. 21 Brühl, Dietrich Graf von : Deutsche Erfahrungen mit Österreich, in : Gehler, Michael/Böhler, Ingrid
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Dass Österreich damals wohl eher die Nebenrolle eines nur mittelbar involvierten Dritten spielte, spiegelte sich auch in der Wahrnehmung und im Agieren Helmut Kohls wider. So berichtete der deutsche Kanzler im Bundesvorstand der Christlich Demokratischen Union (CDU) am 9. Oktober 1989 von seinen länger zurückreichenden Kontakten zu Németh und Horn, die schließlich zur Grenzöffnung führten.22 Österreich kam in seinen Ausführungen nicht vor. Kohl erkannte an, dass sich Österreich im Vollzug der von ihm mit Ungarn ausgemachten Abmachungen kooperativ gezeigt hatte. In einem in den lokalen Medien veröffentlichten Schreiben bedankte er sich auch ausdrücklich bei der burgenländischen Grenzbevölkerung für deren humanitäres Engagement gegenüber den aus Ungarn kommenden ostdeutschen Flüchtlingen.23 Das eigentliche Verdienst rechnete er jedoch den Ungarn an. Dies wird auch daran deutlich, dass es in Österreich 1989 nicht wie in Ungarn zu einem Besuch Kohls kam, in dessen Zuge er sich vor Ort bedankte. Für die weitere Entwicklung im schicksalshaften Herbst 1989 galt, dass die österreichische Außenpolitik, soweit sie von Mock und der ÖVP gestaltet wurde, mit Fortdauer der Ereignisse immer vehementer Partei für die Reformbewegungen in den ostmitteleuropäischen Staaten ergriff. In Polen wurde am 24. August der katholische Journalist, Intellektuelle und Vertraute Lech Wałęsas, Tadeusz Mazowiecki, zum Premierminister gewählt. Österreichs Vizekanzler Josef Riegler und Wissenschaftsminister Erhard Busek waren die ersten Regierungsmitglieder eines anderen Landes, die dem neuen, nicht kommunistischen Regierungschef schon einen Tag nach der Bestätigung seiner Regierung am 13. September demonstrativ einen inoffiziellen Besuch abstatteten, während der neue polnische Außenminister Krzysztof Skubiszewski seinen ersten offiziellen Arbeitsbesuch bei seinem österreichischen Amtskollegen Alois Mock in Wien absolvierte.24 (Hg.) : Verschiedene europäische Wege im Vergleich. Österreich und die Bundesrepublik Deutschland 1945/49 bis zur Gegenwart. Festschrift für Rolf Steininger zum 65. Geburtstag, Innsbruck/Wien/Bozen 2007, S. 579–584, hier S. 583. 22 Kohl, Helmut : Berichte zur Lage 1989–1998. Der Kanzler und Parteivorsitzende im Bundesvorstand der CDU Deutschlands. Bearbeitet von Günter Buchstab und Hans-Otto Kleinmann (Forschungen und Quellen zur Zeitgeschichte 64), Düsseldorf 2012, S. 12 f. (Sitzung 9. Oktober 1989). 23 Vgl. Graf, M. 2012, S. 178. Einige Tage nach dem Mauerfall traf sich der Politische Ausschuss der EDU am 13.11.1989 in Bonn zu einer Sitzung. Dabei betonte der Parlamentarische Geschäftsführer der CDU/CSU-Bundestagsfraktion Friedrich Bohl, dass die gesamte Entwicklung ohne die Grenzöffnung an der ungarisch-österreichischen Grenze nicht möglich geworden wäre, und unterstrich den Anteil Alois Mocks an diesem Prozess. Archiv des Karl von Vogelsang-Instituts, Wien (im Folgenden zitiert als : KvVI), Bestand EDU, Ordner »1989«. Zl. EDU/1989/1716, Commitee No 1, European Structures, European Policy, Minutes 28th Meeting St. Augustin/Bonn, 13. November 1989. 24 Außenpolitischer Bericht 1989 (Jahrbuch der österreichischen Außenpolitik), Wien o. J. [1990],
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Im Hinblick auf die Ausreisewelle aus der DDR und das dortige harte Vorgehen der Polizei gegenüber den Demonstranten fand Mock zu einem frühen Zeitpunkt klare Worte. Offen kritisierte er in einer Pressekonferenz am 9. Oktober die ostdeutschen Machthaber : »Die massive Ausreisewelle aus der DDR in den letzten Wochen war eine deutliche Abstimmung gegen das kommunistische System und für Reformen.« Er hoffe, so setzte Mock fort, die DDR-Führung werde die Zeichen der Zeit erkennen und endlich einen »Dialog mit der eigenen Bevölkerung eröffnen«25. Bekanntlich war die Nomenklatura in der DDR dazu nicht mehr in der Lage. Der Sturz der kommunistischen Regime in Osteuropa war nicht mehr aufzuhalten. Nach dem Fall der Berliner Mauer und dem Rücktritt des bulgarischen Staatsund Parteichefs Todor Schiwkow am 11. November 1989 begann am 17. November der als »Samtene Revolution« bekannt gewordene friedliche Volksaufstand in der Tschechoslowakei. Ende November brachten die Massendemonstrationen und ein mehrstündiger landesweiter Generalstreik den Umschwung.26 Die tschechoslowakische Regierung kündigte am 30. November 1989 an, unverzüglich mit dem Abbau der Grenzbefestigungen entlang der Grenze zu Österreich zu beginnen, einen Tag später gab sie die sofortige Reisefreiheit bekannt. Tatsächlich begannen die Abrissarbeiten an den Grenzsperren am 8. Dezember im Raum Berg/Bratislava und am 11. Dezember am Grenzübergang Wullowitz.27 Der Eiserne Vorhang entlang der österreichischen Staatsgrenze war endgültig Geschichte. Mocks erste Bewertung dieser Entwicklung in der Öffentlichkeit fiel Ende November vergleichsweise verhalten aus. Er sah in der Ankündigung ein Signal für den bevorstehenden Ausbau der Beziehungen zu Österreich auf allen Ebenen der Zusammenarbeit.28 Diese eher zurückhaltende Reaktion hatte wohl auch damit zu tun, dass Mock der um ihr politisches Überleben ringenden kommunistischen Regierung des MinisterpräsidenS. 69 f.; zum Besuch Rieglers und Buseks bei Maszowiecki vgl. Busek, Erhard : Mitteleuropa. Eine Spurensicherung, Wien 1997, S. 50 f. 25 »Außenminister Mock nahm zu Fragen des Ressorts Stellung. DDR braucht Dialog mit dem Volk«, in : Wiener Zeitung vom 10. Oktober 1989, S. 3. 26 Zur Entwicklung in der Tschechoslowakei vgl. Dalos, György : Der Vorhang geht auf. Das Ende der Diktaturen in Osteuropa, München 2009, S. 172–204 ; Stackl, Erhard : 1989. Sturz der Diktaturen, Wien 2009, S. 251–272 ; Ash, Timothy Garton : We The People. The Revolution of ’89. Witnessed in Warsaw, Budapest, Berlin & Prague, Cambridge 1990, S. 78–130. 27 CSSR gab offenbar grünes Licht für Abbau des Eisernen Vorhangs. Ein CTK-Bild und ein Augenzeugenbericht als Beweise, Bericht der Austria Presse Agentur (im Folgenden zitiert als : APA-Bericht) 0248 5 AI vom 8. Dezember 1989 ; Abbau des Eisernen Vorhangs 2. Wullowitz. »Politisches Händeschütteln« über die nunmehr offene Grenze hinweg, APA-Bericht 0124 5 AI vom 11. Dezember 1989 ; Abbau des Eisernen Vorhangs 3. In der Vergangenheit Schauplatz vieler illegaler Fluchtversuche, APA-Bericht 0151 5 AA vom 11. Dezember 1989. 28 CSSR beginnt Abbau des »Eisernen Vorhangs«. Mock begrüßt Entscheidung Prags, APA-Bericht 0323 3 AI vom 30. November 1989.
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ten Ladislav Adamec keine politische Unterstützung mehr zukommen lassen wollte, stand der Machtwechsel doch schon im Raum. Am 10. Dezember amtierte in Prag bereits die neue Regierung der nationalen Verständigung. Als Erster Stellvertretender Ministerpräsident gehörte ihr der slowakische Dissident Ján Čarnogurský an, für dessen Freilassung aus der Haft Mock noch Ende Oktober bei der kommunistischen Regierung interveniert hatte.29 Am 17. Dezember durchschnitt Mock zum zweiten Mal im Jahr 1989 den Eisernen Vorhang, diesmal an der österreichisch-tschechoslowakischen Grenze beim Grenzübergang Hevlín/Laa an der Thaya. Sein Vis-à-vis auf tschechoslowakischer Seite war der neue Außenminister Jiří Dienstbier, der darauf gedrängt hatte, analog zu Ungarn auch mit seinem Land symbolisch die Öffnung der Grenze zu besiegeln.30 Der Václav Havel nahestehende Bürgerrechtler und Unterzeichner der Charta 77 war unter den Kommunisten inhaftiert worden und durfte bis zur Samtenen Revolution beruflich nur mehr als Heizer tätig sein. Hatte Mock im Juni mit dem Reformkommunisten Horn den Eisernen Vorhang durchtrennt, so stand im Dezember ein Dissident und erklärter Gegner des Kommunismus an seiner Seite. Der letzte, blutige Akt des Umbruchsjahres 1989 vollzog sich in Temeswar/ Timişoara und Bukarest. Lange Zeit schien es, als bliebe Rumänien von den Umstürzen in den anderen Warschauer-Pakt-Staaten unberührt. Seit Jahren hatte Staatsund Parteichef Nicolae Ceauşescu sein Land nicht nur abgeschottet, sondern auch innerhalb der kommunistischen Hemisphäre eine Sonderrolle gespielt. Jede oppositionelle Regung wurde mithilfe des enormen Sicherheitsapparats des Geheimdienstes Securitate unterdrückt. Schließlich war es das aberwitzige Projekt der »Siedlungssystematisierung«, das Widerstand hervorrief. Rund die Hälfte der 12.000 rumänischen Dörfer sollte liquidiert und durch rund 550 agroindustrielle Zentren ersetzt werden. Der evangelische Pastor im multinationalen Temeswar, László Tőkés, kämpfte offen dagegen an.31 Um ihn herum kristallisierte sich ein anfangs lokal begrenzter Widerstand. Noch deutete nichts darauf hin, dass sein Protest zu einer breiten Auflehnung führen würde. Am Ende November stattgefundenen Parteitag der KP Rumäniens verkündete Staats- und Parteichef Ceauşescu noch die »lichte Zukunft des Kommunismus« und ließ sich – von den Entwicklungen rund um das Land scheinbar unberührt – weiterhin als »Conducator« in einer Mischung aus Steinzeitkommunismus und einem bizarren byzantinischen Hofprotokoll hymnisch feiern.32 29 Gehler, M. 2014. 30 Mock, Alois : Die Wende in der ČSSR. Erinnerungen, in : Karner, Stefan/Stehlik Michal (Hg.) : Österreich. Tschechien. Geteilt – getrennt – vereint. Beitragsband und Katalog der Niederösterreichischen Landesausstellung 2009, Schallaburg 2009, S. 142 f., hier S. 143. 31 Zur Entwicklung in Rumänien vgl. Dalos, G. 2009, S. 205–238. 32 Die goldene Epoche eines Nichtrauchers. Rumäniens Conducator verspricht dem Volk eine lichte Zukunft, in : Die Presse vom 25./26. November 1989, S. 3.
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Als am 16. Dezember 1989 Tőkés aus Temeswar verschleppt wurde, brachen dort erstmals spontane Demonstrationen größeren Umfangs aus. Die Behörden erteilten Schießbefehl und lösten ein Blutbad mit zahlreichen Toten aus, das sich ungeachtet der verhängten Nachrichtensperre nicht geheim halten ließ. Unmittelbar nach Bekanntwerden der Ereignisse ergriff Mock offen Partei für die Opposition. Schon in den Jahren davor waren die systematischen Menschrechtsverletzungen in Rumänien und insbesondere das Programm der »Siedlungssystematisierung« von ihm wiederholt kritisiert worden. Bereits im Frühjahr 1989 hatte er den KSZE-Menschenrechtsmechanismus in Gang gesetzt. Nun griff Mock die Diktatur Ceauşescus frontal an. In einem emotionalen Auftritt im österreichischen Fernsehen sprach er angesichts der ersten zu beklagenden Todesopfer – unter Weglassung der für einen Außenminister an sich erforderlichen diplomatischen Zurückhaltung – von einem »üblen kommunistischen Regime«, an dem die Zeichen der Zeit nicht vorbeigehen würden.33 Nach dem Übergreifen der Kämpfe auf die Hauptstadt Bukarest beantragte er als erster westlicher Politiker bei Javier Péres de Cuéllar, dem Generalsekretär der Vereinten Nationen (UNO), die Einberufung einer Dringlichkeitssitzung des UNO-Sicherheitsrates, eine Initiative, die umgehend von der deutschen Regierung unterstützt wurde.34 Erleichtert und nachdenklich zugleich fiel Mocks erste Reaktion zum Sturz Ceauşescus am 22. Dezember 1989 aus : »Die, welche wie wir Österreicher seit langem in Freiheit leben konnten, sind zu großem Respekt gegenüber den Opfern der brutalen kommunistischen Repression verpflichtet. Mit großem Respekt gedenken wir Personen wie des Pastors László Tőkés, die, wie so viele andere, ihr Leben für die Freiheit ihres Volkes riskiert haben.«35
In den Worten des österreichischen Außenministers spiegelte sich auch die traurige Tatsache wider, dass im Gegensatz zu den anderen Ländern des Warschauer Pakts der Machtwechsel in Rumänien von Ceauşescu auf eine Koalition aus gewendeten Kommunisten, Militärs und Oppositionellen zahlreiche Todesopfer gekostet hatte. Er hatte in den letzten Tagen des Jahres 1989 noch einen blutigen Schatten auf den »annus mirabilis« geworfen.
33 Mock zu den Ereignissen in Rumänien. Empfinden einer gewissen Ohnmacht – »Übles kommunistisches Regime« in Bukarest – Rumänischer Botschafter wird Dienstag ins Außenministerium zitiert, APA-Bericht 0399 5 AI vom 18. Dezember 1989. 34 Aufruf Österreichs an UNO wegen Rumänien. Schreiben von Außenminister Mock – Bonn unterstützt die Initiative, APA-Bericht 0445 3 AA vom 20. Dezember 1989. 35 Österreich-Reaktionen zum Sturz Ceauşescus 1. Mock : Volksbewegung hat gesiegt – Hoffen auf Reformen – Österreichische Sanktionen treten nicht in Kraft, APA-Bericht 0190 5 AI vom 23. Dezember 1989.
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IV. Die deutsche Entwicklung vom Mauerfall bis zu den Entscheidungen über die Vereinigung Mock erlebte den Fall der Berliner Mauer am 9. November 1989 während eines Aufenthalts in Brüssel.36 Dieses zentrale Ereignis kam für ihn genauso überraschend wie vieles andere im Jahr 1989. Doch fiel seine erste Reaktion anders aus als die zahlreicher anderer österreichischer Politiker, Diplomaten und Intellektueller. Für Mock war das Thema der deutschen Einheit von Anfang an kein Tabu. Der Außenminister nahm eine Haltung ein, die sehr unbefangen alle Optionen im Hinblick auf die weitere Entwicklung offen ließ. Schon am Tag nach dem Mauerfall erklärte Mock die in Jalta getroffene Zweiteilung Europas für beendet. Offen sprach er davon, dass eine Vereinigung der beiden deutschen Staaten mittelfristig zu erwarten sei. Sie könnte aber auch schon früher eintreten, wenn in der DDR keine radikale Öffnung stattfände. Im Übrigen, so fügte er unaufgeregt hinzu, müsse den Deutschen, so wie jedem anderen auch, das Selbstbestimmungsrecht eingeräumt werden.37 Angesichts seiner Einschätzung hatte Mock keinen weiten Weg zurückzulegen, um frühzeitiger und konsequenter als die meisten anderen Protagonisten der österreichischen politischen Szene auf Helmut Kohls Linie eines Zusammengehens der beiden deutschen Staaten unter den Auspizien einer weitestgehenden Westintegration einzuschwenken. Mit dieser Haltung erwies Mock den österreichischen Beitrittsbestrebungen zur EG einen nützlichen Dienst, denn es ist bekannt, dass Kohl genau darauf achtete, wie sich welches europäische Land gegenüber seiner Deutschlandpolitik in den kritischen Monaten 1989/90 verhielt. Das sprichwörtliche Elefantengedächtnis des deutschen Kanzlers sollte in der Folge noch so mancher Kritiker seines Kurses in der Frage der deutschen Einigung schmerzhaft zu spüren bekommen. Prominestes Beispiel war der niederländische Premier Ruud Lubbers. Ihn sollte Kohl 1994 als Kommissionspräsidenten verhindern.38 In Österreich wurde allerdings Mocks Haltung gegenüber der Vereinigung der beiden deutschen Staaten kontrovers beurteilt. Die Sozialdemokratische Partei Österreichs (SPÖ) kritisierte wiederholt die immer augenscheinlicher werdende Parteinahme Mocks für den Kurs seines Parteifreundes Kohl. Aber auch bei zahlreichen Intellektuellen schwang die Sorge mit, ein vereinigtes Deutschland in der Mitte Europas könnte als Hegemonialmacht zu einer neuerlichen Bedrohung Österreichs werden.39 Im Gegensatz zu Mock nahm Bundeskanzler Vranitzky eine eher an
36 Vgl. Eichtinger, M./Wohnout, H. 2008, S. 194–196. 37 Mock, Alois : Ein Beitrag zur Auflösung der Blöcke, in : Der Standard vom 11./12. November 1989, S. 4. 38 Schwarz, Hans-Peter : Helmut Kohl. Eine politische Biographie, München 2012, S. 562 ; Gehler, M. 2010, S. 342. 39 Für diese Skepsis exemplarisch : Rathkolb, Oliver/Schmid, Georg/Heiss, Gernot (Hg.) : Österreich und Deutschlands Größe. Ein schlampiges Verhältnis, Salzburg 1990.
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Frankreich orientierte Haltung ein, die noch für längere Zeit eine Beibehaltung des zweistaatlichen Status quo unterstützte. Geraume Zeit versuchte der österreichische Bundeskanzler zur Stabilisierung des ostdeutschen Übergangsregimes beizutragen und die bisherige strikt neutrale Haltung gegenüber beiden deutschen Staaten mit erhofften wirtschaftlichen Vorteilen im Außenhandel für Österreich zu verbinden. In diesem Zusammenhang ist auch sein bei Kohl Befremden auslösender Besuch bei Hans Modrow am 24. November 198940 sowie sein gemeinsam mit Minister Ferdinand Lacina geborener, retrospektiv betrachtet etwas merkwürdiger Plan eines Ost-West-Fonds zur Stützung der DDR und Polens zu sehen.41 Vranitzky selbst hielt nachträglich fest, er habe keine Lust verspürt, in »[…] mir bekannt gewordene deutsch-deutsche Annäherungskonkretisierungen verwickelt zu werden.«42 Offen brach der innerösterreichische Dissens anlässlich der Bewertung des am 28. November 1989 präsentierten »Zehn-Punkte-Plans« Kohls aus. Außenminister Mock verlieh Anfang Dezember seiner vollen Unterstützung für den Konföderationsplan Kohls Ausdruck.43 Dass er dies noch dazu am Rande einer Sitzung des Lenkungsausschusses der EDU, also vor einem Forum der christlichdemokratischen bzw. konservativen Parteienfamilie tat, führte zu einer heftigen Reaktion der SPÖ. Deren Klubobmann Heinz Fischer kritisierte, dass sich Mock als Außenminister eines neutralen Staates mehr Zurückhaltung in der Frage der künftigen Entwicklung der beiden deutschen Staaten, wie er es formulierte, auferlegen sollte.44 Die Stellungnahme Fischers machte den Unterschied in der außenpolitischen Paradigmen40 Zu Vranitzkys Interesse am Fortbestand einer reformierten DDR und seinem Besuch bei Modrow : Graf, Maximilian : Österreich und die DDR 1949–1989/90. Beziehungen – Kontakte – Wahrnehmungen, Wien 2012 (ungedruckte Dissertation), S. 818–822. 41 Gehler, Michael : Eine Außenpolitik der Anpassung an veränderte Verhältnisse : Österreich und die Vereinigung Bundesrepublik Deutschland – DDR 1989/90, in : Gehler, Michael/Böhler, Ingrid (Hg.) : Verschiedene europäische Wege im Vergleich. Österreich und die Bundesrepublik Deutschland 1945/49 bis zur Gegenwart. Festschrift für Rolf Steininger zum 65. Geburtstag, Innsbruck/Wien/ Bozen 2007, S. 493–530, hier S. 498–504. Zur Reaktion Kohls auf den Vranitzky-Besuch bei Modrow vgl. Gehler, Michael : Österreich, die DDR und die Einheit Deutschlands 1989/90, in : Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 5/57 (2009), S. 427–452, hier S. 431 f. Bemerkenswert ist, dass Vranitzky in seinen Erinnerungen seinen kontrovers beurteilten Besuch bei Modrow im Herbst 1989 unerwähnt lässt, die Kontakte mit Kohl im Vorfeld des weit weniger umstrittenen Modrow-Besuchs 1990 in Wien hingegen ausdrücklich hervorhebt. Vranizky, Franz : Politische Erinnerungen, Wien 2004, S. 208 f. 42 Vranitzky, Franz : Vorwort, in : Stiefel, Dieter : Der »Ostfaktor«. Die österreichische Wirtschaft 1989– 2009, Wien/Köln/Weimar 2010, S. 9–14, hier S. 13. 43 Mock : Volle Unterstützung für Zehn-Punkte-Programm Kohls. Oppositionspolitiker aus Ungarn und Slowenien bei EDU-Tagung, APA-Bericht 0193 5 AI vom 7. Dezember 1989. 44 Mock soll bei Äußerungen über Wiedervereinigung vorsichtig sein. Fischer : Mocks Unterstützung für Kohl-Plan ist Fleißaufgabe, APA-OTS-Bericht 0024 5 II NSK 003 vom 8. Dezember 1989 ; SPÖ kritisiert Mocks Unterstützung für Zehn-Punkte-Plan Kohls. Fischer : Bei Äußerungen über »Wiedervereinigung« vorsichtig sein, APA-Bericht 0139 5 AI vom 8. Dezember 1989.
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setzung der beiden Parteien anschaulich : Auf der einen Seite stand der Außenminister, der den beginnenden Prozess der Vereinigung der beiden deutschen Staaten bereits ganz unter dem Blickwinkel der österreichischen EU-Beitrittsbestrebungen sah, auf der anderen Seite eine noch dem Neutralitätsdenken der alten Schule verhaftete SPÖ. Dies wurde auch in der Reaktion der beiden österreichischen Politiker auf den sogenannten Modrow-Plan einer Neutralisierung eines vereinigten Deutschland deutlich. Für Mock war der Vorschlag von Anfang an »irreal« und »nicht verwirklichbar«. Fischer dagegen verlangte »eine sorgfältige Prüfung des Plans«.45 Der Außenminister lehnte es kategorisch ab, auch nur ansatzweise das österreichische Neutralitätsmodell für ein geeintes Deutschland ins Gespräch zu bringen, war ihm doch klar, dass die Realisierung eines solchen Konzepts zumindest einen schweren Rückschlag, wenn nicht das Ende der von ihm betriebenen österreichischen EGBeitrittsbestrebungen bedeutet hätte. Doch auch in der ÖVP waren nicht alle Spitzenfunktionäre in einem so hohen Maße wie Mock um einen Gleichklang mit Kohl in der Frage der deutschen Einheit bemüht. Mocks Nachfolger als ÖVP-Parteichef und Vizekanzler, Josef Riegler, traf beispielsweise im Frühjahr 1990 mit DDR-Ministerpräsident Lothar de Maizière zusammen, ohne dies mit Kohl oder der West-CDU vorweg akkordiert zu haben. Ein solcher Schritt wäre bei Mock undenkbar gewesen, umso mehr, als das Verhältnis zwischen Kohl und de Maizière nicht frei von Spannungen war46 und sich de Maizière im Gespräch mit Riegler dementsprechend über die Politik Kohls auch kritisch äußerte.47 Je deutlicher wurde, dass Kohl (mit Wohlwollen der US-amerikanischen Administration) eine volle staatliche Vereinigung der beiden deutschen Staaten anstrebte, desto mehr wuchsen bei einigen seiner europäischen Partner in der EG die Widerstände dagegen. Schon beim Pariser EG-Sondergipfel am 18. November und vor allem beim Gipfel in Straßburg einen knappen Monat später am 8. und 9. Dezember 1989 kam es zu schweren und lautstarken Konflikten zwischen Kohl und Großbritanniens Margaret Thatcher, die in der Wahrnehmung des deutschen Kanzlers an der Spitze derer stand, die die Einheit zu verhindern trachteten.48 Unterstützung 45 Gehler, M. 2009, S. 444. 46 Schwarz, H.-P. 2012, S. 540–544. 47 Riegler räumt retrospektiv ein, dass dieses Treffen für einige Zeit zu einer beträchtlichen Irritation im Verhältnis zu Bundeskanzler Helmut Kohl führte. Unveröffentlichtes Interview von Helmut Wohnout mit Josef Riegler, 6. Juni 2013. Zur Sichtweise de Maizières vgl. »Eine Feierabend-Revolution«. Lothar de Maizière, letzter Premierminister der DDR, über die Wende und seine frühere Mitarbeiterin Angela Merkel. Interview, in : Profil vom 19. Oktober 2009, S. 26–27, hier S. 27 ; Graf, M. 2012, S. 835. 48 Kohl, H. 2005, S. 983–988 ; Kohl, Helmut : Erinnerungen 1990–1994, München 2007, S. 58–65 ; Schwarz H.-P. 2012, S. 558.
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erhielt sie von den Regierungschefs Italiens, Giulio Andreotti, der Niederlande, Ruud Lubbers, und eine Zeit lang auch von Frankreichs Staatspräsident François Mitterrand. Wie weit diese Konflikte reichten, die quer durch die in der EVP bzw. EDU zusammengeschlossenen Parteien christdemokratischen bzw. konservativen Zuschnitts gingen, sollte sich auch bei einer von der ÖVP initiierten Konferenz in Wien zeigen. Am 11. und 12. Jänner 1990 lud die Österreichische Volkspartei zu einem »Runden Tisch Europa« nach Wien. Es handelte sich dabei um ein einmaliges Ereignis in der Phase des europäischen Umbruchs 1989/90 mit nicht weniger als 28 Delegationen aus europäischen Ländern und darüber hinaus noch einigen außereuropäischen Gästen. Vertreter von demokratischen Organisationen aus allen Staaten des implodierten Ostblocks, mit denen die ÖVP eine Gesprächsbasis aufgebaut hatte, nahmen daran teil – mit Ausnahme Albaniens.49 Die langjährigen Kontakte Erhard Buseks und die engagierte Politik von Mock hatten dies möglich gemacht. Am Ende der Konferenz kam es zu einer Auseinandersetzung, die anschaulich die zu diesem Zeitpunkt bestehenden Spannungen zwischen der Bundesrepublik und einigen ihrer europäischen Partnern zur Frage der deutschen Einheit illustrierten : Die von Staatsminister Lutz Stavenhagen angeführte CDU-Delegation verlangte explizit die Erwähnung der »Wiedervereinigung Deutschlands« im Schlusskommuniqué der Veranstaltung. Die anwesenden Vertreter der Benelux-Staaten und Frankreichs hingegen vertraten die Auffassung, dass die Bekräftigung des »Wunsches aller Völker Europas nach Freiheit, Selbstbestimmung und Einheit« ausreichend sein müsse. Besonders am Wort »Wiedervereinigung« rieb man sich. Als Gastgeber schlug ÖVP-Obmann und Vizekanzler Riegler einen Kompromiss vor, der folgendermaßen lautete : »Wir unterstützen den Wunsch aller Völker Europas nach Freiheit, Selbstbestimmung und Einheit. Dies gilt auch für die Frage der deutschen Einheit.« Damit konnten schließlich alle leben.50 Erst beim Gipfel der EVP in Pisa gelang es Kohl, Mitte Februar 1990 die christdemokratischen Regierungschefs der Niederlande und Italiens auf seine Linie zu bringen und damit eine breite Unterstützung seiner Politik innerhalb der EG sicherzustellen.51 Thatcher, die weiter auf Distanz blieb, wenngleich sie ihren Widerstand 49 Archiv KvVI, Bestand EDU, Ordner »Runder Tisch«, ÖVP-PD, 12. Jänner 1990. 50 Archiv KvVI, Bestand EDU, Ordner »Runder Tisch«, ÖVP-PD, 13. Jänner 1990 ; Runder Tisch Europa. Schlußerklärung betont Freiheit, Selbstbestimmung und Menschenrechte, APA-Bericht 006 5 AL vom 13. Jänner 1990 ; Streit um deutsche Wiedervereinigung am »Runden Tisch«, in : Die Presse vom 13. Jänner 1990, S. 1. Das Schlusskommuniqué ist publiziert in : Riegler, Josef (Hg.) : 1st Round Table Europe, Vienna MS Mozart. 11–12 January 1990 (Politische Akademie. Schriftenreihe Standpunkte 22), Wien 1990, S. 57–62, hier S. 58 ; unveröffentlichtes Interview von Helmut Wohnout mit Josef Riegler, 6. Juni 2013. 51 Gehler, M. 2010, S. 340 f.
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aufgeben musste, war bei diesem Treffen nicht dabei. Die britischen Konservativen gehörten damals noch nicht der EVP an. An der deutschlandpolitischen Haltung Mocks sollte sich auch in der weiteren Folge nichts ändern. Er blieb weiterhin unbeirrt auf der Linie des deutschen Kanzlers. Anfang März 1990 konstatierte Mock, die deutsche Einigung entspreche der politischen Normalität. Sie berühre Österreich nicht mehr als die anderen kleineren Nachbarn der Bundesrepublik. In einem Fernsehgespräch fand er, allfällige österreichische Befürchtungen, sich vor einem wiedervereinigten Deutschland sorgen zu müssen, seien unbegründet. Er hielt es auch für kontraproduktiv, den Versuch zu unternehmen, das Zusammengehen der beiden deutschen Staaten aufhalten zu wollen : Die Zeit, in der man Deutschland Konzepte aufzwingen könne, sei vorbei, so Mock.52 Dementsprechend begrüßte er auch die im Juli 1990 erzielte Einigung zwischen Kohl und Gorbatschow über die Mitgliedschaft eines vereinigten Deutschland in der North Atlantic Treaty Organisation (NATO). Die Einschätzung der österreichischen Diplomatie, wonach die Vereinbarung ohne vorherige Information der westlichen Partner abgeschlossen worden sei und die künftige Eigenständigkeit der deutschen Außenpolitik vorwegnehme, konnte ihn nicht beunruhigen, entsprach sie doch ganz seiner schon im März getroffenen Lagebeurteilung.53 Vielmehr erhoffte er sich – nicht zu Unrecht, wie sich zeigen sollte – von einem gestärkten Deutschland eine noch wirkungsvollere Unterstützung für seine EU-Beitrittspolitik.
V. Der beginnende Zerfall Jugoslawiens und die vergeblichen Warnungen Mocks vor einer Eskalation der Konflikte am Balkan Mock war seit Ende der 1980er-/Anfang der 1990er-Jahre davon überzeugt, dass Jugoslawien als nach dem Modell Titos errichteter sozialistischer Vielvölkerstaat keine Zukunft haben würde. Die Beseitigung der Autonomie im Kosovo 1989 und 52 Außenminister Mock über Österreich, deutsche Einheit und Osteuropa : »Wir sind wieder im Herzen Europas«, in : Kurier vom 4. März 1990, S. 5 ; Mock-Lob für das Regierungsteam, aber : »Partei hat Mängel in der Präsentation«, in : Kurier vom 5. März 1990, S. 2. Ähnlich äußerte sich Mock in einer Rede vor dem österreichischen Nationalrat am 15.3.1990, als er die Vereinigung der beiden deutschen Staaten auf der Basis des Selbstbestimmungsrechtes als »eine bereits entschiedene Sache« bezeichnete. Gehler, M. 2014. 53 Gehler, M. 2009, S. 450. Am 31.8.1990 beschloss dann auch die in Helsinki unter dem Vorsitz Mocks tagende EDU-Parteiführerkonferenz eine Resolution, in der »die bevorstehende Vereinigung Deutschlands von ganzem Herzen« begrüßt und die NATO-Vereinbarung zwischen Kohl und Gorbatschow als Schritt zur Sicherung des Weltfriedens gelobt wurde. Archiv KvVI, Bestand EDU, Ordner »1989«.
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die Unmöglichkeit der Durchführung gesamtjugoslawischer Wahlen ein Jahr später waren für ihn warnende Vorzeichen, die in die Richtung einer Desintegration wiesen. Im Februar 1990 meinte er, nur ein tief greifender Demokratisierungsprozess könne den Bestand Jugoslawiens innerhalb der bestehenden Grenzen sicherstellen. Mock mahnte, dass eine Lösung der Spannungen nicht durch Gewalt, sondern nur durch einen Dialog bei voller Beachtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten möglich sei.54 Wegen der Situation im Kosovo wurde bereits im August 1990 von Österreich und einer Reihe anderer europäischer Staaten die erste Stufe des KSZE-Mechanismus der menschlichen Dimension (Ersuchen um schriftliche Stellungnahme) gegenüber Jugoslawien zur Anwendung gebracht.55 Als Österreich im Mai 1991 wegen der anhaltenden Unterdrückung im Kosovo die zweite Stufe dieses Mechanismus auslöste (bilaterale Konsultationen), war kein anderer Staat bereit, zu folgen.56 Allein das zeigt anschaulich, dass Mock mit seiner realistischen Einschätzung der vor dem Ausbruch stehenden Krise im Kreis der führenden Außenpolitiker ziemlich allein dastand. Doch ungeachtet dessen begann er, die internationale Gemeinschaft auf die Notwendigkeit hinzuweisen, auch den Zerfall Jugoslawiens als ein mögliches Szenario mit einzukalkulieren und die Voraussetzungen für einen friedlichen Übergang zu demokratischen Nachfolgestaaten zu schaffen. Dabei betonte er immer wieder, dass die Anwendung des Selbstbestimmungsrechts nur auf friedlichem Wege erfolgen dürfe und verbindliche Garantien für die Rechte aller Volksgruppen enthalten müsse. Mittelweile war der Zerfallsprozess Jugoslawiens weit fortgeschritten. Im Jänner 1990 verließ die slowenische Delegation den XIV. Parteikongress der Kommunistischen Partei Jugoslawiens, und der Kongress wurde auf Antrag der Kroaten unterbrochen. Zu einer Wiederaufnahme sollte es nicht mehr kommen. Die Kommunistische Partei Jugoslawiens hatte de facto zu existieren aufgehört. In den darauffolgenden Monaten fanden in den Teilrepubliken freie Wahlen statt. Im Herbst 1990 gab sich Serbien, wo ein Jahr zuvor der seit 1987 als KP-Chef amtierende Slobodan Milošević Staatspräsident geworden war, eine neue Verfassung. Sie bildete den vorläufigen Höhepunkt des untrennbar mit der Person Miloševićs verbundenen nationalistischen Schwenks.57 Der Kosovo und die Vojvodina verloren ihren Status als autonome Pro54 Presseerklärung zur Lage in Jugoslawien, Wien, am 2. Februar 1990, in : Österreichische außenpolitische Dokumentation (im Folgenden zitiert als ÖaD), Sonderdruck Jugoslawische Krise, Wien o. J. [1992], Dok. Nr. 47, S. 121. 55 Aide-Memoire betreffend Anwendung der ersten Stufe des Mechanismus (Ersuchen um Information), Belgrad am 15. August 1990, in : ÖaD, Jugoslawische Krise, Dok. Nr. 117, S. 211 f. 56 Siegl, Walter : Die österreichische Jugoslawienpolitik, in : Khol, Andreas/Ofner, Günther/Stirnemann, Alfred (Hg.) : Österreichisches Jahrbuch für Politik 1992, Wien/München 1993, S. 825–842, hier S. 828. 57 Mocks Urteil über die Politik Miloševićs war von Anfang an pessimistisch, wenngleich weitsichtig.
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vinzen auf dem Territorium der serbischen Teilrepublik und wurden zu integralen Landesteilen Serbiens. Im Dezember 1990 stimmte die slowenische Bevölkerung in einer Volksabstimmung mit einer überwältigenden Mehrheit für die Unabhängigkeit ihrer Teilrepublik, im Frühjahr 1991 folgten die Kroaten. Seit Mai 1991 fehlte es dem Gesamtstaat neben einem durch freie Wahlen zustande gekommenen Bundesparlament auch an einem Staatsoberhaupt, nachdem die turnusmäßige Wahl des Kroaten Stipe Mesić zum Staatspräsidenten gescheitert war. In den einzelnen Teilrepubliken, vor allem aber in Serbien und Kroatien, gewannen immer mehr nationalistische Strömungen die Überhand, die Polarisierung entlang ethnischer Abgrenzungen nahm dramatisch zu. So sprachen sich 90 Prozent der überwiegend serbischen Bevölkerung der Krajina in einem Volksentscheid vom Mai 1991 gegen einen Verbleib bei der kroatischen Teilrepublik und für einen Anschluss an Serbien aus.58 Ende März 1991 hatte eine in Österreich stattgefundene Konferenz anschaulich gezeigt, wie weit der Auflösungsprozess in Jugoslawien schon fortgeschritten war. Zum zweiten Mal hatte die ÖVP zum Runden Tisch Europa eingeladen, diesmal mit einem Schwerpunkt auf Südosteuropa. Noch einmal saßen zahlreiche Vertreter aller ethnischen Gruppen Jugoslawiens gemeinsam an einem Konferenztisch, unter ihnen Lojze Peterle, Dimitrij Rupel, Alija Izetbegović, Ibrahim Rugova und Radovan Karadžić. Ein Konsens war nicht mehr zu erzielen. Karadžić sprach die serbische Sicht der Dinge offen aus : »The problem of Yugoslavia is […] the problem of the Serbian national question. Once we resolve the Serbian national question, we will solve the problem of Yugoslavia.«59 Im Falle der Schaffung von Nationalstaaten müssten die bestehenden Grenzen zugunsten der serbischen Volksgruppe geändert werden, würden doch 40 Prozent der Serben außerhalb der serbischen Teilrepublik leben. Dementsprechend war der bosnische Serbenführer auch nicht bereit, einer Deklaration beizutreten, in der es hieß : »The problems of Yugoslavia should be resolved with full respect of the identity of its nations which should decide for themselSchon im März 1989 meinte er gegenüber seinem ungarischen Amtskollegen Horn, Milošević verfolge »ein neostalinistisches Konzept, das umso gefährlicher ist, als es in einem serbisch-nationalen Rahmen zu sehen ist. Dies kann zu unabsehbaren Folgen führen.« Vgl. Gehler, M. 2014. 58 Holm Sundhaussen fasst die Situation 1990/91 aus zeithistorischer Perspektive wie folgt zusammen : »Mit den freien Wahlen von 1990 erreichte der Zerfallsprozess die Schlussphase. Und spätestens seit Ende 1990 existierte der Gesamtstaat nur noch als Völkerrechtssubjekt oder – realistischer formuliert – als Völkerrechtsobjekt, denn von einem Subjekt konnte keine Rede mehr sein. Dem Bundesstaat waren mittlerweile alle staatlichen Attribute abhanden gekommen. Es gab weder eine demokratisch oder anderweitig legitimierte Staatsgewalt noch ein einheitlich kontrolliertes Hoheitsgebiet, weder eine allseits akzeptierte Verfassung noch einen einheitlichen Wirtschaftsraum.« Sundhaussen, Holm : Jugoslawien und seine Nachfolgestaaten 1943–2012. Eine ungewöhnliche Geschichte des Gewöhnlichen, Wien/Köln/Weimar 2012, S. 302. 59 Das Statement von Karadžić ist publiziert in : Riegler, Josef (Hg.) : 2nd Round Table Europe. Vienna MS Mozart. 25.–26. March 1991 (Politische Akademie. Reihe Standpunkte 26), Wien 1991, S. 20 f.
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ves in a peaceful and democratic way how to regulate their relations in the future.«60 Während der Pressekonferenz im Anschluss an die Beratungen prallten die Gegensätze abermals voll aufeinander. Beim Hinausgehen raunte der slowenische Regierungschef und Führer der christlichen Partei, Lojze Peterle, Vizekanzler Riegler zu : »Verstehen Sie nun, warum wir mit denen nichts mehr zu tun haben wollen ?«61 Trotz dieser unübersehbaren Auflösungserscheinungen der staatlichen Strukturen stieß Mock mit seinen Warnungen in weiten Teilen der internationalen Staatengemeinschaft auf taube Ohren. Die USA genauso wie die EG ignorierten diese Entwicklung und wirkten bis Mitte 1991 darauf hin, dass sich die Teilrepubliken auf einen Weiterbestand Jugoslawiens verständigen sollten.62 Man erwartete sich – fälschlicherweise, wie sich bald herausstellen sollte – von einer Beibehaltung des Status quo in Jugoslawien Stabilität am Balkan. Darüber hinaus bestand die Befürchtung, von einem Zerfall des jugoslawischen Staates könnte eine negative Beispielwirkung auf die bereits im Raum stehende Auflösung der Sowjetunion ausgehen, wo man in Gorbatschow einen Faktor der Stabilität sah und ihn sowie den Erhalt seines multiethnischen Staatsgebildes stützte. Einige EG-Mitgliedsstaaten waren darüber hinaus in Sorge, dass eine Befürwortung der Loslösung einzelner Teilrepubliken in Jugoslawien separatistischen Tendenzen in ihren eigenen Ländern Auftrieb verleihen würde. Daher setzte man nicht auf Verhandlungen zur friedlichen Auflösung Jugoslawiens, sondern klammerte sich an dessen Fortbestand. Aus Sicht Mocks war es hiefür schon längst zu spät. Einer der wenigen, die Mocks Einschätzungen teilten, war sein westdeutscher Amtskollege Hans-Dietrich Genscher. Beide beriefen sich auf das Selbstbestimmungsrecht der Völker, betonten allerdings auch bei jeder sich bietenden Gelegenheit ihr Interesse an einer friedlichen und demokratischen Entwicklung unter Einhaltung der UN-Charta und der KSZESchlussakte. Für manche politischen Beobachter galten sie dessen ungeachtet als »Brandstifter« und als mitverantwortlich für die ab 1990 punktuell und dann im Frühjahr 1991 in der Krajina im größeren Stil beginnenden und – bezieht man die Kämpfe in Bosnien-Herzegowina und im Kosovo mit ein – bis 1996 andauernden blutigen Auseinandersetzungen zwischen den verfeindeten jugoslawischen Volksgruppen.
60 Riegler, J. 1991, S. 86. 61 Zitiert nach : Riegler, Josef : Der große Triumph des »Urtriebs« Freiheit, in : Die Furche vom 17. Dezember 2009, S. 24. Den kontroversen Verlauf der Konferenz wie auch des abschließenden Pressegesprächs mit den zitierten Äußerungen Peterles bestätigte Josef Riegler im Gespräch mit dem Verfasser. Unveröffentlichtes Interview von Helmut Wohnout mit Josef Riegler, 6. Juni 2013. 62 US-Außenminister James Baker sprach sich noch am 21.6.1991 in Belgrad für einen Fortbestand Jugoslawiens aus, ähnlich wie die EG, die Jugoslawien noch am 24.6.1991 einen großzügigen Kredit zusagte. Siegl, W. 1993, S. 829 ; Sundhaussen, H. 2012, S. 309.
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Dagegen stand, dass Mock seit Anfang 1991 mehrere Initiativen zur Internationalisierung der Jugoslawien-Krise gesetzt hatte. Diese sollten genau jene Eskalation der Gewalt, zu der es dann tatsächlich kam, verhindern. Die Vorschläge Mocks wurden nur zu einem Teil und wenn, dann meist nur halbherzig aufgegriffen. Schon im Mai 1991 hatte er die Entsendung einer Friedenstruppe63 und die Einsetzung eines internationalen Weisenrates – gemeint war eine Vermittlungsmission, bestehend aus einer kleinen Gruppe angesehener, aber nicht mehr aktiver Staatsmänner vornehmlich aus EG-Staaten – angeregt.64 Dieser sollte den innerjugoslawischen Dialog aufrechterhalten, die Rechte der Minderheiten schützen und Sicherheitsmechanismen zur Vermeidung von Gewalt entwickeln.65 Mock kritisierte die seiner Meinung nach westliche Ignoranz der Problematik in Jugoslawien66 und befürchtete bereits im Mai 1991, »dass sich Europa erst dann wirklich ernsthaft für Jugoslawien interessiert, wenn das Haus brennt«67. Nachdem Deutschlands Außenminister Genscher im Juni 1991 den KSZE-Mechanismus in Gang gesetzt hatte, setzte Mock die Einbeziehung slowenischer und kroatischer Vertreter durch.68 Am 25. Juni 1991 erklärten Slowenien und Kroatien ihre Unabhängigkeit. In den frühen Morgenstunden des 27. Juni begannen die militärischen Auseinandersetzungen zwischen der jugoslawischen Volksarmee und der slowenischen Territorialverteidigung, deren Einheiten entschlossenen Widerstand leisteten. Österreich wurde als Nachbarland unmittelbarer Zeuge der Kämpfe. Es kam zu mehrfachen Grenzverletzungen am Boden und in der Luft entlang der österreichischen Grenze. Mock tat alles, um zu einem raschen Ende des Blutvergießens beizutragen, insbesondere, als er über Ersuchen des niederländischen EG-Ratsvorsitzenden Hans van den Broek die slowenische Führung, mit der er in enger Fühlung stand, zu überzeugen half, einem Waffenstillstand zuzustimmen, der den Serben einen Abzug unter Mitnahme sämtlicher schwerer Waffen gestattete.69 Über Vermittlung der EG kam es dann am 7. Juli mit der sogenannten 63 Bericht über ein Interview in der Sendung »Zeit im Bild« des ORF über die Situation in Jugoslawien, Wien am 4. Mai 1991, in : ÖaD, Jugoslawische Krise, Dok. Nr. 51, S. 125. 64 Außenpolitischer Bericht 1991 (Jahrbuch der österreichischen Außenpolitik), Wien o. J. [1992], S. 127 ; Siegl, W. 1993, S. 830. 65 Sein Vorschlag eines Vermittlungsausschusses von drei europäischen »Weisen« wurde anlässlich der KSZE-Konferenz in Berlin im Juni 1991 von US-Außenminister James Baker aufgegriffen, doch lehnte man auch diesem gegenüber von Seiten Belgrads den Vorschlag ab. Vgl. Mock, Alois : »… die Interessen unseres Landes vertreten«, in : Demokratie und Geschichte. Jahrbuch des Karl von Vogelsang-Instituts zur Erforschung der Geschichte der christlichen Demokratie in Österreich 5 (2001), S. 39–63, hier S. 47 f. 66 »Unglaubliche Überheblichkeit«. Mock geißelt westliche Ignoranz gegenüber Jugoslawien – Wien ergreift Initiative, in : Der Standard vom 6. Mai 1991, S. 3. 67 Wacht Europa erst auf, wenn Jugoslawien brennt ?, in : Neues Volksblatt vom 23. Mai 1991, S. 3. 68 Genscher, Hans-Dietrich : Erinnerungen, Berlin 1995, S. 934–936. 69 Mock, A. 2001, S. 48.
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Erklärung von Brioni zu einer solchen Vereinbarung. Unmittelbar darauf zog sich die Volksarmee aus Slowenien zurück, um sich analog den Zielen Miloševićs nun auf die Durchsetzung der serbischen Interessen in Kroatien und Bosnien-Herzegowina zu konzentrieren. Das österreichische Nachrichtenmagazin Profil, Mock gegenüber an sich durchaus kritisch eingestellt, schrieb am 8. Juli 1991 : »Man kann Alois Mock […] nicht eine gewisse Voraussicht absprechen. Frühzeitig hat er vor der sich anbahnenden Katastrophe in Jugoslawien gewarnt, sehr früh auch politische Aktionen der EG gefordert.«70
VI. Das Ringen um die Anerkennung Sloweniens und Kroatiens Die Anwendung massiver militärischer Gewalt gegen eine Teilrepublik machte aus Sicht Mocks endgültig klar, dass es für ein gemeinsames Jugoslawien keine Basis mehr gab. Er sprach sich nun offen für die Anerkennung Sloweniens und Kroatiens durch Österreich aus, möglichst gemeinsam mit anderen Staaten, um dadurch eine Internationalisierung der Krise zu bewirken. Die Anerkennung war für ihn Teil seiner Gesamtstrategie zur Erreichung einer effektiven Friedensregelung. Als die Kämpfe in Kroatien ab Spätsommer 1991 militärisch eskalierten und Zehntausende Kroaten aus den serbisch kontrollierten Gebieten Kroatiens vertrieben wurden, wäre er auch zu einem österreichischen Alleingang bereit gewesen, wobei er davon ausging, dass sich andere Länder der österreichischen Anerkennung anschließen würden. Doch stieß er mit seiner Haltung schon innerösterreichisch auf Widerstand, herrschte doch innerhalb der österreichischen Bundesregierung Dissens in der Anerkennungsfrage, weniger, was das Faktum der Anerkennung an sich, sehr wohl aber, was den opportunen Zeitpunkt, diese auszusprechen, betraf. Denn der größere Koalitionspartner SPÖ mit Bundeskanzler Vranitzky an der Spitze lehnte einen österreichischen Vorstoß unter Berufung auf die Neutralität strikt ab, sodass trotz des wiederholten Drängens des Außenministers im Sommer und Herbst 1991 kein Regierungsbeschluss zustande kam.71 Mock hatte, einer Entschließung des österreichischen Nationalrats vom 8. Juli 1991 folgend,72 im Ministerrat vom 3. September 70 Die kleinen Freuden des Alois M., in : Profil vom 8. Juli 1991, S. 54–56, hier S. 54. 71 Anschaulich prallten die unterschiedlichen Haltungen innerhalb der Regierung in den Debatten im österreichischen Nationalrat vom 8. Juli und 17. September 1991 aufeinander. Zu den Erklärungen Vranitzkys und Mocks im Nationalrat vgl. Sten. Prot. NR., XVIII. GP, 35. Sitzung, 8. Juli 1991, S. 3279–3286 ; Sten. Prot. NR., XVIII. GP, 38. Sitzung, 17. September 1991, S. 3730–3737. 72 Dort hatte es geheißen : »Die Bundesregierung wird ferner ersucht, unter Berücksichtigung der internationalen Position Österreichs und bei Prüfung des Standpunktes der EG Slowenien und Kroatien anzuerkennen, wenn die völkerrechtlichen Voraussetzungen hiefür vorliegen und wenn dadurch nicht
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1991 den Antrag gestellt, Kroatien und Slowenien als unabhängige Staaten anzuerkennen, und zwar im Einklang mit anderen Staaten, um der Anerkennung das entsprechende Gewicht zu verleihen. Der genaue Zeitpunkt wäre noch offengeblieben. Es hätte sich dabei also um eine Art Vorratsbeschluss gehandelt, was die SPÖ nicht wollte, hätte er doch Mock freie Hand gegeben. Nach dem Ausbruch von Kampfhandlungen im großen Stil in Kroatien wurde Mock im Rahmen des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen aktiv. Dabei kam ihm zugute, dass Österreich gerade einen der nichtständigen Sitze im Sicherheitsrat innehatte. Am 19. September beantragte Österreich gemeinsam mit Kanada die Erörterung der Lage. Am 25. September kam es nach Überwindung zahlreicher Widerstände zur ersten Resolution des Sicherheitsrates über Jugoslawien, es handelte sich um die Verhängung eines Waffenembargos.73 Diplomatisch gesehen stellte die Resolution einen Durchbruch dar. Dementsprechend sah Mock den österreichischen Vorstoß, den Sicherheitsrat mit der Jugoslawien-Problematik zu befassen, voll bestätigt. In seiner Rede vor dem Sicherheitsrat hatte er einmal mehr das Recht auf Selbstbestimmung als Voraussetzung für eine friedliche Lösung der Krise unterstrichen. Genauso hatte er aber auch die Integrität der bestehenden Grenzen zwischen den Teilrepubliken betont,74 ein Fingerzeig im Hinblick auf Kroatien, war doch bekannt geworden, dass Franjo Tudjman und Slobodan Milošević, zuletzt im März 1991, über eine mögliche Aufteilung Bosnien-Herzegowinas direkt verhandelt hatten und kroatische Regierungskreise noch immer mit einem Anschluss der Herzegowina liebäugelten. Seit dem Frühsommer 1991 hatte eine andere, für Österreich genauso wie für die BRD unangenehme Entwicklung eingesetzt. In den Staatskanzleien Westeuropas begannen historisch bedingte Ressentiments gegenüber der Politik der Außenämter in Bonn und Wien Platz zu greifen. Aus Belgrad wurden diese geschickt befeuert. So wurde schon im Frühjahr 1991 in der Zeitung Politika zu den zahlreichen Initiativen Mocks gefragt : »Warum macht das alles Österreich ?« Das Blatt lieferte auch gleich die Antwort : »Vielleicht wegen der Möglichkeit des Zugangs zur Adria« ;75 die Zeitung »Borba« wiederum unterstellte Mock »historische Aspirationen nach Einfluss in diesem Teil des ehemaligen Imperiums«76. Österreich machte in seiner Zurückein sich allenfalls konstruktiv entwickelnder Verhandlungsprozess gestört wird.« Entschließung des Nationalrates betreffend die politische Lage in Jugoslawien nach den Unabhängigkeitserklärungen Sloweniens und Kroatiens, 8. Juli 1991, Sten. Prot. NR, XVIII. GP, 218 der Beilagen. 73 Siegl, W. 1993, S. 836. 74 Erklärung des Bundesministers für auswärtige Angelegenheiten im Sicherheitsrat, New York, am 25. September 1991, in : ÖaD, Jugoslawische Krise, Dok. Nr. 176, S. 314 f. 75 Politika, 20. Mai 1991, zitiert nach : Bundeskanzleramt Wien, Bundespressedienst, Auslandspresseschau vom 28. Mai 1991. 76 Zitiert nach : Die kleinen Freuden des Alois M., in : Profil vom 8. Juli 1991, S. 54–56, hier S. 54.
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weisung der nach Ausbruch der Kämpfe in Slowenien auch offiziell von Belgrad erhobenen Vorwürfe darauf aufmerksam, dass die breite Ablehnung des Versuchs, die slowenische Unabhängigkeit durch einen brutalen Militäreinsatz zu verhindern, nichts mit einer Kampagne gegen Jugoslawien oder gar mit behaupteten Nostalgien österreichischer nationaler oder historisch bedingter Interessen zu tun habe. Es gehe vielmehr um die Ablehnung der Anwendung von Gewalt und um den Respekt vor demokratischen Entscheidungen, betonte man am Ballhausplatz. Doch konnten alle Entgegnungen nicht verhindern, dass die Belgrader Medien weiter ihre Kampagne verstärkten, wonach Österreich beschuldigt wurde, aus einer revisionistischen Politik heraus gemeinsam mit Deutschland und Ungarn Jugoslawien zerstören zu wollen, um sich wieder den Zugang zur Adria und Einflusszonen im Mittelmeerraum zu sichern.77 So realitätsfern diese Behauptungen auch waren, fanden sie doch in jenen EG-Staaten, die glaubten, am jugoslawischen Gesamtstaat festhalten zu sollen, eine gewisse Resonanz. So schrieb im Sommer 1991 etwa La Libre Belgique, dass ein möglicher österreichischer EG-Beitritt in einigen Hauptstädten Befürchtungen auslöse, lasse doch »[…] die unzweideutige Weise, in der Wien seine Sympathien für die abtrünnigen Provinzen Slowenien und Kroatien zeigt, […] manche sich fragen, welche Rolle Österreich im künftigen Europa wirklich spielen will«78. Der seit Ende Juni 1991 amtierende neue österreichische Vizekanzler und ÖVPObmann Erhard Busek versuchte, bei einer Goodwilltour durch Belgien, Frankreich und Großbritannien in diskreten Kontakten mit Vertretern nahestehender Parteien vertrauensbildend um Sympathie in der Anerkennungsfrage zu werben. Nicht zuletzt ging es ihm darum, im Hinblick auf die österreichischen Beitrittsbestrebungen zur EG Irritationen zu vermeiden. Dies erschien auch deshalb sinnvoll, als das zur selben Zeit veröffentlichte Avis der EG-Kommission zum österreichischen Beitritt zwar einige Kritikpunkte enthielt, im Großen und Ganzen aber für Österreich günstig ausgefallen war. Doch stieß Busek sowohl im französischen Senat als auch im belgischen Außenministerium auf eine eher kühle Resonanz. Am schärfsten reagierte der konservative britische Außenminister Douglas Hurd. Er warf seinem Gesprächspartner vor, Wien wolle Slowenien als zehntes Bundesland annektieren und erklärte : »Österreich will nur seine Macht auf dem Balkan wieder ausbauen«, worauf ihn Busek höflich, aber bestimmt ersuchte, das britische Archiv aus dem Ersten Weltkrieg rasch wieder zu schließen.79 Auch der bei seinem politischen Agieren stets die historischen Tiefendimensionen mit bedenkende deutsche Bundeskanzler Helmut Kohl nahm diese Sensibilitäten 77 Siegl W. 1993, S. 832 f. 78 Zitiert nach : Eichtinger, M./Wohnout, H. 2008, S. 250. 79 Unveröffentlichtes Interview von Helmut Wohnout mit Erhard Busek, 19. Dezember 2012. Vgl. auch : Weltkriegsrelikte, in : Profil vom 3. Dezember 2012, S. 14.
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seiner Partner in der EG wahr und wollte sie keineswegs bagatellisieren. Im CDUBundesvorstand, dem engsten Führungskreis seiner Partei, thematisierte er die Problematik, gemeinsam mit Österreich die Speerspitze jener zu bilden, die sich für die Unabhängigkeit der jugoslawischen Nachfolgestaaten starkmachten. Er räumte Ende September ein, Deutschland sei im Sommer in eine »Isolierung« geraten, und setzte fort, dass »[…] sich in der Jugoslawien-Diskussion eigentlich die Fronten der Kriegsteilnehmer von 1941 gegenüberstanden. […] In einer Linienführung von Österreich, Italien und Deutschland lässt sich dieses Thema international schwer handhaben.«80 Wie schon bei der Frage der deutschen Vereinigung kam es zwischen Kohl und Mitterrand zu Spannungen, unterstellte dieser doch, dass sich Deutschland auf dem Balkan Einflusssphären sichern wolle.81 Kohl bemühte sich zuallererst, mit Frankreich wieder einen Gleichklang zu finden, umso mehr, als in seiner Diktion alles, was in den Pariser Vorortverträgen festgelegt worden sei, im Hinblick auf die Territorien des unrettbaren jugoslawischen Gesamtstaates nun wieder zur Disposition stand.82 Dies implizierte, einen deutschen Alleingang zu unterlassen. Kohl war froh, als nach der Beschießung Dubrovniks durch die Serben sich Mitte Oktober langsam die Stimmung zu drehen und eine gemeinsame EG-Linie in der Anerkennungsfrage abzuzeichnen begann. Dafür war er bereit, die Anerkennung noch einige Zeit aufzuschieben.83 Am 10. Dezember verständigte sich die österreichische Bundesregierung darauf, Kroatien und Slowenien anzuerkennen, »wenn dies im Einklang mit dem Zeitplan anderer europäischer Staaten steht«84. Am 16. Dezember 1991 wurde seitens der EG-Außenminister der Tag der Anerkennung der Unabhängigkeit der Teilrepubliken unter der Voraussetzung der Einhaltung gewisser demokratischer, rechtsstaatlicher und menschenrechtlicher Kriterien auf den 15. Jänner 1992 festgelegt. Schließ80 Kohl, H. 2012, S. 312 (Sitzung 23. September 1991). 81 Noch 1993 erklärte Mitterrand einem Gesprächspartner gegenüber : »In Wirklichkeit betrachtet sich Deutschland als legitimen Erben des österreichisch-ungarischen Reiches und greift auch die alte Ranküne gegen Serbien wieder auf.« Zitiert nach Schwarz, H.-P. 2012, S. 683. 82 Kohl, H. 2012, S. 313 f. (Sitzung 23. September 1991). 83 »[…] haben wir in den letzten 14 Tagen eine entscheidende Verbesserung erreicht. Wir können jetzt davon ausgehen, dass die Deutschen nicht im Alleingang zur Frage der Anerkennung kommen, denn die Anerkennung ist unausweichlich, so dass es jetzt mindestens eine Mehrheit dafür gibt. Ich würde im Moment sogar sagen, dass wir eine EG-Entwicklung bekommen. […] Wir standen bis vor 14 Tagen vor der misslichen Tatsache, dass bei denen, die bereit waren, diesen Schritt zu tun, sich praktisch die Linie des Jahres 1941 wiederfand, also die Deutschen, die Österreicher, die Italiener und der Vatikan, auch noch Ungarn. Das war nicht sehr günstig für die weitere Entwicklung. […] Die Lage ist ungewöhnlich komplex und alle, die mich drängen, sofort anzuerkennen, müssen fragen, was das für Konsequenzen am Tag danach hat. Die Konsequenzen werden aber völlig andere sein, wenn wir zu einem einmütigem Votum der EG kommen.« Kohl, H. 2012, S. 332 (Sitzung 14. Oktober 1991). 84 Außenpolitischer Bericht 1991 (Jahrbuch der österreichischen Außenpolitik), Wien o. J. [1992], S. 130.
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lich war es dann doch die deutsche Regierung, die vorpreschte und sich in einer Art Alleingang, vor dem Kohl noch zwei Monate zuvor zurückgeschreckt war, bereits am 23. Dezember 1991 auf die Anerkennung Sloweniens und Kroatiens festlegte. Damit war innerhalb der EG ein politisches Präjudiz geschaffen, das auch für Österreich den Weg frei machte. Am 15. Jänner 1992 beschloss der Ministerrat in Wien die Anerkennung, der Mock die sofortige Umwandlung der Generalkonsulate in Botschaften folgen ließ. Bereits am 18. Jänner besuchte Mock Ljubljana und Zagreb und wurde in beiden Städten von der Bevölkerung begeistert empfangen.85 Der deutsche Vorstoß hatte auch die österreichische Anerkennung möglich gemacht. Im Hinblick auf die ausbrechende Krise in Bosnien-Herzegowina – sie überschreitet den hier zu behandelnden Betrachtungszeitraum – sei nur so viel gesagt : Mock nahm auch hier die Rolle eines Erklärers und Warners ein. Mock erkannte schon im Herbst 1991 die wachsende Kriegsgefahr, bereits im Oktober hatte er die präventive Entsendung von UN-Friedenstruppen vorgeschlagen. Er bemühte sich 1992 um die Schaffung von Sicherheitszonen für die Bevölkerung und er verlangte nach der bewaffneten Eskalation und den einsetzenden systematischen Vertreibungen der muslimischen Bevölkerung schon Ende 1992 die zwangsweise Durchsetzung der Flugverbotszone über Bosnien-Herzegowina sowie ein militärisches Eingreifen der USA als einzige Möglichkeit, dem Völkermord Einhalt zu gebieten.86 Die bewaffnete Intervention der USA erfolgte bekanntlich erst 1995 und führte mit dem Vertrag von Dayton im November 1995 zum Ende des Blutvergießens.
VII. Projekte einer regionalen Zusammenarbeit in Mitteleuropa und kulturpolitische Initiativen Regionale Kooperationen im mitteleuropäischen Raum reichen bis in die späten 1970er-Jahre zurück. Sie wurden erstmals auf der Ebene der Länder und Regionen praktiziert. Den Anfang machte die Arbeitsgemeinschaft (ARGE) Alpen-Adria, die 1978 in Venedig ins Leben gerufen wurde. Ursprünglich gehörten ihr die italienische autonome Provinz Friaul-Julisch Venetien, die autonome Region Trentino-Südtirol, die Bundesländer Kärnten, Oberösterreich und Steiermark sowie die jugoslawischen Teilrepubliken Slowenien und Kroatien an. Im Laufe der Zeit kamen noch weitere Mitglieder hinzu.87 War bis 1989 eine institutionelle Kooperation über die politi85 Eichtinger, M./Wohnout, H. 2008, S. 223 f. 86 Außenpolitischer Bericht 1992 (Jahrbuch der österreichischen Außenpolitik), Wien o. J. [1993], S. 96– 104. 87 Nećak, Dušan : Die Alpen-Adria-Region 1945–1991, in : Moritsch, Andreas (Hg.) : Alpen-Adria. Zur Geschichte einer Region, Klagenfurt/Ljubljana/Wien 2001, S. 485–517, hier S. 512.
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schen Systemgrenzen hinweg (selbst wenn es sich wie im Falle Jugoslawiens nicht um ein Mitglied des Warschauer Pakts handelte) nur auf der Ebene der Länder, Provinzen bzw. Teilrepubliken möglich, so ergaben sich mit dem Fall der Grenzen 1989 neue Möglichkeiten einer regionalen mitteleuropäischen Kooperation auch auf gesamtstaatlichem Niveau. Unter dem Namen Quadragonale (Österreich, Italien, Jugoslawien, Ungarn) wurde am 11./12. November 1989, also nur wenige Tage nach dem Fall der Berliner Mauer, in Budapest ein solches Forum der Zusammenarbeit gegründet. Später, nach der Erweiterung um die Tschechoslowakei und Polen, firmierte es unter den Namen Pentagonale bzw. Hexagonale. Schließlich wurde es zur Zentraleuropäischen Initiative (Central European Initiative – CEI) mit inzwischen 18 Mitgliedern. Seine Anfänge gingen auf ein Treffen Mocks mit dem ungarischen Vizepremier- und späteren Premierminister Péter Medgyessy zurück, das im März 1989 in Győr stattgefunden hatte. Mock sah in einer Kooperation zwischen kommunistischen sowie neutralen bzw. nicht paktgebundenen und EG-Staaten eine Möglichkeit, die Hermetik der kommunistischen Systeme aufzubrechen und damit ihre Legitimität infrage zu stellen. Ab dem Sommer 1989 wirkte sich die an Dynamik gewinnende Erosion der kommunistischen Regime auch hier aus, wobei die Initiative auf Italien überging. Insbesondere der italienische Außenminister Gianni De Michelis hatte dabei geopolitische Überlegungen einer engeren und längerfristigen politischen und handelspolitischen Kooperation im Auge. Er wollte Italien im mitteleuropäischen Raum verstärkt positionieren, schon um diesen nicht dem deutschen Einfluss anheimfallen zu lassen. Der deutschen und der französischen Politik blieben die italienischen Bestrebungen nicht verborgen. Gegenüber Bundeskanzler Kohl sprach Frankreichs Staatspräsident Mitterrand im Februar 1990 davon, dass Italien eine »Föderation« mit Ungarn, Österreich und Jugoslawien eingehen wolle. Angesichts der von beiden zu diesem Zeitpunkt schon anvisierten politischen Union musste ihnen der italienische Vorstoß, die kleineren in der Mitte Europas gelegenen Staaten außerhalb der EG politisch in einer Art Sonderverhältnis stärker an sich zu binden, als ein »gefährlicher Weg« erscheinen.88 Noch ehe man in den Geruch kam, mit Italien eine Gegenstrategie gegenüber möglichen deutschen Ambitionen zu entwickeln, hatte Österreich seit dem Sommer 1989 eine Haltung eingenommen, die der im Entstehen begriffenen Quadragonale Grenzen ihrer politischen Möglichkeiten setzte. Mock wollte sich nicht von der ita88 Gespräch des Bundeskanzlers Kohl mit Staatspräsident Mitterrand in Paris, 15. Februar 1990, in : Deutsche Einheit. Sonderedition aus den Akten des Bundeskanzleramtes 1989/90. Dokumente zur Deutschlandpolitik. Herausgegeben vom Bundesministerium des Inneren unter Mitwirkung des Bundesarchivs. Bearbeitet von Hans Jürgen Küsters und Daniel Hofmann, München 1998, Dok. Nr. 187, S. 842–852, hier S. 849 f.
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lienischen Außenpolitik instrumentalisieren und in ein mögliches Spannungsfeld mit der Bundesrepublik Deutschland hineinziehen lassen. Das enge Verhältnis zur Bundesrepublik Deutschland war für ihn eine Grundkonstante seiner Außenpolitik, noch über das der österreichischen Diplomatie immanente Prinzip der »Nachbarschaftspolitik« hinausreichend. Gerade in Anbetracht des im Juli 1989 erfolgten Beitrittsansuchens zur EG wollte er dieses keinesfalls aufs Spiel setzen.89 Daher blieb es im Rahmen der Quadragonale auch bei einer lockeren, projektbezogenen Zusammenarbeit auf den Gebieten des Umweltschutzes, des Transportwesens, der Telekommunikation und der kulturellen Kooperation. Für Mock handelte es sich bei diesem Forum der Kooperation um ein komplementäres Element seiner Außenpolitik, in deren Zentrum die auf volle EG-Mitgliedschaft ausgerichtete Integrationspolitik stand. »Innereuropäische Gleichgewichtsstrategien und Ententen gehören heute eben endgültig der Vergangenheit an.«90 So argumentierte Mocks Kabinettschef Emil Stafflmayr nach außen hin, weshalb Österreich eine lockere, projektbezogene Zusammenarbeit bei sich aus der geografischen Nachbarschaft ergebenden Sachfragen den weitergehenden italienischen Plänen, die auf Schaffung eines organisatorischen Rahmens abgezielt hatten, vorzog. Letztlich blieb es ein »loser Zusammenschluss interessierter Staaten«, bei dem sich die Zusammenarbeit »selektiv auf bestimmte Sektoren« beschränkte.91 Aus der Perspektive der Außenpolitik Mocks handelte es sich um »eine Zusammenarbeit, welche die frei gewordenen Staaten Ost- und Mitteleuropas an die im nichtkommunistischen Europa gewachsenen Integrationsmodelle heranführen sollte. Für Österreich stellt die Pentagonale außerdem den Versuch dar, seine schon bisher intensiv betriebene Nachbarschaftspolitik dort zu multilateralisieren, wo eine solche Multilateralisierung von der Sache her sinnvoll ist.«92
Ungeachtet dessen erschien dieses Gesprächsforum vielen, wenn auch aus unterschiedlichen Motivlagen, weiterhin suspekt. Vermuteten die einen dahinter den Versuch der Schaffung eines Gegengewichts zum wiedervereinigten Deutschland, 89 Brix, Emil : Die Mitteleuropapolitik von Österreich und Italien im Revolutionsjahr 1989, in : Gehler, Michael/Guiotto, Maddalena (Hg.) : Italien, Österreich und die Bundesrepublik Deutschland in Europa : Ein Dreiecksverhältnis in seinen wechselseitigen Beziehungen und Wahrnehmungen von 1945/49 bis zur Gegenwart (Arbeitskreis Europäische Integration. Historische Forschungen. Veröffentlichungen 8), Wien/Köln/Weimar 2012, S. 455–467, hier S. 459–466. 90 Staffelmayr, Emil : Die Dynamik der Entwicklung in Europa – Die Pentagonale als Beispiel einer neuen Nachbarschaftspolitik Österreichs, in : Khol, Andreas/Ofner, Günther/Stirnemann, Alfred (Hg.) : Österreichisches Jahrbuch für Politik 1990, Wien/München 1991, S. 711–722, hier S. 721. 91 Brix, E. 2012, S. 462. 92 Staffelmayr, E. 1991, S. 771.
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glaubten andere darin nostalgische Großmachtsattitüden der österreichischen Außenpolitik oder gar ein Alternativkonzept zum integrierten Europa zu erkennen. Gerade die letzteren Einwände illustrieren anschaulich, wie sehr Österreich gefordert war, in der Kooperation mit den sich herausbildenden neuen Demokratien sensibel mit seinem historischen Erbe umzugehen. In der Überwindung bilateraler Altlasten, die oft lange zurückreichten, sollte auch eines der langfristigen Verdienste der aus der Quadragonale hervorgegangenen Zentraleuropäischen Initiative liegen. Sie wurde, wie es Erhard Busek formulierte, in den 1990er-Jahren gleichermaßen »Begegnungsort und Trainingscamp für Multilateralität […] ; schließlich ist die Kenntnis voneinander in dieser Region nicht übertrieben gediehen. Man kennt eher die Konflikte und Verwerfungen, als die Gemeinsamkeiten und Chancen.«93
Mock sah die aus der Geschichte herrührenden Hypotheken ähnlich und trachtete daher gerade bei den von ihm gesetzten kulturpolitischen Schwerpunkten danach, an kulturelle Gemeinsamkeiten im mitteleuropäischen Raum anzuknüpfen. Dabei war er sich durchaus der Risken bewusst, die die solcherart gesetzten Initiativen in sich bargen : Sie konnten nur allzu leicht den Anlass für zunehmende Befürchtungen hinsichtlich einer Wiederkehr österreichischer Hegemonialansprüche im Donauraum bieten, wie es dann auch in der Jugoslawien-Krise ob der österreichischen Haltung geschah. Mock kam bei seinen kulturpolitischen Initiativen zugute, Gesprächspartner und Berater an seiner Seite gehabt zu haben, die über das erforderliche Fingerspitzengefühl verfügten.94 Zu nennen sind dabei etwa der Schriftsteller und Präsident des PEN-Klubs György Sebestyén, aber etwa auch Wolfgang Kraus oder der langjährige Leiter der kulturpolitischen Sektion des Außenministeriums Bernhard Stillfried. Unter ihrer Mitwirkung wurde die Idee der »Österreich-Bibliotheken« Wirklichkeit,95 neue Kulturforen wurden gegründet, österreichische Lektoren und Sprachlehrer entsandt, die Gründung zweisprachiger Schulen unterstützt oder der Aufbau von wissenschaftlichen Kooperationspartnerschaften forciert. Last, but not least entstanden bilaterale Historikerkommissionen zur Aufarbeitung kontrovers be93 Busek, E. 1997, S. 147. 94 Wohnout, Helmut : Die Gunst der Stunde genutzt. Alois Mocks Rolle im Jahr 1989, in : Europäische Rundschau. Vierteljahreszeitschrift für Politik, Wirtschaft und Zeitgeschichte 2/37 (2009), S. 83–88, hier S. 87. 95 Zur kulturpolitischen Relevanz der Österrreich-Bibliotheken vgl. Slawinski, Ilona : Die ÖsterreichBibliotheken als Instrument der kulturellen Vernetzung, in : Breitenfellner, Helene/Škofljanec, Mateja (Hg.) : Avstrija-Slovenija : kulturni stiki. Österreich-Slowenien : kulturelle Begegnungen. Internationales Symposium anlässlich des 20-jährigen Jubiläums der Österreich-Bibliothek Maribor 25.–27.11.2010, Maribor 2012, S. 149–154.
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urteilter Konfliktthemen der jüngeren Geschichte. Erwähnung verdient vor allem die von Mock gemeinsam mit seinem tschechoslowakischen Kollegen Jiří Dienstbier im Rahmen der beiden Akademien der Wissenschaften ins Leben gerufene Historikerkommission zwischen Österreich und der Tschechoslowakei,96 galten doch die unterschiedlichen Bewertungen der jüngeren Vergangenheit als ein Mitgrund für die belasteten bilateralen Beziehungen zwischen beiden Ländern vor 1989.97 Die Historikerkommission hatte immerhin ein Jahrzehnt lang Bestand, führte eine Reihe von Tagungen in Prag, Bratislava und Wien durch98 und schuf so die Voraussetzungen für weiterführende Initiativen, wie die Kooperationen im Rahmen der »Waldviertel-Akademie« oder die grenzüberschreitenden Landesausstellungen »Österreich. Tschechien. Geteilt – getrennt – vereint« zwischen Niederösterreich und der Region Vysočina im Jahr 2009 sowie »Alte Spuren – Neue Wege« zwischen Oberösterreich und der Region Jihočeský im Jahr 2013.
VIII. Fazit Im Zuge des Epochenjahres 1989 hatte Mock mit der von ihm initiierten Aktion des gemeinsamen Durchtrennens des Eisernen Vorhangs mit dem ungarischen Reformer Gyula Horn vom 27. Juni die weitere historische Entwicklung unmittelbar beeinflusst, quasi »der Geschichte in die Speichen gegriffen«. Von diesem Moment abgesehen konnte er zwar als Außenminister eines neutralen, wenn auch geopolitisch an einer Schlüsselstelle gelegenen Landes zu keiner Zentralfigur eines Geschehens, dessen Fäden woanders zusammenliefen, werden. Sein dichtes Netzwerk an internationalen Kontakten, das er nicht nur als Außenminister, sondern bereits seit 1980 in seiner Funktion als Präsident der EDU und zeitweilig auch der Internationalen Demokratischen Union (IDU) geknüpft hatte, machte es ihm aber möglich,
96 Die Idee zur Bildung einer bilateralen Historikerkommission entstand bereits beim ersten Zusammentreffen der beiden Außenminister anlässlich des symbolischen Durchschneidens des Grenzzaunes am 17. Dezember 1989. CSSR kündigt Visumfreiheit für Österreicher an. Dienstbier : Visafreiheit ist nur der erste Schritt – CSSR will sich »vollständig öffnen«, APA-Bericht 0155 5 AI vom 17. Dezember 1989. 97 Suppan, Arnold : Österreicher und Tschechen. Missgünstige Nachbarn ?, in : Karner, S./Stehlik, M. 2009, S. 36–47, hier S. 45. 98 Zu den Ergebnissen, gerade im Hinblick auf die Problematik der »Vertreibungen« nach dem Zweiten Weltkrieg, vgl. u. a. : Plaschka, Richard G./Haselsteiner, Horst/Suppan, Arnold/Drabek, Anna M. (Hg.) : Nationale Frage und Vertreibung in der Tschechoslowakei und Ungarn 1938–1945. Aktuelle Forschungen (Österreichische Akademie der Wissenschaften. Philosophisch-historische Klasse. Historische Kommission. Zentraleuropa-Studien 3), Wien 1997.
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die Meinungsbildung, etwa in der US-Administration, mit zu beeinflussen.99 Dies galt für die Deutsche Frage nach dem Mauerfall genauso wie im Zusammenhang mit dem Zerfall Jugoslawiens. Es sei etwa auf den Meinungsumschwung des einflussreichen Unterstaatssekretärs Lawrence Eagleburger hingewiesen, der mit Mock in engem Kontakt stand. Er war zwischen 1977 und 1981 Botschafter in Belgrad gewesen. Aufgrund seiner anfangs explizit proserbischen Haltung trug er den Spitznamen »Lawrence von Serbien«, was sich aber im Verlauf der Jugoslawien-Krise vollständig ändern sollte.100 Mitunter wurde die Rolle Österreichs anno 1989 in der Eigenwahrnehmung des Landes etwas überschätzt. Doch auch bei einer nüchternen Analyse lässt sich sagen, dass Mock mit seiner von ideologischen, kulturpolitischen und humanitären Erwägungen getragenen Politik einer strikten Befürwortung und Begünstigung der in Ostmitteleuropa in Gang gekommenen Reform- und Umwälzungsprozesse Österreich einen zeitweiligen Sympathievorsprung in den neuen Demokratien Ostmitteleuropas verschaffen konnte. Seine Haltung zur deutschen Einigung erwies sich als zumindest realpolitisch zutreffend. Seine erstaunlich enge Anlehnung an die Politik seines Parteifreundes Helmut Kohl machte sich aus Mocks Sicht spätestens während der kritischen Phase der abschließenden österreichischen EU-Beitrittsverhandlungen im Februar/März 1994 bezahlt. Erfuhr das Agieren Mocks 1989 allgemein Respekt und Anerkennung, so blieb das Urteil über seine Politik, genauso wie über jene seines deutschen Amtskollegen Genscher, in der Jugoslawien-Krise bis heute kontrovers. Mock selbst hat sein Verhalten in der Frage der Anerkennung der Unabhängigkeit der jugoslawischen Teilrepubliken stets damit gerechtfertigt, dass der Krieg nicht eine Konsequenz der Politik der Anerkennung gewesen sei, sondern die lange hinausgezögerte Anerkennung erst eine Folge des bereits voll im Gang befindlichen Krieges. Der Auslöser des Krieges sei vielmehr im Beschluss der serbischen Führung, zu gewaltsamen Mitteln zu greifen und die Volksarmee einzusetzen, zu suchen. Zweifellos hatte Mock früher als andere die Unausweichlichkeit der auf eine Desintegration zusteuernden inneren Entwicklung Jugoslawiens erkannt. Seine Politik war darauf ausgerichtet, diesen Prozess durch rechtzeitige Maßnahmen der internationalen Staatengemeinschaft nicht außer Kontrolle geraten zu lassen. Dass sein Agieren, wie ihm bisweilen unterstellt wurde, davon geleitet war, geopolitische Vorteile für Österreich am Balkan zu lukrieren oder gar an alte Großmachtfantasien anzuknüpfen, dafür findet sich aufgrund der mittlerweile der Forschung zur Verfügung stehenden Quellen kein wie auch immer gearteter Anhaltspunkt. 99 Information von Michael Gehler, basierend auf dessen einschlägigen Archivstudien, gegenüber dem Verfasser, 9. November 2012. 100 Vgl. Sundhaussen H. 2012, S. 309.
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In einer jüngst erschienenen umfangreichen Geschichte Jugoslawiens in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts geht der ausgewiesene deutsche Südosteuropa-Historiker Holm Sundhaussen ausführlich auf die Anerkennungsfrage ein, wobei das von ihm in Bezug auf die Politik Deutschlands und Genschers Gesagte vielfach auch auf Österreich und Mock bezogen werden kann. Sundhaussen sieht die deutsche Anerkennungsstrategie differenziert und teils auch kritisch, insbesondere, was die mangelnde Abstimmung des deutschen Vorstoßes vom 23. Dezember 1991 innerhalb der EG betrifft. Doch hält er klipp und klar fest, dass der Vorwurf, die Anerkennung Sloweniens und Kroatiens habe den Zerfall Jugoslawiens beschleunigt oder gar ausgelöst, auf einer »kontrafaktischen Argumentation« beruhe, und setzt fort : »Tatsache ist, dass die Kriegshandlungen in Kroatien (und Slowenien) nicht durch die Anerkennung ausgelöst worden waren, sondern umgekehrt : dass die praktizierte Gewalt die Anerkennungspolitik beschleunigt hatte. Dass damit die Weichen für den Krieg in Bosnien-Herzegowina gestellt wurden, ist weder beweisbar noch widerlegbar, aber sehr unwahrscheinlich, wie das serbische Vorgehen in Kroatien (Beginn des Krieges lange vor der Anerkennung) gezeigt hatte.«101
Genau das, nämlich durch ihre Anerkennungspolitik zur Eskalation der Kämpfe am Balkan einen Beitrag geleistet zu haben, war aber der Vorwurf, dem sich Genscher und Mock in Serbien, aber auch weit darüber hinaus, ausgesetzt sahen. Schließlich stellt sich auch die Frage, inwieweit Mock 1991/92 bei seiner Politik der Anerkennung Kroatiens und Sloweniens in Übereinstimmung mit dem internationalen Völkerrecht gehandelt hat. Prinzipiell ist beim Zerfall eines Staates davon auszugehen, dass die Grenzen der auf seinem Territorium neu entstehenden Staaten den zum Zeitpunkt der Unabhängigkeit existierenden administrativen Grenzen folgen.102 Darüber hinaus erscheint dem Verfasser das Gutachten des Internationalen Gerichtshofs der Vereinten Nationen (IGH) vom Juli 2010 zur Frage der Rechtmäßigkeit der Unabhängigkeit des Kosovo aufschlussreich zu sein. Der IGH hielt fest, dass die Unabhängigkeitserklärung der Kosovo-Albaner vom Jänner 2008 im Einklang mit den Bestimmungen des Völkerrechts stand.103 Für den Gerichtshof war unter anderem wesentlich, dass die Entscheidung der Kosovo-Albaner zur Unabhän101 Sundhaussen, H. 2012, S. 322 (Hervohebung im Original). 102 Auch die sogenannte Badinter-Kommission hatte in ihrem Gutachten vom 11. Jänner 1992 in Bezug auf Jugoslawien festgehalten, dass das Recht auf Selbstbestimmung nicht mit einer Veränderung bestehender Grenzen einhergehen dürfe, es sei denn durch freiwillige Übereinkunft. Sundhaussen, H. 2012, S. 317 f. 103 International Court of Justice. Accordance with international law of the unilateral declaration of independence in respect of Kosovo. Summary of the Advisory Opinion, 22 July 2010, http://www.icj-cij. org/docket/files /141/16010.polf (online am 8. März 2013).
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gigkeit auf Grundlage von deren Kapazität als demokratisch gewählte Volksvertreter und nicht als Organ der von den Vereinten Nationen eingesetzten Interimsverwaltung getroffen wurde. Wenn nun der Internationale Gerichtshof den demokratischen Willensentscheid der gewählten Vertreter einer autonomen Provinz als maßgeblich für das Recht auf Sezession anerkennt, so sollte dies umso mehr für die frei und demokratisch gewählten Parlamente der Teilrepubliken Slowenien und Kroatien gelten. Selbst wenn man bei einem rückwärtsgewandten Analogieschluss der Entscheidung des IGH aus dem Jahr 2010 auf die Situation in der Anerkennungsfrage 1991/92 sehr vorsichtig sein muss : Die Argumentation, wonach die Anerkennung der Unabhängigkeit Sloweniens und Kroatiens im Einklang mit dem internationalen Völkerrecht gewesen sei, hat durch das Gutachten des IGH zumindest in der Frage der Legitimation der frei gewählten Parlamente der beiden Teilrepubliken zu einem solchen Schritt eine Bekräftigung erfahren. Zum Schluss noch ein paar Stichworte zu den unterschiedlichen Wahrnehmungen im Sinne von historischen Erfahrungshorizonten. Was das Jahr 1989 anlangt, so hat Mock als ein entschiedener Befürworter des Reformprozesses in den meisten ostmitteleuropäischen Staaten Anerkennung und Respekt gefunden. Doch beginnen auch in diesen Ländern nach mehr als zwei Jahrzehnten die emotional gespeiste Erinnerung zu verblassen und der Prozess der Historisierung zu greifen. Etwas anders stellt sich noch die Situation in Slowenien und Kroatien dar. Hier wird Mock vielerorts nach wie vor in einer emotionalen Weise als einer der Väter der internationalen Anerkennung gesehen, wie sich zuletzt 2011/12 anlässlich des 20. Jahrestags der Unabhängigkeit beziehungsweise der Anerkennung durch Österreich erneut zeigte. Am 1. Juli 2013, dem Tag des kroatischen EU-Beitritts, wurde an der Universität Zadar eine nach Mock benannte Österreich-Bibliothek vom Generalsekretär für europäische und internationale Angelegenheiten für die österreichische Seite und dem Bürgermeister der Stadt Zagreb sowie dem Rektor der Universität eröffnet. Dabei wurden kroatischerseits einmal mehr die Verdienste Mocks um die Unabhängigkeit des Landes und die europäische Integration hervorgehoben.104 Im Zusammenhang mit der deutschen Einheit und ihrer Vorgeschichte ist Mock in der bundesdeutschen Erinnerung kaum präsent. Zwar stößt man allenthalben auf das Foto vom 27. Juni 1989, er selbst spielt aber in den Memoiren zahlreicher Protagonisten, etwa jenen Kohls oder jenen seines engen Beraters Horst Teltschiks, so gut wie keine Rolle.105 Auch in der jüngsten, umfangreichen Kohl-Biografie von 104 Svečanost na Sveučilištu u Zadru. Otvorena knjižnica A. Mock (Feierlichkeit an der Universität in Zadar. Eröffnung der Bücherei A. Mock), in : Večernji list vom 2. Juli 2013, S. 24 f. 105 In Kohls dreibändigen Memoiren kommt Mock ein einziges Mal, im Zusammenhang mit dem Durchtrennen des Eisernen Vorhangs, vor, in Teltschiks Erinnerungen gar nicht. Kohl, H. 2005, S. 910 ; Teltschik, Horst : 329 Tage. Innenansichten der Einigung, Berlin 1991.
Vom Durchschneiden des Eisernen Vorhangs
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Hans-Peter Schwarz oder den bereits erwähnten Lageberichten Kohls im CDUBundesvorstand sucht man den Namen Mock vergeblich. Nur wenn Kohl sich direkt an ein österreichisches Auditorium wendet, hebt er genauso die Bedeutung der Geste von Mock und Horn vom 27. Juni 1989 für den Fall der Mauer hervor, wie er die vom ersten Moment an erfolgte Unterstützung Mocks für seine Politik der deutschen Einheit erwähnt.106 Lediglich Genscher erinnert sich in seinen Memoiren mehrfach und durchwegs positiv an die Zusammenarbeit mit seinem Amtskollegen Mock.107 Allerdings steht auch bei Genscher das gemeinsame Agieren beim Zerfall Jugoslawiens 1991/92 im Vordergrund, nicht das Jahr 1989. Für die deutsche Seite dominierte in Bezug auf die Grenzöffnung im August/September 1989 das Verdienst der Ungarn, nicht das Österreichs beziehungsweise Mocks. Vielleicht ist dieser Umstand der weitgehenden Nicht-Präsenz Mocks in der deutschen Erinnerung aber bloß ein Hinweis darauf, dass Österreich im Koordinatensystem der deutschen Politik doch nicht jene Rolle zukommt, wie das manche in der Alpenrepublik zu vermeinen glauben.
106 So etwa in einem Interview mit der in Graz erscheinenden Kleinen Zeitung anlässlich des 20. Jahrestags des Mauerfalls. Werden Österreich das nie vergessen, in : Kleine Zeitung vom 1. November 2009, S. 12. 107 »Für mich war vor allem die Zusammenarbeit mit Außenminister Alois Mock von großem Gewinn. In die Geschichte seines Landes wird er, der zu Recht als europäischer Staatsmann gilt, als Architekt des EU-Beitritts eingehen. Genscher, H.-D. 1995, S. 850, eine ähnliche Einschätzung findet sich auf S. 936.
Maximilian Graf
Österreich und das »Verschwinden« der DDR 1989/90 Ostdeutsche Perspektiven im Kontext der L angzeitentwicklungen
I. Zur Vorgeschichte – Österreich und die DDR bis 1989 Mit der DDR verschwand1 1990 ein Land, zu dem sich insbesondere seit der diplomatischen Anerkennung durch Österreich im Jahre 1972 intensive bilaterale Beziehungen herausgebildet hatten. Ein Verständnis der Haltung Österreichs 1989/90 sowie der ostdeutschen Perzeption dieser ist ohne Kenntnis dieser Vorgeschichte kaum möglich. Nach einem kurzen Abriss zu den Beziehungen zwischen Österreich und der DDR bis 1989 wird auf die Wahrnehmung des Niedergangs der DDR durch die Grundorganisation der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) in Wien im Jahre 1989 eingegangen. Anschließend wird die ostdeutsche Perzeption der Rolle Österreichs im Zusammenhang mit Fluchtbewegung und Grenzöffnung im Kontext der Langzeitentwicklungen analysiert. Abschließend werden die Einschätzungen der DDR zur Haltung Österreichs zur »Wiedervereinigung« thematisiert. Das aus deutschen Archiven2 zusammengetragene Quellenmaterial aus DDR-Provenienz liefert neue Erkenntnisse zur Haltung Österreichs. Nach der Anerkennung, die Ende 1972 im Gefolge der »neuen Ostpolitik« der Bundesrepublik Deutschland möglich wurde, nahmen die Beziehungen zwischen der DDR und Österreich rasch Fahrt auf. 1975 wurde sehr zum Missfallen der Bundesrepublik ein Konsularvertrag geschlossen, der die DDR-Staatsbürgerschaft ausdrücklich anerkannte. Österreich übernahm sukzessive eine diplomatische Eisbrecherrolle für die DDR, die von Ost-Berlin mit Großaufträgen für die verstaatlichte Industrie und Konzessionen in humanitären Angelegenheiten honoriert wurde. Besonders deutlich wurde dies hinsichtlich der Besuchsdiplomatie. Bundeskanzler
1 Die Formulierung des Titels ist Maier, Charles S. : Das Verschwinden der DDR und der Untergang des Kommunismus, Frankfurt am Main 1999, entlehnt. 2 Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisationen der ehemaligen DDR im Bundesarchiv, Berlin (SAPMO-BArch) ; BArch, Abteilung DDR ; Politisches Archiv des Auswärtigen Amtes (PA, AA), Bestand Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten der DDR (MfAA) ; Archiv des Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR (BStU).
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Bruno Kreisky besuchte 1978 als erster westlicher Regierungschef offiziell die DDR. Der ostdeutsche Staats- und Parteichef Erich Honecker absolvierte seinen ersten offiziellen Besuch im Westen 1980 in Österreich. Zahlreiche weitere Besuche auf höchster diplomatischer Ebene sollten folgen. Damit einher ging eine veritable Ausweitung der Wirtschaftsbeziehungen. Die österreichische Handelsbilanz mit der DDR war stets deutlich aktiv. In den 1980er-Jahren bürgerte es sich ein, dass jährliche Wirtschaftsabkommen unterzeichnet wurden, die den österreichischen Exportwünschen stark entgegenkamen. Die Handelsbeziehungen wurden zur tragenden Säule im österreichisch-ostdeutschen Verhältnis. Noch im Juni 1988 hatte mit Franz Vranitzky bereits der dritte österreichische Bundeskanzler der DDR einen stark wirtschaftspolitisch geprägten offiziellen Besuch abgestattet. Trotz dieser guten Beziehungen trug Österreich durch sein Mitwirken an der Massenflucht der DDR-Bürger im Zuge der Grenzöffnung durch Ungarn im September 1989 zum Verfall der SED-Herrschaft bei.3 Zu Beginn des Jahres 1989 deutete nichts auf rasante Veränderungen in der DDR hin. Im Rahmen der bilateralen Beziehungen waren keine hochrangigen Staatsbesuche vorgesehen. Bereits im Jänner reiste Wirtschaftsminister Robert Graf von der Österreichischen Volkspartei (ÖVP) in die DDR. Der Stand der Handelsbeziehungen war für Österreich überaus erfreulich. So waren beispielsweise Konsumgüterimporte der DDR im Jahre 1988 in einem Ausmaß von 1,2 Milliarden Schilling erfolgt und somit deutlich höher als die vertraglich vereinbarten 900 Millionen Schilling ausgefallen. Einschließlich der von der DDR-Außenhandelsstatistik eingerechneten Drittland- und Transitgeschäfte hatte der Außenhandelsumsatz 1988 die »Rekordhöhe« von 13 Milliarden Schilling erreicht.4 In seiner Unterredung mit dem führenden Wirtschaftspolitiker der DDR, Günter Mittag, zeigte sich Graf mit den Handelsergebnissen des Jahres 1988 zufrieden und dankte insbesondere für die Exportmöglichkeiten, die den Klein- und Mittelbetrieben eingeräumt wurden. Durch die Aufträge aus der DDR konnten in Österreich »Arbeitsplätze erhalten und [ge]schaffen« werden. Mittag ging auf die konkreten Vereinbarungen für das Jahr 1989 ein. Diese sahen den Import von »hochveredelten Konsumgütern im Werte von über 1 Milliarde Schilling« vor. Angestrebt wurde, die 3 Zusammenfassend Graf, Maximilian : Ein verdrängtes bilaterales Verhältnis : Österreich und die DDR 1949–1989/90, in : Zeitgeschichte 2/39 (2012), S. 75–97 ; ausführlich Graf, Maximilian : Österreich und die DDR 1949–1989/90. Beziehungen – Kontakte – Wahrnehmungen, Wien 2012 (ungedruckte Dissertation) ; siehe auch : Gron, Stefan : »Partner DDR« ? Zur Entwicklung der bilateralen Beziehungen zwischen Österreich und der Deutschen Demokratischen Republik, Wien 2005 (ungedruckte Diplomarbeit) ; zum Besuch Kreiskys in der DDR siehe : Bauer, Friedrich/Seewald, Enrico : Bruno Kreisky in Ost-Berlin. Ein Besuch der besonderen Art, Innsbruck/Wien/Bozen 2011. 4 Hinweis für das Gespräch des Mitglieds des Politbüros und Sekretärs des ZK der SED, Genossen Dr. Günter Mittag, mit dem Bundesminister für wirtschaftliche Angelegenheiten Österreichs, Robert Graf, am 9. Januar 1989 in Berlin, SAPMO-BArch, DY 30/3246 (Büro Mittag), Bl. 434–438.
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Erzeugnisse bereits im März und April vor den »Kommunalwahlen« in der DDR im Mai zum Verkauf zu bringen. Die österreichische Konsumgüterindustrie sollte also die »Wahlzuckerln« der SED herstellen. Wien und Ost-Berlin stimmten hinsichtlich der Weiterentwicklung der bilateralen Beziehungen, insbesondere im Wirtschaftssektor, überein. Neben der Durchführung zahlreicher Besuchskontakte, weiteren angestrebten Vereinbarungen und den bereits für den 1. Jänner 1990 fixierten Zollsenkungen ging es Österreich vor allem darum, »den mit Unterstützung der DDR errungenen Platz auf dem DDR-Markt zu halten und zu festigen«5.
II. Eine ostdeutsche Perspektive aus Wien – Die Grundorganisation der SED Es ist bereits hinlänglich bekannt, dass der sogenannte »Ostblock« spätestens seit Mitte der 1980er-Jahre und dem Amtsantritt von Michail Gorbatschow als Generalssekretär der Kommunistischen Partei der Sowjetunion (KPdSU) in Bewegung geraten war. Unter den bald weltbekannten Schlagwörtern »Glasnost« und »Perestrojka« wollte Gorbatschow Veränderungen herbeiführen, die den Fortbestand der Sowjetunion sichern sollten. Letzten Endes trat das exakte Gegenteil ein. Viel bedeutender aber als das Scheitern einer inneren Reform der Sowjetunion war die Tatsache, dass Gorbatschow die »Breschnew-Doktrin« sukzessive zurücknahm und die bisherigen Satellitenstaaten schlussendlich frei gewähren ließ.6 Dadurch wurden – allen voran in Polen und Ungarn – Reformen möglich, die das Ende des Kommunismus in Osteuropa einläuten sollten.7 Die SED-Führung hatte diese Entwicklungen jedoch abgelehnt und war ihrem Kurs treu geblieben.8 Im Folgenden wird eine bisher kaum beachtete Quelle dieses Bild erweitern :9 die Akten der SED-Grundorganisation in Wien. Aufgrund der zahlreichen Vertretungen der DDR in Wien (neben der Botschaft sind die in Wien ansässigen internationalen 5 Information, gezeichnet Beil, Berlin, 9. Januar 1989, SAPMO-BArch, DY 30/2988 (Büro Mittag), Bl. 7–8. 6 Zur Aufgabe der Breschnew-Doktrin vgl. auch den Beitrag von Marcus Gonschor in diesem Band. 7 Zu Rolle Gorbatschows siehe : Brown, Archie : The Gorbachev Factor, Oxford 1996 ; sowie jüngst Dalos, György : Gorbatschow. Mensch und Macht. Eine Biografie, München 2011. Mit Blick auf das gesamte sozialistische Lager als Überblick Dalos, György : Der Vorhang geht auf. Das Ende der Diktaturen in Osteuropa, München 2009. 8 Zusammenfassend zu den Beziehungen Sowjetunion – DDR 1985–1989 sowie zur Haltung der SED zu den Reformen in der Sowjetunion siehe Wentker, Hermann : Außenpolitik in engen Grenzen. Die DDR im internationalen System 1949–1989, München 2007, S. 486–500. 9 Graf, Maximilian : Die SED-Grundorganisation in Wien. Wie die DDR-Auslandskader das Ende der DDR erlebten, in : Zeitschrift des Forschungsverbundes SED-Staat 34 (2013), S. 80–97.
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Organisationen zu bedenken) gab es eine große Anzahl von SED-Mitgliedern in der österreichischen Hauptstadt. Diese wurden in einer Parteiorganisation zusammengefasst, innerhalb derer die »politische Arbeit« erledigt wurde. In regelmäßigen Versammlungen wurden, nach den Vorgaben der von der SED übermittelten Informationen, die politische Lage und die Arbeit vor Ort diskutiert. Die Berichte über diese Sitzungen des Wiener SED-»Kollektivs«, die an die Abteilung »Internationale Verbindungen« beim Zentralkomitee (ZK) der SED übersandt wurden, gewähren einen Einblick, wie diese kleine »DDR-Kolonie« das Jahr 1989 bis kurz nach dem Mauerfall erlebte. Auch wenn sie grundsätzlich stets positiv und im Sinne des Adressaten in der Zentrale in Ost-Berlin formuliert wurden, lassen sich früh Nuancierungen ausmachen : Einerseits wurde die Politik der Partei- und Staatsführung gebilligt, andererseits kann man insbesondere seit 1988 auch ein gewisses Maß an Kritik aus diesen Berichten herauslesen. Diese war aber noch in Form von Selbstkritik versteckt : »Wir haben erkannt, daß es nichts nützt, über Schwierigkeiten in der Heimat, z. B. ungenügende Warenbereitstellung für den Außenhandel oder mangelhafte Transportqualität und unzureichende Kapazitäten für Übernachtungen ausländischer Touristen in der DDR zu diskutieren. Nein, wir haben uns darauf konzentriert, die Probleme, die ›Vor Ort‹ [be]stehen, zu lösen, unser eigenes Tun und Handeln überprüft und uns darauf konzentriert, trotz aller objektiv wirkender negativer Einflußfaktoren in erste Linie subjektive Faktoren abzubauen bzw. zu beseitigen.«10
Ende 1988 wurde bei der Diskussion internationaler Fragen in der Parteiarbeit noch die unverbrüchliche Solidarität mit der Sowjetunion bekundet. Trotz Mahnungen zum Erhalt der »Verteidigungsfähigkeit« der sozialistischen Länder wurden Abrüstungsschritte begrüßt : »Die einseitigen Initiativen der UdSSR, einschließlich des Abzuges sowjetischer Einheiten aus der DDR, finden ungeteilte Zustimmung und werden als ein erneuter Beweis des ehrlichen Willens der sowjetischen Partei- und Staatsführung gesehen, den Entspannungsprozeß durch das eigene positive Beispiel maßgeblich zu fördern.« Auch die Kontinuität der Sozialpolitik der DDR wurde anerkennend vermerkt. Der Schwerpunkt der Auslandsarbeit im Jahr 1989 lag auf den Vorbereitungen für die Begehung des 40. Jahrestages der DDR.11 Nach dem Abschluss der KSZE-Nachfolgekonferenz in Wien am 19. Jänner 1989 war die politische Diskussion in der Grundorganisation bereits von einer größeren Offenheit geprägt. Die Ergebnisse von Wien wurden »als ein weitgehender Kom10 Rechenschaftsbericht für die Berichtwahlversammlung am 20. Oktober 1988, SAPMO-BArch, DY 30/ 15018. 11 Bericht über die Parteiarbeit im Monat Dezember 1988, gezeichnet Seidel, Wien, 12. Jänner 1989, SAPMO-BArch, DY 30/15022.
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promiß gesehen, der zur Erreichung des Mandats für die Verhandlungen über konventionelle Streitkräfte in Europa und [die] Fortsetzung der Konferenz über vertrauensbildende Maßnahmen erforderlich war«, obwohl man die Ansicht vertrat, dass man »bei den sogenannten Menschenrechts- und humanitären Fragen […] bis an die Grenzen des Möglichen« gegangen war. Unverständnis wurde dem »differenzierte[n] Verhalten der sozialistischen Länder« entgegengebracht, während der Westen geschlossen aufgetreten war. Die Reaktionen von DDR-Außenminister Oskar Fischer und Generalsekretär Honecker zu den »Angriffen auf die ›Berliner Mauer‹« wurden begrüßt, dagegen bezeichnete man die Aussagen des sowjetischen Außenministers Eduard Schewardnadse als »völlig deplaziert« : »Viele Genossen stellten die Frage, ob die UdSSR jetzt davon abgehe, daß die Errichtung der ›Mauer‹ auf Grund eines gemeinsamen Beschlußes der Warschauer Vertragsstaaten erfolgte.« Unverständnis brachte man aber auch den Reiseregelungen für Auslandskader der DDR entgegen. Die Leitung der Grundorganisation berichtete in Ermangelung einer Weisung in aller Deutlichkeit an die Zentrale in Ost-Berlin : »Wir sind nicht mehr in der Lage, dazu glaubwürdig zu argumentieren.«12 Im Frühjahr 1989 wurden dann vermehrt die internationale Lage und insbesondere die Veränderungen in den sozialistischen Staaten, aber auch die innere Entwicklung der DDR vom »Kollektiv« in Wien ausführlich diskutiert. Diesbezüglich war man aber noch weitestgehend »auf Linie«. Der Bericht über die Parteiarbeit im März äußerte »Sorge« über die Entwicklung in der – um die Sprache der SED beizubehalten – »Ungarischen Volksrepublik« (UVR) und in der Volksrepublik Polen (VRP) : »Es wird in Zweifel gezogen, ob die sich in diesen Ländern vollziehenden Prozesse überhaupt noch von den Grundlagen und -werten des Sozialismus bestimmt werden.« Die Politik der SED wurde als alternativlos bezeichnet und die »Wahlvorbereitungen« in der DDR wurden begrüßt.13 Die offensichtlich gefälschten Ergebnisse der »Kommunalwahlen« im Mai, die in der DDR zu Protesten führten,14 wurden von der Grundorganisation in Wien »als eindeutige Bestätigung der Richtigkeit der Politik unserer Partei und Regierung gesehen«. Jedoch wurde festgehalten, dass man in Österreich mit Fragen zum »Wahlsystem« konfrontiert war. Weiter diskutiert und mit einiger Sorge betrachtet wurden die Reformen in den »Bruderländern« :
12 Bericht über die Parteiarbeit im Monat Januar 1989, gezeichnet Seidel, Wien, 9. Februar 1989, SAPMO-BArch, DY 30/15022. 13 Bericht über die Parteiarbeit im Monat März 1989, gezeichnet Seidel, Wien, 11. April 1989, SAPMOBArch, DY 30/15022. 14 Zu Vorbereitung, Ablauf und Fälschung der »Kommunalwahlen« im Mai 1989 in der DDR siehe Kowalczuk, Ilko-Sascha : Endspiel. Die Revolution von 1989 in der DDR, München 2009, S. 318–333.
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»Die Sorgen und das Unverständnis über bestimmte Entwicklungen in diesen Ländern wachsen, insbesondere wenn es – wie in Ungarn und Polen – um die Aufgabe von Grundwerten des sozialistischen Systems wie z. B. der führenden Rolle der Partei, der sozialistischen Ideologie geht. […] In Bezug auf die Sowjetunion gibt es keinen Zweifel über die politische und organisatorische Kraft der KPdSU, die Politik der Umgestaltung erfolgreich durchzuführen. In Frage steht, ob es richtig war, alle Probleme gleichzeitig lösen zu wollen.«15
Im Juni 1989 beschäftigte sich die Grundorganisation der SED verstärkt mit den Entwicklungen in Ungarn und an der österreichisch-ungarischen Grenze. Die innere Entwicklung Ungarns wurde »[k]ritisch und mit großer Sorge« gesehen. Im Bericht nach Ost-Berlin betonte man, kein Verständnis für die Neubewertung der Ereignisse des Jahres 195616 zu haben. Zudem stellte sich im »Kollektiv« die Frage, »ob die neuen ungarischen Grenzregelungen zu Österreich in Abstimmung mit den [Staaten des] Warschauer Vertrag[es] erfolgen oder eigenmächtige Entscheidungen darstellen.«17 Auf die Frage der Haltung der DDR zur veränderten Lage an der österreichisch-ungarischen Grenze wird weiter unten noch ausführlicher eingegangen. Im Juli hieß es zwar, dass die konsequente Haltung der SED ihre Mitglieder in ihrer Arbeit bestärken würde, der Monatsbericht brachte aber gleichzeitig auch zum Ausdruck, dass »die Sorge darüber zunimmt, wie diese gute Politik der Gestaltung des Sozialismus in den Farben der DDR bei dem sich rasch verändernden Umfeld und dem großen Druck des Gegners auf unseren Staat und unsere Menschen auch perspektivisch gesichert werden kann«. Viele Mitglieder der Grundorganisation, die von ihrem Urlaub in der DDR nach Wien zurückgekehrt waren, »bericht[et]en über Irritationen, Verunsicherungen, Mißstimmungen und Beschwerden, die sie von Bürgern in der DDR zur Kenntnis nehmen mußten«. Diese warfen insbesondere mit Blick auf die »Flüchtlingskrise« einige Fragen auf, die auch nach Ost-Berlin kommuniziert wurden : »Was wird getan, um den Ursachen für die große Zahl von Ausreisen und Verrat der DDR durch illegale Grenzübertritte offensiv zu begegnen ? Können wir auf diese Arbeitskräfte ohne größeren Schaden für unsere Volkswirtschaft verzichten ? Ist die immer größer werdende Anzahl ausländischer Arbeitskräfte in der DDR eine äquivalente Lösung ?«18 15 Bericht über die Parteiarbeit im Monat Mai 1989, gezeichnet Seidel, Wien, 7. Juni 1989, SAPMOBArch, DY 30/15022. 16 Volksaufstand oder »Konterrevolution«, Rehabilitation Imre Nagys. 17 Bericht über die Parteiarbeit im Monat Juni 1989, gezeichnet vom stellvertretenden Parteisekretär W. Meister, Wien, 28. Juni 1989, SAPMO-BArch, DY 30/15022. 18 Bericht über die Parteiarbeit im Monat Juli 1989, gezeichnet Seidel, Wien, 10. August 1989, SAPMOBArch, DY 30/15022.
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Offen wurde eingestanden, dass diese Fragen auch das »Kollektiv« beschäftigten, da seine Mitglieder »täglich Meldungen über den illegalen Grenzübertritt von DDRBürgern aus der UVR nach Österreich aus den österreichischen Massenmedien zur Kenntnis nehmen« müssten. In den Gesprächen in Wien seien sie »verstärkt nach den Ursachen dieses Verhaltens von DDR-Bürgern gefragt« worden, wie im Bericht betont wurde.19 Noch wurde diesen Fragen mit den offiziell zur Verfügung gestellten Argumenten und über die Veröffentlichungen im SED-Zentralorgan Neues Deutschland begegnet. Jedoch wurde auch Kritik an der inneren Lage der DDR geäußert : »Bürger der DDR, die über keine Devisen verfügen und auch nicht ins kapitalistische Ausland reisen können, fühlen sich z. B. durch den Ausbau der Intershop-Geschäfte immer stärker benachteiligt, weil hochwertige Waren eben nur dort gekauft werden können. Die ökonomische Notwendigkeit dieser Geschäfte für die DDR wird dabei untergeordnet berücksichtigt.«20
Offenbar war das Verständnis für die »ökonomische Notwendigkeit« nicht mehr besonders groß. Zudem wurde ein letzter bedeutender Punkt angesprochen, der von einem gewissen Aufwachprozess zeugt : »Es wird auch verstärkt in Zweifel gezogen, ob die überbetonte Erfolgsberichterstattung in unseren Medien wirklich noch als mobilisierender Faktor wirkt.«21 Die sich zuspitzende Flüchtlingswelle hinterließ auch im Bericht über die Parteiarbeit im August deutliche Spuren. Offen wurde die Frage gestellt, »wie dieser Situation langfristig begegnet werden soll«. Grund hierfür war sicher auch, dass man in Österreich ständig mit dieser Frage konfrontiert war und die Gesprächspartner – wenn auch angeblich »zurückhaltend« – fragten, »ob die DDR nicht selbst an der entstandenen Lage Schuld sei«22. Nach der Grenzöffnung durch Ungarn am 11. September 1989, die Zigtausenden DDR-Bürgern die Flucht ermöglicht hatte, wurden in internen Diskussionen als Ursachen für die entstandene Situation die »Schönfärberei gegenüber unserer Parteiführung über die Probleme der Bevölkerung und konkrete Lage in der Volkswirtschaft« sowie die »[u]ngenügende Information der Bevölkerung, einschließlich der Parteimitglieder, über Probleme in der DDR und zu Schlußfolgerungen zu ihrer Bewältigung« genannt. Man erwartete, dass die Parteiführung »baldmöglichst über Schlußfolgerungen aus der entstandenen Situation informiert«, und sah die Zusammenarbeit im 19 Ebd. 20 Ebd. 21 Ebd. 22 Bericht über die Parteiarbeit im Monat August 1989, gezeichnet Seidel, Wien, 8. September 1989, SAPMO-BArch, DY 30/15022.
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Rahmen der sozialistischen Vertragssysteme bereits in nächster Zukunft gefährdet.23 Anfang Oktober wurde nachdrücklich betont : »Es wächst die Ungeduld darüber, daß es keine Informationen und Einschätzungen durch die Parteiführung gibt.«24 Die Agonie der SED-Führung wurde also auch ihren Auslandskadern endgültig zuviel. Nach dem »Scheitern des 40. Jahrestages«25, der ständigen Ausweitung der Demonstrationen und der Absetzung Honeckers am 17. Oktober 198926 wurden die ersten Maßnahmen und Erklärungen der SED-Führung von der Wiener Grundorganisation »als dringend notwendig, aber noch nicht ausreichend begrüßt«. In dem am Tag nach der Absetzung Honeckers unterzeichneten Bericht wurde von »Schadensbegrenzung« gesprochen und erwartet, dass die führende Rolle der Partei erhalten bleiben würde. Vor Ort meinte man das ob der unsicheren weiteren Entwicklung verloren geglaubte Vertrauen der österreichischen Partner zurückgewinnen zu müssen.27 Immer wieder war die Frage aufgetaucht, wie es »soweit kommen« konnte und wie eine »Wiederholung« der Zuspitzung der inneren Lage von DDR und SED, die im Jahr 1989 offenkundig gewordenen war, auszuschließen sei. Das Informationsbedürfnis wurde durch die Zentrale nicht befriedigt.28 In der Grundorganisation waren die Feiern anlässlich des 40. Jahrestags der DDR »auf Grund der wachsenden Unzufriedenheit der Genossen mit der Sprachlosigkeit der Parteiführung zu den entstandenen Problemen« ebenfalls nicht nach Plan verlaufen. Die Ablösung Honeckers wurde »als ein Anfang der Einsicht in die Notwendigkeit von tiefgreifenden Veränderungen begrüßt«.29 Dazu führte der Bericht weiter aus : »Groß ist das Unverständnis darüber, daß unsere Parteiführung eine völlige Fehleinschätzung der Lage und Stimmung in der Partei und Bevölkerung hatte. Deshalb wird erwartet, daß alle dafür Verantwortlichen in der Parteiführung, im Apparat des ZK, in der Regierung usw. aus ihren Funktionen ausscheiden und sich zu ihren Fehlern bekennen.«30 23 Beschlußprotokoll der GO-Leitungssitzung am 18. September 1989, gezeichnet Seidel, Wien, 19. September 1989, SAPMO-BArch, DY 30/15022. 24 Beschlußprotokoll der GO-Leitungssitzung am 3. Oktober 1989, gezeichnet Seidel, Wien, 4. Oktober 1989, SAPMO-BArch, DY 30/15022. 25 Völtz, Nicole : Staatsjubiläum und Friedliche Revolution. Planung und Scheitern des 40. Jahrestages der DDR 1989, Leipzig 2009. 26 Zu den rasanten Entwicklungen im Oktober 1989 siehe zusammenfassend u. a. Rödder, Andreas : Deutschland einig Vaterland. Die Geschichte der Wiedervereinigung, München 2009, S. 84–104. 27 Beschlußprotokoll der GO-Leitungssitzung am 17. Oktober 1989, gezeichnet Seidel, Wien, 18. Oktober 1989, SAPMO-BArch, DY 30/15022. 28 Beschlußprotokoll der GO-Leitungssitzung am 1. November 1989, gezeichnet Seidel, Wien, 3. November 1989, SAPMO-BArch, DY 30/15022. 29 Bericht über die Parteiarbeit im Monat Oktober 1989, gezeichnet Seidel, Wien, 7. November 1989, SAPMO-BArch, DY 30/15022. 30 Ebd.
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Nach der Öffnung der Mauer am 9. November 1989 forderte man »schnellstens« Klarheit über die zukünftigen Reisebestimmungen für die im Ausland arbeitenden DDR-Bürger sowie über die Möglichkeit von Kinder- und Verwandtenbesuchen. Der Ton war ein anderer geworden.31 Im weiteren Verlauf wurde zwar immer noch an der führenden Rolle der SED festgehalten, der Ruf nach radikalen Veränderungen sowie nach einer »konsequente[n] Orientierung auf [die] Erneuerung [des] Sozialismus« war aber unüberhörbar geworden. Die meisten Mitglieder der DDR-Vertretungen sollen »bestürzt über Tiefe und Ausmaß [der] Versäumnisse [der] alte[n] Führung und über [den] Ernst der Lage« gewesen sein. Aus Gesprächen mit den sowjetischen und ungarischen Diplomaten wusste man, dass diese von der »Wende« in der DDR eine »große Signalwirkung« für die ČSSR, Bulgarien und Rumänien erwarteten. Des Weiteren äußerten sie die Befürchtung, »daß [der] Prozeß durch [den] Druck von der Straße außer Kontrolle geraten könnte«. In den unabsehbaren Folgen einer solchen Entwicklung sahen sie eine »Gefahr für [den] Sozialismus und [die] Staatlichkeit der DDR.« Die Vertreter einiger europäischer Länder (insbesondere Polens) hatten bereits »besorgt nach [der] Möglichkeit [einer] Wiedervereinigung« gefragt.32 Mitte November reißt die Überlieferung der Berichterstattung der Grundorganisation der SED in Wien ab. Kurz darauf war auch die SED in ihrer bisherigen Form Geschichte.33 Wie in diesem Abschnitt deutlich wurde, stellten Massenflucht und Grenzöffnung bedeutende Themen dar, denen der nun folgende Abschnitt gewidmet ist.
III. Massenflucht und Grenzöffnung – Österreichs Rolle im Kontext Die Öffnung der Grenze zwischen Österreich und Ungarn gehört zu den am besten aufgearbeiteten Kapiteln der Geschichte des Jahres 1989.34 Auch in der Memoirenliteratur der beteiligten Akteure aus Politik und Diplomatie ist das Thema omnipräsent.35 Dennoch wird der Beitrag dieser Entwicklungen und der Rolle Ös31 Telegramm Botschafter Wolf an Genosse Goede (Abt. IV, ZK), Wien, 13. November 1989, SAPMOBArch, DY 30/15022. 32 Telegramm von Meyer, Wien, 15. November 1989, SAPMO-BArch, DY 30/15022. 33 Zur Wandlung der SED zur SED/Partei des demokratischen Sozialismus (PDS) und schließlich zur PDS ohne den belastenden Zusatz SED in den Monaten Dezember 1989 bis Februar 1990 siehe Malycha, Andreas/Winters, Peter Jochen : Geschichte der SED. Von der Gründung bis zur Linkspartei, Bonn 2009, 361–379. 34 Grundlegend und detailliert Oplatka, Andreas : Der erste Riß in der Mauer. September 1989 – Ungarn öffnet die Grenze, Wien 2009. 35 Eichtinger, Martin/Wohnout, Helmut : Alois Mock. Ein Politiker schreibt Geschichte, Wien/Graz/
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terreichs auf dem Weg zur Öffnung der Mauer nach Ansicht des Autors mangels ausreichender Kontextualisierung nach wie vor unterschätzt. Bedeutende Aspekte der Vorgeschichte und unmittelbare Hintergründe werden oftmals ausgeblendet.36 Dieser Tendenz soll hier entgegengewirkt werden. Die Beziehungen zwischen Österreich und Ungarn entwickelten sich in den 1970er- und 1980er-Jahren zu einem Paradebeispiel der europäischen Entspannung. Ausdruck fand dies nicht nur in zahlreichen Staatsbesuchen auf höchster Ebene, sondern in ihrer besonderen Qualität, die das zwischen westlichen und WarschauerPakt-Staaten übliche Maß bei Weitem überstieg. Die seit 1964 beständig verbesserten Beziehungen führten auch zu einer – im Vergleich zu anderen Abschnitten der den Kontinent teilenden Ost-West-Grenze – entspannten Lage am Eisernen Vorhang. Grenzüberschreitender Verkehr, wechselseitiger Tourismus, aber auch regionale grenzüberschreitende Kooperationen hatten sich beständig intensiviert. Insgesamt bildeten sich Beziehungen heraus, die das Niveau der Beziehungen Österreichs zu vielen westlichen Staaten bereits überstiegen. Grundlage hierfür war nicht nur das im Vergleich zu anderen Staaten entspannte Verhältnis an der Grenze, sondern auch der als »Gulaschkommunismus« bekannt gewordene – und von Österreich wohlwollend bewertete – ungarische, etwas lockerere Weg im sozialistischen Lager sowie die in den 1980er-Jahren einsetzenden, zunächst vor allem wirtschaftlichen Reformen.37 Klagenfurt 2008, S. 191–203 ; hervorzuheben in diesem Zusammenhang sind die Erinnerungen des damaligen BRD-Botschafters in Österreich, vgl. Brühl, Dietrich Graf von : Flucht in die Freiheit, in : Rauchensteiner, Manfried (Hg.) : Aufbruch in eine neue Zeit. 1989 im Rückblick, Wien 2000, S. 9–34 ; sowie die Erwähnungen durch beteiligte politische Akteure und Diplomaten aus der BRD, Ungarn und der DDR, vgl. Kohl, Helmut : Vom Mauerfall zur Wiedervereinigung. Meine Erinnerungen, München 2009, S. 40–58 ; Genscher, Hans-Dietrich : Erinnerungen, Berlin 1995, S. 637–650 ; Horn, Gyula : Freiheit, die ich meine. Erinnerungen des ungarischen Außenministers, der den Eisernen Vorhang öffnete, Hamburg 1991 ; Horváth, István : Die Sonne ging in Ungarn auf. Erinnerungen an eine besondere Freundschaft, München 2000, S. 279–334 ; Vehres, Gerd : Ungarn-Fan im Strudel der Gefühle, in : Malchow, Birgit (Hg.) : Der Letzte macht das Licht aus. Wie DDR-Diplomaten das 1990 im Ausland erlebten, Berlin 1999, S. 103–127. Vgl. dazu auch den Beitrag von Helmut Wohnout in diesem Band. 36 Für eine ausführlichere Darstellung – wenn auch mit Fokus auf das Burgenland – siehe Graf, Maximilian : Die Welt blickt auf das Burgenland. 1989 – die Grenze wird zum Abbild der Veränderung, in : Graf, Maximilian/Lass, Alexander/Ruzicic-Kessler, Karlo (Hg.) : Das Burgenland als internationale Grenzregion im 20. und 21. Jahrhundert, Wien 2012, S. 135–179 ; zur Kritik an der bisherigen Historiografie siehe Gehler, Michael : Deutschland. Von der Teilung zur Einigung 1945 bis heute, Wien/ Köln/Weimar 2010, S. 305. 37 Siehe hierzu Gémes, Andreas : Austrian-Hungarian Relations, 1945–1989, in : Suppan, Arnold/Mueller, Wolfgang (Hg.) : Peaceful Coexistence or Iron Curtain ? Austria, Neutrality, and Eastern Europe in the Cold War and Détente, 1955–1989 (Europa Orientalis 7), Wien 2009, S. 310–336 ; Rathkolb, Oliver : Die österreichische »Ostpolitik« gegenüber Ungarn, in : Majoros, István/Maruzsa, Zoltán/Rathkolb, Oliver (Hg.) : Österreich und Ungarn im Kalten Krieg, Wien/Budapest 2010, S. 211–226 ; sowie die
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Im Jahr 1988 erhöhte sich das Tempo der Veränderungen in Ungarn. Ab dem 1. Jänner 1988 hatte jeder ungarische Staatsbürger Anspruch auf den sogenannten »Weltpass«. Mit diesem konnte man das Land jederzeit ohne die früher geltenden Einschränkungen verlassen und, was im Ostblock ebenfalls nicht selbstverständlich war, man durfte auch jederzeit wieder zurückkehren. Bald entstand ein echter Reiseboom. Bereits im Jahr 1988 überschritten Millionen Ungarn die Grenze zu Österreich und nutzen ihre Ausflüge in den Westen primär zum Einkaufen. Der Einkaufstourismus hatte (neben dem grenznahen Gebiet) größtenteils Wien zum Ziel. Die relativ plötzlich über Wien hereinbrechenden Wellen von Ungarn sollen dazu geführt haben, dass die bekannte Wiener Einkaufsstraße namens »Mariahilferstraße« von spöttelnden Einheimischen als »Magyarhilferstraße« bezeichnet wurde.38 Am stärksten betroffen war aber das Burgenland.39 Auch in der ungarischen Politik war es 1988 zu Veränderungen gekommen, die die rasanten Entwicklungen des Jahres 1989 möglich machten. Im Frühjahr wurde mit dem Abbau der technischen Grenzsperren an der österreichisch-ungarischen Grenze begonnen. Die Bilder von den Abbrucharbeiten, von Alois Mock und G yula Horn bei der inszenierten Durchschneidung des »Eisernen Vorhangs« und jene vom Paneuropa-Picknick im August 1989 waren hochgradig dafür verantwortlich, dass sich die Fluchtbewegung der DDR-Bürger ausweitete. Am 11. September 1989 öffnete Ungarn schließlich die Grenze und Österreich unterstützte die Aus- und Weiterreise der DDR-Bürger in die Bundesrepublik.40 An dieser Stelle erscheint es aber geboten, einen Blick auf die ostdeutsche Perzeption der Vorgeschichte und der Entwicklungen des Jahres 1989 zu werfen. Bereits Anfang der 1970er-Jahre hatte man sorgenvoll auf die Situation an der österreichisch-ungarischen Grenze geblickt. Im Zuge der Verhandlungen über die Regelung des deutsch-deutschen Verhältnisses befürchtete man, die Zusammenarbeit an diesem Abschnitt des Eisernen Vorhangs als Beispiel für die Grenzsituation zwischen
zeitgenössische politikwissenschaftliche Darstellung Mlynar, Zdenek/Heinrich, Hans-Georg/Kofler, Toni/Stankovsky, Jan (Hg.) : Die Beziehungen zwischen Österreich und Ungarn : Sonderfall oder Modell ?, Wien 1985. Baranyi,Tamás/Graf, Maximilian/Krajczar, Melinda/Lehner, Isabella: A masterpiece of European détente ? Austrian-Hungarian relations from 1964 until the peaceful end of the Cold War, in: Zeitgeschichte 5/4 (2014) (in Druck). 38 Dalos, G. 2009, S. 74. 39 Graf, M. 2012c, S. 135–179, 145–153. 40 Siehe hierzu ausführlich Oplatka, A. 2009, S. 16–17, 34–37, 44–48, 108 u. 138–241 ; zur Rolle Österreichs bei der Grenzöffnung zudem Eichtinger, M./Wohnout, H. 2008, S. 192–193 ; Horn, G. 1991, S. 294 ; Molden, Berthold : Die Ost-West-Drehscheibe. Österreichs Medien im Kalten Krieg, in : Rauchensteiner, Manfried (Hg.) : Zwischen den Blöcken. NATO, Warschauer Pakt und Österreich, Wien 2010, S. 687–774, 767–768 ; sowie auf Basis neuer Akten Gehler, M. 2010, S. 305–307.
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der Bundesrepublik und der DDR vorgehalten zu bekommen.41 Der 1979 zwischen Österreich und Ungarn in Kraft getretene visumsfreie Reiseverkehr wurde durch das Ministerium für Staatssicherheit der DDR (MfS) argwöhnisch verfolgt.42 Während Ungarn über die gute Entwicklung informierte und eine weitere Forcierung des Reiseverkehrs anstrebte, blieb man in Ost-Berlin skeptisch. Bezeichnenderweise hatte man in Budapest freimütig bekannt : »Vielfach machen uns Staatsbürger einiger sozialistischer Länder mehr Schwierigkeiten als die Österreicher.«43 Im Sommer 1989 blieb das bevorstehende Szenario vom 11. September 1989 auch der SED-Führung nicht verborgen. Horn hatte das SED-Politbüromitglied Günter Mittag in einem Gespräch am 31. August 1989 in Ost-Berlin darüber informiert, »daß durch den Aufenthalt mehrerer Tausend DDR-Bürger in der UVR, die nicht bereit sind, in die DDR zurückzukehren, für die UVR eine unhaltbare Situation entstanden sei«. Horn bekräftigte zwar, dass die UVR bestrebt sei, eine Lösung zu finden, die die Beziehungen zur DDR nicht störe, stellte aber klar, dass für Ungarn aufgrund internationaler Verträge und der öffentlichen Meinung »inhumane Lösungen ausgeschlossen seien«. Für den Fall, dass die Situation nicht geklärt werden könne, kündigte er an, dass sich die UVR veranlasst sehen würde, »das Protokoll zur Vereinbarung über den Reiseverkehr vom Juni 1969 auszusetzen und das Visum von Drittländern auf den Reisedokumenten der DDR-Bürger zu akzeptieren«. Was das bedeutete, war auch den führenden Gremien der SED klar. Nichts anderes, als dass Ungarn »alle DDR-Bürger nach Österreich ausreisen lassen würde, die durch ein Einreisevisum auf ihrem Reisedokument nachweisen können, daß sie in Österreich aufgenommen werden«44. Der SED war demnach bekannt, was geschehen würde, und auch die Gründe dafür blieben ihr nicht verborgen : Früher am selben Tag hatte Horn in einem Gespräch mit DDR-Außenminister Fischer darauf hingewiesen, dass Ungarn »auch nicht zum früheren Grenzregime gegenüber Österreich zurückkehren 41 Bericht über die Konsultation zwischen der Abteilung Westeuropa des MfAA der DDR und der Partnerabteilung des ungarischen Außenministeriums, gezeichnet Strohmeyer, Berlin, 27. Januar 1972, PA, AA, MfAA, C 3/78, Bl. 1–6. Der betreffende Abschnitt ist abgedruckt in Graf, M. 2012c, S. 135–179, 143. 42 Vermerk zum visafreien Reiseverkehr zwischen der Volksrepublik Ungarn und der Bundesrepublik [sic !] Österreich, Berlin, 16. August 1978, Der Bundesbeauftragte für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR (BStU), Berlin, MfS, HA II 35695, Bl. 147. 43 Fortschreibungsinformation (der Botschaft der DDR in der UVR – Konsularabteilung) über Erfahrungen bei der weiteren Realisierung des Abkommens über den visafreien Reiseverkehr UVR/Österreich, Budapest, 12. Juli 1979, BStU, MfS, HA II 35695, Bl. 150–153. 44 Vermerk über das Gespräch des Mitglieds des Politbüros und Sekretärs des ZK der SED, Genossen Günter Mittag, mit dem Minister für Auswärtige Angelegenheiten der Ungarischen Volksrepublik, Genossen Gyula Horn, am 31. August 1989, gezeichnet Schindler, in : Arbeitsprotokoll der Sitzung des Politbüros des Zentralkomitees vom 5. September 1989 (Protokoll Nr. 35/89), SAPMO-BArch, DY 30/J IV 2/2A/3238, Bl. 30–34.
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könne«, da es berücksichtigen müsse, »welch große Bedeutung die Beziehungen zu Österreich« hätten. Eine seiner drei unterbreiteten »Lösungsvarianten« sah die Öffnung der Grenze zwischen Österreich und Ungarn für alle DDR-Bürger vor, »die Österreich bereit ist aufzunehmen«. Fischer hatte »Ultimaten« zurückgewiesen.45 Da man die Ausreise über Österreich befürchtete, wurde in der Politbürositzung vom 5. September von Außenminister Fischer und Volkskammerpräsident Horst Sindermann ein direktes Herantreten an Österreich angedacht. Wörtlich lief die von Agonie und Realitätsverlust zeugende Diskussion folgendermaßen ab : Außenminister Oskar Fischer sagte : »Besonders wichtig ist ein schnelles Gespräch mit Österreich, da Mock unser bisheriges Stillschweigen als Einverständnis betrachten könnte. Man muß deutlich sagen, daß Österreich alles unterlassen sollte, was die Spannungen verschärft.« Volkskammerpräsident Horst Sindermann schloss sich wenig später dieser Meinung an : »Ich bin für die Vorschläge Fischers. Man muß mit Vranitzky sprechen : Fallen Sie schon wieder auf den deutschen Chauvinismus herein ?«46 Eine entsprechende Intervention fand aber nicht mehr statt.47 Österreich hatte zu diesem Zeitpunkt bereits seine volle Unterstützung bei der Ausreise der DDR-Bürger zugesagt. Um die – trotz allem – guten Beziehungen zur noch gänzlich unreformierten DDR nicht zu gefährden und die bilateralen Verträge einzuhalten, fand man eine »sehr österreichische« Lösung. In jeden Ausweis eines Flüchtlings wurde von den Grenzbeamten ein loses Blatt mit Visumsstempel eingelegt und der Name des Flüchtlings vermerkt, damit war die Einreise genehmigt. Das Einlegeblatt wurde an der Grenze zur Bundesrepublik wieder herausgenommen. Dem Visumsabkommen mit der DDR war damit genüge getan.48 Damit hatten sich die schlimmsten Befürchtungen der DDR bewahrheitet. Dennoch erfolgten keine direkten Angriffe auf Österreich. Medial wurden in gewohnter Manier die Bundesrepublik und diesmal auch Ungarn attackiert.49 Und auch Österreich – so scheint es – war um Schadensbegrenzung bemüht. 45 Vermerk über das Gespräch des Ministers für Auswärtige Angelegenheiten, Genossen Oskar Fischer, mit dem Minister für Auswärtige Angelegenheiten der Ungarischen Volksrepublik, Genossen Gyula Horn, am 31. August 1989, gezeichnet Schindler, in : Arbeitsprotokoll der Sitzung des Politbüros des Zentralkomitees vom 5. September 1989 (Protokoll Nr. 35/89) SAPMO-BArch, DY 30/J IV 2/2A/ 3238, Bl. 34–39. 46 Siehe hierzu die Aufzeichnungen von Egon Krenz über die betreffende Sitzung : SAPMO-BArch, DY 30/ IV 2/2.039/77, Bl. 5. 47 Zumindest konnte bisher kein derartiges Dokument in den Archiven ausfindig gemacht werden. Auch Botschafter Friedrich Bauer bestätigte im Gespräch mit dem Autor, dass er über ein Herantreten der DDR an Österreich in diesem Zusammenhang auf seinem Posten in Bonn informiert worden wäre. 48 Thiesen, Helene : »Einreisesichtvermerk« – Hilfe für DDR-Flüchtlinge, in : Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland (Hg.) : Verfreundete Nachbarn. Deutschland – Österreich (Ausstellungskatalog), Bonn/Bielefeld 2005, S. 220–221. 49 Vgl. hierzu die Berichterstattung in Neues Deutschland im Monat September.
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Das Ministerium für Staatssicherheit der DDR (MfS) hatte durch Berichte Informeller Mitarbeiter (IMs) gewisse Einblicke in die Stimmung in Österreich nach der Grenzöffnung gewonnen.50 Die Beziehungen zwischen Österreich und der DDR waren im Sommer 1989 noch ihren gewohnten Lauf gegangen. Auf der Leipziger Herbstmesse vom 3. bis 9. September gehörte Österreich inmitten der Flüchtlingskrise in gewohnter Weise »zu den am repräsentativsten vertretenen Staaten Westeuropas«51. Die Kultur-52 und Wirtschaftsbeziehungen sollten trotz der sich zuspitzenden Krise der DDR keine Einschränkung erfahren. Dafür war aber auch ein gutes bilaterales Verhältnis notwendig, das nach der österreichischen Unterstützung bei der Ausreise der DDR-Bürger nicht mehr gesichert scheinen konnte. Interessanterweise hat dieser Punkt in der Historiografie bisher keine Berücksichtigung gefunden. Dies ist umso erstaunlicher, als das Folgende auch zeitgenössisch öffentlich wurde. Auch wenn die dementierende Presseaussendung des österreichischen Bundeskanzleramts im Widerspruch zu einer Meldung der Deutschen PresseAgentur steht, so scheint es, dass Vranitzky im Gefolge der Grenzöffnung das direkte Gespräch mit Honecker suchen wollte. Gelegenheit dazu hätte ein privater Besuch der DDR anlässlich der Übergabe eines Gemäldes des österreichischen Malers Adolf Frohner durch die Österreichische Länderbank an die Nationalgalerie der Staatlichen Museen zu Berlin am 25. September 1989 geboten, der der österreichische Bundeskanzler beiwohnen wollte. Trotz seiner engen Kontakte zur Länderbank war es Vranitzky nicht gelungen, authentische Informationen von der Länderbank-Vertretung im internationalen Handelszentrum in Ost-Berlin über die Lage in der DDR zu bekommen. Der diesbezügliche Auftrag vom Vorstand der Länderbank wurde von der Vertretung in Ost-Berlin zurückgewiesen. Man erklärte sich lediglich bereit, »offizielle Verlautbarungen der Massenmedien der DDR« zu übersenden, »durch persönliche Wertungen Risiken einzugehen«, wurde aber abgelehnt. Das MfS ging davon aus, dass »Vranitzky seinen DDR-Besuch von einem Treffen mit Genossen Honecker abhängig machen« würde.53 Ein solches Treffen war aber wenig wahrscheinlich, da Honecker krank war und man in der DDR auf eine Genesung bis zu den Feierlichkeiten anlässlich des 40. Jahrestags der DDR hoffte. Schlussendlich 50 Bericht eines IM über den besuchsweisen Aufenthalt seiner Ehefrau in Österreich in der Zeit vom 10. September 1989 bis 19. September 1989, BStU, MfS, ZAIG Nr. 6710, Bl. 2–5. 51 Presse-Information. Länderbericht Österreich auf der Leipziger Herbstmesse 1989, BStU, MfS, HA II, Nr. 34476, Bl. 204–206. 52 Vgl. Brait, Andrea : Kultur als Grenzöffner ? Motive und Schwerpunkte der österreichischen Kulturaußenpolitik im Verhältnis zu seinen östlichen Nachbarstaaten in den Jahren 1989–1991, in : Zeitgeschichte 3/41 (2014), S. 166–183. 53 Information über die Vorbereitung des vorgesehenen Staatsbesuches [sic !] des österreichischen Bundeskanzlers Vranitzky in der DDR, gezeichnet Oberst Hebrich (Leiter der Arbeitsgruppe BKK), Berlin, 20. September 1989, BStU, MfS, ZOS Nr. 2712, Bl. 226–227.
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sagte Vranitzky seinen angeblich »völlig privaten« Besuch ab. Seitens des Bundeskanzleramtes wurde ein Zusammenhang mit der »Flüchtlingsproblematik […] kategorisch in Abrede gestellt«54. Agenturmeldungen gingen vom Gegenteil aus.55 Vermutlich wollte Vranitzky in Anbetracht der sich beschleunigenden Ereignisse die weitere Entwicklung abwarten.
IV. Die Zukunft der DDR und die »Wiedervereinigung« – DDR-Einschätzungen zur Haltung Österreichs Vor dem Mauerfall rechnete kaum jemand mit einer »Wiedervereinigung«. So auch nicht die österreichische Politik und Diplomatie. Das MfS hatte den Eindruck, dass am Ballhausplatz die Absetzung Honeckers und Mittags am 17. Oktober 1989 als »die Rettung der DDR vor dem totalen Verfall« gewertet wurde. Laut Stasi erwartete man in Wien die Herausbildung eines pluralistischen Staates, in dem aber die SED weiterhin großen Einfluss behalten würde. In wirtschaftlicher Hinsicht hoffte man auf einen vernünftigen Kurs, eine rasche Konsolidierung und strebte bereits nach einem Ausbau der Beziehungen.56 Trotz der österreichischen Mitwirkung an der Grenzöffnung scheint es, dass auch die SED-Führung die Beziehungen zu Österreich in gewohnter Manier fortsetzen wollte.57 Ein für Oktober fixierter offizieller Delegationsbesuch unter der Leitung des Vorsitzenden des Landesverteidigungsausschusses des österreichischen Nationalrats Friedhelm Frischenschlager in der DDR wurde nur kurzfristig – offiziell aus Termingründen – abgesagt.58 Noch am 24. Oktober stimmte das Politbüro einer Reise von Ministerpräsident Willi Stoph zu einem Arbeitsbesuch in Österreich mit dem Zweck der Unterzeichnung des jährlichen Wirtschaftsabkommens zu. Mittag, der üblicherweise diese Aufgabe wahrnahm, war bereits gemeinsam mit Honecker entmachtet worden. Wann die Reise hätte erfolgen sollen, geht aus dem Beschluss allerdings nicht hervor.59 Dies mag angesichts der chaotischen Verhältnisse dieser Umbruchzeit kaum verwundern. Stoph trat am 8. November mit dem gesamten Po54 BStU, MfS, ZOS Nr. 2712, Bl. 228. 55 ADN-Information, 21. September 1989, BStU, MfS, HA II, Nr. 34476, Bl. 208. 56 BStU, MfS, A 239/89, Bd. 11, Bl. 334–335. 57 Sitzung des Politbüros des Zentralkomitees vom 26. September 1989 (Protokoll Nr. 38/89), SAPMOBArch, DY 30/J IV 2/2/2347, Bl. 4, 50. 58 Keller an Schwertner, Berlin, 9. Oktober 1989, Anlage zum Beschluss, in : Arbeitsprotokoll der Sitzung des Politbüros des Zentralkomitees vom 26. September 1989 (Protokoll Nr. 38/89), SAPMO-BArch, DY 30/ J IV 2/2A/ 3242, Bl. 76. 59 Sitzung des Politbüros des Zentralkomitees vom 24. Oktober 1989 (Protokoll Nr. 45/89), SAPMOBArch, DY 30/J IV 2/2/2354, Bl. 10.
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litbüro zurück und legte auch seine Funktion als Ministerpräsident nieder. Die Reise fand nicht mehr statt. Sein Nachfolger Hans Modrow hatte alle Hände voll zu tun, um eine neue Regierung zu bilden und die Kontrolle über die fragile Situation im Lande nicht vollends zu verlieren. Daher war er vermutlich froh, dass Vranitzky rasch beschloss, in die DDR zu reisen. Am 24. November war es so weit. Der bisherigen Entwicklung der österreichisch-ostdeutschen Beziehungen nach zu urteilen, könnte man seinen Besuch als rein wirtschaftlich motiviert bezeichnen.60 Der Besuch des ersten westlichen Regierungschefs bei der Regierung Modrow kann allerdings alleine aufgrund seiner Außenwirkung nicht auf dieses Motiv reduziert werden. Daher dürfte sein Besuch mit dem französischen Präsidenten François Mitterrand, der im Dezember selbst die DDR besuchte, abgestimmt gewesen sein. Ja, er soll Vranitzky sogar zu dem Besuch ermutigt haben. Im Auswärtigen Amt der Bundesrepublik scheint es durchaus Personen gegeben zu haben, die den Besuch aufgrund des möglichen Erkenntnisgewinns über die neue DDR-Führung für nützlich hielten. Der deutsche Bundeskanzler Helmut Kohl soll ihn jedoch nicht zuletzt wegen der Absprache mit Mitterrand mit »Befremden« aufgenommen haben.61 Anlässlich des Besuches Vranitzkys in der DDR verfasste das seit einer Woche als Amt für Nationale Sicherheit (ANS) firmierende ehemalige MfS eine mit 24. November 1989 datierte Information über die österreichischen Einschätzungen zur Lage in der DDR und zur Entwicklung der bilateralen Beziehungen Österreich – DDR. Diese dürfte als brandaktuelles Vorbereitungsmaterial für die Gespräche mit Vranitzky gedient haben. Unter den acht im Verteiler enthaltenen Personen befanden sich der Nachfolger Honeckers als Parteichef, Egon Krenz, Modrow, Fischer und der Minister für Außenwirtschaft Gerhard Beil. Dem Material zufolge hatten ÖVP und SPÖ die Lage in und die Politik gegenüber der DDR in ihren Vorstandssitzungen erörtert und stimmten dabei in den wesentlichen Punkten überein. Jedenfalls sollen die Vertreter der beiden Parteien laut ANS der Überzeugung gewesen sein, dass die Politik der DDR-Führung zu der seit Oktober 1989 eingetretenen Lage geführt habe. Nichtsdestotrotz stand für die Analysten der Stasi-Nachfolgebehörde fest : »Aus politischen, historischen und ökonomischen Gründen wende sich Österreich gegen ein ›Wegreformieren‹ der DDR und die Entstehung eines ›Großdeutschland‹, 60 Zu den Motiven des Vranitzky-Besuches bleibt anzumerken, dass die Aktenlage hierzu nach wie vor sehr dünn ist und ein endgültiges Urteil künftigen Forschungen auf breiterer Quellenbasis vorbehalten bleiben muss. 61 Gehler, Michael : Österreich, die DDR und die Einheit Deutschlands 1989/90, in : Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 5/57 (2009), S. 427–452, 431. Zur bis heute umstrittenen Haltung Mitterrands zur deutschen Einheit siehe zuletzt Lappenküper, Ulrich : Mitterrand und Deutschland. Die enträtselte Sphinx, München 2011, sowie Vaïsse, Maurice/Wenkel, Christian (Hg.) : La diplomatie française face à l’unification allemande, Paris 2011.
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dessen potentielle Dominanz für das Kräftegleichgewicht in Europa unkalkulierbare Folgen hätte.« Seitens der SPÖ war man daher der Auffassung, dass sowohl die Bundesrepublik als auch die DDR verantwortungsbewusst handeln müssten.62 Daher ging man in Ost-Berlin davon aus, dass die SPÖ auf die stärker an der CDU/CSU-Linie orientierte Führung der ÖVP Einfluss nehmen wollte. Der ÖVP selbst bescheinigte das ANS, »noch keine konzeptionellen Vorstellungen darüber« zu besitzen, wie auf die Veränderungen in der DDR zu reagieren sei und welche Konsequenzen sich daraus für die österreichische Außenpolitik ergeben würden : »Im Vorstand und in der Mitgliedschaft der ÖVP vollziehe sich gegenwärtig ein Differenzierungsprozeß zu diesen Fragen. Die Vorstellungen von Außenminister Mock, der sich insgesamt stark an die Auffassungen von Bundeskanzler Kohl anlehne, würden von anderen ÖVP-Politikern sowie Führungskreisen des ÖVP-Wirtschaftsbundes nicht geteilt. Von diesen Kräften werde befürchtet, daß eine Unterstützung der BRD-Politik in Richtung Wiedervereinigung letztendlich die Position Österreichs in Europa schwächen und negative Folgen für die Wirtschaft Österreichs haben werde – aufgrund der Verlagerung ökonomischer Interessen der BRD von Österreich auf die DDR.«63
Die Furcht vor einer Verschlechterung der Wirtschaftsbeziehungen sowie möglichen Auswirkungen auf die eigenen EG-Beitrittsambitionen war demnach omnipräsent. Abschließend hielt das ANS fest, dass Österreich weiterhin »an unbelasteten und kontinuierlichen Beziehungen« zur DDR interessiert sei : »Die DDR sei für Österreich nicht nur ein wirtschaftlicher Faktor ; von noch größerer Bedeutung sei für Österreich der Ausbau der politischen Kontakte, die eine Art Gegengewicht zum Verhältnis mit der BRD darstellen. Bundeskanzler Vranitzky vertrete seine diesbezüglichen Auffassungen zu diesem Problem mit einer Klarheit, die in der Haltung von Außenminister Mock vermisst werde. Unter allen Parlamentsparteien, einschließlich der Freiheitlichen Partei Österreichs (FPÖ) und trotz ihrer ›deutsch-nationalen‹ Tendenzen, gäbe es den Konsens, daß die Existenz der BRD und der DDR für Österreich lebenswichtig sei.«64
Man hatte in der DDR also die unterschiedlichen Haltungen in der österreichischen Politik und Wirtschaft mit großer Klarheit erkannt. Das Stattfinden und der Ver62 Amt für Nationale Sicherheit, Nr. 508/89, Information über aktuelle österreichische Einschätzungen zur Lage der DDR und zur Entwicklung der bilateralen Beziehungen Österreich – DDR, Berlin, 24. November 1989, BStU, MfS, ZAIG Nr. 5759, Bl. 1–4. 63 Ebd. 64 Ebd., Bl. 1–8 ; sowie auch BStU, MfS, ZAIG Nr. 8420, Bl. 1–4.
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lauf des Besuches schienen die DDR-Einschätzung zu bestätigen.65 Vranitzky hatte, wie vom ANS und den jüngst pluralisierten DDR-Medien im Vorfeld angenommen, während des Besuchs auch Gespräche mit der Opposition und mit dem West-Berliner Bürgermeister Walter Momper (SPD) im Rathaus Schöneberg geführt.66 Das Gespräch mit dem zaudernden Momper, der lange an einen Fortbestand der DDR glaubte und nicht von einer »Wiedervereinigung« sprach,67 dürfte Vranitzky in seiner Haltung gegenüber der DDR eher bestärkt haben. Die Haltung von Vertretern der österreichischen Wirtschaft zu einer möglichen deutschen Einheit kam auch deutlich in einem Gespräch mit dem österreichischen Handelsrat in der DDR, Stephan Kuzmich, zum Ausdruck. In diesem äußerte er »Bedenken hinsichtlich der Entwicklung der Beziehungen zwischen der DDR und der BRD« in Richtung »einer politischen und ökonomischen Einvernahme der DDR«. Österreich betrachte die »passive Haltung der DDR bezüglich einer Wiedervereinigung beider deutscher Staaten« mit »Sorge«. Abschließend betonte er »das Interesse der österreichischen Seite, alle Schritte der DDR zum Erhalt der Eigenstaatlichkeit zu unterstützen«68. Solche Aussagen prägten die Einschätzungen der DDR zur Haltung Österreichs. Die Rotation im Diplomatischen Korps des Ballhausplatzes brachte im Jänner 1990 noch einen neuen österreichischen Botschafter nach Ost-Berlin. Erich Binder folgte Franz Wunderbaldinger. Zu seinem Antrittsbesuch bei Modrow wurde vermerkt, dass Österreich die Entwicklung der Beziehungen zwischen der Bundesrepublik und der DDR »mit höchster Aufmerksamkeit« verfolge und »sehr daran interessiert [sei], daß diese Prozesse ruhig verlaufen und sich in den europäischen Rahmen einordnen«. Österreich sei »gegen [eine] rasche Vereinigung«69. Die Vorbereitungsmaterialien für Modrows Gegenbesuch in Österreich, der bereits am 26. Jänner 1990 stattfand, zeigen ebenfalls deutlich, dass man seitens der DDR von einem starken österreichischen Interesse am Erhalt der DDR ausging.70 Auf seinem eintägigen Besuch wurde Modrow von einer prominent be65 Zum Besuch siehe Gehler, M. 2009, S. 427–452, 430–435. 66 BStU, MfS, HA XX/AKG, Nr. 5723 ; BStU, MfS, ZOS, Nr. 1099, Bl. 10–13. 67 Zur Haltung Mompers siehe Rott, Wilfried : Die Insel. Eine Geschichte West-Berlins 1948–1990, München 2009, S. 411–421. 68 Information über ein Gespräch mit dem Handelsrat der Botschaft der Republik Österreich in der DDR, Herrn Stephan Kuzmich, am 18. Januar 1990 in Berlin, verfasst von Budig (Ministerium für Wissenschaft und Technik), Berlin, 22. Januar 1990, BArch, Abteilung DDR, DC/20/4961, Bl. 30. 69 Gesprächsempfehlungen. Antrittbesuch des Botschafters der Republik Österreich, Dr. Erich Binder, beim Vorsitzenden des Ministerrates der DDR, Dr. Hans Modrow, am 24. Januar 1990, BArch, Abteilung DDR, DC 20/4961, Bl. 31. 70 Fischer übersandte diese an Modrow, Berlin, 23. Januar 1990, BArch, Abteilung DDR, DC 20/4961, Bl. 17.
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setzten Gefolgschaft begleitet. Diese umfasste neben Fischer und Beil auch den Tourismusminister Bruno Benthien. Zudem reisten weitere führende Funktionäre des Ministeriums für Außenwirtschaft und des Tourismusministeriums nach Österreich.71 Das Ausmaß des ostdeutschen Trosses zeigt die erhebliche Bedeutung, die dem Besuch beigemessen wurde. Wie üblich sollte erneut ein Schwerpunkt auf der Entwicklung der Wirtschaftsbeziehungen liegen. Jedoch sollten auch neue Felder in den Beziehungen eine Belebung erfahren. So wurde beispielsweise die Aufhebung des Visumszwanges angestrebt72 und im Zuge des Besuches auch vereinbart.73 In den Gesprächsempfehlungen für Modrow ging man davon aus, dass für Vranitzky eine »Vereinigung« von Bundesrepublik und DDR »kein aktuelles Problem« und dieser »gegen ›deutsche Alleingänge‹« sei. Daher sollte betont werden, dass eine deutsch-deutsche Annäherung nur im europäischen Rahmen erfolgen könne. Da Österreich »beunruhigt« auf Äußerungen reagiert hatte, wonach ein EG-Beitritt der DDR sofort möglich wäre, und man der Überzeugung war, dass man in Wien »erwartet, daß Österreich vor [der] DDR EG-Mitglied wird«, sollte behutsam über die nächsten Schritte der DDR informiert werden. Diese war daran interessiert, »in Kürze« Verhandlungen über ein Handels- und Kooperationsabkommen aufzunehmen, und stellte sich auf den EG-Binnenmarkt ab dem Jahr 1993 ein. Eine »Assoziierung oder gar Mitgliedschaft« der DDR in der EG sei »jedoch keine aktuelle Frage«.74 Der Bericht, den Modrow über den Besuch an den Ministerrat der DDR gab, beinhaltet auch ein Protokoll über sein Gespräch mit Vranitzky. Zur Frage der Vereinigung der beiden deutschen Staaten verhielt er sich angesichts der fortschreitenden Entwicklung bei gleichzeitig noch unklarer Haltung der Sowjetunion vorsichtig, äußerte sich aber bereits nuancierter : »Falls sich die Deutschen für eine Vereinigung der beiden Staaten entscheiden sollten, so müsse man das respektieren. Österreich sei aber an solchen Rahmenbedingungen interessiert, die Europa nicht in Gefahr bringen und das bestehende Gleichgewicht nicht 71 Zusammensetzung der Begleitung des Ministerpräsidenten der DDR, Hans Modrow, für den Besuch in der Republik Österreich, BArch, Abteilung DDR, DC 20/4961, Bl. 27. 72 Für den Entwurf der Vereinbarung siehe : BArch, Abteilung DDR, DC 20/4961, Bl. 23–25. 73 12. Sitzung des Ministerrates vom 1. Februar 1990, BArch, Abteilung DDR, DC 20/I/3/2904, Bd. 1, Bl. 51–66 (davon Bl. 51–53 : Beschluss zum Bericht ; Bl. 54–66 : Vorlage ; Bl. 57–62 : Bericht über den Arbeitsbesuch des Vorsitzenden des Ministerrates der DDR, Hans Modrow, am 26. Januar 1990 in der Republik Österreich ; Bl. 63–66 fehlen). 74 Empfehlungen für das Gespräch des Vorsitzenden des Ministerrates der DDR, Hans Modrow, mit dem Bundeskanzler der Republik Österreich, Franz Vranitzky, am 26. Januar 1990, BArch, Abteilung DDR, DC 20/4961, Bl. 18–21.
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zerstören. Ein zu schneller Ablauf der Ereignisse würde jedoch ein solches Risiko in sich bergen. Alles müsse unter europäischen Aspekten beurteilt werden.«75
Sein Standpunkt wurde in den Bericht Modrows übernommen. Die bilaterale, insbesondere die ökonomische, Zusammenarbeit sollte ausgeweitet werden.76 In diesem Zusammenhang wird deutlich, dass die österreichische Wirtschaft bemüht war, rasch Nägel mit Köpfen zu machen, um nicht allzu sehr gegenüber der Bundesrepublik ins Hintertreffen zu geraten. Wenig später sollte die Frage nach der österreichischen Haltung zur deutschen Einheit bereits obsolet sein. Die ersten freien Volkskammerwahlen am 18. März 1990 endeten mit einem überraschenden und überlegenen Sieg der von der Christlich Demokratischen Union (CDU) geführten »Allianz für Deutschland«. Nach der Bildung einer breiten Koalition, die neben den Parteien der »Allianz« auch den Bund der Freien Demokraten und die SPD umfasste, wurde Lothar de Maizière (CDU) am 12. April zum Ministerpräsidenten der DDR gewählt. Nun waren in der DDR die Weichen ganz klar auf Einheit gestellt. Als nächster Schritt der beiden deutschen Staaten folgte die Wirtschafts- und Währungsunion, die am 1. Juli 1990 in Kraft trat. Nach der Bildung der Regierung de Maizière begann der lange Abschied von den »anderen«77 österreichisch-deutschen Beziehungen. Österreich musste sich in seinen Handelsbeziehungen, insbesondere in Zollfragen, auf die neuen Gegebenheiten nach Inkrafttreten der Wirtschafts- und Währungsunion einstellen. Klar war, dass diese einen wesentlichen Schritt auf dem Weg zur deutschen Einheit darstellte.78 Sorgen der österreichischen Wirtschaftstreibenden, die durch den Wegfall der DDR-Geschäfte Einbußen befürchteten, sollten sich nicht bewahrheiten. Tatsächlich »profitierte Österreich von der westdeutschen Investitionswelle in die Infrastruktur der ehemaligen DDR« in der ersten Hälfte der 1990er-Jahre.79 Nachdem im Juli 1990 der Durchbruch im internationalen Maßstab erfolgt war, gratulierte Österreich zur deutschen Einheit, die am 3. Oktober 1990 vollzogen wurde.80 Nach derzeitigem Kenntnisstand ist Michael Gehlers Interpretation der 75 12. Sitzung des Ministerrates vom 1. Februar 1990, BArch, Abteilung DDR, DC 20/I/3/2904, Bd. 1, Bl. 51–66 (davon Bl. 51–53 : Beschluss zum Bericht ; Bl. 54–66 : Vorlage ; Bl. 57–62 : Bericht über den Arbeitsbesuch des Vorsitzenden des Ministerrates der DDR, Hans Modrow, am 26. Januar 1990 in der Republik Österreich ; Bl. 63–66 fehlen). 76 Ebd. 77 Diese Wendung ist Pfeil, Ulrich : Die »anderen« deutsch-französischen Beziehungen. Die DDR und Frankreich 1949–1990, Köln/Weimar/Wien 2004, entlehnt. 78 Siehe zur Sicht Österreichs ausführlicher : Gehler, M. 2009, S. 427–452, 447–449. 79 Butschek, Felix : Vom Staatsvertrag zur EU. Österreichische Wirtschaftsgeschichte von 1955 bis zur Gegenwart, Wien/Köln/Weimar 2004, S. 200. 80 Gehler, M. 2009, S. 427–452, 449.
Österreich und das »Verschwinden« der DDR 1989/90
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Haltung Österreichs zur deutschen Einheit zuzustimmen. Diese wird durch die Erkenntnisse aus dem ostdeutschen Quellenmaterial bestärkt. Über die weitere Haltung Vranitzkys nach seinem zweiten Zusammentreffen mit Modrow im Jänner 1990 urteilt er : »Der österreichische Bundeskanzler betrieb ab Februar/März 1990 nach der Abwahl Modrows eine Politik der Anpassung an die geänderten Verhältnisse und stellte sich schließlich positiv zur deutschen Einheit auf der Linie von François Mitterrand und Margaret Thatcher, die das Weiterleben der DDR vorerst sowohl für möglich als auch für erstrebenswert hielten, um dann nach der Erkenntnis der Aussichtslosigkeit eines solchen Unternehmens mangels besserer Alternativen umzuschwenken.«81
Ein entscheidender »Hintergrund« bei dieser Veränderung der österreichischen Haltung lag »im Wunsch nach bundesdeutscher [eigentlich gesamtdeutscher] Unterstützung für den angestrebten EG-Beitritt« – einen Schritt, den das Gebiet der DDR mit Vollzug der deutschen Einheit am 3. Oktober 1990 bereits erreicht hatte. Vermutlich auch deshalb »blieb das französische Misstrauen bezüglich einer weiteren Stärkung der ›deutschen Stimme‹ in der EG«. Erst 1991 bekam der Beitrittswerber Österreich ein positives Zeugnis ausgestellt, die Beitrittsverhandlungen begannen im Februar 1993 ; zwei Jahre später wurde Österreich nach einer Volksabstimmung, bei der sich rund zwei Drittel der Wahlberechtigten für einen Beitritt aussprachen, und nicht zuletzt dank deutscher Unterstützung Mitglied der Europäischen Union.82
V. Schlussbetrachtung Die Berichte der Grundorganisation der SED in Wien gewähren einen bisher unberücksichtigten Einblick in den internen Erosionsprozess der SED-Herrschaft. Im Frühjahr 1989 hielten die Auslandskader der SED trotz der offenkundigen Missstände in und der unzweideutigen westlichen Berichterstattung über die DDR an der von der Partei vorgegebenen Linie fest. Erst langsam mehrte sich die Kritik. Im Spätsommer wurde die Agonie der SED-Führung auch ihrem Wiener »Kollektiv« endgültig zu viel. Die Grenzöffnung hatte daran erheblichen Anteil. In der »Wende81 Gehler, M. 2009, S. 427–452, 452. 82 Gehler, Michael : Eine Außenpolitik der Anpassung an veränderte Verhältnisse, in : Gehler, Michael/ Böhler, Ingrid (Hg.) : Verschiedene europäische Wege im Vergleich. Österreich und die Bundesrepublik Deutschland 1945/49 bis zur Gegenwart. Festschrift für Rolf Steininger zum 65. Geburtstag, Innsbruck/Wien/Bozen 2007, S. 493–530, 525.
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zeit« (Oktober und November 1989) wurde erstmals eine offene Sprache gesprochen und wurden konkrete Forderungen und Standpunkte nach Ost-Berlin kommuniziert. Eine Analyse der ostdeutschen Perzeption der Beziehungen zwischen Österreich und Ungarn sowie der Grenzöffnung durch Ungarn im September 1989 macht deutlich, dass dieser Abschnitt des Eisernen Vorhangs schon seit den 1970er-Jahren für Beunruhigung in Ost-Berlin gesorgt hatte. 1989 bewahrheiteten sich die schlimmsten Befürchtungen der SED. Bilder, die nur aufgrund der gut entwickelten Beziehungen zwischen Wien und Budapest möglich waren, fachten die Fluchtbewegung der DDR-Bürger weiter an. Hierdurch und durch seine Mithilfe bei der Ausreise der fluchtbereiten Ostdeutschen, leistete Österreich einen bis heute in der Zeitgeschichtsschreibung oftmals unterschätzten Beitrag zur Öffnung der Mauer. Nichtsdestotrotz zeigte sich nach der Maueröffnung, dass sowohl Österreich als auch die DDR an einer Fortsetzung der seit der Anerkennung 1972 konsequent ausgebauten und gut funktionierenden bilateralen Beziehungen interessiert waren. In Österreich betraf dies nicht nur Teile der Medien und eine größere Zahl von Intellektuellen, sondern auch Diplomatie, Wirtschaft und Politik. Die Akten aus DDR-Provenienz zeichnen ein klares Bild der österreichischen Position. Die darin enthaltenen Einschätzungen bestätigen Gehlers These von einer »Außenpolitik der Anpassung an veränderte Verhältnisse« und vermögen insbesondere die Haltung des offiziellen Österreich im Herbst 1989 noch weiter zu erhellen. Während Außenminister Mock sich in seiner Haltung stets stark an der Linie der westdeutschen CDU/CSU orientierte, war Bundeskanzler Vranitzky zumindest bis Anfang 1990 auf einen Fortbestand der deutschen Teilung orientiert. Seine Besuchsdiplomatie ist deutlicher Ausdruck dieser Haltung. Österreichs Wirtschaft trachtete angesichts einer wahrscheinlicher werdenden deutschen Einheit danach, vor deren Vollzug zu entsprechenden Geschäftsabschlüssen mit der DDR zu kommen. Schlussendlich begrüßte Österreich aber die deutsche Einheit, da man der deutschen Unterstützung beim angestrebten EG-Beitritt bedurfte.
Juliane Holzheimer
Grenzen der Grenzüberschreitung Eine Analyse lebensgeschichtlicher Interviews mit DDR-Flüchtlingen des Jahres 1989
»Na ! Kommt’s Ihr aus der DDR ? Sind Sie geflüchtet ?«1 Dies waren die ersten erlösenden Worte für eine junge Frau aus der DDR, die im Sommer 1989 nach erfolgreicher Flucht österreichischen Boden unter den Füßen hatte. Wie für viele DDRFlüchtlinge des Jahres 1989 war der Weg über Ungarn und Österreich die einzige Möglichkeit, in ›den Westen‹ zu gelangen. Österreich war damit zwar meist nur eine Zwischenstation auf dem Weg in die Bundesrepublik, bedeutete jedoch als Schwelle zum Westen für jeden Einzelnen einen enormen biografischen Bruch. Die Flucht als Grenzübertritt war damit mehr als das Überwinden territorialer Grenzen, hatte diese Handlung doch beträchtliche Auswirkung auf den Lebenslauf, was sich mittels biografischer Erzählungen auch mehr als 20 Jahre später noch rekonstruieren lässt. In einer lebensgeschichtlichen Untersuchung wurden narrative Interviews mit ehemaligen DDR-Bürgern durchgeführt, die 1989 noch vor dem Fall der Mauer in die Bundesrepublik geflohen waren. Im Zentrum dieser »Erinnerungsinterviews«2, wie sie Lutz Niethammer bezeichnet, stand dabei die Frage, wie das Erlebnis der Flucht aus heutiger Perspektive bewertet und vor allem in der eigenen Biografie verortet wird. Die lebensgeschichtliche Fokussierung auf persönliche Erfahrungen und Wahrnehmungen zielte dabei auf die Betrachtung der historischen Ereignisse 1989 als Teil eines individuellen Identitätsentwurfes. Bewusst wurde hier Abstand von der Vorstellung der Flucht als Beitrag zur Maueröffnung genommen – einer durchaus korrekten, jedoch sehr einseitigen Bewertung, die bereits Thema zahlreicher historischer Untersuchungen war.3 Unter besonderer Berücksichtigung der Rolle Österreichs wird die Flucht 1989 im Folgenden anhand eines dreifachen Grenzbegriffs analysiert, deren Ausgangspunkt die tatsächliche territoriale Grenzüberwindung bildet. In der Betrachtung der 1 Interview von Juliane Holzheimer mit Katharina Baumann, Magdeburg, 27. November 2010. 2 Niethammer, Lutz : Fragen – Antworten – Fragen. Methodische Erfahrungen und Erwägungen zur Oral History, in : Niethammer, Lutz/Plato, Alexander von (Hg.) : »Wir kriegen jetzt andere Zeiten«. Auf der Suche nach Erfahrung des Volkes in nachfaschistischen Ländern (Lebensgeschichte und Sozialkultur im Ruhrgebiet 1930–1960 3), Berlin/Bonn 1985, S. 392–445, hier S. 404. 3 Vgl. Timmer, Karsten : Vom Aufbruch zum Umbruch. Die Bürgerbewegung in der DDR 1989 (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 142), Göttingen 2000.
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Flucht als Teil der persönlichen Lebensgeschichte steht aber auch die Narration und damit das Aufdecken verschiedener narrativer Erfahrungsschichten im Mittelpunkt der Untersuchung. Die dabei rekonstruierten Erinnerungsgrenzen, die sich bereits aus der Differenz erlebter und erzählter Erinnerung ergeben, konnten schlussendlich eine weitere Begrenzung sichtbar machen : die Grenzen des Diskurses.
I. Die Flucht 1989 : Eine lebensgeschichtliche Untersuchung Im Rahmen der Feldforschung für die Magisterarbeit »›Du bist hier verkehrt.‹ Eine lebensgeschichtliche Untersuchung der Flucht 1989 aus der DDR« wurden acht Interviews mit insgesamt elf Zeitzeugen in ganz Deutschland durchgeführt. Um vergleichbare historische Rahmenbedingungen zu setzen, wurde zunächst der Zeitraum von Januar bis September 1989 gewählt, der jedoch aus Mangel an gesprächsbereiten Probanden4 auf die Zeit bis zum Mauerfall erweitert werden musste. Die Einschränkung sollte den Zeitabschnitt noch vor Beginn der großen Massenfluchten über Ungarn und die Tschechei umfassen, um der Annahme gerecht zu werden, dass die Probanden bei der Realisierung der Flucht bis zum 11. September eine große Risikobereitschaft zeigten, während mit steigenden Flüchtlingszahlen und gelungenen Fluchten möglicherweise auch das Risikobewusstsein gemindert wurde. In den Interviews hat sich allerdings gezeigt, dass – zumindest aus heutiger Erfahrungsperspektive – die Fluchtbedingungen und die mit einer Flucht verbundenen Gefahren und Ängste der Probanden im August wie im Oktober als ähnlich widrig bzw. schwerwiegend und groß wahrgenommen wurden. Der Begriff des Flüchtlings bezieht sich hierbei sowohl auf Personen, die die DDR über Drittländer oder die innerdeutsche Grenze (die sogenannten Sperrbrecher) verließen, schließt aber auch einige Personen mit ein, die nach gestattetem Besuchsreiseantrag und einer darauf erfolgten Reise in der Bundesrepublik verblieben. Nicht berücksichtigt wurden Übersiedler und von der Bundesrepublik freigekaufte politische Häftlinge. Die Gespräche wurden als narrative Interviews5 angelegt. Ein »Erzählimpuls« soll dabei eine »Stegreiferzählung« generieren, in welcher der Proband Erlebnisse und Erfahrungen als »zusammenhängenden Fortgang« argumentativ darstellt.6 Eine
4 Zu dem Begriff vgl. Flick, Uwe : Qualitative Sozialforschung. Eine Einführung, 4., ergänzte und erweiterte Aufl., Hamburg 2011. 5 Vgl. Flick, U. 2011, S. 227–247. 6 Hermans, Harry : Narratives Interview, in : Flick, Uwe/Kardorff, Ernst/Keupp, Heiner/Rosenstiel, Lutz/Wolff, Stephan (Hg.) : Handbuch Qualitative Sozialforschung. Grundlagen, Konzepte, Methoden und Anwendungen, 3. Aufl., Weinheim 2012, S. 182–185, hier S. 183.
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»Nachfrage- und eine Bilanzierungsphase«7 beschließen das Gespräch. Das methodische Vorgehen des »Reden-Lassens«8 zielt dabei mit der Strategie der »Natürlichkeit und Reziprozität«9 auf eine offene Unterhaltung, die sich an alltägliche kommunikative Grund- und Verhaltensmuster anlehnt und so ein Vertrauensverhältnis evoziert.10 Die Interaktion zwischen Interviewer und Interviewtem wurde bewusst als assoziatives Gespräch gestaltet, um durch Erzählanstöße Gedächtnis- und Erinnerungsprozesse freizusetzen,11 gleichzeitig aber auch Kapazität für unerwartete Inhalte offenzuhalten (Serendipity-Prinzip)12. Ein als teilstrukturierter Leitfaden gestalteter Fragenkatalog diente der inhaltlichen Gliederung und der flexiblen Taktung der Gesprächsverläufe. Auf diesem Wege wurde auch die Vergleichbarkeit des Interviewmaterials sichergestellt. Der Leitfaden orientierte sich dafür an den drei inhaltlichen Kernaspekten : Motive der Flucht, Flucht sowie Ankunft und Leben in der Bundesrepublik. Die Auswertung der Daten erfolgte in zwei Phasen : In einem ersten Schritt wurde eine Einzelfallanalyse durchgeführt, die formal die drei Textebenen Gesamtinterview, Textsequenz und Sprache umfasste.13 Unter Berücksichtigung der Bedingungen des Erzählens und Erinnerns14 erfolgte daraufhin eine »vergleichende Zusammenschau«15 aller Interviews, in der übergreifende inhaltliche Topoi und wiederkehrende Erzählmuster aufgedeckt werden konnten. Bei der Analyse verlagerte sich der Schwerpunkt der Untersuchung vom Erzähl inhalt auf die formalen Erzählstrukturen. Sich in allen Interviews wiederholende narrative Elemente und Strategien traten gleichsam vor die Inhaltsebene und schienen bestimmte Wahrnehmungen und Einstellungen der Probanden zu beeinflussen beziehungsweise zu verdecken. Ausgehend vom inhaltlichen Aspekt der Flucht als realer Grenzüberschreitung werden diese narrativen Elemente im Folgenden als Erinnerungs- und Diskursgrenzen erläutert. 7 Ebd., S. 184. 8 Vgl. Schmidt-Lauber, Brigitta : Das qualitative Interview oder : Die Kunst des Reden-Lassens, in : Göttsch, Silke/Lehmann, Albrecht (Hg.) : Methoden der Volkskunde. Positionen, Quellen, Arbeitsweisen der Europäischen Ethnologie, 2., überarbeitete und erweiterte Aufl., Berlin 2007, S. 169–188, hier S. 178–180. 9 Ebd., S. 180. 10 Vgl. ebd., S. 178–180. 11 Vgl. Niethammer, L. 1985, S. 404. 12 Vgl. Schlehe, Judith : Formen qualitativer ethnographischer Interviews, in : Beer, Bettina (Hg.) : Methoden und Techniken der Feldforschung, Berlin 2003, S. 71–93, hier S. 71. 13 Vgl. Wierling, Dorothee : Oral History, in : Maurer, Michael (Hg.) : Aufriss der Historischen Wissenschaften. Bd. 7. Neue Themen und Methoden der Geschichtswissenschaft, Stuttgart 2003, S. 81–151, hier S. 131–134. 14 Vgl. Lehmann, Albrecht : Reden über Erfahrung. Kulturwissenschaftliche Bewusstseinsanalyse des Erzählens, Berlin 2007, S. 50–58. 15 Schmidt-Lauber, B. 2007, S. 184.
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II. Grenzüberwindungen Die elf Probanden der Feldforschung lassen sich hinsichtlich der Art und dem Zeitpunkt der Flucht in drei Gruppen einteilen. Während zwei Probanden bereits im Juni und August 1989 die innerdeutsche Grenze mittels eines Besuchsreisevisums passieren konnten und nach dessen Ablauf in der Bundesrepublik verblieben, fanden alle weiteren Fluchten über Drittländer statt. Die Probanden, die im August und September über den ungarisch-österreichischen Grenzraum flohen, werden dabei in einer Gruppe, und diejenigen, die im September und November über die tschechoslowakische Grenze in die Bundesrepublik gelangten, in einer weiteren Gruppe zusammengefasst. Gemeinsam ist diesen beiden Gruppen, dass die veränderte politische Situation in den Blockstaaten als auslösendes Moment der Flucht wahrgenommen wurde. Die allgemein gehaltenen Beschreibungen einer »gelockerten«16 Lage in Ungarn und die Entstehung einer »grünen Grenze«17 durch den Abbau von »Selbstschussanlagen und Minenfeldern«18 referieren dabei auf den Abbau des Stacheldrahtzauns an der ungarisch-österreichischen Grenze im Mai sowie den Beitritt Ungarns zur Genfer Flüchtlingskonvention einen Monat später. Auch Berichte zu ersten gelungenen Fluchten über Ungarn und Österreich durch westdeutsche Medien oder Bekannte wurden als Auslöser für den Entschluss zur Flucht genannt. Budapest und wenig später auch Prag waren die ersten Ziele zur Realisierung von Fluchtplänen. Ausgehend von der Annahme einer gelockerten Situation, gingen die Probanden zunächst von einer gefahrenlosen Überquerung der als ›offen‹19 vermuteten Grenzen aus. Zwei im August unabhängig voneinander gestartete Fluchtversuche der befragten Zeit16 Vgl. Interview von Juliane Holzheimer mit Karsten Humpe, Konstanz, 20. Oktober 2010 : »Joa, und dann hat sich das Ganze so entwickelt, dass das da in Ungarn schon alles ’n bisschen – war schon immer ’n bisschen lock’rer – dass ich da [holt tief Luft] gemerkt hatte, dass sich da paar Veränderungen eintreten. Och von de Russen her.« 17 Vgl. Interview von Juliane Holzheimer mit Katharina Baumann, Magdeburg, 27. November 2010 : »Und, ähm [räuspert sich], und dann, ähm, man hörte, dass die Ungarn eben die Grenze abbauen und lockern und den Eisernen Vorhang öffnen. […] Und das eben ’ne grün’ Grenze werden soll und irgendwie war das dann so in meinem Kopf.« 18 Vgl. Interview von Juliane Holzheimer mit Friedrich Walther, Wiesbaden, 23. Oktober 2010 : »Selbstschussanlagen und, und Minenfelder und so was. Das ham die alles weggenommen. Also die ham die Grenze sozusagen ›smarter‹ gemacht.« 19 Vgl. Interview von Juliane Holzheimer mit Katharina Baumann, Magdeburg, 27. November 2010 : »Und ja, und bin dann da eben durchs Grüne gerobbt. Und dann, äh, komm’ ich da aus den Sträuchern, komm’ ich da raus und stehe plötzlich vor Stacheldrahtzaun. Und da war dann also eine Wand Stacheldrahtzaun, dann war so’n Stück Niemandsland und dann war noch mal Stacheldrahtzaun. Und das war halt, dass ich dachte : ›Die [lacht] ham doch in den Nachrichten erzählt, die Ungarn bau’n die Grenze ab ! Wieso is’n hier Stacheldrahtzaun ?‹ [ich lache] Und das war, also ich war erst mal ziemlich fassungslos, und, und, weil damit hatt’ ich nich’ gerechnet.«
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zeugen scheiterten entsprechend und wurden durch ungarische Soldaten verhindert. Unter strenger Bewachung wurden beide Personen mit dem Zug nach Budapest zur deutschen Botschaft gebracht. Die Aufenthaltszeit in den Malteserlagern sowohl in Budapest als auch in Prag als weitere Gemeinsamkeit der im August und September durchgeführten Fluchten wird in den Erzählungen der Probanden immer mit dem Gefühl von Angst und Unsicherheit verbunden. Neben der Ratlosigkeit darüber, was man dort eigentlich machen solle und was passieren würde, wird oft auch die Angst vor den im Gelände anwesenden Mitarbeitern der Staatssicherheit angesprochen, die die Flüchtlinge wieder zurückbringen konnten.20 Auch in anderen Zusammenhängen tritt das Narrativ der Angst immer wieder in den Berichten auf. Neben der Allgegenwärtigkeit von Staatssicherheitsbeamten beispielsweise in den Transitzügen von Prag nach Hof am 3. Oktober, die nach Angaben einer Probandin21 Kinder aus der einsteigenden Menge abgefangen haben, wurden auch die Grenzkontrollen als bedrohlich eingeschätzt, die jeder Flüchtling durchlaufen musste. Eine solche Wahrnehmung ergibt sich aus den alltäglichen Erfahrungen und Auseinandersetzungen mit dem sozialistischen Staat, der seine Macht stets durch repressive Akte wie dem der Grenzüberwachung eindrücklich demonstrierte : »Das war schon ’n ganz eigenartiges Gefühl, als der Zuch in Übelsfelde hielt. Wir standen unter ei’m, ei’m Brückendurchgang. Oben standen, weiß ich nich’, fünf, sechs, sieben Leute mit Maschinenpistolen. Die Hunde liefen an den an den Zügen vorbei. Und dann marschierten die zu dritt oder zu viert durch den Zug da durch und kontrollierten.«22
Unabhängig vom Zeitpunkt der Flucht und den fortschreitenden politischen Ereignissen bestimmte das Gefühl der Angst und der Unsicherheit das gesamte Geschehen der Flucht. In Sicherheit wähnte man sich erst auf bundesdeutscher beziehungsweise bereits auf österreichischer Seite, wie ein Proband erzählt, der im September von Budapest über Wien mit einem der Transitbusse in die Bundesrepublik gelangte : »Man hatte dann doch immer noch ’n bissel – was heeßt Angst, och bissel Ungewissheit war’s doch schon. […] Und eigentlich war die Erlösung erst da, als wir dann durch die Grenze durch war’n.«23 20 Interview von Juliane Holzheimer mit Paula Kalterer, Tübingen, 31. Oktober 2010. »Und dann musste man ja auch noch Angst haben, dass ma’ irgendwie rausgefischt wird und, ähm, dass man vielleicht wieder zurückgeschickt wird.« 21 Interview von Juliane Holzheimer mit Tina Stenkamp, Hannover, 7. November 2010 : »Und da ham die versucht, die Kinder wegzuziehen. Die hätte man nich’ wiedergekriegt, ne. Und dann ham wer da uns gegenseitig geholfen.« 22 Interview von Juliane Holzheimer mit Paul Stenkamp, Hannover, 7. November 2010. 23 Interview von Juliane Holzheimer mit Karsten Humpe, Konstanz, 20. Oktober 2010.
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Auch in anderen Berichten wird das Erreichen der österreichischen Seite der Grenze mit dem Ende der Unsicherheit gleichgesetzt. Der Grenzübertritt wird dabei als abrupter Wechsel von ungeordneten zu geordneten Zuständen narrativ markiert. Das Bild des »total aufgeräumten Waldes«24 auf österreichischem Boden beispielsweise deckt sich mit den Vorstellungen vom geregelten Westen als »ganz andre[r] Welt«25 : »Und dann fuhr’n wir in den Westen rein. Und von da ab war das ’n ganz eigenartiges Gefühl. Es sah plötzlich alles sauber aus. Ich hatte das Gefühl, ich fahr so in ein LegoLand. Die DDR war damals in den Ende der 80er-Jahre sehr schmuddelig. Es war vieles zerfallen, die Straßen war’n kaputt, die Fäu-, Häuserfassaden war’n mächtig runtergekommen. Und plötzlich, mit Übertritt in den Westen : wie gemalt, das Land. Es war sauber. Die Schranken war’n rot-weiß tatsächlich gestrichen. Es sah einfach alles erst mal ordentlich aus.«26
Dieser Kontrast setzt sich auch in den Berichten über die Zeit in den Notaufnahmelagern fort, die unabhängig vom Fluchtzeitpunkt zunächst das erste Ziel für die Flüchtlinge waren. Gleichzeitig kennzeichnen die Schilderungen auch den Gegensatz zu der vorher erlebten Angst und den chaotischen Zuständen in den Malteserlagern : »Von da ab ging das wirklich straff organisiert. Das, das war ein, also das, das hat mich fasziniert sowas. […] Wir sind halb vier eingereist, wir sind empfangen worden, wir, wir sind gleich weitergeleitet worden. ›Dort is’ ’n Zelt. Dort gibt es Getränke. Da gibt es Essen. Da könnt’ Ihr Telefonieren.‹ – wenn einer en Telefon hat.«27
Mit Ausnahme einer Probandin, die das Bundesaufnahmeverfahren bereits in Wien durchlaufen konnte,28 wurden die Flüchtlinge in die Notaufnahmelager verteilt, für
24 Interview von Juliane Holzheimer mit Friedrich Walther, Wiesbaden, 23. Oktober 2010. 25 Interview von Juliane Holzheimer mit Karsten Humpe, Konstanz, 20. Oktober 2010. 26 Interview von Juliane Holzheimer mit Paul Stenkamp, Hannover, 7. November 2010. 27 Interview von Juliane Holzheimer mit Petra Schmitt, Coburg, 24. November 2010. 28 Die Probandin erklärt diesen Umstand mit dem Zeitpunkt ihrer Flucht, der mit den Ereignissen um das Paneuropäische Picknick zusammenfällt : »Da […] hatten die [das Aufnahmelager Gießen] also ne, äh, Außenstelle in Wien in der Deutschen Botschaft, äh, eröffnet, um eben diesem Ansturm, der also am Wochenende sozusagen, mit dem am Wochenende zu rechnen war, um dem irgendwie gewachsen zu sein. Sodass wir dann, als wir da am 17. August erschienen, äh, hatten wir dann halt das große Glück, sozusagen die Ersten zu sein, die eben dieses ›Bundesaufnahmeverfahren‹ eben schon in Wien absolvieren konnten und nich’ eben dann erst noch nach Gießen mussten. […] dann hat jeder von uns zweihundert D-Mark bekommen und ’n Bahnticket. Ich wollte damals nach München.« Interview von Juliane Holzheimer mit Katharina Baumann, Magdeburg, 27. November 2010.
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die in unmittelbarer Grenznähe seit August 1989 Außenstellen eingerichtet waren. Einige, die bereits einen in der Bundesrepublik lebenden Partner oder dort Verwandte hatten, wurden von diesen schon nach kurzer Zeit abgeholt. Die anderen verblieben einige Zeit in den Notaufnahmelagern, in denen sie Verpflegung erhielten, sich anmelden und für den zukünftigen Aufenthaltsort entscheiden mussten.29 Österreich fungierte bei allen Probanden nur als Durchgangsland. Ziel blieb die Bundesrepublik, obgleich Österreich in den Berichten der Zeitzeugen ausnahmslos positiv bewertet wurde. Dabei decken sich die Erfahrungen über die gastfreundliche Aufnahme der Flüchtlinge : von den in Grenznähe lebenden Bewohnern in Österreich30 wurden ihnen Essen, Unterkunft und Waschmöglichkeiten geboten, wie eine Probandin schildert : »Jedenfalls hat der gesagt : ›Seid ihr Flüchtlinge ?‹ Und da ham wir gesagt : ›Ja.‹ Also total verdreckt und nass. Und da hat der gesagt : ›Da unten wohnt meine Mutter‹ – oder meine Eltern, äh – ›die gibt euch ’n Frühstück.‹ Da sind wir da runter. Die hat uns och rein gelassen.«31
Auch wenn es Arbeitsmöglichkeiten gegeben hätte, wie ein anderer Proband kurz erwähnt, schien Österreich von Anfang an keine Option zu sein :
29 Auf Grundlage des Notaufnahmegesetzes vom 22. August 1950 (1986 in »Aufnahmegesetz« umbenannt) wurden in der Bundesrepublik in Gießen, Uelzen und 1953 in Marienfelde die sogenannten Notaufnahmelager für Flüchtlinge aus der DDR eingerichtet. In einem langwierigen Aufnahmeverfahren wurde das Fluchtmotiv und damit das Anrecht der Antragsteller auf staatliche Unterstützung überprüft. Der Ablauf des Aufnahmeverfahrens wurde in einer Durchführungsverordnung genau festgelegt, der hier am Beispiel des Notaufnahmelagers Marienfelde kurz erläutert werden soll : Zunächst wurden persönliche Daten aufgenommen und ein Gesundheitspass nach ärztlicher Untersuchung ausgestellt. Nachdem überprüft wurde, ob das Aufnahmeverfahren entsprechend den gesetzlichen Grundlagen überhaupt notwendig ist, wurden die Flüchtlinge versorgt (Kleidung, Essen, Unterkunft) und polizeilich angemeldet. Der darauf folgende Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis für die Bundesrepublik musste vor dem Aufnahmeausschuss zunächst verhandelt werden, ehe der Flüchtling als Neubürger in die Bundesrepublik aufgenommen und im Bundesgebiet angesiedelt werden konnte. Vgl. Kimmel, Elke : Das Notaufnahmeverfahren, in : Effner, Bettina/Heidemeyer, Helge (Hg.) : Flucht im geteilten Deutschland. Erinnerungsstätte Notaufnahmelager Marienfelde, Berlin 2005, S. 115–134. 30 Für die in Grenznähe lebenden Einheimischen schienen die Flüchtlinge eine normale Erscheinung zu sein, wie bei der Zusammenkunft einer österreichischen Bäuerin mit einer Probandin deutlich wird : »[…] da war dann so ’ne Bäuerin of ihr’m Feld und hat da eben irgendwie umgegraben oder irgendwas geerntet. Und hat dann so mit ihr’m österreichischen Dialekt gerufen, äh : ››Na ! Kommt’s Ihr aus der DDR ? Sind Sie geflüchtet ?‹ Und wir : ›Ja ! Hm ! Woher weiß die das denn ?‹ Und, und dann : ›Hach, das is’ ja interessant. Sonst kommen die Leute immer nachts. Am helllichten Tach is’ noch niemand gekommen !‹« Interview von Juliane Holzheimer mit Katharina Baumann, Magdeburg, 27. November 2010. 31 Interview von Juliane Holzheimer mit Paula Kalterer, Tübingen, 31. Oktober 2010.
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»Das ging eigentlich schon auf der Busfahrt durch Österreich los. Da kam’ Zettel durch, äh, dass man dort hätte gleich wieder aussteigen können und arbeiten können. […] Auch für de verschiedenen Branchen ham’s gleich nachgefragt. Also da gab’s schon Unmengen Anfragen.«32
Wie gezeigt werden konnte, bedeutete das Überschreiten der Grenze und die Ankunft in Österreich beziehungsweise der Bundesrepublik für alle Probanden einen unmittelbaren Bruch, der auch narrativ als solcher gestaltet und als biografischer Einschnitt in den Lebenslauf eingeschrieben ist.
III. Erzähl- und Erinnerungsgrenzen Im Fall narrativer Interviews muss sich der Begriff der Erinnerungsgrenzen zunächst auf Grenzen des Erzählens beziehen.33 Dass das Interview als eine künstlich hergestellte Kommunikationssituation zwischen zwei Sprechern innerhalb eines öffentlichen Bezugsrahmens bereits einschränkende Auswirkungen auf Erzählinhalte hat, kann ohne weitere Erläuterung vorausgesetzt werden. Bereits die Präsentation des Inhaltes erfolgt durch konventionalisierte Muster, die sich aufgrund ihrer strukturierenden Funktionen restriktiv auf die Erinnerungsinhalte auswirken. Eine Erzählung wird zunächst als ein kontinuierlicher, in sich geschlossener, nachvollziehbarer Handlungsverlauf angelegt. Erlebnisse werden dabei nicht nur auf stringente Geschehnisse unter Aussparung von Nebensächlichkeiten reduziert dargestellt, sondern gleichfalls chronologisch geordnet präsentiert.34 Gebunden an die »normativen Anforderungen und kulturellen Kriterien für eine gute Geschichte«35 wird eine 32 Interview von Juliane Holzheimer mit Karsten Humpe, Konstanz, 20. Oktober 2010. 33 Vgl. Schmidt-Lauber, Brigitta : Grenzen der Narratologie. Alltagskultur(forschung) jenseits des Erzählens, in : Hengartner, Thomas/Schmidt-Lauber, Brigitta (Hg.) : Leben – Erzählen. Beiträge zur Erzähl- und Biographieforschung. Festschrift für Albrecht Lehmann, Berlin 2005, S. 145–162. 34 Die Darstellung der eigenen Biografie als Erzählung ist nach Ulrike Jureit an »Erzählschemata«, also kulturell geprägte Muster des Erzählens gebunden. Manfred Seifert weist in diesem Zusammenhang auch auf die »Biografisierungstendenz« durch die Präsenz von Zeitzeugen in Unterhaltungsmedien hin, die zur Herausbildung von gefestigten Strukturen von biografischen Erzählungen führt. Vgl. Jureit, Ulrike : Erinnerungsmuster. Zur Methodik lebensgeschichtlicher Interviews mit Überlebenden der Konzentrations- und Vernichtungslager (Forum Zeitgeschichte 8), Hamburg 1999, S. 87 f.; Seifert, Manfred : Ego-Dokumente im Spannungsfeld von Forschungsperspektiven und Sammlungspraxis. Zum Stellenwert lebensgeschichtlicher Forschung im aktuellen Wissenschaftsdiskurs und ihre Konzeption am Institut für Sächsische Geschichte und Volkskunde, in : Friedreich, Sönke/Seifert, Manfred (Hg.) : Alltagsleben biografisch erfassen. Zur Konzeption lebensgeschichtlich orientierter Forschung, Dresden 2009, S. 11–36, hier S. 14. 35 Welzer, Harald : Das Interview als Artefakt. Zur Kritik der Zeitzeugenbefragung, in : BIOS – Zeitschrift für Biographieforschung, Oral History und Lebensverlaufsanalysen 1/13 (2000), S. 51–63, S. 55.
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in sich schlüssige, durch Kausalketten strukturierte Erzählung mit einem Anfang und einem Ende konstruiert.36 Im Fall meiner Interviewpartner wurde die Erzählung auf Basis einer bewusst offen gestalteten Einstiegsfrage37 mit dem Anlass der Flucht oder sogar sofort mit den Ereignissen der Flucht eröffnet, die am ausführlichsten beschrieben wurde, und schloss mit der Darstellung der geglückten Ankunft. Auffällig war bei einigen Gesprächen der reflektierte Umgang mit den persönlichen Erlebnissen, der sich in einer gewählten Sprache und einer flüssigen Erzählstruktur äußerte. Eine Erzählerin griff beispielsweise bewusst auf Ereignisse vor oder zurück, um einen Handlungs- und Spannungsbogen aufzubauen, oder nahm sich aus dem Kontext ergebende Fragen bereits vorweg. Ein so gearteter Umgang mit Erzählinhalten verweist auf eine sprachlich fixierte Version, die durch mehrfache Auseinandersetzung mit persönlichen Erfahrungen oder die wiederholte und erprobte Wiedergabe dieser Erfahrungen entstanden ist.38 Individuelle Erfahrungen werden durch die Wiederholungen und die Übereinkunft mit einer Sprechergemeinschaft zu einer vom sozialen Referenzrahmen abhängigen Erzählversion geformt.39 Auf diese Weise konsolidiert sich eine auf die wesentlichen Ereignisse reduzierte Variante der Geschehnisse, die sich gleichzeitig als gefilterte Erinnerungsversion ins aktive Gedächtnis einschreibt. Für eine Erzählversion weniger relevante Inhalte werden dabei nicht nur reduziert, sondern gleichsam aus dem aktiven Erinnerungsrepertoire gestrichen. Eine auf Kontinuität angelegte, chronologisch strukturierte Erzählung unterstützt und verstärkt diesen formalen Prozess. Passive oder gar verdrängte Gedächtnisinhalte müssen indes für tatsächlich vollzogene Handlungen und Erlebnisse der Vergangenheit nicht ohne Bedeutung gewesen sein, wie sich an den Ergebnissen der Interviewanalyse bezüglich der Fluchtmotive verdeutlichen lässt : Die Schilderung der Motive der Flucht fällt bei allen Probanden sehr kurz aus und bezieht sich – sofern sie nicht auf ein generelles Gefühl des Unwohlseins zu36 Flick bezeichnet diese »Zwänge des Erzählens« als Gestaltungszwang, Kondensierungszwang und Detaillierungszwang, in : Flick, U. 2011, S. 231. 37 Die als Erzählaufforderung angelegte Einstiegsfrage lautete : »Ich möchte Sie bitten, alles mit Ihrer Flucht in Zusammenhang Stehende und für Sie Relevante zu berichten. Neben dem Ereignis der Flucht hinsichtlich Planung, Durchführung und der letztendlichen Ankunft und Integration in Westdeutschland interessiert mich, wie es überhaupt zu der Entscheidung zu einer solchen Handlung gekommen ist, wobei sowohl Ihre persönlichen Wahrnehmungen, Einschätzungen und subjektiven Eindrücke als auch für Sie bedeutsame Erfahrungen, Ereignisse und Umstände im Vordergrund stehen.« Ziel der Formulierung war es, die Frage so offen wie möglich und nur so präzise wie nötig zu gestalten. Neben einer groben inhaltlichen Begrenzung auf die drei Themenkomplexe »Situation vor der Flucht, Flucht und Ankunft« sollte die Frage ebenfalls einen Erzählimpuls liefern und das methodische Vorgehen des »Erzählen-Lassens« deutlich machen. 38 Vgl. Lehmann, A. 2007, S. 48. 39 Vgl. Wierling, D. 2003, S. 117.
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rückgeführt wird – auf einen konkreten Anlass, wie etwa die Einberufung zum Reservistendienst40 oder die Verwehrung schulischer und beruflicher Bildungsmöglichkeiten41. Vor dem Hintergrund des Bewusstseins der Risiken und Gefahren einer Flucht sowie der Inkaufnahme einer ungewissen Zukunft in der Bundesrepublik, mit der nicht nur der Bruch zu allen Kontakten in der DDR, sondern auch die Aufgabe der bisherigen Existenzgrundlage verbunden war, erscheinen derart geäußerte Motive nahezu unerheblich. Sind diese Motive zwar als Auslöser für den Entschluss zur Flucht zu verstehen, so erklären sie den Entscheidungsprozess einer solch weitreichenden Handlung doch nur unzureichend. Als Ausgangspunkt zur Rekonstruktion der Fluchtmotive ist stattdessen der allen Gesprächen gemeinsame Topos der Unzufriedenheit beziehungsweise des Unwohlseins zu verstehen, der als »nicht normal«42, »Bauchgefühl«43, »eigenartig«44, »Unmut«45, »irgendwas läuft hier nich’ rund«46 oder schlicht als »krank«47 artikuliert wurde. Diese Empfindungen bezogen sich auf alltägliche Begebenheiten, die erst im Zusammenhang mit kleinen Anekdoten im Verlauf des Erzählens zum Vorschein gebracht wurden. Die darin kommunizierten Missstände und Mängel wurden lediglich als eine »Requisitenkammer«48 gebraucht, 40 Vgl. Interview von Juliane Holzheimer mit Karsten Humpe, Konstanz, 20. Oktober 2010 : »Und dann war Einberufungs-Überprüfung. [Pause] Wollten’s mich mit fünfundzwanzig dann noch zum Wehrdienst ziehen, ja. Und da hab ich, äh, kurzfristig das Ganze abgesagt, dass ich da keine Waffe anfasse. Und [holt tief Luft, Pause], äh, dann war die Überprüfung, und dann saßen hier halt drei oder vier solche Mopsgesichter [lachen beide] – sag ich mal – mir gegenüber. […] Man saß einzeln of’m Stuhl davor, wie so’n beim Verhör. Und [Pause] des, die ham ein’n da bearbeitet [Pause], man kam sich da richtig, äh, ja, unbeholfen vor mit diesen Typen da gegenüber. Und denn, die ham mir dann klipp und klar gesagt, hier, sie ham noch nichts, sie haben nichts von mir. Die machen mit mir, was sie wollen. Sie stecken mich dorthin, wo sie [Pause] des denken, wo sie mich eben brauchen. Und nehmen überhaupt keine Rücksicht auf meine’ Entschluss, dass ich da keine Waffe anfasse.« 41 Vgl. Interview von Juliane Holzheimer mit Katharina Baumann, Magdeburg, 27. November 2010 : »Ich hatte so da’ Gefühl, äh, mit achtzehn Jahren, dass ich, äh, dass mein Leben also bis zur Bahre praktisch vorbestimmt is’. Ich hatte also das Pech, glaub’ ich, ich hab’ also mit, mit vierzehn die verkehrte Berufswahl getroffen, die ich also mit sechzehn, siebzehn dann irgendwie bereut habe. Und man konnte dann aber in der DDR eben nich’ einfach sagen : ›Nee, stopp, ich breche das jetzt mal ab und, äh, mache dann jetzt doch Abitur und studiere.‹ Und, äh, ich hing also in dieser Berufsausbildung fest, die ich also eigentlich nich’ wirklich dann mehr machen wollte.« 42 Interview von Juliane Holzheimer mit Andreas Schmitt, Coburg, 24. November 2010. 43 Interview von Juliane Holzheimer mit Katharina Baumann, Magdeburg, 27. November 2010. 44 Interview von Juliane Holzheimer mit Paul Stenkamp, Hannover, 7. November 2010. 45 Interview von Juliane Holzheimer mit Andreas Schmitt, Coburg, 24. November 2010. 46 Interview von Juliane Holzheimer mit Friedrich Walther, Wiesbaden, 23. Oktober 2010. 47 Interview von Juliane Holzheimer mit Andreas Schmitt, Coburg, 24. November 2010 ; Interview von Juliane Holzheimer mit Katharina Baumann, Magdeburg, 27. November 2010. 48 Niethammer, Lutz : Annäherung an den Wandel. Auf der Suche nach der volkseigenen Erfahrung in der Industrieprovinz der DDR, in : Lüdtke, Alf (Hg.) : Alltagsgeschichte. Zur Rekonstruktion historischer Erfahrungen und Lebensweisen, Frankfurt am Main 1989, S. 283–345, hier S. 313.
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vor der die eigentliche Handlung stattfand, und verdeutlichen so die persönliche Gewichtung dieser Eindrücke durch den Erzähler. Die Verbalisierung dieser Missstände geht nicht über eine allgemeine Zuschreibung hinaus und wird lediglich als mangelhafte Versorgung mit Baustoffen oder Lebensmitteln konkretisiert. Während sich die Probanden mit den Zuständen in der DDR zunächst noch arrangieren konnten und diese durch den möglicherweise täglich wiederkehrenden Umgang sogar als selbstverständlich und vertraut erfuhren, steigerte sich das Gefühl der Unzufriedenheit erst allmählich zu einer Abneigung und Abwertung der DDR-Verhältnisse. Diese prozesshafte Veränderung der Wahrnehmung des Alltags von der »Normalität« hin zu einer »Entfremdung« vollzieht sich dabei einerseits durch die Realisierung einer Differenz der Lebensverhältnisse in den beiden deutschen Staaten, die beispielsweise durch Westmedien oder Westbekannte und -verwandte erfahren wird. Andererseits werden die ungleiche Behandlung von höherrangigen Parteimitgliedern, die Diskrepanz zwischen dem positiven DDR-Bild in Parteitagsberichten oder schulischer Propaganda und der real erfahrenen Wirtschaftssituation und die Bevorzugung von westdeutschen Bürgern im sozialistischen Ausland als Widerspruch zum erlernten Gesellschaftsbild wahrgenommen, wie eine Probandin ausführt : »Oder wir war’n dann auch in Ungarn gewesen. Da haste immer gesehen, dass wir letztendlich nur Deutsche zweiter Klasse war’n. […] Wenn de mit Westgeld kommst, roll’n se dir den roten Teppich aus. Hast zwei verschiedene Gaststuben : die eine für’n Westen mit Tischdecken, für’n Osten halt mit Papierdingern, beschmiert, mit Löchern drin, was weeß ich alles.«49
Erlebnisse über die Wahrnehmung einer Diskrepanz führten schlussendlich zur kritischen Haltung gegenüber den Lebensverhältnissen in der DDR. Aufgrund eines solchen allmählich fortschreitenden Prozesses aber, der zudem in den täglichen Erfahrungsbereich eingeschrieben war, werden die missbilligten Umstände aus heutiger Perspektive als weniger schwerwiegend wahrgenommen und entsprechend bewertet. Als »durchschnittliche Ereignisse und Tätigkeiten«50 werden sie nicht dem erinnerungswerten Bestand von Erfahrungen zugeordnet und gehören auch nicht zu den handlungsrelevanten Erzählsträngen, da Albrecht Lehmann zufolge sich »das Gedächtnis vor allem herausgehobene, zur Konstruktion einer erzählenswerten Geschichte geeignete Geschehnisse«51 merkt. Die Probanden, die alle als erste Genera49 Interview von Juliane Holzheimer mit Silvia Walther, Wiesbaden, 23. Oktober 2010. 50 Lehmann, Albrecht : Bewusstseinsanalyse, in : Göttsch, Silke/Lehmann, Albrecht (Hg.) : Methoden der Volkskunde. Positionen, Quellen, Arbeitsweisen der Europäischen Ethnologie, 2., überarbeitete und erweiterte Aufl., Berlin 2007, S. 271–288, hier S. 277. 51 Ebd.
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tion im sozialistischen System sozialisiert wurden, erlebten den DDR-Alltag distanzlos als selbstverständlichen Erfahrungsraum, dessen internalisierte und routinierte Handlungsmuster sich mittlerweile der Konkretisierung, Objektivierung und somit auch der Kommunikation entziehen. Im Rückblick werden Erfahrungen, Einstellungen und Erlebnisse des sozialistischen Alltagslebens sogar als banal und heute kaum mehr vorstellbar eingeschätzt :52 »Da musste nur mal ’ne Bahn wegen, äh, schlechtem Winterdienst ausfallen, ja. Das gibt’s ja hier jetzt auch ! Im Nachhinein siehste das ja, des im Prinzip genau dasselbe hier gibt. Aber du hast immer gedacht : ›Das gibt’s im Westen nich’ !‹ [Pause] Oder okay, es wurde über Straßen geschimpft. Da wurde halt auch gesagt, äh : ›Im Westen gibt’s halt bessere Straßen !‹ Das sind teilweise auch so Kleinigkeiten. Da denkst du heutzutage : ›Was’n das für’n Blödsinn gewesen ?‹«53
Persönliche Erlebnisse werden auf diese Weise abgewertet und zugleich relativiert. Die Entscheidung zur Flucht, die sich aus als widersprüchlich und unstimmig wahrgenommenen Alltagserfahrungen sukzessiv ergab, erscheint rückblickend als eine Fiktion, wie dies ein Gesprächspartner sogar explizit hervorhebt : »Die ganze Unzufriedenheit damals. Das kann ma’ heute gar nich’ mehr verstehen. Oder wenn, wenn ich Ihnen das jetzt so erzähle, ne, Sie sin’ ja in der ganz andern Zeit groß geworden. Des [Pause], manchmal erscheint mir das ja selber als, als unwahr oder als, als nich’ mehr nachvollziehbar, warum man den Schritt getan hat. Des is’ alles, des is’ alles vergessen. Es war halt die Zeit, ne.«54
Diese Strategie der Relativierung kann allerdings nicht allein auf Gedächtnisprozesse und Erzählmuster zurückgeführt werden, da das Erlebnis der Flucht von allen Probanden als biografisch herausragendes Erlebnis markiert wird.55 Die Abwertung und Bagatellisierung der Fluchtmotive weist vielmehr auf die Diskrepanz zwischen erlebter Erfahrung und deren rückblickender Wahrnehmung hin, durch die die konfligierenden Perspektiven sichtbar werden, die sich aus der Zugehörigkeit zu zwei unterschiedlichen Referenzsystemen ergeben. Die geschilderten Erlebnisse beziehen sich dabei auf einen lebensweltlichen Kontext mit eigenem Werte- und Refe52 Vgl. Niethammer, Lutz/Plato, Alexander von/Wierling, Dorothee : Die volkseigene Erfahrung. Eine Archäologie des Lebens in der Industrieprovinz der DDR. 30 biographische Eröffnungen, Berlin 1991, S. 68. 53 Interview von Juliane Holzheimer mit Paula Kalterer, Tübingen, 31. Oktober 2010. 54 Interview von Juliane Holzheimer mit Andreas Schmitt, Coburg, 24. November 2010. 55 Dies ist bereits durch den Erzähl-Zeitraum belegbar, den die Probanden den Ereignissen der Flucht innerhalb des Gespräches einräumen. Inhaltlich lässt sich diese Annahme anhand der Aussagen über die geglückte Integration in die Bundesrepublik bestätigen.
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renzsystem, aus deren Auffassung von Normalität sich die Flucht und deren Motive entwickelt haben. Die Erzählung darüber geschieht dagegen aus der Perspektive eines anderen – nämlich des bundesdeutschen – Referenzsystems mit ebenfalls spezifischen Werten und Einstellungen, die auch die individuelle Wahrnehmung der damaligen Geschehnisse prägen.
IV. Grenzen des Diskurses Um diese Annahme zu untersuchen, ist ein Exkurs auf den gesamtdeutschen öffentlichen Diskurs zur Thematik des Mauerfalls, der Wiedervereinigung und des innerdeutschen Verhältnisses notwendig. Aus der Analyse verschiedener regionaler wie überregionaler Zeitungen und Zeitschriften sowie des öffentlich-rechtlichen Fernsehens im Zeitraum 2008 bis 2012 lässt sich ein recht konsistentes Bild der Berichterstattung nachzeichnen.56 Im Vordergrund der Darstellung standen in diesem Zeitraum die zu einem großen Ereignis verschmolzenen Geschehnisse vom Mauerfall bis zur »Wiedervereinigung«. Präsentiert wird die »Wende«, wie Die Zeit 2009 konstatierte, als ein »sektseliges Mirakel, das wie ein Geschenk von oben schicksalhaft über das geteilte Berlin kam«57. Insbesondere die wiederholt gezeigten Fernsehbilder anlässlich der Feier des 20. Jahrestages bestätigten dieses Bild : Tausende Menschen kletterten, sprangen und hievten sich gegenseitig über die Grenzzäune oder standen auf dem Weg in den Westen in Trabikolonnen im Stau, um sich ihr heiß begehrtes Begrüßungsgeld und Bananen abzuholen.58 Jene Aufnahmen überlagern die tatsächlichen Ereignisse der Flucht : Das Bild der Flucht verfestigt sich zur Darstellung des Mauerfalls als massenhafter Überfall von ausschließlich an materiellen Gütern interessierten DDR-Bürgern. Damit wurde die Perspektive auf die Flucht ernüchternd zur Massenflucht stilisiert, die durch die heroisierende Darstellung der Proteste als Katalysator des Mauerfalls noch weiter marginalisiert wurde.59 56 Stellvertretend für das öffentlich-rechtliche Fernsehen wurde die ›Tagesschau‹ analysiert, für die Printmedien Die Zeit, die FAZ sowie der Spiegel. Diese Auswahl dient lediglich der Ermittlung von Tendenzen. 57 Finger, Evelyn : Welche war die Heldenstadt ? Vor 20 Jahren begann im September die friedliche Revolution. Berlin und Leipzig wurden zu den Schauplätzen des Herbstes 1989, in : Die Zeit vom 23. September 2009, http://www.zeit.de/2009/39/Leipzig-Berlin-Heldenstadt (online am 5. Oktober 2012). 58 In diesem Zusammenhang sei neben der Tagesschau auch auf die zahlreichen medialen Darstellungen, Dokumentationen und Filme 2009 beziehungsweise 2010 zum 20-jährigen Jubiläum des Mauerfalls und der Wiedervereinigung hingewiesen. Vgl. Tagesschau vom 9. November 2012, http://www.ardmediathek.de/das-erste/tagesschau/tagesschau–20-00-uhr ?documentId=12404950 (online am 20. Dezember 2012). 59 Die Zeit-Autorin Evelyn Finger parodiert in ihrem Artikel die Berichterstattung zum 20-jährigen Jubi-
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Meine Probanden knüpfen an eine solche Charakterisierung mit einer Erzählstrategie der Abgrenzung an : Mit der negativ konnotierten Bezeichnung der Flucht als einer »Modeerscheinung«60 oder eines »Herdentriebs«61 grenzen sie sich von den medial präsentierten Massenfluchten ab und betonen ihre davon unabhängige und individuell motivierte Handlung : »Wobei och viele dabei war’n, die gar nich’ arbeiten wollten, ne. Die wollten einfach nur weg. [Pause] Ich hab viele Arbeitskollegen, die zurückgegangen sind. Die einfach damit nich’ zurechtgekommen sind, dass se, die das vielleicht unüberlegt gemacht ham und einfach der Herde hinterhergerannt sind. Und das war halt wirklich bei uns anders.«62
Die Konstruktion eines Figurenelements der »anderen« wird hier zur pejorativen Identifizierung der faulen, dummen und nur an materiellen Werten interessierten Ostdeutschen genutzt, von denen sich die Erzähler schon allein deshalb unterschieden, da sie sich in Westdeutschland alles selbst erarbeitet und »nix geschenkt gekriegt«63 hätten. Bemerkungen über realistische Vorstellungen vom zukünftigen Leben in der Bundesrepublik oder die nach der Flucht aktiven und selbstständigen Bemühungen um Arbeitsstellen und Wohnungen schließen ebenfalls an die Strategie der Abgrenzung an. Mit dem Rekurs auf ostdeutsche Stereotype wie den »Jammerossi«64 und seine »DDR-Mentalität«65, wie es ein Proband formuliert, grenzt sich der Erzähler nicht nur von diesem gängigen Narrativ ab, sondern verortet sich damit selbst als westdeutsch. Diese an mehreren Stellen kommunizierte Zugehörigkeit lässt sich mit der Handlung der Flucht erklären : Der durch die Flucht aktiv vollzogene Bruch mit läum des Mauerfalls, indem sie darauf hinweist, dass der Mauerfall vor dem Hintergrund der Massendemonstrationen zu einer »Friedlichen Revolution« stilisiert wird, ohne die tatsächlichen Umstände der Ereignisse zu berücksichtigen : »Man könnte sagen, dass die Mauer eigentlich in Leipzig fiel. Ohne 9. Oktober kein 9. November : Die Leipziger haben es schon immer gewusst. Dass wir anderen es nun endlich auch begreifen, merkt man an den öffentlichen Reden und den veröffentlichten Bildern im zwanzigsten Jubiläumsjahr.« Finger, Evelyn : Welche war die Heldenstadt ? Vor 20 Jahren begann im September die friedliche Revolution. Berlin und Leipzig wurden zu den Schauplätzen des Herbstes 1989, in : Die Zeit vom 23. September 2009, http://www.zeit.de/2009/39/Leipzig-Berlin-Heldenstadt (online am 5. Oktober 2012). 60 Interview von Juliane Holzheimer mit Paula Kalterer, Tübingen, 31. Oktober 2010. 61 Interview von Juliane Holzheimer mit Andreas Schmitt, Coburg, 24. November 2010. 62 Interview von Juliane Holzheimer mit Andreas Schmitt, Coburg, 24. November 2010. 63 Interview von Juliane Holzheimer mit Andreas Schmitt, Coburg, 24. November 2010. 64 Der Begriff des »Jammerossis« ist frei gewählt, verweist aber auf inhaltliche Entsprechungen mit diesem Stereotyp. Es wird entweder dazu genutzt, sich selber von diesen identitätsstiftenden Aussagen zu distanzieren, oder aber bezieht sich auf Erlebnisse, in denen den Probanden selbst »ostdeutsche« stereotype Eigenschaften zugeschrieben wurden. 65 Interview von Juliane Holzheimer mit Andreas Schmitt, Coburg, 24. November 2010.
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dem sozialistisch geprägten Referenzrahmen, der sich bereits vorher durch die sich entwickelnde kritische und ablehnende Haltung gegenüber dem Staat manifestierte, geschah als bewusste Hinwendung zu und Entscheidung für das westliche Wertesystem, das aus der Perspektive der DDR-Bürger einem Idealbild entsprach.66 Aus der positiven Haltung gegenüber der Bundesrepublik ist auch die unhinterfragte Übernahme ihres Werte- und Normensystems zu verstehen. Wie aber lassen sich dann die in diesem Zusammenhang widersprüchlich erscheinenden positiven Aussagen der Probanden über das Leben in der DDR erklären ? Alle Gesprächspartner weisen eine sehr reflektierte und kritische Auseinandersetzung im Umgang mit ihren Erfahrungen auf, wünschen sich die DDR und das sozialistische System nicht zurück und stehen hinter ihrer Entscheidung zur Durchführung der Flucht. Die Erzählungen über eine schöne Kinder- und Jugendzeit in der DDR67, die besseren Ausbildungsbedingungen68 oder mehr Solidarität unter den Menschen69 als Idealisierung zu interpretieren, macht nur wenig Sinn. Vielmehr scheinen hier die konfligierenden Perspektiven der Erzähler aufeinanderzutreffen : Als deutsche Bundesbürger und gleichzeitig ehemalige DDR-Bürger partizipieren meine Gesprächspartner nicht nur an beiden Referenzsystemen. Auch ihre Identität konstituiert sich in dem wechselseitigen und gleichzeitig konkurrierenden Verhältnis dieser beiden Bezugsrahmen, von denen der westdeutsche der dominante ist. Ihre persönlichen Erlebnisse und Erfahrungen von der DDR als Lebenswelt treten dabei in Widerspruch zu den im öffentlichen Diskurs einseitig vermittelten mehrheitlich negativen Einstellungen und Wertungen. 66 Die Idealvorstellung der Bundesrepublik, die gleichzeitig als Maßstab der eigenen Lebenszufriedenheit herangezogen wurde, basiert nach Manuela Glaab auf einem medienvermittelten Bild. Vor dem Hintergrund der zentral gelenkten DDR-Medien habe daher nur ein wenig reflektierter Umgang mit der pluralistischen Medienrealität der Bundesrepublik stattgefunden. Vgl. Glaab, Manuela : Geteilte Wahrnehmungswelten. Zur Präsenz des deutschen Nachbarn im Bewußtsein der Bevölkerung, in : Kleßmann, Christoph/Misselwitz, Hans/Wichert, Günter (Hg.) : Deutsche Vergangenheiten – eine gemeinsame Herausforderung. Der schwierige Umgang mit der doppelten Nachkriegsgeschichte, Berlin 1999, S. 206–220, S. 215 f. 67 Gesprächsprotokoll Silvia Walther, Wiesbaden, 23. Oktober 2010. 68 Vgl. Interview von Juliane Holzheimer mit Paul und Tina Stenkamp, Hannover, 7. November 2010 : P : »Und die Ausbildung war als […] Arzt deutlich fundierter […] in der DDR als in der Bundesrepublik.« – T : »Des, des kam aber auch damit, dass es eben wirklich auch wirklich durchorganisiert war [Geschirrgeklapper], die Ausbildung. Hier gab’s ja gar keinen richtigen Facharzt für Allgemeinmedizin. [Geschirrgeklapper] Des war, also, die ham zwar auch so’n paar Stellen durchlaufen, aber das war zu DDR-Zeiten richtig gut geregelt, und es gab ja auch nicht viele Ärzte.« 69 Vgl. Interview von Juliane Holzheimer mit Andreas Schmitt, Coburg, 24. November 2010 : »Aber im Nachhinein betrachtet, muss ich sagen, es war och nich’ alles schlecht. Hab’ ich immer schon vertreten, die Meinung. Man kann nich’ alles schlechtmachen, was damals gewesen is’, äh. Es gab mehr Solidarität unter den Menschen unter’nander. Es’ viele, viele Dinge, die gut gewesen sind. Der Zusammenhalt der Menschen war anders.«
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Die (ostdeutsche) Autorin Jana Hensel hat diesbezüglich für die Berichterstattung über Ostdeutschland in den überregionalen Medien drei Muster festgestellt : »Sie findet sprunghaft statt kontinuierlich statt, folgt einer häufig ausschließenden statt integrierenden Absicht und ist oft von Emotionalität statt von Sachkenntnis geprägt.«70 Die Betonung, so Hensel, liege dabei auf dem Ungleichgewicht zwischen Ost und West, wobei der »Osten« stets aus westdeutscher Perspektive beschrieben werde.71 Sich stets wiederholende Berichte und Diskussionen über die Weiterführung des Solidarpaketes II, in denen häufig das Bild des finanziell gebeutelten Westens nachgezeichnet wird, scheinen eine solche Behauptung zu bestätigen.72 Im Fokus steht dabei meist der materielle Aspekt, der auf gängige ostdeutsche Stereotype referiert, die nach Ina Merkel aus der »simplifizierten Annahme [resultieren], dass sich der paternalistische Versorgungsanspruch des sozialistischen Staates, sein repressiv ideologischer Erziehungsimpetus und der real vorhandene Mangel an Überfluß direkt in mentalen Eigenarten wie Obrigkeitshörigkeit und Konsumgier niedergeschlagen hätten.«73
Die damit zum Ausdruck gebrachte ablehnende Haltung gegenüber Ostdeutschen und das Desinteresse an einer reflektierten Auseinandersetzung mit deren Vergangenheit entsprechen einer Abwertung der vergangenen ostdeutschen Lebensläufe, die durch die westliche Perspektive überwiegend infrage gestellt werden. Der Rekurs auf die schönen Seiten der DDR erscheint hierbei als mehr als nur eine »ostalgische« Haltung, mit welcher einer »guten alten Zeit« nachgetrauert wird. Vielmehr ist es die Rechtfertigung und die Verteidigung der eigenen ostdeutschen Vergangenheit, die nicht nur als »lebenswert« bewertet, sondern auch als solche anerkannt werden soll. Die Erfahrungs- und Lebenswelt der DDR entspricht dabei nicht nur einer gelebten Realität, sondern ist gleichsam der Bezugsrahmen, in welchem die Probanden aufgewachsen sind, sozialisiert wurden, dessen Werte, Normen und Einstellungen sie erlernt und internalisiert haben. Im öffentlichen Diskurs dagegen wurde diese Perspektive bisher nahezu ausgeblendet. Die Betrachtung orientiert sich weitestge70 Hensel, Jana : Wir sind anders. Warum die Wirklichkeit des Ostens es so selten in die Medien und also in den Westen schafft, in : Die Zeit vom 23. September 2010, http://www.zeit.de/2010/39/OstenMedien (online am 20. Dezember 2012). 71 Ebd. 72 Als ein Beispiel unter vielen sei hier nur auf einen aktuellen Artikel von Fabian Klask aus der Zeit verwiesen : Klask, Fabian : Alles eine Frage der Zeit ? Meißen in Sachsen geht es gut. Doch käme die Stadt ohne Soli aus ? Ein Westdeutscher will es wissen, in : Die Zeit vom 19. April 2012, http://www. zeit.de/2012/17/S-Ost-West-Meissen (online am 20. Dezember 2012). 73 Merkel, Ina (Hg.) : »Wir sind doch nicht die Mecker-Ecke der Nation«. Briefe an das DDR-Fernsehen, Köln 1998, S. 9.
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hend an westdeutschen Wertungsmustern, die aus dem »Überlegenheitsgefühl«74 der Bundesrepublik »als Idealbild moderner Zivilgesellschaft«75 resultieren, wie es Merkel formuliert.
V. Fazit Auch wenn nur einige ausgewählte Beispiele angeführt wurden, konnte klar gezeigt werden, dass sich die einseitige und zudem abwertende Haltung gegenüber ostdeutschen – historischen wie zeitgenössischen – Lebenswelten auch auf die subjektive Erinnerung auswirkt. In den Interviews konnte dies anhand der verschiedenen, sich zum Teil ambivalent zueinander verhaltenden Erzählstrategien rekonstruiert werden. Es konnte gezeigt werden, dass Erinnerung als komplexes Beziehungsgeflecht nicht nur durch »Verarbeitungs-, Konstruktions- und Sinnbildungsprozesse«76, sondern ebenso durch kollektive und kommunikative Erinnerungsmuster begrenzt wird. Subjektive Erinnerung vollzieht sich also im Verhältnis von individueller Gedächtnisleistung und diskursiven Mustern kollektiver Erinnerung. Der Begriff der Diskursgrenzen rekurriert in diesem Zusammenhang auf eine Verknappung der individuellen Bewertung persönlicher Erlebnisse durch eine überindividuelle und medial vermittelte Öffentlichkeit. Mein Beitrag plädiert deshalb für einen Perspektivwechsel innerhalb des deutschdeutschen innergesellschaftlichen Erinnerungskonfliktes. Die begrenzte und verzerrte Betrachtung als uniformierte, vom Mangel geprägte Nischengesellschaft,77 die das Bild der Ostdeutschen bis heute prägt, muss aufgelöst werden. Stattdessen sollte den ehemaligen DDR-Bürgern die Möglichkeit zugestanden werden, einen eigenen Erinnerungsdiskurs78 auszubilden und ihre individuellen Erlebnisse und Erfahrungen aus persönlicher Perspektive zu bewerten und damit zu einer Betrachtung der DDR als einer Lebens- statt einer Systemwelt79 beizutragen. Den Erinnerungsdiskurs dergestalt multiperspektivisch zu öffnen, hieße, verschiedene Versionen der Vergangenheit anzuerkennen und damit nach wie vor bestehende »Grenzen« zu überwinden.
74 Ebd. 75 Merkel, Ina : Utopie und Bedürfnis. Die Geschichte der Konsumkultur in der DDR (alltag & kultur 6), Köln 1999, S. 7. 76 Wierling, D. 2003, S. 97. 77 Vgl. Merkel, I. 1999, S. 10. 78 Vgl. Badstübner, Evemarie (Hg.) : Befremdlich anders. Leben in der DDR, Berlin 2000, S. 7. 79 Merkel, I. 1999, S. 7.
Andreas Pudlat
Kriminalitätsbekämpfung in Zeiten offener Grenzen Österreichs Grenzräume im kriminalstrategischen Spannungsfeld
I. Einleitung Grenzen können für vieles stehen – in negativer Lesart letztlich nicht nur für eine Barriere, für Trennung, Gegensätze und Spaltung, sondern durchaus auch für ernste Konflikte, Militärpräsenz und Gewalt.1 Das gilt auch für die Grenzen, die im 20. und 21. Jahrhundert das Staatsterritorium der Republik Österreich definierten bzw. gegenwärtig bestimmen. Aber trotz des Konflikts um Südtirol, der zur Formierung des terroristischen Befreiungsausschusses Südtirol (BAS) führte, an einem der Höhepunkte 1961 in die Bozner Feuernacht mündete und nicht zuletzt an der Porzescharte 1967 Tote forderte,2 fällt dabei der Blick verkürzt allzu leicht auf die Grenzen im Osten, die während des Kalten Krieges zum Inbegriff und Symbol für einen nicht nur europäischen, sondern internationalen Antagonismus avancierten, der »Ost« und »West« teilte. Zwar war der Grenzverlauf zu Böhmen und Ungarn, der sich in der Zeit der Karolinger aus Kämpfen mit den Ungarn und Awaren ergab, sehr lange stabil und grob deckungsgleich mit den späteren Grenzen Österreichs im Osten,3 doch markierte er zumindest im Denken der Menschen in Teilen auch eine Wertekartographie, die mit identitätsstiftender Abgrenzung einherging.4 Für sich genom1 Unter vielen : Kroll, Frank-Lothar : Grenzen in der deutschen Geschichte, in : Mehnert, Elke (Hg.) : Grenzpfade. Materialien zum 6. Deutsch-Tschechischen Begegnungsseminar »Gute Nachbarn – Schlechte Nachbarn ?«, Frankfurt am Main 2004, S. 132–138. 2 Überblicksartig zum BAS sowie zur »Feuernacht« und der Gewaltspirale : Gehler, Michael : Tirol im 20. Jahrhundert. Vom Kronland zur Europaregion, Innsbruck 2008, S. 298–315. Zudem und mit weiteren Literaturhinweisen : Gehler, Michael : »… dass keine Menschenleben geopfert werden sollten – das war der Plan.« Die Bozner »Feuernacht« und die Südtirol-Attentate der 1960er Jahre, in : Gehler, Michael/Ortner, René (Hg.) : Von Sarajewo zum 11. September. Einzelattentate und Massenterrorismus, Innsbruck 2007, S. 205–256. Zum nicht vollständig aufgehellten Vorfall an der Porzescharte : Speckner, Hubert : »Zwischen Porze und Roßkarspitz…«. Der »Vorfall« vom 25. Juni 1967 in den österreichischen sicherheitsdienstlichen Akten, Wien 2013. 3 Kroll, F.-L. 2004, S. 135 f. 4 In diesem Sinne sind letztlich auch das Projekt »Offene Grenzen, neue Barrieren und gewandelte Identitäten. Österreich, seine Nachbarn und die Transformationsprozesse in Politik, Wirtschaft und Kultur seit 1989« und damit der Rahmen des vorliegenden Beitrags zu sehen.
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men wirkte die Grenze so gleichsam ideologisierend, was zunächst wertfrei und als eine ihrer Grundfunktionen gesehen werden kann : »In Abgrenzung zum Nachbarn soll auch die eigene Identität ideologisch gefestigt werden.«5 Indes gehen damit auch die gezielte Suche nach Unterschieden und zuweilen die eigene Aufwertung einher. Gerade für das diffuse Bild vom »Osten«, der zwar nicht zwingend, jedoch auch über territoriale Grenzen bestimmt wurde, bedeutete dies eine im Laufe der Zeit facettenreiche, gleichwohl nachhaltige Abwertung der ihm zugeschriebenen Einwohner und ihrer Kultur.6 Eine Öffnung der Grenzen, wie sie mit dem Fall des sogenannten »Eisernen Vorhangs«7 1989 gleichgesetzt wird, ist zumindest in dieser Hinsicht nicht zwingend eingetreten.8 Vielmehr gibt es nach wie vor Barrieren und Vorurteile, die sich auch in der Kriminal- und Polizeipolitik9 in einem doppelten Sinne widerspiegeln : einerseits handlungsleitend, andererseits aber auch legitimierend und instrumentalisierend, wie der vorliegende Beitrag zeigen möchte.
II. Österreichs Grenzen im Kalten Krieg Auch an den österreichischen Grenzen zu den Anrainerstaaten im »Osten« wurde der Antagonismus zunehmend visuell-haptisch erfahrbar. Über die Präsenz entsprechender Grenzsicherungskräfte hinaus waren es vor allem Sperranlagen, die dem »Eisernen Vorhang« gleichsam ein Gesicht gaben, das in Teilen martialisch wirkte. Ungarn begann bereits 1948 mit einer Intensivierung der entsprechenden Maßnahmen und setzte auf eine der Staatssicherheit unterstellte Grenzwache sowie eine 5 Lezzi, Maria : Raumordnungspolitik in europäischen Grenzregionen zwischen Konkurrenz und Zusammenarbeit. Untersuchungen an der EG-Außengrenze Deutschland–Schweiz, Zürich 1994 (Dissertation), S. 5. 6 Bugge, Peter : ›Land und Volk‹ – oder : Wo liegt Böhmen ?, in : Geschichte und Gesellschaft 3/28 (2002), S. 404–434, hier S. 433. 7 Zur Verwendung des Begriffs siehe Karner, Stefan : Halt ! Tragödien am Eisernen Vorhang. Die Verschlussakten, Salzburg 2013, S. 16 f. 8 In diesem Sinne bereits differenzierend Brait, Andrea/Pudlat, Andreas : Mentale Barrieren. Österreich, die EU und der Osten, in : INDES. Zeitschrift für Politik und Gesellschaft 4/1 (2012), S. 38–45. 9 Kriminalpolitik meint hier in Anlehnung an den namhaften Kriminologen Schwind, Hans-Dieter : Kriminologie : eine praxisorientierte Einführung, Heidelberg 2011, 21. Aufl., S. 16 ff., die »Gesamtheit aller staatlichen Maßnahmen zur Verbrechensverhütung und Verbrechensbekämpfung«, Polizeipolitik hingegen jenen »Teil der Kriminalpolitik, der sich mit dem Polizeibegriff, der Organisation und den Eingriffsrechten der Polizei beschäftigt« (Liebl, Karlhans : Kriminal- und Polizeipolitik in Deutschland, in : Frevel, Bernhard/Asmus, Hans-Joachim/Dams, Carsten/Groß, Hermann/Liebl, Karlhans : Politikwissenschaft. Studienbuch für die Polizei, Hilden 2006, S. 124–144, hier S. 130). Dabei wird im vorliegenden Beitrag gerade bezogen auf den Grenzraum auch die entsprechende Politik einbezogen, die auf die Zollbehörden abstellt, soweit es um Organisation, Ausstattung und Eingriffsrechte geht.
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Grenzzone, in der nur mehr politisch loyale Personen wohnen durften und Drahtsperren, Wachtürme, Signalanlagen sowie je nach politischem Klima auch ein Minengürtel (1948 bis 1955/56 und 1957 bis ca. 1965) ein unkontrolliertes Überschreiten erschweren bzw. verhindern sollten. Ähnlich verfuhr die Tschechoslowakei, die zunächst auf 5.000 Mitarbeiter der Finanzwache, die schon zwischen den Weltkriegen für den Grenzschutz zuständig war, und Zäune als Grenzmarkierungen zurückgriff, bis 1948 mit der kommunistischen Machtübernahme das Grenzregime verschärft wurde. Nun wurden auch hier Sperrzonen und ein Grenzstreifen bestimmt, Anwohner auf Zuverlässigkeit überprüft sowie Sperranlagen errichtet. Dabei spielten Minen ebenso eine Rolle wie Strom führende Zäune. Der Grenzschutz wurde 1951 zur eigenen Waffengattung, die ihre bis zu 20.000 Angehörigen aus politisch linientreuen Personen rekrutierte.10 Auch auf österreichischer Seite war eigens eingesetztes Personal für die Grenzen kennzeichnend. Angesichts der Flüchtlingszahlen wurde die Grenzgendarmerie mit Posten und Exposituren aufgestellt,11 die jedoch nur leicht bewaffnet war12 – im starken Kontrast zur militärisch geprägten Grenzsicherung der Nachbarn im »Osten«, aber auch zu dem seit 1951 für die bundesdeutschen Grenzen zuständigen Bundesgrenzschutz (BGS), dem bis zur Gründung der Bundeswehr 1955 neben der grenzpolizeilichen auch eine »Streitkräftesurrogatfunktion« zukam.13 Diese gleichsam militärische Manifestation von Grenze über ihren Grenzschutz, der explizit auch mit Unrechtstaten und Toten einherging, trug in Verbindung mit ihrer politisch-ideologischen Aufladung durch die Trennung unvereinbarer und unversöhnlicher Antagonismen zu einem spezifischen Bild von ihr bei. Medial und 10 Karner, S. 2013, S. 26–30. 11 Schleich, Daniel : Die Österreichische Bundesgendarmerie, Innsbruck 2007 (ungedruckte Diplomarbeit), S. 72. 12 Dickten, Günter : Grenzsicherung gestern und heute. Eine vergleichende Studie über Organisation und Aufgaben von Grenzsicherungsorganen in Deutschland und in anderen Staaten, Bad Honnef 1972, S. 116 f. : »Die Streifen an der Grenze sind mit Karabiner und Pistolen, bei Tage häufig auch nur mit Pistole[n] ausgerüstet. Darüber hinaus stehen der Gendarmerie keine weiteren Waffen zur Verfügung. […] Im Falle ernsterer Grenzzwischenfälle oder größerer Verwicklungen wendet sich daher die Gendarmerie an das österreichische Bundesheer.« 13 Schütte, Matthias : Der Bundesgrenzschutz – die Polizei des Bundes – ein geschichtlicher Überblick, in : Die Polizei 11/93 (2002), S. 309–316, hier S. 310. Pudlat, Andreas : Von der Grenzüberwachung zur Bundespolizei – Zur Wandlungsfähigkeit des Bundesgrenzschutzes seit 1951, in : Thoß, Hendrik : Gesichert in den Untergang. Die Geschichte der DDR-Westgrenze, Berlin 2004, S. 77–87, hier S. 80. Dem widerspricht Walter, Bernd : Der Bundesgrenzschutz der Bundesrepublik Deutschland. Sonderpolizei von Anfang an oder ursprünglicher Streitkräfteersatz ?, in : Österreichische Militärische Zeitschrift 5 (2005), S. 643–647, der sich kritisch auf den Beitrag von Bauer, Frank Heinz : »Sage mir, wo die Soldaten sind …« Frühe Überlegungen zum personellen Neuaufbau westdeutscher Streitkräfte bis 1956, in : Österreichische Militärische Zeitschrift 1 (2005), S. 13–20, bezieht.
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propagandistisch wurde sie je nach Lesart zum »Schutzwall« gegen Imperialismus, Kapitalismus und Faschismus stilisiert oder eben zum »Eisernen Vorhang«, an dem Menschen starben und durch den ganze Völker unterdrückt wurden. Für die Bewohner der Grenzräume hingegen war die Grenze vor allem »ein weiterer Faktor des täglichen Lebens«, der trotz des immanenten Bedrohungspotenzials zunehmend Normalität wurde, was sich auch in der Alltagssprache niederschlug. Anhand von Leitfadeninterviews erfasste Zeitzeugenberichte zeigen das exemplarisch für Gmünd im Waldviertel und České Velenice. Explizit nach den aufgeladenen Begriffen gefragt, wurde von den Gmünder Bürgern zwar deren Bekanntheit, nicht aber ihre Verwendung in der alltäglichen Kommunikation bestätigt. Sie wiesen bis auf wenige Ausnahmen vielmehr auf die gebräuchliche Verwendung von Richtungsangaben (»drüben«, »herüber«, »hinüber«), den »Stacheldraht« oder das schlichte Wort »Grenze« selbst hin.14 Deren Schutzfunktion wurde dabei aber durchaus nicht nur einseitig und propagandistisch betont. Auch die Österreicher empfanden sie als Schutz – vor dem Kommunismus im »Osten«. Sie reflektierten jedoch ebenso das mit ihr verbundene Gefahrenpotenzial, berichteten von Schüssen, Festnahmen und Sperranlagen. »Das Fehlen dramatischer Benennung für die Monstrosität eines martialischen und gefängnishaften Grenzregimes inmitten der eigenen Stadt weist [… aber] auf die Anpassung und Gewöhnung an die Grenze hin, die ins Leben der Gmünder hineinwuchs.«15 War sie im Großen also zum »Seismografen der Weltpolitik«16 und zum Gradmesser der nachbarschaftlichen Beziehungen geworden,17 so dominierten im Kleinen die konkreten Erfahrungen und eine Vertrautheit, die bei Grenzraumbewohnern oder dem Grenzschutzpersonal eine Dekonstruktion des Bildes vom »Monstrum« ermöglichten, ohne zwingend verklärend zu wirken. Eine Verzerrung wird vielmehr häufig durch verkürztes und monoperspektivisches Erinnern bewirkt, das einem Gut-Böse-Schema und Denken in den alten Antagonismen und tradierten Denkmustern verhaftet ist. Zwischenfälle an den Grenzen lassen sich aber eben nicht nur auf erfolgreiche bzw. verhinderte Fluchtversuche und getötete Flüchtlinge – also auf das von den Ostblockstaaten ausgehende Unrecht – reduzieren. Es gab auch das versehentliche Überschreiten der Grenze, etwa 14 Molden, Berthold : Aussenposten des Westens. Das 20. Jahrhundert im Gedächtnis der Grenzstadt Gmünd, in : Blaive, Muriel/Molden, Berthold : Grenzfälle. Österreichische und tschechische Erfahrungen am Eisernen Vorhang, Weitra 2009, S. 30–132, hier S. 120–131. 15 Ebd., S. 123. 16 Karner, S. 2013, S. 15. 17 Bauer, Friedrich : Botschafter in zwei deutschen Staaten. Die DDR zwischen Anerkennung und Auflösung (1973–1990). Die aktive Neutralitätspolitik Österreichs, [Wien 2006], S. 17, schildert etwa aus eigenem Erleben die Auswirkungen des »Prager Frühlings« 1968, die im Jahre 1973 aus seiner Sicht zu einer besonders intensiven Grenzkontrolle führten, die einer »Frechheit« von »kommunistische[n] Apparatschiks« gleichkam.
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von ortsunkundigen Touristen und Schaulustigen,18 Schmuggel, Geheimdienst operationen sowie Verletzte und Tote bei den Grenzsicherungskräften durch »Strom-und Minenunfälle« oder Selbstmorde.19 Grenzschutz als Instrument zur Migrationssteuerung/-kontrolle zu nutzen, war auch kein exklusives Kennzeichen für den – nicht minder ideologisch – als politisch, wirtschaftlich und moralisch unterlegen gesehenen Ostblock. Im historischen Längsschnitt zeigt sich jedenfalls ein noch nicht hinreichend diskutierter Paradigmenwandel. War noch in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts »Zentraleuropa eine Region mit hoher Mobilität zwischen Sprachgruppen, sozialen Klassen, Religionen und Menschen unterschiedlicher Herkunft«,20 dezimierte ab 1948 zunächst die Grenzsicherung der sozialistischen Staaten die Wanderungszahlen. Seit den 1990er Jahren waren es dann Österreich und die EG-/EU-Staaten selbst, die ihre Grenzen für bestimmte Staatsangehörige schlossen. »Als die (ehemaligen) kommunistischen und sozialistischen Staaten ihre Grenzen […] öffneten, begannen die westeuropäischen Staaten – nach einer kurzen Phase der ›Euphorie‹ –[,] dieselben Grenzen nun ihrerseits zunehmend zu schließen. Eine verbotswidrige Überschreitung […] wird seither nicht mehr als ›Flucht‹ begrüßt, sondern als ›rechtswidrige Einreise‹ zunehmend pönalisiert.«21
Auch insofern ist 1989/90 eine bedeutende Zäsur, die sich aber bezogen auf die Öffnung von Grenzen ambivalent darstellt und auf mentaler Ebene nur bedingt auswirkte. So hat Berthold Molden im Zuge seiner Studie zu Gmünd einmal mehr ein kulturelles Überlegenheitsgefühl feststellen können, etwa im Interview mit Manfred Kirchberger (Jahrgang 1936) : »Na ja, jetzt will ich nicht überheblich sein, nur das war schon vor der Monarchie so, und unter Maria Theresia : Die aufstrebenden Leute waren bürgerlich und deutschsprechend. […] Das Sudetenland war ein kulturell und wirtschaftlich blühendes Land. Da waren vorwiegend Deutsche.«22
18 Molden, B. 2009, S. 122, dokumentiert etwa »große Schwierigkeiten mit einem holländischen Ehepaar«. 19 Karner, S. 2013, S. 30, 181. 20 Molden, B. 2009, S. 120. 21 Schmoller, Kurt : »Schlepperei« und »Ausbeuterische Schlepperei« – Zwei neue Deliktstypen im österreichischen Strafrecht, in : Wolf, Gerhard (Hg.) : Kriminalität im Grenzgebiet, Bd. 2 : Wissenschaftliche Analysen – Symposium vom 28. bis 30. November 1997 in Frankfurt (Oder), Referate und Diskussionen, Berlin/Heidelberg 1999, S. 33–55, hier S. 34 f. 22 Molden, B. 2009, S. 56.
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Ein entsprechend hierarchisch geprägtes Denken, das bei Selbstüberhöhung zu einer mentalen Wertekartographie führt, lässt sich über Jahrhunderte nachweisen,23 verknüpfte sich im Kalten Krieg mit dem politisch-ideologischen Gegensatz und wirkt bis in die Gegenwart fort.24 Es bietet sich auch als Interpretationsfolie für polizeiund kriminalpolitische Entscheidungen ab 1990 an, denn nur so ist über einen im Hellfeld objektiv feststellbaren Anstieg von Kriminalität und Zuwanderung hinaus eine strategische Fokussierung auf die Grenzen im »Osten« erklärbar – handlungsleitend bezogen auf die getroffenen Maßnahmen selbst wie auch auf deren Legitimation.
III. Österreichs Grenzschutz seit 1990 aus polizeiund kriminalpolitischer Perspektive 1. Österreichs Weg zum Schengen-Raum Nach den Umwälzungen 1989/90 wurde der Grenzschutz in Österreich, der in den Händen der Bundesgendarmerie lag, die zum 1. Juli 2005 auf Basis des Nationalratsbeschlusses vom 9. November 2004 in die Bundespolizei überführt wurde, durch massiv ansteigende Migration herausgefordert. Die Reaktion war der Beschluss des Assistenzeinsatzes Grenzraumüberwachung (AssE/GRÜ) – eine umstrittene und populistische Maßnahme, mit der die Kräfte der Gendarmerie durch das Bundesheer verstärkt wurden. Hinzu trat der Schengen-Prozess,25 an dem Österreich als »Trittbrettfahrer«26 schon in der Initialzündungsphase nach dem Saarbrücker Ab23 Bugge, P. 2002. 24 Scheffler, Jörg : Europas Kulturunterschiede als Herausforderung für eine Geographie der Interkulturellen Kommunikation, in : Scheffler, Jörg (Hg.) : Europa und die Erweiterung der EU, Passau 2006, S. 23, betont etwa »weiterhin starke Differenzen […], deren Existenz erst mit der Öffnung der ehemaligen Blöcke stärker wahrgenommen wird. Neben ökonomischen und sozialen Gegensätzen, ist dabei in den vergangenen Jahren vermehrt auf ein mangelndes Verständnis für die kulturellen Unterschiede des Kontinents aufmerksam gemacht worden.« 25 Pudlat, Andreas : Der lange Weg zum Schengen-Raum : Ein Prozess im Vier-Phasen-Modell, in : Journal of European Integration History 2/17 (2011), S. 303–325, hat ein weiter auszudifferenzierendes Vier-Phasen-Modell (Phase der Vorspiele, Initialzündungs-, Durchbruchs- sowie Integrationsphase) vorgeschlagen und datiert den Beginn des Schengen-Prozesses als Streben nach Erleichterungen bei den Grenzübertrittskontrollen auf die unmittelbare Nachkriegszeit bzw. den Beginn der europäischen Integration. 26 Pudlat, Andreas : Schengen im Kontext der Beziehungen der Bundesrepublik Deutschland, der Republik Österreich und der Schweizerischen Eidgenossenschaft, in : Gehler, Michael/Fischer, Thomas (Hg.) : Tür an Tür. Vergleichende Aspekte zu Schweiz, Liechtenstein, Österreich und Deutschland/ Next Door. Aspects of Switzerland, Liechtenstein, Austria and Germany in Comparison (Institut für Geschichte der Universität Hildesheim, Arbeitskreis Europäische Integration, Historische Forschungen, Veröffentlichungen 9), Wien/Köln/Weimar 2014, S. 153–170, hier S. 165.
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kommen durch Verträge mit Italien und der Bundesrepublik teilhaben wollte und konnte.27 Nach dem Schengen-Durchbruch vom 14. Juli 1985, bei dem sich die »Regierungen der Staaten der Benelux-Wirtschaftsunion, der Bundesrepublik Deutschland und der Französischen Republik betreffend den schrittweisen Abbau der Kontrollen an den gemeinsamen Grenzen« einigten (Schengener Übereinkommen),28 blieb Österreich mangels EG-/EU-Mitgliedschaft jedoch außen vor. Erst am 27. Juni 1994 wurde es, nach einem entsprechenden Antrag im Sommer des Vorjahres, in den Beobachterstatus gehoben und konnte im Frühjahr 1995 dem Schengener Durchführungsübereinkommen (SDÜ) vom 19. Juni 1990 beitreten, das die konkreten Bedingungen für die Durchsetzung der kontrollfreien Grenzübertritte zwischen den Staaten formulierte.29 Am 28. April 1995 unterzeichnete die Republik dann bei einer Sitzung des Exekutivausschusses in Brüssel das Vertragswerk. Nach attestierter Schengen-Reife hatte Österreich ab 1. Dezember 1997 den Vollanwenderstatus : Die Binnengrenzkontrollen fielen bis zum 1. April 1998 vollständig.30 Da außer der Bundesrepublik Deutschland und Italien alle Anrainerstaaten Österreichs nicht zum Schengen-Raum gehörten, war die Republik hier in der Pflicht zur besonderen Außengrenzsicherung. Diese war dann auch willkommener Vorwand für die Fortdauer des AssE/GRÜ. Die Schengen-Mitgliedschaft ermöglichte und gebot aber auch eine verstärkte grenzüberschreitende Kooperation, die Österreich unter anderem im »Forum Salzburg« institutionalisierte. 2. Forum Salzburg Das Forum Salzburg31 versteht sich als »Plattform für den multilateralen Dialog und die Kooperation im Bereich der inneren Sicherheit« und als »mitteleuropäische Sicherheitspartnerschaft«. Es zielt auf die Forcierung der Zusammenarbeit im Feld der Inneren Sicherheit auf regionaler wie auch auf EU-Ebene ab, wo »gemeinsames
27 Taschner, Hans Claudius : Schengen : Die Übereinkommen zum Abbau der Personenkontrollen an den Binnengrenzen von EU-Staaten, Baden-Baden 1997, S. 25. 28 Übereinkommen zwischen den Regierungen der Staaten der Benelux-Wirtschaftsunion, der Bundesrepublik Deutschland und der Französischen Republik betreffend den schrittweisen Abbau der Kontrollen an den gemeinsamen Grenzen – Bek. d. BMI v. 29.1.1986 – V II 2 – 125760 BEL/6 –, zit. n. GMBl. Nr. 5 1986, S. 79–81. 29 Übereinkommen zur Durchführung des Übereinkommens von Schengen vom 14. Juli 1985 zwischen den Regierungen der Staaten der Benelux-Wirtschaftsunion, der Bundesrepublik Deutschland und der Französischen Republik betreffend den schrittweisen Abbau der Kontrollen an den gemeinsamen Grenzen, in : BGBl., Teil II, Nr. 23, ausgegeben zu Bonn am 23. Juli 1993, S. 1013–1093. 30 Europa ohne Grenzen, in : Öffentliche Sicherheit 11–12/2007, S. 23–25, hier S. 23 f. 31 Das gesamte Teilkapitel III.2 stützt sich auf o. A. : Aus dem Inneren. Forum Salzburg. 29. Juli 2010. Fachgespräch mit Innenministerin Maria Fekter. Presseunterlage, Wien 2010.
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Lobbying« betrieben werden soll. Darüber hinaus wird eine gemeinsame Strategie gegenüber Drittstaaten, vor allem auf dem Westbalkan, vertreten. Zu den Gründungsmitgliedern des seit 2000 auf österreichisches Betreiben hin etablierten Forums zählen Slowenien, Polen, Tschechien, Ungarn und die Republik Österreich, unter deren Vorsitz bis Juli 2004 die Mitglieder arbeiteten. Die Slowakei trat 2001 bei. In dieser ersten Phase (2000–2004) ging es zunächst um einen Ausbau der regionalen Kooperation und eine Vorbereitung des EU-Beitritts der Nachbarstaaten. Deren Anpassung an die EU-Standards (Kopenhagener Kriterien) in den Bereichen Recht und Verwaltung wurde unter anderem durch EU-finanzierte »Twinning«Projekte von Österreich unterstützt.32 Nach der EU-»Osterweiterung« vom 1. Mai 200433 setzte sich die Kooperation im EU-Rahmen fort. Seit Juli des Jahres wechselte der Vorsitz halbjährig, wie es auch bei der EU-Ratspräsidentschaft gehandhabt wird oder im Ministerausschuss zur Vorbereitung des Schengener Durchführungsübereinkommens üblich war.34 In dieser zweiten Phase (2004–2007) ging es um die Vorbereitung der Schengen-Reife der österreichischen Nachbarn, aber auch um die Agenden der EU-Ratspräsidentschaften von Österreich (2006) und Slowenien (2007). Bei entsprechenden Konsultationen auf Minister- und Beamtenebene wurden Vorbereitungen getroffen und Strategien festgelegt. Darüber hinaus wurden operative Maßnahmen auf regionaler Ebene gestärkt. Hierzu wurden bilaterale »Memoranda of Understanding« geschlossen, in denen unter anderem die Ausweitung der gemeinsamen Streifentätigkeit vorgesehen war. Überdies wurde das »Operative Netzwerk Mitteleuropa« (Central European Operational Network, CEON) beschlossen. 2006 traten Bulgarien und Rumänien dem Forum bei, Kroatien hat seit Juli 2006 den Beobachterstatus. In einer dritten Phase (seit 2007) wird nun verstärkt auf vorverlagerte Maßnahmen gesetzt. Mit der Schengen-Vollanwendung durch Tschechien, die Slowakei, Ungarn und Slowenien seit dem 21. Dezember 2007 sind Österreichs »östliche« Grenzen keine SchengenAußengrenzen mehr. Die Mitgliedstaaten des Forums setzen daher auf eine verstärkte Kooperation mit den »neuen« Anrainerstaaten des Schengen-Raums. Hierzu wurde unter anderem die Initiative »Freunde des Forum Salzburg« gegründet – eine Plattform, die sich an die Staaten des Westbalkans wendet. 32 Twinning-Projekte betrieb die Republik Österreich zum Beispiel mit Ungarn (PHARE Twinning 2002 : »Strengthening Border Management«), Polen (PHARE Twinning 2003 : »Migration and Visa Policy«), Tschechien (PHARE Twinning 2003 : »Development of Border Control, Migration and Asylum«), der Slowakei (PHARE Twinning 2003 : »To implement the Schengen Action Plan and continue to upgrade the infrastructure at EU’s future external border«) und Rumänien (PHARE Twinning 2004 : »Setting up the EUROPOL Unit« ; sowie PHARE Twinning 2005 : »Resources Centre on countering trafficking in human beings«). 33 Vgl. hierzu den Beitrag von Oliver Schwarz in diesem Band. 34 Taschner, H. C. 1997, S. 24.
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»Koordinierte Maßnahmen im Rahmen des Operativen Netzwerkes Mitteleuropa sind : der gemeinsame Dienst in gemeinsamen Polizeikooperationszentren an den Binnengrenzen ; gemischte Streifen im Grenzgebiet und grenzüberschreitende Schwerpunktaktionen ; der Einsatz von polizeilichen Verbindungsbeamten ; die gegenseitige Unterstützung bei der Umsetzung des Prümer Vertrags, die einen wichtigen Schritt zu einem mitteleuropäischen Datenverbund darstellt ; die Beteiligung an gemeinsamen Schwerpunktaktionen zur Sicherung der EU-Außengrenzen ; abgestimmte Einsatzpläne und gemeinsame polizeiliche Schwerpunktaktionen ; besondere Formen der Zusammenarbeit wie zum Beispiel die grenzüberschreitende Observation, kontrollierte Lieferungen, verdeckte Ermittlungen, gemeinsame Ermittlungsgruppen oder die grenzüberschreitende Nacheile ; verbesserter polizeilicher Informationsaustausch ; die Hilfeleistung bei Ereignissen von erheblicher Bedeutung wie zum Beispiel Großereignissen, Katastrophen oder großen Unglücksfällen ; die verbesserte verkehrspolizeiliche Zusammenarbeit ; die gegenseitige Unterstützung bei der Aus- und Fortbildung«.35
Neben der Etablierung der Kommunikationsplattform »Forum Salzburg« wurden auf politischer Ebene aber auch diverse rechtliche Voraussetzungen geschaffen, die eine Zusammenarbeit mit den Nachbarn bzw. anderen Staaten ermöglichen bzw. rahmen. 3. Polizeikooperationsgesetz, Polizeiverträge und Polizeikooperationszentren Die österreichischen Wachkörper selbst arbeiten anlassbezogen grenzüberschreitend mit den Sicherheitsbehörden anderer Länder in Belangen »1. der Sicherheitspolizei, 2. der Tätigkeit im Dienste der Strafrechtspflege (Kriminalpolizei), 3. des Paßwesens, der Fremdenpolizei und der Grenzkontrolle« zusammen. Diese »internationale polizeiliche Kooperation umfaßt 1. die internationale polizeiliche Amtshilfe, 2. das Einschreiten von Sicherheitsbehörden und ihrer Organe im Ausland sowie von ausländischen Sicherheitsbehörden und deren Organen im Bundesgebiet, insbesondere durch grenzüberschreitende Nacheile und Observation«36, und stützt sich seit 1997 auf das Polizeikooperationsgesetz (PolKG). Dieses soll Rechtsschutzlücken schließen und einen einheitlichen Rahmen für Kooperationsformen auf europa- bzw. völkerrechtlicher Basis (Inter-/Europol, Schengen) bieten.37 Die grenzüberschreitende Zusammenarbeit mit den Nachbarstaaten wird dabei polizeipolitisch regelmäßig in ihrer Bedeutung betont, positiv bewertet38 und wurde unter anderem auch in Form 35 Aus dem Inneren. Forum Salzburg, S. 21 f. 36 § 1 PolKG. 37 Lintner, Petra : Zusammenarbeit über Grenzen, in : Öffentliche Sicherheit 12/2005, S. 72. 38 Unter anderem : Bundesministerium des Innern (Hg.) : Schengen Erfahrungsbericht 2001 (ohne jus-
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von Zentren institutionalisiert, in denen Polizeibeamte aus Österreich und seinen Anrainerstaaten gemeinsam Dienst verrichten. Vorbild war die (grenz-)polizeiliche Kooperation an der deutsch-französischen Grenze.39 Hier wurde das Gemeinsame Zentrum der deutsch-französischen Polizeizusammenarbeit (Centre franco-allemand de Coopération Policière et Douanière)40 ab 1999 ein wichtiges Instrument zur Kriminalitätsbekämpfung, das anlässlich seines zehnjährigen Bestehens von Politprominenz und hochrangigen Polizeiführungskräften nahezu überschwänglich gelobt wurde – unter anderem als »Quantensprung in der grenzüberschreitenden Kooperation« und »unverzichtbare[r] Partner in der Grenzregion und darüber hinaus«.41 Dergleichen Bewertungen kommen nicht von ungefähr, wie Praktiker feststellen : »Die enge Zusammenarbeit macht vertrauensvolle Kooperationsformen möglich und trägt dazu bei, mögliche Reibungsverluste zu vermeiden und die grenzüberschreitende Zusammenarbeit weiterzuentwickeln.«42 Dabei werden vor allem die persönliche Nähe und die Kategorie Vertrauen43 zu bedeutenden Faktoren, die sich in solchen Zentren herausbilden bzw. intensivieren und den Erfolg bi- sowie multilateraler Polizeikooperationen rahmen. »Die unmittelbare und ständige Zusammenarbeit unter einem Dach, Büro neben Büro und Schreibtisch an Schreibtisch[,] hat sich als absolut unabdingbar herausgestellt. Es wurde zwischenzeitlich eine Vertrauensbasis aufgebaut, wodurch die heutige überaus erfolgreiche Arbeit erst möglich wurde. […] Die unmittelbare Zusammenarbeit der benachbarten deutschen und französischen Dienststellen basiert wesentlich auf persön-
titielle Zusammenarbeit), Berlin 2002, S. 11 ; Bundesministerium des Innern (Hg.) : Schengen Erfahrungsbericht 2005–2007 (ohne justitielle Zusammenarbeit), Berlin 2007, S. 13, 19 ; [Österreichisches] Bundesministerium für Inneres, Schengen neu, ab 21. 12. 2007. Die Grenzen fallen. Die Freiheit gewinnt. Die Sicherheit bleibt, Wien o. J. [2007], S. 9, 10, 16 f. 39 Kooperation an der Grenze, in : Öffentliche Sicherheit 9–10/2012, S. 33–34, hier S. 33. 40 Einen eingehenderen Überblick hierzu – auch zu den Arbeitsbereichen Organisation, Lagezentrum, Technik/Wirtschaftsverwaltung/Statistik, Analyse/Auswertung, Einsatz/Gefahrenabwehr, Rechtshilfe, Illegale Einwanderung/Falsche Dokumente – bietet Niecholat, Alois : Erfolg durch Vertrauen – Die Arbeit im Gemeinsamen Zentrum Kehl, in : Deutsche Polizei. Zeitschrift der Gewerkschaft der Polizei 7/56 (2007), S. 23–28. 41 Pudlat, Andreas : Schengen. Zur Manifestation von Grenze und Grenzschutz in Europa, Hildesheim/ Zürich/New York 2013, S. 114. 42 Thiele, Cora/Eberhard, Karsten : Unser Kooperationspartner Frankreich. »Bonjour, deutsche Bundespolizei. Bitte Ihre Ausweispapiere !«, in : BUNDESPOLIZEI kompakt 1/37 (2010), S. 12–15, hier S. 14. 43 Vgl. allgemein zur Kategorie Vertrauen : Köppen, Bernhard/Kortelainen, Jarmo : Vertrauen als Grundlage grenzüberschreitender Kooperation. Erkenntnisse aus dem deutsch-tschechischen und finnischrussischen Grenzraum, in : Köppen, Bernhard/Horn, Michael (Hg.) : Das Europa der EU an seinen Grenzen ! ? Konzepte und Erfahrungen der europäischen grenzüberschreitenden Kooperation, Berlin 2009, S. 55–67.
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lichen Kontakten. Sie funktioniert dann bestens, wenn die jeweiligen Akteure greifbar sind. Diese unmittelbaren Kontakte werden seltener mit größerer räumlicher Distanz der beteiligten Dienststellen.«44
Dabei sind sie gerade dann wichtig, wenn verschiedene Sprachen, Kulturen, Rechtsvorschriften, Verwaltungsstrukturen und Behördenkompetenzen aufeinandertreffen, wie es an Landes-, vor allem aber an Staatsgrenzen der Fall ist. Das gilt umso mehr für die operative Polizeiarbeit, bei der nicht selten eine schnelle Kommunikation und Koordination bzw. unverzügliche Entscheidungen erforderlich sind – etwa bei Observationen und Nacheilen (Verfolgungen). Am 9. Oktober 1997 haben die Bundesrepublik Deutschland und die Regierung der Französischen Republik daher mit dem sogenannten »Mondorfer Abkommen« ein »Abkommen […] über die Zusammenarbeit der Polizei- und Zollbehörden in den Grenzgebieten« geschlossen und insbesondere Gemeinsame Zentren explizit vorgesehen,45 wie dies dann im badenwürttembergischen Kehl erstmalig umgesetzt und wegweisend für zahlreiche Grenzräume wurde, so auch an Österreichs Grenzen. Hier entstand 2001 mit Beteiligung Ungarns das »Gemeinsame Kontaktbüro Nickelsdorf-Hegyeshalom« (Burgenland), das ab 1. Januar 2008, also nachdem auch Ungarn zu den Schengen-Vollanwenderstaaten gehörte, unter der Bezeichnung »Polizeikooperationszentrum« firmierte. Weitere gemeinsame Dienststellen existieren mittlerweile in Kittsee (Burgenland – Slowakei), Thörl-Maglern (Kärnten – Slowenien/Italien), Drasenhofen-Mikulov (Niederösterreich – Tschechien) sowie seit 2009 in Dolga Vas (Steiermark – Slowenien/Ungarn), aber auch an den Grenzen im Westen in Tisis-Schaanwald (Vorarlberg – Liechtenstein/Schweiz).46 In den Zentren, deren Einrichtung in entsprechenden bilateralen Polizeiverträgen geregelt ist, werden vor allem Erkenntnisse und Daten ausgetauscht, weshalb sie unter anderem als »verlässliche Informationsdrehscheibe« gesehen werden.47 Darüber hinaus werden grenzüberschreitende Maßnahmen, zum Beispiel »bei der Übergabe und Übernahme von Personen mit unbefugtem Aufenthalt«, koordiniert sowie gemeinsame Streifen realisiert, die auch der praxisbezogenen Evaluation der Kooperation dienen. Im Bereich der Fortbildung der eingesetzten Beamten wird entsprechend besonderer Wert auf die Vermittlung von rechtlichen, organisatorischen, 44 Niecholat, A. 2007, S. 28. 45 Abkommen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Regierung der Französischen Republik über die Zusammenarbeit der Polizei- und Zollbehörden in den Grenzgebieten (Mondorfer Abkommen), BGBl., Teil II, ausgegeben zu Bonn am 22. September 1998, Nr. 38, S. 2479–2489 ; vgl. speziell zu den Gemeinsamen Zentren Art. 3 ff. 46 Kooperation an der Grenze, in : Öffentliche Sicherheit 9–10/2012, S. 33–34, hier S. 33. 47 Mit diesem Prädikat etwa wurde das Zentrum in Thörl-Maglern versehen : »Besonders wichtiger Partner«, in : Öffentliche Sicherheit 3–4/2007, S. 47.
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einsatztaktischen und technischen Kenntnissen sowie auf Fremdsprachenkompetenz gelegt, um die sachgerechte Bearbeitung der zahlreichen Anfragen (2011 : 55.000 ; 2010 : 50.000) zu ermöglichen.48 Über den Schengen-Besitzstand und die darin verankerten Ausgleichsmaßnahmen hinaus bestanden noch Bedarf an ergänzenden Regelungen und weiteres Entwicklungspotenzial. Daher kam es im Schengen-Raum zu zahlreichen völkerrechtlichen Vereinbarungen – den schon angesprochenen bilateralen Polizeiverträgen –, bei denen auch die Republik Österreich und ihre Nachbarn bzw. Partner im Forum Salzburg zu den Vertragsparteien zählen. So bestehen Abkommen mit den Anrainern Slowenien49, der Slowakei50, Tschechien51, Ungarn52, aber auch mit den Kooperationspartnern Polen53, Bulgarien54, Rumänien55 und Kroatien56. Zudem wurden mit dem Vertrag von Prüm, der am 27. Mai 2005 von den Benelux-Staaten, Frankreich, der Bundesrepublik Deutschland, Spanien und Österreich unterzeichnet wurde und Maßnahmen zur »Vertiefung der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit, insbesondere zur Bekämpfung des Terrorismus, der grenzüberschreitenden Kriminalität und der illegalen Migration« vorsieht, die Möglichkeiten der Kooperation beträchtlich erweitert. Möglich sind seitdem unter anderem der automatisierte Abgleich von Fahrzeug-, DNA- und daktyloskopischen Daten 48 Kooperation an der Grenze, S. 33 f. 49 Vertrag zwischen der Republik Österreich und der Republik Slowenien über die polizeiliche Zusammenarbeit, unterzeichnet am 28. Oktober 2003, in Kraft seit 1. Mai 2005 (BGBl. III Nr. 51/2005). 50 Vertrag zwischen der Republik Österreich und der Slowakischen Republik über die polizeiliche Zusammenarbeit, unterzeichnet am 13. Februar 2004, in Kraft seit 1. Juli 2005 (BGBl. III Nr. 72/2005). 51 Vertrag zwischen der Republik Österreich und der Tschechischen Republik über die polizeiliche Zusammenarbeit und die zweite Ergänzung des Europäischen Übereinkommens vom 20. April 1959 über die Rechtshilfe in Strafsachen, unterzeichnet am 14. Juli 2005, in Kraft seit 1. Juli 2006 (BGBl. III Nr. 121/2006). 52 Vertrag zwischen der Republik Österreich und der Republik Ungarn über die Zusammenarbeit bei der Vorbeugung und Bekämpfung der grenzüberschreitenden Kriminalität, unterzeichnet am 6. Juni 2004, in Kraft seit 1. Juni 2006 (BGBl. III Nr. 99/2006). 53 Vertrag zwischen der Österreichischen Bundesregierung und der Regierung der Republik Polen betreffend die Zusammenarbeit bei der Vorbeugung und Bekämpfung der Kriminalität, unterzeichnet am 10. Juni 2002, in Kraft am 1. Dezember 2003 (BGBl. III Nr. 139/2003). 54 Abkommen zwischen der Österreichischen Bundesregierung und der Regierung der Republik Bulgarien betreffend polizeiliche Zusammenarbeit, unterzeichnet am 29. Mai 2002, in Kraft am 1. August 2002 (BGBl. III Nr. 206/2002). 55 Regierungsübereinkommen zwischen der Österreichischen Bundesregierung und der Regierung Rumäniens über die Zusammenarbeit bei der Bekämpfung der internationalen organisierten Kriminalität, des internationalen illegalen Suchtgifthandels, des internationalen Terrorismus sowie für sonstige Zwecke im Dienste der Strafrechtspflege, unterzeichnet am 18. März 1999, in Kraft getreten am 1. Jänner 2000. 56 Vertrag zwischen der Republik Österreich und der Republik Kroatien über die polizeiliche Zusammenarbeit, unterzeichnet am 14. November 2007, in Kraft seit 1. Oktober 2008 (BGBl. III Nr. 141/2008).
275
Kriminalitätsbekämpfung in Zeiten offener Grenzen
mit den Datensätzen der Partnerländer und die Zusammenarbeit bei Großereignissen.57 Schengen Staat
Beitritt
Inkraftsetzen/ Vollanwendung
ForumSalzburg-Mitgliedschaft
Prüm-Mitgliedschaft : Hinterlegung der Ratifikationsurkunde/Inkrafttreten
Österreich
28.04.1995
01.04.1998
2000
21.06.2006/01.11.2006
Deutschland
14.06.1985
26.03.1995
---
25.08.2006/23.11.2006
Slowenien
qua EU-Beitritt am 01.05.2004
21.12.2007
2000
10.05.2007/08.08.2007
Ungarn
qua EU-Beitritt am 01.05.2004
21.12.2007
2000
16.10.2007/14.01.2008
Slowakei
qua EU-Beitritt am 01.05.2004
21.12.2007
2001
27.02.2009/28.05.2009
Tschechien
qua EU-Beitritt am 01.05.2004
21.12.2007
2000
---
Polen
qua EU-Beitritt am 01.05.2004
21.12.2007
2000
---
Rumänien
qua EU-Beitritt am 01.01.2007
offen
2006
03.12.2008/03.03.2009
Bulgarien
qua EU-Beitritt am 01.01.2007
offen
2006
25.05.2009/23.08.2009
Tabelle 1 : Österreichs Nachbarn bzw. Kooperationspartner im Kontext von Schengen, Prüm und Salzburg
4. Fachdienststellen Mit Leben gefüllt wurden die politischen und legislativen Rahmenbedingungen aber durch die operative Arbeit der Wachkörper, bei der sich vor allem die polizeilichen Fahndungsmaßnahmen änderten. Von den Grenzen wurde sie bei gleichbleibendem Polizeibesatz und ständiger Lageanalyse als Schleierfahndung (»Grenzraumkontrolle«) ins Hinterland verlagert.58 Darüber hinaus wurden kriminalstrategische Konzepte, z. B. »Schengen Neu – grenzen.los.sicher«,59 erarbeitet und organisationsstrukturelle Maßnahmen veranlasst. So wurden etwa Fachinspektionen für Ausgleichsmaßnahmen (AGM) geschaffen. Ihr Kerngeschäft sind die Bekämpfung 57 Vgl. Hummer, Waldemar : Der Vertrag von Prüm – »Schengen III« ?, in : Europarecht 4/2007, S. 517– 530, insb. S. 517–520. Ebd. auch Näheres zum Ziel, zur Struktur und zum Inhalt des Vertrages. Zudem : Reisefreiheit und Sicherheit, in : Öffentliche Sicherheit 9–10/2007, S. 30 f., hier S. 31. 58 Reisefreiheit und Sicherheit, in : Öffentliche Sicherheit 9–10/2007, S. 30 f., hier S. 31. 59 Grenzen.los.sicher, in : Öffentliche Sicherheit 1–2/2008, S. 15–19.
276
Andreas Pudlat
des illegalen Aufenthalts und Dokumentenmissbrauchs sowie von Eigentums- und Betäubungsmittelkriminalität. Allein im Zuständigkeitsbereich des Landespolizeikommandos Wien wurden zum 21. Dezember 2007 eigens drei AGM-Dienststellen eingerichtet, deren 21 Beamte im Wechseldienst primär für die Fahndung zunächst auf Bahnhöfen, später in Zügen auf Transitstrecken, aber auch an Autobahnen und Schnellstraßen, also an Hauptreiserouten, eingesetzt waren. Die spezialisierten Kräfte, die zum Teil schon zuvor mit Grenzkontrollen betraut waren und entsprechend über mehrjährige Erfahrungen verfügten, sollten so deren Wegfall kompensieren und die Einzeldienst-Inspektionen von fremdenpolizeilichen Aufgaben entlasten. Hierzu wurden sie mit entsprechenden Führungs- und Einsatzmitteln, zum Beispiel mit UV-Geräten zur Prüfung der Dokumentenechtheit oder Laptops mit Fremdendaten und Fahndungssätzen, ausgestattet und in den Bereichen Fremdenrecht, Strafprozessordnung, Fahndung/Aufgreifen, Anhaltung sowie Erkennen gestohlener Kfz fortgebildet. Zeitweise wurden sie zusätzlich durch Kräfte der Unterstützungsgruppe (USG) verstärkt.60 Seit Februar 2009 sind zudem »Mikroteams« im Einsatz.61 Im niederösterreichischen Grenzraum zu Tschechien arbeiten Beamte aus beiden Staaten auf Basis des Polizeikooperationsvertrages zusammen und bauen auch sprachliche Barrieren ab. Neben einem monatlichen Austausch über die polizeiliche Lage und Ermittlungen im Polizeikooperationszentrum Drasenhofen-Mikulov, bei Bedarf mit Unterstützung durch übergeordnete Dienststellen, erfolgt anlassbezogen die grenzüberschreitende Zusammenarbeit bei Soforteinsätzen, zum Beispiel bei Einbruchdiebstählen.62 Aber auch die Ermittlungsarbeit wurde durch spezielle Organisationseinheiten gestärkt. Insbesondere die Struktur- und Intensivtäterermittlungen erfuhren etwa durch die Einrichtung der Sonderkommission Kraftfahrzeuge (Soko Kfz), die Anfang 2009 im Landespolizeikommando Burgenland aus der Sonderkommission Ost hervorging und später auch in Linz für die westlichen Bundesländer initiiert wurde, eine entscheidende Stärkung, sodass auch die Identifizierung von Hintermännern organisiert arbeitender Banden möglich wurde. Die Soko gilt als »unverzichtbares Element im Kampf gegen Kfz-Diebstahl«, wie die damalige Innenministerin Maria Fekter (ÖVP) schon ein Jahr später feststellte.63 60 Brenner, Gerhard : Kontrollen auf Straße und Schiene, in : Öffentliche Sicherheit 3–4/2008, S. 18–22. Die Bilanz der AGM-Kräfte fällt in diesem »Magazin des Innenministeriums« naturgemäß sehr positiv aus. So wird für den ersten Monat auf annähernd 90 Festnahmen und 14 sichergestellte Kfz, aber auch auf Fahndungserfolge in Raubstraftaten hingewiesen (S. 22). 61 Ein ähnliches Projekt wurde bereits unter dem Titel »Grenzüberschreitendes Polizeiteam (GPT)« im Rahmen des INTERREG IV A-Programms Deutschland-Nederland initiiert und vom Europäischen Fonds für Regionale Entwicklung (EFRE) sowie diversen Ministerien finanziell gefördert. 62 Lattacher, Siegbert : Grenzüberschreitende Ermittlungen, in : Öffentliche Sicherheit 7–8/2011, S. 37 f. 63 Operation Hecht, in : Öffentliche Sicherheit 11–12/2010, S. 12–14, Zitat Fekter S. 12.
Kriminalitätsbekämpfung in Zeiten offener Grenzen
277
IV. Manifestation von Kriminalität und illegaler Migration im Grenzraum Gerade die Bekämpfung der grenzüberschreitenden Eigentumskriminalität entwickelte sich zu einem beträchtlichen Tätigkeitsfeld der Wachkörper. Zum Diebesgut gehören nicht nur Pkw, sondern auch Busse, Lkw, Anhänger und Zweiräder.64 Zu den diversen Modi Operandi zählen das »Schlüsselfischen«, bei dem aus schlecht gesicherten oder manipulierten Schlüsseltresoren an Autowerkstätten die Fahrzeugschlüssel und im Anschluss die Kraftfahrzeuge selbst entwendet werden,65 sowie Unterschlagungen und Diebstähle von Mietwagen. 2010 erfolgten in Oberösterreich auch vorgelagerte Einbrüche in Zulassungsstellen zur Beschaffung von Dokumenten, mit denen dann die entwendeten Kfz angemeldet wurden.66 Gemeinhin ist festzustellen, dass die Fahrzeuge nach den Diebstählen zunächst zwischengelagert, dann manipuliert (Kennzeichentafeln, Fahrzeugidentifikationsnummern, Aufkleberentfernung) und schließlich ins Ausland transferiert werden. Bei der Aufklärung solcher Straftaten spielen neben der Technik in den Fahrzeugen (GPS-Ortungssyteme) der Datenaustausch (in einigen Ländern, wie Deutschland, auch mit den Herstellern)67 und ein stationäres Kennzeichenerfassungssystem68 eine entscheidende Rolle. Im Bereich der Bekämpfung von illegaler Migration fällt auf, dass es nicht unbedingt einen Schwerpunkt an den Grenzen im »Osten« gibt. Die Aufgriffe im Zuge der Assistenzeinsätze (AssE/GRÜ, AssE/SchE) deuten im Vergleich mit den in bundesdeutschen Lagebildern genannten Aufgriffs-, Festnahme- und Rückführungszahlen darauf hin, dass vielmehr auch die deutsch-österreichische Grenze besonderes Augenmerk verdient. Sie ist dabei aus deutscher Sicht eindeutig »Schwerpunkt« bzw. »absolute[r] Brennpunkt« und einer der »Brennpunkte der irregulären Migration«, wenn man den Schengen-Erfahrungsberichten folgt.69 Die Zahlen unterstützen diese These : Hier erfolgen kontinuierlich mit Abstand die meisten Feststellungen einer unerlaubten Einreise und auch die meisten Schleuser-Festnahmen sowie bekannt gewordenen Schleusungen.
64 Lattacher, Siegbert : Busse als Beute, in : Öffentliche Sicherheit 7–8/2011, S. 15–16. Strategien gegen Kfz-Diebstahl, in : Öffentliche Sicherheit 5–6/2010, S. 11 f. 65 Lattacher, Siegbert : »Schlüsselfischer«, in : Öffentliche Sicherheit 7–8/2010, S. 14. 66 Strategien gegen Kfz-Diebstahl, in : Öffentliche Sicherheit 5–6/2010, S. 11 f., hier S. 11. 67 Lattacher, S. 2010, S. 14. 68 Operation Hecht, S. 14. Die ASFINAG stellte hierfür kostenfrei die Überkopfbauten mit Stromzufuhr und Datenleitungen zur Verfügung. 69 Bundesministerium des Innern (Hg.) : Schengen Erfahrungsbericht 2001 (ohne justitielle Zusammenarbeit), Berlin 2002, S. 3. Bundesministerium des Innern (Hg.) : Schengen Erfahrungsbericht 2005– 2007 (ohne justitielle Zusammenarbeit), Berlin 2007, S. 5.
278
Andreas Pudlat 1999
2000
2001
2002
2003
2004
2005
2006
2007
Aufgriffe »illegaler Grenzgänger« durch das österreichische Bundesheer70
5.155
6.143
10.898
10.516
7.326
5.479
4.505
2.488
1.541
Unerlaubte Einreise über die deutsche Grenze71 (Binnengrenze gesamt)
15.616
12.725
16.377
15.679
13.075
10.944
9.497
10.445
4.271
Unerlaubte Einreise an der Grenze zu Österreich
10.980
7.404
8.210
7.518
5.479
4.467
3.755
3.888
1.640
Schleuserfestnahmen mit Grenzbezug
1.720
1.073
1.265
996
650
541
571
592
295
Schleuserfestnahmen mit Grenzbezug zu Österreich
1.576
961
1.137
825
487
415
437
362
238
Geschleuste Personen Binnengrenze gesamt
4.381
2.362
3.044
2.160
1.456
1.180
1.096
1.202
607
Geschleuste Personen an der Grenze zu Österreich
4.016
1.973
2.408
1.735
1.033
874
774
625
467
Rückführungen aus Deutschland gesamt
56.539
55.813
43.950
40.174
36.216
31.789
23.697
18.623
7.066
Rückführungen an der Grenze zu Österreich
4.170
2.506
3.345
3.398
2.363
2.145
1.675
1.454
581
Tabelle 2 : Feststellungen in Bezug auf illegale Migration 1999–2007 an der österreichischen Grenze im »Osten« bzw. in der Bundesrepublik mit Bezug zu Österreich70 71
Auch im Bereich grenzüberschreitender Observationen, wie sie unter anderem im Rahmen des Schengener Durchführungsübereinkommens (Art. 40) geregelt sind, gehört Österreich, so etwa 2004 neben Frankreich und den Niederlanden, zu den »Hauptzielländer[n]«.72 Damit stellt sich trotz der betont guten Zusammenarbeit zwischen deutschen und österreichischen Behörden, die 2005 durch den Vertrag von 70 Roth, Manfred : 902 Wochen und ein Tag (I) – Der Assistenzeinsatz zur Grenzraumüberwachung (1990–2007), in : TRUPPENDIENST – Zeitschrift für Ausbildung, Führung und Einsatz 5/2008, S. 454–464, hier S. 459. 71 Für die Jahre 1999–2001 : Bundesministerium des Innern (Hg.) : Schengen Erfahrungsbericht 2001 (ohne justitielle Zusammenarbeit), Berlin 2002, S. 19 f., 22. Für die Jahre 2002–2004 : Bundesministerium des Innern (Hg.) : Schengen Erfahrungsbericht 2004 (ohne justitielle Zusammenarbeit), Berlin 2005, S. 20 f., 24. Für die Jahre 2005–2007 : Bundesministerium des Innern (Hg.) : Schengen Erfahrungsbericht 2005–2007 (ohne justitielle Zusammenarbeit), Berlin 2007, S. 30, 31, 33. 72 Bundesministerium des Innern (Hg.) : Schengen Erfahrungsbericht 2004 (ohne justitielle Zusammenarbeit), Berlin 2005.
Kriminalitätsbekämpfung in Zeiten offener Grenzen
279
Prüm einen weiteren Schub erhielt und unter anderem auch im Bereich von Staatsschutzdelikten und im Rahmen sportlicher Großereignisse, wie etwa der Europameisterschaft im Fußball 2008, unter Beweis gestellt wurde,73 die Frage nach der Effektivität, Berechtigung sowie dem Erfolg der Assistenzeinsätze, vor allem aber nach dem Grund für seine Konzentration auf die Ostgrenzen. Neben dem Gebiet an der deutsch-österreichischen Grenze erfordern auch noch andere Grenzräume besonderes Augenmerk. Das grenznahe Schweizer Dorf Samnaun etwa ist seit 1892 eine Zollausschlusszone und daher vor allem für Käufer von hochpreisigen Waren (Uhren, Schmuck, Luxusartikel) attraktiv, die vom Skigebiet Ischgl nach Samnaun abfahren, deutlich verbilligt einkaufen und dann bei ihrer Rückkehr auf österreichisches Gebiet mehrwertsteuerpflichtig sind.74 Leisten sie die erforderlichen Zahlungen nicht, werden sie umgangssprachlich zu Schmugglern – eine Variante des ordnungswidrigen bzw. strafbaren Handelns an Grenzen, die klassisch ist, aber in den gegenwärtigen öffentlichen Diskursen über Grenzkriminalität eher marginal behandelt wird. Dabei begründet auch sie jene Behördenaktivität im Grenzraum, die zu seiner Manifestation beiträgt und ihn zum Gegenstand kriminalstrategischer und kriminal-/polizeipolitischer Beratungen sowie Entscheidungen macht, wie das Beispiel Samnaun zeigt : »Die österreichische Finanzverwaltung hat sich auf die vielen Schmuggler eingestellt. Auf dem Fiderjoch bei der Staatsgrenze steht eine Zollhütte und Finanzermittler auf Schiern kontrollieren im Schigebiet Ischgl vorwiegend Wintersportler, die mit Rucksäcken aus Samnaun kommen.«75 Die öffentlichkeitswirksame Konzentration auf ausgewählte Grenzgebiete mag insofern einem kriminalstrategischen Spannungsfeld zwischen Kriminalitätswahrnehmung bzw. Erwartungshaltung der Bürger und tatsächlicher Kriminalitätslage geschuldet sein, ist aber operativ nur bedingt plausibel und im Sinne einer Integration auf Augenhöhe unter Umständen abträglich. So zeigen kriminologische Studien allgemein, dass ein Übermaß an Polizeipräsenz durchaus geeignet ist, das Sicherheitsempfinden negativ zu beeinträchtigen.76 Inwieweit das auch für Grenzräume gilt, in denen die Präsenz von Grenzschutzpersonal Alltag und markantes Kennzeichen ist, bedarf indes weiterer Untersuchungen.
73 Exemplarisch : Bürger, Bernd : Einsatzeinheiten der BRD im europäischen Ausland. Eine Analyse von Auslandseinsätzen geschlossener Einheiten anhand des Einsatzes deutscher Bereitschaftspolizeieinheiten bei der UEFA Fußball-Europameisterschaft 2008 in Österreich, 2010. Bürger, Bernd : Der Einsatz Deutscher Bereitschaftspolizeieinheiten im Europäischen Ausland – ein Erfolgsmodell ?, in : Feltes, Thomas (Hg.) : Polizei und Fußball. Analysen zum rituellen Charakter von Bundesligaspielen, Frankfurt am Main 2013. 74 Sabitzer, Werner : Das Dorf an der Grenze, in : Öffentliche Sicherheit 3–4/2008, S. 78 f. 75 Sabitzer, W. 2008, S. 79. 76 Näher zu diesem vielversprechenden Forschungsansatz Brait/Pudlat 2012, S. 40 f.
280
Andreas Pudlat
IV. Fazit Der »Eiserne Vorhang«, der letztlich zwar nie ganz verschlossen war, gleichwohl sehr restriktiv und effektiv die Grundfunktionen von Staatsgrenzen – vor allem bezogen auf die ideologische, militärische und die Kontrollfunktion – erfüllte, war ein Symbol. Er spiegelte die Antagonismen zwischen »Ost« und »West« wider, markierte Einflusssphären und war je nach Lesart Bollwerk gegen Bedrohungen oder Inbegriff einer Unrechtsgrenze, die zahlreiche Menschen Freiheit und Leben kostete. Entsprechend wurde er von allen Seiten auch propagandistisch thematisiert – und wird es durchaus noch immer. Umso bedeutsamer war sein »Fall« 1989, der zugleich den Zusammenbruch der autoritären Regime im »Ostblock« und das Freiheitsstreben der in dessen Staaten lebenden Menschen symbolisierte, ja gleichsam den moralischen Sieg des Westens und der Demokratie verdeutlichte. In ebensolcher Weise aufgeladen war der Schengen-Prozess, an dem Österreich als »temporär Verhinderter« ab 1997 als Vollanwender teilhaben konnte. Eine Öffnung und Überwindung der entsprechenden Grenzen wurde propagiert, fand aber alsbald ihre Schranken in den Köpfen der Menschen und Politiker, aber auch in Phänomenen, die unter anderem für die Kriminal- und Polizeipolitik zur Herausforderung wurden. Steigende Migranten- und Kriminalitätszahlen bildeten mit althergebrachten wertkartographischen Vorurteilen über die Menschen im »Osten« einen nahezu unheilvollen Boden für populistische Maßnahmen, aber auch die Basis für objektiv notwendige Reaktionen im Bereich der Kriminalitätsbekämpfung und des Grenzschutzes – vor allem : • Assistenzeinsatz Grenzraumüberwachung (AssE/GRÜ ; September 1990 bis Dezember 2007) ; • Polizeikooperationsgesetz (PKG ; 1997) ; • »Forum Salzburg« (2000) ; • Vertrag von Prüm (2005) ; • bilaterale Polizeiverträge mit den Anrainerstaaten ; • Kontaktbüros/Polizeikooperationszentren ; • Assistenzeinsatz Schengeneinsatz (AssE/SchE ; Dezember 2007 bis Dezember 2011) ; • Schleierfahndung ; Fach-/Sonderdienststellen (AGM, OZ-AGM77, Soko Ost, Soko Kfz). 77 Das Operative Zentrum Ausgleichsmaßnahmen (OZ-AGM) arbeitet in Wiener Neustadt seit seiner Eröffnung am 30. August 2011. Es fungiert als Lagezentrum, in dem bundesweit Informationen erfasst und anlass-/anfragebezogen kommuniziert werden, aber auch die Planung und Führung von
Kriminalitätsbekämpfung in Zeiten offener Grenzen
281
(Fort-)Bestehende Vorurteile und neue Kriminalitätsphänomene (z. B. Kfz-Diebstahl : Entwendung von Bussen und Lkw, »Schlüsselfischer« etc.) mündeten einerseits in einer Kriminalitätsfurcht und einer polizeilichen bzw. kriminal-/polizeipolitischen Lagebewertung, die insofern handlungsleitend waren, als die genannten Maßnahmen initiiert wurden. Andererseits konnten so aber auch eben diese Maßnahmen legitimiert und instrumentalisiert werden. Dabei bediente sich die Öffentlichkeitsarbeit nicht selten eines selbst- bzw. Österreich überhöhenden Sprachduktus, der Inbegriff nicht überwundener Grenzen in den Köpfen ist. Deren ideologische Funktion wirkt hier auf Ebene des Vertrauens in die Arbeit der – eigenen – nationalen Sicherheitsbehörden. Mit ihnen identifizieren sich die Bürger, sie sind Garant von Sicherheit auch in Zeiten des Umbruchs : 1989 ebenso wie bezogen auf den Schengen-Prozess, der für eine völlig neue Manifestation von Grenzschutz steht.78 Nicht alle Maßnahmen sind dabei überzeugend bzw. sachgerecht. So wird der öffentliche, vor allem aber der polizeiliche Fokus auf die Grenzen im »Osten« beim Blick auf die deutschen Schengen-Erfahrungsberichte ebenso bestätigt wie erheblich infrage gestellt. Das Kriminalitätsaufkommen an der deutsch-österreichischen Grenze jedenfalls würde hier eine vergleichbar intensive Arbeit der österreichischen Wachkörper rechtfertigen. Insofern ist die Konzentration auf den Grenzraum zu den östlichen Anrainerstaaten mehr als nur kriminalstrategisch angemessener Ressourceneinsatz, sondern ein Stück weit auch entlarvend und Indiz für fortbestehende wertkartographische Denkmuster sowie (Kriminalitäts-)Ängste in der österreichischen Bevölkerung, also Ausdruck eines kriminalstrategischen Spannungsfeldes zwischen objektiver Lage, subjektiver Wahrnehmung und politischem Opportunismus.
Sondereinsätzen erfolgt. Hierfür stehen dem OZ-AGM auch besondere Führungs- und Einsatzmittel zur Verfügung – etwa Kraftfahrzeuge mit leistungsstarken Wärmebildkameras, Beleuchtungsanlagen (Flutlicht) und Bürotechnik. Zudem sind die eingesetzten Beamten für die Aus- und Fortbildung von AGM-Kräften und die Entwicklung von Einsatztaktiken zuständig. 78 Hierzu Pudlat, A. 2013.
Angela Siebold
Österreich im »grenzenlosen Europa« nach 1989 Polnische und deutsche Diskussionen um den österreichischen Schengen-Beitritt
I. Vorbemerkung Österreich, das seit 1. Jänner 1995 Mitglied der Europäischen Union ist, nahm und nimmt mit seiner geopolitischen Lage eine besondere Position zwischen West und Ost ein. Dies äußerte sich während des Kalten Krieges durch seine schwierige Lage am »Eisernen Vorhang«, änderte sich jedoch grundlegend durch den Abbau der österreichisch-ungarischen Grenzkontrollen und die Umbrüche 1989/90. Dem Beitritt Österreichs zur Europäischen Union folgte am 1. April 1997 seine Aufnahme in den Schengen-Raum, der zwar den Abbau der Binnengrenzkontrollen zur Folge hatte, gleichzeitig jedoch nun die Schengener Außengrenze an die Grenzen entlang des ehemaligen »Eisernen Vorhangs« verschob. Diese Situation änderte sich erst am 21. Dezember 2007, als Österreichs Nachbarn Tschechien, die Slowakei, Ungarn und Slowenien gemeinsam mit weiteren Staaten Ostmitteleuropas dem Schengen-Raum beitraten. Österreichs Randlage während des Kalten Krieges, die sich zwischen 1997 und 2007 erneut durch seine östliche Grenze als Schengener Außengrenze zeigte, kann seitdem zumindest in Bezug auf die Grenzsicherung als überwunden gelten, denn mittlerweile liegt das Land inmitten einer erweiterten Europäischen Union ohne stationäre Binnengrenzkontrollen. Der folgende Beitrag widmet sich der Lage Österreichs zwischen Kaltem Krieg, Grenzöffnung, Schengen-Aufnahme und Schengener Osterweiterung. Er tut dies jedoch nicht aus einer Binnenperspektive, sondern fragt nach der Außenwahrnehmung dieser Entwicklung, die im gesamteuropäischen Kontext sowohl sicherheits- als auch migrations- und ordnungspolitische Relevanz hatte. Um hierbei Perspektiven von beiden Seiten des ehemaligen »Eisernen Vorhangs« zu berücksichtigen, beleuchtet der Beitrag nicht nur Reaktionen aus Deutschland, sondern auch aus Polen auf Österreichs Rolle im Schengen-Prozess.1 Dadurch wird neben der Geschichte Österreichs 1 Dazu wurde vor allem die Berichterstattung in der Süddeutschen Zeitung und der Frankfurter Allgemeinen Zeitung sowie der Rzeczpospolita und der Gazeta Wyborcza vornehmlich in der Zeit zwischen 1995 und 1998 untersucht. Die polnischen Zitate wurden von der Autorin übersetzt.
284
Angela Siebold
im Schengen-Prozess auch nach einer zunehmenden gegenseitigen Wahrnehmung europäischer Nationalstaaten als ein Teilbereich einer verstärkten Europäisierung gefragt :2 Die gemeinsame Verantwortlichkeit für die Sicherung der Schengener Außengrenze und die Notwendigkeit, mit dem Abbau der Binnengrenzkontrollen Bereiche der Grenzsicherung an die Nachbarstaaten abzugeben, steht exemplarisch für eine größere Verflechtung der Zuständigkeiten im europäischen Raum. Dieser Prozess hatte auch zur Folge, dass Entwicklungen in den Nachbarstaaten sensibler wahrgenommen wurden, wie Friedrich Heckmann bereits 1996 für den Grenzkon trollabbau in Westeuropa herausstellte : »Jeder Staat hat weniger Grenzen im bisherigen Sinne, ist aber zugleich für mehr Grenzen mitverantwortlich geworden und muß sich im Interesse seiner eigenen Sicherheit und Handlungsfähigkeit für mehr Grenzen interessieren : die Oder-Neiße-Linie ist auch die Grenze Frankreichs, seine neue Ostgrenze geworden, Deutschland muß sich dafür interessieren, was an der Straße von Gibraltar passiert, alle interessieren sich für die Grenzen Italiens mit Schengenland und was zwischen Italien und Albanien vor sich geht.«3
II. Politische und mentale Grenzziehungen in Europa Durch die Untersuchung solcher gegenseitiger Wahrnehmungen lassen sich am Beispiel des Schengener Abkommens Raumvorstellungen und Grenzziehungen erkennen. Diese richteten sich jedoch nicht nur auf die Frage der politischen Zuständigkeit, sondern reflektierten gleichfalls räumliche Manifestationen von Zugehörigkeit und Abgrenzung in der Konstruktion eines Gesamteuropas nach dem Ende des Kalten Krieges.4 Die Geschichte des Schengener Abkommens und besonders die Lage 2 Mit dem Begriff der Europäisierung ist hier keine ausschließlich institutionelle oder politische Annäherung der Nationalstaaten gemeint, sondern er rekurriert vielmehr auf eine verstärkte Kommunikation, gegenseitige Wahrnehmung und Aufmerksamkeit – nicht zuletzt aufgrund gemeinsamer Zuständigkeiten. Zum Begriff der Europäisierung aus politikwissenschaftlicher Perspektive vgl. Beichelt, Timm : Deutschland und Europa. Die Europäisierung des politischen Systems, Wiesbaden 2009, S. 20–23 ; zur Diskussion um den Europäisierungsbegriff in der Geschichtswissenschaft vgl. Tagungsbericht »Zwischen Europäisierung und Globalisierung. Zum Standort der Geschichtswissenschaften heute«, 19.–20. November 2010, Potsdam, http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/tagungsberichte/ id=3451 (online am 20. Jänner 2013) ; Gehler, Michael/Vietta, Silvio (Hg.) : Europa – Europäisierung – Europäistik. Neue wissenschaftliche Ansätze, Methoden und Inhalte (Historische Forschungen : Veröffentlichungen 7), Wien/Köln/Weimar 2010. 3 Heckmann, Friedrich : Internationale Migrationsdynamik und Schengen, in : Heckmann, Friedrich/ Tomei, Verónica (Hg.) : Freizügigkeit in Europa. Migrations- und europapolitische Aspekte des Schengen-Vertrages (Forum Migration 2), Bonn 1996, S. 11–18, hier S. 11. 4 Zur Bedeutung der europäischen Grenzkontrollen im historischen Wandel vgl. Pudlat, Andreas :
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entlang des ehemaligen »Eisernen Vorhangs«, wie sie sowohl im österreichischen als auch im deutschen, aber auch im polnischen Fall zutage trat, ist somit auch eine Geschichte sich wandelnder Raumvorstellungen. Das Innen kann ohne ein Außen, das eigene ohne das andere nicht definiert werden. Für das westliche und östliche Europa war die Abgrenzung zum Raum hinter dem »Eisernen Vorhang« lange eine wesentliche Bezugsgröße in der Selbstdefinition ex negativo. Dies zeichnete sich auch in den Raumvorstellungen ab, welche sich durch die politischen Grenzziehungen verfestigt hatten. In dem Ende der 1980erJahre einsetzenden Konstruktionsprozess eines gesamteuropäischen Raums geriet dieses relativ statische System von Identität und Alterität zunächst schlagartig ins Wanken, woraufhin eine den ereignisgeschichtlichen Geschehnissen hinterherhinkende Neukonstituierung des europäischen Raums auf der Wahrnehmungsebene einsetzte. Diese Beständigkeit der »Grenzen in den Köpfen« verdeutlichte einen nur langsamen Wandel der »Mental Map«5 Europas nach seiner Zweiteilung, der weitaus länger andauerte, als es ein kurzes Verständnis der Zäsur »1989« vermuten lässt. Er ist bis heute nicht abgeschlossen und zeigt, wie räumliche Refigurationen unter den Bedingungen zeitlichen Wandels zum Tragen kommen. Betrachtet man die Wahrnehmung des österreichischen Schengen-Beitritts aus polnischen und deutschen Perspektiven, so wird deutlich, dass der Grenzkontrollabbau in Österreich von beiden Seiten des vormals geteilten Europas mit unterschiedlichen Ängsten, Hoffnungen und Interpretationen belegt wurde, die von einer unspektakulären Erweiterung des in Westeuropa bereits bestehenden »grenzenlosen« Raums bis hin zur Sorge vor einer erneuten Zweiteilung des Kontinents zwischen West und Ost reichten. Im Folgenden ist nun zu klären, welche Rolle der österreichische Schengen-Beitritt für polnische und deutsche Printmedien spielte. Hier zeigte sich, dass die untersuchten Zeitungen im Vergleich zur Aufnahme anderer Länder in den Schengen-Raum dem österreichischen Fall verhältnismäßig wenig Bedeutung beimaßen. Obwohl die mediale Berichterstattung über Österreich in der Bundesrepublik Deutschland seit den 1980er-Jahren zunahm,6 wurden spezifische Positionen, Auseinandersetzungen oder Entscheidungen Österreichs so gut wie gar nicht thematisiert. Statt als AkPerceptibility and Experience of Inner-European Borders by Institutionalised Border Protection, in : Quaestiones Geographicae 4/29 (2010), S. 7–13. 5 Zur Bedeutung und Beständigkeit von Mental Maps nach dem Ende des Kalten Krieges in Österreich vgl. Brait, Andrea/Pudlat, Andreas : Mentale Barrieren. Österreich, die EU und der Osten, in : INDES. Zeitschrift für Politik und Gesellschaft 1/4 (2012), S. 38–45. 6 Vgl. hierzu Lütgenau, Stefan August : Widersprüchliche Gemeinsamkeiten. Das deutsche Österreichbild, in : Rathkolb, Oliver/Maschke, Otto M./Lütgenau, Stefan August (Hg.) : Mit anderen Augen gesehen. Internationale Perzeptionen Österreichs 1955–1990 (Österreichische Nationalgeschichte nach 1945, Bd. 2), Wien/Köln/Weimar 2002, S. 161–200, hier S. 192.
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teur spielte das Land, so die hier vorgestellte These, vielmehr in seiner räumlichen Wahrnehmung eine Rolle : Österreich als räumliche Erweiterung des Schengener Vertragsgebiets thematisierten die polnischen und deutschen Zeitungen erstens als Transitraum für reisende EU-Bürger, zweitens als Transitraum für – überwiegend ost- und südosteuropäische – Migranten sowie drittens als Projektionsraum jeweils eigener nationaler Perspektiven. Um jedoch diese drei Bedeutungsbeimessungen genauer in den Blick nehmen zu können, ist es zunächst vonnöten, den spezifischen historischen Kontext des Schengen-Prozesses zu beleuchten.
III. Eine west-östliche Geschichte : Schengen und die Zäsur »1989« Das Schengener Abkommen ist ein eindrückliches Beispiel dafür, wie sehr das Ende des Kalten Krieges mit der europäischen Integrationsgeschichte – zeitlich wie räumlich – verknüpft war. Eine Verbindung dieser beiden Themenkomplexe scheint aus zwei Gründen zunächst überraschend : Erstens wurden die ersten Grenzkontrollen in Europa erst 1995 abgebaut, als der Kalte Krieg bereits mehrere Jahre beendet war. Zweitens überwiegt in historiographischen Darstellungen der 1980er- und 1990er-Jahre eine Trennung zwischen der Geschichte der europäischen Integration und der Transformation in den Staaten Ostmitteleuropas. Allerdings entsprach diese Trennung häufig nicht den zeitgenössischen Wahrnehmungen, und daher lohnt sich ein Blick auf mögliche Verbindungen zwischen der (westlichen) Integration und der (östlichen) Transformation. Solche Schnittstellen liegen zwischen dem Fall des »Eisernen Vorhangs« und dem Abbau der Grenzkontrollen in Europa auf zweierlei Ebenen vor : Erstens finden sie sich in der Ereignisgeschichte :7 Das Schengener Abkommen, das zwar erst in den 1990er-Jahren umgesetzt wurde, war ein Produkt der Aufbruchstimmung der 1980er-Jahre und diente dem Ziel, die westeuropäische Integration voranzubringen. So folgte auf die deutsch-französische Initiative in Rambouillet und das Saarbrücker Abkommen 1984 die Unterzeichnung des Schengener Abkommens (Schengen I) bereits am 14. Juni 1985. Die Unterzeichnung eines zweiten Abkommens, das die konkreten Umsetzungsmaßnahmen des Kontrollabbaus definieren sollte, war für den Dezember 1989 geplant. Dass sich die grundlegenden Voraussetzungen der europäischen Grenzziehungen wenige Wochen zuvor durch den Fall 7 Ein fundierter Überblick über die Geschichte des Schengener Abkommens findet sich bei Pudlat, Andreas : Schengen. Zur Manifestation von Grenze und Grenzschutz in Europa (Historische EuropaStudien 7), Hildesheim/Zürich/New York 2013, S. 151–197.
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der Berliner Mauer wesentlich geändert hatten, sorgte jedoch dafür, dass die Unterzeichnung dieses Schengener Durchführungsübereinkommens (Schengen II) zunächst ausgesetzt wurde – dies geschah vor allem auf Wunsch der westdeutschen Regierung, die sich angesichts der unklaren Lage entlang der deutsch-deutschen Grenze mit noch ungewissen Folgen dieses Umbruchs konfrontiert sah.8 Die Unterzeichnung des Schengener Durchführungsübereinkommens erfolgte schließlich am 19. Juni 1990 und damit im zeitlichen Kontext der Verhandlungen um den Zweiplus-Vier-Vertrag. Dabei legten die Unterzeichnerstaaten im Protokoll des Übereinkommens fest, dass das Gebiet und die Staatsangehörigen der DDR im Gefolge der deutschen Vereinigung in den Schengen-Raum aufgenommen würden.9 Da das Übereinkommen anders als 1985 nun einer Ratifizierung durch die nationalen Parlamente der Unterzeichnerstaaten Belgien, Frankreich, Niederlande, Luxemburg und der Bundesrepublik bedurfte, rechnete man mit dem Abschluss des deutschen Vereinigungsprozesses noch vor dem tatsächlichen Abbau der Grenzkontrollen. Das Zusammentreffen der geplanten Unterzeichnung mit dem Fall der Berliner Mauer lieferte ein kontingentes, jedoch nur kurzfristiges Aufeinandertreffen west- und osteuropäischer Ereignisse innerhalb der ereignisreichen Monate zwischen dem Herbst 1989 und dem Sommer 1990. Langfristig betrachtet brachte dieses Aufeinandertreffen nach 40 Jahren relativ klarer, nationalstaatlicher Grenzziehungen während des Kalten Krieges aber eine fundamentale Änderung der Bedeutung von Grenzen in Europa mit sich. Die zweite zu betrachtende Ebene zum Zusammenspiel von Grenzkontrollabbau und der Zäsur »1989« findet sich in der Geschichte der Wahrnehmungen : Denn dass sich durch das Ende des Kalten Krieges nun die maßgeblichen Koordinaten für ein Europa ohne Grenzkontrollen verschoben hatten, veränderte für die Zeitgenossen die grundlegende Bedeutungsbeimessung des Schengener Abkommens. Dabei weckte die nun durchlässigere Grenze nach Osten bei vielen Staaten des »alten Europas« einerseits Ängste vor einer massiven Ost-West-Wanderung, welche die ohnehin bereits existierende Diskussion um Flucht und Asyl weiter verstärkten und Europa als Kontinent erscheinen ließen, der gerade nun, nach dem Ende des Kalten 8 Vgl. u. a. Taschner, Hans Claudius : Schengen. Die Übereinkommen zum Abbau der Personenkontrollen an den Binnengrenzen von EU-Staaten, Baden-Baden 1997, S. 26. 9 Im Wortlaut heißt es hierzu : »Die Vertragsparteien stellen fest : Nach der Vereinigung der beiden deutschen Staaten wird sich die völkerrechtliche Bindungswirkung des Übereinkommens auch auf das derzeitige Gebiet der Deutschen Demokratischen Republik erstrecken.« Übereinkommen zur Durchführung des Übereinkommens von Schengen vom 14. Juni 1985 zwischen den Regierungen der Staaten der BENELUX-Wirtschaftsunion, der Bundesrepublik Deutschland und der Französischen Republik betreffend den schrittweisen Abbau der Kontrollen an den gemeinsamen Grenzen vom 19. Juni 1990 einschließlich der Erklärungen zur Nacheile gemäß Artikel 41 Abs. 9 des Übereinkommens, in : Bundesanzeiger Nr. 217a vom 23. November 1990.
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Krieges, besonders dichter Grenzkontrollen bedürfe. Andererseits erhielt der Abbau der Grenzkontrollen durch die langfristige Einbeziehung der ostmitteleuropäischen Staaten in den Schengen-Raum eine weitere symbolische Bedeutung : Nun verdeutlichte das »grenzenlose Europa« nicht mehr nur eine Annäherung der Staaten im Westen des Kontinents ; seit 2007 wird die Osterweiterung des Schengen-Raums von Akteuren ganz Europas auch als Symbol für die Überwindung des gespaltenen Kontinents interpretiert. In dieser langfristigen Wahrnehmung zeigt sich somit von den 1980er-Jahren bis heute ein Wandel der räumlichen Vorstellungen Europas, der sich vor allem in der diskursiven Verschiebung seiner östlichen Grenzziehung manifestiert und bis heute in den Debatten um die räumliche Finalität Europas präsent ist. Österreichs Aufnahme 1997/98 in den Schengen-Raum fiel in diesem Prozess zeitlich zwischen die erste Umsetzung des Abkommens in der Bundesrepublik, den Benelux-Staaten, Frankreich, Spanien und Portugal und die Erweiterungsschritte nach Norden und Osten, welche in den 2000er-Jahren folgten. Zeitgleich mit Österreich baute auch Italien seine Grenzkontrollen zu den Schengener Nachbarstaaten ab.
IV. Österreich im Schengen-Raum : Schlüssellage oder auf vergessenem Posten ? Österreich hatte schon früh sein Interesse an einer Aufnahme in den SchengenRaum geäußert : Bereits zum Zeitpunkt der Unterzeichnung des Schengener Durchführungsübereinkommens 1990 erklärte die österreichische Regierung, obwohl das Land noch kein Mitglied der Europäischen Gemeinschaft war, eine Beteiligung am Abbau der Grenzkontrollen als wünschenswert.10 Ebenso hatte das Land zur Bundesrepublik Deutschland bereits verschiedene Kooperationsmaßnahmen beim Grenzschutz auf bilateralem Wege umgesetzt.11 Dass es bis zur Unterzeichnung des Abkommens noch dauern sollte, lag wohl auch daran, dass das Schengener Abkommen in den ursprünglichen Unterzeichnerstaaten in den nachfolgenden Jahren noch nicht in Kraft gesetzt wurde. Am 1. Januar 1995 trat Österreich gleichzeitig mit Finnland und Schweden der Europäischen Union bei. Das Schengener Abkommen war zu dieser Zeit noch nicht Teil des EU-Besitzstandes, sondern bedurfte einer zwischenstaatlichen Regelung. Wie auch heute noch an Island, Norwegen und der Schweiz zu sehen ist, stellt die EU-Mitgliedschaft darüber hinaus keine notwendige Voraussetzung zur Beteiligung 10 Vgl. Hort, Peter : Kein schöner Land als Schengenland ?, in : Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 21. Juni 1990, S. 3. 11 Vgl. Schengener Durchführungsübereinkommen 1990, Protokoll.
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am Schengener Abkommen dar. Am 28. April 1995, also einen Monat nachdem der Schengener Exekutivausschuss das Abkommen in den ersten sieben Staaten in Kraft gesetzt hatte, trat auch Österreich diesem bei. Dies hatte jedoch noch keine Anwendung des Abkommens zur Folge – der tatsächliche Abbau der Grenzkontrollen erfolgte – ungefähr zeitgleich mit Italien – zwischen dem 1. Dezember 1997 und dem 1. April 1998.12 Parallel dazu wurde im Oktober 1997 der Amsterdamer Vertrag unterzeichnet, in welchem die EU-Mitgliedstaaten unter anderem beschlossen, das Schengener Abkommen in den EU-Besitzstand zu überführen. Durch diese Entscheidung und den im Dezember 1997 erfolgten Beschluss der Europäischen Union über die Aufnahme der Beitrittsverhandlungen mit den ostmitteleuropäischen Staaten rückte die Frage nach den östlichen Grenzen der Europäischen Union und damit auch des Schengen-Raums zunehmend in den Fokus der Diskussion. Wie positionierten sich die polnischen und deutschen Printmedien zu dieser Entwicklung ? Trotz der bereits erwähnten geopolitischen Lage zwischen West und Ost maßen die deutschen und polnischen Medien und Politiker dem österreichischen Schengen-Beitritt eine geringe Bedeutung bei : Weder wurde die Zugehörigkeit des Landes zum gemeinsamen Raum ohne Binnengrenzkontrollen grundsätzlich in Frage gestellt, noch löste der Abbau der österreichischen Kontrollen eine besondere Begeisterung aus. Die mediale Auseinandersetzung wird im Folgenden in drei diskursive Stränge unterteilt : Erstens stellt sich die Frage nach der Bedeutung, welche dem österreichischen Beitritt in Bezug auf die Wahrnehmung des Landes als eines neuen, nun zur EU gehörenden Mitglieds beigemessen wurde. Zweitens diskutierten Vertreter der Printmedien am österreichischen Beispiel die Frage, welche Rolle der Wegfall alter und der Aufbau neuer Kontrollen und Kontrollformen spielten. Drittens rückten die beobachteten oder auch antizipierten Grenzüberschreitungen in den Vordergrund der Diskussion, indem die neu gewonnene Reisefreiheit und die möglichen Folgen für Migrationsbewegungen in Europa thematisiert wurden. Zusammenfassend lassen sich diese drei Stränge mit den Begriffen der Grenzziehung, der Grenzkontrolle und der Grenzüberschreitung benennen. Die folgenden Ausführungen zeigen, dass Österreich bei der Aufnahme in den Schengen-Raum aus Sicht der deutschen und polnischen Printmedien nicht als wichtiger Akteur wahrgenommen wurde ; der österreichische Kontrollabbau war aber dennoch Anlass für Berichterstattungen und Diskussionen, wobei die Stellungnahmen aus Polen und Deutschland Österreich eine bedeutende Rolle als Transit- und Projektionsraum zuschrieben. In symbolischer Hinsicht reihte sich die mediale Interpretation des österreichischen Schengen-Beitritts in das bereits bestehende Nar12 Zur Unterscheidung zwischen nationalstaatlichen Land-, See- und Luftgrenzen vgl. Taschner, H. C. 1997, S. 12 f.
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rativ der Annäherung, Aussöhnung und Überwindung künstlicher Trennlinien durch das »Verschwinden« von Grenzen in Europa ein. Bei all diesen Themen schwang in der Diskussion stets hintergründig die Veränderung Europas von einem geteilten zu einem vereinten Kontinent mit. Deshalb folgt der Untersuchung ein kurzer Blick auf die Schengener Osterweiterung 2007, als sich die Außengrenze des SchengenRaums von der österreichischen Ostgrenze an die Grenzen der neuen EU-Mitglieder Mittelosteuropas verschob.
V. Grenzziehung : Österreich als neues Mitglied im Schengen-Raum Wie auch bei anderen Erweiterungsschritten berichteten die Printmedien vor allem über den Abbau der Grenzkontrollen an den Landesgrenzen, an welchen, nachdem die Kontrollen an den Luft- und Seegrenzen bereits im Dezember 1997 abgebaut worden waren, das Schengener Abkommen seit dem 1. April 1998 angewandt wurde. Zu diesem Datum beging Österreich mit seinem deutschen Nachbarn feierlich die Abschaffung der Kontrollen in Bad Reichenhall,13 bei welchem von österreichischer Seite Innenminister Karl Schlögl (SPÖ) anwesend war – auf deutscher Seite wurde die Politik auf Landesebene durch den bayerischen Innenminister Günther Beckstein vertreten. Dem Ereignis wurde vonseiten der Printmedien die grundsätzlich positive Einschätzung eines gewachsenen Europas ohne Grenzkontrollen beigemessen. Hinzugezogen wurden hierfür Stimmen der beteiligten Politiker, welche den symbolischen Gehalt des Erweiterungsschritts geschichtspolitisch interpretierten. So stellte die Süddeutsche Zeitung fest : »Alle Festredner bezeichneten den Tag als ›historischen Schritt für Europa‹.«14 Die Bedeutung des Kontrollabbaus interpretierte Schlögl laut einem Artikel der Süddeutschen Zeitung in Abgrenzung zur Zeit des Nationalsozialismus als neu gewonnene Freiheit : Schlögl erinnerte an den Einmarsch deutscher Truppen in Österreich am 12. März 1938 und an den Verlust der staatlichen Souveränität des Landes. Mit dem erneuten Wegfall der Schlagbäume nach 60 Jahren müsse den Menschen die »neue Freiheit« bewusst werden.15
13 Probst, Robert : Die offene Grenze mit einem Volksfest feiern, in : Süddeutsche Zeitung vom 2. April 1998, S. 58B ; vgl. auch : Zagrodzka, Danuta/Muskała, Monika : Szlabany na złom, in : Gazeta Wyborcza vom 2. April 1998, S. 8. 14 Probst : Robert : Die offene Grenze mit einem Volksfest feiern, in : Süddeutsche Zeitung vom 2. April 1998, S. 58B. 15 Ebd.
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Albert Schäffer, Korrespondent der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, warf anlässlich des Wegfalls der Grenzkontrollen in Italien und Österreich am 1. April 1998 die Frage auf, ob »Wörter wie Schlagbaum und Grenzhäuschen […] in wenigen Jahren in die Tiefe der Archive versunken sein«16 würden. Jedenfalls verändere das Schengener Abkommen, so Schäffer, »das europäische Leben und Bewußtsein viel tiefgreifender, als es wahrgenommen wird«17. Der Autor bestärkte also, wie es bereits in der Mitte der 1980er-Jahre der Fall gewesen war, die negative Bedeutungszuschreibung von Grenzen innerhalb Europas. Durch das Schengener Abkommen verlören »Grenzen, die gerade in diesem Jahrhundert einen hohen Blutzoll gefordert haben, ihre trennende, ja spaltende Wirkung. Es geht um weit mehr als bloße ökonomische und touristische Vorteile.«18 Wie es bereits beim ursprünglichen Inkraftsetzen des Schengener Abkommens 1995 der Fall gewesen war, setzte sich auch in Bezug auf die Aufnahme Österreichs das Narrativ der »verschwindenden Grenzen« weiter fort.19 Dieser Interpretation schlossen sich auch die polnischen Zeitungen an : »Immer weniger Grenzen in Europa«20, titelte etwa die Gazeta Wyborcza anlässlich der Erweiterung. Dieses positive Bild suggerierte Versöhnung, Annäherung und direkte Erfahrbarkeit innerhalb Europas. Die Binnengrenzen wurden demnach als künstliche Hürden gesehen, welche lange für Vorurteile, Abgrenzung und kriegerische Auseinandersetzungen gestanden hatten. Diese galt es nun zu überwinden. Grenzkontrollen erhielten hierdurch eine national verengte Bedeutung, welche durch Europa und hier speziell das Schengener Abkommen überwunden werden könnte. Freilich suggerierte diese nach innen gerichtete positive Zuschreibung gleichzeitig eine quasi-natürliche Existenz europäischer Außengrenzen und umging damit die bis heute virulente Diskussion um die räumliche Finalität Europas. Mit Blick auf die Schengener Außengrenzen wurde mit dem Abbau der Grenzkontrollen in Österreich aber auch eine erneute Abgrenzung nach Osten thematisiert : »Ist das jetzt die Wiedervereinigung Tirols oder die Wiederherstellung des Eisernen Vorhangs ?«21, titelte die Frankfurter Allgemeine Zeitung im April 1998. Reinhard Olt, der Wien-Korrespondent der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, erläuterte ebenfalls : »Dort, wo 1989 mit Eisenscheren der Drahtverhau an der Scheidelinie zwi16 Schäffer, Albert : Der Preis der Freiheit, in : Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 1. April 1998, S. 1. 17 Ebd. 18 Ebd. 19 Zur Wahrnehmung des Kontrollabbaus 1995 vgl. u. a. Wenz, Dieter : Offene Grenze am Rhein, in : Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 12. Jänner 1995, S. 8 ; Alterman, Małgorzata : Protestują imigranci, in : Gazeta Wyborcza vom 27. März 1995, S. 7. 20 Coraz mniej granic w Europie, in : Gazeta Wyborcza vom 1. Dezember 1997, S. 12. 21 Olt, Reinhard : Ist das jetzt die Wiedervereinigung Tirols oder die Wiederherstellung des Eisernen Vorhangs ?, in : Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 2. April 1998, S. 3.
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schen Ost und West zerschnitten wurde, nämlich an der ungarisch-österreichischen Grenze, beklagt man die nunmehr stattfindende Wiederaufrichtung des ›Eisernen Vorhangs‹.«22 Besonders in Polen weckte die Schengener Außengrenze, die sich seit 1995 entlang der Oder-Neiße-Linie befand, Kritik an einer erneuten Abschottung des westlichen Teils des Kontinents, indem beispielsweise vor einer »erneuten Zweiteilung Europas« gewarnt wurde.23 Dies war keine ungewöhnliche Sichtweise, denn der Bezug auf den eben erst überwundenen »Eisernen Vorhang« wurde in den Jahren nach 1989 immer wieder im Kontext der gemeinsamen Schengener Außengrenze im Osten hergestellt. Auch nach der EU-Osterweiterung blieb der Begriff des »neuen Eisernen Vorhangs« präsent, denn Vertreter der ostmitteleuropäischen Staaten beklagten damit die erneuten Grenzziehungen entlang einer erweiterten Außengrenze von EU und Schengen. Somit wurde der »Eiserne Vorhang« als negativer Referenzpunkt in den letzten 20 Jahren zunehmend nach Osten verschoben, beispielsweise auch als Anhaltspunkt bei der Kritik an Visabestimmungen für die östlichen Nachbarn der erweiterten Europäischen Union.24 Hinsichtlich dieser neuen Grenzziehungen erhielt der Beitritt Österreichs zum Schengener Abkommen für polnische Journalisten eine weitere Bedeutung : Die Tatsache, dass die Außengrenze des Schengen-Raums seit 1995 entlang der Oder-NeißeGrenze verlief, brachten sie mit der Notwendigkeit in Verbindung, die Aufnahme Polens in die Europäische Union weiter anzustreben und die deutsch-polnischen Beziehungen zu intensivieren, wie etwa ein Artikel der Rzeczpospolita herausstellte.25 Als Vorbild diente hierfür die deutsch-österreichische Zusammenarbeit, welche auf bilateralem Wege Lösungen für verschiedene Fragen gefunden hatte, die sich an den Grenzübergangsstellen ergaben, und das, obwohl Österreich bis 1995 noch kein Mitglied der Europäischen Union gewesen war.26 Dementsprechend beobachteten polnische Medien den Abbau der Grenzkontrollen in Österreich vornehmlich in Bezug auf die Beitrittsperspektive des eigenen Landes.
22 Ebd. 23 Deutsche Zeitungen berichteten auch über kritische Stimmen in Österreich, welche eine zunehmende Abschottung des Landes nach außen beklagten. Vgl. Freie Fahrt durch Österreich und Italien, in : Süddeutsche Zeitung vom 1. April 1998, S. 6. 24 Vgl. u. a. Wojciechowski, Marcin : Schengen : New Iron Curtain Rising, in : Gazeta Wyborcza in English vom 11. Mai 2009, http://wyborcza.pl/1,76842,6592655,Schengen_New_Iron_Curtain_Rising.html (online am 24. April 2013). 25 Vgl. u. a. Alterman, Małgorzata/Bielecka, Beata/Kęsicka, Katarzyna/Skalski, Ernest : Segregacja graniczna, in : Gazeta Wyborcza vom 18. März 1995, S. 1 ; Bartoszewski wystąpi w Bundestagu, in : Rzeczpospolita vom 1. April 1995, Gazeta. 26 Vgl. z. B. Schengen zamknięte dla Polski, in : Rzeczpospolita vom 29. April 1995, Świat.
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VI. Grenzkontrollen : Hinauszögerung, Abbau und neue Formen Was bedeutete der Umstand, dass nun durch die Erweiterung des Schengen-Raums um Österreich (und gleichzeitig Italien) an weiteren Grenzen innerhalb Europas die Kontrollen abgebaut wurden ? Dass die Aufnahme Österreichs in den SchengenRaum, wie oben gezeigt, überwiegend eine positive Interpretation erfuhr, bedeutet nicht, dass keine kritischen Punkte diskutiert wurden. Denn das Narrativ des »grenzenlosen Europas« trug zwar nach innen gerichtet zur Vorstellung eines sich näherkommenden Europas und der Überwindung nationaler Abgrenzungen bei, führte aber, wenn sich der Blick nach außen wandte, bei vielen zur Sorge vor einem Sicherheits- und Kontrollverlust. Dies schlug sich im politischen wie auch im medialen Diskurs nieder. Sowohl deutsche als auch polnische Zeitungen berichteten bereits seit 1995 immer wieder, dass in Österreich die erforderlichen Standards noch nicht erfüllt seien, um die Grenzkontrollen tatsächlich abbauen zu können.27 Laut der Süddeutschen Zeitung erklärte der österreichische Innenminister Caspar Einem (SPÖ) bereits 1996, dass das Problem nicht in Österreich, sondern in den mangelnden Kapazitäten in Straßburg läge, wo sich der Zentralcomputer des Schengener Informationssystems befindet.28 Vor allem von deutscher Seite wurde versucht, den Abbau der Grenzkontrollen zu Österreich vorerst hinauszuzögern. Für besonderes Aufsehen sorgte die Aussage des bayerischen Innenministers Günther Beckstein (CSU) im März 1997, in der er Bedenken gegenüber der österreichischen »Schengen-Reife« äußerte und eine Verschiebung oder stufenweise Umsetzung des Abkommens im Nachbarland forderte.29 Beckstein hatte bereits in den Monaten zuvor immer wieder infrage gestellt, ob die österreichischen Kontrollen nach dem Inkraftsetzen des Schengener Abkommens effektiv genug seien, um beispielsweise gegen den Drogenschmuggel vorzugehen und, so gab es eine Agenturmeldung in der Süddeutschen Zeitung wieder, eine »lückenlose Überwachung der EU-Außengrenze zu garantieren, damit die Grenzkontrollen zwischen Österreich und Bayern fallen können«.30 Die Frankfurter Allgemeine Zeitung konstatierte, dass Beckstein damit »erhebliche Empfindlichkeiten in seinem Nachbarland hervorgerufen« habe.31 27 Vgl. u. a. Alterman, Małgorzata : Będzie nam łatwiej wjechać na teren Schengenlandii ?, in : Gazeta Wyborcza vom 29. April 1995, S. 6 ; Bauchweh wegen lascher Grenzkontrolle, in : Süddeutsche Zeitung vom 5. September 1996, S. 38. 28 Vgl. Österreich behält Grenzkontrolle noch bei, in : Süddeutsche Zeitung vom 26. November 1996, S. 6. 29 Vgl. Wien weist Kritik aus München zurück, in : Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 19. März 1997, S. 6. 30 Bauchweh wegen lascher Grenzkontrolle, in : Süddeutsche Zeitung vom 5. September 1996, S. 38. 31 Am Brenner und in Kärnten 112 Kurden gefaßt, in : Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 13. März 1997, S. 12.
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In den nachfolgenden Monaten berichteten die Zeitungen immer wieder über verstärkte Kontrollen in Österreich sowie über Beteuerungen der österreichischen Regierung, dass die Sicherheit hierdurch gewährleistet sei, was jedoch nicht zu einer Beendigung der Kritik vor allem vonseiten der Christlich-Sozialen Union (CSU) in Bayern führte. Laut der Frankfurter Allgemeinen Zeitung erwiderte der österreichische Innenminister Schlögl der anhaltenden Kritik bayerischer Politiker im Juli 1997, »er sei allmählich die ständigen Nörgeleien aus Bonn und besonders aus München leid. In Deutschland wolle man damit nur von eigenen Schwierigkeiten ablenken, und in Bayern, wo man sich ebenfalls schon im Wahlkampf befinde, spielten die beim Wegfall der Grenzkontrollen freiwerdenden Grenzbeamten eine Rolle, die sich offenbar einer Versetzung widersetzten.«32
Die Zeitung berichtete ebenfalls vom Wiener Innenministerium, das darauf verwiesen habe, dass über den Abbau der Grenzkontrollen »der Bundes-, nicht der bayerische Innenminister« entscheide.33 Der Konflikt um den richtigen Zeitpunkt des Kontrollabbaus setzte sich in der Bundesrepublik zwischen der Bundesebene und der bayerischen Landesebene fort. Besonders intensiv thematisiert wurde in diesem Zusammenhang die sogenannte »Schleierfahndung« : Bayern, Baden-Württemberg und Sachsen hatten bis Ende 1997 Gesetzesänderungen vorgenommen, wonach, so die Frankfurter Allgemeine Zeitung, »die Polizei nun im Grenzbereich innerhalb eines dreißig Kilometer breiten Streifens verdachtsunabhängige Kontrollen vornehmen kann«34. Eduard Lintner, parlamentarischer Staatssekretär im Bundesinnenministerium, verstehe die Schleierfahndung, so berichtete die Zeitung, als »vernünftige[n] Ausgleich für den Wegfall der Grenzkontrollen innerhalb der Schengen-Länder«.35 Auch der Staatssekretär im Bundesinnenministerium, Kurt Schelter, machte im Frühjahr 1998, als die Grenzkontrollen in Italien und Österreich wegfielen, deutlich, dass ein »dichter ›Sicherheitsschleier‹« im Grenzraum, so ein Artikel in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, zur »Bewältigung des illegalen Einwanderungsdrucks und zur Aufdeckung krimineller Methoden« notwendig sei.36 32 Streit um »Schengen-Reife« Österreichs, in : Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 5. Juli 1997, S. 4. 33 Wien weist Kritik aus München zurück, in : Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 19. März 1997, S. 6. 34 Wehner, Markus : Das Geschäft der Schleuser geht gut, in : Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 31. Dezember 1997, S. 3. 35 Lintner für »Schleierfahndung« nach illegalen Einwanderer [sic], in : Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 5. Jänner 1998, S. 1. 36 Schäffer, Albert : Kontrollen zu Österreich entfallen, in : Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 1. April 1998, S. 1.
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Mitte Juli 1997 kam es schließlich zur Einigung auf einen Stufenplan, der den vollständigen Kontrollabbau in Österreich bis zum 1. April 1998 gewährleisten sollte. Zusätzlich zur Intensivierung der gemeinsamen mobilen Kontrollen im deutschösterreichischen Grenzgebiet unterzeichneten Deutschland und Österreich im Dezember 1997 zudem ein gemeinsames Rückübernahmeabkommen.37 Olt betonte anlässlich des Wegfalls der Grenzkontrollen in Österreich : »Und im Hinterland der jetzt kontrollfreien EU-Binnengrenzen nach Deutschland und Italien führen bayerische, baden-württembergische und österreichische Polizeibeamte die äußerst erfolgreiche Schleierfahndung durch, vielfach in Zivil.«38 Die Aufmerksamkeit richtete sich hierbei auf die östlichen und südöstlichen Grenzen : Ein Kommentator der Süddeutschen Zeitung etwa betonte, dass sich der österreichische Grenzschutz vor allem auf die eigene Außengrenze nach Osten konzentrieren solle, und konstatierte mit Blick auf den Nachbarn : »Nur Bayern zu Gefallen wird Österreich nicht seine Polizisten an der relativ sicheren Grenze zu Deutschland patrouillieren lassen.«39 Als weiteren Problemfall sahen deutsche Politiker außerdem die Grenze zwischen Österreich und dem südlichen Nachbarn Italien. So verstärkten Österreich und Italien Ende 1997 unter anderem auf deutschen Druck ihre grenzüberschreitende Polizeikooperation im Vorfeld des Abbaus der Kontrollen an den gemeinsamen Grenzen.40 In den polnischen Medien waren zwar die Unstimmigkeiten zwischen Österreich und Deutschland kein prominent diskutiertes Thema. Allerdings wurden die verstärkten Kontrollmaßnahmen als kritisch angesehen – schließlich war Polen noch kein Mitglied im Schengen-Raum, somit waren davon potenziell auch polnische Staatsbürger betroffen. Die erneute Abgrenzung durch verstärkte Kontrollen war daher auch ein Thema in den großen Tageszeitungen : Korrespondentinnen der Gazeta Wyborcza in Deutschland und Österreich wiesen etwa darauf hin, die polnische Bevölkerung solle »nicht überrascht sein, wenn Zivilbeamte uns auf einem Autobahn-Parkplatz darum bitten, den Kofferraum auszuräumen«41.
37 Abkommen zwischen der Bundesregierung der Republik Österreich und der Regierung der Bundesrepublik Deutschland über die Rückübernahme von Personen an der Grenze (Rückübernahmeabkommen), unterzeichnet am 16. Dezember 1997 in Wien, BGBl. der Republik Österreich III Nr. 19/1998, S. 125–128. 38 Olt, Reinhard : Ist das jetzt die Wiedervereinigung Tirols oder die Wiederherstellung des Eisernen Vorhangs ?, in : Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 2. April 1998, S. 3. 39 Freie Fahrt in den Dschungel der Details, in : Süddeutsche Zeitung vom 6. September 1997, S. 4. 40 Vgl. Zaiotti, Ruben : Cultures of Border Control. Schengen & the Evolution of European Frontiers, Chicago/London 2011, S. 104 f. 41 Zagrodzka Danuta/Muskała Monika : Szlabany na złom, in : Gazeta Wyborcza vom 2. April 1998, S. 8.
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VII. Grenzüberschreitungen : Österreich als Transit- und Migrationsraum Anhand des Grenzkontrollabbaus im Rahmen des Schengener Abkommens lassen sich auf der einen Seite die oben aufgezeigten Auseinandersetzungen um Zugehörigkeit, Kontrolle und Sicherheit in Europa ablesen. Auf der anderen Seite sind diese diskursiv nicht zu trennen von Grenzüberschreitungen, welche als mögliche Folge einer zunehmenden Durchlässigkeit der Grenzen immer wieder Aufmerksamkeit fanden. In der Diskussion um den Schengen-Beitritt Österreichs und Italiens standen sich, so hat Verónica Tomei herausgestellt, vor allem aus deutscher Perspektive daher »migrationsspezifische Sicherheitsinteressen und europapolitische Interessen gegenüber«42. Diese Einschätzung bestätigt sich, wenn man den Blick auf die mediale Berichterstattung lenkt : Denn auf der einen Seite erfuhr die neue Qualität der kontrollfreien Reisefreiheit die Interpretation eines europapolitischen Fortschritts. Andererseits stieß das Schengener Abkommen gerade hinsichtlich migrationspolitischer Fragestellungen häufig auf Ablehnung, fürchteten die Schengener Mitgliedstaaten doch eine mangelnde Sicherung der gemeinsamen Außengrenzen, der auf rein nationalstaatlicher Ebene nur bedingt begegnet werden konnte. Die neu gewonnene Reisefreiheit innerhalb des Schengen-Raums nahmen freilich nur deutsche und keine polnischen Zeitungen auf. Allerdings war von einer symbolisch oder geschichtspolitisch wirkungsvollen Interpretation wenig zu spüren. Stattdessen dominierte hier das Zielland Italien aus Perspektive der deutschen Staatsbürger : »Freie Fahrt durch Österreich nach Italien«, titelte beispielsweise die Süddeutsche Zeitung am 1. April 1998 und führte aus : »Alle Wege führen nach Rom, seit gestern sogar ohne Grenzkontrollen. Um Mitternacht, vom 31. März zum 1. April, fielen symbolisch die letzten Schlagbäume an den Autobahngrenzstationen zwischen Deutschland, Österreich und Italien. Damit ist der Weg für Urlauber auf der Nord-Süd-Achse frei. Kilometerlange Staus an Grenzübergängen gehören seit gestern der Vergangenheit an.«43
Diese Wahrnehmung sollte sich vor allem anlässlich der Aufnahme der ostmitteleuropäischen Staaten in den Schengen-Raum 2007 ändern, als die Bewegungsfreiheit über Europas Grenzen hinweg in einen direkten Zusammenhang mit der Überwindung des Kalten Krieges gestellt wurde. Die Personenfreizügigkeit galt hier als eines 42 Tomei, Verónica : Europäisierung nationaler Migrationspolitik. Eine Studie zur Veränderung von Regieren in Europa (Forum Migration 6), Stuttgart 2001, S. 73. 43 Probst, Robert : Die offene Grenze mit einem Volksfest feiern, in : Süddeutsche Zeitung vom 2. April 1998, S. 58B.
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der großen Symbole der neu gewonnenen Freiheit in einem gesamteuropäischen Raum.44 Was im österreichischen Fall also einer symbolischen Zuschreibung entbehrte, wurde allerdings umso bedrohlicher in Bezug auf Migrationsfragen wahrgenommen. Mögliche Zuwanderungen von außen in den Schengen-Raum waren im österreichischen Fall besonders hinsichtlich zweier Faktoren virulent : Erstens war das Land nun zuständig für die Grenzsicherung zu den ostmitteleuropäischen Staaten. Zweitens fiel der Fokus auf Österreichs Grenze zu Italien, die nun als Schengener Binnengrenze Migrationsbewegungen aus dem mediterranen und arabischen Raum anziehen konnte. So sorgten sich die Printmedien und auch Vertreter der Politik zunächst vor einer zunehmenden Zuwanderung aus dem oder über den ostmitteleuropäischen Raum. Kritiker befürchteten, so die Frankfurter Allgemeine Zeitung, »die sich über 1400 Kilometer erstreckende EU-Außengrenze Österreichs zur Tschechischen Republik und zur Slowakei, zu Ungarn und Slowenien ziehe Wirtschaftsflüchtlinge aus Ost- und Südosteuropa an, so daß mit dem Wegfall der Personenkontrollen an den markanten Grenzübergangsstellen des Massenverkehrs geradezu Schleusen geöffnet wurden«45.
Die Kritik an den österreichischen Kontrollen hatte sich besonders im März 1997 daran festgemacht, wie eine Agenturmeldung in der Süddeutschen Zeitung zwei Monate später resümierte, dass auf »Lastwagen versteckte Flüchtlinge […] damals wiederholt erst von bayerischen Grenzbeamten entdeckt worden« waren.46 Dem hielt die österreichische Regierung entgegen, dass sie in mehreren »Aktionen« die Grenzkontrollen verstärkt habe.47 Aufmerksamkeit erhielten bei der Diskussion um die Sicherung der österreichischen Ostgrenze in den deutschen Printmedien vor allem Ungarn und Rumänen – so berichtete etwa die Frankfurter Allgemeine Zeitung über Auseinandersetzungen, die sich anlässlich der österreichischen Forderungen an Ungarn abzeichneten, für rumänische Staatsbürger die Visumspflicht wieder einzuführen.48 Demgegenüber lag der Schwerpunkt in den polnischen Zeitungen auf der österreichischen Wahrnehmung 44 Vgl. Siebold, Angela : ZwischenGrenzen. Die Geschichte des Schengen-Raums aus deutschen, französischen und polnischen Perspektiven, Paderborn 2013, S. 85–91. 45 Olt, Reinhard : Ist das jetzt die Wiedervereinigung Tirols oder die Wiederherstellung des Eisernen Vorhangs ?, in : Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 2. April 1998, S. 3. 46 Bayern und Österreich über Grenzkontrollen einig, in : Süddeutsche Zeitung vom 2. Mai 1997, S. 6. 47 Vgl. Am Brenner und in Kärnten 112 Kurden gefaßt, in : Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 13. März 1997, S. 12. Vgl. dazu auch den Beitrag von Andreas Pudlat in diesem Band. 48 Rüb, Matthias : Neue und alte Mauern an der Grenze zum Osten, in : Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 18. April 1998, S. 7.
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der eigenen Staatsbürger. So werde, wie die Gazeta Wyborcza betonte, auch Polen von Österreich beobachtet, und Deutschland wirke hierbei unterstützend mit.49 Möglicherweise spielten hierbei die Auseinandersetzungen zwischen 1988 und 1991 um eine Wiedereinführung der Visumspflicht für Polen in Österreich eine Rolle. Damals hatte der polnische Außenminister Krzysztof Skubiszewski Österreich vorgeworfen, es wende »gewissermaßen das Prinzip der Kollektivschuld« an, indem es aufgrund der Sorgen vor zunehmender Kriminalität alle polnischen Staatsbürger dem Sichtvermerkszwang unterwerfe.50 Auch die Historikerin Joanna Gajdek stellt heraus, dass viele Polen die Behandlung durch die österreichischen Behörden als »demütigend« wahrgenommen hätten.51 Die Visumspflicht hatte zwar nur bis zum Sommer 1991 Bestand und nach Meinung der Gazeta Wyborcza war der Politikwechsel darauf zurückzuführen, dass im selben Jahr die Abschaffung der Visumspflicht zwischen Polen und den Schengener Vertragsstaaten umgesetzt worden war.52 Ebenso wie die Schengener Vertragsstaaten vorgegangen waren, knüpfte jedoch auch Österreich den visafreien Reiseverkehr polnischer Staatsbürger an ein Rückübernahmeabkommen ; zudem sollte die Maßnahme, so berichtete die Gazeta Wyborcza, rückgängig gemacht werden, falls sie den illegalen Handel oder die Schwarzarbeit fördern sollte.53 Neben den ostmitteleuropäischen Migrationsbewegungen richtete sich anlässlich des österreichischen Schengen-Beitritts 1997/98 die Aufmerksamkeit zudem auf die kurdischen Flüchtlinge, welche um die Jahreswende verstärkt über das Mittelmeer nach Italien gelangten. Deutsche Printmedien und Politiker gingen in der Regel davon aus, dass die meisten dieser Flüchtlinge über die nun unkontrollierten Binnengrenzen Österreichs geradewegs nach Deutschland weiterreisten. Bereits im Juli 1997, also noch vor Inkraftsetzen des Schengener Abkommens in Österreich, äußerte sich Beckstein im Interview mit der Süddeutschen Zeitung skeptisch : »[D]a es sich bei Österreich und Italien um Durchgangsländer für illegale Einwanderer aus der Türkei und vom Balkan in das Zielland Deutschland handelt, sind bayerische und deutsche Sicherheitsinteressen massiv betroffen.«54 49 Vgl. Pawlicki, Jacek : Szczelność (aż do) granic, in : Gazeta Wyborcza vom 23. Juni 1998, S. 12. 50 Zitiert in : Polen überrascht von Reisebeschränkungen, in : Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 6. September 1990, S. 3. 51 Gajdek, Joanna : Der mittelbare Nachbar. Österreichvorstellungen in Polen 1970–1995, in : Rathkolb, Oliver/Maschke, Otto M./Lütgenau, Stefan August (Hg.) : Mit anderen Augen gesehen. Internationale Perzeptionen Österreichs 1955–1990 (Österreichische Nationalgeschichte nach 1945, Bd. 2), Wien/ Köln/Weimar 2002, S. 647–675, hier S. 667. 52 Vgl. Do Austrii bez wiz, in : Gazeta Wyborcza vom 14. August 1991, S. 1. 53 Vgl. ebd. 54 »Ich hatte enorme Bedenken geäußert«. Interview mit Günther Beckstein, in : Süddeutsche Zeitung vom 19. Juli 1997, S. 2.
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Der Streit wurde auch in Polen aufmerksam verfolgt : Die Gazeta Wyborcza titelte : »Angst vor den Kurden«55, ja, bescheinigte Europa sogar eine »politische Krise«56, die sich hinsichtlich der kurdischen Flüchtlinge und den damit in Verbindung gebrachten Überlegungen abzeichnete, die gerade abzuschaffenden Grenzkontrollen in Italien und Österreich wieder zu verstärken oder das Schengener Abkommen sogar zeitweise auszusetzen.57 Auch Schlögl wurde von der Frankfurter Allgemeinen Zeitung zitiert, nachdem Österreich aufgrund der Ankunft kurdischer Flüchtlinge in Süditalien seine Personenkontrollen an der italienisch-österreichischen Grenze wenige Wochen nach der Umsetzung des Schengener Abkommens in Österreich wieder verschärft hatte : »Es ist nicht anzunehmen, daß sie freiwillig in die Türkei zurückkehren, sondern sich nach Österreich, Deutschland oder Frankreich illegal durchzuschlagen versuchen.«58 Somit wurde das von Medien und Politik propagierte Bild der »offenen« oder »verschwundenen« Grenzen, welche innerhalb des Schengen-Raums eine positive Symbolik erhalten hatten, im Kontext von Migrationsfragen zu einer negativen Kontrastfolie, der mit verschiedenen Maßnahmen auf politischer Ebene entgegengewirkt werden sollte – oder mithilfe dessen politische Maßnahmen zur Verstärkung der Schengener »Ausgleichsmaßnahmen« legitimiert werden konnten. Als am 1. April 1998 die Kontrollen an den See- und Landesgrenzen in Italien und Österreich abgebaut wurden, zeigte sich das Bundesinnenministerium laut der Frankfurter Allgemeinen Zeitung dennoch optimistisch : Beide Länder hätten sich gut auf das Schengener Abkommen vorbereitet, womit hauptsächlich die personelle Verstärkung an den neuen Außengrenzen und die technische Ausstattung der Kontrollbehörden gemeint waren. Darüber hinaus hatte Italien sein Ausländergesetz verschärft, was besonders von deutscher Seite als positiv gewertet wurde.59 Albert Schäffer, Korrespondent der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, erklärte, dass die deutsche Politik bezüglich der Sicherung der nun nach Süden verschobenen Schengener Außengrenze zuversichtlich sei : Laut Schäffer hatte Staatssekretär Schelter darauf verwiesen, dass die Anzahl der Kurden, die über Italien in den letzten Wochen nach Deutschland weitergereist seien, »erheblich zurückgegangen sei«.60 55 Strach przed Kurdami, in : Gazeta Wyborcza vom 3. Jänner 1998, S. 7. 56 Warszawski, Dawid : Kurdowie i tak będą uciekać, in : Gazeta Wyborcza vom 3. Jänner 1998, S. 5. 57 Ein Aussetzen des Abkommens aufgrund der kurdischen Flüchtlingsfrage forderte beispielsweise der niedersächsische Innenminister Gerhard Glogowski (SPD). Vgl. Kanther : Außengrenzen der Schengen-Staaten besser schützen, in : Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 6. Jänner 1998, S. 1. 58 Österreich verschärft Kontrollen an der Grenze zu Italien, in : Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 31. Dezember 1997, S. 1. 59 Vgl. Schäffer, Albert : Kontrollen an Grenze zu Österreich entfallen, in : Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 1. April 1998, S. 1. 60 Schäffer, Albert : Kontrollen zu Österreich entfallen, in : Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 1. April
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VIII. Fazit : Der Blick auf Österreich als Transit- und Projektionsraum Die polnische und deutsche Berichterstattung über den österreichischen Schengen-Beitritt reihte sich grundsätzlich in die vorherrschende Interpretation des Schengener Abkommens ein : Demnach erhielt die Ausweitung des SchengenRaums nach innen gerichtet eine positive Interpretation, wonach sich nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs und des Kalten Krieges die Staaten Europas einander annäherten und innerhalb des gemeinsamen Raums einen Gewinn an Freiheit und Aussöhnung erlangten. Nach außen gerichtet wurden jedoch Sorgen vor einem Kontrollverlust geäußert, die sich vor allem an möglichen neuen Migrationsbewegungen und der Angst vor einem Sicherheitsverlust festmachten. Besonders polnische Tageszeitungen warnten hinsichtlich des österreichischen Schengen-Beitritts jedoch auch vor einer erneuten Abgrenzung des westlichen Europas vor seinen östlichen Nachbarn – gerade aufgrund des erst wenige Jahre zuvor beendeten Kalten Krieges war die Bezugnahme auf einen »neuen Eisernen Vorhang« hier ein häufig gebrauchtes Bild. Die vor allem von deutscher Seite geübte Kritik an der mangelnden Effizienz der österreichischen Grenzkontrollen wies darüber hinaus auf den empfundenen Sicherheitsverlust nach dem Ende des Kalten Krieges hin – neben den Migrationsbewegungen über das Mittelmeer wurde vor allem die östliche Außengrenze des Schengen-Raums als Unsicherheitsfaktor gesehen. Die Ambivalenz zwischen Freiheit und Annäherung auf der einen und Abgrenzung und Kontrolle auf der anderen Seite lässt sich auch auf die Frage übertragen, welche Grenzüberschreitungen die Printmedien anlässlich des österreichischen Kontrollabbaus wahrnahmen : Hier zeigte sich intern zunächst eine positive Interpretation der neu hinzugewonnenen Reisefreiheit, während von außen mögliche Migrationsbewegungen als Schattenseite des Abkommens interpretiert wurden. Innen frei, von außen bedroht – so lässt sich diese ambivalente Haltung zusammenfassen, die jedoch auch über den österreichischen Fall hinaus die Diskussionen um das Schengener Abkommen prägten. Welche spezifische Rolle wurde hierbei dem neuen Mitglied Österreich zugeschrieben ? Hier zeigte sich, dass Österreich bei seiner Aufnahme in den SchengenRaum in erster Linie nicht als Akteur wahrgenommen wurde : Spezifische Perspektiven Österreichs wurden nicht berücksichtigt, und auch besondere nationale Entwicklungen wie die Rolle des Assistenzeinsatzes entlang der österreichischen Grenzen erfuhren nur wenig Aufmerksamkeit.61 1998, S. 1. 61 Vgl. hierzu den Beitrag von Andreas Pudlat in diesem Band.
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Stattdessen thematisierten vornehmlich deutsche Zeitungen Österreich als Transitraum für deutsche Touristen auf dem Weg nach Süden einerseits und für Migranten andererseits, die über Italien und durch Österreich nach Deutschland zu kommen versuchten. Auch in polnischen Zeitungen fanden migrationspolitische Fragestellungen eine verstärkte Aufmerksamkeit, indem beispielsweise über die deutsch-italienischen Konflikte um Asyl- und Migrationsfragen berichtet wurde, bei welchen Österreich als Binnenraum zwischen den beiden Ländern diskutiert wurde. In deutschen wie auch in polnischen Zeitungen überlagerte die Diskussion um den italienischen Beitritt, der im selben Zeitraum erfolgte, die österreichischen Entwicklungen, da Italien in Bezug auf Migrationsbewegungen als ein zentrales »Tor nach Europa« wahrgenommen wurde. Darüber hinaus spielte Österreich als Projektionsraum für nationale Perspektiven oder Belange eine Rolle. So wurde die Erweiterung in der Bundesrepublik dazu genutzt, weitere Kontrollmaßnahmen zu legitimieren oder dem Argument von ihrer Notwendigkeit mehr Gewicht zu verleihen, da nun im Südosten Deutschlands keine Schengener Außengrenze mehr existierte. Für Polen bedeutete dieser Prozess auch eine verstärkte Kontrolle der eigenen Staatsbürger in Europa. Dennoch erzeugte der österreichische Schengenbeitritt in Polen Hoffnungen, am Beispiel der deutschösterreichischen Kooperationen die eigene Position als Schengen-Grenzland zu verbessern und die polnische Beitrittsperspektive zu stärken.62 Abschließend lohnt sich ein kurzer Blick auf das Österreichbild in der deutschen Berichterstattung während der Schengener Osterweiterung, denn im Jahr 2007 wurde nicht nur der Schengen-Raum erheblich ausgeweitet, sondern die österreichischen Grenzen wandelten sich im Osten und Südosten von Außengrenzen zu Binnengrenzen. Während die polnische Berichterstattung vornehmlich auf den eigenen Beitritt konzentriert war, kritisierten deutsche Zeitungen im Dezember 2007 die österreichischen Bedenken gegenüber der Fähigkeit der neuen Mitgliedstaaten, die neue Außengrenze effektiv zu sichern – und das, obwohl 1997/98 in Deutschland mit Blick auf Österreich ganz ähnliche Argumentationsmuster aufgetaucht waren. 2007 kritisierte der Journalist Michael Frank an der österreichischen Haltung in der Süddeutschen Zeitung : »Nun ist man die Kontrollen los und hofft, dass die neuen Schengen-Länder mit der entsprechenden Schärfe vorgehen, für die die österreichischen Grenzer berühmt und berüchtigt waren. Ein Grenzeinsatz des Bundesheeres, das weiter an den Grenzen der genannten Staaten patrouillieren wird, hat keinerlei Sicherheitsbedeutung, sondern soll 62 Dieses Ergebnis stützt die Einschätzung Joanna Gajdeks, nach welcher Österreich aus polnischer Perspektive in den 1990er-Jahren vor allem »als Partner in der EU-Beitrittsfrage«, aber auch »als Winterurlaubsland« thematisiert wurde, vgl. Gajdek, J. 2002, S. 666.
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die Befürchtungen der Bevölkerung beschwichtigen, es könnte nun ein Schwall von unerwünschten Einwanderern aus dem ›Osten‹ anbranden.«63
Dass diese Haltung nun gerade von Österreich komme, hielt Frank gerade hinsichtlich der besonderen Lage des Landes zwischen West und Ost für schädlich. So gelte Österreich »als der größte Profiteur der EU-Erweiterung«. Dass die überwiegende Zahl der Österreicher die Schengen-Erweiterung kritisch sehe, halte er für »schädlich«, und so stellte er die ernüchternde Diagnose : »Wien, das sich einst als Zugpferd der Integration Mitteleuropas verstand, gilt heute als Bremser.«64 Das deutsche Bild von Österreich, nach welchem das Land seine Schlüsselposition zwischen West und Ost nicht nutze oder gar blockiere, tauchte bereits in den vorausgegangenen Jahren immer wieder auf. Auch in den polnischen Printmedien finden sich – zumindest mit Blick auf die Grenzkontrollen – keine explizit positiven Positionierungen zu Österreich. Dem stellten Politiker und Journalisten aus Deutschland und Polen häufig die Vorstellung der eigenen Länder als »Mittler« oder als »Brücke« zwischen Ost und West gegenüber – ein Bild, das freilich auch in österreichischen Selbstwahrnehmungen existierte. Diese Wahrnehmung zeigt erstens auf, dass Österreichs Rolle im Konstruktionsprozess eines Gesamteuropas in den hier untersuchten Ländern nur als eine marginale wahrgenommen wurde. Zweitens blieb die Referenzgröße des »Westens« und des »Ostens« weit über den Kalten Krieg hinaus bedeutsam. Drittens ist der hier diskutierte Umgang mit dem Schengener Abkommen aber auch ein Beispiel dafür, dass die jeweiligen Wahrnehmungen in Europa trotz der fortschreitenden europäischen Integration weiterhin vornehmlich von eigenen nationalstaatlichen und von dominanten Perspektiven aus der Zeit des Kalten Kriegs geprägt sind.
63 Frank, Michael : Österreich und Ungarn. Brüderliche Strenge, in : Süddeutsche Zeitung vom 24. Novem ber 2007, S. 8. 64 Frank, Michael : ÖVP will Vertragsgegnern trotzen, in : Süddeutsche Zeitung vom 15. Dezember 2007, S. 9. Zur (entgegengesetzten) Wahrnehmung durch Politiker und Politikwissenschaftler vgl. den Beitrag von Oliver Schwarz in diesem Band.
Oliver Schwarz
Die Erweiterung der Europäischen Union Zum Wandel eines außenpolitischen Überinstruments
I. Einleitung Die Auflösung des Warschauer Paktes und der Zusammenbruch der Sowjetunion haben die europäische Staatenordnung grundlegend verändert. In dieser Zeit hat das Integrationsangebot der Europäischen Gemeinschaften (EG) entscheidend dazu beigetragen, dass sich acht mittel- und osteuropäische Transformationsstaaten zu stabilen Demokratien mit funktionierenden Marktwirtschaften entwickelten. Zusammen mit Malta und Zypern traten diese am 1. Mai 2004 der Europäischen Union (EU) bei. Mit der Aufnahme Bulgariens und Rumäniens am 1. Januar 2007 wurde die sogenannte »Osterweiterung« schließlich vollendet, doch hat die EU ihre Erweiterungspolitik damit keinesfalls eingestellt. Zuletzt trat Kroatien am 1. Juli 2013 als 28. Mitgliedstaat der EU bei. Beitrittsverhandlungen führt die Europäische Kommission außerdem noch mit der Türkei, Island und Montenegro. Von den Staaten des westlichen Balkans erhielten bislang Mazedonien und Serbien den offiziellen Status eines Beitrittskandidaten. Albanien, Bosnien-Herzegowina und Kosovo gelten als »potenzielle« Kandidaten für einen EU-Beitritt. Fungiert die Erweiterung also weiterhin als außenpolitisches »Überinstrument« der EU ? Richard Whitman hat diese These bereits im Juli 2002 zur Diskussion gestellt und dabei selbst die Erweiterungspolitik als das erfolgreichste Instrument der EU zur externen Demokratieförderung bezeichnet.1 Während in der Wissenschaftsgemeinschaft noch immer über diese These gestritten wird, scheint zumindest die offizielle europäische Politik von der außergewöhnlichen Wirksamkeit des Erweiterungsprozesses überzeugt.2 Die Erweiterung der EU wird in offiziellen Verlautbarungen gemeinhin als »Erfolgsstory« gepriesen.3 Vor diesem Hintergrund unter-
1 Whitman, Richard : The fall, and rise, of civilian power Europe ? (National Europe Centre Paper 16), Canberra Juli 2002, S. 24. 2 Vgl. Schwarz, Oliver : Erweiterung als Überinstrument der Europäischen Union ? Zur Europäisierung des westlichen Balkans seit der EU-Osterweiterung, Baden-Baden 2010. 3 Council of the European Union : Presidency Conclusions of the Brussels European Council (14/15 December 2006), Brüssel, 12. Februar 2007, S. 2.
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nimmt der vorliegende Beitrag den Versuch, die Erweiterungspolitik konzeptionell zu erfassen und als Modell begreifbar zu machen. Es wird argumentiert, dass sich die EU bis einschließlich zur Osterweiterung am klassischen Modell der »konditionalen Krönung« orientierte. Mit dem Beitritt Bulgariens und Rumäniens wurde dann jedoch ein Strategiewechsel zur »nachsorgenden Sozialisierung« vollzogen. Um den länderspezifischen Herausforderungen Südosteuropas und der zunehmenden Erweiterungsmüdigkeit innerhalb der EU zu begegnen, zeichnet sich in den vergangenen Jahren nunmehr ein Modell der »flankierenden Überbrückung« ab. Ob dieses Modell nur eine Übergangserscheinung auf dem Weg zur vollständigen EUMitgliedschaft Südosteuropas darstellt oder ob es nicht auch zu dauerhaften Formen differenzierter Integration führen kann, erscheint dabei als eine politische Frage, die in den kommenden Jahren ihre Beantwortung finden wird. Vor diesem Hintergrund schließt der Beitrag mit einer Einordnung der österreichischen Erweiterungspolitik im europäischen Kontext.
II. Das klassische Erweiterungsmodell der »konditionalen Krönung« Seit der Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) existierten im Prinzip nur drei kurze Zeiträume, in denen sich der europäische Integrationsverbund nicht mit Beitrittsgesuchen von Drittstaaten auseinanderzusetzen hatte, nämlich : • von der Montanunion der Sechs bis zu den Beitrittsanträgen Irlands, Dänemarks und des Vereinigten Königreichs (Juli 1952 bis August 1961), • von der Europäischen Gemeinschaft (EG) der neun Mitgliedstaaten bis zum Antrag Griechenlands (Januar 1973 bis Juni 1975) sowie • von der Gemeinschaft der Zwölf bis zum Antrag der Türkei (Januar 1986 bis April 1987). Erweiterung ist somit offensichtlich ein integraler Bestandteil der europäischen Integrationsgeschichte. Es muss daher ein wenig verwundern, wenn Frank Schimmelfennig und Ulrich Sedelmeier 2002 kritisch anmerken, dass es sich bei der EUErweiterung aus integrationstheoretischer Perspektive um einen eher vernachlässigten Untersuchungsgegenstand handelt.4 In ihrem Beitrag definieren die beiden Autoren die Erweiterung der EU »as a process of gradual and formal horizontal 4 Vgl. Schimmelfennig, Frank/Sedelmeier, Ulrich : Theorizing EU enlargement : research focus, hypotheses and the state of the art, in : European Public Policy 4/9 (2002), S. 500–528, hier S. 501.
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institutionalization of organizational rules and norms«5. Unter horizontaler Institutionalisierung verstehen Schimmelfennig und Sedelmeier dabei im Wesentlichen die sukzessive Übernahme des Institutionengefüges der EU durch einen Drittstaat. Ihre Definition von Erweiterung geht somit über den eigentlichen Beitrittsakt hinaus. Es werden von ihnen sowohl die Prozesse der Norm- und Wertübernahme berücksichtigt, die sich vor dem Beitritt eines Drittstaates zur EU vollziehen, als auch diejenigen Entwicklungen, die unmittelbar aus der Aufnahme eines neuen Mitglieds innerhalb des Integrationsverbunds resultieren. Doch wie genau vollziehen sich diese Entwicklungen ? In einer Analyse führt Christopher Preston 1995 aus, die Erweiterung der EU vollziehe sich vornehmlich nach dem Modell der »klassischen Gemeinschaftsmethode«.6 Diese basiere auf den folgenden sechs grundlegenden Prinzipien : (1) Die Beitrittskandidaten müssen den Acquis communautaire in seiner Gesamtheit übernehmen, (2) die Beitrittsverhandlungen konzentrieren sich ausschließlich auf die praktische Übernahme des gemeinsamen Besitzstands der EU, (3) den infolge wachsender Heterogenität entstehenden Konflikten wird mit neuen politischen Instrumenten begegnet, anstatt unzureichende bestehende Instrumente zu reformieren, (4) die EU nimmt neue Mitglieder auf Basis ihrer bestehenden politischen und institutionellen Grundlage auf und verschiebt grundlegende Reformen, (5) die EU bevorzugt parallele Verhandlungen mit einer Gruppe möglichst ähnlicher Staaten und (6) die EU-Mitgliedstaaten verfolgen während des Erweiterungsprozesses ihre eigenen Interessen. Mit dem ersten dieser sechs Prinzipien – der Unverhandelbarkeit des Acquis und dessen vollständiger Implementation – hat Preston ohne Zweifel die zentrale »Erweiterungsdoktrin« der EU identifiziert.7 Als diese erwies sie sich bereits in den 1960er-Jahren. In ihrer ersten Stellungnahme vom 29. September 1967 zu den Beitrittsanträgen Dänemarks, Irlands, Norwegens und des Vereinigten Königreichs hob die Kommission den Grundsatz der vollständigen Übernahme des gemeinschaftlichen Besitzstandes seitens der Beitrittskandidaten hervor : »Today, belonging to the Communities necessarily means accepting not only their original charters – the Treaties – but also the objectives of political unification affirmed in the Preambles to the Treaties of Paris and Rome […]. Similarly, new members will have
5 Ebd., S. 503. 6 Preston, Christopher : Obstacles to EU Enlargement : The Classical Community Method and the Prospects for a Wider Europe, in : Journal of Common Market Studies 3/33 (1995), S. 451–463 ; Preston, Christopher : Enlargement and Integration in the European Union, London/New York 2007. 7 Lippert, Barbara : Alle paar Jahre wieder – Dynamik und Steuerungsversuche des EU-Erweiterungsprozesses, in : Integration 4/30 (2007), S. 422–439, hier S. 430.
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to accept the decisions taken since the Treaties were adopted. These decisions are the fruit of an often hard-won compromise between the Six, and they have also established an incontestable de facto solidarity between them. It would be impossible and illusory to attempt to call them into question. Consequently, as a general rule, a solution to the concrete problems will have to be sought by working out transitional measures and not by amending the existing rules.«8
Weiter heißt es dort : »Taking into account the progress made in implementing the agricultural and industrial common market and the problems of adaptation which arise, there can no longer be any question of the new members ›catching up‹ in all fields on the stages completed by the Six since 1 January 1958 so as to achieve ›perfect‹ membership of the Community by the end of the transitional period laid down in Article 8 of the Rome Treaty. It would seem logical that there should be a transitional period of a few years.«9
Als Frankreich nach dem Rücktritt Charles de Gaulles sein Veto gegen die Durchführung der ersten Erweiterungsrunde der noch jungen Gemeinschaft aufhob, legte die Kommission am 1. Oktober 1969 eine aktualisierte Fassung ihrer ursprünglichen Stellungnahme vor.10 Das Europäische Parlament und der Rat stimmten mit der Einschätzung der Kommission überein und so legte es auch der Erweiterungsgipfel von Den Haag im Dezember 1969 fest.11 Der belgische Außenminister und Vorsitzende des Rates, Pierre Harmel, unterstrich bei der Eröffnung der Beitrittsverhandlungen mit dem Vereinigten Königreich am 30. Juni 1970, dass es keine Änderungen von bestehenden Vorschriften, sondern nur befristete Übergangsregelungen als Lösung von Problemen auf beiden Seiten geben könne.12 Die mit der sogenannten »Nord erweiterung« erprobten Prinzipien schienen sich durch den erfolgreichen Abschluss
8 Commission of the European Communities : Opinion on the Applications for Membership received from the United Kingdom, Ireland, Denmark and Norway (COM[67] 750 final), Brüssel, 29. September 1967, S. 11 f. (Hervorhebung im Original). 9 COM(67) 750 final, S. 16. 10 Commission of the European Communities : Opinion concerning the Applications for Membership from the United Kingdom, Ireland, Denmark and Norway submitted under Articles 237 of the EEC Treaty, 205 of the Euratom Treaty, and 98 of the ECSC Treaty, in : Bulletin of the European Communities, Supplement 9–10 (1969). 11 Vgl. Kommuniqué der Konferenz der Staats- und Regierungschefs der EWG-Mitgliedstaaten in Den Haag am 1. und 2. Dezember 1969, in : Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften C 94/13 (1970), S. 9 f. 12 Vgl. Commission of the European Communities : The Enlarged Community. Outcome of the negotiations with the applicant States, in : Bulletin of the European Communities, Supplement 1 (1972), S. 19.
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der ersten Erweiterungsrunde zu bewähren und kamen daraufhin auch im Rahmen der nachfolgenden Erweiterungsrunde zur Anwendung. Am 1. Januar 1981 trat zunächst Griechenland der Gemeinschaft bei, fünf Jahre später folgten Portugal und Spanien.13 Die für den Erweiterungsprozess der EU maßgeblichen Akteure erfuhren im Rahmen der sogenannten »Süderweiterung« erneut, dass der Beitrittsprozess unter der oben genannten Bedingung der Konditionalität äußerst stabil verlief, ihnen klare Handlungsorientierungen gab und sie mit einer Fortschreibung der administrativen Vorkehrungen für die Beitrittsverhandlungen über eine relativ hohe Erwartungssicherheit verfügten. Aus diesem Grund kam das Prinzip der vollständigen Acquis-Übernahme auch beim Beitrittsverfahren Finnlands, Österreichs und Schwedens zur Anwendung. Die drei Staaten der Europäischen Freihandelsassoziation (EFTA) traten am 1. Januar 1995 der EU bei.14 Mit dem Beitritt zehn neuer Staaten am 1. Mai 2004 wurde die bislang größte Erweiterungsrunde der europäischen Integrationsgeschichte abgeschlossen. Bereits im April 1990 hatte die Kommission vorgeschlagen, den mittel- und osteuropäischen Reformstaaten eine »neue Generation« von Assoziierungsabkommen anzubieten.15 Die sogenannten »Europa-Abkommen« zielten in erster Linie darauf ab, schrittweise eine Freihandelszone zwischen der EU und den einstigen Ostblock-Staaten herzustellen.16 Immer mehr entwickelten sich diese jedoch zu einem Instrument, die Reformstaaten an eine EU-Mitgliedschaft heranzuführen. Der Europäische Rat formulierte daher im Juni 1993 in Kopenhagen konkrete Bedingungen für einen Beitritt.17 In den Schlussfolgerungen des Vorsitzes heißt es : »Als Voraussetzung für die Mitgliedschaft muß der Beitrittskandidat eine institutionelle Stabilität als Garantie für demokratische und rechtsstaatliche Ordnung, für die Wahrung der Menschenrechte sowie die Achtung und den Schutz von Minderheiten verwirklicht haben ; sie erfordert ferner eine funktionsfähige Marktwirtschaft sowie die Fähigkeit, dem Wettbewerbsdruck und den Marktkräften innerhalb der Union standzuhalten. Die Mitgliedschaft setzt außerdem voraus, daß die einzelnen Beitrittskandidaten 13 Vgl. Kohler, Beate : Die Süd-Erweiterung der Gemeinschaft – Hintergründe, Motive und Konsequenzen, in : Hasenpflug, Hajo/Kohler, Beate (Hg.) : Die Süd-Erweiterung der Europäischen Gemeinschaft. Wende oder Ende der Integration ?, Hamburg 1977, S. 15–48. 14 Vgl. Janczak, Jaroslaw/Szymczynski, Tomasz R. (Hg.) : The Experiences of the 1995 Enlargement. Sweden, Finland and Austria in the European Union, Berlin 2003. 15 Commission of the European Communities : The development of the Community’s relations with the countries of central and eastern Europe (SEC[90] 117 final), Brüssel, 18. April 1990, S. 1. 16 Vgl. Commission of the European Communities : Association agreements with the countries of central and eastern Europe : a general outline (COM[90] 398 final), Brüssel, 27. August 1990. 17 Vgl. Rat der Europäischen Union : Schlussfolgerungen des Vorsitzes des Europäischen Rates Kopenhagen, (22./23. Juni 1993), Brüssel 1993.
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die aus einer Mitgliedschaft erwachsenden Verpflichtungen übernehmen und sich auch die Ziele der politischen Union sowie der Wirtschafts- und Währungsunion zu eigen machen können.«18
Zwischen März 1994 und Juni 1996 reichten daraufhin alle zehn mittel- und osteuropäischen Länder – der Reihenfolge nach Ungarn, Polen, Rumänien, die Slowakei, Lettland, Estland, Litauen, Bulgarien, Tschechien und Slowenien – einen Beitritts antrag ein. Im Juli 1990 folgten die beiden Mittelmeerstaaten Malta und Zypern. Am 13. Dezember 2002 schloss der Europäische Rat in Kopenhagen die Beitrittsverhandlungen mit Estland, Lettland, Litauen, Malta, Polen, der Slowakei, Slowenien, Tschechien, Ungarn und Zypern ab.19 Die Modalitäten des Beitritts der neuen Mitgliedstaaten wurden in einem einzigen Vertrag zusammengefasst. Der am 16. April 2003 feierlich in Athen unterzeichnete Beitrittsvertrag besteht aus fünf Teilen, 18 Anhängen, zehn Protokollen, einer Schlussakte sowie insgesamt 44 zusätzlichen Erklärungen. Insgesamt umfasst das Vertragswerk an die 5.000 Einzelseiten. Eine 62 Artikel umfassende Beitrittsakte regelt die Bedingungen des Beitritts, die Grundsätze zur Anpassung des bestehenden Primärrechts und insbesondere die institutionellen Bestimmungen zur Integration der neuen Mitgliedstaaten in die EU.20 Diese Akte enthält mit den sogenannten »Bestimmungen mit begrenzter Geltungsdauer« auch das eigentliche Kernstück des Beitrittsvertrags. Die dort in Artikel 24 nur kurz erwähnten Übergangsregelungen werden in den Anhängen V bis XIV der Beitrittsakte im Detail aufgeführt. Die EU gewährt den neuen Mitgliedstaaten darin rund 300 Übergangsregelungen (siehe Tabelle 1). Alle Regelungen sind jeweils inhaltlich exakt definiert, zeitlich begrenzt und individuell auf die Beitrittsländer zugeschnitten. Der weitaus größte Teil der Übergangsregelungen betrifft das Kapitel Landwirtschaft (89), gefolgt von Umwelt (67), Dienstleistungen und Steuern (jeweils 24) sowie Verkehr (21). Die längste Übergangsregelung wird im Kapitel Umwelt mit Fristen zur Reduzierung der Luftverschmutzung und Reinigung kommunaler Abwässer bis zum Jahr 2017 gewährt. Als politisch sensibel erwiesen sich jedoch insbesondere die bis zu sieben Jahre reichenden Beschränkungen der Arbeitnehmerfreizügigkeit. Mit der sogenannten »2-3-2-Regelung« wurde die Freizügigkeit für Arbeitnehmer aus Mittel- und Ost18 Rat 1993, S. 13. 19 Vgl. Rat der Europäischen Union : Schlussfolgerungen des Vorsitzes des Europäischen Rates Kopenhagen (12./13. Dezember 2002), Brüssel, 29. Januar 2003. 20 Vgl. Akte über die Bedingungen des Beitritts der Tschechischen Republik, der Republik Estland, der Republik Zypern, der Republik Lettland, der Republik Litauen, der Republik Ungarn, der Republik Malta, der Republik Polen, der Republik Slowenien und der Slowakischen Republik und die Anpassungen der die Europäische Union begründenden Verträge, in : Amtsblatt der Europäischen Union L 236/46 (2003), S. 33–49.
311
Die Erweiterung der Europäischen Union
europa zunächst für die Dauer von zwei Jahren eingeschränkt. Die Beschränkung konnte von den Mitgliedstaaten der EU jeweils um weitere drei und dann noch einmal um weitere zwei Jahre verlängert werden.
Verhandlungs kapitel Warenverkehr
Anzahl der Übergangsregelungen mit CY 1
Freizügigkeit
CZ
EE
HU
LT 2
LV
MT 3
PL 5
SI 1
SK
Max. Dauer 2008
Gesamt 12
1
1
1
1
1
1
1
1
7 J.
8
Dienstleistungen
1
1
3
3
3
3
3
5
2
2007
24
2
1
2
1
1
Kapitalverkehr
1
Wettbewerb
1
3
2
1
12 J.
11
3
2
2
2011
11
4
11 J.
89
1
2010
21
2
2010
24
2006
11
2009
11
Landwirtschaft
7
7
3
5
11
12
21
14
Verkehr
1
1
1
4
4
3
2
3
Steuern
2
3
4
2
2
2
2
3
2
3
2
1
5
1
1
1
1
Soziales Energie
1
2
2
1
Telekommunikation Umwelt
1
1 4
3
6
Zoll Gesamt
5
6
4
9
1 19
20
21
27
10
13
3
9
1 29
35
47
49
23
23
2005
1
2017
67
2008
2 293
Tabelle 1 : Länderspezifische Übergangsregelungen der Osterweiterung21
Neben den Übergangsregelungen enthält die Beitrittsakte darüber hinaus eine Reihe von Schutzklauseln, die im Falle unvorhergesehener Probleme bis zu drei Jahre nach dem Beitritt eine schnelle Krisenbewältigung ermöglichen sollten. Artikel 37 beinhaltet dabei eine allgemeine wirtschaftliche Schutzklausel, nach der die Kommission im Falle erheblicher wirtschaftlicher Schwierigkeiten auf Antrag eines Mitgliedstaates innerhalb von fünf Tagen über entsprechende Maßnahmen entscheiden können soll. Die Artikel 38 und 39 sehen darüber hinaus zwei spezielle Schutzklauseln vor, die den Binnenmarkt sowie den Bereich Justiz und Inneres betreffen. So kann die Kommission auf Antrag eines Mitgliedstaates oder aufgrund eigener Initiative geeignete Maßnahmen zum Schutz des Binnenmarktes ergreifen, wenn einer der neuen Mitgliedstaaten seinen im Rahmen der Beitrittsverhandlungen eingegangenen Verpflichtungen nicht nachkommen und hieraus eine ernsthafte Gefahr für den Binnen21 Vgl. Lippert, Barbara : Glanzloser Arbeitserfolg von epochaler Bedeutung : eine Bilanz der EU-Erweiterungspolitik 1989–2004, in : Lippert, Barbara (Hg.) : Bilanz und Folgeprobleme der EU-Erweiterung, Baden-Baden 2004, S. 13–71, hier S. 53.
312
Oliver Schwarz
markt entstehen sollte. Auch im Bereich Justiz und Inneres kann die Kommission auf Antrag eines Mitgliedstaates oder auf eigene Initiative hin und nach Konsultationen mit den Mitgliedstaaten Schutzmaßnahmen treffen, wenn schwerwiegende Verstöße gegen den Acquis in diesem Bereich vorliegen. Schutzklauseln – gerade wirtschaftlicher Art – kamen im Europarecht bereits vor der Osterweiterung zur Anwendung, so zum Beispiel in Artikel 112 des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) aus dem Jahr 1992 oder in Artikel 152 der Akte über den Beitritt Finnlands, Norwegens, Österreichs und Schwedens zur EU aus dem Jahr 1994. Die mit den Artikel 38 und 39 geschaffenen Schutzklauseln betrafen jedoch ausschließlich die Beitrittsländer und stellten somit eine neue Form des Sanktionsmechanismus dar.22 Trotz dieser Mechanismen muss Folgendes konstatiert werden : Den postkommunistischen Beitrittsaspiranten sowie Malta und Zypern wurde der Zutritt zum Integrationsverbund nur unter der Maßgabe einer vollständigen Übernahme des Acquis gewährt. Das Ziel der Beitrittsverhandlungen bestand darin, bis zum Zeitpunkt des Beitritts möglichst »perfekte« Mitgliedstaaten zu schaffen.23 Hierbei wurden nur exakt definierte und zeitlich beschränkte Übergangsfristen akzeptiert. Das Erweiterungsmodell, unter dem sich die Osterweiterung vollzog, wird daher als Modell der »konditionalen Krönung« bezeichnet.
III. Bulgarien und Rumänien als Testfall »nachsorgender Sozialisierung« Während die acht mittel- und osteuropäischen Staaten sowie Malta und Zypern ihren Beitritt zur EU rechtzeitig vor den im Juni 2004 stattfindenden Europawahlen vollziehen konnten, wurde Bulgarien und Rumänien hingegen ein Beitrittstermin erst für das Jahr 2007 in Aussicht gestellt.24 Bereits im November 2002 hatte die Kommission aufgrund der nur schleppend verlaufenden Beitrittsverhandlungen in den Bereichen Reform der öffentlichen Verwaltung, Justiz und Inneres sowie Korruptionsbekämpfung den 1. Januar 2007 als Beitrittstermin anvisiert.25 Die Beitrittsverhandlungen mit Bulgarien wurden am 15. Juni 2004 abgeschlossen. Selbiges 22 Vgl. Seidel, Martin : Die neuen Schutzklauseln der Artikel 38 und 39 des Beitrittsvertrages : Schutz der alten Mitgliedstaaten vor Störungen durch die neuen Mitgliedstaaten (ZEI Working Paper B 1), Bonn 2004. 23 Mayhew, Alan : Enlargement of the European Union : An Analysis of the Negotiations with the Central and Eastern European Candidate Countries (SEI Working Paper No. 39), Brighton, Dezember 2000, S. 10. 24 Vgl. Rat 2003, S. 4. 25 Vgl. Europäische Kommission : Mitteilung der Kommission an den Rat und das Europäische Parlament. Fahrpläne für Rumänien und Bulgarien (KOM[2002] 262 endg.), Brüssel, 13. November 2002.
313
Die Erweiterung der Europäischen Union
erreichte Rumänien am 17. Dezember 2004. Die Ergebnisse der Verhandlungen wurden am 25. Mai 2005 in einem rund 800 Seiten umfassenden gemeinsamen Beitrittsvertrag fixiert. Wie zuvor bei der ersten Osterweiterung bildete die Beitrittsakte den Kern des Vertragswerkes.26 In Artikel 23 verweist diese auf eine Reihe von Übergangsregelungen, die in den Anhängen VI und VII weiter aufgeführt werden (siehe Tabelle 2). Die meisten Übergangsregelungen betreffen das Kapitel Umwelt (51). Mit weitem Abstand folgen die Kapitel Steuern (8) und Verkehr (4). In den Kapiteln Landwirtschaft, Steuern und Umwelt werden immerhin Übergangsregelungen mit Fristen bis zum Jahr 2014 gewährt. Im Bereich der Arbeitnehmerfreizügigkeit kam erneut die bei der Osterweiterung praktizierte »2–3–2-Regelung« mit einer maximal siebenjährigen Übergangszeit zur Anwendung.
Verhandlungskapitel
Anzahl der Übergangsregelungen mit BG
RO
Maximale Dauer
Gesamt
Freizügigkeit
1
1
7 Jahre
2
Dienstleistungen
2
1
7 Jahre
3
Landwirtschaft
1
2
2014
3
Verkehr
2
3
2013
4
Steuern
4
4
2014
8
Soziales
1
2011
1
Energie
1
2012
2
Telekommunikation
1
2009
1
1
Umwelt
21
30
Gesamt
34
42
2014
51 76
Tabelle 2 : Übergangsregelungen für Bulgarien und Rumänien27
Am 22. Februar 2005 sprach sich die Kommission dafür aus, dass beide Staaten reif für einen Beitritt seien. Gleichzeitig machte sie jedoch auf die Möglichkeit einer einjährigen Suspension des Beitritts aufmerksam, falls Bulgarien oder Rumänien bis zum Beitrittstermin »in einer Reihe wichtiger Bereiche« nicht in der Lage sein würde, den von der EU gestellten Anforderungen gerecht zu werden.28 Diese Möglichkeit 26 Vgl. Akte über die Bedingungen des Beitritts der Bulgarischen Republik und Rumäniens und die Anpassungen der die Europäische Union begründenden Verträge, in : Amtsblatt der Europäischen Union L 157/48 (2005), S. 203–220. 27 Eigene Darstellung nach Anhang VI und VII der Beitrittsakte. 28 Vgl. Europäische Kommission : Stellungnahme der Kommission vom 22. Februar 2005 zu den Anträgen der Republik Bulgarien und Rumäniens auf den Beitritt zur Europäischen Union (KOM[2005] 55 endg.), Brüssel, 18. April 2005, S. 3.
314
Oliver Schwarz
sah eine erstmals mit Artikel 39 der Beitrittsakte implementierte Aufschubklausel vor. Demnach behielt sich die EU das Recht vor, den Beitritt Bulgariens und Rumäniens gegebenenfalls bis zum 1. Januar 2008 zu verschieben. Für eine Verschiebung des rumänischen Beitritts wäre eine qualifizierte Mehrheit des Rates ausreichend gewesen. Eine Verschiebung des Beitritts Bulgariens wäre nur mit einem einstimmigen Entschluss des Rates möglich gewesen. Von dieser Möglichkeit machte die EU jedoch keinen Gebrauch. In ihrem letzten Fortschrittsbericht beklagte sie zwar »gravierende Missstände« in beiden Ländern, sah in zahlreichen Bereichen »Anlass zur Besorgnis« und mahnte »Handlungsbedarf« sowie »weitere Anstrengungen« an.29 Die EU griff jedoch nicht auf die Möglichkeit der Aufschubklausel zurück, sodass Bulgarien und Rumänien am 1. Januar 2007 der EU als Mitglieder beitraten. Die Überlegung mag dabei eine Rolle gespielt haben, dass sich, wenn beide Staaten schon kurz vor dem Beitritt ihren Verpflichtungen nur unzureichend nachkamen, hieran auch bei einem Aufschub des Beitritts um ein Jahr kaum etwas ändern würde.30 Die Entscheidung für eine Aufnahme der beiden Staaten war somit eine politische, die die Chancen, die mit einem frühen Beitritt verbunden wurden, höher einschätzte als ein verlängertes Arbeiten mit der Beitrittskonditionalität.31 Doch auch über den 1. Januar 2007 hinaus sah die Beitrittsakte für Bulgarien und Rumänien eine Reihe von Schutzklauseln vor. Artikel 36 enthielt eine allgemeine wirtschaftliche Schutzklausel, die Artikel 37 und 38 beinhalteten jeweils eine spezielle Schutzklausel für den Binnenmarkt sowie den Bereich Justiz und Inneres. Wie zuvor bei der ersten Osterweiterung sollten diese Klauseln für einen Zeitraum von bis zu drei Jahren nach dem Beitritt gelten. Anders als bei der vorigen Osterweiterung behielt sich die EU bei den speziellen Schutzklauseln jedoch vor, entsprechende Beschlüsse bereits vor dem Beitritt fassen zu können. Dadurch, dass die Beitrittsakte explizit darauf hinwies, dass einmal gefasste Maßnahmen auch nach drei Jahren noch angewandt werden durften – sofern die einschlägigen Verpflichtungen zu einem späteren Zeitpunkt nicht erfüllt seien –, wurde der Dreijahreszeitraum erheblich erweitert. Auf Basis der Artikel 37 und 38 entschied die Kommission am 26. September 2006, für Bulgarien und Rumänien nach dem Beitritt »Strukturen für die Zusammenarbeit und die Fortschrittskontrolle« bei der Reform des Justizwesens sowie bei der
29 Vgl. Europäische Kommission : Mitteilung der Kommission. Monitoring-Bericht über den Stand der Beitrittsvorbereitungen Bulgariens und Rumäniens (KOM[2006] 549 endg.), Brüssel, 26. September 2006. 30 Vgl. Seidel, Martin : Die Schutzklauseln der Beitrittsverträge (ZEI Policy Paper B 10), Bonn 2005, S. 26. 31 Vgl. Dieringer, Jürgen : Der Beitritt Rumäniens und Bulgariens zur Europäischen Union, in : Große Hüttmann, Martin/Chardon, Matthias/Frech, Siegfried (Hg.) : Das neue Europa, Schwalbach 2008, S. 46–58, hier S. 47.
Die Erweiterung der Europäischen Union
315
Bekämpfung der Korruption und des organisierten Verbrechens zu schaffen.32 Im Rahmen des sogenannten »Kooperations- und Kontrollverfahrens« wurden für Bulgarien insgesamt sechs und für Rumänien vier Benchmarks definiert. Auf Basis dieser sollten beide Staaten in Zukunft regelmäßig über ihre Reformfortschritte berichten. Der erste Bericht wurde bereits bis zum 31. März 2007 eingefordert. Aufgabe der Kommission war es, die Fortschrittsberichte alle sechs Monate in eigenen Beurteilungen zusammenzufassen. Wenn sich bei dieser Überprüfung herausstellen würde, dass den gesetzten Vorgaben nicht angemessen nachgekommen wurde, so sollten die in den Beitrittsverträgen fixierten Schutzmaßnahmen angewendet werden. Es wurde vereinbart, das Verfahren so lange beizubehalten, bis alle Verpflichtungen erfüllt seien. Die Kommission veröffentlichte ihre ersten beiden Fortschrittsberichte im Juni 2007.33 Trotz der nicht unbedingt befriedigenden Schlussfolgerungen wurden zunächst keine Sanktionen beschlossen. In ihren im Juli 2008 veröffentlichten Berichten monierte die Kommission erneut erheblichen Handlungsbedarf bei der Justizreform und der Korruptionsbekämpfung in beiden Staaten.34 In einem separaten Bericht über die Verwaltung von europäischen Fördergeldern in Bulgarien kam die Kommission zusätzlich zu folgendem Schluss : »Wegen gravierender Schwachpunkte in den Verwaltungs- und Justizkapazitäten auf lokaler, regionaler und zentraler Ebene ist Bulgarien nicht in der Lage, die Vorteile dieser Hilfe in vollem Umfang zu nutzen.«35 Infolgedessen wurden Sofia Gelder in dreistelliger Millionenhöhe gestrichen, die vornehmlich noch aus dem PHARE-Vorbeitrittsprogramm stammten. Die Zuwendungen aus dem Programm waren noch für laufende Projekte vorgesehen, die Bulgarien auf den Bezug höherer Fördermittel aus den Strukturfonds vorbereiten sollten. Ebenfalls zeitweise eingefroren wurden Zuweisungen aus dem Agrarprogramm SAPARD (Special Accession Programme for Agriculture and Rural Development) und dem ISPA-Programm (Strukturpolitisches Instrument zur Vorbereitung auf den Beitritt). 32 Kommission der Europäischen Gemeinschaften : Monitoring-Bericht über den Stand der Beitrittsvorbereitungen Bulgariens und Rumäniens (KOM[2006] 549 endg.), Brüssel, 26. September 2006, S. 10. 33 Vgl. Kommission der Europäischen Gemeinschaften : Bericht der Kommission über Bulgariens Fortschritte bei den Begleitmaßnahmen nach dem Beitritt (KOM[2007] 377 endg.), Brüssel, 27. Juni 2007 ; Kommission der Europäischen Gemeinschaften : Bericht der Kommission über Rumäniens Fortschritte bei den Begleitmaßnahmen nach dem Beitritt (KOM[2007] 378 endg.), Brüssel, 27. Juni 2007. 34 Kommission der Europäischen Gemeinschaften : Bericht der Kommission an das Europäische Parlament und den Rat über Bulgariens Fortschritte im Rahmen des Kooperations- und Kontrollverfahrens (KOM[2008] 495 endg.), Brüssel, 23. Juli 2008 ; Kommission der Europäischen Gemeinschaften : Bericht der Kommission an das Europäische Parlament und den Rat über Rumäniens Fortschritte im Rahmen des Kooperations- und Kontrollverfahrens (KOM[2008] 494 endg.), Brüssel, 23. Juli 2008. 35 Kommission der Europäischen Gemeinschaften : Bericht der Kommission an das Europäische Parlament und den Rat über die Verwaltung der EU-Mittel in Bulgarien (KOM[2008] 496 endg.), Brüssel, 23. Juli 2008, S. 10.
316
Oliver Schwarz
In ihrem Juli-Bericht des Jahres 2011 kündigte die Kommission an, sie werde im Sommer 2012 in einem umfassenden Bericht die Fortschritte bewerten, die Bulgarien und Rumänien in den gesamten fünf Jahren seit ihrem Beitritt zur EU erzielt hätten.36 Dementsprechend präsentierte die Kommission am 18. Juli 2012 ihre Sicht der Dinge zu den Fortschritten beider Staaten im Rahmen des Kooperations- und Kontrollverfahrens. Im Falle Bulgariens kam die Kommission zu dem Schluss, das Land sei im Begriff, die Ziele des Verfahrens zu erreichen und einen selbstständigen Reformprozess zu etablieren, der stark genug sei, um die »externe Intervention« des Kooperations- und Kontrollverfahrens überflüssig zu machen.37 Den nächsten Bericht kündigte die Kommission für Ende des Jahres 2013 an. Rumänien hingegen hatte aus Sicht der Kommission bislang noch nicht genügend Fortschritte erzielt, die eine Beendigung des Kooperations- und Kontrollverfahrens rechtfertigen würden. Aufgrund der »gegenwärtigen Unwägbarkeiten« des rumänischen Reformprozesses kündigte sie einen weiteren Bericht noch vor Ende des Jahres 2012 an.38 Dieser wurde schließlich am 30. Januar 2013 der Öffentlichkeit vorgestellt. Gerade im Hinblick auf die Rechtsstaatlichkeit des Landes und die Unabhängigkeit der rumänischen Justiz fand die Kommission deutliche Worte. Rumänien habe bislang nur »einige« Empfehlungen der Kommission umgesetzt. Diese werde daher »im ständigen Dialog« mit der rumänischen Regierung die Fortschritte »genau verfolgen« und Ende 2013 erneut einen Bericht über den Reformprozess vorlegen.39 Zusammengefasst : Die EU hat im Falle Bulgariens und Rumäniens erhebliche Abstriche hinsichtlich ihrer Beitrittskonditionalität vorgenommen. Der Prozess der Erweiterung wurde von der EU als strategisches Instrument begriffen, um in beiden Staaten politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Reformen durch die Gewährung der Mitgliedschaft voranzutreiben. Gleichzeitig wurde jedoch ein umfangreiches Monitoring-System implementiert, um negative Rückkopplungen auf den europäischen Integrationsverbund zu verhindern. Eli Gateva hat diesen Sachverhalt mit der Begriff-
36 Vgl. Europäische Kommission : Bulgarien und Rumänien : Weiterhin Verbesserungsbedarf bei Justizreform und Korruptionsbekämpfung (IP/11/907), Brüssel, 20. Juli 2011, S. 1. 37 Europäische Kommission : Bericht der Kommission an das Europäische Parlament und den Rat über Bulgariens Fortschritte im Rahmen des Kooperations- und Kontrollverfahrens (COM[2012] 411 final), Brüssel, 18. Juli 2012, S. 22. 38 Europäische Kommission : Bericht der Kommission an das Europäische Parlament und den Rat über Rumäniens Fortschritte im Rahmen des Kooperations- und Kontrollverfahrens (COM[2012] 410 final), Brüssel, 18. Juli 2012, S. 22. 39 Europäische Kommission : Bericht der Kommission an das Europäische Parlament und den Rat über Rumäniens Fortschritte im Rahmen des Kooperations- und Überprüfungsmechanismus (COM[2013] 47 final), Brüssel, 30. Januar 2013, S. 13.
Die Erweiterung der Europäischen Union
317
lichkeit der »Post-Beitrittskonditionalität« umrissen.40 Es muss jedoch bedacht werden, dass das für Bulgarien und Rumänien geschaffene Kooperations- und Kontrollverfahren nur einen Bruchteil des Acquis betrifft. In allen anderen Bereichen nehmen die beiden EU-Mitgliedstaaten gleichberechtigt an allen politischen Entscheidungsprozessen teil und sind somit vollständig in das Institutionengefüge der EU integriert. Jenseits des dem Prinzip der Konditionalität unterliegenden Kooperations- und Kontrollverfahrens gewinnen somit grundsätzlich alltägliche Lern- und Sozialisationsprozesse innerhalb der EU an Bedeutung, in denen die beiden Neumitglieder europäische Normen freiwillig umsetzen und diese als »normal« in ihr Handlungsrepertoire übernehmen können. Dieser Sichtweise folgend, haben Antoaneta Dimitrova und Geoffrey Pridham in einem anderen Kontext den Begriff der »Post-Mitgliedssozialisation« geschaffen.41 In Anlehnung an diese Begriffsschöpfung wird für den Fall Bulgarien und Rumänien daher der Terminus der »nachsorgenden Sozialisierung« gebraucht.
IV. Kroatien : Zwischen »konditionaler Krönung« und »nachsorgender Sozialisierung« Mit der Ausnahme Islands entstammen alle derzeitigen Beitrittskandidaten und Staaten mit einer EU-Beitrittsperspektive dem geografischen Raum Südosteuropas.42 Während die Türkei ihrerseits schon im Juli 1959 ein Beitrittsgesuch stellte, auf das die damalige Gemeinschaft der Sechs im September 1963 mit einem Assoziierungsabkommen reagierte, bettete die EU den westlichen Balkan erst im Februar 1996 in ihren sogenannten Regionalansatz ein. Mit diesem wollte die EU zur Umsetzung des 1995 geschlossenen Daytoner Abkommens beitragen und die regionale Zusammenarbeit zwischen den Westbalkanstaaten fördern. Hierzu sah der Regionalansatz den Abschluss vertraglicher Abkommen zwischen der EU und den betreffenden Staaten sowie Programme zur finanziellen Zusammenarbeit vor. Im April 1997 wurde vom Rat der EU eine Reihe von Bedingungen definiert, die als Voraussetzung für eine Zusammenarbeit mit der EU galten. Das Prinzip der Konditionalität zog somit in die Balkanpolitik der EU ein.43 Doch erst nach schmerzlichen Lernprozessen im 40 Gateva, Eli : Post-Accession Conditionality – Support Instrument for Continuous Pressure ? (KFG Working Paper No. 18), Berlin, Oktober 2010. 41 Dimitrova, Antoaneta/Pridham, Geoffrey (2004) : International Actors and Democracy Promotion in Central and Eastern Europe : The Integration Model and its Limits, in : Democratization 5/11 (2004), S. 91–112, hier S. 99. 42 Noutcheva, Gergana/Aydin-Düzgit, Senem : Lost in Europeanisation : The Western Balkans and Turkey, in : West European Politics 1/35 (2012), S. 59–78. 43 Vgl. Altmann, Franz-Lothar : Die Balkanpolitik der EU – Regionalansatz und Prinzip der Konditionalität, in : Südosteuropa 10–11/47 (1998), S. 503–515.
318
Oliver Schwarz
Zuge des Kosovokrieges hat die EU im Juli 1999 mit der Initiierung des Stabilitätspaktes für Südosteuropa einen Paradigmenwechsel von der bloßen Stabilisierung der Region hin zur Integration derselben vollzogen.44 Die erstmals über den Stabilitätspakt offerierte Perspektive einer EU-Mitgliedschaft stellt bis heute den zentralen Motivationsimpuls für die Länder des westlichen Balkans dar, ihre internen Reform anstrengungen zu intensivieren und die regionale Kooperation voranzutreiben. Im Juni 2000 betonte der Europäische Rat in Feira dann erstmals, dass die Länder des westlichen Balkans »potenzielle Bewerber für den Beitritt zur EU«45 seien – eine Formulierung, die drei Jahre später auf dem Europäischen Rat von Thessaloniki und in später nachfolgenden Gipfelerklärungen ausdrücklich bestätigt wurde.46 Doch bislang haben sich die damit verbundenen Hoffnungen nur teilweise erfüllt, ja die Wirksamkeit der Erweiterung muss in der Region des westlichen Balkans sogar infrage gestellt werden. Doch worin unterscheidet sich der Europäisierungsprozess der Westbalkanstaaten von der bislang seitens der EU verfolgten Erweiterungspolitik ? Diese Frage lässt sich mit einem Blick auf die politische und wirtschaftliche Transformation Südosteuropas beantworten. Unter den zahlreichen Demokratie-Indizes zeichnet sich der Bertelsmann Transformation Index (BTI) durch seine verlässlichen, transparenten und umfassenden Daten aus.47 Der BTI besteht im Prinzip aus drei verschiedenen Teilindizes, die den Status der rechtsstaatlichen Demokratie, der sozial verantwortlichen Marktwirtschaft und der politischen Managementleistungen klassifizieren (»1« bedeutet »nicht erfüllt« beziehungsweise »10« »voll erfüllt«). Die Übersicht (siehe Tabelle 3) zeigt, dass in der vergangenen Dekade grosso modo sämtliche Staaten Südosteuropas leichte Fortschritte hinsichtlich ihrer politischen Konsolidierung erzielen konnten. Jedoch handelt es sich bei Kroatien um den einzigen Staat, der über den gesamten Zeitraum als funktionierende rechtsstaatliche Demokratie zu bezeichnen ist. Auch die Situation in Serbien kann seit der Loslösung Kosovos als gefestigt gelten. Gemäß dem BTI ist der serbische Staat seit 2009 ebenfalls als funktionierende Demokratie zu klassifizieren. Die übrigen Staaten des Westbalkans müssen hingegen weiterhin als »defekte Demokratien« bezeichnet werden. Diese Einschätzung trifft insbesondere auf Bosnien-Herzegowina und Kosovo zu. Letzterer erklärte zwar im Februar 2008 seine Unabhängigkeit von Serbien, der völkerrechtliche Status des Landes ist seither jedoch umstritten (erst rund die Hälfte 44 Vgl. Biermann, Rafael, 2002 : Stabilitätspakt und EU-Balkanpolitik. Von der Stabilisierung zur Integration, in : Integration 3/25 (2002), S. 210–225. 45 Rat der Europäischen Union : Schlussfolgerungen des Vorsitzes des Europäischen Rates Santa Maria da Feira (19./20. Juni 2000), Brüssel 2000, S. 17. 46 Rat der Europäischen Union : Schlussfolgerungen des Vorsitzes des Europäischen Rates Thessaloniki (19./20. Juni 2003), Brüssel, 1. Oktober 2003, S. 12. 47 Vgl. Merkel, Wolfgang : Gegen alle Theorie ? Die Konsolidierung der Demokratie in Ostmitteleuropa, in : Politische Vierteljahresschrift 3/48 (2007), S. 413–433, hier S. 417 f.
319
Die Erweiterung der Europäischen Union
der Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen erkennen die Republik Kosovo als unabhängig an, darunter Österreich und ein Großteil der EU-Mitgliedstaaten).48 Bosnien-Herzegowina muss mehr als 17 Jahre nach Kriegsende unverändert als internationales Protektorat bezeichnet werden. Von einer funktionierenden Staatlichkeit kann in beiden Fällen somit nicht die Rede sein. In wirtschaftlicher Hinsicht können in der Region im letzten Jahrzehnt zwar leichte Fortschritte konstatiert werden, die infolge der internationalen Wirtschaftskrise jedoch empfindliche Rückschläge hinnehmen mussten. Auch hier kann allein Kroatien über den gesamten Zeitraum als entwickelte Marktwirtschaft eingestuft werden. Alle anderen Staaten können nur als funktionierende Marktwirtschaften klassifiziert werden. Der aktuelle BTI von 2012 stuft Kosovo sogar nur als Marktwirtschaft mit Funktionsdefiziten ein.
BTI 2003
BTI 2006
BTI 2008
BTI 2010
BTI 2012
Pol.
Wirt.
Pol.
Wirt.
Pol.
Wirt.
Pol.
Wirt.
Pol.
Wirt.
AL
6,4
5,8
7,25
5,96
7,50
6,64
7,55
6,79
7,3
6,8
BIH
5,2
5,8
6,80
6,80
6,70
6,32
6,50
6,36
6,4
6,4
HR
8,4
8,0
9,10
8,32
8,85
8,29
8,75
8,11
8,4
8,1
MK
6,8
6,0
7,55
6,61
MNE
7,75
7,29
7,95
7,11
7,6
7,1
7,85
6,71
7,80
6,89
7,6
7,0
6,95
6,00
6,7
5,9
SRB
RKS 7,2
5,8
7,40
6,50
7,75
6,64
8,00
6,79
8,1
7,0
TR
6,8
6,6
7,05
6,79
7,17
7,05
7,65
7,43
7,7
7,4
Tabelle 3 : Politische und wirtschaftliche Transformation in Südosteuropa49
Durch die oben genannten Begebenheiten kommt dem Beitritt Kroatiens vom 1. Juli 2013 eine besonders wichtige Signalwirkung für die übrigen Staaten Südosteuropas zu. Kroatien stellte seinen Beitrittsantrag am 21. Februar 2003. Insgesamt sechs Jahre dauerten die Beitrittsverhandlungen. Am 30. Juni 2011, dem letzten Tag des ungarischen Ratsvorsitzes, konnten sie schließlich abgeschlossen werden. Am 9. Dezember 2011 wurde der Beitrittsvertrag in Brüssel unterzeichnet, dessen Kern eine Akte über den eigentlichen Beitritt zur EU bildet.50 Wie die vorhergehenden Beitrittsverträge 48 Die völkerrechtliche Anerkennung fehlt von Griechenland, Rumänien, der Slowakei, Spanien und Zypern. Vgl. Ministry of Foreign Affairs of the Republic of Kosovo : Countries that have recognized the Republic of Kosova, Priština 2012, http://www.mfa-ks.net/?page=2,33 (online am 20. April 2013). 49 Eigene Darstellung nach Daten des BTI 2003–2012 (online unter http://www.bti-project.de). 50 Vgl. Akte über die Bedingungen des Beitritts der Republik Kroatien und die Anpassungen des Vertrags über die Europäische Union, des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union und des Vertrags zur Gründung der Europäischen Atomgemeinschaft, in : Amtsblatt der Europäischen Union
320
Oliver Schwarz
sieht auch dieser in Artikel 18 eine Reihe von Übergangsregelungen vor, die in Anhang V der Akte weiter erläutert werden (siehe Tabelle 4). Die meisten Übergangsregelungen betreffen das Kapitel Umwelt (28), mit deutlichem Abstand folgen die Kapitel Landwirtschaft (5) und Verkehr (4). Die längste Übergangsregelung stellt die bereits bekannte »2-3-2-Regelung« zur Begrenzung der Arbeitnehmerfreizügigkeit dar, die somit bis zum Jahr 2021 Anwendung finden kann. Ein Novum stellten die Regelungen hinsichtlich des Schengen-Besitzstandes dar. Gemäß Artikel 4 der Akte ist Kroatien zwar ab seinem Beitritt an die Bestimmungen des Schengener Besitzstandes gebunden, jedoch kommen die Schengen-Bestimmungen im Verhältnis zu Kroatien teilweise erst nach einem entsprechenden Beschluss des Rates – auf Grundlage einer positiven Prüfung im Rahmen des Schengen-Evaluierungsverfahrens – zur Anwendung.
Verhandlungskapitel
Anzahl der Übergangsregelungen
Maximale Dauer
Warenverkehr
1
3 Jahre
Freizügigkeit
2
7 Jahre
Landwirtschaft
5
2018
Fischerei
2
2014
Verkehr
4
2016
Schengen
1
Ratsbeschluss
Umwelt
28
2019
Gesamt
43
Tabelle 4 : Übergangsregelungen für Kroatien51
Auch für Kroatien wurde ein Monitoring-System etabliert, allerdings nur bis zum Tag des Beitritts. So heißt es in Artikel 36 der Beitrittsakte : »Die Kommission überwacht aufmerksam alle von Kroatien bei den Beitrittsverhandlungen eingegangenen Verpflichtungen, einschließlich derjenigen, die vor oder zum Tag des Beitritts erfüllt sein müssen.«52 Auf eine Suspensionsklausel zur Verschiebung des kroatischen EUBeitritts wurde zwar verzichtet, jedoch heißt es in Artikel 36 der Beitrittsakte : »Der Rat kann mit qualifizierter Mehrheit auf Vorschlag der Kommission alle erforderlichen Maßnahmen ergreifen, wenn im Verlauf des Überwachungsprozesses Problempunkte festgestellt werden.«53 Gleichzeitig sah die Beitrittsakte vor, dass seitens der L 112/55 (2012), S. 21–34. 51 Eigene Darstellung nach Anhang V der Beitrittsakte für Kroatien. 52 ABl. EU L 112/55, S. 31. 53 Ebd.
Die Erweiterung der Europäischen Union
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Kommission im Herbst 2012 ein »umfassender Überwachungsbericht« erstellt werden sollte. Diesen Bericht hat die Kommission am 10. Oktober 2012 präsentiert.54 Gut acht Monate vor der geplanten Aufnahme Kroatiens stellte die Kommission darin erhebliche Mängel an der Beitrittsreife des Staates fest. Der Bericht mahnte die kroatische Regierung zur Erledigung von insgesamt zehn besonders dringenden Aufgaben an – von teils erheblicher Tragweite. So war aus Sicht der Kommission die kroatische Verwaltung noch nicht in der Lage, europäisches Recht effektiv umzusetzen. Auch Schwächen im Justizsystem, bei der Korruptionsbekämpfung und beim Grenzschutz wurden offengelegt. Zudem wurde Kroatien aufgefordert, sich einer Umstrukturierung der heimischen Schiffbauindustrie zuzuwenden. Den für den 1. Juli 2013 geplanten Beitritt sah die Kommission zwar nicht in Gefahr, forderte aber zugleich »verstärkte Anstrengungen« von der kroatischen Regierung.55 Aufgrund des stockenden Reformprozesses kündigte die Kommission daher noch für das Frühjahr 2013 einen erneuten Monitoring-Bericht an. In ihrem am 26. März 2013 veröffentlichten Bericht kam sie zu dem für viele Beobachter überraschenden Ergebnis, Kroatien habe alle noch im Oktober des Vorjahres als prioritär eingestuften Maßnahmen erfolgreich abgeschlossen. Zugleich hob die Kommission noch einmal die positive Signalwirkung hervor, die sie sich von einem kroatischen EU-Beitritt erhoffte : »Die EU-Mitgliedschaft bietet viele beachtliche Chancen für Kroatien und die EU. Diese Möglichkeiten müssen jetzt genutzt werden, damit Kroatiens Beitritt zur EU ein Erfolg wird – im Interesse Kroatiens, der westlichen Balkanregion und der EU als Ganzes.«56
Auf Grundlage des positiven Kommissionsberichts ratifizierten daraufhin auch die letzten fünf EU-Mitgliedstaaten – Dänemark, Deutschland, die Niederlande, Slowenien und das Vereinigte Königreich – den kroatischen Beitrittsvertrag, sodass das Land wie vorgesehen am 1. Juli 2013 der EU beitreten konnte. Bei Kroatien scheint die EU somit wieder zu dem Modell der »konditionalen Krönung« zurückgekehrt zu sein. Zumindest wurde auf die Einrichtung eines nachträglichen Monitoring-Systems verzichtet. Ob sich diese positive Erwartungshaltung bewahrheitet, wird sich in der Zukunft herausstellen. Im negativen Falle einer »Nachbeitrittsmüdigkeit« be-
54 Vgl. Europäische Kommission : Wichtigste Ergebnisse des umfassenden Monitoring-Berichts über den Stand der Vorbereitungen Kroatiens auf die EU-Mitgliedschaft (COM[2012] 601 final), Brüssel, 10. Oktober 2012. 55 COM(2012) 601 final, S. 22. 56 Europäische Kommission : Monitoring-Bericht über die Beitrittsvorbereitungen Kroatiens (COM [2013] 171 final), Brüssel, 26. März 2013, S. 17.
322
Oliver Schwarz
ziehungsweise einer nachlassenden Reformdynamik Kroatiens beraubt sich die EU jedenfalls eines möglichen Kriseninstruments. Doch ist das Modell der »konditionalen Krönung« auch für die übrigen Staaten des westlichen Balkans eine Option ? Oder wäre eine Erweiterung dieser Staaten nach dem Modell der »nachsorgenden Sozialisierung« denkbar ? Oder wäre sogar ein Alternativmodell vorstellbar ? Diesen Fragen soll im folgenden Teil des Beitrags nachgegangen werden.
V. Der westliche Balkan : Das Modell der »flankierenden Ü berbrückung« als Alternative ? Die Realisierung des EU-Beitritts wird nicht nur durch die vergleichsweise ungünstigen internen Strukturbedingungen der westlichen Balkanstaaten negativ beeinträchtigt, sondern auch durch die zunehmend innerhalb der EU zu konstatierende Erweiterungsmüdigkeit.57 Das Ausmaß der sogenannten »enlargement fatigue« zeigt sich in den Ergebnissen des »Eurobarometers«, der halbjährlich von der Kommission in Auftrag gegebenen öffentlichen Meinungsumfrage in den Ländern der EU. Demnach unterstützten im November 2012 nur 38 Prozent aller Bürger der zu dieser Zeit noch 27 Mitgliedstaaten eine zusätzliche Erweiterung der EU. Insgesamt 52 Prozent sprachen sich gegen weitere EU-Beitritte aus (siehe Diagramm 1). Offensichtlich weicht der bislang innerhalb der EU vorherrschende permissive Konsens zur Fortführung der Erweiterung einer sukzessiven Politisierung. Nichts belegt dies so deutlich wie die Diskussion um einen möglichen EU-Beitritt der Türkei.58 Christophe Hillion spricht sogar von einer »schleichenden Nationalisierung« des Erweiterungsprozesses der EU.59 Der sukzessiv zunehmende Einfluss nationaler Partikularinteressen der Mitgliedstaaten habe der Glaubwürdigkeit der EU schweren Schaden zugefügt. Hiermit sei nicht nur die Legitimität der EU-Konditionalität, sondern die Effektivität der europäischen Transformationsagenda als solche infrage gestellt.
57 Vgl. Altmann, Franz-Lothar : EU-Erweiterungsmüdigkeit und Westlicher Balkan (SWP-Aktuell 60), Berlin, Dezember 2005. 58 Vgl. Lippert, Barbara : Die Türkei als Sonderfall und Wendepunkt der klassischen EU-Erweiterungspolitik, in : Integration 2/28 (2005), S. 119–135. 59 Hillion, Christophe : The Creeping Nationalisation of the EU Enlargement Policy (SIEPS Report No. 6), Stockholm, November 2010.
323
Die Erweiterung der Europäischen Union
100 90 80 70 60 50 40 30 20 10 0
Pro
2000
2002
2004
2006
Contra
2008
2010
2012
Diagramm 1 : Bevölkerungseinstellung gegenüber einer zusätzlichen EU-Erweiterung (2000–2012)60
Die EU hat den Staaten Südosteuropas in den vergangenen Jahren daher zusätzliche politische Angebote unterbreitet, um die Glaubwürdigkeit der europäischen Beitrittsperspektive weiterhin aufrechtzuerhalten und um die Konsolidierung der dortigen Transformationsprozesse nicht zu gefährden. Ein praktischer Beleg für diese Politik der »flankierenden Überbrückung« ist die von der EU in den letzten Jahren forcierte Liberalisierung ihres Visa-Regimes.61 Im Dezember 2009 trat die Aufhebung der Visumpflicht zunächst für Mazedonien, Montenegro und Serbien in Kraft. Seit Dezember 2010 genießen auch die Menschen aus Albanien und Bosnien-Herzegowina die Möglichkeit der visumfreien Einreise in die EU. Im Januar 2012 hat die Kommission einen Dialog mit Kosovo über die Liberalisierung der Visavergabe eingeleitet. Im Mai folgte eine »positive Agenda« für die Beziehungen zwischen der EU und der Türkei, in deren Rahmen auch der Aspekt Visaliberalisierung thematisiert werden soll.62 Gleichzeitig fördert die EU verschiedene eng mit dem Erweiterungsprozess verknüpfte Kooperationsformen, um die politische und wirtschaftliche Transformation in Südosteuropa zu unterstützen. Ein Beispiel hierfür stellt das Zentraleuropäische Freihandelsabkommen (CEFTA) dar. Das Abkommen geht ursprünglich auf eine Vereinbarung vom 21. Dezember 1992 zwischen Polen, der damaligen Tschechoslo60 Eigene Darstellung nach Standard Eurobarometer 54–78 (online unter http://ec.europa.eu/public_ opinion/). 61 Vgl. European Stability Initiative : Saving visa-free travel. Visa, asylum and the EU roadmap policy, Berlin/Brüssel, 1. Januar 2013. 62 Vgl. Positive EU-Turkey agenda launched in Ankara (MEMO/12/359), Brüssel, 17. Mai 2012, S. 1.
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wakei und Ungarn zurück. Mit der Osterweiterung verlor die Organisation ihre eigentliche Funktion und wurde daher am 1. Januar 2007 mit neuem regionalen Fokus wiederbelebt. Der CEFTA gehören heute Kroatien, alle Staaten des westlichen Balkans sowie die Republik Moldau an. Ebenfalls zu nennen ist der Regionale Kooperationsrat (RCC). Der RCC ging am 27. Februar 2008 aus dem früheren Stabilitätspakt für Südosteuropa hervor. Seither verfügt der bereits seit Juni 1996 existierende Südosteuropäische Kooperationsprozess (SEECP) über einen operativen Arm. Dem SEECP gehören mit der Ausnahme Kosovos alle Westbalkanstaaten, Griechenland, Bulgarien, Rumänien, Slowenien sowie die Türkei an. Mit der Energiegemeinschaft für Südosteuropa wurde am 1. Juli 2006 sogar eine Organisationsstruktur geschaffen, mit der der energiepolitische Acquis sukzessive auf Drittstaaten übertragen wird.63 Der Energiegemeinschaft gehören Kroatien, die Westbalkanstaaten, Moldau und die Ukraine als Mitglieder an. Als Beobachter fungieren Armenien, Georgien, Norwegen und die Türkei. Im März 2004 wurde die Kommission zudem mit der Aufgabe der Verwirklichung eines einheitlichen europäischen Luftraums betraut, der unter anderem die im Süden und Osten an die EU angrenzenden Staaten umfassen soll und eine sektorale Integration der Luftverkehrsmärkte zum Ziel hat.64 Bereits am 5. Mai 2006 wurden mit allen Westbalkanstaaten, Bulgarien, Rumänien und Kroatien sowie Island und Norwegen Abkommen über die Schaffung eines gemeinsamen europäischen Luftraums geschlossen. Am 26. Juni 2012 wurde ein weiteres Abkommen mit Moldau geschlossen. Vor diesem Hintergrund widmet sich der Beitrag abschließend der Frage, welche Position Österreich im Rahmen der EU-Erweiterungspolitik einnimmt.
VI. Österreich als Akteur in der europäischen Erweiterungspolitik Martin Lugmayr hat in seiner Untersuchung zur Politik Österreichs gegenüber der EU-Osterweiterung einen breiten überparteilichen Konsens herausgearbeitet.65 Insbesondere bei der Österreichischen Volkspartei (ÖVP) sei das Selbstbild als »Mittler« zwischen West und Ost stark ausgeprägt. Die Partei verfüge über eine lange 63 Vgl. Buschle, Dirk : The Enforcement of Energy Law in wider Europe, in : Buschle, Dirk/Hirsbrunner, Simon/Kaddous, Christine (Hg.) : European Energy Law. Droit européen de l’énergie, Basel 2011, S. 301–342. 64 Vgl. Verordnung (EG) Nr. 549/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 10. März 2004 zur Festlegung des Rahmens für die Schaffung eines einheitlichen europäischen Luftraums (»Rahmenverordnung«), in : Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften C 94/13 (1970), S. 2–16. 65 Vgl. Lugmayr, Martin : Österreich und die EU-Osterweiterung. Maximale Chancen – Maximale Risiken, Frankfurt am Main 2002.
Die Erweiterung der Europäischen Union
325
europapolitische Tradition, habe primär aus wirtschaftlichen Gründen die Westintegration des Landes forciert und nach dem Wegfall der geopolitischen Trennlinie »eine gewisse Habsburg-Nostalgie mit geopolitischen Überlegungen« verknüpft.66 Die spätestens mit dem Gipfel von Kopenhagen von der EU offerierte Beitrittsperspektive für die mittel- und osteuropäischen Staaten wurde von der ÖVP daher kontinuierlich unterstützt und primär als sicherheitspolitisches Projekt aufgefasst. In der Sozialdemokratischen Partei Österreichs (SPÖ) sei die »Mitteleuropa-Idee« aufgrund ideologischer Vorbehalte und historischer Erfahrungen zwar weniger stark ausgeprägt. Dennoch wurde auch hier die Erweiterung mit dem Hinweis auf sicherheitspolitische sowie wirtschafts- und sozialpolitische Vorteile für Österreich befürwortet. Selbst die Freiheitliche Partei Österreichs (FPÖ), die sich unter der Führung von Jörg Haider insbesondere durch ihre populistischen Angriffe gegen die EU profiliert hatte, legte nach der Nationalratswahl am 3. Oktober 1999 durch ihre Einbindung in die Regierungskoalition mit der ÖVP unter Bundeskanzler Wolfgang Schüssel ihre tendenziell erweiterungsfeindliche Haltung – zumindest zwischenzeitlich – ab. Gänzlich anders verlief hingegen der parteipolitische Diskurs über einen möglichen EU-Beitritt der Türkei.67 Nachdem die damalige Regierungskoalition im Dezember 2004 der Aufnahme von EU-Beitrittsverhandlungen mit Ankara zugestimmt hatte, wurde sie von der oppositionellen SPÖ massiv kritisiert. Da sich die SPÖ hierbei auf eine deutlich wachsende Ablehnung einer türkischen EU-Mitgliedschaft innerhalb der österreichischen Bevölkerung stützen konnte, brachte Wolfgang Schüssel wenig später die Idee eines Volksentscheides ins Spiel. Der gemeinsam von den beiden Koalitionsparteien ÖVP und FPÖ eingebrachte Entschließungsantrag wurde von der SPÖ nicht unterstützt, da diese einen EU-Beitritt der Türkei grundsätzlich ablehnte. Lediglich die Grünen unterstützten den Beginn von Beitrittsverhandlungen mit dem Ziel einer türkischen EU-Mitgliedschaft uneingeschränkt.68 Bezüglich des westlichen Balkans blieb die parteiübergreifende Koalition der Beitrittsbefürworter hingegen erstaunlich stabil. Deutlich wird dies insbesondere an der österreichischen Unterstützung Kroatiens auf dem Weg zur EU-Mitgliedschaft. Österreich hat sich seit dem Jahr 2000 vehement für den Beitritt Kroatiens zur EU eingesetzt, auch wenn dies mit Blick auf die öffentliche Meinung ein nur wenig zugkräftiges Unterfangen darstellte. Laut Erhebungen des Eurobarometers war ein möglicher EU-Beitritt Kroatiens innerhalb der österreichischen Bevölkerung noch gegen Ende des Jahres 2002 ähnlich unbeliebt wie ein möglicher EU-Beitritt der 66 Lugmayr, M. 2002, S. 129. 67 Vgl. European Stability Initiative : Der unbekannte Türke und eine künftige Volksabstimmung. Anatomie einer österreichischen Debatte, Berlin/Istanbul, 30. November 2008, S. 4. 68 Vgl. Olt, Reinhard : SPÖ : Das Volk früher zur Türkei befragen, in : Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 23. Dezember 2004, S. 4.
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Türkei.69 Doch schon bereits drei Jahre später befürwortete eine klare Mehrheit der Österreicher einen EU-Beitritt Kroatiens, während sich die Ablehnung einer türkischen EU-Mitgliedschaft vergrößert hatte.70 Nahezu zeitgleich zu dieser Erhebung des Eurobarometers setzte sich die österreichische Regierung im Oktober 2005 für die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit Kroatien ein.71 Auch im Falle Mazedoniens hatte Österreich im Dezember 2005 den Kompromissentschluss vorangetrieben, Mazedonien zwar den Kandidatenstatus zuzubilligen, ohne sich jedoch auf ein bestimmtes Datum für den Beginn von Beitrittsverhandlungen festzulegen.72 Es verwunderte daher nur wenig, dass der westliche Balkan 2006 auch die Agenda der österreichischen Ratspräsidentschaft nachhaltig beeinflusste. Hervorzuheben ist hierbei ein informelles Treffen der Außenminister der EU-Mitgliedstaaten und der Länder des westlichen Balkans in Salzburg. Am Ende dieses Treffens wurde die sogenannte »Salzburger Erklärung« verabschiedet, in der die europäische Perspektive für sämtliche Westbalkanstaaten deutlich bekräftigt und die EU-Mitgliedschaft als endgültiges Ziel der gemeinsamen Beziehungen hervorgehoben wird.73 Österreichs aktives Lobbying für eine Aufnahme der westlichen Balkanstaaten ist dabei durchaus interessengeleitet : Österreich hat bereits infolge der EU-Erweiterung nach Osten wirtschaftlich enorm profitiert.74 Es erweist sich als einer der größten Investoren in Bulgarien und Rumänien und spielt eine bedeutende Rolle auf dem gesamten westlichen Balkan.75 Im Programm der im Januar 2007 gebildeten und bei den Nationalratswahlen 2008 bestätigten Großen Koalition aus SPÖ und ÖVP heißt es hinsichtlich der Erweiterung der EU : »Die Bundesregierung unterstützt das Ziel der EU-Erweiterung durch Kroatien und weiterer Nachbarn am Balkan, die alle über eine Europäische Perspektive verfügen. Die Beitrittsverhandlungen mit Kroatien werden zielstrebig fortgeführt und möglichst rasch abgeschlossen. Auch alle anderen Balkanstaaten haben eine klare Beitrittsperspektive,
69 Vgl. European Commission : Eurobarometer. Public Opinion in the European Union (Report No. 58), Brüssel, März 2003, S. 104. 70 Vgl. Europäische Kommission : Eurobarometer 64. Die öffentliche Meinung in der Europäischen Union (Nationaler Bericht Österreich), Brüssel, Januar 2006, S. 43. 71 Vgl. Richter, Solveig : Zielkonflikte der EU-Erweiterungspolitik ? Kroatien und Makedonien zwischen Stabilität und Demokratie (SWP-Studie 19), Berlin, Juli 2009, S. 12. 72 Vgl. Belafi, Matthias : Krisenmanager Österreich ? Anforderungen an eine erfolgreiche Ratspräsidentschaft Österreichs (CAP-Aktuell 4), München, Dezember 2005, S. 6. 73 Vgl. Republik Österreich (Bundesministerium für auswärtige Angelegenheiten) : Salzburger Erklärung. Gemeinsame Presseerklärung EU/Westbalkan, Wien, 11. März 2006, http://www.eu2006.at/de/News/ Press_ Releases/March/1103EUWesternBalkansStatement.html (online am 19. Dezember 2012). 74 Vgl. dazu den Beitrag von Fritz Breuss in diesem Band. 75 Institut für Europäische Politik (Hg.) : EU-25 Watch No. 3, Berlin, Juli 2006, S. 159.
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Die Erweiterung der Europäischen Union
an deren Realisierung wir Schritt für Schritt arbeiten. Ein Beitritt ist für die Staaten dieser Region erst möglich, wenn auch sie alle festgelegten Kriterien erfüllen ; und jeder Staat wird nach seinen individuellen Fortschritten bewertet werden. Österreich unterstützt Programme, die es den Balkanstaaten erlauben, die Beitrittskriterien möglichst rasch zu erfüllen und die regionale Kohäsion zu stärken. Moldau soll dabei sukzessive in den Annäherungsprozess Südosteuropas integriert werden. Südosteuropa bleibt weiter ein Schwerpunkt des österreichischen außen- und sicherheitspolitischen Engagements. Stabilität in dieser Region bedeutet Sicherheit und bessere Wirtschaftsbedingungen für Österreich.«76
Ähnliche Passagen mögen sich auch in offiziellen Regierungsprogrammen anderer EU-Mitgliedstaaten finden. Im Gegensatz zu vielen europäischen Regierungen treibt Wien jedoch auch am Brüsseler Verhandlungstisch durch praktische Taten die EU-Erweiterung unverändert voran. 80 69
Pro 62
60
61
58
58
54
50
49
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47
46
46
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40
40
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39
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PL
LT
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EE
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EL
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CZ
EU
53
52
NL
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LU
69
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AT
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72
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20 22
40
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24 34
24 30 35
35
36 42 48
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55
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50
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59
68
80
Diagramm 2 : Bevölkerungseinstellung gegenüber einer zusätzlichen EU-Erweiterung (2012)77
76 Bundeskanzleramt : Regierungsprogramm für die XXIV. Gesetzgebungsperiode, Wien, 2. Dezember 2008, S. 236 f. 77 Eigene Darstellung nach Standard Eurobarometer 78 (online unter http://ec.europa.eu/public_opinion/).
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Dabei zeigt sich bei Meinungsumfragen in Österreich seit Jahren eine deutliche Ablehnung gegenüber weiteren EU-Beitritten. Die ausgeprägt skeptische Haltung der österreichischen Bevölkerung deutet darauf hin, dass es sich bei dem oben angeführten »Mitteleuropa-Konstrukt« in erster Linie um ein Elitenkonzept handelt.78 Noch im November 2012 lehnten laut Eurobarometer 72 Prozent der Österreicher eine zusätzliche Erweiterung der EU ab, nur 23 Prozent unterstützen weitere Beitrittsrunden (siehe Diagramm 2). In den meisten EU-Mitgliedstaaten und vor allem in den politisch gewichtigen Staaten wie Deutschland oder Frankreich sind die Ergebnisse zwar ähnlich, doch während sich Deutschland bereits von der Rolle eines aktiven Unterstützers der EU-Erweiterung verabschiedet hat, tritt Österreich weiterhin energisch für die Fortsetzung des Erweiterungsprozesses ein.79 So forderte Österreichs Außenminister Michael Spindelegger im Februar 2012 in einem gemeinsamen Brief mit seinen französischen und italienischen Amtskollegen Alain Juppé und Giulio Terzi di Sant’Agata die übrigen EU-Mitgliedstaaten auf, Serbien den Status eines EU-Beitrittskandidaten zu verleihen.80 Bereits beim Europäischen Rat im Dezember 2011 hatte sich Österreich mit dem Vorschlag eines Kandidatenstatus »auf Probe« in einer heiklen Phase des serbischen EU-Annäherungsprozesses vermittelnd eingebracht.81 Serbien erhielt den Kandidatenstatus schließlich am 1. März 2012. Im Dezember 2012 setzte sich Österreich zusammen mit 14 anderen EU-Mitgliedstaaten für einen Kompromissvorschlag bei den Verhandlungen um eine Lösung des griechisch-mazedonischen Namensstreits ein. Der Vorschlag Walter Grahammers, des Ständigen Vertreters Österreichs bei der EU, sah dabei vor, den Namensstreit aus dem Beitrittsprozess Mazedoniens zunächst auszuklammern und eine Entscheidung über die Eröffnung von Beitrittsverhandlungen im Juni 2013 herbeizuführen.82 Die Kommission hatte sich bereits in ihrem Fortschrittsbericht des Jahres 2009 für die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit Mazedonien ausgesprochen, was von Griechenland bislang jedoch abgelehnt worden war und weiterhin wird.
78 Lugmayr, M. 2002, S. 212. 79 Vgl. Spindelegger kritisiert Merkel für angekündigten Stopp der Erweiterung, in : Die Presse vom 14. Dezember 2012, S. 2. 80 Vgl. Roser, Thomas/Ultsch, Christian : Österreich drückt für Serbien die Tür zur EU auf, in : Die Presse vom 24. Februar 2012, S. 1. 81 Vgl. Bundesministerium für europäische und internationale Angelegenheiten : Außen- und Europapolitischer Bericht, Wien 2011, S. VI. 82 Vgl. Mazedonien : Athen wirft Österreich Imperialismus vor, in : Die Presse vom 11. Dezember 2012, S. 5.
Die Erweiterung der Europäischen Union
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VII. Fazit Der vorliegende Beitrag hat den Versuch unternommen, die Erweiterungspolitik der EU konzeptionell zu erfassen und als Modell begreifbar zu machen. Dabei konnte gezeigt werden, dass sich die EU bis einschließlich zur Osterweiterung am klassischen Modell der »konditionalen Krönung« orientierte. Den postkommunistischen Beitrittsaspiranten sowie Malta und Zypern wurde der Zutritt zum Integrationsverbund erst nach der vollständigen Übernahme des Acquis gewährt. Da dieser gerade in den 1990er-Jahren einen enormen Umfang angenommen hatte, rückte die EU jedoch von ihrer Idealvorstellung ab, durch das Instrument der Konditionalität »perfekte« Mitglieder zu integrieren. Es wurden vielfältige, zeitlich beschränkte Übergangsregelungen geschaffen. Auch in Bulgarien und Rumänien konnten im Zuge des Beitrittsprozesses enorme Transformationsleistungen freigesetzt, bilaterale Konflikte beigelegt und interne Minderheitenprobleme einer Lösung zugeführt werden. Im Unterschied zur Osterweiterung griff die EU hier jedoch auf das Modell der »nachsorgenden Sozialisierung« zurück. Obwohl bei Bulgarien und Rumänien eklatante Defizite hinsichtlich der Umsetzung des Acquis deutlich moniert wurden, gewährte die EU ihnen dennoch die für den 1. Januar 2007 avisierte Mitgliedschaft. Anstatt Nachlässigkeiten unmittelbar zu sanktionieren, wurde mit dem Kooperations- und Überprüfungsmechanismus ein nachträgliches Monitoring-System geschaffen, um zumindest negative Rückkopplungen auf den europäischen Integrationsverbund zu verhindern. Unabhängig von dem Vorwurf, die EU habe mit diesem System für Bulgarien und Rumänien eine Art Mitgliedschaft zweiter Klasse etabliert, haben die dortigen Regierungen unverzüglich auf die Vorgaben des Kooperations- und Überprüfungsmechanismus reagiert. Es ist davon auszugehen, dass ohne den externen Einfluss der EU die Reformbemühungen in beiden Ländern deutlich weniger stark ausgeprägt gewesen wären.83 Angesicht der über den Kooperations- und Überprüfungsmechanismus in Bulgarien und Rumänien generierten Reformdynamik muss es daher ein wenig verwundern, dass die EU im Falle Kroatiens auf dieses Instrument der nachträglichen Einflussnahme verzichtet hat. Schließlich fiel die Entscheidung hierzu in einen Zeitraum, in dem innerhalb der EU kontrovers über eine angemessene Reaktion der Gemeinschaft auf die politischen Vorgänge in Ungarn diskutiert wurde.84 Für die übrigen südosteuropäischen Beitrittsaspiranten scheinen die bislang praktizierten Erweiterungsmodelle jedoch wenig praktikabel. Die länderspezifischen He83 Vgl. Spendzharova, Aneta B./Vachudova, Milada Anna : Catching Up ? Consolidating Liberal Democracy in Bulgaria and Romania after EU Accession, in : West European Politics 1/35, S. 39–58, hier S. 55. 84 Vgl. Gardner, Andrew : Reding’s campaign on Hungary angers EPP, in : European Voice 16/19, S. 1.
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rausforderungen – wie etwa begrenzte Staatlichkeit, wirtschaftliche Rückständigkeit und fragile Stabilität – und die zunehmende Politisierung der EU-Erweiterungspolitik deuten auf einen wesentlich längeren Zeithorizont bis zur Erreichung der EU-Mitgliedschaft der Staaten Südosteuropas hin. Um die Glaubwürdigkeit der europäischen Beitrittsperspektive aufrechtzuerhalten und um die Konsolidierung der dortigen Transformationsprozesse nicht zu gefährden, hat die EU daher in den vergangenen Jahren auf ein Modell der »flankierenden Überbrückung« durch zusätzliche politische Angebote zurückgegriffen. Die Liberalisierung der Visavergabe hat sich dabei als besonders attraktives Instrument erwiesen. Gleichzeitig fördert die EU Initiativen zum Ausbau der regionalen Kooperation, etwa durch die Unterstützung der CEFTA und des RCC. Auch die Energiegemeinschaft für Südosteuropa fördert die regionale Kooperation in Südosteuropa. Sie dient jedoch gleichzeitig auch der Umsetzung und Durchführung des energiepolitischen Acquis. Der europäische Energiebinnenmarkt findet somit unabhängig vom Erweiterungsprozess seine Ausdehnung auf Südosteuropa. Dieses Modell der »flankierenden Überbrückung« kann zur Dynamisierung des allgemein ins Stocken geratenen Erweiterungsprozesses beitragen. Dessen Anwendung wirft jedoch zugleich die Frage auf, ob dieses Modell tatsächlich nur eine Übergangserscheinung auf dem Weg zur vollständigen EUMitgliedschaft Südosteuropas darstellt oder es stattdessen zu dauerhaften Formen differenzierter Integration führen wird. Denn unverändert befindet sich die EU in einer Krise, in einer ernsten Krise sogar. Griechischer Staatsbankrott, Zerfall der Eurozone, britischer EU-Ausstieg – es sind düstere Szenarien, die seit geraumer Zeit die politische Tagesordnung Europas bestimmen. Angesichts dieser Krise zeigen die Bevölkerungen der EU-Mitgliedstaaten und ihre politischen Repräsentanten wenig Interesse an zusätzlichen Erweiterungsrunden. Die Fortführung der EU-Erweiterung gerät somit zu einer Frage der politischen Führung, ausgehend von einer Vision, einer klaren Vorstellung dessen, welche Gestalt der europäische Kontinent im 21. Jahrhundert annehmen soll. Gerade angesichts der inneren Krise der EU bedarf es einer proaktiven Politik, wie sie von Österreich praktiziert wird. Eine Vertiefung der Diskussion über das Ende der Erweiterung würde in der Region des westlichen Balkans die Gefahr neuer Instabilitäten befördern und damit Europas Ansehen als normativer Macht schweren Schaden zufügen.
Gunther Hauser
Das Jahr 1989 aus österreichischer und internationaler sicherheitspolitischer Perspektive
I. Einleitung Das Jahr 1989 war vor allem durch den Fall der kommunistischen Systeme in Mittelosteuropa – symbolisch ausgelöst durch den Fall der Berliner Mauer – geprägt : »Das Volk bezwingt die Mauer«, so die Berliner Illustrierte in ihrer Sonderausgabe vom Dezember 1989.1 Menschen aus Ost-Berlin erklommen sie in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1989 vom Pariser Platz, Menschen aus dem Westen von der Straße des 17. Juni aus.2 In der Bundesrepublik waren in den Jahren 1989 und 1990 ebenso viele Soldaten der Verbündeten wie Bundeswehrsoldaten stationiert : 242.800 US-Soldaten, 69.700 Briten, 52.000 Franzosen, 26.600 Belgier, 7.100 Kanadier und 5.700 Niederländer. Die Bundeswehr umfasste damals 500.000 Soldaten, der Mobilmachungsumfang der Bundeswehr betrug 1,3 Millionen Soldaten.3 Der Abschreckung dienten auch 7.000 Atomwaffen, die zeitweise auf westdeutschem Boden lagerten – 4.000 Sprengköpfe waren es noch Anfang der 1980er-Jahre.4 Am 3. Dezember 1989 erklärten US-Präsident George Bush und der sowjetische Staatsund Parteichef Michail Gorbatschow den Kalten Krieg für beendet – bei stürmischer See auf einem US-Kriegsschiff vor Malta.5 Die USA verringerten ihre Garnison in Europa nach 1989 von 350.000 schrittweise auf 43.000 Mann der Army und 18.000 Soldaten der Air Force. Großbritannien verringerte die Rheinarmee auf 18.000, Frankreich ist seit 2008 nur noch mit 3.600 Soldaten an den Stützpunkten der deutsch-französischen Brigade vertreten.6 Nach 1989 eskalierten durch den Zerfall der Sowjetunion7 und Jugoslawiens innerstaatliche Konflikte. Sezessionskriege führten zur Bildung neuer Staaten. Mit der 1 Das erste Fest der deutschen Einigkeit und Freude, in : Berliner Illustrierte, Sonderausgabe Deutschland im November 1989, Dezember 1989, S. 20 f. 2 Vgl. ebd. 3 Vgl. Weck, Roger de (Hg.)/Sommer, Theo : Diese Nato hat ausgedient. Das Bündnis muss europäischer werden. Ein Standpunkt von Theo Sommer, Berlin 2012, S. 16. 4 Vgl. ebd. 5 Vgl. Hauser, Gunther : Die NATO – Transformation, Aufgaben, Ziele, Frankfurt am Main 2008, S. 31. 6 Vgl. Sommer, T. 2012, S. 18. 7 Noch Ende der 1960er-Jahre konnte die Sowjetunion hoffen, den Westen »zu überholen«, bis zu
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Auflösung des Warschauer Paktes am 1. Juli 1991 sowie der Sowjetunion Ende 1991 wurden bereits lange zuvor die Zentrifugalkräfte in der UdSSR sehr deutlich. An Dynamik gewannen nationale und religiöse Konflikte und wurden somit zu Konfliktgeneratoren. In Jugoslawien schafften die Umbrüche vor allem in den späten 1980erJahren einen Nährboden für Hetzer und Demagogen. Der damalige Präsident Serbiens, Slobodan Milošević, trat betont nationalistisch als »Führer aller Serben« auf, bezog damit gezielt seine außerhalb Serbiens lebenden Landsleute ein und schuf ein neues serbisches Zugehörigkeitsgefühl. Er hebelte die von Tito geschaffene Verfassung von 1974 aus und ging daran, die Autonomie des Kosovo aufzuheben. Die von ihm inszenierte pompöse Feier zum 600. Jahrestag der Schlacht auf dem Amselfeld am 28. Juni 1989 sowie die Massendemonstrationen von Serben in Jugoslawien hatten auch das Selbstbewusstsein der Serben in Kroatien gesteigert.8 Seitens der Kroaten stießen diese Demonstrationen serbischer Nationalisten auf heftige Ablehnung. Bereits im Februar 1989 hatte der Historiker Franjo Tudjman die Kroatische Demokratische Union (HDZ – Hrvatska Demokratska Zajednica) gegründet, die ein christlich-soziales Programm mit einer stark nationalistischen Orientierung vertrat. So trat die HDZ für die Souveränität Kroatiens und das Recht auf den Austritt Kroatiens aus Jugoslawien ein. Viele Serben in Kroatien verfolgten die wachsende Popularität der HDZ mit zunehmender Beunruhigung, serbische Nationalisten brachten in der Folge die Parole von der »ustaschoiden« Politik der HDZ auf.9 Die Schlacht gegen das Osmanische Reich von 1389 sollte dem serbischen Bevölkerungsteil Jugoslawiens eine neue serbisch-nationale Identität verleihen – auch wenn dafür die Geschichte allzu selektiv interpretiert werden musste. Der in der Folge erstarkende Widerstand der ethnischen Albaner im Kosovo gegen die zunehmend diskriminierende Politik Serbiens verlief zu Beginn weitgehend friedlich. Unter der Führung des Schriftstellers Ibrahim Rugova leistete zunächst die kosovo-albanische Zivilgesellschaft gewaltfreien Widerstand gegen die serbische Regierung und baute Par-
ihrem Zerfall 1991 hatte sich die ökonomische Leistungskraft der UdSSR jedoch drastisch gemindert. In den 1980er-Jahren war die Sowjetunion nach wie vor eine militärische, jedoch keine wirtschaftliche Supermacht mehr wie die USA. Aus : Nowotny, Thomas : Warum Österreich nicht EG-Mitglied werden wird, in : Khol, Andreas/Ofner, Günther/Stirnemann, Alfred (Hg.) : Österreichisches Jahrbuch für Politik 1988, Wien/München 1989, S. 79–109, hier S. 103. 8 Der 28. Juni war Vidovdan, der St. Veitstag. An diesem Tag soll 1389 nach der Schlacht auf dem Amselfeld der siegreiche Sultan Murad vom Serben Miloš Obilić ermordet worden sein. Am 28. Juni 1914 wurde der österreichisch-ungarische Thronfolger Franz Ferdinand in Sarajevo erschossen. Vgl. Rauchensteiner, Manfried : Die Republik der Rezepte, in : Die Presse vom 25. Juni 2011, Spectrum, S. I f., hier S. II. 9 Vgl. Šunjić, Melita H. : Woher der Hass ? Kroaten und Slowenen kämpfen um Selbstbestimmung, Wien/München 1992, S. 80 f.
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allelinstitutionen auf.10 Dieser Weg des friedlichen Protests, der nicht zuletzt von zivilgesellschaftlichen Bewegungen in Osteuropa beeinflusst war, dauerte fast sechs Jahre. Milošević verschärfte im Kosovo, dessen in der Verfassung garantierte Autonomie er 1989 aufgehoben hatte, die Unterdrückung der albanischen Kosovaren, die dort ca. 90 Prozent der Bevölkerung stellten. 1990 und 1991 kam es schließlich zu einem Verfall der gesamtstaatlichen Strukturen in Jugoslawien, die Umwandlung der Föderation in eine Konföderation misslang.11 Österreich nutzte die Reform- und Umsturzprozesse in Mitteleuropa von Anfang an, um sich international politisch als westlicher Staat zu positionieren, was auch in symbolischen Akten am Eisernen Vorhang zum Ausdruck kam :12 Aufgrund seiner politischen Neutralität und seiner historischen Tradition war Österreich für viele der Reformstaaten schon Jahre zuvor das einzige »Fenster zum Westen«.13 Ziel dieses Beitrages ist es, ausgehend von den Umbrüchen in Europa ab 1988 jene außen- und sicherheitspolitischen Ereignisse, die 1989 prägend für die staatliche Entwicklung Österreichs gewesen sind, aus österreichischer Sicht sowie auch aus Sicht damaliger wesentlicher Akteure empirisch-analytisch darzulegen und zu erörtern.
II. Das Spannungsfeld Neutralität und EG-Mitgliedschaft Mit der Wende in Mittel- und Osteuropa begann auch eine Phase der vertieften Neutralitätsdiskussion in Österreich, die – mal stärker, mal schwächer – bis weit über das Jahr 2000 andauerte. Der ÖVP-Politiker Andreas Khol meinte, es solle Aufgabe der österreichischen Politik sein, der Bevölkerung »schlüssig zu erklären, dass die Ziele der österreichischen Politik, welche durch das Instrument der immerwährenden Neutralität des Jahres 1955 so erfolgreich verwirklicht werden konnten, auch durch die neue Außenpolitik gesichert und im Rahmen der europäischen Solidarität besser erreicht werden können«14. Demnach befand sich die Neutralität Österreichs nach 1989 in einem neuen Umfeld. Am 4. Juli 1989 beschloss die Bundesregierung auf der Grundlage eines gemeinsamen Ministerratsvortrages des Bundeskanzlers und des Außenministers, drei 10 Vgl. Sommer, T. 2012, S. 36. 11 Vgl. Ebd., S. 33. 12 Vgl. dazu den Beitrag von Helmut Wohnout in diesem Band. 13 Vgl. Kampits, Peter, Die Wandlung in Ost- und Mitteleuropa als Herausforderung für die österreichische Auslandskulturpolitik, in : Khol, Andreas/Ofner, Günther/Stirnemann, Alfred (Hg.) : Österreichisches Jahrbuch für Politik 1990, Wien/München 1991, S. 783–791, hier S. 784. 14 Vgl. Khol, Andreas : Neutralität – ein überholtes Instrument österreichischer Sicherheitspolitik ?, in : Khol, Andreas/Ofner, Günther/Stirnemann, Alfred (Hg.) : Österreichisches Jahrbuch für Politik 1990, Wien/München 1991, S. 677–709, hier S. 677.
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Beitrittsanträge gemäß Artikel 237 EWG-Vertrag, Artikel 205 EAG-Vertrag und Artikel 98 EGKS-Vertrag zu genehmigen und Bundespräsident Kurt Waldheim vorzuschlagen, Außenminister Alois Mock zu ermächtigen bzw. zu bevollmächtigen, die Anträge an die drei Europäischen Gemeinschaften zu richten sowie die Verhandlungen über die Aufnahme von Österreich in die EG zu führen. Am 17. Juli 1989 hatte Mock dem damaligen Vorsitzenden der EG, Frankreichs Außenminister Roland Dumas, das österreichische Ansuchen um Beitritt zu EG, EGKS und EAG – den sogenannten »Brief nach Brüssel« – übergeben. Das auf den 14. Juli 1989 datierte Schreiben beinhaltete Vorbehalte betreffend die Neutralität, womit Österreich um Aufnahme in die EG ersuchte, aber gleichzeitig hierfür Bedingungen stellte : • Österreich ging bei der Stellung dieses Antrages von der Wahrung seines international anerkannten Status der immerwährenden Neutralität aus, die auf dem Bundesverfassungsgesetz vom 26. Oktober 1955 beruht. • Österreich werde als EG-Mitgliedstaat »aufgrund des Beitrittsvertrages« in der Lage sein, die ihm aus seinem Status als immerwährend neutraler Staat obliegenden »rechtlichen Verpflichtungen« zu erfüllen. • Österreich werde in der Lage sein, seine Neutralitätspolitik als spezifischen Beitrag zur Aufrechterhaltung von Frieden und Sicherheit in Europa fortzusetzen.15 Österreichs Völkerrechtslehre war »bislang überwiegend davon ausgegangen, dass ein Beitritt zu den EG neutralitätsrechtlich verboten sei«16. Waldemar Hummer von der Universität Innsbruck dagegen argumentierte, Artikel 30 Ziff. 6 lit. c EEA verweise »eindeutig auf die Zuständigkeit von WEU und NATO für verteidigungspolitische Zwecke. Da auf Betreiben Irlands der Begriff ›Verteidigung‹ in Artikel 30 EEA durch den der ›Sicherheit‹ bewusst ersetzt wurde«, sei »es unstatthaft, einen diesbezüglichen ›Etikettenschwindel‹ zu betreiben, um daraus eine rechtliche Unvereinbarkeit zu konstruieren«17. Laut Hummer ist dem Neutralen im Gegensatz zu verteidigungspolitischen Kooperationen »eine sicherheitspolitische Konsultation aber nicht untersagt, an der er aber nicht einmal teilnehmen muss, wie das Beispiel Irland schlagend belegt«18. Einem Beitritt zu den Europäischen Gemeinschaften stand demnach neutralitätsrechtlich nichts im Wege. 15 Vgl. Lang, Winfried : Österreichs Entscheidung für Europa – I. Akt, in : Khol, Andreas/Ofner, Günther/Stirnemann, Alfred (Hg.) : Österreichisches Jahrbuch für Politik 1990, Wien/München 1990, S. 317–338, hier S. 326. 16 Vgl. Hummer, Waldemar : Neutralitätsrechtliche und neutralitätspolitische Fragen im Zusammenhang mit einem möglichen EG-Beitritt Österreichs, in : Khol, Andreas/Ofner, Günther/Stirnemann, Alfred (Hg.) : Österreichisches Jahrbuch für Politik 1988, Wien/München 1989, S. 55–78, hier S. 67. 17 Vgl. ebd., S. 69 f. 18 Vgl. ebd., S. 69.
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Zur Absicherung der Neutralitätskonformität eines Beitritts wäre es laut Hummer aber dennoch zu empfehlen, »dass Österreich seine Pflichten aus der Neutralität in die Beitrittsverhandlungen einbringt und sie zum Gegenstand eines Neutralitätsvorbehaltes oder – was ebenfalls ausreichend wäre – einer ›interpretativen Erklärung‹ macht«19. Am 16. Juni 1982 erfolgte bereits die einstimmige Annahme einer Entschließung im Nationalrat, in der die »Bundesregierung ersucht wird, die für Österreich nutzbringende Zusammenarbeit zwischen Österreich und den EG – soweit es die österreichische immerwährende Neutralität erlaubt – fortzusetzen und zu vertiefen«20. Prinzipiell ist, so Hummer, jeder neutrale Staat »in der Ausformung seiner Neutralitätspolitik frei […], das erklärt auch den Umstand, warum sich z. B. Österreich neutralitätspolitisch eben nicht unbedingt wie die Schweiz verhalten muss – und auch nicht verhält«21. Schon 1987 kamen in einem Gutachten die Völkerrechtler Hummer und Michael Schweitzer von der Universität Passau überein, dass der EG-Beitritt Österreichs mit der dauernden Neutralität Österreichs vereinbar sei. Bedenken könnten sich »hinsichtlich der Glaubhaftmachung der österreichischen Neutralitätspolitik« ergeben ; diese Bedenken seien »im rein politischen Bereich« angesiedelt und ließen sich ausräumen durch einen von den EG-Mitgliedstaaten »akzeptierten österreichischen Neutralitätsvorbehalt anlässlich des Beitritts«22. Der Völkerrechtler Manfred Rotter von der Universität Linz betonte dagegen, eine EG-Mitgliedschaft sei mit der dauernden Neutralität nicht vereinbar.23 Thomas Nowotny, damals Leiter der Planungsabteilung des Außenministeriums und der SPÖ angehörig, sah 1988 ebenso Diskrepanzen zwischen der Neutralität und der EG. So werde die EG vor der Vollendung des Binnenmarktes, also vor Januar 1993, mit keinem Beitrittsbewerber ernsthafte Verhandlungen führen : »Wird dann verhandelt, dann wird es sich zeigen, dass die immerwährende Neutralität einer Mitgliedschaft entgegensteht.«24 Nowotny betonte, dass der Mitgliedschaft eines immerwährend neutralen Staates alle EG-Staaten zustimmen müssten, dass jedoch einige EG-Länder am Ziel einer politischen Union festhielten, dass diese auch eine gemeinsame Verteidigungspolitik entwickeln müsse. Die Mitgliedschaft eines immerwährend neutralen Staates würde jedoch die Entwicklung hin zu einer derartigen politischen Union unmöglich machen.25 Khol meinte dagegen in Anlehnung an die 19 Vgl. ebd., S. 70. 20 Ebd., S. 58. 21 Vgl. ebd., S. 59. 22 Pelinka, Anton : Die Wiederkehr der Argumente. Zur EG-Diskussion in Österreich, in : Nick, Rainer (Hg.) : Tirol und die EG. Zukunftsperspektiven einer Region, Thaur/Tirol 1989, S. 19–27, hier S. 24 f. 23 Vgl. ebd., S. 25. 24 Nowotny, T. 1989, S. 79. 25 Vgl. ebd.
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Begründungen seitens Hummer, dass einem EG-Beitritt Österreichs »letztlich keine unüberwindbaren Hindernisse« entgegenstünden.26 In der EG vollzogen sich jedoch gerade seit der Einheitlichen Europäischen Akte (EEA) Diskussionen in Richtung Schaffung einer Sicherheits- und Verteidigungspolitik in einer künftigen EU. Sicherheitspolitische Zusammenarbeit wurde seither wesentliches Element für die Herausbildung einer europäischen außenpolitischen Identität. Vorschläge zur Ausweitung der Europäischen Politischen Zusammenarbeit (EPZ) auf Fragen der Verteidigung fielen jedoch nicht auf fruchtbaren Boden. In den Plänen von Hans-Dietrich Genscher und Emilio Colombo von 1981 war eine »militärische Zusammenarbeit bündnisähnlichen Charakters« vorgesehen gewesen, »zwecks Aufbaues des europäischen Pfeilers der atlantischen Verteidigung«27. Dänemark, Irland und Griechenland hatten sich jedoch dagegengestellt.28 Basierend auf den deutsch-französischen Vorschlägen und einer britischen Initiative gelang es im Februar 1986, die EPZ 15 Jahre nach ihrer Gründung vertraglich abzusichern. Somit wurde die EPZ stärker mit der EG-Ebene verklammert, es erfolgte der Aufbau eines Sekretariats sowie gemäß Artikel 6 der EEA die Einführung der sicherheitspolitischen Zusammenarbeit. Diese Kooperation war wesentliches Element für die Herausbildung einer außenpolitischen europäischen Identität zu dieser Zeit. Aufgrund von Bedenken einiger EG-Partner fand die Debatte über die sicherheitspolitischen Belange zunehmend in der seit 1984 gerade auch mit deutscher Unterstützung wiederbelebten Westeuropäischen Union (WEU) statt.29 Vorschläge zur Ausweitung der EPZ auf Fragen der Verteidigung etwa im Zuge des Berichts des belgischen Außenministers Leo Tindemans 1975 oder der Genscher-ColomboInitiative 1981 fielen jedoch auf unfruchtbaren Boden. Im Oktober 1986 hatte USPräsident Ronald Reagan Gorbatschow bei einem Gipfeltreffen in Reykjavik vorgeschlagen, alle strategischen Nuklearwaffen abzuschaffen. Dieser Vorschlag blieb jedoch erfolglos. Seitens der europäischen NATO-Verbündeten gab es über das mit ihnen nicht abgestimmte Vorgehen Reagans große Besorgnis : Dieser Vorschlag Reagans hatte »die Europäer jedoch aufgerüttelt und darauf aufmerksam gemacht, wie
26 Vgl. Khol, Andreas : Warum Österreich EG-Mitglied werden wird, in : Khol, Andreas/Ofner, Günther/ Stirnemann, Alfred (Hg.) : Österreichisches Jahrbuch für Politik 1988, Wien/München 1989, S. 779– 810, hier S. 779. 27 Khol, A. 1989, S. 783. 28 Vgl. ebd. 29 Vgl. Regelsberger, Elfriede : Deutschland und die GASP – ein Mix aus Vision und Pragmatismus, in : Müller-Brandeck-Bocquet, Gisela (Hg.) : Europäische Außenpolitik. GASP und ESVP-Konzeptionen ausgewählter Mitgliedstaaten (Würzburger Universitätsschriften zu Geschichte und Politik 3), BadenBaden 2002, S. 28–40, hier S. 31.
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gefährlich es ist, in dieser entscheidenden Frage so von den USA abhängig zu sein«30. Einige Tage nach dem Treffen in Reykjavík hatte sich die britische Premierministerin Margret Thatcher erkundigt, ob ihr französische Raketen zur Verfügung stehen könnten, falls die USA die ihrigen aus britischen U-Booten entfernen würden. Unter diesem Eindruck entschlossen sich Frankreich und Großbritannien, die WEU wiederzubeleben.31 In den Jahren 1987/88 erfolgte die Revitalisierung der WEU mit der »Operation Cleansweep«. Die WEU verlegte erstmals Minenräumschiffe in die Straße von Hormus – unter Beteiligung der WEU-Mitgliedstaaten Belgien, Frankreich, Großbritannien, Italien und Niederlande. Die WEU führte Operationen zu einem Zeitpunkt durch, als NATO-Einsätze außerhalb des Bündnisgebietes noch nicht zur Diskussion standen. 1991 koordinierte die WEU bis zu 45 Kriegsschiffe für die Durchsetzung der Resolution 661 (Embargo gegen den Irak).32 Bereits im August 1988 betonte Tindemans, dass im Fall der Gründung einer EU deren Befugnisse nicht nur die Sicherheit im Allgemeinen, sondern auch militärische Aspekte einschließen würden. Und das wäre ein Problem für das neutrale Österreich. So hielt Tindemans eine Vollmitgliedschaft Österreichs mit einem Neutralitätsvorbehalt für unvereinbar. Sein Nachfolger Mark Eyskens versagte auf der am 17. Juli 1989 in Brüssel stattfindenden Ratstagung als Einziger der von seinem deutschen Kollegen Genscher initiierten sofortigen Behandlung der österreichischen Beitrittsanträge unter Verweis auf die darin enthaltene »Neutralitätspassage« seine Zustimmung. Ebenso stieß bei Frankreich die Mitgliedschaft Österreichs als »Neutraler« auf Misstrauen, Frankreich sah dies als Hindernis für eine gemeinsame Verteidigungspolitik.33 Aus Sicht von EG-Kommissionspräsident Jacques Delors war damals die Neutralität zwar kein wirkliches Hindernis, jedoch »wurde er von einem Befürworter des EG-Beitritts von Österreich zu einem mächtigen Verzögerer«34. Sein primäres Ziel war die Errichtung einer Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion, ein Ziel, das er jedoch durch Beitrittsverhandlungen mit einem Neutralen wie Österreich gefährdet sah. Staaten wie Österreich, Schweden und Finnland würden mit ihren unterschiedlichen Neutralitäten folglich die Vertiefung der EG gefährden.35 30 Nowotny, T. 1989, S. 98. 31 Vgl. ebd. 32 Vgl. Hauser, Gunther : Europas Sicherheit und Verteidigung. Der zivil-militärische Ansatz, Frankfurt am Main 2010, S. 29 f. 33 Vgl. Gehler, Michael : Österreichs Außenpolitik der Zweiten Republik. Von der alliierten Besatzung bis zum Europa des 21. Jahrhunderts, Bd. 2, Innsbruck/Wien/Bozen 2005, S. 618 f. 34 Khol, Andreas : Österreich und Europa im Annus mirabilis Europae 1989, in : Khol, Andreas/Ofner, Günther/Stirnemann, Alfred (Hg.) : Österreichisches Jahrbuch für Politik 1989, Wien/München 1990, S. 813–841, hier S. 821. 35 Vgl. ebd.
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Der sowjetische Botschafter in Wien, Gennadi Schikin, übergab am 10. August 1989 der österreichischen Bundesregierung eine Note, worin die UdSSR ihre Ansichten zum EG-Beitritt von Österreich verdeutlichte. Insbesondere wurde die Frage gestellt, wie Österreich seine Neutralität mit einem EG-Beitritt in Übereinstimmung bringen könne – alles in allem ein gemäßigtes Memorandum, einer diplomatischen Pflichtübung hoher Beamter vergleichbar. Eine förmliche Antwort auf diese Note der UdSSR gab es aus Wien keine. Am 27. Oktober 1989 stellte Gorbatschow die Haltung der UdSSR klar : Er bezeichnete es ausdrücklich als das Recht eines jeden Landes – auch Finnlands –, einen Beitritt zur EG nach Gutdünken zu entscheiden. Gorbatschow bezeichnete in der Folge die Beziehungen zu Österreich als »wundervoll«.36 Diese Reaktion ist im Zusammenhang mit der Annäherung der UdSSR an die EG zu sehen : Am 18. Dezember 1989 unterzeichnete Außenminister Eduard Schewardnadse in Brüssel zusammen mit dem Vertreter der EG-Präsidentschaft, dem französischen Außenminister Roland Dumas, den Handels- und Kooperationsvertrag zwischen der EG und der Sowjetunion. Mittlerweile war klar, dass viele ehemalige kommunistische Länder in Mittel- und Osteuropa so schnell wie möglich der EG assoziiert werden und auch beitreten wollten.37 Ende der 1980er-Jahre brachte Gorbatschow die Idee eines »Gemeinsamen Hauses Europa« auf, 1991 verkündete Russlands Präsident Boris Jelzin die »Rückkehr Russlands nach Europa«. 1993 stellte Russland den Antrag auf Aufnahme in den Europarat, die 1996 erfolgte. 1997 wurden die »besonderen Beziehungen« zwischen Russland und der NATO eingeleitet.
III. Die Umwälzungen in Mitteleuropa und Österreich Die ehemaligen kommunistischen Staaten Mitteleuropas und auch Südosteuropas waren auf dem Weg, pluralistische Demokratien zu werden. So verankerte das ungarische Parlament am 24. Januar 1990 »mit großer Mehrheit« die Gewissens- und Religionsfreiheit in der Verfassung. Der Religionsunterricht war seither in den Schulen wieder zugelassen. Die Kirchen wurden als autonome Institutionen wieder anerkannt. Tags zuvor hatte Ministerpräsident Miklós Németh vor dem Parlament bekannt gegeben, dass alle in Ungarn stationierten Sowjettruppen aus dem Land abgezogen werden sollten.38 36 Ebd., S. 820 f. 37 Ebd., S. 821. 38 Vgl. Ungarn verankert jetzt die Gewissensfreiheit in Verfassung, in : Salzburger Nachrichten vom 25. Jänner 1990, S. 4.
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In Bulgarien wurde am 24. Januar 1990 der Entwurf für eine neue Verfassung vorgelegt. Darin wurden »die führende Rolle der Arbeiterklasse« gestrichen, die Religionsfreiheit anerkannt, die »sozialistische Marktwirtschaft« sowie private und staatliche Eigentumsform gleichberechtigt eingeführt. Gesetzgebung, Justiz und Exekutive wurden getrennt.39 In der Tschechoslowakei wurde am 24. Januar 1990 ein Gesetz über die Wahrung der Religionsfreiheit verabschiedet.40 Am 11./12. November 1989 erfolgte im Zeichen dieser Umbrüche die Gründung der »Viererinitiative« (Quadragonale) durch die Außenminister und die stellvertretenden Ministerpräsidenten von Italien, Jugoslawien, Österreich und Ungarn in Budapest. Die Außenminister Mock (Österreich), Horn (Ungarn), De Michelis (Italien) und Lončar (Jugoslawien) hatten in ihrer gemeinsamen Erklärung vom 11. November 1989 die wesentlichen Ziele der vielseitigen Kooperationen festgehalten und jährliche Treffen auf hoher politischer Ebene vereinbart. Zu Beginn der Zusammenarbeit bestand grundsätzliche Übereinstimmung darüber, dass eine Ausdehnung auf andere infrage kommende Staaten möglich sein sollte. Ziel war eine regionale Zusammenarbeit. Österreich war dadurch eine engere Kooperation mit Italien möglich und fand damit schließlich einen Unterstützer für die Bewerbung um Aufnahme in die EG. 1990 erfolgte die Erweiterung dieser Initiative um die Tschechoslowakei (ČSFR), die Initiative hieß seither zunächst »Pentagonale«. Die ČSFR war – nach dem Wandel zur pluralistischen Demokratie – erstmals beim Treffen der Außenminister am 20. Mai 1990 in Wien vertreten, bereits seit März 1990 waren tschechoslowakische Beobachter zu den Arbeitsgruppen eingeladen worden.41 Die Pentagonale war »eine projektbezogene, pragmatische Zusammenarbeit in Sachfragen, die sich aus der Nachbarschaft ergeben«42. Es gab keine vertragliche Grundlage und keine eigenen organisatorischen Strukturen, dies unterstrich den formlosen und pragmatischen Charakter der Initiative. Ziel der Pentagonale war es auch, den neuen KSZEProzess für ein sicheres und stabiles Europa von 1990 zu stärken. Für Österreich stellte diese Pentagonale »den Versuch dar, seine schon bisher intensiv betriebene bilaterale Nachbarschaftspolitik dort zu multilateralisieren, wo eine solche Multilateralisierung von der Sache her sinnvoll ist«43. Am 26. Juni 1991 kam Polen dazu (Hexagonale). Neuer Name ist seit dem 18. Juli 1992 Zentraleuropäische Initiative.44 39 Vgl. Bulgarien tilgt alle Spuren der KP, in : Salzburger Nachrichten vom 25. Jänner 1990, S. 4. 40 Vgl. CSSR beschließt Religionsfreiheit, in : Salzburger Nachrichten vom 25. Jänner 1990, S. 4. 41 Vgl. Staffelmayr, Emil : »Die Dynamik der Entwicklung in Europa«. Die Pentagonale als Beispiel einer neuen Nachbarschaftspolitik, in : Khol, Andreas/Ofner, Günther/Stirnemann, Alfred (Hg.) : Österreichisches Jahrbuch für Politik 1990, Wien/München 1991, S. 711–722, hier S. 712. 42 Ebd., S. 711. 43 Ebd. 44 Vgl. Baumann, Wolfgang/Hauser, Gunther : Mitteleuropa – Im geopolitischen Interesse Österreichs, Graz 2002, S. 120.
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Der damalige Vorsitzende der SPÖ und Bundeskanzler Franz Vranitzky erklärte im Dezember 1989 der österreichischen Mitteleuropapolitik hingegen eine öffentliche Absage. Der Begriff »Mitteleuropa« hatte aus seiner Sicht keine politische Bedeutung, »und ich lege Wert darauf, dass er keine hat«45. Vranitzky tat dies gerade zu einer Zeit, als die Wende in Ostmitteleuropa politisch vollzogen war, die Sowjetunion aber noch eine Supermacht darstellte und als Unterzeichner des österreichischen Staatsvertrags von 1955 ein Veto gegen das Ansuchen Österreichs um Aufnahme in die EG hätte einleiten können. Vranitzky berief sich jedoch nicht auf dieses Faktum, sondern auf ein anderes Argument : Österreich solle nicht den Eindruck erwecken, dass es sich bei der Aufnahme in die EG auch als Vertreter seiner östlichen Nachbarn bewerbe. Gedankliche Versuchungen wie die »Pentagonale« waren Vranitzky eher suspekt, jedenfalls als politische Projekte. »Mitteleuropa« durfte aus Sicht Vranitzkys auf keinen Fall eine Alternative oder ein Ersatz zur EG sein. Vranitzky hatte durch die Zentraleuropäische Initiative versucht, die östlichen Nachbarn Österreichs zum Aussteigen aus ihren Kernkraftwerkprogrammen zu bewegen, und verkündete 1990 sogar die Errichtung einer kernwaffenfreien Zone in Mitteleuropa offiziell als Ziel. Doch trotz der Leitung der Arbeitsgemeinschaft Umweltschutz in der »Pentagonale« gelang es Österreich nicht, seine östlichen Nachbarn für eine Abkehr von ihren Atomprogrammen zu gewinnen.46 Während Österreich seinen Neutralitätskurs beibehielt, arbeiteten die Nachbarstaaten Tschechoslowakei, Ungarn und Polen bereits daran, in die euro-atlantischen Sicherheitsstrukturen integriert zu werden. Im Juni 1990 hatte Ungarns Ministerpräsident Jószef Antall seinen Wunsch nach einem Austritt aus dem Warschauer Pakt (WP) bekannt gegeben. Die Strukturen des WP waren bereits in Auflösung begriffen. 1991 hatten die Regierungen Polens, der Tschechoslowakei und Ungarns eine Art »Bündnis« zur Koordination ihres gemeinsamen Vorhabens betreffend die europäische und transatlantische Integration ihrer Länder ins Leben gerufen, die vor allem sicherheitspolitische Wurzeln hatte. Der sowjetische Truppenabzug wurde somit zum gemeinsamen Anliegen aller drei Länder, die außen-, sicherheits- und wirtschaftspolitische Annäherung erfolgte sogleich an den Westen.47
45 Ebd., S. 107. Vgl. dazu auch Gehler, Michael : Paving Austria’s Way to Brussels : Chancellor Franz Vranitzky (1986–1997) – A Banker, Social Democrat, and Pragmatic European Leader, in : Journal of European Integration History 2/18 (2012), S. 159–182. 46 Vgl. ebd., S. 107. 47 Vgl. ebd., S. 122.
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IV. Die Jugoslawien-Krise und der Einsatz des Bundesheeres Im Sommer 1990 hatten serbische »Baumstammrevolutionäre« bei Knin48 Straßensperren errichtet und Reisende perlustriert. Dazu waren Serben aus allen Teilen Jugoslawiens angereist, viele Touristen traten in der Folge auch »in Panik« die Heimreise an.49 Die Aufstände bewaffneter serbischer Gruppen in Kroatien weiteten sich im April 1991 aus. Die Belgrader Propaganda hatte zuvor geschickt Ängste der serbischen Volksgruppe in Kroatien vor einem »neuen Genozid« wie im faschistischen Kroatien des Zweiten Weltkriegs geschürt. Die Serben in der kroatischen Krajina erklärten sich für »autonom« von Kroatien. Mitten im Sommer 1991 standen in den reifen Kornfeldern Kroatiens bereits Panzer statt Erntemaschinen. Slowenische Dörfer wurden beschossen. Der Konflikt eskalierte in Sezessionskriege, die von Slowenien und Kroatien weiter auf Bosnien-Herzegowina und den Kosovo übergriffen. Am 25. und 26. Juni 1991 erfolgten die Unabhängigkeitserklärungen von Slowenien und Kroatien, die slowenischen und kroatischen Abgeordneten verabschiedeten sich bis auf wenige Ausnahmen aus dem jugoslawischen Parlament. Jugoslawiens Bundesregierung erklärte daraufhin nach einer Sondersitzung beide Erklärungen »für null und nichtig«, woraufhin der jugoslawische Ministerpräsident Ante Marković der Bundespolizei und der Volksarmee »die Sicherung der Staatsgrenzen«50 befahl. Slowenien wurde durch Regierungschef Lojze Peterle sowie Republikpräsident Milan Kučan in die Unabhängigkeit geführt. Zwei Tage nach der slowenischen Unabhängigkeitserklärung hatte in der Nacht auf den 27. Juni 1991 die jugoslawische Volksarmee mit Panzern eine offene Intervention in der nördlichen Republik begonnen. Jeder Widerstand würde mit militärischen Mitteln gebrochen, hieß es in einem Armee-Telegramm an die slowenische Führung. Das österreichische Bundesheer wurde in Kärnten und der Steiermark in Alarmbereitschaft versetzt. Ein Sicherungseinsatz wurde eingeleitet, der nicht als Assistenzeinsatz (der durch die zivile Gewalt »angefordert« werden muss), sondern als (durch den Bundesminister angeordneter) Einsatz gemäß § 2 lit. a des Wehrgesetzes durchgeführt wurde. Österreichs Verteidigungsminister Werner Fasslabend unterzeichnete am 28. Juni 1991 um 18 :45 Uhr den Einsatzbefehl zum Schutz der Grenzen. Es war dies eine einmalige Vorgehensweise, die erstmals in der Zweiten Republik erfolgte. Bis 1. Juli 1991 standen ca. 6.500 Mann Bodentruppen im Einsatz, gleichzeitig wurde die Kontrolle des Luftraumes sichergestellt. Bis zum 1. Juli 1991 48 Regionaler Befehlshaber der jugoslawischen Armee in Knin wurde Ratko Mladić, der später in Bosnien traurige Berühmtheit erlangen sollte. Vgl. Rathfelder, Erich : Der blutige Traum von einem Großserbien, in : Die Presse vom 1. Juli 2011, S. 6. 49 Vgl. Šunjić, M. H. 1992, S. 76. 50 Vgl. Gehler, M. 2005, S. 689.
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wurden 121 Überwachungs- und Aufklärungseinsätze mit Draken, Saab 105 und Hubschraubern geflogen.51 Alle größeren Grenzübergänge nach Österreich und Italien wurden gesperrt. Am Nachmittag brachten Angehörige der slowenischen Territorialarmee Fahrzeuge durch den Loibltunnel nach Österreich und kehrten dann wieder über die Grenze zurück. Erstmals nach 1956 musste Österreich erleben, dass es an seinen Landesgrenzen zu schweren bewaffneten Kampfhandlungen kam. Österreich bemühte sich in der Folge um eine Internationalisierung der JugoslawienKrise, um eine Eskalation der Konflikte zu verhindern. So hatte Außenminister Mock noch im Mai 1991 – unter dem Eindruck der ersten Gewaltakte – einen »Weisenrat« erfahrener europäischer Staatsmänner zu schaffen beabsichtigt. Dieser Vorschlag war jedoch am Widerstand der jugoslawischen Bundesregierung gescheitert. Österreich forderte die sofortige Einstellung aller Kampfhandlungen und die Verwirklichung des Selbstbestimmungsrechts in Übereinstimmung mit den – demokratisch zum Ausdruck gebrachten – Wünschen der Völker von Jugoslawien. Österreich – vor allem Außenminister Mock – setzte sich für die internationale Anerkennung von Slowenien und Kroatien ein.52 Frankreich, Großbritannien, die USA und die Sowjetunion wollten zunächst Jugoslawiens Einheit unter allen Umständen bewahren.53 Noch Ende August 1991 drängten die USA Österreichs Regierung in einem Schreiben, Slowenien und Kroatien nicht unilateral anzuerkennen. Ein derartiger Schritt wäre aus Sicht der USA »kontraproduktiv«, die Reaktion der jugoslawischen Armee »unabsehbar«.54 Der sowjetische Außenminister Alexander Bessmertnych warnte am 5. Juli 1991 in einem Brief an Mock vor einer »Atomisierung Jugoslawiens«. Einen Monat später drohte der sowjetische Botschafter in Wien damit, eine Anerkennung Sloweniens und Kroatiens könne auch »problematisch« für die bilateralen Beziehungen Österreichs zur Sowjetunion sein.55 Mock warb dennoch »hinter den Kulissen unermüdlich für eine rasche Anerkennung der neuen Nachbarstaaten«56. Nur dann, glaubte demnach Mock, könnte der Konflikt internationalisiert und eventuell doch noch eingedämmt werden.57 Frankreich beschuldigte Österreich, die
51 Vgl. Hessel, Friedrich : 20 Jahre Jugoslawienkrise 1991–2011, in : Der Soldat vom 20. Juli 2011, S. 4 f., hier S. 4. 52 Vgl. Mayr-Harting, Thomas : 1991 – ein Jahr der Herausforderungen für Österreichs Außenpolitik, in : Khol, Andreas/Ofner, Günther/Stirnemann, Alfred (Hg.) : Österreichisches Jahrbuch für Politik 1991, Wien/München 1992, S. 313–327, hier S. 317. 53 Vgl. Ultsch, Christian : »Mock wollte Alleingang bei Anerkennung von Slowenien und Kroatien«, in : Die Presse vom 25. Juni 2011, S. 2. 54 Ebd. 55 Vgl. ebd. 56 Ebd. 57 Vgl. ebd.
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Auflösung Jugoslawiens zu fördern.58 Italien riet den Slowenen dringend, auf keine »zweideutigen Botschaften aus Wien« zu hören. Italiens Ministerpräsident Giulio Andreotti beschwor die Gefahr eines »›pangermanischen‹ Zusammengehens von Deutschen und Österreichern, das gleichermaßen Italien wie Jugoslawien bedrohen würde ; der Vatikan assistierte«59. Das Außenministerium in Wien war viel früher als andere Außenministerien zu dem Schluss gekommen, dass die Auflösung Jugoslawiens unausweichlich sei, so Albert Rohan, damals Leiter der Abteilung für Osteuropa im Außenministerium : »Es war nur die Frage, ob Jugoslawien friedlich oder blutig zerfällt.«60 Am 7. Juli 1991 wurde Österreichs Botschafter ins Belgrader Außenamt zitiert, um sich eine Reihe von Vorwürfen anzuhören : Österreich mische sich in innere Angelegenheiten Jugoslawiens ein, unterstütze Separatismus, dulde illegale Waffenlieferungen. Stets berichteten serbische Medien über Waffenschmuggel aus Österreich. Seit Oktober 1989 hatte Österreich jedoch weder die Aus- noch Durchfuhr von Kriegsmaterial nach bzw. durch Jugoslawien bewilligt. Zum Schmuggel von Waffen war es dennoch gekommen.61 Bereits am 28. August 1991 wurden Estland, Lettland und Litauen durch Österreich anerkannt. Die Anerkennungsschreiben enthielten »den selben Hinweis auf die pluralistisch-demokratischen Grundwerte, wie dann später jene an Slowenien und Kroatien«62. Belgrad machte noch einmal die kompromisslose Haltung Jugoslawiens klar : Die Unabhängigkeit der beiden Nordrepubliken sei »rechtlich ungültig« und müsse daher gewaltsam rückgängig gemacht werden. »Die Armee wird die Unverletzlichkeit der Grenzen Jugoslawiens sichern und jede Änderung dieser Grenzen verhindern«, hieß es in einer offiziellen Erklärung aus Belgrad : »Diese Aufgaben werden die Streitkräfte entscheiden und bis zum Ende ausführen.« Die einseitige Unabhängigkeitserklärung »bedroht die territoriale Unversehrtheit Jugoslawiens«63. Am 27. Juni 1991 kam es zur ersten Luftraumverletzung auf österreichischem Territorium seitens der jugoslawischen Bundesarmee, als vier Transportflugzeuge zur Anladung von Versorgungsgütern österreichisches Hoheitsgebiet überflogen. Am 28. Juni 1991 ereigneten sich Gefechte im Raum Spielfeld, Bleiburg, Bad Radkersburg sowie im Raum Unterdrauburg. Auch vier jugoslawische Kampfflugzeuge drangen ebenso in den österreichischen Luftraum ein und schossen bei ihrem Rück-
58 Vgl. Rauchensteiner, M. 2011, S. I. 59 Ebd. 60 Ultsch, C. 2011, S. 2. 61 Vgl. ebd. 62 Vgl. Mayr-Harting, T. 1992, S. 321. 63 Vgl. Belgrad bleibt unerbitterlich hart, in : Der Standard vom 28. Juni 1991, S. 3.
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flug den Grenzübergang Spielfeld in Brand. Ein Flug einer MiG-23 erfolgte in einer Höhe von 40 Metern bis nach Graz. Verteidigungsminister Fasslabend sprach in einer ersten Reaktion von einem »sehr ernsten Neutralitätsfall« und ordnete die Verlegung österreichischer Saab 35OE Draken in das Grenzgebiet an.64 Am 25. Oktober 1991 landete ein 33-jähriger Kroate mit einem MiG-21-Kampfflugzeug der jugoslawischen Luftwaffe auf dem Flughafen von Klagenfurt. Der kroatische Pilot erklärte, dass er nicht auf seine Landsleute schießen wollte, und suchte um politisches Asyl an. Der Pilot führte nur seine persönliche Bewaffnung mit sich, das Flugzeug selbst hatte keine Bewaffnung an Bord. Am 24. Oktober 1991, so der Pilot, habe er von seiner Aufklärungseinheit den Auftrag bekommen, die Verschiffung der in Slowenien stationierten Einheiten der Bundesarmee im Hafen von Koper zu überwachen. Er sei von Bihac über Ljubljana nach Koper geflogen. Nach Erledigung seines Auftrages sei er nach Ljubljana zurückgekehrt, wo er dann den Entschluss zur Flucht nach Österreich gefasst habe.65 Aus Anlass der Unabhängigkeitserklärungen von Slowenien und Kroatien gab Mock eine Erklärung ab, in der es hieß : »Die Unabhängigkeitserklärungen entsprechen dem demokratisch zum Ausdruck gebrachten Willen der beiden Völker und sind zu respektieren.«66 Österreich war in diesem Kontext der erste europäische Staat, der angesichts der Krise im Wege bilateraler Kontakte den Konflikt internationalisierte : »Kein anderer Staat war zunächst bereit zu folgen.«67 Am 17. Dezember 1991 signalisierten die EG-Außenminister »auf Drängen Deutschlands«68 durch den Außenministerrat die Bereitschaft ihrer Staaten zur völkerrechtlichen Anerkennung aller sich selbstständig erklärenden jugoslawischen Republiken. An diesem Tag sprach sich auch Österreich für die politische Anerkennung von Slowenien und Kroatien aus. Am 19. Dezember 1991 beschloss die deutsche Bundesregierung in Bonn, die Unabhängigkeit Sloweniens und Kroatiens zu akzeptieren.69 Am 15. Januar 1992 beschloss der österreichische Ministerrat die Anerkennung Sloweniens und Kroatiens sowie jene der neuen Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS). Die EGStaaten sprachen die Anerkennung Sloweniens und Kroatiens am 16. Januar 1992 aus, Österreich folgte tags darauf, zeitgleich mit der Schweiz.70
64 Vgl. Gehler, M. 2005, S. 695 f. 65 Vgl. Eine MIG 21 landete unbewaffnet auf dem Flughafen von Klagenfurt. »Wollte nicht auf Kroaten schießen«, in : Wiener Zeitung vom 26. Oktober 1991, S. 1. 66 Vgl. Gehler, M. 2005, S. 709. 67 Vgl. ebd., S. 710. 68 Ultsch, C. 2011, S. 2. 69 Vgl. ebd. 70 Vgl. Rauchensteiner, M. 2011, S. II.
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V. Schlussfolgerungen Die geopolitische Nachkriegsordnung, ein Ergebnis der Aufteilung Europas in klar abgegrenzte Interessensphären nach den Beschlüssen von Jalta 1945, geriet ab 1988/89 zunehmend ins Wanken. Der spätere Leiter des Büros für Wehrpolitik im Bundesministerium für Landesverteidigung, Wolfgang Schneider, meinte 1989 : »Mit der Demokratisierung Osteuropas wird der kalte Krieg zum historischen Datum.«71 Die Umbrüche in Jugoslawien und der Sowjetunion hatten verdeutlicht, dass diese Staaten »durch Macht von oben zusammengehalten« waren und nicht durch die Loyalität der Bürger.72 Die Wiedervereinigung der DDR mit der Bundesrepublik durfte und konnte »aufgrund der Realität wieder offen diskutiert werden«. Die Militärblöcke begannen zu zerfallen, die Konfrontation war im Schwinden begriffen und »die Militärs [verloren] ihr Feindbild«.73 Das Jahr 1989 war auch für Österreich ein Wendejahr. In diesem Jahr ist der Europakurs Österreichs seitens der österreichischen Bundesregierung offiziell bestätigt worden. Österreich präsentierte in Brüssel seinen Beitrittsantrag »vor dem Ansturm der neuen Demokratien Ostmitteleuropas, also der Ungarn, der Tschechoslowaken, der Polen«74. Ergebnis dieses Prozesses war der sicherheitspolitische Paradigmenwechsel hin zu einer Neudefinition der Neutralität und vor allem zu einem Bekenntnis zur bereits in der Einheitlichen Europäischen Akte angepeilten Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP). Auch die Rolle Österreichs bei UN-mandatierten Militäreinsätzen wurde neu definiert, beginnend mit der durch UN-Resolution 678 vom 29. November 1990 mandatierten Operation »Desert Storm« gegen die Besetzung Kuwaits durch irakische Truppen. In ÖVP-nahen Kreisen wurde das Wendejahr 1989 und dessen Auswirkungen auf Österreich betreffend festgestellt : »Wir sind auf dem Weg vom neutralen, sozial partnerschaftlich-ständischen, dezentralisierten Einheitsstaat unter der Vorherrschaft von zwei Großparteien zum europäischen, parlamentarisch-demokratischen[,] bundesstaatlich geordneten Staat.«75 Zwischen Österreich und der damaligen NochSupermacht Sowjetunion lagen mit dem Abzug der sowjetischen Truppen aus dem Gebiet der damaligen DDR, der Tschechoslowakei und Ungarn »nunmehr unabhängige, freie Staaten«. Damit hatte in Österreich »eine Diskussion über die öster71 Vgl. Schneider, Wolfgang, »Sorglosigkeit in militärischen Dingen kann aber ein Verbrechen am Staate werden«, in : Khol, Andreas/Ofner, Günther/Stirnemann, Alfred (Hg.) : Österreichisches Jahrbuch für Politik 1989, Wien/München 1990, S. 385–397, hier S. 385. 72 Vgl. Nowotny, T. 1989, S. 104. 73 Vgl. Schneider, W. 1990, S. 385. 74 1999 wurden Polen, Tschechien und Ungarn Mitglieder der NATO. Zitat aus : Khol, A. 1990, S. 815. 75 Vgl. Vorwort der Herausgeber, in : Khol, Andreas/Ofner, Günther/Stirnemann, Alfred (Hg.) : Österreichisches Jahrbuch für Politik 1990, Wien/München 1991, S. 7.
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reichische Neutralität begonnen, die wohl für die Errichtung einer Europäischen Friedensordnung bedeutsam erscheint, aber in absehbarer Zeit in einer solchen Europäischen Friedensordnung und in der Europäischen Gemeinschaft aufgehen wird«76. Österreichs Neutralität war »kein wesentlicher Diskussionsgegenstand mehr, wenn es um den Beitritt Österreichs in die EG geht«77. Österreichs Plan war jedoch die Wahrung der Neutralität bei gleichzeitiger fortschreitender Integration der Mitgliedstaaten zu einer politischen Union innerhalb der EU – eine Idee, die schließlich auch realisiert werden konnte. Die EG war damals bereits auf Erweiterung (nach ihrer Vertiefung durch die Regierungskonferenz 1991) angelegt. Österreich wird auf jeden Fall, und da waren sich Experten einig, »der erste Neubeitritt, das 13. Mitgliedsland einer im nächsten Jahrtausend vielleicht 20 oder mehr Mitgliedsländer umfassenden Europäischen Gemeinschaft sein«78. Am 6. November 1990 erklärte die österreichische Bundesregierung einseitig die Artikel 12 bis 16 sowie Artikel 22 Ziffer 13 des Staatsvertrags für obsolet, die Signatarstaaten erhoben dabei keine Einwendungen.79 Diese Artikel bezogen sich u. a. auf die Einschränkung betreffend den Ankauf von zivilen Flugzeugen deutscher und japanischer Bauart (Artikel 16)80 sowie auf das völkerrechtliche Verbot von atomaren, biologischen oder chemischen Massenvernichtungswaffen (Artikel 13).81 Die Signatarstaaten reagierten auf diese Obsoleterklärung nicht und nahmen diese nur zur Kenntnis. Eine weitere Folge von 1989 waren illegale Einwanderungen an der grünen Grenze, was die österreichische Bundesregierung damals veranlasste, Soldaten für den Grenzschutz abzustellen. Zugleich »trägt der Assistenzeinsatz an der burgenländischen Grenze viel zur Beruhigung unserer besorgten Grenzbewohner bei«, so Österreichs damaliger Bundespräsident Kurt Waldheim im Tagesbefehl anlässlich des Nationalfeiertages am 26. Oktober 1991.82 Am 4. September 1990 wurde der Bundesheer-Grenzeinsatz an der österreichisch-ungarischen wie auch an der österreichisch-slowakischen Grenze eingeführt. Die Grenzsoldaten durften verdächtige Personen anhalten und kontrollieren. Die als Provisorium gedachte Lösung – ursprünglich war dieser Einsatz für zehn Wochen vorgesehen – wurde bis 2007 mehr76 Vgl. ebd. 77 Vgl. Khol, A. 1991, S. 696. 78 Vgl. Vorwort der Herausgeber 1991, S. 8. 79 Vgl. Hauser, Gunther : Österreich – dauernd neutral ? (Studien zur politischen Wirklichkeit 14), Wien 2002, S. 35 f. 80 Die Austrian Airlines kauften in den Jahren 1988 und 1989 zwei Langstreckenflugzeuge des Typs Airbus A310–324ET, die aufgrund des Gemeinschaftsprojektes Airbus deutsche Bauteile enthielten. 81 Vgl. Hauser, G. 2002, S. 34 und S. 36. 82 Vgl. Tagesbefehl anlässlich des Nationalfeiertages am 26. Oktober 1991, in : Wiener Zeitung vom 26. Oktober 1991, S. 1.
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fach verlängert, bis zur Aufnahme Ungarns und der Slowakei in den Schengen-Raum Ende 2007. Nach dem Wegfall der Grenzkontrollen folgte noch der Assistenzeinsatz (AssE) Schengen bis zum 15. Dezember 2011.83 Die Zeit ab 1989 bedeutete für Österreich außerdem den Beginn der steigenden internationalen Vernetzung der österreichischen Außenpolitik. Österreich hatte schon im Wendejahr gemeinsam mit seinen Nachbarn Ungarn, Italien sowie mit den kurz danach zerfallenden Staaten Jugoslawien und Tschechoslowakei seine Nachbarschaftspolitik neu definiert und multilaterale Initiativen der umfassenden Zusammenarbeit eingeleitet. Österreich, insbesondere Außenminister Alois Mock, hatte damals versucht, die Sezessionsprobleme im damaligen Jugoslawien zu internationalisieren, um eine Eskalation der Krise zu verhindern. Der Balkan wurde in den 1990er-Jahren zum relevantesten Aktionsfeld der österreichischen Außen- und Sicherheitspolitik.84 Jedoch waren die österreichischen Bemühungen, eine größere Rolle als internationaler Begegnungsplatz zu spielen, durch die »Causa Waldheim« stark beeinträchtigt worden. So war das Bemühen Österreichs, im Herbst 1990 eine Gipfelkonferenz aller KSZE-Staaten abzuhalten, nicht zuletzt am »Problem Waldheim« gescheitert : »Niemand wusste, wie man sicherstellen konnte, dass den ausländischen Staats- und Regierungschefs der Händedruck mit Waldheim hundertprozentig erspart bleibt.«85 Ausgehend von den Reformprozessen in den ehemaligen kommunistischen Staaten Ostmitteleuropas und internationalen Entspannungssignalen, die vor allem die Abrüstungsprozesse im Nuklearbereich betrafen, begann 1990 »mit fast euphorischen Zukunfts- und Friedenshoffnungen, die aber jäh durch den Überfall des Irak auf Kuwait und die sich daraus entwickelnde Golfkrise überschattet wurden. In Österreich selbst mischten sich in die Freude über den Aufbruch in Ost-Mitteleuropa ängstliche und ablehnende Stimmen gegenüber Flüchtlingen, ausländischen Arbeitssuchenden und grenznahen Kernkraftwerken. Nachtfahrverbote und zunehmender Druck zur Beschränkung des Transits86 brachten zusätzliche Spannungselemente in das Verhältnis Österreichs zu den Europäischen Gemeinschaften.«87 So begann auch ab 1989 für Österreich ein neues politisches Reformjahrzehnt, eine Neudefinition der Außenpolitik in Richtung neu gegründeter Europäischer Union sowie darin wiederum eine selbstständige Neuinterpretation seiner Neutralität – und in diesem Zusammenhang seiner außen- und sicherheitspolitischen Möglichkeiten.
83 Vgl. hierzu den Beitrag von Andreas Pudlat in diesem Band. 84 Vgl. Gehler, M. 2005, S. 689. 85 Vgl. Unterberger, Andreas : Österreichs Außenpolitik, in : Österreichisches Jahrbuch für Politik 1990, Wien/München 1991, S. 723–761, hier S. 729. 86 Das Transitproblem spitzte sich vor allem in den Bundesländern Tirol und Salzburg zu. 87 Vgl. Vorwort der Herausgeber 1991, S. 9.
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Österreichs europapolitischer Aufbruch 1987–1995 aus der Sicht des schweizerischen Nachbarn Die Wahrnehmung der NZZ
I. Vorbemerkung Der Zusammenbruch des sowjetischen Imperiums und das damit verbundene Hochgehen des »Eisernen Vorhangs« dürften für Österreich bedeutsamer gewesen sein als die gleichzeitigen Vorgänge im Westen, von der Verabschiedung einer Grundrechtecharta in der Europäischen Union (EU) über die Vorbereitung der Währungsunion bis zum Beschluss, im Hinblick auf das künftige »Maastricht« eine Regierungskonferenz einzuberufen. Beide Arenen waren insofern miteinander verknüpft, als eine große politische Mehrheit in Österreich die EG-Mitgliedschaft möglichst schnell wollte und dies dank der Veränderungen im Osten noch wünschenswerter erschien und auch eher möglich wurde. Ziel der hier vorgestellten Abklärungen ist es, festzustellen, wie Österreichs Positionierungen in den Jahren 1987 bis 1995 aus schweizerischer Sicht beurteilt wurden ; dies in der Absicht, so zu Einsichten zu kommen sowohl zum österreichischen Prozess an sich als auch zur schweizerischen Betrachtungsweise. Ausgehend von der eigenen Interessenlage interessierte man sich in der Schweiz deutlich stärker für Österreichs Annäherung an die EG in der westlichen Arena als für Österreichs Öffnung gegenüber der östlichen Arena. Der »Prozess an sich« muss hier kein Thema sein, weil er bekannt und zum Beispiel von Michael Gehler zuletzt 2009 detailliert dargestellt wurde.1 Der hier erfasste schweizerische Blick auf Österreich ist derjenige des großen Referenzblattes der kleinen Schweiz, der Neuen Zürcher Zeitung (NZZ), bei der die Erfassung der publizierten Artikel vergleichsweise einfach ist. Dennoch war es ein Suchen von Nadeln im Heuhaufen. Verteilt auf rund acht Jahre, sind rund 30 Artikel berücksichtigt worden.2 1 Vgl. Gehler, Michael : Österreichs Weg in die Europäische Union, Innsbruck/Wien/Bozen 2009. Ferner : Schwendimann, Thomas : Herausforderung Europa. Integrationspolitische Debatten in Österreich und in der Schweiz 1985–1989 (Europäische Hochschulschriften Reihe 31 : Politikwissenschaft 236), Bern/Berlin, Frankfurt am Main/New York/Paris/Wien 1993. 2 Wir meinen heute, mittels Elektronik sozusagen alles per Mausklick erfassen zu können, die Retro-
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Eine allgemeinere Frage sei vorweg noch kurz angesprochen : Wer interessierte sich im österreichisch-schweizerischen Verhältnis eigentlich stärker für den anderen ? Gemäß dem Hans Thalberg zugeschriebenen oder mindestens von ihm weitergetragenen Wort der »Rücken an Rücken« lebenden Nachbarn könnten sich beide füreinander recht wenig interessiert haben.3 Jüngere, aber sicher nicht letzte Beispiele österreichischer Auseinandersetzungen mit der Schweiz sind die Aufsätze des österreichischen Botschafters Markus Lutterotti von 1996 und der Botschafterin und späteren Außenministerin Ursula Plassnik von 2004.4 Gibt es dazu schweizerische Pendants ? Wegen der längere Zeit vorherrschenden Überlegenheitsgefühle der schweizerischen Seite könnte das Interesse der Schweiz für Österreich geringer gewesen sein als umgekehrt. Da aber gemäß kleinstaatlichem Narzissmus auch in der Schweiz die generelle Frage wichtig ist, was die ganze Welt oder mindestens die Nachbarn über einen denken, interessiert man sich doch auch ein wenig für das österreichische Schweizbild.5 Die schweizerische Wahrnehmung beziehungsweise Beobachtung war Digitalisierung geht aber im besten Fall bis ins Jahr 1993. Für die Zeit davor ist man – wie im 19. Jahrhundert – auf Karteien angewiesen, sofern es solche überhaupt gibt. In der NZZ gibt es sie, aber sie haben ihre Eigenheiten : Zum einen gibt es ein Register der Wirtschaftsberichterstattung zu den verschiedenen Ländern, also auch zu Österreich. Die so erfasste Berichterstattung zur österreichischen Integrationspolitik wird derart objektiv vermittelt, dass kaum etwas Schweizerisches sichtbar wird, jedenfalls kein explizit schweizerischer Blickwinkel. Zum anderen gibt es ein Register zur schweizerischen Außenhandelspolitik, in der auch die Europapolitik untergebracht ist, denn diese ist in der Schweiz eine wirtschaftliche und keine politische Angelegenheit. Hier kommt eher »Schweizerisches« zum Vorschein. Schließlich wurde noch ein Register berücksichtigt, das mit dem Schlagwort »Österreich« betitelt ist. 3 Vgl. Thalberg, Hans (Hg.) : Österreich – Schweiz : Nachbarn, Konkurrenten, Partner (Forschungsberichte. Österreichisches Institut für Internationale Politik 9), Wien 1988 ; Kreis, Georg : Rücken an Rücken ? Die österreichisch-schweizerischen Beziehungen, in : Kreis, Georg (Hg.) : Nachbarn in Europa. Länderbeziehungen im Laufe der Zeit, Basel 2008, S. 103–114. 4 Vgl. Lutterotti, Markus : Österreich – Schweiz. Nachbarn in Europa, in : Bernhard, Roberto (Hg.) : Unsere Nachbarn am Weg der Schweiz. Einfluß – Austausch – Wandel, Aarau 1996, S. 37–44. Der Verfasser betonte darin natürlich die Gemeinsamkeiten und den vertrauensvollen Dialog ; er hob hervor, dass der österreichische EU-Beitritt das Resultat einer politischen Kultur sei, »der das Agieren im übernationalen Rahmen vertraut ist« (S. 39). Gleiches kann man aber von der distanzierten Schweiz ebenfalls sagen. Hingegen könnte man annehmen, dass man in Österreich wegen seiner dynastischen Vielvölkervergangenheit zur Supranationalität ein anderes Verhältnis hat als die Schweiz. Lutterotti ging übrigens davon aus, dass auch die Schweiz der EU beitreten werde, dass dies nur eine Frage des »wann«, also des Zeitpunkts sei (S. 42). Vgl. außerdem : Plassnik, Ursula : Auf Augenhöhe – in Sichtweite ? Ein Wiener Blick auf das Verhältnis Schweiz – Österreich im neuen Europa, in : Europäische Rundschau 4/32 (2004), S. 5–12. 5 Vgl. Kreis, Georg : Stereotype. Das Bild von sich selbst und das Bild von den anderen, in : Kreis, Georg : Vorgeschichten zur Gegenwart. Ausgewählte Aufsätze, Bd. 2, Basel 2004, S. 501–520. Österreich steht, wie die permanente Ausschau nach der Identität zeigt, der Schweiz diesbezüglich wenig nach.
Österreichs europapolitischer Aufbruch 1987–1995
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stark von der Problematik des eigenen Verhältnisses zur EG bestimmt. Dieses muss hier jedoch nicht dargestellt werden.6
II. Der Aufbruch von 1987/88 Ein wesentlicher Unterschied in den Haltungen der beiden Nachbarn sei gleich zu Beginn festgehalten : Österreich hat sich deutlich früher als die Schweiz auf den »Weg nach Europa« gemacht. Im März 1987 berichtet die NZZ von einer Reise des Außenministers Alois Mock von der Österreichischen Volkspartei (ÖVP) nach Brüssel und von der Absicht, künftig einmal pro Jahr ein Treffen auf Ministerebene abzuhalten und die EG-Delegation in Wien bei der Regierung zu akkreditieren, damit ein zusätzlicher Informationskanal entstehe.7 Analoges fand in der Schweiz nicht statt und wäre undenkbar gewesen. Der Unterschied der beiden Länderhaltungen wurde sichtbar in einem Vortrag, den Mock im gleichen Monat März 1987 in Zürich, der heimlichen Hauptstadt der Schweiz, hielt.8 Mock pries die Europäische Gemeinschaft als Ort der Innovation und der Kreativität und erwartete von Brüssel starke Impulse auf Österreichs stagnierende Wirtschaft. Der NZZ-Berichterstatter bemerkte, dem sehr konzisen und den Zuhörern sehr viel abfordernden Referat merke man an, dass es bei der Europapolitik um einen Schwerpunkt der neuen österreichischen Regierung gehe. Mock wolle diese auf drei Ebenen verfolgen : mit dem »global approach« (d. h. einem umfassenden Lösungsversuch mit einem Ausgleich von Geben und Nehmen), mit bilateralen Verhandlungen und mit den EFTA-Kontakten.9 Aufschlussreich ist das bei diesem Auftritt vermittelte Selbstbild : Österreich als Staat, der nach 1918 nur noch Objekt gewesen und nach 1955 wieder zu einem Subjekt geworden sei ; Österreich als Scharnier zwischen den Blöcken ; Österreich als vormals großer Vielvölkerstaat, jetzt als Kleinstaat, der mit einer Vielfalt gewachse-
6 Nur ein allgemeiner Hinweis auf die jüngste Publikation : Freiburghaus, Dieter/Kreis, Georg (Hg.) : Der EWR – verpasste oder noch bestehende Chance ?, Zürich 2012. 7 EG-Aussenminister erörtern Agrarthemen, in : Neue Zürcher Zeitung vom 19. März 1987, S. 19. 8 Es ist kein Zufall, dass die meisten Auftritte österreichischer Repräsentanten in Zürich stattfanden. Der an sich gängige Ausdruck »heimliche Hauptstadt« wurde gerade in jener Zeit von Hugo Bütler, Chefredaktor der NZZ, thematisiert, zunächst im Opernhaus in einem Vortrag der Rotary-Distriktkonferenz, dann in zwei Teilen in seinem Blatt (Bütler, Hugo : Zürich im Kräftefeld der Eidgenossen. Bemerkungen zum Stichwort ›Heimliche Hauptstadt‹, in : Neue Zürcher Zeitung vom 23. Juni 1989, S. 23 ; zweiter Teil in : Neue Zürcher Zeitung vom 27. Juni 1989, S. 19). Bütler führte aus, dass der Zürcher Historiker H. C. Peyer ebenfalls diese Bezeichnung verwendet habe. 9 Österreich trat am 1. Januar 1994 in den EWR ein ; diese Zugehörigkeit schloss eine Mitgliedschaft in der EFTA nicht aus, und so blieb Österreich auch während der Beitrittsverhandlungen bis zuletzt (also bis zum 31. Dezember 1994) ein »loyales« EFTA-Mitglied, vgl. Gehler, M. 2009, S. 106.
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ner Abhängigkeiten fertig werde ; Österreich, das sich seit 1945 als Teilnehmer im Integrationsprozess Westeuropas verstehe. Der Auftritt im neutralen Nachbarland Schweiz blieb – nicht überraschend – nicht ohne Bekenntnis zur Neutralität. Mock habe keinen Zweifel daran gelassen, so die NZZ, »dass die Grenzen der Integrationspolitik durch die immerwährende Neutralität seines Landes gesetzt seien und dass eine Vollmitgliedschaft Österreichs in der EG nicht aktuell sei«.10 Als sich mit über anderthalb Jahren »Verspätung« auch in der Schweiz eine öffentliche Europadebatte entwickelte, wurde den NZZ-Lesern im Juli 1988 vergleichshalber die österreichische Europapolitik präsentiert. Daraus ging hervor, dass die SPÖ-ÖVP-Koalitionsregierung mit großer Entschiedenheit die Annäherung an die EG vorantrieb, dass sie sich in diesem Vorhaben von der Bevölkerungsmeinung getragen fühlen konnte, dass es leicht unterschiedliche Parteihaltungen gab und dass der allerseits bestehende Wille größer war als die gegebenen Möglichkeiten, weil, wie bereits im Untertitel des Artikels hervorgehoben wurde, die Neutralitätsprobleme noch »unzureichend« geklärt seien. Im Rückblick für den nicht eingeweihten Betrachter überraschend war die Reihenfolge unter den Befürwortern der EG-Integration : die Freiheitliche Partei Österreichs (FPÖ) an der Spitze, gefolgt von Mocks ÖVP und dann erst mit einigem Abstand die Sozialdemokratische Partei Österreichs (SPÖ), die möglicherweise wie der Österreichische Gewerkschaftsbund (ÖGB) einen Verlust an innenpolitischem Einfluss beziehungsweise Macht befürchtete, wenn das eigene Spielfeld Teil des integrierten Europas würde. Bei der Linken, so der Artikel weiter, erklinge das Wort, man solle nicht in Torschlusspanik machen. Die schweizerischen Leser konnten dem Bericht weiter entnehmen, dass der Industriellenverband bereits im März 1987 die EG-Mitgliedschaft befürwortet habe, dass von der EG-Perspektive ein Motivationsschub auf die gegenwärtigen Haltungen ausgehe, dass »mancher Gesprächspartner in Wien« der Meinung sei, die ohnehin notwendigen wirtschaftlichen Anpassungen könnten am besten mit einem »Sprung ins kalte Wasser der EG-Konkurrenz« herbeigeführt werden. Für schweizerische Augen und Ohren wäre auch die anschließende Bemerkung wichtig gewesen : »Zudem werde ein außerhalb der EG bleibendes Österreich seine Souveränität faktisch ohnehin früher oder später verlieren. Diese könne nur innerhalb der Gemeinschaft voll gewahrt werden.«11
10 Österreichs aktivierte Europa-Politik, in : Neue Zürcher Zeitung vom 15./16. März 1987, S. 4 (Hervorhebung im Original). 11 Doelker, Christian : Kernelemente von Österreichs EG-Annäherung, in : Neue Zürcher Zeitung vom 28. Juli 1988, S. 21.
Österreichs europapolitischer Aufbruch 1987–1995
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Abbildung 1 : Auf die Ankündigung der österreichischen Hinwendung zur EG im März 1988 hin wurden in der Schweiz sogleich Verlustängste sichtbar : Die Schweizer Kuh könnte die österreichische Wiese (beziehungsweise den Markt) verlieren. Die Kuh wird als etwas spezifisch Schweizerisches verstanden, als ob es in Österreich und Bayern, im Friaul und im Savoyischen nicht mindestens genauso viele Kühe gäbe.12
Als die schweizerische Regierung im Herbst 1988 ihren ersten europapolitischen Bericht veröffentlichte, bestand offenbar ein gewisses Interesse dafür, wie man diesen in Österreich aufnahm. Der Bescheid lautete, es habe nur ein geringes Echo gegeben, zumal, was durchaus zutraf, wenig Neues darin stehe. Der Generalsekretär der Industriellenvereinigung, Herbert Krejci, bemerkte immerhin, auch in der Schweiz könne die Entwicklung weitergehen und man werde dort vielleicht nicht einmal ungehalten sein, dass Österreich eine Vorreiterrolle spiele.13 In Österreich war ein von der Bundesregierung in Auftrag gegebener integrationspolitischer Bericht nach 12 Das Bild der Kuhschweizer ist bereits im 14. Jahrhundert fassbar und bezieht sich nur indirekt auf die Viehwirtschaft ; es entspringt vielmehr dem von deutschen Landsknechten ausgegangenen Nachbarspott, der den Schweizern Sodomie vorwarf ; ein verketzernder Vorwurf, den katholische Spanier auch gegen südfranzösische Protestanten einsetzten. Vgl. dazu : Sieber-Lehmann, Claudius/Wilhelmi, Thomas : In Helvetios – Wider die Kuhschweizer. Fremd- und Feindbilder von den Schweizern in antieidgenössischen Texten aus der Zeit von 1386 bis 1532 (Schweizer Texte N. F. 13), Bern 1998, S. 8 (Dok. Kreis : St. Galler Tagblatt vom 24. Januar 1988). 13 Graber, Karl : Österreichische Stimmen zum Integrationsbericht, in : Neue Zürcher Zeitung vom 19. September 1988, S. 19.
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eineinhalbjähriger Arbeit schon vor über einem Jahr, im Juni 1987, erschienen. Und dieser war zu dem Schluss gekommen, dass, wie man auch in der NZZ vom Sommer 1988 lesen konnte, eine »volle umfassende Teilnahme am EG-Binnenmarkt unter Einbezug der agrarischen Interessen« keine unüberwindbaren Probleme aufwerfen würde.14 Von österreichischer Seite konnte man Verständnis dafür vernehmen, dass die Schweiz nicht so schnell voranging, weil sie wesentlich mehr europa- und weltweit operierende multinationale Großunternehmen habe.15 Im Herbst 1988 erschien ein großer Abschiedsartikel des Wien-Korrespondenten Rudolf Stamm, in dem aber nur am Rande auf die uns hier interessierenden Fragen eingegangen wurde. Es wurde einzig etwas maliziös bemerkt, dass Franz Vranitzkys Zurückhaltung in der Frage eines österreichischen EG-Beitritts berechtigt erscheine, obwohl sein Stellvertreter und Außenminister Mock diesen bereits »als Notwendigkeit dekretiert, bevor eine landesweite Diskussion darüber stattgefunden hat«.16
III. Ein kurzer Blick in den Osten Das »Wendejahr 1989« findet sich in der NZZ nicht, wie vielleicht erwartet, abgebildet. Jedenfalls wird in einer ersten Phase die Öffnung der Ostgrenze kaum thematisiert. Das international bekannte Bild, das die beiden Außenminister Alois Mock und Gyula Horn beim Durchschneiden des Stacheldrahts zeigt, fand zwar auch in der an sich nicht bildfreundlichen NZZ einen Platz, es gab dazu aber auch in den folgenden Tagen keinen Artikel. Die Bildlegende beschränkte sich darauf, beizufügen, dass Horn zu einem Arbeitsbesuch in Wien weile.17 Der Leitartikel zum Jahresende kommentierte selbstverständlich die »Wende« und befasste sich ausführlich mit deren Bedeutung für die »Völker Osteuropas«, aber nicht für Österreich. Insofern, als doch noch ein Blick auf Teile des Westens geworfen wurde, galt er den deutschen und nicht den österreichischen Verhältnissen.18 Mit einer Zeitverschiebung von einem Vierteljahr tauchen dann aber zwei gewichtige Artikel auf, die im Frühjahr 1990 nach der Wiederbelebung der vormals 14 Doelker, Christian : Kernelemente von Österreichs EG-Annäherung, in : Neue Zürcher Zeitung vom 28. Juli 1988, S. 21. 15 Ebd., bezogen auf eine Rede Vranitzkys vom April 1988. 16 Stamm, Rudolf : Österreich im Rückblick. Stärken und Schwächen eines zentraleuropäischen Kleinstaats, in : Neue Zürcher Zeitung vom 4./5. September 1988, S. 5. 17 Graber, Karl : Österreichs BIP-Expansion über dem OECD-Mittel, in : Neue Zürcher Zeitung vom 29. Juni 1989, S. 17. In der gleichen Ausgabe gab es aber Platz für einen größeren Artikel zur »Lucona«Affäre als Sittenbild. 18 Cattani, Alfred : Die Wende von 1989, in : Neue Zürcher Zeitung vom 31. Dezember 1988/1. Jänner 1989, S. 1.
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»toten Grenzen« Österreichs Verhältnis zum nun »offenen Osten« thematisieren. Anlass für den ersten Beitrag war offenbar ein Auftritt slowakischer Schriftsteller in Wien. Diese beklagten sich über die seit Langem bestehende Asymmetrie, die darin bestehe, dass diejenigen, die nicht reisen konnten, weil im Osten lebend, sich für den Westen mehr interessierten als umgekehrt diejenigen, die, weil aus dem Westen, reisen konnten. Im Westen habe man sich an die Trennung gewöhnt, während man, was gemeint war, aber nur angedeutet wurde, im Osten an ihr gelitten habe. Die »Drehscheibenfunktion« sei bloß ein gängiges Wiener Klischee. Und : »Selbst das in den intellektuellen Zirkeln (unter den verschiedenen Vorzeichen) seit ein paar Jahren kultivierte ›neue Mitteleuropa-Bewusstsein‹ hatte den Horizont nicht wesentlich erweitert ; es diente zu einem großen Teil lediglich einer austrozentrischen Imagepflege vom ›größeren Österreich‹. Und es litt letztlich an den gleichen Schwächen wie jenes untergegangene ›größere Österreich‹ : Es nahm Tschechen und Slowaken (und deren Kulturen) nicht für voll.«19
Der Autor des Artikels stimmte dieser Defizitdiagnose voll zu und bemerkte mit eigenen Worten, die österreichischen Politiker hätten, während der private Einkaufstourismus bereits in beide Richtungen Hochkonjunktur habe, erstaunlich wenig Konzeptionen entwickelt, wie sie den »Zukunftsraum« entwickeln wollten ; man improvisiere und sei von Unterlassungssünden und Vorgriffen aus einer Zeit geprägt, da man sich eine tatsächliche Drehscheibenfunktion Wiens gar nicht mehr vorstellen konnte. »Erst jetzt entdecken auch die Politiker, die sich verbal jahrzehntelang für Ost-WestBrückenbauer gehalten hatten, dass Wien nichts anderes als Bestandteil einer jener ›Europaregionen‹ ist der grenzüberschreitenden, einheitlichen europäischen Entwicklungsregionen nach Art der schweizerisch-französisch-deutschen ›Regio basiliensis‹.«20
Der zweite Beitrag stammte aus der »Feder« des ordentlichen Korrespondenten und entstand anlässlich der Aufhebung von Visums- und Zwangsumtauschregelungen. Auch er relativierte naive Selbstidealisierungen. Wien könne zwar zusammen mit Budapest »geltend« machen, Anteil an den Umbrüchen zu haben, welche die Staaten 19 Meyer, Arthur : Wiens neu-altes Umfeld im Norden und Osten. Angerostete Drehscheibe ?, in : Neue Zürcher Zeitung vom 28. März 1990, S. 5 (Hervorhebung im Original). Die Slowaken beklagten sich auch darüber, dass man generalisierend von »Tschechei« rede und die Slowakei »kurzerhand« als »Beemen« bezeichne. Berichtet wurde auch über die Auftritte von Jan Zabor von Petrzalka und seinem Kollegen Anton Hykisch. Arthur Meyer könnte ein NZZ-externer Verfasser gewesen sein. 20 Meyer, Arthur : Wiens neu-altes Umfeld im Norden und Osten. Angerostete Drehscheibe ?, in : Neue Zürcher Zeitung vom 28. März 1990, S. 5.
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zwischen Ostsee und Donauraum zu erneuern im Begriff seien. Aber eine Umschreibung der Position, die Österreich im Donauraum realistischerweise werde einnehmen können, bereite Wien noch Mühe. Mit einer Plötzlichkeit, die auch hierzulande niemand erwartet habe, sei Österreich gewissermaßen vom äußersten östlichen Rand wieder in die Mitte Europas gerückt, sei selbst wieder Mitteleuropa, ja gar dessen »Herzstück« geworden. Aber es habe sich bald herausgestellt, dass man keineswegs davor gefeit sei, »wieder an den Rand hinaus gerückt zu werden«. Die Öffnung habe auch Spuren der Entfremdung offenbart, zudem träten die Zentren Budapest und Prag als Konkurrenten Wiens auf und könnten mit günstigeren Preisen aufwarten. Der Korrespondent registrierte und referierte vorhandene Mitteleuropa-Träume, er bezog sich insbesondere auf Botschafter Johann J. Dengler, der sich vor dem Hintergrund eines »wieder möglich erscheinenden neuen eigenbrötlerischen Durcheinanders von Kleinstaaten im Donauraum« für einen Vereinigten Donau-Bundesstaat von an die 100 Mio. Einwohnern ausgesprochen habe. Der NZZ-Korrespondent hielt dem entgegen, dass die Zweite Republik in einem solchen Staatenbund zweifellos ein Fliegengewicht wäre. Sie könne zwar etwas Know-how, aber kaum Finanzhilfen bieten. Prag und Budapest würden statt eines »Zusammenschlusses von Blinden und Lahmen« die Verbindung mit der einzigen Potenz suchen, die zähle, nämlich mit der EG. Deshalb wäre die österreichische Regierung gut beraten, jetzt ihren Beitrittsprozess so weit als möglich zu beschleunigen. Dabei könne es gegenüber dem Westen seine »historischen Erfahrungen und Verbindungen« mit den Nachbarländern in Mittel- und Osteuropa als zusätzliches Argument einbringen.21
IV. Weitere Etappen der Westintegration Ein besonders wichtiger Meilenstein im österreichischen Annäherungsprozess an die EG war der 17. Juli 1989 mit der Übergabe des Aufnahmegesuchs an den Ratsvorsitzenden in Brüssel. Selbstverständlich schaffte es dieser Schritt mit einem großen Bericht auf die Frontseite der NZZ. An die schweizerische Leserschaft gerichtet wurde betont, dass das Beitrittsprozedere noch lange dauere und die eigentlichen Verhandlungen auch nach österreichischer Einschätzung nicht vor 1993 beginnen würden. Außenminister Mock habe betont, dass Österreich bis zum EU-Beitritt ein loyales und aktives EFTA-Mitglied bleiben und darum (gemäß Luxemburger Prozess) sektorielle Lösungen anstreben werde.22 Der in der gleichen Ausgabe mitgelieferte Kom21 Graber, Karl : Österreich in einem veränderten Europa. Ungewisse Rolle Wiens in einem offenen Donauraum, in : Neue Zürcher Zeitung vom 12. April 1990, S. 5. 22 Meier, Walter : Antrag Österreichs auf EG-Mitgliedschaft, in : Neue Zürcher Zeitung vom 19. Juli 1989, S. 1. Dem waren zwei Berichte von Karl Graber aus Wien vorausgegangen : Graber, Karl : Wiener Na-
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mentar konnte es sich nicht versagen, Österreich aus der EFTA-Perspektive, die ja auch die schweizerische war, andeutungsweise mit dem Überläufervorwurf zu konfrontieren : Österreich sei nicht mehr ganz »glaubwürdig«, wenn von weiteren Integrationsvorhaben (der EFTA) die Rede sei. Es sei nun nicht Bern, das aus dem EFTARahmen ausbreche, sondern Wien. Im Weiteren erinnerte der Kommentator gerne an die innerösterreichischen Unstimmigkeiten. Zudem konnte er es sich nicht verkneifen, an alte Skandale zu erinnern – »vom gesüßten Wein über Waldheim zu Proksch/›Lucona‹ und illegalen Waffenlieferungen« – ; zudem werde mit der EGFrage von der Diskussion um Bundespräsident Kurt Waldheim abgelenkt. Andererseits erkannte er die »anhaltende günstige Wirtschaftsentwicklung«, die »bemerkenswerte« Steuerreform und die ersten Schritte zur Sanierung des Staatshaushalts sowie der verstaatlichten Industrien an. Die Neutralitätsfrage wurde nicht aus einer spezifisch schweizerischen Position thematisiert, sondern als Anliegen des österreichischen Bundeskanzlers referiert und vom linken Flügel der SPÖ gesagt, dass ihr die Neutralität als Pfeiler der Brückenfunktion zwischen Ost und West wichtig sei.23
Abbildung 2 : »Also wenn wir hinaufsteigen – nicht ohne unser Boot !« In der Schweiz wie in Österreich wurde die Neutralität lange Zeit als unverzichtbares Gut gewertet. Diese Einschätzung von 1988 verlor aber mit und nach der Wende an Bedeutung.24 tionalratsdebatte über den EG-Beitritt, in : Neue Zürcher Zeitung vom 1. Juli 1989, S. 2 ; Graber, Karl : Österreichs »Brief an Brüssel«, in : Neue Zürcher Zeitung vom 6. Juli 1989, S. 3. 23 Doelker, Christian : Wiens Brüsseler Wagnis, in : Neue Zürcher Zeitung vom 19. Juli 1989, S. 3. 24 Hans Geisen, in : Basler Zeitung vom 3. Februar 1988, S. 2 (Dok. Kreis).
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Andere Pressestimmen waren positiver. Nicht in der NZZ, sondern in der ebenfalls freisinnig ausgerichteten Solothurner Zeitung wurde die enge Verbundenheit der beiden Nachbarn betont und erklärt, dass »uns die Bemühungen der nachbarlichen Alpenrepublik nicht unberührt lassen« können. Und Österreich etwas beneidend, wurde weiter ausgeführt : »Auch jetzt sitzen wir auf der Zuschauerbank und hoffen, dass das ›Stück EG‹, das für 1992 inszeniert wird, ohne uns, auch wenn wir keine aktive Rolle spielen wollen, schließlich nicht auskommen kann. Hoffentlich gibt es aus dem Sonderfall-Traum kein böses Erwachen.«25 Weitere substanzielle Äußerungen gab es erst wieder 1990, dann aber in deutlicher Dichte. Im Sommer 1990 hatte Mocks stellvertretender Kabinettschef, der Völkerrechtler und Umweltjurist Winfried Lange, einen Auftritt an der Eidgenössischen Technischen Hochschule (ETH) in Zürich. Dass die NZZ unter dem Titel »Österreichs Stellung in Europas Integration« ausgiebig darüber referierte, zeigt das Interesse, das man wohl weniger dem Referenten als dem Thema entgegenbrachte. Noch immer ging es um die Frage, wie Österreich die als »zweigleisig« bezeichnete EFTA-Mitgliedschaft und EU-Kandidatur kombinieren wollte. Lange verwies gerne darauf, dass die EFTA vor 1973 und vor 1986 eine solche Situation schon zweimal erlebt habe, als Großbritannien, Dänemark und dann Portugal »an ihren Beitrittsabkommen feilten«. Jetzt rückte auch die Frage in den Vordergrund, wie Österreich sich zu dem inzwischen zu einem allgemein diskutierten Projekt gewordenen Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) verhielt. Der EWR sei – auf die EU-Mitgliedschaft bezogen – »Anzahlung und Vorgriff«. Wie zu erwarten, ging es nicht ohne Stellungnahmen zur Neutralitätsfrage und zum Verhältnis zum östlichen Europa. In der einen Frage waren Hoffnung und Anspruch, einen Sonderstatus zu bekommen, bei Lange groß : Österreich solle im Falle von Boykottmaßnahmen freigestellt werden und eine Sonderhaltung einnehmen, wie man dies in anderen Fällen den großen EU-Mitgliedern ebenfalls gestatte. Und bezüglich des östlichen Europas gab der Referent an, er würde es begrüßen, wenn die EFTA den »Mitteleuropäern« ein Assoziationsverhältnis anbieten würde.26 Wenige Wochen später hatte Langes Chef, Außenminister Mock, einen eigenen Auftritt in Zürich, und zwar in der Volkswirtschaftlichen Gesellschaft, und die NZZ war wiederum mit ihrem für Österreich zuständigen Redakteur anwesend. Mock aber war nicht gekommen, um von der EFTA und auch nicht vom Verhältnis zur Schweiz zu reden, sondern sehr ausführlich von der »neuen Völkerwanderung« aus dem Osten, die Österreich zu schaffen mache und dazu geführt habe, dass das Heer eingesetzt wurde. Nach der Schätzung der Regierung handelte es sich um rund 130.000 vorwie25 Frangi, Bruno : Österreich und wir …, in : Solothurner Zeitung vom 18. Juli 1989. 26 Doelker, Christian : Österreichs Stellung in Europas Integration, in : Neue Zürcher Zeitung vom 5. Juli 1990, S. 4.
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gend aus Polen und Rumänien eingereiste »Freilandgäste«. Mock zeigte Verständnis dafür, dass die eigene Bevölkerung ihr Land nicht als Durchgangs- und Endstation für »Millionen« (im Lauf der Jahrzehnte) beansprucht haben wolle. Man müsse wegen der bevorstehenden erleichterten Abgabe von Pässen an Sowjetbürger mit einer weiteren Welle von Wirtschaftsflüchtlingen »größten Ausmaßes« rechnen. Der Zürcher Redakteur gab in seinem Bericht etwas Gegensteuer und bemerkte : »Man fühlt sich bei Mocks Skizzierung der Lage an die Türkenbelagerung vergangener Zeiten erinnert«, und erklärte ungerührt, diese Zuwanderung gehöre eben zu der »sonst beanspruchten« Brückenfunktion. Der Bericht zeigte aber auch, dass sich vor allem innenpolitische Rücksichten aufdrängten und Mock durchaus Verständnis für die Ambitionen der Zuwanderer aufbrachte. Er sprach sich engagiert für Osthilfe aus, damit nicht aus dem »früheren Kerker Europas über längere Zeit das Armenhaus Europas« werde.27 Wenige Wochen später fand ein dritter Auftritt eines österreichischen Spitzenpolitikers statt : Bundeskanzler Vranitzky hielt nach »intensiven« Gesprächen in Bern einen Vortrag, wiederum in Zürich (wohl am Schweizerischen Institut für Auslandforschung), über den die NZZ wieder ausführlich berichtete. Fünf Themen wurden angesprochen oder besprochen : 1. Österreichs EFTA-Mitgliedschaft mit dem wörtlich zitierten Versprechen, bis zur EU-Mitgliedschaft alle seine Verpflichtungen als Gründungsmitglied pünktlich und mit festem Engagement zu erfüllen. Vranitzky stand kurz vor der Übernahme des EFTA-Präsidiums am 1. Januar 1991. 2. Der EWR, der kein eigentliches Ziel, sondern nur eine Vorstufe zur EU sei und wohl keine Mitbestimmung in EU-Angelegenheiten zulasse. 3. Die ausgiebig erörterte Neutralität, die nie als Selbstzweck und als Auftrag zur Distanzierung, sondern umgekehrt als Auftrag zum positiven Engagement verstanden worden sei ; für die EU sei Österreichs Neutralität entweder deckungsgleich oder komplementär. 4. Die Notwendigkeit der »Osthilfe«, die auch mittel- und längerfristig nötig sei und international koordiniert werden müsse. 5. Schließlich der Nord-Süd-Transit und die Erwartung, dass Brüssel den beiden »Alpenrepubliken« innert nützlicher Zeit ein »vernünftiges« Transportabkommen anbieten werde.
V. Und immer wieder : die Neutralität Die nächsten erwähnenswerten Berichte erschienen erst wieder im Jahr 1992. Im Juni 1992, die Schweiz war mittlerweile selbst von der Integrationsproblematik er27 Doelker, Christian : Österreich und die neue Völkerwanderung, in : Neue Zürcher Zeitung vom 15. September 1990, S. 3. Im Vorjahr spielte das Blatt mit dem Begriff des »Türkensturms« im Zusammenhang mit einer Häufung von türkischen Asylsuchenden am Flughafen Schwechat, vgl. [Reuter] : Türkensturm auf Wien, in : Neue Zürcher Zeitung vom 29. März 1989, S. 5.
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fasst und seit ein paar Wochen ebenfalls Beitrittsanwärterin, wurde gleich eingangs in einem mit »Verwirrende EG-Politik Österreichs« überschriebenen längeren Bericht aus Wien festgehalten, dass die Animatoren der österreichischen EG-Politik in den letzten Wochen wenig Freude gehabt hätten : »Die Schlag auf Schlag folgenden Aufnahmegesuche der anderen neutralen EFTAStaaten und vor allem der rasche Entscheid der Schweiz haben Österreichs erhofften Vorsprung im ›Europa-Rennen‹ zunichte gemacht. Anstatt einzeln und im Sonderabteil wird man nun im Konvoi in Richtung Brüssel gefahren.«28
Das dänische Nein zu Maastricht habe einen weiteren Dämpfer gebracht, doch : Außenminister Mock, »der die österreichische EG-Lokomotive stets unter Dampf hält und es medienwirksam versteht, bei den EG-Staaten sich die großen Sympathien für Österreichs Beitritt immer wieder neu bestätigen zu lassen«, habe seinen Optimismus nicht eingebüßt. Erwartungsgemäß war wiederum ausgiebig von der Neutralität die Rede. Im jüngsten Memorandum werde bewusst auf die Nennung des Neutralitätsvorbehalts verzichtet. Wien versuche, sich zumindest formell den im Konvoi mitfahrenden Schweden und der Schweiz anzupassen, die ihr Beitrittsschreiben nicht mit der Neutralitätsreserve belasten wollten. Mock habe erklärt, dass vor drei Jahren die weltpolitischen Bedingungen noch ganz anders gewesen seien und man heute auf diesen Vorbehalt verzichten würde. Dem halte der Bundeskanzler aber entgegen, dass man sich noch immer »klar und unmissverständlich« zur Neutralität bekenne. Als dritte gewichtige Stimme wurde der Vizekanzler, Bundesminister für Wissenschaft und Forschung und Obmann der ÖVP Erhard Busek zitiert, der sich für den »Abschied von der Neutralität« ausgesprochen und erklärt habe, dass sie ihren »Adressaten« verloren habe. Wegen der erweiterten Handlungsmöglichkeiten meinte Busek zufrieden, Mock sei der erste Außenminister der Republik, der »dies auch tatsächlich ist«. Jetzt sei nicht mehr Paktfreiheit, sondern kollektive Sicherheit nötig, man könne zwischen »Chaos«, womit mögliche Bedrohungen aus dem Osten gemeint waren, und Sicherheit nicht neutral bleiben. Der Berichterstatter hatte den Eindruck, Busek spiele mit dem Chaos-Wort auf neue Ängste an, die helfen sollten, die älteren Ängste vor der EG zu überwinden.29 Zum Schluss kam in diesem Bericht 28 Kroner, Dieter : Verwirrende EG-Politik Österreichs, in : Neue Zürcher Zeitung vom 13./14. Juni 1992, S. 3. 29 Über Buseks Haltung gegenüber den östlichen Nachbarn gaben ein im Februar 1994 in Zürich gehaltener Vortrag und eine ausführliche Berichterstattung der NZZ Auskunft. Er rief zur Verantwortung für die Nachbarn auf (inzwischen waren die Kriege in Ex-Jugoslawien ausgebrochen) und kritisierte die Haltung, welche die Konfliktbewältigung den Amerikanern überlassen wolle. Zudem müsse man in Westeuropa mehr Verständnis gegenüber einem Osteuropa haben, das Ordnung in die vom Kommu-
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Vranitzky nochmals zu Wort, der Buseks »Ausflug« in die Außenpolitik als »individuelle Meinung« zurückstufte und versicherte, dass Österreich als EG-Mitglied von der Neutralität so viel als möglich bewahren wolle.30 Im September 1992 konnten sich die NZZ-Leser über die EWR-Ratifizierungsdebatte im österreichischen Nationalrat informieren. Als ob man die Belanglosigkeit dieses Geschäfts noch habe unterstreichen wollen, bemerkte der Korrespondent, habe man sich zwischendurch noch mit dem Verkauf eines Donauschiffs beschäftigt. Für schweizerische Ohren oder Augen, die ebenfalls mit Kontinuitätsparolen beruhigt wurden, mochte es bekannt erschienen sein, wenn Wirtschaftsminister Wolfgang Schüssel erklärte, dass die EWR-Teilnahme kein Sprung ins kalte Wasser sei ; sie bedeute eine kontinuierliche Fortsetzung der bisherigen Integrationspolitik des Landes.31 Die Bürger der Schweizerischen Eidgenossenschaft konnten sich dagegen privilegiert vorkommen, weil sie wussten, dass sie zum EWR das letzte Wort haben würden, während den Österreichern das gleiche Recht nicht zugestanden wurde, obwohl 127.000 Bürger eine Abstimmung verlangt hatten.32 Einen Monat später, im Oktober 1992, gab ein Bericht aus Wien »brisante« Umfragewerte bekannt. Sie zeigten, dass bei der österreichischen Bevölkerung gegenüber der EU eine beträchtliche Skepsis herrschte. Dies entspreche zwar einem gesamteuropäischen Trend, stehe aber im Widerspruch zur früheren Selbsteinschätzung, die davon ausging, dass man die Maastrichter Verträge deutlich besser unterstütze als die Dänen und die Franzosen.33 Das schweizerische EWR-Nein vom 6. Dezember 1992 hatte offenbar eine gewisse Auswirkung auf Österreich und gab insbesondere den EU-Skeptikern und -Gegnern Auftrieb. So forderte der FPÖ-Chef Jörg Haider sogleich eine nochmalige Beratung im Nationalrat und darüber hinaus vorweg eine konsultative Volksbefragung zum Vollbeitritt. Bei der Regierung habe das schweizerische Nein einen »schweren Schock« ausgelöst und sie einen Moment verstummen lassen. Der Berichterstatter bemerkte : nismus geschaffene Unordnung bringen müsse. Vgl. Doelker, Christian : Fragen Vizekanzler Buseks an die Politik. »Österreichs Nachbarschaft«, in : Neue Zürcher Zeitung vom 9. Februar 1994, S. 7. 30 Kroner, Dieter : Verwirrende EG-Politik Österreichs, in : Neue Zürcher Zeitung vom 13./14. Juni 1992, S. 3. 31 Gemäß Gehler kann man auch diesen Schritt der Kontinuität zuordnen oder als Bruch deuten, vgl. Gehler, M. 2009, S. 109. 32 Kroner, Dieter : Ratifizierung des EWR-Vertrags durch Österreich, in : Neue Zürcher Zeitung vom 24. September 1992, S. 2. Im Bundesland Salzburg wurde offenbar für eine Bürgerinitiative gegen den EWR gesammelt und es bestand die Hoffnung, in anderen Bundesländern ähnliche Unterschriftensammlungen auszulösen. 33 Kroner, Dieter : Starke EG-Skepsis in Österreich, in : Neue Zürcher Zeitung vom 13. Oktober 1992, S. 5.
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»Die Gefahr, dass sich die Regierung mit ihrer konsequenten Europapolitik zusehends in die Isolierung hineinmanövriert, hat sich durch das Schweizer Nein zum EWR zweifellos stark erhöht. Der Kanzler sieht freilich noch kein[en] Anlass zur Beunruhigung. Bis zur Volksabstimmung über den EG-Beitritt, auf die es schließlich alleine ankomme, habe man noch genügend Zeit, die gegenwärtige Europaskepsis zu überwinden und die Bevölkerung zu überzeugen.«34
Das Jahr 1993 brachte vor allem Berichte im Rahmen des Üblichen, einmal über »Wiens behutsame[s] Festhalten an der Neutralität«, ein andermal über Bundespräsident Thomas Klestils Absage an die Neutralität.35 Etwas außerhalb lag der zum Jahresbeginn verfasste und auf der Frontseite platzierte Kommentar zum »Missbrauch der Angst vor Fremden«.36 Substanziell ist der NZZ-Kommentar vom Juni 1994 zum eindeutigen Ja in der Volksabstimmung über den EU-Beitritt Österreichs. Es klang nach Anerkennung in Kombination mit leisem Neid, wenn er feststellte, der Entscheid drücke Optimismus und Regierungstreue aus, was zusammen mit der hohen Abstimmungsbeteiligung auffällig kontrastiere »mit dem Kleinmut und den Ermüdungserscheinungen in der alterprobten Demokratie der Schweiz«. Und : Die Schweiz sei wirtschaftlich jahrzehntelang sehr viel enger mit der EG verknüpft gewesen, mithin jetzt von Österreich überholt worden. Die Abstimmung würdigte der Kommentator als Vorgang, der erstmals in der Geschichte den Österreichern und Österreicherinnen gestattete, selbst zu beschließen, dass ihre Zukunft in einem supranationalen, freiheitlichen, sicherheitspolitischen Rahmen liege. Für die ostmitteleuropäischen Staaten werde Wien nun unweigerlich ein noch wichtigerer Partner, und dieses könne seine alte Brückenfunktion noch besser wahrnehmen. Die Integration dieser Nachbarn sei aber ambivalent, bringe sie Österreich doch auch bisher ungewohnte wirtschaftliche Konkurrenz.37 Am Jahresende 1994 berichtete das Blatt in allgemeiner Weise vom bevorstehenden Ausscheiden der drei EFTA-Mitglieder Österreich, Finnland und Schweden. Es 34 Kroner, Dieter : Schwierige Lage für Wien nach dem Schweizer Nein, in : Neue Zürcher Zeitung vom 8. Dezember 1992, S. 1 f. 35 Doelker, Christian : Behutsames Festhalten Wiens an der Neutralität, in : Neue Zürcher Zeitung vom 12. Mai 1993, S. 7 ; Klestils Absage an Österreichs Neutralität, in : Neue Zürcher Zeitung vom 29. September 1993, S. 3. 36 Doelker, Christian : Missbrauch der Angst vor Fremden, in : Neue Zürcher Zeitung vom 30. Januar 1993, S. 1. 37 Doelker, Christian : Vorreiterrolle Österreichs in Europa, in : Neue Zürcher Zeitung vom 13. Juni 1994, S. 3 ; Kroner, Dieter : Eindeutiges Ja für einen EU-Beitritt in Österreich, in : Neue Zürcher Zeitung vom 13. Juni 1994, S. 1. Drei Wochen zuvor gab es einen großen Bericht über die Zustimmung des Nationalrats mit 140 : 35 zum Bundesverfassungsgesetz zum EU-Beitritt, vgl. Kroner, Dieter : Österreichs Parlament stimmt dem EU-Beitritt zu, in : Neue Zürcher Zeitung vom 6. Mai 1994, S. 1 f.
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sei bei den Organisationsdiensten jetzt ein Schrumpfungsprozess zu erwarten, andererseits werde die EFTA versuchen, ihre Drittländerbeziehungen auszubauen.38 Im Juni 1994 hatte Bundespräsident Klestil in der Schweiz (wiederum in Zürich am Institut für Auslandforschung) einen größeren Auftritt. Er beteuerte, der Schweiz keine Ratschläge erteilen zu wollen, gab ihr aber dennoch deutlich zu verstehen, welche Haltung sie einnehmen müsste : »Ich bin überzeugt, dass es weit sinnvoller ist, an der Gestaltung des künftigen Europa aktiv teilzunehmen, als dem Neuaufbau dieses Kontinents aus sicherer, aber letztlich einflussloser Distanz zuzusehen.« Und : »Wer in der europäischen Einigung noch immer eine unsichere Entdeckungsfahrt in unbekannte, stürmische Gewässer sieht, der hat die Dynamik der europäischen Integration noch nicht erkannt.« Als eine Art Gegenstück publizierte die NZZ gleich darunter eine Rede, die der schweizerische Botschafter in Österreich, der aus der französischen Schweiz stammende François Pictet, etwa zur gleichen Zeit anlässlich der Generalversammlung der Schweizerischen Handelskammer in Österreich in Linz gehalten hatte. Bemerkenswert freimütig erklärte dieser, die Trennung durch das Abseitsstehen der Schweiz dürfte nur vorübergehend sein. Das Beispiel Österreich werde die Schweizer davon überzeugen, »dass auch sie ihren Platz im neuen geeinten Europa einnehmen können«.39 Im Januar 1995 gab es wieder einen größeren und die bilateralen Beziehungen betreffenden Bericht, als Bundeskanzler Vranitzky, wie es Tradition war, nach der Neukonstituierung der Regierung seinen ersten Besuch erneut der Schweiz abstattete. Neu an dieser Situation war, dass Österreich jetzt EU-Mitglied war und die Beziehung, wie die Überschrift festhielt, eine »freundschaftliche Nachbarschaft mit getrennten Wegen« war. Jetzt kam aber die Vorstellung auf, dass Österreich in der EU als Anwalt der Schweiz auftreten und für Verständnis und Entgegenkommen werben könnte.40 Der Bundeskanzler erklärte jedoch, dass die Beziehungen zur Schweiz nicht weniger wichtig, sondern im Gegenteil noch wichtiger würden, zudem sei Österreich auch aus eigenem Interesse an erfolgreichen Verhandlungen der Schweiz mit der EU interessiert.41 38 Kroner, Dieter : Schwächen der neuen Koalition in Wien, in : Neue Zürcher Zeitung vom 14. Dezember 1994, S. 5. 39 Etwa ganzseitig Auszüge aus der Rede vgl. Österreich und die Schweiz – gute Nachbarn in Europa, in : Neue Zürcher Zeitung vom 3./4. September 1994, S. 89. 40 Das wurde auf der schweizerischen Seite schon im September 1994 so gesehen. Anerkennend wurde vermerkt, dass sich Vizekanzler Busek an den EU-Ratssitzungen, an denen er schon damals teilnahm, sogleich dafür ausgesprochen hatte, die Schweiz in die gemeinsamen Forschungsprogramme einzubeziehen. Vgl. Doelker, Christian : Berns Vettern in Berlin, in : Neue Zürcher Zeitung vom 3./4. September 1994, S. 89. 41 Marti, Urs : Österreichs Bundeskanzler Vranitzky in Bern. Freundschaftliche Nachbarschaft mit getrennten Wegen, in : Neue Zürcher Zeitung vom 18. Januar 1995, S. 13.
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Die Ende Januar 1995 vermittelte Beschreibung der Verhältnisse in Österreich kontrastiert markant zu der ein halbes Jahr zuvor abgegebenen Schilderung der Euphorie vom Juni 1994. Wörtlich : »Die Jubel- und Aufbruchstimmung im Zusammenhang mit dem EU-Beitritt hat sich, falls sie überhaupt jemals existierte, verflüchtigt. […] Die Ernüchterung, der Katzenjammer nach dem Fest, ist unverkennbar. Schuld trifft dabei nicht zuletzt die Regierung, die mit dem peinlichen Gerangel um die Posten in Brüssel und mit dem Gezänk über die Politik in der Gemeinschaft die Rolle Österreichs in der EU selber arg beschädigt und auch die Bevölkerung kopfscheu gemacht hat. […] Es überrascht denn auch nicht, wenn die Zahl derer größer wird, die den Segnungen der EU, von denen die Regierung immer gesprochen hat, mit wachsender Skepsis oder doch zumindest illusionslos gegenübersteht.«42
Dass in Österreich die EU-Bäume nicht gleich in den Himmel schossen, dürfte die schweizerischen Leser, sofern sie sich überhaupt auf eine vergleichende Optik einließen, beruhigt haben.
VI. Fazit Die Schlussfolgerung dieser Abklärungen ist banal und betrifft zugleich Essenzielles : Der Integrationsprozess ist ein hochkommunikativer Vorgang mit auf Austausch und Verständigung zielenden Aussagen in alle Richtungen – vereinfacht gesagt, nach innen wie nach außen und mit Aussagen über das Innere nach außen und über das Äußere nach innen. Die legendäre österreichisch-schweizerische Partnerschaft, die vor allem in der offiziellen Rhetorik stattfindet und sich zum Teil auch darin erschöpft, hebt sich nicht besonders ab vom intensiver gewordenen multilateralen Austausch im gesamteuropäischen Rahmen.
42 Kroner, Dieter : Österreich im schwierigen EU-Alltag, in : Neue Zürcher Zeitung vom 28./29. Januar 1995, S. 22. Das Bild änderte sich bis zum Jahresende nicht : Graber, Karl : Österreichs EU-Beitritt gerät zum Fehlstart, in : Neue Zürcher Zeitung vom 8. Dezember 1995, S. 25.
Miroslav Kunštát
Die Tschechoslowakei und Österreich vor dem Umbruch 1989/90
I. Einführung Die eher aus praktischen und didaktischen Gründen als historische Wendepunkte beziehungsweise Umbrüche, Umbruchsjahre usw. bezeichneten Zeitabschnitte und Ereignisse haben eine starke symbolische Funktion. Das gilt auch für die Jahre 1989/90, in denen die früheren komplexen Wandlungsprozesse eine sichtbare Vollendung und eine klare, unumstrittene, ja sogar »spektakuläre« Neuausrichtung erfuhren. Erst mit größerem zeitlichem Abstand und mit der Ablösung der die öffentliche Erinnerung prägenden »Erinnerungskohorten« konzentriert sich die Aufmerksamkeit der Historiker und Politikwissenschaftler auf den Geschichtsfluss vor und nach den griffigen historischen Zäsuren, um die Kausalitäten jener Umbrüche zu erörtern sowie die nicht immer sichtbaren Kontinuitäten und Langzeittendenzen zu erfassen. Dies gilt auch für das komplizierte Beziehungsgeflecht der Tschechen bzw. Slowaken zu ihren Nachbarn.1 Das Verhältnis zu den beiden wichtigen »westlichen« Nachbarn Deutschland und Österreich wurde (obwohl die ehemalige DDR im politischen Osten lag und die österreichische Metropole Wien – politisch im Westen – geografisch im Südosten) in den Umbruchsjahren 1989/90 zwar neu positioniert, angesichts der zahlreichen historischen Belastungen jedoch in deutlich älteren Entwicklungslinien stabilisiert und eingeordnet. In seiner Rede an der Universität Wien am 15. März 1993 konnte Václav Havel rückblickend feststellen, dass »wir – als Staaten – während des ganzen zwanzigsten Jahrhunderts eine derartige gegenseitige Beziehung nicht finden, die unsere innere Verwandtschaft wenigstens teilweise ausdrücken würde. Die moderne Geschichte hat mit uns ein grausames Spiel gespielt und dazu geführt, dass wir für eine sehr lange Zeit eher nur nebeneinander als wirklich miteinander gelebt haben. Unsere gegenseitigen Beziehungen zeigten manchmal mehr 1 Zum historiografischen Nutzen dieser Begriffe Cornelissen, Christoph : Wendepunkte der Geschichts wissenschaft : Zur Historiographie der deutsch-tschechisch-slowakischen Beziehungen, in : Brandes, Detlef/Kováč, Dušan/Pešek, Jiří (Hg.) : Wendepunkte in den Beziehungen zwischen Deutschen, Tschechen und Slowaken 1848–1989, Essen 2007, S. 307–328, hier S. 310–312.
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Verlegenheit, Bitterkeit, Verdächtigungen oder Neid als wirklich schöpferische Zusammenarbeit […].«2
Am Ende seiner Rede formulierte er jedoch eine ziemlich optimistische Erwartung, die allerdings in der unmittelbaren Folgezeit nach dem EU-Beitritt Österreichs im Jahre 1995 bzw. nach der Krise der österreichisch-tschechischen Beziehungen in den Jahren 2000–2002 (Auseinandersetzungen des Prager Kabinetts Miloš Zemans mit der ÖVP/FPÖ-Koalitionsregierung in Wien um das AKW Temelín bzw. um die Gültigkeit der sogenannten Beneš-Dekrete, dazu die nachdrückliche Unterstützung der »Sanktionen« der 14 EU-Staaten gegenüber der Regierung Schüssel im Jahr 2000 seitens der Tschechischen Republik3) leider nicht erfüllt werden konnte : »Ich bin überzeugt, dass für Völker mit einer derart verwandten Sensibilität heute eine fast historische Chance gegeben ist : einander wiederzufinden, nach Jahrzehnten der Entfremdung wieder den Weg zueinander zu finden und dieser Erkenntnis auch politisch Ausdruck zu geben.«4
Die Umbruchsjahre 1989–1990 im tschechoslowakisch-österreichischen Verhältnis werden in der Regel durch das Prisma der damaligen internationalen »Großwetterlage« beobachtet und analysiert. Eine ausführliche Studie zu dem Thema steht freilich noch aus : Die bisherige Quellenbasis muss noch durch die immer noch nicht zugänglichen offiziellen Quellen ergänzt werden (zum Beispiel, aber nicht nur, aus dem Archivbestand der beiden Außenministerien).5 Selbst wenn man nur skizzenhaft die wichtigsten Probleme der tschechoslowakisch-österreichischen Beziehungen in der Zeit vor dem Zusammenbruch der staatssozialistischen Regime darzustellen versucht, muss man diese im Zeichen bzw. – aus 2 Havel, Václav : Das historische und gegenwärtige Verhältnis zwischen der Tschechischen Republik und Österreich. Deutsche Übersetzung der Rede des Präsidenten der Tschechischen Republik, gehalten an der Universität Wien am 15. März 1993 auf Einladung der Universität Wien und des Österreichischen Ost- und Südosteuropa-Instituts, in : Österreichische Osthefte 3/35 (1993), S. 371–376, hier S. 371. 3 Siehe zu dem Thema ausführlicher Moravcová, Dagmar : Česká republika a »opatření« Evropské unie proti Rakousku v roce 2000 : Mezi obranou evropských hodnot a českých národních zájmů [= Die Tschechische Republik und die »Maßnahmen« der EU-Staaten gegenüber Österreich im Jahre 2000 : Zwischen Verteidigung der europäischen Werte und der tschechischen nationalen Interessen], in : Mezinárodní vztahy 3/42, 2007, S. 54–68, auch unter www.ceeol.com zugänglich. 4 Havel, V. 1993, S. 376. 5 Der Verfasser bedankt sich bei dem Archiv Ministerstva zahraničních věcí České republiky (Archiv des Außenministeriums der Tschechischen Republik in Prag, weiter nur AMZV Prag), namentlich bei Frau Dr. Jana Lišková für die Bereitstellung großer Teile der noch vor Kurzem nicht verfügbaren und inventarisierten Archivalien zu diesem Thema.
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der inneren tschechoslowakischen Perspektive – unter der Ägide des sowjetischen Perestroika-Reformversuches verstehen und behandeln. Die direkten bzw. auch indirekten Perestroika-Implikationen auf die konkreten bilateralen Beziehungen sind daher erst einmal zu identifizieren, was bis jetzt, abgesehen von der sonst wünschenswerten komparativen Perspektive der jeweiligen »Außenpolitiken« der ostmitteleuropäischen Staaten, eher ein Desiderat ist. Auch die innere Entwicklung der dortigen kommunistischen Regime in ihren letzten Jahren wurde eher unter dem Eindruck der unerwarteten Implosion und ihrer »Rauchschleier« erforscht.6 Der nüchterne Blick auf die tschechoslowakisch-österreichischen Beziehungen und auf die offizielle tschechoslowakische »Außenwahrnehmung« des österreichischen Nachbarn – über die Grenzen des magischen Jahres 1989 hinaus – sollte also nicht nur auf die »klassischen« bilateralen Themen und Bilder abzielen, sondern auch auf den facettenreichen multilateralen Referenzrahmen der Ost-West-Beziehungen in der Zeitspanne 1985 bis 1989. Der interdependenztheoretische Ansatz ist hier besonders hilfreich : Ein zunehmendes Bewusstsein von den wechselseitigen Abhängigkeiten, der fortschreitenden Globalisierung und der unübersehbaren Umweltprobleme entwickelte sich auch in den verkrusteten Herrschaftseliten der staatssozialistischen Gesellschaften, was den mageren offiziell zugelassenen gesellschaftlichen Diskurs um neue Themengebiete und Begriffe bereicherte.7 Die im Auftrag der Staatsparteien und Regierungen ausgearbeiteten Prognosen forderten mit Nachdruck weitreichende politische und wirtschaftliche Reformen. In der Tschechoslowakei erklärten sich – im Unterschied zur DDR – nur ganz wenige, wenn auch einflussreiche KP-Funktionäre, wie zum Beispiel der auch außenpolitisch tätige Vasil Biľak oder der »Chefideologe« Jan Fojtík, als offene »Gegner« der Perestroika.8 6 Zu den seltenen Ausnahmen in der tschechischen Forschung gehört das hierzulande viel diskutierte Buch von Pullmann, Michal : Konec experimentu. Přestavba a pád socialismu v Československu [Ende eines Experiments. Perestroika und Zusammenbruch des Sozialismus in der Tschechoslowakei], Praha 2011. Die entsprechenden Auswirkungen auf die damalige tschechoslowakische Außenpolitik werden auch hier nur unsystematisch behandelt. Siehe auch Vilímek, Tomáš : Zu den Ursachen des Regimezusammenbruchs in der Tschechoslowakei und in der DDR im Jahr 1989. Ein Vergleich, in : Buchheim, Christoph/Ivaničková, Edita/Kaiserová, Kristina/Zimmermann, Volker (Hg.) : Die Tschechoslowakei und die beiden deutschen Staaten, Essen 2010, S. 163–200 ; Kunštát, Miroslav/Vilímek, Tomáš : Die deutsch-tschechoslowakischen Beziehungen im Zeichen der Perestroika, in : Ivaničková, Edita/Řezník, Miloš/Zimmermann, Volker (Hg.) : Das Jahr 1989 im deutsch-tschechisch-slowakischen Kontext, Essen 2013, S. 117–150. 7 Dazu beispielsweise Kohler-Koch, Beate : Interdependenzanalyse, in : Boeckh, Andreas (Hg.) : Lexikon der Politik, Bd. 6 : Internationale Beziehungen, München 1994, S. 221–225. 8 Selbstlobend verteidigte Fojtík seine damaligen erzkonservativen und »perestroikaskeptischen« Positionen noch im Jahre 2009 in einem seiner ganz seltenen Interviews mit dem Schriftsteller Karel Sýs. Siehe Spáčil, Dušan/Sýs, Karel (Hg.) : Viděno deseti. Rozhodující události mocenského zvratu v roce 1989 očima klíčových osobností z obou stran politického spektra [Durch die Zehn gesehen. Die ent-
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Dass diese Abläufe nicht unbedingt mit der konkreten politischen Umsetzung von oben korrespondierten, versteht sich von selbst. Die sogenannte Gorbatschow-Doktrin der freien Wahl und somit auch die schrittweise Ablösung der Breschnew-Doktrin in den ersten Perestroika-Jahren eröffneten den einzelnen Staaten des Warschauer Paktes viel breitere Spielräume.9 Für die Kommunistische Partei der Tschechoslowakei (KPTsch) und die Sozialistische Einheitspartei Deutschlands (SED) ermöglichte sie paradoxerweise, insbesondere im innenpolitischen Bereich, auch eine gegenüber der Sowjetunion behutsam distanzierte Vorgehensweise. Diese wurde mit unterschiedlichen historischen Erfahrungen und Traditionen der jeweiligen Länder und Parteien sowie auch mit dem Hinweis auf »größere Erfahrungen mit der bürgerlichen Demokratie« begründet.10 In der Außenpolitik verfolgte die Tschechoslowakei weiterhin treu die sowjetische Linie auf den Abrüstungskonferenzen in Stockholm und Genf. Auf der anderen Seite – im Rahmen der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) – äußerte sie pro foro interno schon starke Bedenken, so zum Beispiel im Juni 1988 im Zusammenhang mit dem sowjetischen Entwurf für die Abschlussdokumente der Wiener KSZE-Nachfolgekonferenz.11 scheidenden Ereignisse des Machtumsturzes 1989 in den Augen der Schlüsselpersonen von den beiden Seiten des politischen Spektrums], Praha 2009, S. 6–41. 9 Zur Gorbatschow-Doktrin und deren Umsetzung für die Tschechoslowakei siehe Blehova, Beata : Der Fall des Kommunismus in der Tschechoslowakei, Wien 2006, S. 129–137 ; Blehova-Katrebova, Beata : Der »sowjetische« Faktor und der Fall des Kommunismus in der Tschechoslowakei, in : Ivaničková, Edita/Řezník, Miloš/Zimmermann, Volker (Hg.) : Das Jahr 1989 im deutsch-tschechisch-slowakischen Kontext, Essen 2013, S. 51–68 ; Daschitschev, Wjatscheslaw : Moskaus Griff nach der Weltmacht. Die bitteren Früchte hegemonialer Politik, Hamburg/Berlin/Bonn 2002, S. 179–187 ; und viele andere. 10 Den Hinweis auf die »demokratischen Traditionen« im Zusammenhang mit der deutlichen Skepsis gegenüber der sowjetischen Perestroika beinhaltet zum Beispiel die Rede des konservativen Politbüromitgliedes (und bis 1988 auch Parteisekretärs) des ZK der KPTsch Vasiľ Biĺak, veröffentlicht in Rudé právo vom 11. Februar 1987, S. 2. Dieses Motiv wiederholte später auch Generalsekretär Miloš Jakeš in seinen Gesprächen mit Erich Honecker am 3. Mai 1989. Siehe Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisationen der DDR im Bundesarchiv Berlin (weiter nur SAPMO-BArch Berlin), Zentrales Parteiarchiv der SED, Sign. DY 30/2439, Büro Erich Honecker. In den Aussagen des Premierministers (und pragmatischen Reformers) Lubomír Štrougal wurden jedoch ähnliche Hinweise in einem ganz anderen Sinne formuliert, so beispielsweise im Juni 1988 (bei einem Pressetermin mit österreichischen Journalisten am Vorabend des Besuches von Franz Vranitzky in Prag) : »Unter allen sozialistischen Ländern hat die ČSSR die größten Chancen, die angestrebten Reformen erfolgreich zu realisieren, denn wir haben ja demokratische Traditionen in unserem Blut. Unter Tomáš Garrigue Masaryk und Edvard Beneš war die Tschechoslowakei ein Bollwerk der bürgerlich geprägten Demokratie. Dieses Element gilt es auszunützen, um eine geistige Renaissance und eine Renaissance des Demokratisierungsprozesses einzuleiten.« Zitiert nach Seinitz, Kurt : ČSSR : Erste Gehversuche in »Glasnost«, in : Neue Kronen-Zeitung vom 27. Juni 1988, S. 8 f. 11 Protokoll der Sitzung des Vorstands des ZK der KPTsch vom 10. Juni 1988. Národní archiv Praha (weiter nur Nationalarchiv Prag, NA), Fonds Archiv ÚV KSČ (weiter AÚV KSČ), předsednictvo ÚV KSČ, Sign. P 73/88/22 [Bestand Archiv des ZK der KPTsch – Vorstand des ZK der KPTsch] ; Tůma,
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Die »freie Wahl« ermöglichte es auch, unterschiedliche, de facto unkoordinierte Wege zu westlichen Institutionen zu beschreiten. Für die »Öffnung« des schwerfälligen Regimes waren diese nicht zentral koordinierten Wege nach Westen von großer Bedeutung. So gewannen in der zweiten Hälfte der 1980er-Jahre auch die tschechoslowakischen Beziehungen zu den Europäischen Gemeinschaften (EG) eine neue Qualität : 1988 konnten nach längerem Tauziehen um ein generelles Handelsabkommen mit den Staaten des Rates für gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW) diplomatische Beziehungen zwischen Prag und den EG aufgenommen werden – ein Ergebnis der Aktivitäten, die auch seitens des RGW ab Juni 1985 nachdrücklich forciert wurden.12 Inspiriert besonders von Ost-Berlin, bemühte sich Prag ab 1987 auch, eine detaillierte sozialistische Europapolitik zu formulieren und entsprechende Strukturen und »Kader« seiner Europapolitik zu bilden.13 Noch vor 1989 waren auch ernst gemeinte Versuche der Tschechoslowakei zu verzeichnen, den Institutionen des Bretton-Woods-Systems (Internationaler Währungsfonds, Weltbank), in denen sie bis 1954 ordentliches Mitglied gewesen war, erneut beizutreten. Erst nach 1989 konnte jedoch die skeptische Haltung der USA überwunden werden. Die Tschechoslowakei trat dann beiden Institutionen am 1. Januar 1991 bei.14
II. Österreichisch-tschechoslowakische Beziehungen vor der Wende 1989/90 : Eine behutsame Annäherung trotz der Betriebspannen In der offiziellen Diktion der tschechoslowakischen Diplomatie galten die bilateralen Beziehungen mit Österreich nach dem Abschluss des Vermögensvertrages im Dezember 1974 als »normalisiert«, sie wurden also mit jenem unseligen Adjektiv beschrieben, das im tschechoslowakischen Kontext notwendigerweise auch mit dem
Oldřich : Poslední léta komunistického režimu ve zprávách velvyslance NDR v Praze (1987–1989) [Die letzten Jahre des kommunistischen Regimes in der Berichterstattung des DDR-Botschafters in Prag (1987–1989)], in : Soudobé dějiny 3/2–3 (1996), S. 349–380, hier S. 366–368. 12 Marek, Dan : Od neuznání ke společné deklaraci : Československo, RVHP a Evropské společenství v období 1980–1989 [Von der Nichtanerkennung bis zur gemeinsamen Erklärung : Die Tschechoslowakei, COMECON und die Europäischen Gemeinschaften 1980–1989], in : Acta Universitatis Palackianae Olomucensis – Politologica 5 (2006), S. 247–259. 13 SAPMO-BArch Berlin, DY/30/IV 2/2.115/28, Außenpolitische Kommission beim Politbüro. Schon der Begriff »sozialistische Europapolitik« selbst ist an und für sich interessant, in der DDR benutzte man ihn gelegentlich seit den 1960er-Jahren. 14 Blehova, B. 2006, S. 159–166 ; NA Prag, Bestand AÚV KSČ-PÚV KSČ [Archiv des Zentralkomitees der KPTsch – Vorstand des ZK der KPTsch], hier die die damaligen Verhandlungen der Tschechoslowakei mit der EG-Kommission betreffenden Sign. 17/86, 44/87 u. 87/88.
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Terminus »Normalisierung« (der häufig als Überschrift über die ganze Ära Gustáv Husák 1969–1989 gesetzt wird) assoziiert wird.15 Erst nach der Ratifizierung des lange ausgehandelten Vermögensvertrages konnte das unzureichende und in vielen Gebieten überholte Vertragswerk zwischen Österreich und der Tschechoslowakei erweitert und ergänzt werden. Zu den 18 wichtigeren gültigen bilateralen Verträgen (Abkommen, Vereinbarungen) aus den Jahren 1921–1974 kamen in der relativ kurzen Folgezeit 1974–1989 weitere 17 Verträge hinzu. Abgesehen vom Vermögensvertrag selbst (unterschrieben in Wien am 19. Dezember 1974) waren die wichtigsten das Abkommen über die Errichtung der neuen Straßengrenzübergänge (22. November 1977), das Abkommen über die Zusammenarbeit im Bereich der Kultur, des Schulwesens und der Wissenschaft (= Kulturabkommen, 22. November 1977), der Vertrag über die Verhinderung der Doppelbesteuerung bei Einkommens- und Eigentumssteuer (7. März 1978), das Abkommen über die konsularischen Beziehungen (14. März 1979), das Abkommen über die Zusammenarbeit im veterinärischen Bereich (14. März 1979), die Vereinbarung über die Post- und Telekommunikationsdienste (19. Juli 1982), das Abkommen über die Zusammenarbeit im Gesundheitswesen (18. November 1982), das Abkommen über die Kernanlagen (18. November 1982, 1989 durch einen erweiterten Vertrag ersetzt), das Abkommen über die Zusammenarbeit und gegenseitige Hilfe im Bereich des Zollwesens (18. November 1982), das Abkommen über die Zusammenarbeit im Bereich des Umweltschutzes (17. Juli 1987), das Abkommen über die Errichtung des tschechoslowakischen Kultur- und Informationszentrums in Wien und des Österreichischen Kulturinstituts in Prag (5. Dezember 1988) sowie das Abkommen über die Fragen betreffend die Kernkraftsicherheit und den Strahlungsschutz (25. Oktober 1989). Symbolisch wird diese Reihe unmittelbar nach der politischen Wende in der Tschechoslowakei und nach der jeweils einseitigen Aufhebung der Visumspflicht für die tschechoslowakischen (4. Dezember 1989) beziehungsweise für die österreichischen Bürger (17. Dezember 1989) durch das bilaterale Abkommen über 15 Dlouhodobá koncepce rozvoje vztahů ČSSR s Rakouskou republikou [Langfristige Konzeption der Entwicklung der Beziehungen zwischen der ČSSR und Republik Österreich], AMZV Prag, Fonds TO-T, 1975–79, Rakousko, S. 2 f. Die Verhandlungen über den Eigentumsvertrag wurden mit zahlreichen Zäsuren und Denkpausen vom Jahre 1956 bis 1974 geführt, wobei insbesondere die Höhe der österreichischen Pauschalforderung sowie die genauere Bestimmung des Kreises der berechtigten Personen zu den wichtigsten Streitpunkten wurden. Siehe dazu die Studie des früheren tschechoslowakischen Chefunterhändlers (bis 1970) Winkler, Jan : Majetkoprávní vypořádání s Rakouskem [Eigentumsrechtlicher Ausgleich mit Österreich], in : Právník 7/133 (1994), S. 629–644.Vgl. auch Dobeš, Adam : Dlouhá cesta k majetkovému vyrovnání mezi Rakouskem a Československem [Der lange Weg zum eigentumsrechtlichen Ausgleich zwischen Österreich und der Tschechoslowakei], in : Stehlík, Michal/ Sprengnagel, Gerald M. (Hg.) : Kreiského éra v Rakousku a období normalizace v ČSSR [Die Ära Kreisky in Österreich und die Normalisierungsperiode in der ČSSR], Praha 2013, S. 43–56.
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die Abschaffung der Visumspflicht (18. Jänner 1990) abgeschlossen. Da die tschechoslowakischen Staatsbürger in die EG-Länder im Unterschied zu Österreich erst ab 1. Juli 1990 visumfrei einreisen konnten, brachte damals ein kurzer ÖsterreichBesuch vielen von ihnen die ersten unmittelbaren und »hautnahen« Erfahrungen und Impressionen vom kapitalistischen Westen.16 Als erwünschte Ausgangsbasis wurden bereits in der ersten langfristigen ministeriellen Konzeption der Beziehungen zum südlichen Nachbarn (1975, aktualisiert 1977) die »Vertiefung der österreichischen Neutralität«, die Einhaltung »der aus dem österreichischen Staatsvertrag herrührenden Verpflichtungen« bzw. die Kontaktpflege zu den »fortschrittlichen politischen Kräften« betrachtet. Als natürliche Partner wurden in erster Linie »die linksorientierten Gruppen im politischen und kulturellen Bereich« gesehen, als Gegner und Störenfriede natürlich die Repräsentanten des tschechoslowakischen politischen Exils in Österreich, dessen Aktivitäten es zu bekämpfen galt. Große Bedeutung wurde natürlich den wirtschaftlichen Beziehungen beigemessen – mit dem Ziel, die ungünstige Kommoditätsstruktur der tschechoslowakischen Exporte nach Österreich (z.B. die Maschinen bildeten am Ende der 1970er-Jahre nur 5% vom gesamten Exportvolumen) zu verbessern.17 Ein »Normalzustand« wurde auch in den diplomatischen Beziehungen erreicht, als im Januar 1975 die beiden diplomatischen Vertretungen in den Rang von Botschaften erhoben wurden. Seitdem entwickelte sich zwischen beiden Staaten eine ebenfalls »normale« Besuchsdiplomatie. Von einer schnellen Vertiefung der Beziehungen (nicht nur in der Wirtschaft, sondern auch in bürgernahen Bereichen wie Tourismus, Kultur und Wissenschaft) konnte man jedoch lange nicht sprechen. Die kleinen Fortschritte wurden durch wiederholte Verstimmungen relativiert, beispielsweise nach der Entstehung der tschechoslowakischen Menschenrechtsbewegung Charta 77 (und der österreichischen Zusage eines politischen Asyls für die verfolgten Charta-Unterzeichner), nach der Abhaltung des Sudetendeutschen Tages in Wien im Jahre 1977 oder auch nach der Polen-Krise und der generellen politischen Abkühlung zwischen den beiden Blöcken am Anfang der 1980er-Jahre. Sie führten auch dazu, dass der geplante und mehrmals 16 Eine chronologische Übersicht und Analyse des Vertragswerkes zwischen Österreich und der Tschechoslowakei bringt Kouřilová, Hana : Die tschechisch-österreichischen Beziehungen in den Jahren 1990–1998, Praha 2001 (Magisterarbeit), S. 150–160. Siehe auch Dobeš, Adam : Československorakouské vztahy v normalizačním období [Tschechoslowakisch-österreichische Beziehungen zur Zeit der »Normalisierung«], Praha 1999 (ungedruckte Abschlussarbeit an der Sozialwissenschaftlichen Fakultät der Karls-Universität Prag) ; Petruf, Pavol : Československá zahraničná politika 1945–1992. Vybrané události a fakty v dátumoch [Tschechoslowakische Außenpolitik 1945–1992. Ausgewählte Ereignisse und Fakten in der chronologischen Übersicht], Bratislava 2007, S. 135–215, hier S. 169–208. 17 Dlouhodobá koncepce rozvoje vztahů ČSSR s Rakouskou republikou, S. 2–7, S. 68–71.
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aufgeschobene Staatsbesuch Husáks in Österreich erst im November 1982, eine Woche nach dem Tode Leonid Breschnews, stattfinden konnte.18 Auch die sich mehrenden Zwischenfälle an der gemeinsamen Grenze trugen in regelmäßigen Abständen zu Eklats bei, wie etwa nach einem schweren Zwischenfall bei Gmünd (1985), bei dem ein Mensch durch die tschechoslowakischen Grenzsoldaten auf dem österreichischen Hoheitsgebiet erschossen wurde. Zwar betrachtete es dann selbst Husák als nützlich, »wenn den Grenztruppen die Tatsache mehr zu Bewusstsein gebracht wird, dass die Grenze zu Österreich keine Grenze zwischen zwei feindlichen Militärblöcken, sondern die Grenze zu einem neutralen Staat […]« darstellt, doch bis 1989 waren die Verhältnisse an der Grenze und deren »Verletzung« durch »narušitelé/Grenzverletzer« aller Art ein Dauerproblem.19 Für die letzten Jahre vor der Wende war vor allem die zunehmende Intensität der politischen Kontakte symptomatisch : Die regelmäßigen Kontakte zwischen den beiden Premierministern und Außenministern wurden allmählich zur Gewohnheit, auch die Einbeziehung der anderen Regierungsressorts hatte eine zunehmende Tendenz, nicht nur im Rahmen der seit 1975 bestehenden Allgemeinen tschechoslowakischösterreichischen gemischten Kommission, deren Agenda in den 1980er-Jahren erweitert wurde. So besuchte der letzte kommunistische Premierminister Ladislav Adamec Österreich unmittelbar vor der »Samtenen Revolution« (24.–25. Oktober 1989), anschließend an den vorhergehenden, arbeitsintensiven Besuch des Bundeskanzlers Franz Vranitzky in der Tschechoslowakei (26.–28. Juni 1988). Der ČSSR-Außenminister Jaromír Johanes besuchte Österreich in kurzem Zeitabstand zweimal (4.–6. Dezember 1988, 8. März 1989), sein österreichischer Kollege Alois Mock reiste offiziell nach Prag im Juli 1987 (16.–17. Juli 1987). Sein nachfolgender Besuch in der Tschechoslowakei konnte erst zu einer Gelegenheit stattfinden, die in den langfristigen Planungskalendern der Diplomaten kaum vorausgeahnt werden konnte, nämlich anlässlich des symbolischen Durchschneidens des Stacheldrahtes an der österreichisch-tschechoslo18 Gesprächsprotokolle und abschließender Bericht über den Husák-Besuch in Österreich (17.–19. November 1982) für die tschechoslowakische Regierung sowie für das Präsidium des ZK der KPTsch in : AMZV Prag, Sign. T-OT, 036/122. Siehe auch Lendvai, Paul : Auf schwarzen Listen. Erlebnisse eines Mitteleuropäers, Wien 1997, S. 336 f.; Staněk, Jan : Návštěva prezidenta ČSSR Gustáva Husáka v Rakouské republice – výraz normalizace a významný mezník vzájemných vztahů [Besuch des ČSSRPräsidenten Gustáv Husák in der Republik Österreich – Ausdruck der Normalisierung und bedeutsamer Meilenstein in der Entwicklung der gegenseitigen Beziehungen], in : Mezinárodní vztahy 2/18 (1983), S. 3–9 ; und andere. 19 Zitat aus dem Gespräch Husáks mit dem damaligen österreichischen Botschafter in Prag Paul Ullmann (15. Februar 1985), entnommen aus den Notizen des Botschafters. Siehe Ullmann, Paul : Eine schwierige Nachbarschaft, Wien 2006, S. 231–232. Zum Grenzregime zusammenfassend Jílek, Tomáš/ Jílková, Alena : Železná opona. Československá státní hranice od Jáchymova po Bratislavu 1948–1989 [Der eiserne Vorhang. Die tschechoslowakische Staatsgrenze von Joachimsthal bis Pressburg 1948– 1989], Praha 2006.
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wakischen Grenze (Hatě/Laa an der Thaya) mit seinem neuen Ressortkollegen Jiří Dienstbier am 17. Dezember 1989.20 Die zunehmende Frequenz der Besuchsdiplomatie kann man auch bei den anderen Ressortministern feststellen, erwähnt seien die Besuche der österreichischen Unterrichtsministerin Hilde Hawlicek (Oktober 1987), des Innenministers und SPÖ-Vizevorsitzenden Karl Blecha (Juni 1988), des Verteidigungsministers Robert Lichal (März 1989) und unmittelbar nach der Wende auch des Wissenschaftsministers Erhard Busek (Dezember 1989) in Prag bzw. in Bratislava. Erstmals in der Geschichte der modernen tschechoslowakisch-österreichischen Beziehungen statteten auch die Vertreter der beiden tschechoslowakischen Streitkräfteressorts Wien einen Besuch ab, nämlich im Januar 1988 Innenminister Vratislav Vajnar, im Mai desselben Jahres Verteidigungsminister Milán Václavík.21 Die facettenreichen Gesprächsthemen sowie die zunehmende Erweiterung der bilateralen Vertragsbasis spiegelt die zwar behutsame und limitierte, doch unverkennbare Annäherung beider Nachbarstaaten wider. Unter den multilateralen Themen dominierte auch in den bilateralen Gesprächen die schnelle Annäherung Österreichs an die EG. Im Einklang mit der sowjetischen Position äußerte die Tschechoslowakei routinemäßig gewisse Vorbehalte mit Rücksicht auf den Neutralitätsstatus Österreichs. In den erhaltenen Arbeitsunterlagen für den Premierminister Lubomír Štrougal vom Mai 1988, ausgearbeitet kurz vor dem Vranitzky-Besuch in der Tschechoslowakei (26.–28. Mai 1988), wird die damalige europapolitische ÖVP-Position (und natürlich diejenige des österreichischen Außenministers Mock) kritisiert, die »behutsamen und abwartenden« Aussagen des Bundeskanzlers Vranitzky dagegen als »vernünftig und akzeptabel« gewürdigt.22 Bei einem anderen aus Sicht Prags wichtigen multilateralen Thema – den damaligen gemeinsamen regionalen Abrüstungsinitiativen der DDR und der Tschechoslo20 Der frühere Dissident und Charta–77-Signatar Jiří Dienstbier konnte bei der Gelegenheit auch seine älteste Tochter Monika, damals schon österreichische Staatsbürgerin, treffen. Ihre Präsenz konnte dabei als Ausdruck der wiederholten Hilfsbereitschaft Österreichs gegenüber den tschechischen und slowakischen Menschenrechtsverteidigern wahrgenommen werden : Als Tochter eines bekannten Regimegegners konnte sie in Prag in der Husák-Zeit nicht studieren, in Österreich wurde ihr jedoch ein Jurastudium in Wien ermöglicht. Vgl. Mock, Alois : Převrat v ČSSR. Vzpomínky [Der Umsturz in der ČSSR. Erinnerungen], in : Karner, Stefan/Stehlík, Michal (Hg.) : Česko. Rakousko. Rozděleni – odloučeni – spojeni [Tschechien. Österreich. Geteilt – getrennt – vereint], Schallaburg/Jihlava 2009, S. 142–145 ; Dienstbier, Jiří : Od snění k realitě. Vzpomínky z let 1989–1999 [Von dem Träumen zur Realität. Erinnerungen aus den Jahren 1989–1999], Praha 1999, S. 38 f. 21 Petruf, Pavol : Československá zahraničná politika 1945–1992. Vybrané události a fakty v dátumoch [Tschechoslowakische Außenpolitik 1945–1992. Ausgewählte Ereignisse und Fakten in der chronologischen Übersicht], Bratislava 2007, S. 116–118, S. 283–290, S. 345–350, S. 418–425, S. 480–489. 22 AMZV Prag, Fonds Dokumentace TO [= Dokumentation der Territorialsektionen], Inv. Nr. 33/21. Arbeitsunterlagen zum offiziellen Besuch des Bundeskanzlers Franz Vranitzky in der Tschechoslowakei, 26.–28. Juni 1988.
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wakei, in erster Linie der Errichtung einer chemie- und kernwaffenfreien Zone in Zentraleuropa – fühlte sich Prag im Unterschied zu den eher skeptischen Aussagen der Bonner Politiker durch Vranitzky unterstützt.23 Bei seinen Prager Gesprächen wurden auch die außenpolitischen Konsequenzen des laufenden »Umbaus« (Perestroika) gewürdigt : Vranitzky bezeichnete sie im Gespräch mit KPTsch-Generalsekretär Miloš Jakeš als eine »günstige Plattform« für die Erreichung einer neuen Qualität der gegenseitigen Beziehungen.24 Diesem Ziel sollte auch die bei dieser Gelegenheit deklarierte noch höhere Begegnungsfrequenz auf der höchsten Ebene dienen. Mit Verbitterung stellte nämlich Štrougal am Anfang seines Gesprächs mit Vranitzky (27. Juni 1988) fest, dass er jetzt den österreichischen Kanzler »zum ersten Mal seit 1981« offiziell wiedersehe, was er »nicht normal unter unmittelbaren Nachbarn« finde. Trotzdem bezeichnete er die Beziehungen zu Österreich als »die besten unter den nichtsozialistischen Ländern«, was seiner Meinung nach – zum Beispiel angesichts der dringenden Umweltprobleme – auch ein »neues institutionelles System der Zusammenarbeit« erfordere. Im Unterschied zu dem früheren tschechoslowakischen Augenmerk auf die rein zwischenstaatliche Dimension der Beziehungen betonte Štrougal nun die Notwendigkeit der »direkten Zusammenarbeit von unten, ohne Reglementierung«, insbesondere in den Bereichen Kultur, Wissenschaft und Sport sowie zwischen den Jugendorganisationen und auf der kommunalen und regionalen Ebene. Auch in der Wirtschaft wurde nun für die direkte, unbürokratische Zusammenarbeit zwischen den tschechoslowakischen und österreichischen Firmen plädiert : Die sechs damals bestehenden gemeinsamen Joint Ventures sollten um weitere Neugründungen erweitert werden. Die guten Beziehungen Österreichs zu Ungarn, die früher von Prag aus mit ideologisch motivierter Skepsis beobachtet wurden, wurden nun als Vorbild und möglichst bald zu erreichendes Ziel genannt (aber auch den klar formulierten Nachholbedarf kann man in den älteren Prager Akten aufspüren).25 Bei dem Vranitzky-Besuch in Prag und Bratislava im Juni 1988 wurden mehrere gemeinsame Projekte und Arbeitsbereiche behandelt, die mittelfristig die Hauptachse der offiziellen Beziehungen darstellen sollten. Schwerpunktmäßig wurden die höchsten Prioritäten in drei Expertenkommissionen beider Regierungen behandelt : 23 AMZV Prag, Fonds Dokumentace TO [= Dokumentation der Territorialsektionen], Inv. Nr. 33/21. Gesprächsprotokolle und Abschlußbericht zum offiziellen Besuch des Bundeskanzlers Franz Vranitzky in der Tschechoslowakei, 26.–28. Juni 1988. Gesprächsprotokoll Franz Vranitzky – Miloš Jakeš, 27. Juni 1988. 24 AMZV Prag, Fonds Dokumentace TO [= Dokumentation der Territorialsektionen], Inv. Nr. 33/21. 25 AMZV Prag, Fonds Dokumentace TO [= Dokumentation der Territorialsektionen], Inv. Nr. 33/21. Gesprächsprotokolle und Abschlußbericht zum offiziellen Besuch des Bundeskanzlers Franz Vranitzky in der Tschechoslowakei, 26.–28. Juni 1988. Gesprächsprotokoll Franz Vranitzky – Lubomír Štrougal, 27. Juni 1988.
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in der Kommission für die Errichtung der offiziellen Kultur- und Informationszentren in Prag/Wien, in der Kommission für die Reiseerleichterungen sowie in der Kommission für die Erweiterung des älteren Abkommens über die Kernanlagen (vom Jahre 1982) auch auf die geplanten Großprojekte wie das schon damals umstrittene AKW im südböhmischen Temelín. Bei dem Bilanzbesuch von Außenminister Johanes in Wien (4.–6. Dezember 1988) konnten die Arbeitsergebnisse der ersten Kommission in ein konkretes Abkommen aufgenommen werden. Da dieses Abkommen keine konkreten Termine beinhaltete, wurden die geplanten Kulturinstitute in einer völlig neuen Situation erst nach der politischen Wende beziehungsweise nach der Teilung der Tschechoslowakei (1993) in Wien bzw. in Prag und Bratislava eröffnet.26 Die Expertengespräche in der zweiten Kommission führten in der ersten Phase zur Einführung der Visaausgabe an bestimmten Grenzübergängen (Dolní Dvořiště in Südböhmen, Hatě in Südmähren, Bratislava – Petržalka) ab 1. Januar 1989, zur Verlängerung der Visagültigkeit usw. Weitere Erleichterungen – als Vorstufe des völlig visumfreien Verkehrs ohne Pflichtumtausch – wurden für das Jahr 1990 geplant. Die dritte Expertenkommission bereitete mit Erfolg das neue Abkommen über die Fragen betreffend die Kernkraftsicherheit und den Strahlungsschutz vor, dessen Unterzeichnung zum Höhepunkt des offiziellen Besuches von Premierminister Adamec in Wien werden sollte (25. Oktober 1989).27 Dieser Besuch wurde jedoch – trotz des zukunftsorientierten Gesprächsgegenstands (Großprojekte wie die Verbindung des tschechoslowakischen und österreichischen Autobahnnetzes, die alt-neue Idee eines Donau-Oder-Kanals, die Erneuerung der Stadtbahn Bratislava – Wien u. a. m.) – durch die innenpolitischen Probleme in der Tschechoslowakei teilweise überschattet. Auch die Befürchtungen großer Teile der österreichischen Öffentlichkeit und Politik nahmen mit diesem Abkommen kaum ab : Die Inbetriebnahme des AKWs Temelín und die völlig unterschiedlichen Auffassungen in der Umwelt- und Energiepolitik wurden zum dauernden Streitthema zwischen Österreich und Tschechien/Slowakei auch in den folgenden Dezennien.28 Ähnlich wie bei den Beziehungen zu Bonn schien die Tschechoslowakei 26 AMZV Prag, Fonds TO-T 1980–89, Inv. Nr. 036/112. Bericht des tschechoslowakischen Botschafters in Wien Milan Kadnár für die Föderalregierung der ČSSR über den Besuch des Außenministers Jaromír Johanes in Österreich (4.–6. Dezember 1988). 27 AMZV Prag, Fonds TO-T 1980–89, Inv. Nr. 036/112. Arbeitsunterlagen zum Besuch des Premierministers Ladislav Adamec in Österreich (24.–25. Oktober 1989) ; Bericht des tschechoslowakischen Botschafters in Wien Milan Kadnár für die Föderalregierung der ČSSR über den Besuch des Premierministers Ladislav Adamec in Österreich (24.–25. Oktober 1988). 28 AMZV Prag, Fonds TO-T 1980–89, Inv. Nr. 036/112 ; Kunštát, Miroslav : Česko-rakouské paralely : sbližování sousedů, které není přímočaré [Tschechisch-österreichische Parallellen : eine nachbarschaftliche Annäherung, die nicht geradelinig ist], in : Pick, Otto/Handl, Vladimír (Hg.) : Zahraniční politika
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in den Jahren 1988/89 bei einigen Projekten und deren Umsetzung sogar aktiver als Österreich zu sein29, auch angesichts einer kurzfristigen Isolierung Prags infolge der unrühmlichen »Palach-Woche« im Januar 1989 (15.–20. Januar), als die Prager Polizei hart gegen die spontanen Demonstrationen der Prager Bevölkerung auf dem Wenzelsplatz durchgegriffen hatte. Die Demonstrationen hatten anlässlich des 20. Jahrestages der Selbstverbrennung des Studenten Jan Palach (als verzweifelter Protest gegen die sowjetische Okkupation und die keimende »Normalisierung«) stattgefunden. Hunderte Demonstranten waren kurzfristig festgenommen worden, unter anderem auch der bekannteste Regimekritiker Václav Havel.30 Doch an der anhaltenden Kontaktdichte sowohl auf der offiziellen Ebene als auch immer mehr auf der kaum systematisch kontrollierbaren inoffiziellen Ebene änderte sich während des ganzen Jahres 1989 nichts. Nicht nur die Österreicher konnten ab 1. Januar 1989 die tschechoslowakischen Visa direkt an der Grenze erhalten, auch wurden für die tschechoslowakischen Bürger bereits im Jahre 1988 spürbare Erleichterungen für Reisen in die westeuropäischen Staaten eingeführt – eine Maßnahme, die in der Folge übrigens für einige Beunruhigung in Ost-Berlin sorgte.31 Eine korrigierte, mehr oder weniger realistische Zugangsweise der PerestroikaTschechoslowakei zu den »hoch entwickelten kapitalistischen Staaten« belegt auch ihre letzte offizielle außenpolitische Konzeption, die im engeren Kollegium des Außenministers Johanes am 23. Mai 1989 besprochen, später auch vom KPTschPräsidium gebilligt und von der Regierung angenommen wurde.32 Die noch in einer schwerfälligen und ideologisch belasteten Sprache formulierten Grundsätze der bisČeské republiky 1993–2004. Úspěchy, problémy a perspektivy [Außenpolitik der Tschechischen Republik 1993–2004. Erfolge, Probleme und Perspektiven], Praha 2004, S. 83–90. 29 Beispielsweise bei dem damals geplanten österreichisch-tschechoslowakischen Donauwasserkraftwerk Wolfsthal-Bratislava – einem Vorhaben, das ursprünglich auch von Bundeskanzler Vranitzky unterstützt worden war, aber unter dem Eindruck der Proteste der Umweltaktivisten, des Widerstandes in eigener Partei SPÖ (Wiener Vizebürgermeister Hans Mayr und andere) und auch angesichts des späteren Ausstiegs Ungarns aus dem analogen tschechoslowakisch-ungarischen Doppelprojekt Gabčíkovo-Nagymaros lenkte er um. Siehe auch AMZV Prag, Fonds TO-T 1980–89, Inv. Nr. 036/112 (wie Anmerkung 24). 30 Vgl. Vilímek Tomáš : Die Palachwoche. Die Demonstrationen in Prag im Januar 1989, in : Horch und Guck. Historisch-literarische Zeitschrift des Bürgerkomitees »15. Januar« e.V., 12/3 (2003), S. 60–65. 31 Ab dem 1. April 1988 konnten die ČSSR-Bürger ihre privaten Valuta-Konten auch für die Bezahlung von individuellen Reisen ins »kapitalistische« Ausland, von Kuraufenthalten usw. nutzen. ValutaKonten für die CSSR-Bürger, in : ADN-Information Nr. 22040001, 22. Januar 1988. Siehe auch die parteiinterne Stellungnahme von Alexander Schalck an das Politbüromitglied und Sekretär des ZK der SED Günter Mittag vom 27. Januar 1988. SAPMO-BArch Berlin, Sign. DY/30/3196, Büro Günter Mittag. 32 AMZV Prag, Fonds Porady kolegia ministra [Beratungen des Ministerkollegiums], Sign. V/7 – KM 1953–19, Inv. Nr. 914, 917.
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herigen Österreich-Konzeption (1984)33 wurde durch eine neue Perspektive abgelöst : Generell wird festgestellt, dass »der gegenwärtige Kapitalismus viel größere Stabilität und Leistungs- und Adaptationsfähigkeit ausweist, als wir ursprünglich voraussetzten«, sodass man derzeit »auch untraditionelle programmatische und praktische Wege zur Zusammenarbeit« suchen müsse. Der fortschreitende europäische Integrationsprozess wird – trotz aller Gegensätze – für eine »bedeutsame ökonomische und politische Realität« befunden, »mit der wir langfristig rechnen […] und mit deren Institutionen, wie dem Europäischen Parlament, der Parlamentarischen Versammlung der NATO, dem Europarat und seiner parlamentarischen Versammlung, wir unsere Beziehungen vertiefen müssen«. Die damaligen Beziehungen zur Bundesrepublik Deutschland und zu Österreich wurden in der neuen Konzeption, was deren Umfang und Intensität anbelangt, mit Nachdruck gewürdigt, auch mit dem Hinweis, dass »diese unsere westlichen Nachbarn eine unersetzliche Rolle und Bedeutung für die Stabilität in Zentraleuropa haben«. Im Weiteren wird für die Entwicklung der partnerschaftlichen Kontakte mit den benachbarten österreichischen Regionen und Städten sowie für die Vertiefung der entsprechenden Vertragsbasis plädiert. Auf ähnliche Weise solle man analoge Vorgehensweisen auch mit den Grenzregionen und Städten in der Bundesrepublik Deutschland unterstützen, »allerdings unter Berücksichtigung der spezifischen sudetendeutschen Problematik«. Auch die Vertiefung der Kontakte zu den einzelnen Bundesländern in den beiden Nachbarstaaten stellte in der neuen Konzeption nun eine explizite Priorität dar.34 An der Mitgestaltung der Beziehungen wirkten tatsächlich und immer häufiger tschechoslowakische Regionen (kraje) bzw. die benachbarten österreichischen Bundesländer (Oberösterreich, Niederösterreich, Burgenland) und immer mehr auch die bestehenden (Prag – Wien) und neu in Aussicht genommenen Städtepartnerschaften (Linz – České Budějovice, Bratislava – Graz, Zwentendorf – Břeclav, Hollabrunn – Znojmo, Krems an der Donau – Valašské Meziříčí, Baden bei Wien – Luhačovice) mit. Auch der Trend zur Multilateralisierung, beispielsweise im Bereich des Umwelt- und Naturschutzes, wurde bereits vor 1989 spürbar. Eine neue, dem neuen, umweltbewussten Zeitgeist entsprechende Verhandlungsplattform stellte im Mai 1989 die Prager Konferenz der Umweltminister der mittel- und osteuropäischen Staaten unter Teilnahme Österreichs, der Bundesrepublik Deutschland und der EG dar. Marilies Fleming (Österreich) und Klaus Töpfer (Bundesrepublik Deutschland)
33 AMZV Prag, Fonds Teritoriální odbory [Territoriale Sektionen], Sign. TO-T 1980–1989, Rakousko, Kart. 1. Inv. Nr. 036/111. Die erwähnte Konzeption wurde während des Jahres 1983 im Zusammenhang mit dem Antritt des neuen tschechoslowakischen Botschafters Marek Venuta in Wien ausgearbeitet. Im retrospektiven Teil bringt sie auch die offizielle Bilanz der Jahre 1977–1983. 34 AMZV Prag, Fonds Porady kolegia ministra [Beratungen des Ministerkollegiums], Sign. V/7 – KM 1953–19, Inv. Nr. 914.
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würdigten dabei etwas euphemistisch in Anspielung an die neu entstandenen, vom Regime nur geduldeten ökologischen Initiativen »das starke ökologische Bewußtsein in der Tschechoslowakei«. In den bilateralen Gesprächen standen die Fragen des Atomkraftwerks in Temelín (Fleming), die Elbe-Verschmutzung und die gemeinsame Elbe-Politik (Töpfer) im Vordergrund.35
III. Das tschechoslowakische Österreichbild vor dem Fall des Eisernen Vorhangs Das Österreichbild in der Tschechoslowakei war damals, noch vor dem massiven Aufkommen elektronischer Medien und des Internets, durch mehrere Faktoren mitbestimmt und wurde durch verschiedene Kanäle und Medien vermittelt. Eine nicht unerhebliche Rolle spielte dabei die Möglichkeit, die österreichischen Fernsehkanäle in den südlichen Regionen Böhmens und Mährens bzw. in der West- und Südslowakei zu empfangen – eine Option, die jedoch nur für Bürger mit guten Deutschkenntnissen im vollen Umfang attraktiv war. Besondere Bedeutung unter den häufig eingeschalteten Auslandssendern in tschechischer Sprache hatte der amerikanische Sender Voice of America mit seinem populären Wiener Mitarbeiter Ivan Medek (unter Václav Havel später langjähriger Leiter der tschechischen Präsidialkanzlei), der von Wien aus auch mit anderen tschechischsprachigen Sendern zusammenarbeitete (Radio Freies Europa, BBC). Medeks Sendungen brachten nicht nur aktuelle Nachrichten aus den tschechoslowakischen oppositionellen Kreisen (Charta 77 und andere Bürgerrechtinitiativen, kirchliches Milieu), sondern auch viele Berichte aus dem Exil und aus dem Gastland Österreich.36 Die offizielle Berichterstattung für die tschechoslowakische Tagespresse leisteten das Wiener Büro der Tschechoslowakischen Presseagentur (Československá tisková kancelář, ČTK) sowie für die KPTsch-Parteiorgane Rudé právo (Prag) und Pravda (Bratislava) der Journalist Ladislav Alster, der auch für die österreichische KPÖTageszeitung Volksstimme tätig war.37 35 Dokumenty k československé zahraniční politice [Dokumente zur tschechoslowakischen Außenpolitik], Bd. 36 (1989), S. 386–389. 36 Medek, Ivan : Die »Charta 77-Signatare« in Österreich, in : Basler, Helena (Hg.) : Die Wiener Tschechen 1945–2000. Zur Geschichte einer Volksgruppe, Bd. 1, Wien/Prag 2006, S. 73–75, S. 323–325. 37 Die Volksstimme war auch die einzige zugelassene österreichische Tageszeitung, die man in der Tschechoslowakei an den Zeitungskiosken frei kaufen konnte. Eine seltene Ausnahme bildeten das auf die Auslandspresse spezialisierte Geschäft der Poštovní novinová služba (Zeitungsdienst der Post) in der Prager Jungmanngasse, wo auch (wenn nicht von der Zensur beschlagnahmt) Die Presse im Angebot war, beziehungsweise auch die Zeitungskioske auf dem Prager Flughafen Ruzyně. Hier bezog gelegentlich auch der Verfasser dieser Zeilen diese Zeitungstitel.
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Ab 1987 war auch die Zusammenarbeit zwischen dem staatlichen Tschechoslowakischen Fernsehfunk (ČST) und der öffentlich-rechtlichen Österreichischen Rundfunkanstalt (ORF) vertraglich geregelt ; in der Qualität der Berichterstattung spiegelte sich diese Tatsache kaum wider, die seltenen Beiträge über und aus Österreich wurden in der Regel im slowakischen ČST-Studio Bratislava produziert.38 Die beiden KP-Zeitungen brachten dagegen relativ ausführliche Nachrichten und Kommentare über die österreichische innenpolitische Szene sowie über die bilateralen Beziehungen, meistens aus der Feder der Journalisten Ladislav Alster, Igor Sirota, Jan Lipavský oder des Deutschlandexperten Jan Kovařík. Zu den Höhepunkten ihrer Berichterstattung gehörten natürlich die offiziellen Besuche auf höchster Ebene. Insbesondere das Medienbild des offiziellen Besuches von Vranitzky in Prag im Juni 1988 sollte diesen als einen eindeutigen, vor allem tschechoslowakischen außenpolitischen Erfolg darstellen. Die häufig von Politik und Medien aus Österreich angeführten Kritikpunkte – vor allem zum Umgang des Prager Regimes mit der kritischen Opposition (Charta 77), zur restriktiven Kirchenpolitik sowie zu den unterschiedlichen umwelt- und energiepolitischen Vorstellungen und Konzepten Prags (vier bis fünf neue Atomkraftwerke, nicht nur also das schon damals häufig durchdeklinierte AKW im südböhmischen Temelín, sollten die veralteten Kohlenkraftwerke ersetzen) – wurden entweder verdrängt, missachtet oder, im besseren Falle, relativiert. Im Unterschied zu den österreichischen Medien konnten jedoch die Rudé-právo-Leser nicht nur die langen Auszüge aus der Rede des Bundeskanzlers an der Prager Universität, sondern auch die Tischreden beider Premierminister im Wortlaut lesen.39 Die außergewöhnlich offenen Aussagen des Premiers Štrougal zur innenpolitischen und wirtschaftlichen Situation in der ČSSR, die nur für die österreichischen Journalisten bestimmt waren (Štrougal kritisierte bei dieser Gelegenheit sogar die polizeiliche Auflösung eines inoffiziellen Menschenrechtsseminars kurz vor dem Vranitzky-Besuch)40, oder ein Bericht über das informelle Treffen eines Teiles der 38 AMZV Prag, Fonds TO-T 1980–89, Inv. Nr. 036/112. Arbeitsunterlagen und Bericht des tschechoslowakischen Botschafters in Wien Milan Kadnár für die Föderalregierung der ČSSR über den Besuch des Außenministers Jaromír Johanes in Österreich (4.–6. Dezember 1988). 39 Pro dobré sousedské vztahy a spolupráci v Evropě [Für gutnachbarschaftliche Beziehungen und Zusammenarbeit in Europa], Interview des Bundeskanzlers Franz Vranitzky in : Rudé právo vom 24. Juni 1988 ; Čs.-rakouský dialog [Tschechoslowakisch-österreichischer Dialog], in : Rudé právo vom 28. Juni 1988, S. 1, 7 ; Politická vůle ke spolupráci [Politischer Wille zur Zusammenarbeit], in : Rudé právo vom 29. Juni 1988, S. 1, 2 ; Alster, Ladislav : Nové prvky v dialogu [Neue Elemente im Dialog], in : Rudé právo vom 30. Juni 1988. 40 Štrougal stellte dabei selbstkritisch fest : »Die Polizei mischt sich manchmal so in Dinge ein, daß das der Politik nicht behilflich ist.« Zitiert nach Bischof, Burkhard : ČSSR-Premier drängt auf Reformen. Gleiche Ziele, andere Wege als 1968, in : Die Presse vom 22. Juni 1988, S. 1 f.
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Delegation Vranitzkys mit den bekannten Regimekritikern Jiří Hájek und Bohumír Janát wurden natürlich in den Prager Medien verschwiegen.41 Der mehr oder weniger propagandistische Zeitungsstil stand im Kontrast zu den durchaus sachlichen und korrekten Presseberichten und politischen Analysen aus der Werkstatt der tschechoslowakischen Botschaft in Wien, die jedoch nur für die dünne Schicht der offiziellen außenpolitischen Elite des Prager Regimes (höhere Beamte des Außenministeriums, die Internationale Abteilung des ZK der KPTsch bzw. die höchsten KP-Funktionäre) bestimmt waren und meistens als »vertraulich«, wenn nicht sogar »geheim« eingestuft waren. Die inhaltliche Ausrichtung sowie die präferierten Interessengebiete für die Ausarbeitung dieser Berichte und Analysen wurden in einem groben einjährigen Arbeitsplan festgelegt, der besonders im Jahre 1989 aufgrund der »beschleunigten Geschichte« und vieler aktueller Aufgaben revidiert werden musste.42
IV. Fazit Die bisher veröffentlichten Teilstudien ermöglichen es – trotz der immer noch unvollständigen, teilweise wegen gesetzlicher Archivsperren eingeschränkten Quellenbasis –, einige Schlussbetrachtungen zu formulieren. Die hier skizzierten Trends in den Beziehungen zwischen der Tschechoslowakei und Österreich, speziell dann in den Konturen des offiziellen tschechischen/slowakischen Österreichbildes am Ausgang der 1980er-Jahre, weisen demnach zusammenfassend folgende Merkmale auf : 1. Trotz der fortdauernden Bipolarität im internationalen Umfeld war eine spürbar zunehmende Multilateralisierung wichtiger Themenbereiche wie Sicherheit, Wirtschaft, Umwelt, Bürger- und Menschenrechte und so weiter zu verzeichnen. Die innerösterreichische Europadebatte im Zusammenhang mit dem EG-Beitrittsgesuch Österreichs von 1989 wurde vom offiziellen Prag mit wachsender Aufmerksamkeit verfolgt. Die traditionellen Vorbehalte seitens der UdSSR und ihrer Verbündeten betreffend den Neutralitätsstatus Österreichs erschienen in den amtlichen Prager Unterlagen eher aus konventionellen Gründen. Die in Prag (und angesichts der spürbaren RGW-Krise parallel auch in Ost-Berlin) geforderte und mindestens in den theoretischen Überlegungen formulierte sozialistische Europapolitik blieb jedoch ein Desiderat ; die österreichischen Diskussionen konnte sie natürlich kaum beeinflussen. 41 Vranitzky-Reise endete mit Spaziergang durch Bratislava. Gespräche mit den Regimekritikern, in : Wiener Zeitung vom 30. Juni 1988. 42 AMZV Prag, Fonds Teritoriální odbory [Territoriale Sektionen], Sign. TO-T 1980–1989, Rakousko, Kart. 3, Inv. Nr. 036/413.
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2. Der als Folge der Entspannungspolitik, der sowjetischen Perestroika und des KSZE-Prozesses laufende Prozess der graduellen Öffnung neuer Spielräume für die immer noch unterbundene öffentliche Diplomatie auch jenseits des Eisernen Vorhangs brachte auch neue Möglichkeiten für Städte-, Schul- und Universitätspartnerschaften, weniger für die Erweiterung der offiziellen kirchlichen Kontakte (diese wollte Prag bis in die letzte Phase unterbinden und kontrollieren) sowie der Kontakte zwischen politischen Parteien, d. h. nicht nur auf der traditionellen Ebene der nach 1969 bzw. 1971 »kremltreuen« altkommunistischen Parteien KPTsch – KPÖ. Auch die Beziehungen der tschechoslowakischen Opposition zu verschiedenen Akteuren in Österreich wurden – trotz Restriktionen aller Art – dichter und intensiver : Sie stellten somit auch eine Plattform für Erfahrungsaustausch, moralische und praktische Unterstützung sowie für nonkonformistische Zukunftsdebatten dar. 3. Die wirtschaftlichen Beziehungen zwischen Österreich und der Tschechoslowakei charakterisierte der teilweise erst proklamierte Übergang von einem Warenaustausch mit einer zusehends ungünstigeren Kommoditätsstruktur für die ČSSR zu höheren Formen der Kooperation – von der Zusammenarbeit auf Drittmärkten (so beispielsweise beim gemeinsamen Aufbau des Elektrizitätswerkes in Abu Dhabi im Auftrag der VOEST-Alpine Linz und Škodaexport Prag) bis zu geplanten Gründungen von Joint Ventures mit einem ausländischen Anteil. In den Jahren 1988–1989 wurden diese Betriebe vor allem in der Tourismusbranche, meistens in der Hotellerie und im Kurwesen, gegründet beziehungsweise wurde ihre Gründung anvisiert. Die Zulassung westlicher, auch österreichischer, Direktinvestitionen war in der behutsamen tschechoslowakischen Reformplanung nämlich erst für das Jahr 1990 vorgesehen. 4. Die nach 1989 gelegentlich laut artikulierten Vergangenheitsfragen (die Debatten über die Vertreibung der Sudetendeutschen aus der Tschechoslowakei, die Entschädigung von NS-Opfern, der Forderungskatalog der österreichischen/deutschen Vertriebenenverbände gegenüber der Tschechoslowakei/Tschechischen Republik – vieles davon unter der Chiffre der »Beneš-Dekrete«) wurden auf der zwischenstaatlichen Ebene der österreichisch-tschechoslowakischen Beziehungen in den späten 1980er-Jahren nicht angesprochen. Vielmehr wurden sie aus der damaligen Gesprächsagenda sorgfältig ausgeklammert, wie auch bei dem offiziellen Besuch von Vranitzky in der Tschechoslowakei (Juni 1988) beziehungsweise beim Besuch von Adamec in Österreich (Oktober 1989). Bereits im Jahre 1987 wurde jedoch fast unbemerkt von den Medien sowie von der interessierten Fachöffentlichkeit die gemeinsame tschechoslowakisch-österreichische Historikerkommission ins Leben gerufen.43 43 Erstes sichtbares Lebenszeichen dieser halboffiziellen Kommission, die nicht von den beiden Regierungen, sondern von der Tschechoslowakischen Akademie der Wissenschaften (ČSAV) sowie der His-
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Die Systemimplosion des Jahres 1989 beschleunigte natürlich die hier angedeuteten Entwicklungstrends und erweiterte das immer dichtere Beziehungsgeflecht – insbesondere nach der Abschaffung der Visumspflicht im Dezember 1989 – um neue Themen und neue Horizonte. Leider kamen nun aber auch wieder viele alt-neue, aus der Vergangenheit herrührende Probleme zur Sprache. Die jahrhundertealten historischen Bindungen zwischen beiden Staaten wirkten hier einerseits als nützliche Impulse, verdeckten andererseits viele Schwierigkeiten latenter Vorurteile und ostentativen Desinteresses. Der Weg zur neuen, von Havel im März 1993 ersehnten österreichisch-tschechischen Partnerschaft in der nun um die MOE-Staaten erweiterten Europäischen Union erwies sich daher als etwas länger und strapaziöser, als man in der Euphorie der »Friedlichen Revolution« erwartet hatte.
torischen Kommission der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) bestellt worden war, war die gemeinsame Historikertagung Aufklärung – Vormärz – Frühnationalismus in den böhmischen Ländern und in der Donaumonarchie (Wien, 18.–20. März 1988). Siehe Drabek, Anna M. : Aufklärung – Vormärz – Frühnationalismus in den böhmischen Ländern und in der Donaumonarchie. 1. Österreichisch-tschechoslowakische Historikertagung in Wien, in : Österreichische Osthefte 4/30 (1988), S. 552–553. Zur Geschichte der Kommission neuerlich auch Kunštát, Miroslav/Newerkla, Stefan Michael : »Stálá konference českých a rakouských historiků ke společnému kulturnímu dědictví« a její předchůdci [»Ständige Konferenz der österreichischen und tschechischen Historiker« und ihre Vorgänger], in : Stehlík, Michal/Sprengnagel, Gerald M. (Hg.) : Kreiského éra v Rakousku a období normalizace v ČSSR [Die Ära Kreisky in Österreich und die Normalisierungsperiode in der ČSSR], Praha 2013, S. 9–29.
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So nah und doch so fern Slowakische Wahrnehmungen der Beziehungen zu Österreich 1989 und in der Folgezeit
I. Einleitung Am 22. September 2012 wurde zwischen Devínska Nová Ves und Schlosshof eine Fußgänger- und Radfahrerbrücke über die March eröffnet.1 Während der Bauarbeiten war man auf die Überreste der Steinbrücke gestoßen, die unter Königin Maria Theresia 1771 an derselben Stelle errichtet worden war. Nach deren wiederholter Zerstörung durch Treibeis hatte es seit 1880 keine Brücke mehr gegeben. Zumindest eine Fähre verkehrte, bevor zwischen 1948 und 1989 der Eiserne Vorhang die Überquerung der March lebensgefährlich machte.2 Die zum Großteil EU-finanzierte neue »Fahrradbrücke der Freiheit« – die slowakische und die österreichische Seite hatten sich nach längeren Beratungen auf den Namen geeinigt – wird vor allem Ausflüglern dienen, die unter Nutzung des freien Grenzübertritts im Rahmen des Schengenraums die Radwege beiderseits der March befahren werden. In ähnlicher Weise, wie diese natürliche Grenze zwischen den heutigen Staaten Österreich und Slowakei die Menschen zu manchen Zeiten scharf trennte, zu anderen Zeiten verband, oszillierte die Sicht auf die Nachbarn zwischen Vertrautheit und Fremdheit. Dem Jahr 1989 kommt in diesem Wechselspiel eine Schlüsselrolle zu, weil es einen Bruch von kaum zu überbietender Plötzlichkeit und Radikalität bedeutete. Auf den folgenden Seiten wird anhand einiger Streiflichter gezeigt, wie Österreich in der Slowakei von Politik und Bevölkerung während der »verhandelten Revolution«3 1 Vgl. http://www.bmeia.gv.at/botschaft/pressburg/aktuelles/archiv/2012/eroeffnung-der-radfahrerbrue cke.html (online am 15. Dezember 2012). 2 Zwischen 1948 und 1989 wurden an der slowakisch-österreichischen Grenze durch Schüsse, Hochspannung und Minen mindestens 40 Personen getötet. Morbacher, Ľubomír : 11. brigáda Pohraničnej stráže v systéme ochrany hranice [Die 11. Brigade der Grenzwache im System des Grenzschutzes], in : Ústav pamäti národa (Hg.) : Moc verzus občan. Úloha represie a politického násilia v komunizme [Macht versus Bürger. Die Rolle der Repression und politischen Gewalt im Kommunismus], Bratislava 2005, S. 113–123, hier S. 122. 3 Ther, Philipp : 1989 – eine verhandelte Revolution, in : Docupedia-Zeitgeschichte, 11. Februar 2010, http://docupedia.de/docupedia/images/4/48/1989.pdf (online am 15. Dezember 2012).
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des Jahres 1989 und in der unmittelbaren Folgezeit wahrgenommen wurde. Aus den Quellen lassen sich drei Thesen ableiten : 1. Österreich spielte 1989 aufgrund der geografischen Nähe und des offensichtlichen Wohlstandsunterschieds eine relativ große Rolle, jedoch nicht als Akteur, sondern als Projektionsfläche. Im Dezember 1989 erfolgten durch die physische Überschreitung der Grenze nach Österreich die Aneignung eines bisher verbotenen öffentlichen Raums und die symbolische Vereinigung mit Europa. Dadurch wurde der Sieg der Revolution sinnlich erfahrbar gemacht. Für einen Moment erstrahlte Österreich als Gelobtes Land, mit dem die Verheißung einer besseren Zukunft verknüpft wurde. 2. In den folgenden Monaten setzte hinter den Kulissen schnell eine Differenzierung ein. Die Zusammenarbeit mit Österreich im Bereich der Kultur und Wissenschaft wurde von der slowakischen Seite als positiv empfunden, bei der Infrastruktur überwog die Enttäuschung. Im öffentlichen Diskurs blieb jedoch eine unkritischpositive Sicht auf Österreich vorherrschend, weil Österreich als rhetorisches Vergleichsobjekt diente – Österreich verkörperte die idealisierte Gegenthese zur verbesserungsbedürftigen Slowakei. 3. Dieses Bild dominierte auch noch in der Frühphase des Prozesses der EUOsterweiterung. Eine Abkühlung in der öffentlichen Wahrnehmung setzte vor allem gegen Ende der 1990er-Jahre ein, als die Debatten um slowakische Atomkraftwerke und Österreichs restriktive Arbeitsmarktpolitik in den Vordergrund traten.
II. Die Slowakei im Jahr 1989 Bevor auf die Thesen näher eingegangen wird, sind einige Worte zu den politischen und wirtschaftlichen Verhältnissen, die sich in der Slowakei zum Zeitpunkt der Revolution4 durchaus von jenen im tschechischen Landesteil unterschieden, angebracht. Der Sturz des kommunistischen Regimes nahm in Prag seinen Ausgang, als die Staatsmacht am 17. November 1989 mit übertriebener Härte gegen eine Demonstration vorging. In den folgenden Tagen gingen auch in Bratislava und anderen Städten der Slowakei Hunderttausende Menschen auf die Straße. Die Organisation 4 In der Literatur herrscht kein Konsens, ob die Ereignisse in der Slowakei zwischen Mitte November und Ende Dezember 1989 als »Revolution« zu qualifizieren sind. Die Bürgerbewegung Öffentlichkeit gegen Gewalt bemühte sich, den Weg der Legalität nicht zu verlassen, Abrechnungen zu verhindern und gemäßigte Kommunisten in die eigenen Reihen zu integrieren. Trotz gewisser Kontinuitäten waren die Folgen jedoch revolutionär, sodass der Begriff in Bezug auf die Slowakei angemessen scheint. Vgl. Gruber, Simon : The Apostles of the Slavs versus the Velvet Revolution. The Use of History in the Struggle for Democracy in Slovakia during the 1990s, in : Journal of European Integration History 2/15 (2009), S. 149–164.
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der Proteste und die schrittweise Machtübergabe erfolgten in Prag (durch das Bürgerforum) und Bratislava (durch die Öffentlichkeit gegen Gewalt und die Unabhängige Ungarische Initiative) abgestimmt, aber getrennt. Getrennt traten am 8./9. Juni 1990 die Bürgerbewegungen auch zu den ersten freien Wahlen nach 44 Jahren an.5 Welches Bild bot die Slowakei in jener Zeit ? Die einzige Errungenschaft, die vom Prager Frühling geblieben war, stellte das föderalistische System dar, das seit 1. Jänner 1969 in Kraft war. Zum Schutz der Slowaken vor einer Überstimmung im gemeinsamen Parlament ersonnen,6 erwies es sich als wenig praxistauglich, als statt der Kommunistischen Partei das Parlament die tatsächlichen Entscheidungen zu treffen hatte. 38 von 300 Abgeordneten konnten wichtige Gesetze, 31 Abgeordnete Verfassungsänderungen blockieren – eine Reform der Kompetenzverteilung innerhalb der Föderation und erst recht die notwendige Einigung auf eine neue Verfassung wurden dadurch extrem erschwert.7 Andererseits hatte der Föderalismus in der Slowakei das Bewusstsein gestärkt, nicht nur kulturell, sondern auch politisch eine Einheit zu bilden. Bereits die kurze Phase eigener Staatlichkeit von 1939 bis 1945 hatte genügend Spuren hinterlassen, um nach dem Zweiten Weltkrieg Autonomiewünsche wachzuhalten. Für die Slowaken war während des Prager Frühlings die Forderung nach Föderalisierung zumindest gleichberechtigt neben dem Ruf nach Demokratisierung gestanden.8 Darüber hinaus war im Kommunismus die slowakische Kultur gefördert, des slowakischen Nationalaufstands von 1944 gedacht und in fast allen offiziellen Dokumenten – außer dem Reisepass – die Nationalität vermerkt worden.9 Der Tschechoslowakismus, 5 Vgl. Szomolányi, Soňa : Prehistória, zrod a rola aktéra novembra ’89 – VPN [VPN : Vorgeschichte, Geburt und Akteursrolle im November ’89], in : Antalová, Ingrid (Hg.) : Verejnosť proti násiliu 1989– 1991. Svedectvá a dokumenty [Öffentlichkeit gegen Gewalt 1989–1991. Zeugnisse und Dokumente], Bratislava 1998, S. 13–21 ; Suk, Jiří : Labyrintem Revoluce. Aktéři, zápletky a křižovatky jedné politické krize (Od listopadu 1989 do června 1990) [Durch das Labyrinth der Revolution. Akteure, Verwicklungen und Kreuzungspunkte einer politischen Krise (Vom November 1989 bis zum Juni 1990)], Praha 2003 ; Ústav pamäti národa (Hg.) : Posledné a prvé slobodné (?) voľby – 1946, 1990 [Die ersten und letzten freien (?) Wahlen – 1946, 1990], Bratislava 2006. 6 Žatkuliak, Jozef : SNR a Slovensko v rokoch 1969–1989 [Der SNR und die Slowakei in den Jahren 1969–1989], in : Žatkuliak, Jozef (Hg.) : Národná rada v kontexte slovenských dejín. 150. výročie vzniku prvej Slovenskej národnej rady [Der Nationalrat im Kontext der slowakischen Geschichte. Zum 150. Jubiläum der Entstehung des ersten Slowakischen Nationalrats], Bratislava 1999, S. 176–189. 7 Vgl. Henderson, Karen : Slovakia. The Escape from Invisibility, London/New York 2002, S. 33 f.; Elster, Jon : Transition, constitution-making and separation in Czechoslovakia, in : European Journal of Sociology 1/36 (1995), S. 105–134. 8 Vgl. Žatkuliak, Jozef : Spory o novú ústavu česko-slovenskej federácie v druhej polovici 80. rokov XX. storočia [Die Konflikte um die neue Verfassung der tschecho-slowakischen Föderation in der zweiten Hälfte der 1980er-Jahre], in : Historický časopis 1/56 (2008), S. 161–190. 9 Vgl. Hilde, Paal Sigurd : Slovak Nationalism and the Break-up of Czechoslovakia, in : Europe-Asia Studies 4/51 (1999), S. 647–666, hier S. 650.
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also die Vorstellung, dass Tschechen und Slowaken eine einzige Nation bildeten, existierte zu Beginn der 1990er-Jahre nicht mehr. Bei der Volkszählung von 1991 bekannten sich nur 3.464 Personen zur »tschechoslowakischen Nationalität«, davon 59 in der Slowakei.10 Die etwa neun Millionen Tschechen betrachteten den Staat viel selbstverständlicher als den »ihren« als die ungefähr vier Millionen Slowaken. Dies spiegelte sich beispielsweise darin wider, dass es neben der tschechoslowakischen Kommunistischen Partei (Komunistická strana Československa, KSČ) eine slowakische KP (Komunistická strana Slovenska, KSS) gegeben hatte, aber offenbar kein Bedarf an einer tschechischen KP gesehen worden war. Auch waren die bekanntesten slowakischen Politiker auf der Ebene der slowakischen Teilrepublik tätig. Die führenden tschechischen Politiker jedoch engagierten sich (bis Mitte 1992) auf der Ebene des Gesamtstaates, was ihnen von slowakischer Seite, vor 1989 ebenso wie danach, immer wieder den Vorwurf einbrachte, den Staat für sich zu vereinnahmen und slowakische Interessen zu ignorieren. Noch in der Endzeit des Kommunismus wurden jährlich etwa 5 % des tschechischen Nationaleinkommens in die Slowakei transferiert,11 sodass auf tschechischer Seite das Gefühl verbreitet war, die Slowakei sei ein Klotz am Bein. Die slowakische Wirtschaftsstruktur unterschied sich von jener im tschechischen Landesteil ziemlich stark, denn in der Slowakei war es im Gegensatz zu Tschechien erst in der Zeit des Kommunismus zu einer intensiven Industrialisierung gekommen.12 Man hatte insbesondere die Schwerindustrie ausgebaut, deren Exporte vor allem für die Sowjetunion bestimmt waren. Ende der 1980er-Jahre war in der Slowakei jeder zehnte Industriebeschäftigte in der Waffenproduktion tätig.13 Die Umorientierung der Industrie auf die Bedürfnisse des westlichen Marktes fiel der Slowakei nach 1989 schwerer als Tschechien und führte innerhalb kürzester Zeit zu einer Arbeitslosigkeit von 12 %, als in Tschechien zunächst weiterhin beinahe Vollbeschäftigung herrschte.14 Während daher die Wirtschaftsreformen in Tschechien auf Zustimmung in der Bevölkerung stießen, empfanden sie viele Slowaken als überstürzt bzw. sogar als nicht notwendig.15 Gemäß einer Umfrage vom November 1991 waren nur 33 % 10 Vgl. Letz, Róbert : Čechoslovakizmus [Tschechoslowakismus], in : Škvarna, Dušan (Hg.) : Lexikón slovenských dejín [Lexikon der slowakischen Geschichte], Bratislava 1997, S. 196. 11 Vgl. Barta, Phil : Czechoslovakia’s Velvet Divorce, in : East/West Letter 4/1 (1992), S. 1–3, hier S. 1. 12 Vgl. Londák, Miroslav : Ekonomika na Slovensku dvadsať rokov po februári 1948 [Die Wirtschaft in der Slowakei 20 Jahre nach dem Februar 1948], in : Historický časopis 3/55 (2007), S. 577–596. 13 Vgl. Lipták, Ľubomir : Slovensko v 20. Storočí [Die Slowakei im 20. Jahrhundert], in : Mannová, Elena (Hg.) : Krátke Dejiny Slovenska [Kurze Geschichte der Slowakei], Bratislava 2003, S. 265–330, hier S. 321. 14 Vgl. Lipták, Ľ. 2003, S. 321. 15 Vgl. Hilde, P. 1999, S. 655.
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der slowakischen Bevölkerung für die Einführung der Marktwirtschaft, hingegen 52 % der Bevölkerung in Tschechien.16 Diese Differenzen waren auch auf eine unterschiedliche Wahrnehmung der Jahrzehnte seit dem Prager Frühling zurückzuführen. Die »Normalisierung« hatte in Tschechien wirtschaftliche Stagnation, Verbitterung und den Wunsch nach grundlegenden politischen und wirtschaftlichen Veränderungen gebracht. Für die Slowakei galt das nicht im selben Maße, denn dort waren die Säuberungen nach 1968 weniger brutal gewesen, Karrierechancen eher intakt geblieben und der Lebensstandard spürbar gestiegen.17 Dass in der Slowakei nach 1993 die Lustration, i. e. der gesetzliche Ausschluss ehemaliger kommunistischer Funktionäre vom öffentlichen Dienst, nicht fortgesetzt wurde, ist ein Hinweis auf grundsätzliche Unterschiede in der Haltung zur Zeit vor 1989.18 Unterschiedlich waren auch die tschechische und die slowakische Sicht auf Österreich. In der Slowakei, die zwischen 907 und 1918 zu Ungarn gehört hatte, spielte das tschechische Nationaltrauma der Schlacht am Weißen Berg von 1620 keine Rolle. Das habsburgische, kaiserliche und katholische Wien war im 19. Jahrhundert die Hoffnung für den Großteil der slowakischen Elite. 1848 stellten sich die Vertreter der slowakischen Nationalbewegung um Ľudovít Štúr hinter die Habsburger. Wien war später auch die Hoffnung für den reformistisch denkenden Milan Hodža. Da es allerdings nur bei den Hoffnungen blieb und Wien durch den Ausgleich mit Budapest 1867 die Slowaken der Magyarisierung preisgab, bestimmt bis heute statt Nostalgie eher eine gewisse Bitterkeit den slowakischen Blick auf die Habsburgermonarchie. Nach der Machtübernahme des Kommunismus tauchte Wien wieder auf der Landkarte des slowakischen politischen Denkens auf. Zuerst wurde es das Zentrum des politischen Exils. Ab dem Jahr 1950 sendete von Österreich aus der Sender der Weißen Legion ; der slowakische Antikommunismus hatte sein Hinterland in Österreich.19 Die Burg Theben (Devín) am Zusammenfluss der March mit der Donau, die eng mit der slowakischen Geschichte verknüpft ist, weckte bei den Einwohnern Bratislavas, die sich der Grenze bis zum Sperrgebiet näherten, neue Assoziationen : Sie 16 Vgl. Segert, Dieter : Die Grenzen Osteuropas. 1918, 1945, 1989 – Drei Versuche, im Westen anzukom men, Frankfurt am Main/New York 2002, S. 268. 17 Vgl. Henderson, K. 2002, S. 24 f.; Marušiak, Juraj : Slovenská spoločnosť a normalizácia [Die slowakische Gesellschaft und die Normalisierung], in : Szigeti, László (Hg.) : Slovenská otázka dnes [Die slowakische Frage heute], Bratislava 2007, S. 309–329. 18 Vgl. Ash, Timothy : Zeit der Freiheit. Aus den Zentren von Mitteleuropa, München/Wien 1999, S. 321. 19 Vgl. Katrebova-Blehova, Beata : Das slowakische politische Exil in Österreich, 1945–1955, in : Hrabo vec, Emilia/Katrebova-Blehova, Beata (Hg.) : Slowakei und Österreich im 20. Jahrhundert. Eine Nachbarschaft in historisch-literarischer Perspektive, Wien 2008, S. 173–214.
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symbolisierte nun die Sehnsucht nach Freiheit, aber auch die Trauer um jene, die auf der Flucht nach Österreich ermordet wurden. In der Westslowakei bis in die Gegend von Piešťany war der ORF zu empfangen. Noch heute ist den meisten Slowakinnen und Slowaken der mittleren und älteren Generation das KPÖ-Organ Volksstimme ein Begriff. Die legal erhältliche Tageszeitung war aufgrund der Tatsache heiß begehrt, dass sie das Programm des ORF für die jeweils kommende Woche enthielt. Nicht wenige slowakische Bürger erlernten während des Kommunismus durch den ORF die deutsche Sprache. Österreich wurde als Vorbild und als internationaler Advokat wahrgenommen. Der ORF informierte die Welt über die »Kerzen-Demonstration« vom 25. März 1988, die größte öffentliche Aktion der slowakischen Dissidenten vor der Revolution. Der Wiener Erzbischof Kardinal Franz König wurde zu einer wichtigen Stütze für die Kirche in der Slowakei. »Wenn wir es zusammenfassen, so war der ORF für die Slowaken ein Beispiel eines freien Fernsehens, der österreichische Bundeskanzler (aber auch der Außenminister) ein Beispiel eines europäischen Staatsmannes und die österreichische Wirtschaft und der Umtauschkurs des Schillings ein Beispiel, wo wir ohne den Kommunismus sein könnten.«20
III. Der Marsch nach Hainburg vom 10. Dezember 1989 Im November und Dezember 1989 fand diese Sicht ihren Ausdruck. Nachdem Österreich am 4. Dezember 1989 die Visumspflicht aufgehoben hatte21 – zuerst bis zum 17. Dezember, dann bis Ende des Jahres – wurde der Kurzbesuch in Österreich für viele slowakische Bürger das prägende Erlebnis im Zusammenhang mit Österreich in jenen Monaten. Allein am 9. und 10. Dezember besuchten mehr als eine Viertelmillion tschechoslowakische Bürger Österreich, davon 100.000 Wien. Die österreichische Hauptstadt ermöglichte einen Gratisbesuch der Museen, und die Österreichischen Bundesbahnen (ÖBB) gaben einen Rabatt. Gekauft wurde zur Enttäuschung der Geschäftsinhaber nur wenig, vor allem Schokolade, Spielsachen, Kosmetika, Kaffee, Obst, Textilien und billige Elektroartikel. Den tschechoslowakischen Stellen gingen aufgrund der vielen Österreichreisenden die Schillingbanknoten aus.22 James Krapfel weist darauf hin, dass es sowohl bei diesen individuellen Ausflügen als auch 20 Daniška, Jaroslav : Rakúsky príklad [Österreichisches Beispiel], in : Týždeň vom 15. August 2011, S. 25. 21 Vgl. Österreichisches Jahrbuch für Internationale Politik 1989, Wien 1989, S. 303. 22 Vgl. Krapfl, James : Revolúcia s ľudskou tvárou. Politika, kultúra a spoločenstvo v Československu po 17. novembri 1989 [Die Revolution mit dem menschlichen Antlitz. Politik, Kultur und Gesellschaft in der Tschechoslowakei nach dem 17. November 1989], Bratislava 2009, S. 83.
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im Fall der organisierten Grenzüberschreitungen um eine Aneignung des bisher verbotenen öffentlichen Raums ging.23 Die größte organisierte Aktion fand am 10. Dezember 1989 statt. Es war der Tag, an dem der tschechoslowakische Präsident Gustáv Husák eine neue föderale Regierung mit mehreren nicht kommunistischen Mitgliedern ernannte und vereinbarungsgemäß zurücktrat. Die beiden treibenden Kräfte des Machtwechsels in der Slowakei, die Öffentlichkeit gegen Gewalt (Verejnosť proti násiliu, VPN) und die Studenten, riefen zu einer Wanderung ins österreichische Grenzstädtchen Hainburg auf.24 In der Erinnerung der Akteure Fedor Gál und Peter Zajac »erreichte die Revolutionseuphorie in Hainburg ihren Höhepunkt«.25 Es handelte sich dabei nicht in erster Linie, wie österreichische Beobachter meinten, um einen »Friedensmarsch«26 oder etwa ein »Freundschaftstreffen«27 der Gemeinden Devín und Hainburg. Aus slowakischer Sicht führte der Marsch, an dem sich rund 130.000 Personen, vornehmlich Einwohner Bratislavas, beteiligten, nicht ins Provinznest Hainburg oder nach Österreich, sondern geradewegs nach Europa. Ján Budaj, neben dem Schauspieler Milan Kňažko in jenen Tagen die präsenteste Gestalt der VPN, unterstrich in seiner Ansprache vor Ort den »europäischen« Charakter der Aktion : »Freunde, wir haben uns an diesem Tag getroffen, an dem eine Periode endet, die einst mit dem Ausspruch eines ehemaligen Präsidenten [Husák] begann, dass die Grenze kein Korso sei. Heute sind wir nach Österreich hinüberspaziert. Und zugleich haben wir für alle Slowaken und Tschechen den symbolischen Schritt nach Europa gemacht. Ahoi Europa !«28
Der gelungene Schritt nach Europa kennzeichnete die Überwindung der Periode der unfreiwilligen Abschließung und unterstrich die Realität des gewaltfreien Triumphs über das kommunistische Regime. Eine ähnliche Aktion fand übrigens zwischen dem südmährischen Břeclav und der österreichischen Ortschaft Reinthal statt, bei
23 Vgl. Krapfl, J. 2009, S. 83. 24 Zur Genese der Idee vgl. Bútora, Martin : Odklínanie (Texty z rokov 1967–2004) [Die Aufhebung des Fluches (Texte aus den Jahren 1967–2004)], Bratislava 2004, S. 273 ; Fotos abgedruckt in Ústav pamäti národa : November očami Štb a ulice [Der November mit den Augen des Staatsicherheitsdiensts und der Straße], Bratislava 2009, S. 222–235. 25 Gál, Fedor/Zajac, Peter : November ’89, Bratislava 2009, S. 15. 26 Jubelfest – 200.000 atmeten Freiheit, in : Kurier vom 11. Dezember 1989, S. 1, 15. 27 Zwei Tage und eine Viertelmillion ČSSR-Bürger. Dem Einkaufssamstag folgte ein Hainburger Sturm, in : Die Presse vom 11. Dezember 1989, S. 16. 28 Keď sme brali do rúk budúcnosť – Dni, dokumenty, doslov [Als wir die Zukunft in die Hand nahmen – Tage, Dokumente, Nachwort], Bratislava 1990, S. 51.
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der eine Menschenkette, die »Kette Europas«, gebildet wurde.29 Der Marsch nach Hainburg wurde von einer reichhaltigen Symbolik begleitet. Teilnehmer formten am Donauufer ein riesiges Herz aus Stacheldraht.30 Die Aktion selbst, ebenso das Vermischen von Erde, die von diesseits und jenseits der Grenze stammte, auch die gemeinsame Errichtung eines »Freundschafts-Mahnmals für Frieden und Freiheit« aus Donaukieseln durch Slowaken und anwesende Österreicher hoben historisch-kulturelle Gemeinsamkeiten hervor und verdeutlichten die gelungene Wiedervereinigung der Tschechoslowakei mit Europa. Besonders offenkundig wurde der Aspekt des Wiedereintritts nach Europa durch die Überreichung eines Steins der Burg Devín an die Hainburger Bürger, denn explizit war diese Geste als symbolischer Beitrag zu den Fundamenten des »Europäischen Hauses« gedacht.31 Gleichzeitig und gleichermaßen war der Marsch nach Hainburg auch die Feier der wiedergewonnenen Freiheit, wobei noch nicht zwischen persönlicher, slowakischer und tschechoslowakischer Selbstbestimmung unterschieden wurde.32 Auf einem Flugblatt fand sich das Gedicht eines unbekannten Verfassers mit dem Titel »Ahoj, Európa«. Es handelte von den Wunden Europas, Stacheldraht und dem heilenden »Doktor Freiheit«.33 Aus den Fenstern der Burg Devín wehten nebeneinander die tschechoslowakische und die österreichische Flagge. Zahlreiche Teilnehmer des Marsches trugen tschechoslowakische Flaggen mit sich oder waren sogar darin eingehüllt. Am Ende der Kundgebung in Hainburg wurde die tschechoslowakische Hymne gesungen.34 Überraschend viele Teilnehmer des Marsches – weniger die Organisatoren – hoben den Aspekt der Vereinigung mit den Auslandsslowaken hervor.35
29 Krapfl, J. 2009, S. 81. 30 Abgebildet in : Gál F./Zajac, P. 2009, S. 15, und auf dem Cover von Gruber, Simon : Wilder Osten oder Herz Europas ? Die Slowakei als EU-Anwärterstaat in den 1990er-Jahren, Göttingen 2010. 31 Ahoj Európa, in : Verejnosť 1/1989 vom 15. Dezember 1989, S. 4 f.; Zwei Tage und eine Viertelmillion ČSSR-Bürger. Dem Einkaufssamstag folgte ein Hainburger Sturm, in : Die Presse vom 11. Dezember 1989, S. 16. 32 Vgl. Mulík, Peter : Slovenská národná identita a štátna suverenita Slovenska v dokumentoch Nežnej revolúcie [Die slowakische nationale Identität und die staatliche Souveränität der Slowakei in den Dokumenten der Samtenen Revolution], in : Ústav pamäti národa (Hg.) : 20. výročie Nežnej revolúcie [Der 20. Jahrestag der Samtenen Revolution], Bratislava 2010, S. 90–107. 33 Ahoj, Európa 2, in : Verejnosť vom 16. Mai 1990, S. 1. 34 Vgl. 250.000 Slowaken zu Besuch. Kundgebung Hainburg-Theben, in : NÖN 50/1989, S. 5. 35 Vgl. Berichterstattung des slowakischen Fernsehsenders STV mit zahlreichen Kurzinterviews : STV, Devín – Hainburg ; Pochod priateľstva – Sad J. Kráľa [Freundschaftsmarsch – Park des J. Kráľ], Pochod Devín – Hainburg [Marsch Devín – Hainburg] ; Devín – Hainburg – Južný svah [Devín – Hainburg – Südhang], 10. Dezember 1989.
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Abbildung 1 : Das »Herz Europas« wurde am 10. Dezember 1989 unter Federführung des slowakischen Künstlers Daniel Brunovský am Donauufer bei Hainburg errichtet. Quelle: Daniel Brunovský/LITA
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Die Burg Devín selbst, die das Material zur Mitarbeit am »Europäischen Haus« lieferte, hatte bereits der slowakischen Nationalbewegung des 19. Jahrhunderts als Verweis auf die angeblich uralte geschichtliche Präsenz der Slowaken in Europa und als romantisch verklärter Brennpunkt der nationalen Emanzipation gedient.36 Aufgrund ihrer Grenzlage hatte sie andererseits auch im österreichischen und ungarischen kollektiven Gedächtnis einen Platz gefunden, sodass sie als gemeinsamer mitteleuropäischer Gedächtnisort dienen konnte.37 Der vielfach bezeugte Enthusiasmus jener Tage nahm unter der Regie der VPNAktivisten feierliche, beinahe religiöse Züge an. Die erste Nummer des offiziellen Organs der VPN beschäftigte sich nicht etwa mit den Fahrten der Tschechoslowaken nach Wien zum Schaufensterbummel, sondern unter dem Titel »Ahoj Európa« mit der Hainburg-Aktion der 100.000 Bürger : »Auf die Hainburger Wiesen brachten sie ein Stück Kalkstein vom Devín (heilig) mit, als Beitrag zu den symbolischen Fundamenten des Europäischen Hauses. Es war etwas Magisches daran, wie sich die schwer durchdringbare Grenze nach 20 Jahren, ausgerechnet am Tag der Menschenrechte, wieder in einen Korso verwandelte. Die stille Euphorie des klaren Dezembertages erlöste auf der anderen Seite der Donau den altberühmten Devín. Die neue Öffentlichkeit, geboren in den Straßen nach dem 17. November, schrieb sich würdig in die Geschichte ein. Ahoi Europa, da sind wir. Nun kannst du mit uns rechnen […].«38
Noch heute beeindruckt die ernste Stille, in der die Zehntausenden T eilnehmer durch den kalten Wintertag wanderten. Einer der führenden VPN-Aktivisten, der Schriftsteller Martin Bútora, prägte das Wort »odkliatie« [Lösung vom Bann/ Zauberspruch] zur Charakterisierung und gleichzeitig zur Mitgestaltung der Ereig nisse.39 Wie im Märchen sollte der böse Fluch der vergangenen Jahrzehnte abgeschüttelt, sollte die schlafende Schönheit namens »offene Gesellschaft« wachgeküsst werden.
36 Vgl. Kiliánová, Gabriela : Komu patrí Devín ? [Wem gehört der Devín ?], in : Krekovič, Eduard/Mannová, Elena/Krekovičová, Eva (Hg.), Mýty naše slovenské [Unsere slowakischen Mythen], Bratislava 2005, S. 120–133. 37 Vgl. Kiliánová, Gabriela : Mýtus hranice : Devín v kolektívnej pamäti Slovákov, Maďarov a Nemcov [Der Mythos der Grenze : Der Devín im kollektiven Gedächtnis von Slowaken, Ungarn, Deutschen], in : Historický časopis 4/50 (2002), S. 633–650. 38 Ahoj Europa, in : Verejnosť 1/1989 vom 15. Dezember 1989, S. 4 f. 39 Vgl. Bútora, Martin : Odklínanie (Texty z rokov 1967–2004) [Die Aufhebung des Fluches (Texte aus den Jahren 1967–2004)], Bratislava 2004, S. 199.
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IV. Österreich als Gegenstand von Parlamentsdebatten Weniger romantisch verliefen die Debatten des slowakischen Nationalrats. Wiederholt wurde im Herbst 1989 und während des Jahres 1990 im slowakischen Parlament über Österreich gesprochen. Neben Italien war Österreich übrigens das erste Land, mit dem das Parlament noch vor den Wahlen vom 8./9. Juni 1990 offizielle Beziehungen aufnahm. Eine Delegation des slowakischen Nationalrats unter dem ersten Vizepräsidenten Ján Budaj, einem der kooptierten Abgeordneten, besuchte im April 1990 das österreichische Parlament.40 Die Aufhebung der Visumspflicht durch Österreich im Dezember 1989 wurde bei den Parlamentsdebatten als »großzügige Geste des österreichischen Bundeskanzlers [Franz] Vranitzky«41 mehrfach gewürdigt. Dass sich, wie erwähnt, die slowakischen Touristen aufgrund des Devisenmangels zunächst hauptsächlich darauf beschränken mussten, die Wiener Sehenswürdigkeiten zu besichtigen, wurde auch von den Kommunisten im Parlament bedauert und sogar als Peinlichkeit bezeichnet.42 In der Slowakei sorgte die Grenzöffnung beinahe unverzüglich für wirtschaftliche Komplikationen. Die Tatsache, dass für Österreicher bestimmte Waren aus der Slowakei sehr billig waren, drohte, die Planwirtschaft zu überfordern. Bereits Mitte Dezember 1989 beklagte im Parlament der neue slowakische Regierungschef, der bisherige kommunistische Justizminister Milan Čič, dass aufgrund österreichischer Käufer der Fleischverbrauch zu stark ansteige. Die Nachfrage nach slowakischen Waren sei zwar mittel- und langfristig eine erfreuliche Entwicklung, führe kurzfristig jedoch zu Problemen.43 Handelsminister Matej Roľko (parteilos) führte aus, dass Engpässe nicht nur bei Fleisch, Butter, Käse und Räucherwaren drohten, sondern die österreichischen Touristen auch an Kristall, Porzellan und Lederwaren interessiert seien.44 Anfang März 1990 sprach Regierungschef Čič bereits von »außergewöhnlich ernsten Problemen«, insbesondere bei Fleisch und Fleischprodukten in Bratislava, wo der Verbrauch um 18 % gegenüber dem Vorjahr gestiegen sei. Die Versorgungslage bewege sich ja selbst unter normalen Umständen bekanntlich auf des Messers 40 Vgl. Stenographisches Protokoll der 26. Sitzung des Slowakischen Nationalrats, 27. April 1990, S. 6. 41 Abgeordnete Emília Lagová und Regierungsvorsitzender Milan Čič, Stenographisches Protokoll der 19. Sitzung des Slowakischen Nationalrats, 19. Dezember 1989, S. 20, 38 ; Stenographisches Protokoll der 18. Sitzung der Föderalversammlung 1986–1990, 19. Dezember 1989. 42 Vgl. Abgeordnete Emília Lagová, Stenographisches Protokoll der 19. Sitzung des Slowakischen Nationalrats, 19. Dezember 1989, S. 20. 43 Vgl. Regierungsvorsitzender Milan Čič, Stenographisches Protokoll der 19. Sitzung des Slowakischen Nationalrats, 19. Dezember 1989, S. 101. 44 Vgl. Minister für Handel und Fremdenverkehr der Slowakischen Sozialistischen Republik Matej Roľko, Stenographisches Protokoll der 19. Sitzung des Slowakischen Nationalrats, 19. Dezember 1989, S. 121.
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Schneide.45 Ähnliches gelte für Benzin, das man ohnehin aus Österreich importieren müsse. Der Verbrauch an Superbenzin sei gegenüber dem Vorjahr aufgrund österreichischer Tanktouristen um 33 % gestiegen. Die slowakische Regierung verlangte deshalb von der föderalen Regierung ein Exportverbot für Lebensmittel, Lederwaren und einige andere Erzeugnisse.46 In der wirtschaftlichen Stärke Österreichs lag für die Slowakei natürlich auch eine Chance. Deshalb versuchte die slowakische Regierung zur selben Zeit, im März 1990, Interessenten für Joint Ventures mit slowakischen Unternehmen zu gewinnen. Erste Verhandlungen mit österreichischen Unternehmen waren bereits im Gange.47 Auch wurden noch vor Ende 1990 erste Kooperationen mit österreichischen Volkshochschulen und Handelsakademien vereinbart. Die Großzügigkeit Österreichs bei der Finanzierung dieser Projekte wurde im slowakischen Parlament anerkennend hervorgehoben.48 Durch die Beseitigung des Machtmonopols der Kommunistischen Partei bekam das Parlament plötzlich echtes politisches Gewicht. Eine Vielzahl schwerwiegender Entscheidungen musste unter Zeitdruck gefällt werden. Unter den Abgeordneten (Kommunisten, Kooptierte49 oder bei den ersten freien Parlamentswahlen im Juni 1990 Gewählte) herrschten Orientierungslosigkeit, Unsicherheit und ein Mangel an Erfahrung. Es war unstrittig, dass die Inspiration künftig aus dem Westen kommen würde. Der Regierungschef der föderalen Regierung der ČSSR, der Slowake Marián Čalfa (KSČ, ab 18. Jänner 1990 VPN) bemerkte im Februar 1990 bei einer Diskussion im föderalen Parlament, die Tschechoslowakei sei nach Jahrzehnten des fleißigen Aufbaus im Grunde ein zweitrangiges Land. »Stets haben wir Erfolge ausgewiesen, aber immer im Vergleich mit der Zeit der ersten Republik, um absichtlich den wahrhaftigen Vergleich mit der Entwicklung beispielsweise in der Bundesrepublik Deutschland oder in Österreich zu vermeiden.«50 In der Slowakei blickte man weniger nach Deutschland, dafür umso mehr nach Österreich. Im slowakischen Parlament wurde Österreich als Referenzgröße, Vorbild und Vergleichsobjekt omnipräsent.
45 Vgl. Regierungsvorsitzender Milan Čič, Stenographisches Protokoll der 22. Sitzung des Slowakischen Nationalrats, 1. März 1990, S. 78. 46 Vgl. Minister für Handel und Fremdenverkehr der Slowakischen Sozialistischen Republik Matej Roľko, Stenographisches Protokoll der 19. Sitzung des Slowakischen Nationalrats, 19. Dezember 1989, S. 122. 47 Vgl. Regierungsvorsitzender Milan Čič, Stenographisches Protokoll der 24. Sitzung des Slowakischen Nationalrats, 29./30. März 1990 ; 26. Sitzung des Slowakischen Nationalrats, 27. April 1990. 48 Vgl. Abgeordneter Michal Géci, Stenographisches Protokoll der 9. Sitzung des Slowakischen Nationalrats, 17., 18., 19. und 20. Dezember 1990, S. 302. 49 Zwischen Dezember 1989 und Februar 1990 wurden Parlamentssitze, die aufgrund des Rücktritts besonders belasteter Abgeordneter vakant geworden waren, durch Vertreter der Oppositionsbewegung besetzt. 50 Vorsitzender der Regierung der ČSSR Marián Čalfa, Bericht über die Erfüllung der Programmerklärung der Regierung der Tschechoslowakischen Sozialistischen Republik, Stenographisches Protokoll der 24. Sitzung, 27. Februar 1990, S. 8.
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Da in der Slowakei die Skepsis gegenüber allzu radikalen marktwirtschaftlichen Reformen größer war als in Tschechien oder Polen, gewann Österreich als Land mit einer sozialdemokratisch geführten Regierung und einer Wirtschaft mit hohem Staatsanteil noch an Attraktivität. So wurde auf Österreich Bezug genommen, um die Bedeutung des Begriffs »Soziale Marktwirtschaft« zu erläutern.51 Sozialminister Stanislav Novák (Demokratische Partei) berief sich auf den österreichischen Bundeskanzler, um vor einem zu plötzlichen Rückzug des Staates zu warnen : »Auch Vranitzky weist darauf hin, dass ein Staat in der Übergangsperiode alles genau verfolgen muss ; die Regierung muss aufpassen, dass wir nicht in einen ›Raubtierkapitalismus‹ verfallen, wie sie es nennen.«52 Österreich diente als Referenz bei Diskussionen über vergleichsweise marginale Fragen wie die Einrichtung einer freiwilligen Feuerwehr53 und das Staatsmonopol bei Glückspielen,54 jedoch auch bei den relativ bedeutenden Entscheidungen über den Religionsunterricht in der Schule,55 die Organisation der Gemeindeselbstverwaltung56 und sogar bei der Frage der Amtssprache für die Minderheitsnationalitäten,57 die in den 1990er-Jahren mehrmals die slowakische Innenpolitik beherrschen sollte. Nicht immer wurde freilich die österreichische Lösungsvariante gewählt, doch die Abgeordneten betrachteten es offensichtlich als starkes Argument, wenn sie darauf verweisen konnten, dass eine Frage in Österreich in einer bestimmten Weise geregelt war. Die Atomkraft, ein Dauerthema nicht nur der tschechisch-österreichischen, sondern auch der slowakisch-österreichischen Beziehungen, stand 1989/90 noch nicht im Vordergrund. Den Messungen österreichischer Experten bei Bohunice wurde von slowakischen Parlamentsabgeordneten größeres Vertrauen entgegengebracht als den Angaben der Internationalen Atomenergie Organisation (IAEO).58
51 Vgl. Abgeordneter Cyril Ivan, Stenographisches Protokoll der 8. Sitzung des Slowakischen Nationalrats, 19., 20., 21., 22., 26. und 27. November 1990, S. 23. 52 Arbeits- und Sozialminister Stanislav Novák, Stenographisches Protokoll der 8. Sitzung des Slowakischen Nationalrats, 19., 20., 21., 22., 26. und 27. November 1990, S. 904. 53 Vgl. Abgeordneter Cyril Ivan, Stenographisches Protokoll der 8. Sitzung des Slowakischen Nationalrats, 19., 20., 21., 22., 26. und 27. November 1990, S. 1000. 54 Vgl. Abgeordneter Rudolf Hamerlík und Finanzminister Michal Kováč, Stenographisches Protokoll der 27. Sitzung des Slowakischen Nationalrats, 17./18. Mai 1990, S. 103, 120. 55 Vgl. Abgeordneter Ján Masarik, Stenographisches Protokoll der 6. Sitzung des Slowakischen Nationalrats, 1. Oktober 1990, S. 89. 56 Vgl. Abgeordneter Emil Lacko, Stenographisches Protokoll der 7. Sitzung des Slowakischen Nationalrats, 25., 26. und 29. Oktober 1990, S. 222. 57 Vgl. Erster Regierungsvizevorsitzender Ján Čarnogurský, Stenographisches Protokoll der 3. Sitzung des Slowakischen Nationalrats, 27.–29. August 1990, S. 56. 58 Vgl. Abgeordneter Peter Sabo, Stenographisches Protokoll der 8. Sitzung des Slowakischen Nationalrats, 19., 20., 21., 22., 26. und 27. November 1990, S. 1077.
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V. Die Sicht der tschechoslowakischen Botschaft Die tschechoslowakische Botschaft in Wien wurde ab Frühjahr 1990 von der Slowakin Magda Vášáryová geleitet, einer ehemaligen Schauspielerin, die in der »Samtenen Revolution« aktiv war.59 Im Herbst 1992 zog sie in einem Bericht an Prag ein Resümee der tschechoslowakisch-österreichischen Beziehungen seit der Wende, in dem sie auch auf das slowakisch-österreichische Verhältnis einging.60 Österreich fühle sich bedroht durch die Labilität in den Reformländern und durch die Konflikte in unmittelbarer Nähe seiner Grenzen. Die Hauptprioritäten Österreichs seien erstens der EG-Beitritt und zweitens gute Beziehungen zu den Nachbarn. Österreich sei sich bewusst, dass die Stabilität der Nachbarn in seinem Interesse liege, zugleich fürchte es deren künftige Konkurrenz (vor allem aus Tschechien und Ungarn). Österreich vertrete die Meinung, dass die Verantwortung für den Erfolg der Transformation in den Reformländern Mittel- und Osteuropas in großem Maße die EG übernehmen sollte.61 Nach dem November 1989 habe zuerst »beidseitige Euphorie« geherrscht, »die natürlicherweise auf der österreichischen Seite in den ›normalen Alltag‹ überging – Verteidigung der eigenen egoistischen Interessen, was sich vor allem im Wirtschaftsbereich zeigt (Unwille, den Handel zu liberalisieren und Dumping-Anschuldigungen gegen die ČSFR). Furcht vor Konkurrenz, vor allem durch ČR, führt zu zielbewusster Politik, die zwei Ziele verfolgt : 1. Übertragung einfacher Erzeugungen in die Reformstaaten, um daheim die technologisch anspruchsvollen Betriebe zu schützen ; 2. Abwerbung von ›Gehirnen‹ (an den österreichischen Vertretungsbehörden in der ČSFR, MR [Republik Ungarn] und PR [Republik Polen] wurden sog. Sozialattachés eingerichtet, deren Hauptfunktion darin besteht, in dieser Hinsicht geeignete Arbeitskräfte zu finden).«62
Andererseits seien die Stabilität und der Erfolg der wirtschaftlichen Transformation der ČSFR als dem unmittelbaren Nachbarn im (ur-)eigenen Sicherheitsinteresse Österreichs. »In Anbetracht der beiden entgegengesetzten Tendenzen in der österreichischen Herangehensweise kann man insgesamt die tschechoslowakisch-österreichischen Beziehungen als ausgewogen bewerten.« In der Problematik der staatsrechtlichen Ordnung nehme Österreich eine strikt neutrale Position ein, habe »aber
59 Vgl. Oplatka, Andreas : Von der Bühne in die Botschaft. Über ungewöhnliche Laufbahnen in Václavs Havels Tschechoslowakei, in : NZZ Folio 03/92, S. 4. 60 Vgl. Archiv MZV, Bestand ZÚ Wien 1988–1992, Tschechoslowakische Botschaft in Wien, Länderbericht Österreich, Herbst 1992 (in der Folge : Länderbericht Österreich 1992). 61 Vgl. Länderbericht Österreich 1992, S. 6–7. 62 Ebd., S. 10.
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Befürchtungen bezüglich der Entwicklung in der Slowakei (Demokratie, Menschenrechte), die negative Auswirkungen auf die eigene Sicherheit haben könnten«63. In den österreichischen Medien werde die Staatsteilung negativ gesehen, weil Furcht vor einer konflikthaften Entwicklung herrsche. Vor allem im Zusammenhang mit der Stellung der ungarischen Minderheit in der Slowakei seien die Befürchtungen sehr markant. »In den Medien ist natürlich die Stärke der ungarischen Lobby in Österreich ausgeprägt.«64 Als enttäuschend wertete die tschechoslowakische Botschaft Österreichs Zögern bei einer Verbesserung der Straßenverbindung zwischen Wien und Bratislava (Autobahn im Bereich Parndorf – Bratislava). Die österreichischen Politiker hegten nach Einschätzung der Botschaft die Befürchtung, Österreich könne auch in Ost-WestRichtung zu einem Transitland werden. Dabei werde von österreichischen Experten die Notwendigkeit der Autobahnverbindung gesehen. Österreich sei jedoch sehr daran interessiert, Anteile an der slowakischen Ölraffinerie Slovnaft zu erwerben, um die Konkurrenz für die Österreichische Mineralölverwaltung (ÖMV) zu beschränken. Wahrscheinlich deshalb sei dem slowakischen Premierminister Vladimír Mečiar bei einem Wien-Besuch im Oktober 1992 Entgegenkommen in der Verkehrsfrage signalisiert worden.65 (Es sollten jedoch noch 15 Jahre vergehen, bis auf österreichischer Seite das fehlende, 22 km lange Autobahnteilstück endlich fertiggestellt und die Autobahn zwischen Wien und Bratislava ab 18. November 2007 endlich durchgehend befahrbar war.66) Positiver verlief die Kooperation im Bereich von Bildung und Wissenschaft. Die Aktion Österreich – Slowakei, die nach dem Muster einer ähnlichen Aktion mit Ungarn den Austausch von Studenten, Wissenschaftlern und Hochschullehrern förderte, stand unmittelbar vor dem Start. Österreich hatte eingewilligt, fünf Millionen Schilling, also drei Viertel der Kosten, zu übernehmen.67 Die Einführung eines Slowakistik-Studiums in Wien stieß hingegen auf finanzielle und organisatorische Probleme, obwohl sich der österreichische Bildungsminister Busek positiv dazu stellte. Zum Wasserkraftwerk Gabčikovo, einem der Hauptstreitpunkte zwischen der Slowakei und Ungarn, sei Österreichs Haltung neutral ; die österreichischen Politiker seien einer Fertigstellung jedenfalls nicht abgeneigt. Der Widerstand gegen die Kernkraftwerke in der ČSFR wurde als »latent« eingeschätzt. »Diesbezüglich sind aber keine offiziellen Aktivitäten Österreichs zu erwarten.«68 63 Ebd., S. 11. 64 Ebd., S. 5–6. 65 Vgl. ebd., S. 15. 66 Vgl. Z Bratislavy do Viedne po diaľnici [Von Bratislava nach Wien auf der Autobahn], in : SME vom 19. Oktober 2007, S. 1. 67 Vgl. Länderbericht Österreich 1992, S. 18. 68 Ebd., S. 20.
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Eine institutionalisierte regionale Zusammenarbeit existierte zu diesem Zeitpunkt zwar zwischen Oberösterreich und Südtschechien sowie zwischen Niederösterreich und Südmähren, nicht jedoch zwischen der Slowakei und Niederösterreich oder dem Burgenland.69 Bei den österreichischen Ausgaben für Auslandskultur war die ČSFR zwischen 1990 und 1992 vom fünften auf den zweiten Platz (hinter Frankreich) vorgerückt. »Der deutliche Anstieg des Umfangs der Kulturaktivitäten und der aufgewendeten Mittel spiegelt das große Interesse Österreichs an guten Beziehungen zur ČSFR wider.«70 Auch das österreichische Generalkonsulat in Bratislava sei für Kulturaktivitäten personell und finanziell gut ausgestattet. »Der Kulturaustausch verläuft insgesamt autonom auf professioneller und Laienebene ; er trägt viel zum gegenseitigen Kennenlernen und zur Annäherung zwischen den Menschen bei.«71
VI. Die Wahrnehmung Österreichs in grenznahen Gemeinden Ein Schlaglicht darauf, wie die slowakische Bevölkerung Österreich wenige Jahre nach der Revolution und Grenzöffnung sah, wirft eine Befragung, die 1993 in vier Gemeinden (Vysoká, Záhorská Ves, Suchohrad, Gajary) nördlich von Bratislava vorgenommen wurde.72 Es handelte sich um eine Region, die in den 1920er- und 1930er-Jahren in einem engen Kontakt zu Österreich stand. Damals pendelten zahlreiche Bewohner über eine der sieben Brücken täglich oder wöchentlich ins Marchfeld, ins Weinviertel und insbesondere nach Wien. Derart intensive Kontakte etablierten sich in der Phase nach der Grenzöffnung von 1989 nicht, und zwar schon aufgrund der Tatsache, dass keine Straßenbrücke über die March existierte. Erst im September 1994 wurde zwischen Hohenau und Moravský Sväty Ján eine Pontonbrücke errichtet. Die Bevölkerung von Angern sprach sich 1997 in einem Referendum gegen eine Brücke aus. Seit 2001 verkehrt zumindest eine Fähre zwischen Angern und Záhorská Ves.73 69 Vgl. ebd., S. 21 f. 70 Ebd., S. 25. 71 Ebd., S. 30. 72 Vgl. Kollár, Daniel : Wahrnehmung der Grenze, des Grenzgebietes und Österreichs – am Beispiel der Bewohner des slowakisch-österreichischen Grenzgebietes, in : Schulheft 82 (1996), S. 64–73 ; 314 Befragte. 73 Vgl. Liebhart, Karin/Dejanovič, Sonja : Vývoj a dynamika mentálnej hranice od roku 1989 – pohľad ovyvateľov rakúskych obcí [Die Entwicklung und Dynamik der mentalen Grenze seit dem Jahr 1989 – Blick der Einwohner österreichischer Gemeinden], in : Falťan, Ľubomír (Hg.) : Mentálna hranica. Obraz suseda v slovensko-rakúskom pohraniči [Die mentale Grenze. Das Bild des Nachbarn im slowakisch-österreichischen Grenzgebiet], Bratislava 2003, S. 70–82, hier S. 77 f.; vgl. auch Gepp, Joseph : Die Brücke nach Nirgendwo, in : Falter 19/2008 vom 8. Mai 2008, S. 23.
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Zum Zeitpunkt der Umfrage 1993 nahm die überwältigende Mehrheit der Befragten (93,8 %) die Grenze nicht mehr als beängstigend wahr, sondern als etwas Normales (92,0 %). Nicht einmal als Barriere wollten die allermeisten Befragten (94,2 %) die Grenze verstanden wissen. Die meisten Bürger (85,1 %) befürworteten sehr die Öffnung weiterer Grenzübergänge und versprachen sich davon bessere Entwicklungschancen für ihre Gemeinde (87,5 %) und slowakische Unternehmen (88,1 %), vor allem jedoch »bessere Kontakte mit der Welt« (93,2 %). Österreich wurde also weiterhin als »Tor zur Welt« gesehen. Die klare Westorientierung der slowakischen Bevölkerung spielte später in den 1990er-Jahren eine wichtige Rolle bei der Überwindung der autoritären Tendenzen unter Premierminister Vladimír Mečiar und bei der Annäherung an die EU. Negative Erwartungen wurden mit einer Grenzübergangsöffnung seltener verknüpft. Doch immerhin 50,6 % der Befragten erwarteten eine höhere Kriminalität und etwa gleich viele (47 %) größeren Lärm und mehr Umweltverschmutzung. Man kann wohl feststellen, dass diese Haltung – eine grundsätzlich entschiedene Befürwortung des (politischen, wirtschaftlichen, geografischen) Öffnungsprozesses, verbunden mit signifikanter Skepsis – für die slowakische Gesellschaft in der Phase nach 1989 charakteristisch war. Besonders jene Befragten, die über wenig Sozialkontakte mit Österreich verfügten, äußerten Skepsis. Doch wurde das Gebiet auf der anderen Seite der Grenze nicht als etwas Fremdes empfunden. Im Gegenteil : Die meisten der Befragten bezeichneten das österreichische Grenzgebiet als sympathisch (78,3 %) und nicht fremd (60,5 %). Nur bei 2,5 % der Befragten rief das österreichische Grenzgebiet Unruhe oder Angst hervor. Unzweifelhaft verfügte Österreich über ein positives Image. Wahrgenommen wurden an Österreich vor allem jene Dinge, die der Slowakei besonders fehlten. Zu den Begriffen, die mit dem Land am häufigsten assoziiert wurden, gehörten »Lebensstandard«, »Sauberkeit« und »Geld«.74 Österreich bildete für viele Befragte also eine Art Anti-Slowakei, ein Land, dem Eigenschaften zugeschrieben wurden, an denen es der Slowakei besonders mangelte.75 Der Zauber, den Österreich noch während der Novemberereignisse ausgeübt hatte, hatte sich allerdings verflüchtigt. Nicht selten ging die Vorbildfunktion Österreichs mit Minderwertigkeitsgefühlen seitens der slowakischen Bevölkerung einher.76 Interessanterweise spielte die österreichische Politik gegenüber der Slowakei für die Bevölkerung offenkundig keine zentrale Rolle. Außerdem kam es zu
74 Kollár, D. 1996, S. 70. 75 Vgl. auch die ähnliche Umfrage vom Herbst 1998 in Kollár, Daniel : Obraz Rakúska a Slovenska u obyvateľov slovensko-rakúskeho pohraničia [Das Bild Österreichs und der Slowakei bei den Einwohnern des slowakisch-österreichischen Grenzgebiets], in : Geografický časopis 1/53 (2001), S. 59–74. 76 Vgl. Fridrich, Christian : Fragmentierung sozialer Wirklichkeiten im österreichisch-slowakischen Grenzgebiet 1989 – 1999 – 2009, in : Europa Regional 2/17 (2009), S. 70–83, hier S. 75.
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keiner Anknüpfung an die lebendigen wirtschaftlichen und sozialen Beziehungen der Zwischenkriegszeit. Nur ältere Personen assoziierten mit Österreich ihre Bekannten und Verwandten.
VII. Sicht auf Österreich seit der Unabhängigkeit Für die ab 1993 unabhängige Slowakei war Österreich im Zusammenhang mit ihren Bemühungen um einen EU-Beitritt von erheblicher Bedeutung. Die Rolle Österreichs, das nach dem eigenen Beitritt im Jahr 1995 als einziger Nachbar der Slowakei EU-Mitglied war, kann als ambivalent beschrieben werden. Einerseits übernahm Österreich zeitweise die Rolle eines Mentors. Politiker wie Vranitzky bemühten sich, die Isolation zu lindern, in welche die Slowakei unter der dritten Regierung Vladimír Mečiars (1994–1998) zusehends geriet. Die hohe Sachkenntnis der österreichischen Diplomatie über die Verhältnisse in der Slowakei und Österreichs konstruktive Politik wurden in der Slowakei aufmerksam registriert.77 Je konkreter der Beitritt der östlichen Nachbarn Österreichs wurde, desto härter formulierte Österreich andererseits seine Einwände gegen Atomkraftwerke jenseits seiner Grenzen – im Fall der Slowakei gegen Mochovce und Bohunice – und gegen eine baldige Freizügigkeit der Arbeitnehmer. Dies fand seinen Niederschlag in der öffentlichen Wahrnehmung. 1999 war die Frage der Atomkraft in den führenden slowakischen Zeitungen das mit Abstand meistbehandelte Thema der slowakisch-österreichischen Beziehungen.78 Die österreichische Haltung zur Atomkraft stieß und stößt in der Slowakei auf praktisch völliges Unverständnis, wird jedoch mittlerweile als Schrulle akzeptiert. Dass das reiche Land Österreich, in dem ganz im Gegensatz zur Slowakei beinahe Vollbeschäftigung herrschte, seinen Arbeitsmarkt derart abschottete (was sich in der Praxis ohnehin nicht durchhalten ließ), sorgte in der Slowakei allerdings für erhebliche Ernüchterung.79 Die gegenwärtigen Beziehungen zwischen Österreich und der Slowakei sind eng, die Frequenz der Besuche österreichischer Politiker im nur 60 km entfernten Bratislava ist hoch. Zwei Drittel der Bevölkerung in den grenznahen Gebieten der Slowakei meinen, das slowakisch-österreichische Nachbarschaftsverhältnis habe sich
77 Vgl. Gruber, S. 2010, S. 257–262. 78 Vgl. Gyárfášová, Oľga/Dejanovič, Sonja/Liebhart, Karin : Obraz suseda v tlačených médiách [Das Bild des Nachbarn in den Printmedien], in : Falťan, Ľubomír (Hg.) : Mentálna hranica. Obraz suseda v slovensko-rakúskom pohraniči [Die mentale Grenze. Das Bild des Nachbarn im slowakisch-österreichischen Grenzgebiet], Bratislava 2003, S. 83–108, hier S. 87. 79 Vgl. Matzner-Holzer, Gabriele : Im Kreuz Europas : Die unbekannte Slowakei, Wien 2001, S. 187 f.; Fridrich, C. 2009, S. 78.
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seit dem EU-Beitritt der Slowakei im Jahr 2004 verbessert.80 Die österreichischen Grenzorte Kittsee, Wolfsthal, Berg und Hainburg gehören mittlerweile zur Peripherie Bratislavas, während die Verkehrsverbindungen nach Österreich nördlich von Bratislava noch immer ungünstig sind.81 23.000 slowakische Staatsbürger leben in Österreich.82 Nach wie vor kennzeichnet das Verhältnis eine starke wirtschaftliche Asymmetrie. Auch unter Berücksichtigung der Kaufkraftunterschiede beträgt das slowakische Bruttoinlandsprodukt pro Kopf nur 57 % des österreichischen.83 Die OECD prognostiziert, dass sich die Wirtschaftskraft der Slowakei nicht einmal bis zum Jahr 2060 derjenigen Österreichs vollständig angleichen wird.84 Österreich ist der zweitgrößte Investor in der Slowakei. Die etwa 2.000 österreichischen Firmen in der Slowakei beschäftigen fast 40.000 Personen, während bei den 123 slowakischen Firmen in Österreich nicht einmal 1.000 Menschen arbeiten.85 16.000 Pflegerinnen aus der Slowakei sind in Österreich tätig.86 »Österreich, das Land der Träume, wurde für uns alltagsgrau«87 und »Österreich als Nachbar hat an Strahlkraft verloren«88 lauten über 20 Jahre nach 1989 die Titel von Medienberichten über das Bild Österreichs in der Slowakei. In beiden Texten wird an die Faszination erinnert, die um 1989 für die slowakische Bevölkerung von Österreich ausging. In den Jahren seit der Grenzöffnung kam es zu einer Profanierung seines Bildes. Es wird als wohlhabendes und wohlverwaltetes Land respektiert, hat aber nichts Magisches mehr an sich. Pauschale Aussagen über das aktuelle Österreichbild in der Slowakei sind allerdings sehr schwierig. Fragt man die Altenpflegerin aus der Ostslowakei, den Tanktouris80 Vgl. Gesellschaft für Europapolitik : Gelebte Nachbarschaft in der Grenzregion. Projekt P10-0689. Endbericht, Wien 2012, S. 36. 81 Vgl. Fridrich, C. 2009, S. 81. 82 Vgl. Statistik Austria, http://www.statistik.at/web_de/statistiken/bevoelkerung/bevoelkerungsstruktur/ bevoelkerung_nach_staatsangehoerigkeit_geburtsland/index.html (online am 15. Dezember 2012). 83 Vgl. Eurostat Pressemitteilung 180/2012, 13. Dezember 2012, http://epp.eurostat.ec.europa.eu/cache/ ITY_PUBLIC/2–13122012-AP/DE/2–13122012-AP-DE.PDF (online am 15. Dezember 2012). 84 Vgl. OECD, Looking to 2060 : Long-term global growth prospects. OECD Economic Policy Papers 3. November 2012, S. 24. 85 Vgl. Österreichische Nationalbank, http://www.oenb.at/isaweb/report.do?lang=DE&report=950.5 (online am 15. Dezember 2012) ; Statistik Austria, http://www.statistik.at/web_de/statistiken/unternehmen_ arbeitsstaetten/auslandsunternehmenseinheiten/inward_fats/067224.html (online am 15. Dezember 2012). 86 Vgl. Bahna, Miloslav : Odchody za prácou v období ekonomickej krízy : Slovenské opatrovateľky v Rakúsku [Arbeitsmigration in Zeiten der Wirtschaftskrise : Die slowakischen Pflegerinnen in Österreich], Bratislava 2011, http://www.sociologia.sav.sk/podujatia.php ?id=1384&r=1 (online am 15. Dezember 2012). 87 Zsilleová, Miriam/Uličianská, Zuzana : Vysnivané Rakúsko nám zovšednelo [Österreich, das Land der Träume, wurde für uns alltagsgrau], in : SME vom 16. Jänner 2010, S. 4. 88 Thanei, Christoph : Österreich als Nachbar hat an Strahlkraft verloren, in : Die Presse vom 20. Februar 2012, S. 2.
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ten im Porsche Cayenne oder die Studentin, die täglich nach Wien pendelt – ihre Erfahrungen mit Österreich sind unterschiedlich. Die enorme Differenzierung der Lebenswelten ist eine der Folgen der Revolution von 1989. Die Zeit, als Österreich tatsächlich für eine große Mehrheit in der Slowakei das »Land der Träume« war, ist wohl für immer vorbei.
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Politik und Wahrnehmung Ungarns (Außen-)Politik im Übergang – Österreichs Außenpolitik im Zuge der Umbruchsjahre (1988–1991)
I. Österreich und Ungarn zwischen dem Rand Europas und der europäischen Mitte Die Etappen der Beziehungen zwischen Ungarn und Österreich können als historisch wechselnde geopolitische Muster zwischen »Rand« und »Mitte« im gespaltenen und zusammenwachsenden Europa eingeordnet werden. Im Rahmen der OstWest-Beziehungen war die wechselnde geopolitische Lage auch mit wechselnder Wahrnehmung der österreichischen Politik und Identität verbunden, wenngleich die Rückbesinnung auf die gemeinsame Vergangenheit – eine Art geokulturelle Kontinuität –, verbunden mit der außergewöhnlichen Solidarität und Hilfsbereitschaft des österreichischen Volkes im Jahre 1956 und mit dem Bezug auf Österreich als permanentem Vergleichsmaßstab, in der Periode des Kalten Krieges und auch danach präsent blieb. Nach dem Abschluss des Staatsvertrages 1955 standen die bilateralen Beziehungen zwischen Ungarn und Österreich unter den Vorzeichen formativer Jahre im Hinblick auf das Rollenverständnis der österreichischen Neutralitätspolitik und der schwerwiegenden Auswirkungen der Ungarnkrise auf den Ost-West-Konflikt. Die zentrale Alpen-Donau-Binnenregion wurde durch die Machtpolitik in eine Randzone umgewandelt, wobei Österreich vom Anfang der 1960er-Jahre an fähig war, einer aktive Neutralitätspolitik zu entwickeln. Österreich und Ungarn konstituierten sich als geopolitische Randstaaten der kontinentalen Teilung. Ein weiterer prägender Faktor der bilateralen Beziehungen und Wahrnehmungen war die innenpolitische Entwicklung beider Staaten im Sinne einer österreichischen Ost- und einer ungarischen Westöffnung, die zueinander in einem komplementären Verhältnis standen. Dieser Bilateralismus beweist, dass sich die österreichisch-ungarischen Beziehungen als »Sonderbeziehungen« in den 1970er- und 1980er-Jahren verselbstständigen konnten, ohne auf andere Staaten übertragbaren Modellcharakter aufzuweisen. Hinzu kam, dass spezifische historische Faktoren in den Beziehungen zwischen Ungarn und Österreich kooperationsfördernd und konflikthemmend wirkten. Österreich war als neutrales Land aufgrund seiner Wertegemeinschaft mit den westlichen Demokratien fähig, die Politik der Distanz mit der Politik der Annäherung an ein kommunisti-
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sches Regime zu verbinden, auch wenn der unmittelbar größere politische Nutzen dieser Entwicklung der Regierung Kádár zukam.1 Die geopolitische Dynamik der bilateralen Beziehungen verlieh den beiden Staaten wechselnden Stellenwert, und daraus erklärt sich auch die Dynamik und Wahrnehmung der Beziehungen. Ungarns Ent-Mitteleuropäisierung und damit verbunden die Unfähigkeit der Magyaren, ihre eigene Geschichte zu leben, manifestierte sich in der immer gegensätzlicheren Entwicklung der beiden Länder. Wien und nicht Budapest konnte vom peripheren Standort als »Brückenkopf und Beobachtungsstelle« wie auch als »Fenster der freien Welt« profitieren. Als unabhängiges, neutrales Land hatte Österreich die Chance, politische und auch wirtschaftliche Verbindungen mit dem europäischen Zentrum nicht zu verlieren. Trotz seiner Neutralität gelang es Österreich, von der westeuropäisch-atlantischen Sicherheitsordnung zu profitieren, während Ungarn 1956 und danach in einen durch die Sowjetunion dominierten geschlossenen Regionalismus eingebunden wurde, auf sich allein gestellt und verlassen blieb mit der Frage : »Wer beschützt uns vor unserem imperialen Beschützer ?«2 Die strukturbildenden Merkmale der bilateralen Beziehungen zwischen Österreich und Ungarn lagen in der Geschichte und in dem Prozess des Ost-West-Konfliktes, in dem sich das Rollenverständnis Österreichs als Rand und Brücke der westlichen Welt herausbildete, das auch in der Praxis der aktiven Neutralität umgesetzt wurde. Die Bildung der West- bzw. Ostkompetenz der beiden Staaten, das heißt das Vorhandensein von Spezialkenntnissen über einander und die Region war mit diesen Faktoren verknüpft. Die bilateralen Beziehungen hatten direkt oder indirekt immer einen subregionalen (geopolitischen) Charakter, was in den unterschiedlichen theoretischen oder wirklichen Kooperationsformen zum Ausdruck kam. Die jeweiligen Wirtschaftsinteressen der beiden Kleinstaaten hatten auch politische Substanz und trugen zur Erhaltung der Dynamik der bilateralen Beziehungen über die ideologisch-politischen Grenzen hinweg bei. Die Beziehungen zwischen Österreich und der Sowjetunion sowie zwischen Österreich und den kleineren Ostblockstaaten passten gut in die Strategie der »friedlichen Koexistenz« von Chruschtschow und auch in die Neubelebung der Ost-WestWirtschaftsbeziehungen. Aus sowjetischer Sicht war das Konzept »Souveränität in Neutralität« äußerst nützlich, um Österreich von den Vereinigten Staaten zu entfernen und als Garantiemacht der Neutralität die österreichische (Außen-)Politik unter
1 Vgl. Heinrich, Hans Georg : Die Entwicklung der österreichisch-ungarischen Beziehungen, in : Mlynar, Zdenek (Hg.) : Die Beziehungen zwischen Österreich und Ungarn : Sonderfall oder Modell ?, Wien 1985, S. 11–44, hier S. 29. 2 Kiss, J. László : Österreich und Ungarn : Außenrand der gespaltenen Mitte. Die strukturbildenden Merkmale der bilateralen Beziehungen, in : Schmidl, Erwin A. (Hg.) : Die Ungarnkrise 1956 und Österreich,Wien/Köln/Weimar 2003, S. 283–284.
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Kontrolle zu halten.3 In der Tat ermutigte Moskau Österreich vom Ende der 1940erJahre an, seine Beziehungen zum Ostblock enger zu knüpfen. Die sowjetische Politik ging nicht nur davon aus, dass die Isolation des Ostblocks durch Beziehungen zu den »Volksdemokratien« gelockert werde, sondern sie wollte auch Österreich von der westlichen Welt fernhalten. Die Ostblockstaaten sahen in Österreich einen kapitalistischen Staat, aber auch einen freundlichen Partner, der dank seiner Neutralität viel eher als andere westliche Staaten als progressiver Akteur angesehen wurde. Die ideologischen Faktoren blieben zwar nicht völlig unberücksichtigt, sie waren aber von geringerer Bedeutung als in stalinistischer Zeit. Daraus folgte, dass Moskau bereit war, die österreichisch-ungarischen Beziehungen als Beitrag zur europäischen Stabilität wahrzunehmen. Ab Mitte der 1960er-Jahre wurde Österreich das erste »Versuchsgelände« für den Brückenschlag Ungarns in Richtung Westen, es diente als »Übungsplatz für die ersten blocküberschreitenden Gehversuche der ungarischen Regierung«4. Dabei kam den Wirtschaftsbeziehungen eine besondere Bedeutung zu, und Österreich wurde der Hauptadressat einer aktiven Koexistenzpolitik Ungarns. Nach 1968 brachte die ungarische Wirtschaftsreform die Ökonomisierung der ungarischen Außenpolitik mit sich, die spezifischen wirtschaftlichen Interessen Ungarns als Kleinstaat mit offener Wirtschaftsstruktur wurden formuliert. Als Michail Gorbatschow 1985 in der Sowjetunion an die Macht kam, konnten sich die bilateralen Sonderbeziehungen schon als erprobtes Modell präsentieren. Bis etwa 1975 waren Verfahrensfragen bezüglich der gegenseitigen Kontaktaufnahme im Vordergund gestanden. Erst nach Abschluss eines Abkommens im Jahr 1975 begannen die bilateralen Beziehungen unter dem Vorzeichen einer Institutionalisierung zu stehen, die auch die unmittelbaren Interessen der Bürger betraf. Es reicht aus, als Beispiele die Aufhebung des Visumzwanges, gegenseitige Ansprüche auf Pensionszahlungen, die Gleichstellung von Schulabschlüssen etc. zu erwähnen. Die Presse sprach nicht ohne Ironie von der »Rückkehr der k. u. k. Periode« im Sinne von Kádár und Kreisky, die als Vertreter des herrschenden Pragmatismus galten.5 In diesem Prozess ist ohne Übertreibung festzustellen, dass die Herausbildung der österreichisch-ungarischen Sonderbeziehungen sowie die beginnende Diskussion über Mitteleuropa als transnationalen Kulturraum die ersten Zeichen des europäischen Entgrenzungsprozesses vor der Grenzöffnung 1989 waren. 3 Mueller, Wolfgang : »Peaceful Coexistence«, Neutrality, and Bilateral Relations Across the Iron Curtain : Introduction«, FSI Stanford, htttp ://iis-db.stanford.edu/pubs/22381/Peaceful_Coexistence_ Neurality (online am 15. Oktober 2012), S. 12 f. 4 Hefty, Georg P. : Schwerpunkte der Außenpolitik Ungarns 1945–1973. Vorgeschichte, Infrastruktur, Interaktionsprozess, München 1980, S. 505. 5 Vgl. Kiss, J. László : Hungary and its immediate Neighbours, in : Luther, Kurt/Pulzer, Peter (Hg.) : Austria 1945–95. Fifty Years of the Second Republic, Aldershot 1998, S. 181–201, hier S. 181–192.
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II. Diplomatie im Übergang Im Kontext der Umbruchsjahre zwischen 1988 und 1991 spiegelte die ungarische Wahrnehmung der österreichischen Außenpolitik auch die Perzeption der ungarischen Politik im Wandel wider. Auf diese Weise war das Außenbild der österreichischen Politik teils auch das Selbstbild der ungarischen Politik und das Außenbild der ungarischen Politik teils auch das Selbstbild der österreichischen Politik. Der Grenzöffnungsprozess war primär eine Geschichte zwischen Ungarn und den beiden deutschen Staaten. Aber es ist den nur begrenzt zur Verfügung stehenden historischen Quellen geschuldet, dass Österreichs Rolle im Grenzöffnungsprozess ziemlich unvollständig dargestellt wird.6 Aus den Materialen ist gut zu ersehen, wie die ungarischen Diplomaten unter dem Druck der durch den Status quo geprägten Denkweise inmitten der beschleunigten innenpolitischen Veränderungen standen und auch als innenpolitische Akteure auftraten. Es ist charakteristisch, dass die ungarischen Diplomaten bestrebt waren, den österreichischen Politikern – in erster Linie den Politikern der Sozialdemokratischen Partei Österreichs (SPÖ) – unmissverständlich davon abzuraten, Beziehungen zu der sich formierenden Sozialdemokratischen Partei Ungarns zu pflegen und dadurch die Monopolstellung der Staatspartei USAP in den Außenbeziehungen zu brechen. Als die neu gegründete Sozialdemokratische Partei Ungarns den damaligen Klubobmann der SPÖ Heinz Fischer aufforderte, eine Rede am 1. Mai 1989 auf einer Budapester Kundgebung zu halten, versuchten die ungarischen Diplomaten, ihn mit Blick auf die vertieften Beziehungen zwischen SPÖ und USAP von diesem Plan abzubringen.7 In der Tat beabsichtigte die SPÖ keineswegs, der USAP und den erzielten Ergebnissen der Kádár-KreiskyÄra den Rücken zu kehren, eher war sie daran interessiert, die Arbeitsbeziehungen zur USAP aufrechtzuerhalten. Auf Initiative Fischers fand am 21. Januar 1989 das erste Gespräch am Runden Tisch auf höchster Ebene zwischen SPÖ und USAP 6 Das zur Verfügung stehende auswärtige Archivmaterial bietet nur wenige Hinweise, um die Wahrnehmung der österreichischen Rolle im Grenzöffnungsprozess in jeder Hinsicht befriedigend nachzuzeichnen. Die vermutlich relevanten Materialen der Ungarischen Sozialistischen Arbeiterpartei (USAP) und des ungarischen Innenministeriums sind auch heute noch nicht zugänglich. Der Autor teilt die Meinung von Andreas Oplatka, dass die Akten des Außenministeriums über die Tätigkeit der ungarischen Diplomatie im Jahr 1989 zwar spürbar »gesiebt« worden sein dürften, doch die großen Linien müssten sich aus dem auch so noch umfangreichen Rest mit einiger Zuverlässigkeit herauslesen lassen. Siehe : Oplatka, Andreas : Der erste Riss im Eisernen Vorhang, in : Aus Politik und Zeitgeschichte 21 (2009), http://www.das-parlament.de/2009/21–22/Beilage/003.html (online am 14. November 2012), S. 5. Die fehlenden Materialen sind ein Grund, warum unsere Analyse auch heute noch weniger ein Versuch ist, die Geschichte zu rekonstruieren, als vielmehr, sie zu konstruieren. 7 Magyar Országos Levéltár (MOL) XIX.-J–1-j. Ausztria./1989/ 20 – 001921.
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im Renner-Institut statt, das als solches das Ende der Politik der Zurückhaltung gegenüber den ungarischen (Reform-)Kommunisten signalisierte. Die Meinungsunterschiede waren auf der Konferenz präsent und besonders dadurch gekennzeichnet, dass die ungarischen Kommunisten – unter ihnen der Reformkommunist Rezső Nyers – statt der Konvergenz der gesellschaftlichen Systeme eher die Konvergenz der in zwei Teile gespaltenen Arbeiterbewegung, nämlich die Annäherung zwischen Sozialdemokraten und Reformkommunisten betonten. Zur selben Zeit machten die österreichischen Sozialdemokraten darauf aufmerksam, dass sich der osteuropäische Reformprozess nicht so sehr der wirklichen sozialdemokratischen Praxis, sondern eher dem Vorbild der liberal-kapitalistischen Marktwirtschaft annähere. Ferner vertrat Fischer die Auffassung, dass das kommunistische Modell an der gewaltsamen Beschleunigung der Geschichte gescheitert sei.8 Laut einer Aufzeichnung der ungarischen Botschaft hätte die SPÖ ihre Zufriedenheit kaum verheimlichen können, wenn die neu gegründete Sozialdemokratische Partei Ungarns als starke Kraft aus den Wahlen hervorgegangen wäre und sich auch aus der USAP eine echte sozialdemokratische Partei herausbilden würde. Es ist wichtig, daran zu erinnern, dass die starke Status-quo-Bezogenheit der diplomatischen Berichte in vielen Fällen die vorherrschenden Meinungen der SPÖ reflektierten. Inmitten der beschleunigten Veränderungen wurde der Zerfall der USAP mit unkontrollierbarem Chaos gleichgesetzt, und viele Gesprächspartner waren geneigt, die reformkommunistisch erneuerte Ungarische Sozialistische Partei (USP) als Garant des kontrollierten Übergangs zu betrachten, die allein imstande wäre, die Veränderungen in den Griff zu bekommen. Der sozialdemokratische Politiker Erwin Lanc, der neunte Außenminister der Zweiten Republik, machte die Bemerkung, dass sich die einzelnen westeuropäischen Gruppen nicht nur vor der Anarchie in Ungarn fürchteten, sondern auch davor, dass die Dynamik des Änderungsanspruches auf den Westen übergreifen könne und auf diese Weise die 30–40 Jahre alten Werteordnungen zusammenstürzen könnten, deren Instabilität vorübergehend durch den Wohlstand verdeckt wurden.9 Die ungarischen Diplomaten vergaßen nicht, über den Vortrag des österreichischen Außenministers Alois Mock in der finnischen Paasikivi-Gesellschaft zu berichten. Die Veränderungen kämen in der Sowjetunion von oben, in Polen von unten und in Ungarn sowohl von unten als auch von oben, die politischen und wirtschaftlichen Reformen müssten gleichzeitig vorankommen, sagte Mock. Ferner fügte er in seinem Vortrag hinzu, dass der Westen vor die verantwortungsvollste Aufgabe seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges gestellt sei, die darin bestehe, die Einmischung zu vermeiden und die mögliche Instabilität nicht zugunsten seiner 8 MOL M-KS–288.-f–32. ö.e. 1989. B. 14. 9 MOL. XIX,-J–1-j Ausztria 1989. 19 – 001225/6.
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Interessen auszunutzen, sondern die östliche Entwicklung gleichzeitig zu unterstützen.10 Bezüglich der diplomatischen Aufzeichnungen kann sich der bewertende Historiker manchmal des Eindrucks nicht erwehren, dass die Diplomaten ihre eigene Meinung bewusst in den Mund ihrer Gesprächspartner legten. So waren die ungarischen Diplomaten nicht unbedingt unbefangene Akteure im sozialen Umbruch, sie waren weit mehr teilnehmende Beobachter als beobachtende Teilnehmer der Ereignisse. Sie wussten nicht, wohin »die Reise« geht und inwieweit ihre persönlichen Karrieren durch die unvorgesehene Dynamik der Ereignisse in Mitleidenschaft gezogen würden. Aus den diplomatischen Berichten geht hervor, dass die Transnationalisierung der ungarischen Außenpolitik, nämlich die zunehmende Aktivität nicht staatlicher Akteure im demokratischen Übergang, die Diplomaten vor neue Herausforderungen stellte. Einerseits benötigten auch die nicht staatlichen Akteure wie die gegen das Nagymaros-Bös-Wasserkraftwerk protestierenden Aktivisten des Donaukreises (Dunakör) diplomatische Dienstleistungen. Anderseits stellte der Jahresbericht der Wiener Botschaft in seinem Rückblick auf das Jahr 1988/89 mit gemischten Gefühlen fest, dass die Dezentralisierung und Diversifizierung der bilateralen Beziehungen zwar ein erfreulicher Tatbestand sei, es aber ein Fehler wäre, die Kritik zu verheimlichen. Der ungarische Botschafter schrieb darüber hinaus, dass sich viele Probleme und Missverständnisse daraus ergäben, dass das in Veränderung begriffene Außenministerium die Botschaft in die Vorbereitung der Besprechungen auf höchster Ebene mehrmals nicht einbezogen habe.11
III. Österreich an der Schnittstelle der Veränderunge : Besorgnis über den Status quo Zu Ende der 1980er-Jahre war Österreichs Außenpolitik vor drei tief greifende Herausforderungen gestellt : den durch die Schaffung eines Binnenmarktes gekennzeichneten beschleunigten Integrationsprozess, die ost-mitteleuropäische Umwälzung und die deutsche Einigung. Diese bildeten ein komplexes außenpolitisches Umfeld, das eine Neuausrichtung und zwangsläufig auch eine Revision der österreichischen Außenpolitik verlangte. In vielen Bereichen war das wohlbekannte politische Koordinatensystem des Kalten Krieges aus den Fugen geraten. Österreich war an der geopolitischen Schnittstelle der Veränderungen und als solches herausgefordert, sowohl im Osten als auch im Westen. Die Randposition und damit Österreichs traditionelle Vermittlerrolle verloren die geopolitische Substanz, und die neue Rolle im regiona10 MOL. XIX.-J–1-j 1989. 19 – 002438. 11 MOL. XIX-J–1-j-Ausztria 1988/89 19 – 003684.
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len Zentrum machte eine neue außenpolitische Agenda erforderlich. Die Herausforderung für Österreich war mindestens eine zweifache : Es stellte sich die Frage, wie einerseits aus den beschleunigten geopolitischen Veränderungen Nutzen gezogen werden könne, andererseits aber gleichzeitig die rapiden Veränderungen unter dem Vorzeichen der Stabilität unter Kontrolle gehalten werden könnten. Im März 1989 erklärte Thomas Klestil, der damalige Generalsekretär des österreichischen Außenministeriums, im Gespräch mit Außenminister Gyula Horn, dass die österreichische Brückenfunktion ihre Substanz verloren habe. »Niemand will auf der Brücke leben« ! Österreich könne seine Funktion in einem neuen Europa nur dann erfüllen, wenn es gesellschaftlich, politisch und wirtschaftlich fest mit dem Westen verbunden sei ; Österreich könne seine frühere Aufgabe als Vermittler nur als fester Teil der Europäischen Gemeinschaften erfüllen, sagte Klestil.12 In einem Bericht gingen die ungarischen Diplomaten der Frage nach, wie die europäischen Prozesse die österreichische Nachbarschaftspolitik beträfen. Sie kamen zu dem Schluss, dass die auf den zwei Säulen der Europa- und Nachbarschaftspolitik beruhende österreichische Außenpolitik durch eine Theorie der konzentrischen Kreise abgelöst werde. Im Zentrum dieser Politik stehe die Mitgliedschaft in der EG, den mittleren Kreis bilde die Zusammenarbeit mit den osteuropäischen Staaten, während der äußere Kreis alle anderen Beziehungen umfasse. Darüber hinaus sei Österreichs Außenpolitik bewusst darauf ausgerichtet, dass kleine Staaten imstande sind, ihren außenpolitischen Spielraum zu erweitern und eine Abhängigkeit von den amerikanisch-sowjetischen Beziehungen zu verhindern. In den 1980er-Jahren stand diese österreichische Perzeption der ungarischen sehr nahe. In den 1980er-Jahren war Ungarn nach einer weitverbreiteten Ansicht der »Pionier der Verwestlichung« innerhalb des Ostblocks, wo die Außenpolitik eine »Erfolgsbranche« war, in der der »Systemwandel« im Sinne einer Strategie der »Flucht nach vorne« schon vor der tatsächlichen Systemveränderung begonnen hatte. Seit Anfang der 1980er-Jahre bekundete die Parteiaußenpolitik der ungarischen Kommunisten ein zunehmendes Interesse an der westeuropäischen Sozialdemokratie,13 12 MOL. 1990. 13 – 001331. Sz.T.V.M. 13 Im März 1975 wurde auf der Beratung der ideologischen und auswärtigen Sekretäre der kommunistischen Parteien in Prag der Beschluss gefasst, dass die Ungarische Sozialistische Arbeiterpartei die Aufgabe hat, die gemeinsame politische und theoretische Arbeit bezüglich der Sozialdemokratie zu koordinieren. Anschließend wurden zwei Konferenzen in Budapest (1976) und in Tihany (1979) veranstaltet. Auf der Konferenz von Tihany waren 29 Parteien vertreten. Die Parteien des Ostblocks bewerteten die Möglichkeit der Zusammenarbeit vom internationalen Blickpunkt aus, während die Vertreter der westeuropäischen Kommunisten die Zusammenarbeit unter dem Gesichtspunkt der Innenpolitik im Sinne des demokratischen linken Zusammenschlusses betrachteten. Vgl. Simon, István : Bal-kísértés. A kádári külpolitika és nyugati szociáldemokrácia (Die linke Versuchung. Die Außenpolitik von Kádár und die westliche Sozialdemokratie), Budapest 2012, S. 91.
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und auch im Bereich der staatlichen Außenpolitik begannen sich die Zeichen einer pragmatischen Interessenpolitik gegenüber einer ideologischen Blockpolitik zu mehren. Der Beitritt Ungarns zum Internationalen Währungsfonds und zur Weltbank 1982 sowie auch die »schadensbegrenzende« ungarische Außenpolitik Mitte der 1980er-Jahre lieferten Beweise für diese Entwicklung, die der Kontinuität der Ost-West-Beziehungen auch unter den Bedingungen des »kleinen Kalten Krieges« den Vorrang gegenüber der Blocksolidarität einräumte (Mikro-Entente). Ungeachtet der Unterbrechung des sowjetisch-amerikanischen Dialogs wegen der nuklearen Mittelstreckenraketen empfing Ungarn auch in dieser Periode mehrere westeuropäische Politiker als Gast. Die Betonung der Europäisierung sowie der »europäischen Solidarität« im Wörterbuch der ungarischen Außenpolitik wurde zum Synonym der individuellen Bestrebungen eines »kleinen Landes«.14 Die Befürchtung, dass Österreich seine günstige außenpolitische Position und die regionale Stabilität durch die unvorhergesehene geopolitische Dynamik und die möglichen Veränderungen des Status quo gefährdet sehen würde, war ein immer wiederkehrender Topos der bilateralen Gespräche. Im Jahre 1990 berichtete der ungarische Botschafter, dass die ungarischen Veränderungen zwar mit großer Sympathie in Österreich aufgenommen worden seien, aber man fürchte sich davor, dass die Umsetzung der Reformen auch unter den günstigsten Bedingungen Spannungen und Konflikte mit sich bringen würden. Nach dieser Schilderung bereiteten die Wirtschaftslage und die Verschärfung der ethnischen Spannungen die größten Sorgen, da sie auch zur Destabilisierung der ganzen Region führen könnten.15 Es unterlag keinem Zweifel, dass das wachsende Problembewusstsein der österreichischen Politiker durch steigende Arbeitslosigkeit und Inflation sowie ethnische Auseinandersetzungen zwischen Ungarn und Rumänien besonders genährt wurde. Bei einem Abendessen erklärte Friedhelm Frischenschlager, der Klubobmann der Freiheitlichen Partei Österreichs (FPÖ), einem ungarischen Diplomaten, dass seine Partei mit großer Aufmerksamkeit, aber auch mit Besorgnis die ungarischen Äußerungen verfolge, wonach man der neutralen Option den Vorzug zu geben scheine und gegebenenfalls die finnische Neutralität für einen befolgungswürdigen Weg halte. Die europäische Stabilität solle auf dem Status quo und dem Kräftegleichgewicht, und zwar auf einem immer niedrigeren Niveau, beruhen. Wer dies im Osten oder Westen ändere, betreibe eine unverantwortliche Politik mit unabsehbaren Folgen, sagte der Politiker.16 14 Kiss, J. László : Außenpolitik, in : Brunner, Georg (Hg.) : Ungarn auf dem Weg der Demokratie. Von der Wende bis zur Gegenwart, Bonn 1993, S. 87–119, hier S. 94. 15 MOL. KÜM. Sz.T.V.M. Ausztria. 1990. 13 – 001331/2. 16 MOL. XIX.-J-1-j Ausztria 1989. 19 – 00122,5/3.
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Ferner fürchteten sich die österreichischen Politiker davor, dass sich die beschleunigte Dynamik der ost- und mitteleuropäischen Veränderungen, nicht zuletzt der Umbruch in der DDR sowie die damit einhergehenden Bemühungen, die Beziehungen mit den EG zu intensivieren, ungünstig auf die durch »aktive Neutralität« gekennzeichnete österreichische Position auswirken würden. Deswegen bemühte sich die österreichische Diplomatie mit konzentrierten Aktionen darum, so schnell wie möglich die Beitrittsverhandlungen mit der EU aufzunehmen und die Gefahr abzuwenden, Verlierer der geopolitischen Veränderungen zu werden. In seinem visionären Vortrag in der finnischen Paasikivi-Gesellschaft sprach Mock darüber, dass Österreich mit der Auflösung der militärischen Blöcke nicht mehr ein Grenzgebiet sei, sondern zu einem zentralen Gebiet des neuen Europa, das heißt zu einem geopolitischen Gewinner der Veränderungen werde.17 Im Hinblick auf Ungarn zeugte aus der Sicht der österreichischen Politik nichts besser von der beschleunigten geopolitischen Dynamik als die Tatsache, dass Ungarn der erste Staat im Ostblock war, der 1988 einen Vertrag mit den EG über Handel und wirtschaftliche Zusammenarbeit abschloss. Damit waren auch die ersten offiziellen Beziehungen der Europäischen Gemeinschaften zu einem Ostblockstaat etabliert. Darüber hinaus entwickelten sich enge Kontakte zwischen den ungarischen Reformkommunisten und der westdeutschen Regierung, sodass die Bundesrepublik Ungarn Kredite im Wert von drei Milliarden DM zwecks Förderung der Transformation der ungarischen Wirtschaft im Zeitraum von 1987–1988 gewährte, wobei die Bundesregierung auch eine Erklärung im Bundestag als symbolischen Akt den demokratischen Übergang in Ungarn betreffend verabschiedete. Ferner wurde auf der Sitzung des Politbüros der USAP auch die Priorität der weltwirtschaftlichen Öffnung angenommen, die in der Tat mit dem Anfang des wirtschaftlichen Orientierungswechsels gleichbedeutend war. Darüber hinaus dienten zwei Pionierinitiativen der ungarischen Außenpolitik der westlichen Öffnung. Im März 1989 nahm Ungarn die diplomatischen Beziehungen mit Südkorea auf Botschafterebene auf, und im September wurden die 1976 abgebrochenen diplomatischen Beziehungen mit Israel wiederhergestellt.18 Es war kein Zufall, dass das Parteiprogramm der ÖVP ins Visier der ungarischen Diplomaten geriet. Dieses ging nämlich davon aus, dass die Öffnung des Ostens und die auch wieder zur Diskussion stehende Deutsche Frage sowie der osteuropäische Transformationsprozess die Erweiterung der EG beschleunigen werde und deswegen die Beitrittsverhandlungen zwischen Wien und Brüssel so schnell wie möglich vor 1992 aufgenommen werden sollten. 17 MOL.XIX.-J-1-j. Ausztria. 1989. 19 – 003927. 18 Vgl. Csaba, Békés : Európából Európába. Magyarország konfliktusok kereszttüzében, 1945–1990 [Von Europa nach Europa. Ungarn im Kreuzfeueer der Konflikte, 1945–1990], Budapest 2004, S. 327 f.
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Österreichs Beitrittsantrag wurde schon am 17. Juli 1989 in Brüssel überreicht, aber die Bemühungen, die Verhandlungen innerhalb kurzer Zeit in Angriff zu nehmen, erwiesen sich als erfolglos. Am Ballhausplatz war in den politischen und diplomatischen Kreisen die Vorstellung vorherrschend, dass sich mit der Ostöffnung auch Österreichs Weg nach Brüssel leichter beschreiten lassen würde, aber die damit verbundenen Hoffnungen erwiesen sich als trügerisch.19 Erst zwei Jahre später reagierte die EG-Kommisssion offiziell. Sie gab den österreichischen Politikern zu verstehen, dass die Beitrittsverhandlungen nicht der Etablierung des Binnenmarktes vorangehen könnten. Darüber hinaus waren Vorbehalte bezüglich der österreichischen Neutralität ebenso spürbar wie die französische Besorgnis, dass der »germanische Charakter« der Gemeinschaft durch einen österreichischen Beitritt verstärkt werde, während Klestil und auch andere die Auffassung vertraten, dass es aufgrund der erstarkten österreichischen Identität nicht mehr möglich sei, Österreich als dritten deutschen Staat zu betrachten. Die ungarischen Diplomaten fassten den österreichischen Standpunkt bezüglich der deutschen Einigung in vier Punkten zusammen. Demnach sollte jede Nation das Recht auf Selbstbestimmung haben, sofern dabei die bisher in Kraft getretenen Verträge – einschließlich des Vertrages über die Oder-Neiße-Grenze – beachtet werden. Ferner schien es wünschenswert, dass die Einigung der beiden deutschen Staaten im Rahmen des KSZE-Prozesses stattfindet, aber es war kaum zu erwarten, dass die Bundesrepublik die NATO verlassen würde und sich die militärischen Blöcke in absehbarer Zeit auflösen würden. Darüber hinaus gab es Bedenken, dass das vereinigte Deutschland als größte Wirtschaftsmacht in der Lage sein könnte, geistige und politische Hegemonie zu entwickeln und Mittel-Osteuropa – und auf diese Weise auch Österreich – in seinen beeinflussbaren »Hinterhof« zu verwandeln. Es ist bemerkenswert, dass die diplomatischen Papiere auch über den 20. Parteitag der Freiheitlichen Partei Österreichs berichten, auf dem der Vertreter der Friedrich-NaumannStiftung unter anderem äußerte, dass »auch in Österreich Deutsche leben«. Durch diese Diagnose der ungarischen Diplomaten kamen sowohl die außenpolitischen Identitätsprobleme als auch die Manifestationen der großdeutschen Ideologie zum Vorschein. So wurden die Befürchtungen der österreichischen Politik mit den Nationalismen außerhalb und innerhalb des Landes in Verbindung gebracht.20 Die ungarischen Diplomaten hielten die zentralen Statements des ÖVP-Programms in ihren Berichten für erwähnenswert. In Einklang mit dem Programm betonten die Politker der ÖVP, dass das vorrangige Ziel der österreichischen Außenpolitik die baldige Mitgliedschaft in der EU sei. Österreich könne als Grauzone 19 Vgl. Gehler, Michael : Österreichs Außenpolitik der Zweiten Republik. Von der alliierten Besatzung bis zum Europa des 21. Jahnhunderts, Bd. 2, Innsbruck/Wien/Bozen 2005, S. 584–591. 20 MOL.Sz.T.V.M. 1990. 001331/1.2.
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zwischen Ost und West nicht mehr funktionieren oder Teilnehmer einer mitteleuropäischen regionalen Zusammenarbeit sein. Es gebe kein Mitteleuropa zwischen Ost und West als politische Sondereinheit ! Es wäre eine Illusion, zu versuchen, den ehemaligen k. u. k.-Raum als N+N-Region oder eine mitteleuropäische Konföderation unter österreichischer Führung wiederherzustellen. Zur gleichen Zeit ließ das Programm keinen Zweifel daran, dass die osteuropäischen Märkte noch lange Zeit nicht imstande sein würden, den westeuropäischen Märkten gleichzukommen.21 Ferner bestand kein Zweifel daran, dass Österreich zum größten Nutznießer der in mittel- und osteuropäischen Regionen erfolgten Veränderungen sein würde. Unter den ungarischen Diplomaten wurde die Meinung geteilt, dass Wien eine geoökonomische Doppelrolle im osteuropäischen Umbruch spielen würde. Einerseits konnte Wien für die amerikanischen und westeuropäischen Firmen, die gegenüber der ostmitteleuropäischen Region ziemlich misstrauisch eingestellt waren, als eine sichere vorgeschobene Basis dienen. Anderseits erkannte Österreich, dass es aus dem Zerfall des durch die Sowjetunion dominierten Rates für Gegenseitige Wirtschaftshilfe (COMECON) den größten Nutzen ziehen konnte, wenn es die Rolle eines Initiators übernimmt. Es hat sich später klar gezeigt, dass sich die den EGDurchschnitt übertreffende österreichische Wachstumsrate auf die auf die ostmitteleuropäische Region gerichtete expansive Außenhandelspolitik zurückführen lässt, die nach dem Ende des Kalten Krieges auch den Charakter einer wirtschaftlichen »Mini-Globalisierung« annahm.22
IV. Österreich vor dem Tor der Gemeinschaft und die bilateralen Beziehungen Im Sommer 1988 war das sich mit österreichischer Außenpolitik befassende Informationsmaterial der Abteilung für Außenbeziehungen beim Zentralkomitee der USAP noch davon ausgegangen, dass Österreich wenigstens zur Schweiz in dem ein- und zweiseitigen Anpassungsprozess an die EG aufschließen müsste. Die Autoren betonten, dass der österreichische Beitritt zur EG die Einheit der N+N-Gruppe zerstören würde, wobei sich auch die anderen Staaten der EG für den Beitritt wenig begeistern könnten. Ferner lenkte das Material die Aufmerksamkeit »unserer österreichischen Freunde« darauf, andere Optionen in Erwägung zu ziehen, wie Alternativen durch die EFTA zum Schutze der österreichischen Interessen. Was werde mit der »österreichisch-ungarischen Sonderbeziehung« passieren, wenn Wien eventuell der EG 21 MOL. Sz.T. VM. 1990. 001331/1.13. Vgl. dazu die Beiträge von Fritz Breuss und Oliver Kühschelm in diesem Band. 22 MOL. XIX,-J–1-j Ausztria 1989 20 – 002243/1.
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beitrete, wurde im Informtionsmaterial gefragt. Die Antwort darauf war die Empfehlung, dass mehr und mehr »unumkehrbare Elemente« aufgrund der historischen Bindungen zwischen Wien und Budapest – ähnlich wie die Beziehungen zwischen beiden deutschen Staaten – in das bilaterale Beziehungsgeflecht eingebaut werden müssten, um auf diese Weise vollendete Tatsachen zu schaffen.23 Österreichs verstärkte Annäherung an den europäischen Integrationsprozess war von Anfang an mit der ungarischen Besorgnis verbunden, dass jede Erweiterung auf Kosten der Beziehungen zu Drittstaaten gehen würde.24 Die österreichischen Politiker konnten nicht genug betonen, dass die gutnachbarlichen Beziehungen infolge der Annäherung an die EG und des möglichen Beitritts zur EG keinen Schaden erlitten. Bei seinem Besuch in Budapest vom 26. bis 28. Mai 1988 erklärte Mock, dass Wien bereit sei, auch auf den Beitritt zu verzichten, wenn die Kommission die österreichische Neutralität und die gutnachbarlichen Beziehungen Österreichs zu Ungarn nicht akzeptiere, obwohl er die Chancen optimistisch bewertete.25 Im gleichen Jahr meinte Peter Jankowitsch zu seinem ungarischen Gesprächspartner in Gmünden, dass Österreich die Mitgliedschaft nur dann akzeptiere, wenn die gutnachbarlichen Beziehungen zu Ungarn dadurch nicht negativ betroffen würden. Als Beispiel erwähnte er, wie es der Bundesrepublik Deutschland gelungen war, ihre Sonderbeziehungen zur DDR in der EWG anerkennen zu lassen. Von ungarischer Seite wurde betont, dass es nicht bloß darum gehe, die gegenwärtige Form der Beziehungen zu bewahren, sondern auch darum, ein neues System der Beziehungen zu schaffen, wobei auch der Standpunkt akzeptiert wurde, dass Österreichs Annäherung an die EWG eine grundlegende wirtschaftliche Notwendigkeit und nicht so sehr eine politische Frage sei.26 Im Hinblick auf das Gespräch mit Jankowitsch, den außenpolitischen Sprecher der SPÖ, zeichnete ein internes Papier der Abteilung für Außenbeziehungen beim ZK der USAP ein ziemlich nüchternes Bild über die österreichischen Motivationen. Das Papier wies darauf hin, dass ohne Mitgliedschaft die österreichische Wirtschaft mit einem Exportanteil von gut zwei Dritteln in die EG durch den im Jahre 1992 in Kraft tretenden Binnenmarkt in eine ungünstige Lage versetzt werde und der 10-Prozent-Anteil des österreichischen Osthandels diesem 23 MOL.M-KS 288.f.32/1988/33 ö.e. 24 Nach dem österreichischen Beitritt zur EU galt als treffendes Beispiel die Geschichte der den Ungarn von Österreich im Jahre 1988 gewährten unilateralen Zollpräferenzen im Rahmen des Allgemeinen Zollpräferenzschemas (ASP) in den österreichisch-ungarischen Handelsbeziehungen. Das Allgemeine Präferenzsystem (APS) ist ein zentrales entwicklungspolitisches Instrument, das weitgehende Zollbefreiung für Importe aus den betreffenden Staaten vorsieht. Ursprünglich war das APS für die Entwicklungsländer vorgesehen und es arbeitet mit einem komplexen und hoch diversifizierten Anreizsystem, um die Entwicklungsländer zu erwünschtem politischen bzw. wirtschaftlichen Verhalten zu veranlassen. 25 MOL. 288 f.32/ 3.1988/1.ö.e. 26 MOL. 288.f.32/1988/24 ö.e. (17.dok)
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weltwirtschaftlichlichen Raumverlust nicht gleichkomme. Ferner stellte das Papier fest, dass die Annäherung an den Binnenmarkt für die österreichische Industrie mehr Chancen biete, um mit dem Strukturveränderungsprozess fertig zu werden und durch Anpassung auch ihre Effizienz zu erhöhen. Das Papier prognostizierte, dass sich die supranationale Entwicklung in der erweiternden Gemeinschaft verlangsamen werde, aber es werde auch mehr Möglichkeiten geben, die unterschiedlichen Interessen und Praktiken der Neutralität und der Ost-West-Wirtschaftsbeziehungen in der multizentrisch werdenden Gemeinschaft geltend zu machen.27 Die Tatsache, dass sich Österreich zur Ostöffnung verpflichtet sah, zeigte sich im Konflikt mit den Vereinigten Staaten. Österreich als neutrales Land nahm an der Embargo-Politik der COCOM-Liste nur zögernd teil, die darauf abzielte, den Zugang der Ostblockstaaten zur Hochtechnologie zu verhindern. Zu Beginn der 1980er-Jahre drohten die Vereinigten Staaten der österreichischen Staatsindustrie damit, dass der Hightech-Export nach Österreich eingestellt werde, wenn die Vorschriften der COCOM-Liste nicht erfüllt würden. In dieser Zeit versuchten die gefährdeten österreichischen Staatsunternehmen, sich technologisch neu aufzustellen, um wettbewerbsfähig zu werden. Im Hinblick darauf, dass ein Technologieverlust direkt zu befürchten war, war die SPÖ-geführte Regierung zwar zögernd, aber endlich doch bereit, die Vorschriften zu erfüllen. Es war besonders kennzeichnend, wie Jankowitsch als führender Außenpolitiker der SPÖ eine Trennlinie zwischen der österreichischen Außenpolitik, der »aktiven Neutralität« und der Außenpolitik der NATO-Staaten zog : »Gewiss war die Natur der Beziehungen, die Österreich zu den im sowjetischen Einflussbereich stehenden Staaten einschließlich der UdSSR selbst unterhielt, sehr verschieden von der Art, wie sie von den dem westlichen Militärbündnis angehörenden Ländern aufgefasst und betrieben wurde. Österreich enthielt sich vieler Maßnahmen, die von solchen Staaten etwa auf wirtschaftlichem Gebiet im Gefolge des Kalten Krieges ergriffen wurden, um den Osten zu schwächen und zu isolieren, und verfolgte demgegenüber eine Politik der Öffnung und der Normalisierung.«28
Es ist kein Zufall, dass die Außenpolitik der Ära Kreisky als Politik der Äquidistanz zu Ost und West eingestuft wurde, man sprach auch über die österreichische Ostpolitik als Appeasement mit den Ostkommunisten.29 27 MOL. 288.f.32/ 3.1988/1 ö.e. 28 Jankowitsch, Peter : Das Problem der Äquidistanz. Die Suche der Zweiten Republik nach außenpolitischen Leitlinien, in : Rauchensteiner, Manfried (Hg.) : Zwischen den Blöcken. NATO, Warschauer Pakt und Österreich (Schriftenreihe des Forschungsinstituts für politisch-historische Studien der Dr.Wilfried-Haslauer-Bibliothek, Salzburg 36), Wien/Köln/Weimar 2010, S. 451–495, hier S. 495. 29 Vgl. Hinteregger, Gerald : Wo ist die Ostkompetenz Österreichs ?, in : Europäische Rundschau 4/26 (1998), S. 3–24, hier S. 10.
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Es war ein Wesensmerkmal der ungarisch-österreichischen Sonderbeziehungen, dass die Interessen und der institutionelle Rahmen einen hohen Grad von Übereinstimmung aufwiesen. Das Entwicklungskonzept des ungarischen Außenministeriums in Bezug auf die bilateralen Beziehungen berichtete über eine Liste der übereinstimmenden und identischen außenpolitischen Bestrebungen. Unter ihnen verdient erwähnt zu werden : die gleiche geostrategische Lage ; die Zugehörigkeit zur gleichen »Gewichtsklasse« als Kleinstaat ; die Übereinstimmung der Schwerpunkte und der Richtungen der europäischen Bindungen ; die Vollmitgliedschaft in der EG als gemeinsames Ziel ; der Glaube, dass die militärischen Bündnisse durch ein gesamteuropäisches Sicherheitssystem abgelöst werden sollten ; und last, but not least die erweiterte und stabilisierende Kontaktfläche, die zwischen den zwei Nachbarstaaten entwickelt werden müsse. Demgegenüber zeichneten die Daten über die Warenstruktur der bilateralen Handelsbeziehungen ein eher düsteres Bild. Der Analyse des Entwicklungskonzeptes folgend waren »halbkoloniale Zustände« im wirtschaftlichen Bereich zwischen beiden Staaten vorherrschend : 85 % des ungarischen Exportumsatzes machten Halbfertigprodukte und Grundstoffe aus, während der Anteil der Maschinenbauprodukte nur 3 % betrug, und daran änderte auch die zunehmende Zahl der Kooperationsbeziehungen nicht viel, da sie meistens mit Lohnarbeit im Billiglohn-Sektor zu tun hatten und nicht auf den entwickelten Kooperationsformen beruhten.30
V. Die »Perzeption der Perzeption« oder die ungarische Wahrnehmung der österreichischen Perzeption des ungarischen Umbruchs In der Periode zwischen 1988 und 1991 war die ungarische Wahrnehmung der österreichischen Politik in vielerlei Hinsicht mit der österreichischen Perzeption der innenpolitischen Entwicklung in Ungarn verbunden. Die ungarischen Diplomaten berichteten regelmäßig darüber, wie die österreichischen Politiker und Medien die ungarische Entwicklung beurteilten. Die österreichische Wahrnehmung war durch eine kontinuerliche Ambivalenz geprägt : Einerseits war die österreichische Politik überparteilich engagiert, den demokratischen Wandlungsprozess auf dem Weg zu einen Mehrparteiensystem in Ungarn zu unterstützen, anderseits blieb die Besorgnis stets präsent, dass die Entwicklung unberechenbar außer Kontrolle geraten könnte. Andreas Khol, der Sekretär der Europäischen Demokratischen Union (EDU) und später Klubobmann der Parlamentsfraktion der ÖVP, hielt das Tempo der innenpolitischen Veränderungen für besorgniserregend und betonte, wie merkwürdig es sei, dass trotz der Streiks und der Kundgebungen mehr Fortschritt bezüglich der natio 30 Vgl. MOL. 00269. 12. 1991.
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nalen Konsensbildung in Polen als in Ungarn erzielt wurde.31 Zahlreiche Politiker und Beobachter teilten mit Thomas Chorherr, dem Chefredakteur der Tageszeitung Die Presse, die Besorgnis, dass die unkontrollierbar werdende Entwicklung, verbunden mit dem Zerfall der USAP, unvermeidlich zum Chaos führe. Aus diesem Grund machte Chorherr keinen Hehl daraus, dass sich die leitenden Persönlichkeiten der österreichischen Politik darüber gefreut hätten, wenn die reformkommunistischen Kräfte aus dem innerparteilichen Kampf gestärkt hervorgegangen wären und auf diese Weise die USAP fähig wäre, das Mehrparteiensystem nicht nur zu deklarieren, sondern auch langfristig zu stabilisieren. Chorherr fügte hinzu, dass es keine verantwortlichen Politiker in Österreich oder in der EG gebe, die an einer ungarischen Neutralität oder an einer radikalen Umgestaltung des bisherigen Gesellschaftssystems interessiert wären, wobei alles begrüßenswert sei, was in die Richtung einer bürgerlich-demokratischen Entwicklung weise.32 Am 13. Februar 1989 stellte Bundeskanzler Franz Vranitzky im Gespräch mit dem ungarischen Premier Miklós Németh die Frage, ob das Tempo des Reformprozesses in Ungarn nicht allzu rasant sei, und fügte hinzu, dass die »Reformeuphorie« gefährlich sei. Er versäumte nicht darzulegen, dass die aufkommenden sozialen Spannungen ebenso wie die nötige Zeit für Reformen berücksichtigt werden müssten ; ferner müsse auch das optimale Maß an Fortschritt gefunden werden.33 Mit dieser Einschätzung stand Vranitzky nicht alleine. Helmut Kohl sah im »Gulasch-Kommunismus« von János Kádár, so sagte er zu George Bush im Herbst 1987, den einzig vernünftigen Entwicklungsweg im Ostblock.34 In Bezug auf ein Gespräch Bakers mit dem deutschen Außenminister Hans-Dietrich Genscher informierte der ungarische Botschafter István Horváth am 13. September 1989 darüber, dass »laut Informationen der deutschen Botschaft der US-Botschafter, Mark Palmer[,] bemüht ist, die politische Führung der USA so zu beeinflussen, dass sie die Opposition unterstützt, damit diese die Macht erringen kann. Genscher sagte, er habe die Frage mit Außenminister Baker eigens besprochen. Nach seinen Informationen teilen die Führer der USA – Bush, Baker – die Meinung nicht. Im Einverständnis mit der Regierung der Bundesrepublik sind auch die Regierungen der USA, Frankreichs und Italien[s] daran interessiert, daß der Reformflügel der Ungarischen Sozialistischen Arbeiterpartei als Ergebnis der demokratischen Wahlen seine Machtposition bewahren kann.«35
31 MOL. XIX-J–1-j. Ausztria. 1989. 19. – 0012,25/5. 32 MOL. XIX.-J–1-j. Ausztria. 1989 19 – 0012,25/6 19. 33 MOL.XIX.-J–1-j. Ausztria 1989 19 – 003, 4/2. 34 Vgl. Schwarz, Hans-Peter : Helmut Kohl. Eine politische Biografie, München 2012, S. 458. 35 Andreas Oplatka zitiert den Bericht des Botschafters István Horváth in : Oplatka, Andreas : Der erste Riss in der Mauer. September 1989 – Ungarn öffnet die Grenze, Wien 2009, S. 236.
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Mit Recht konnte der ungarische Historiker László Borhi zu dem Schluss kommen, dass sich westliche Politiker in der Tat nicht so sehr darüber freuten, was 1989 in Polen und Ungarn vor sich gegangen war.36 Aus Sicht der westlichen Politiker stand fest, dass die reformkommunistischen »Grenzöffner« ein viel geringeres Risiko als die für unerfahren und unberechenbar gehaltenen und als Nationalisten eingestuften neuen politischen Kräfte bedeuteten. Gleichzeitig hegte Gorbatschow die Hoffnung, dass die mittel- und osteuropäischen Staaten zwar von ihrem Recht auf Selbstbestimmung Gebrauch machen, aber den gleichen, sowjetischen Weg der Perestroika einschlagen würden. Die Fehleinschätzung der Lage bestand darin, dass die Perestroika das Niveau der Reformen von Kádár nicht überstieg. Kádár zog aus der Perestroika die Schlussfolgerung, dass die gorbatschowsche Linie seinen Reformkurs bestätige und deshalb keine »Reform der Reform« erforderlich sei, d. h. auf paradoxe Weise trugen die Erfolge der Perestroika eine Zeit lang zur Konservierung des Kádárismus statt zur Beschleunigung der Reformen bei. Gerade die »Erfolge« des kádárschen Reformkommunismus waren für dessen »erfolgreichen Mißerfolg« verantwortlich. Zahlreiche Politiker fürchteten sich davor, dass Gorbatschows Position durch den Verlust des »äußeren Imperiums« geschwächt werde und diese Entwicklung letzten Endes zum Sturz des reformfreudigen sowjetischen Generalsekretärs und zum Erstarken der orthodoxen Hardliner führe.37 Diese Politik war keineswegs neu. Zu Beginn der 1980er-Jahre hatte innerhalb der USAP der reformkommunistische Flügel die Initiative ergriffen, die Möglichkeiten vertraglicher Kontakte mit der EG durch Mithilfe der SPD-Regierung in Bonn auszuloten. Im April 1982 riet Bundeskanzler Helmut Schmidt Kádár bei seinem Bonner Besuch von der ungarischen Annäherungspolitik an Brüssel ab und ermahnte die ungarische Seite zur Vorsicht gegenüber der Sowjetunion.38 Auch in der polnischen 36 Borhi, László : »Magyarország kötelessége a Varsóí Szerződésben maradni« – az 1989-es átmenet nemzetközi össszefüggései magyar források tükrében [»Es ist Ungarns Pflicht, im Warschauer Vertrag zu verbleiben« – die internationalen Zusammenhänge der Übergangs von 1989 im Spiegel ungarischer Quellen], in : Külügyi Szemle (Auswärtige Rundschau) 2–3/6 (2007), S. 255–272. 37 Kiss, J. László : Die Reformpolitik Gorbatschows und der Umbruch in Ostmitteleuropa 1989/90 aus ungarischer Sicht, in : Das geteilte Deutschland im geteilten Europa, Bd. VIII/2, Frankfurt am Main 1999, S. 1396–1436, hier S. 1434. 38 Im November 1981 bei seinem Bonner Gespräch mit Wilhelm Haferkamp, dem Vorsitzenden des Auswärtigen Ausschusses der EG, schlug Ferenc Havasi, Sekretär des ZKs der USAP, zur größten Überraschung seines Verhandlungspartners vor, dass es Ungarns Vorstellung sei, ein Freihandelsabkommen mit der EG in vollem Einklang mit den GATT-Prinzipien zu schließen. Nach dem Bonner Gespräch mit Bundeskanzler Schmidt warf Kádár Havasi vor, dass er eine Initiative ergriffen habe, die mit der Realität nicht im Einklang stehe. Vgl. Horváth, István : Az elszalasztott lehetőség. A magyarnémet kapcsolatok 1980–1991 [Die verpasste Möglichkeit. Die ungarisch-deutschen Beziehungen 1980–1991], Budapest 2009, S. 16–19.
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Krise war gut zu beobachten, dass die deutschen Sozialdemokraten geneigt waren, ihre bilateralen Beziehungen zu den Ostblockstaaten den strategischen Beziehungen zur UdSSR unterzuordnen.
VI. »Kleine Grenzöffnung von unten« und » große Grenzöffnung von oben« – ungarische und österreichische Wahrnehmungen Am 27. Juni 1989 zerschnitten die Außenminister Ungarns und Österreichs, Gyula Horn und Alois Mock, in der Nähe der Stadt Sopron (Ödenburg) offiziell die Drähte des Grenzzauns. Die Bilder der beiden lächelnden Herren gehören zu den immer wieder publizierten Aufnahmen, mit denen das Ende des Eisernen Vorhangs dokumentiert wird. Was Horn und Mock an diesem Tag unternahmen, war eine ganz bewusste Post-festum-Inszenierung, also nicht mehr als eine symbolische Handlung. Aber Symbole und Wahrnehmungen können Dauererscheinungen sein, sie entwickeln ein Eigenleben und können oft ausschlaggebender als die Fakten selbst sein.39 In Wirklichkeit war die Demontage des Eisernen Vorhanges zu dieser Zeit schon so weit fortgeschritten, dass es ziemlich schwer war, einen noch intakten Abschnitt für die Minister zu finden. Das eigentliche Ereignis wurde somit nachträglich künstlich nachgespielt, und als solcher war dieser Vorgang ein frühes und plakatives Beispiel für die Mediatisierung von Politik. Heute erlebt man jeden Tag, wie die Medien eine Unmenge von Ereignissen konstruieren, die gar nicht oder mindestens nicht so und zu diesem Zeitpunkt stattfanden. Die Grenzöffnung als mediales Ereignis erwies sich als ein Spektakel. Wenige Monate später folgte die gleiche Zeremonie mit der Drahtschere gemeinsam mit dem tschechoslowakischen Außenminister Jiří Dienstbier an der niederösterreichisch-tschechischen Grenze. Tatsächlich wurde der Abbruch des Eisernen Vorhanges als Prozess sowohl im technischen als auch im politischen Sinne zeitlich viel früher eingeleitet. Die Drahthindernisse und Beobachtungstürme hatten sowohl politisch als auch technisch schon Mitte der 1980er-Jahre in Ungarn zu wanken begonnen. Die ersten Initiativen waren nicht von Politikern gekommen, sondern aus der Führung der Grenztruppen : Es gab vorsichtig formulierte Überlegungen, dass die Sperranlagen technisch ausgedient hätten und nur mit hohen Importkosten erneuert werden könnten. Hinzu kam eine politische Entscheidung : Den ungarischen Staatsangehörigen wurde das Recht auf einen »Weltpass« zugestanden. Wozu die Westgrenze dicht abschirmen, wenn jedermann im Zeitalter der Satellitenaufklärung und der beginnenden Informationsgesellschaft legal das Land verlassen konnte ?40 39 Vgl. dazu den Beitrag von Helmut Wohnout in diesem Band. 40 Vgl. Oplatka, A. 2009, S. 23.
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Mit dieser Entwicklung war die Politik des vierzigjährigen Regierungschefs Miklós Németh auf vielfältige Weise verbunden. Am 24. November 1988 übernahm er das Amt des Ministerpräsidenten. Der konservative Károly Grósz, der im Juni 1987 Regierungschef geworden war und seit Mai 1988 auch an der Spitze der USAP stand, gab die Doppelfunktion auf und blieb Generalsekretär. Németh wurde das Markenzeichen eines neuen Kurses, den er in den Monaten vor der Grenzöffnung immer zielbewusster einschlug : Die Regierungspolitik sollte von der Partei unabhängiger werden. Nach einer späteren Darstellung des Ministerpräsidenten bezüglich der Grenzöffnung hatte er als Mitglied des Politbüros die Parteispitze über den bereits gefällten Regierungsbeschluss unterrichtet. Es gibt aber auch einen anderen Hinweis darauf, dass der Ministerpräsident Németh schon davor selbstständig handelte.41 Am 13. Februar 1989 führte Némeths erste Reise nicht nach Moskau, wie es üblich gewesen wäre, sondern nach Österreich, und bei dieser Gelegenheit teilte der ungarische Premier Vranitzky mit, dass Ungarn die Grenzsperren beseitigen werde. Ferner teilte er dem Regierungschef des Nachbarlandes auch die kurz zuvor gefällte Entscheidung für ein Mehrparteiensystem und die vorgesehene Reduzierung der sowjetischen Truppen in Westungarn mit.42 Im österreichisch-ungarischen Vergleich war die Wahrnehmung der Grenzöffnung durch Konvergenz zwischen medialer Vermittlung und Alltagserfahrung sowie von einer Asymmetrie bezüglich des innenpolitischen Stellenwertes des Ereignisses gekennzeichnet. Die Konvergenz bestand darin, dass die mediale und politische Darstellung der Ereignisse von 1989 mit den im Grunde genommen positiven Alltagserfahrungen der österreichischen Bürger in den östlichen Grenzregionen im Großen und Ganzen zusammenfiel. Erst später, nach Österreichs Beitritt zur EU (1995) und nach der ersten Osterweiterung (2004), begann die österreichische Gesellschaft, die Ostgrenze in politischen und medialen Diskursen als problematische Grenze wahrzunehmen. Der Euphorie des Jahres 1989 folgte bald ein ins Negative gewendetes öffentliches Bild der Auswirkungen der Grenzöffnung. Nach 1989 nahm die Bevölkerung die Grenze im Alltag anders wahr, als es deren mediale und politische Darstellung nahelegte, wobei eine grundlegende Differenz zwischen der 41 Nach eigener Forschung kam Oplatka in seinem Buch zu dem Schluss, dass die Hauptrolle der Grenzöffnung ohne Zweifel Ministerpräsident Miklós Németh und nicht Gyula Horn zukam : »Er trieb die Lösung voran, und kraft seines Amtes war er derjenige, der die Entscheidung fällte und dafür die politische Verantwortung trug. Bei einem bösen Ausgang hätte er den Kopf hinhalten müssen. Außenminister Gyula Horn war, entsprechend seiner Stellung, nicht in der Lage, Entscheidungen von Tragweite allein zu treffen, doch er und seine Mitarbeiter erbrachten einen maßgeblichen Beitrag zur operativen Abwicklung. Diese wiederum wäre nicht möglich gewesen ohne das Einverständnis und die Kooperation von Innenminister István Horváth, dem die bewaffneten Ordnungskräfte unterstanden.« Oplatka, A. 2009, S. 239. 42 MOL.XIX-J–1-j Ausztria 1989 19 – 003,4/2.
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österreichischen und der überwiegenden Mehrheit der ungarischen Bevölkerung der Grenzregionen und den »anderen«, »weiter südöstlich angesiedelten und über abwertende ethnische Zuschreibungen definierten Personengruppen« feststellbar ist. In den Diskursen kam – anders als in der verbreiteten politischen und medialen Darstellung bekannt – deutlich zum Ausdruck, dass die Erweiterung der Europäischen Union um Österreichs östliche Nachbarstaaten aus der Alltagsperspektive der regionalen Bevölkerung bereits vor der tatsächlichen Erweiterung stattgefunden hatte. Eine mentale Trennlinie zwischen »Westen« und »Osten« blieb aber bestehen, auch wenn sie mit der politischen Staatsgrenze nicht mehr deckungsgleich war.43 Die asymmetrische Wahrnehmung der »Grenzöffnung« bezieht sich auf die Extensität und Intensität der darauf folgenden Ereignisse in beiden Staaten. Die geopolitischen Herausforderungen für Österreich können kaum unterschätzt werden, die mit der Gleichzeitigkeit der Mitgliedschaft in der EU und dem ostmitteleuropäischen Umbruch verbunden waren, wobei das innenpolitische System – abweichend von den ungarischen Verhältnissen – in Österreich nicht auf dem Spiel stand. Im Gegensatz zu Österreich erlebte Ungarn einen tatsächlichen Übergang. In Ungarn war das Zerschneiden des Eisernen Vorhangs tief in die innenpolitische Entwicklung eingebettet, die auch ein Teil der politisch-diplomatischen Vorgeschichte der Transformation der ungarischen (Außen-)Politik war, die zur politischen Wende führte. In der Tat handelte es sich um zwei Beschlüsse : Ende 1988 und Anfang 1989 wurde in Budapest entschieden, die technischen Hindernisse in der Grenzregion abzutragen, und im August 1989 entschloss sich die ungarische Regierung, den Tausenden von DDR-Bürgern die Ausreise nach Österreich – sprich : die Weiterreise in die Bundesrepublik – zu gestatten. Darüber hinaus war die Kette dieser Ereignisse mit anderen Teilentscheidungen wie Ungarns Beitritt zur Genfer Flüchtlingskonvention am 17. März 1989 und mit anderen Problemen wie dem Zuwachs der rumänischen Flüchtlinge – unter ihnen auch die wachsende Zahl der Siebenbürger Magyaren – eng verknüpft. Die Demontage des Eisernen Vorhanges und die Grenzöffnung bildeten auch den Entstehungsprozess der ungarischen Außenpolitik par excellence, die – anstatt wieder schleichende Umwege einzuschlagen – dabei war, ihre Entscheidungsfreiheit zurückzugewinnen und für eine kurze Zeit eine Policy-Maker-Rolle mit europäischen Folgen zu übernehmen. Die ungarische Außenpolitik war traditionell durch Begriffe wie »Anpassung« und »Befolgung« sowie »Unterordnung« gekennzeichnet, also durch die Merkmale einer Policy-Taker-Rolle. Die fehlende Macht und die geostrategische Lage hatten das Land direkt oder indirekt von einem Umfeld abhängig gemacht, auf das es nicht oder nur eingeschränkt einwirken konnte. Eine 43 Vgl. Liebhart, Karin : Mediale Bilder und Alltagswahrnehmungen der österreichischen Ostgrenze am Beispiel des Themenfeldes »Sicherheit«, http://www.beigewum/at/worldpress/wp-content/uplo (online am 15. Oktober 2012), S. 4 und S. 81.
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aktive, nach außen wirksame oder das eigene Schicksal mitgestaltende Policy-Maker-Position war nur sehr selten und im Rahmen dramatischer Episoden möglich. Ungarn war an einem Scheideweg angelangt und stand vor einer Wahl. Die Forderungen der beiden deutschen Staaten stürzten Ungarn im Sommer 1989 in ein Dilemma : Die Bundesrepublik wünschte die freie Ausreise der DDR-Bürger in den Westen, die DDR ihre Abschiebung oder zumindest die Mithilfe zu ihrer Rückkehr nach Ostdeutschland. Beide Wünsche gleichzeitig konnte die ungarische Regierung nicht erfüllen. Die ungarische Regierung vertrat lange den Standpunkt, dass es sich bei der Flüchtlingskrise im Grunde genommen um eine deutsch-deutsche Angelegenheit handle, die Bundesrepublik und DDR selbst lösen müssten. Mit der Zeit war es aber immer mehr erkennbar, dass eine solche Einigung nicht zu erwarten sei und Ungarn deshalb selbst werde handeln müssen. Nach der als Testfall betrachteten »kleinen Grenzöffnung« des Paneuropäischen Picknicks vom 19. August wurde der Grundsatzbeschluss am 22. August 1989 in einem engen ministeriellen Kreis gefällt. Am 25. fand auf Schloss Gymnich in der Nähe von Bonn ein Geheimtreffen statt, bei dem Németh und Horn Kohl und Genscher über die ungarische Entscheidung unterrichteten. Zuvor waren von den Ungarn in der Nacht auf den 24. August die DDR-Flüchtlinge, die sich seit Wochen in der Budapester Botschaft der Bundesrepublik aufgehalten hatten, nach Westen gebracht worden. Die Operation lief unter der Fahne des Internationalen Komitees des Roten Kreuzes ab : Das Ziel war Wien, von wo aus die Flüchtlinge die Reise nach Westdeutschland fortsetzten. Mit Recht stellt Andreas Oplatka fest, dass die ungarische Seite mit der Aktion ein doppeltes Anliegen verfolgte : Sie wünschte, dass die Botschaftsflüchtlinge noch vor dem Treffen in Bonn-Gymnich das Gebäude verlassen, um zu betonen, dass es sich um eine autonome Entscheidung der ungarischen Regierung handelte. Damit ist auch Österreichs Rolle in der Kette der Ereignisse geklärt. Durch die Einschaltung Österreichs, eines neutralen Drittlands, sollte betont werden, dass sich Ungarn nicht unmittelbar mit Bonn geeinigt hatte. Ferner diente der sonst ergebnislose Besuch von Außenminister Horn in Ost-Berlin Ende August der Beweisführung, dass Budapest die beiden deutschen Staaten in strenger Parallelität und gleichrangig behandle.44 Für Budapest war diese Situation nur teilweise neu : Seit Ende der 1960er-Jahre musste Ungarn immer öfter lernen, mit gegensätzlichen Wahlmöglichkeiten umzugehen und die gegensätzlichen Anforderungen gleichzeitiger Anpassung an RGW, die Weltwirtschaft und die Innenpolitik im Sinne einer außenpolitischen Doktrin eines Kleinstaates abzustimmen.45 44 Oplatka, Andreas : Der Erste Riss im Eisernen Vorhang, in : Aus Politik und Zeitgeschichte 21/2009, http://www.das-parlament.de/2009/21–22/Beilage/003.html (online am 14. November 2012), S. 2. 45 Vgl. Kiss, J. László : European Security : Hungarian Interpretations, Perceptions and Foreign Policy, Houndsmills/Basingstoke 1989, S. 149–151.
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In Ungarn selbst löste die Grenzöffnung nach dem 11. September 1989 keine besondere Resonanz aus, was der Tatsache geschuldet war, dass das Land mit dem eigenen Systemwechsel befasst war, wobei die Reformkommunisten sehr zielstrebig agierten, und zwar im Sinne ihrer Politik der »Flucht nach vorne«, um aus der Grenzöffnung eigenes politisches Kapital zu schlagen und ihre Deutschland-Kompetenz in der ungarischen Innenpolitik für sich nutzbar machen. Demgegenüber legten die bürgerlichen Parteien einen besonderen Akzent auf die »kleine Grenzöffnung« des Paneuropäischen Picknicks, das am 19. August 1989 durch die große Sammlungspartei, das Ungarische Demokratische Forum (MDF) und die paneuropäische Bewegung unter Otto von Habsburgs Schirmherrschaft ins Leben gerufen worden war. Nach dem symbolischen Akt von Mock und Horn war das Paneuropäische Picknick der erste Massenausbruch über die burgenländische Grenze und als solches auch ein Versuch, die möglichen Reaktionen der Sowjetunion auszuloten. Wie dem auch sei, es bildete sich eine geteilte Grenzöffnungswahrnehmung heraus – »Grenzöffnung von oben« und »Grenzöffnung von unten« – und dementsprechend auch eine geteilte Erinnerung in den ungarischen politischen Diskursen. Demnach war die Grenzöffnung mit der reformkommunistischen Politik des ungarischen Staates und das Paneuropäische Picknick mit den im Entstehen begriffenen bürgerlichen Parteien und den Graswurzelbewegungen verbunden. Am 12. September schlug der Vorsitzende Rezső Nyers auf der Sitzung des Zentralkomitees der immer noch herrschenden Partei vor, über das Thema der Grenz öffnung keine Debatte zu eröffnen. Bei der Sitzung vom 24. September gab es einen Wortwechsel zwischen dem Generalsekretär der USAP, dem Hardliner Grósz, und dem reformfreudigen Ministerpräsidenten Németh. Grósz behauptete, die Sowjetunion habe den Schritt der ungarischen Regierung missbilligt, die DDR sei nicht aktiv einbezogen worden, während Németh erwiderte, die Verhandlungen seien mit beiden deutschen Staaten geführt worden. Nach der Grenzöffnung strebte die DDR nach der Wiederherstellung des früheren Zustands, Ungarn dagegen strebte danach, die mit der DDR bestehenden Verträge den neuen internationalen Verpflichtungen anzupassen. Die Gespräche mit dem stellvertretenden Außenminister der DDR, Harry Ott, waren ein Misserfolg, denn, wie Oplatka die Aufzeichnungen des ungarischen Außenministeriums zitiert, »man habe in Otts Ausführungen kein selbstkritisches Element entdecken könnnen«46. Kein Zweifel besteht darin, dass die symbolische Politik der Grenzöffnung am Eisernen Vorhang am 27. Juni 1989 und etwas weniger als fünf Monate später der Fall der Berliner Mauer am 9. November 1989 Spuren auch in der österreichischen öffentlichen Meinung hinterließen. Auf beiden Seiten der Grenze war die Raumwahrnehmung in Veränderung begriffen. Bis 1989 befanden sich die Grenzregionen 46 Oplatka, A. 2009, S. 238.
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in einer peripheren Lage. Es war offensichtlich, dass die Veränderungen entlang der ungarisch-österreichischen Grenze viel rascher spürbar waren als in grenzferneren Gebieten. Mit der Grenzöffnung war Österreichs Weg nach Brüssel trotz der hohen Erwartung der politischen und diplomatischen Kreise am Ballhausplatz nicht leichter geworden. Den Weg nach Brüssel zu beschreiten und einen Beitrittsantrag zu stellen war eine Entscheidung, die vor der Grenzöffnung getroffen worden war.47 Tatsächlich konnte die »kleine Grenzöffnung« als einer der ersten Schritte in dem europäischen Entgrenzungsprozess den österreichischen Weg nach Brüssel nicht beschleunigen. Die EG-Mitgliedschaft – das große Projekt der europäischen Entgrenzungsgeschichte – blieb aber vordringliche Priorität auf der österreichischen politischen Agenda, nach 1989 noch mehr als davor. Zur gleichen Zeit gab es keinen Zweifel, dass der Mauerfall in Berlin eine welthistorische Weichenstellung darstellte und auch als eine Metapher in die postmoderne Geschichte einziehen würde. Der erste Stein aus der Berliner Mauer wurde jedoch in Ungarn herausgebrochen, wie Bundeskanzler Kohl sagte, aber die Erinnerung an die Grenzöffnung verblasste in Österreich nach dem Berliner Mauerfall. Demgegenüber hörte die Grenzöffnung in Ungarn nicht auf, das historische Bewusstsein zu gestalten und ein Aussichtspunkt in der Geschichte der deutsch-ungarischen Beziehungen zu sein.48
47 Vgl. Gehler, M. 2005, S. 591. 48 Diese Forschung erfolgte mit Unterstützung der Europäischen Union, in Kofinanzierung des Europäischen Sozialfonds im Rahmen des Projektes TÄMOP 4.2.4.A/1-11-1-2012-0001 Nationales Exzellenzprogramm – Landesprogramm zum Aufbau und Betrieb eines Systems zur Förderung von Studierenden und Forschern.
Felicitas Söhner
Der Umbruch von 1989 Eine Betrachtung semantischer Diskurse und historischer Verantwortung
I. Vorbemerkung »1989 war das größte Jahr der Weltgeschichte seit 1945«1, schrieb der britische Historiker Timothy Garton Ash im Jubiläumsjahr 2009 ; so habe sich 1989 die internationale Politik grundlegend verändert. Die Massenbewegung, die im Herbst jenes Jahres einsetzte, führte zu tief greifenden Transformationsprozessen in unterschiedlichen Bereichen der Gesellschaft und damit schließlich zum Ende des Kalten Krieges wie auch zu einem – mehr gefühlten – Ende des von Eric Hobsbawm so bezeichneten »kurzen 20. Jahrhunderts«2. Gleichzeitig öffnete sich mit diesem historischen Jahr die Tür zur »Wiedervereinigung«, zur Erweiterung der Europäischen Gemeinschaft wie auch der NATO. Damit steht das Jahr 1989 für einen Epochenwechsel und ist tief prägend für die jüngste europäische Geschichte ; einerseits bedeuteten die Ereignisse von 1989 einen Zusammenbruch, andererseits brachen sie neuen Entwicklungen Bahn. In den ehemals kommunistischen Staaten kam es zu einem politischen und soziokulturellen Wandel, welcher die politische Landkarte Europas maßgeblich veränderte. Der Eiserne Vorhang zwischen Ost und West wurde geöffnet. Für Deutschland, das seit 1945 geteilt war, eröffnete sich der Weg zur Wiedervereinigung. Österreich, welches bis dahin auf einer Länge von 1.200 Kilometern an den Eisernen Vorhang grenzte, stand ebenfalls einer völlig anderen geopolitischen Situation gegenüber, auch wenn 1 »Nineteen eighty-nine was the biggest year in world history since 1945. In international politics, 1989 changed everything. It led to the end of communism in Europe, of the Soviet Union, the cold war and the short 20th century. It opened the door to German unification, a historically unprecedented European Union stretching from Lisbon to Tallinn, the enlargement of Nato, two decades of American supremacy, globalisation, and the rise of Asia. The one thing it did not change was human nature.« Ash, Timothy Garton : 1989 changed the world. But where now for Europe ?, in : The Guardian, www.gu ardian.co.uk/commentisfree/2009/nov/04/1989-changed-the-world-europe (online am 16. Juni 2012), S. 1. 2 Vgl. Hobsbawm, Eric : Das Zeitalter der Extreme. Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts, München 1995, S. 20.
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die Grenze des Kalten Krieges in ihrer Undurchlässigkeit je nach Nachbarland differenziert zu betrachten ist. Schon Anfang 1989 meinte der damalige Außenminister der Sowjetunion Eduard Schewardnadse in Wien, der »Eiserne Vorhang rostet«3. Die Nagelprobe für die Reform- und damit Überlebensfähigkeit des Ostblocks waren jedoch die Ereignisse vom 2. Mai 1989, als die ungarische Regierung anfing, die Grenzanlagen zu Österreich abzubauen. Dies bedeutete zwar nicht, dass damit die österreichisch-ungarische Grenze vollständig geöffnet wurde, jedoch wurde sie als eine »Art ›grüner Grenze‹«4 durchaus durchlässiger und initiierte damit einen Exodus in Richtung Westen. Die darauf folgende soziokulturelle Transformation bedeutete für Europa mehr als das Ende des Kalten Krieges oder der ideologischen Konfrontation zweier Machtblöcke. Schon in der Anfangsphase des Umbruchs tauchte das Postulat e iner »Rückkehr nach Europa«5 der ehemaligen »Ostblockstaaten« auf. Mit diesem Anspruch verbanden sich die Bekräftigung der kulturellen Zusammengehörigkeit Europas wie auch die Hoffnung auf die Konstituierung einer europäischen, moralischen Identität, geprägt von Prinzipien wie Solidarität, individueller Freiheit und Menschenrechten.6 Mit den Ereignissen von 1989 wurde die Integration der ehemaligen Staaten des »Ostblocks« in die Europäische Union überhaupt erst ermöglicht. Auch für Österreich war diese von dem Zeithistoriker Martin Sabrow als »epochale Polverschiebung«7 bezeichnete Zäsur von Bedeutung. Der politische Wandel von 1989/90 beendete die künstliche Teilung Europas und eröffnete für zahlreiche Staaten Europas neue Partizipationsmöglichkeiten in der Staatengemeinschaft Europas, ohne deren Verwirklichung an Interessen der Sowjetunion orientieren zu müssen. Heute gehört es zur europäischen Normalität, sich frei zwischen west- und osteuropäischen Nachbarländern zu bewegen, dort studieren oder arbeiten zu können. 3 Liedermann, Helmut : Österreichs Rolle beim Zustandekommen der KSZE, in : Rathkolb, Oliver/ Maschke, Otto M./Lütgenau, Stefan August (Hg.) : Mit anderen Augen gesehen. Internationale Perzeptionen Österreichs 1955– 1990, Wien 2002, S. 487–506, hier S. 493. 4 Wirsching, Andreas : Der Preis der Freiheit. Geschichte Europas in unserer Zeit, München 2012, S. 42. 5 Vgl. Václav Havel vor dem polnischen Sejm und Senat am 25. Januar 1990, Auszüge in : Rhodes, Matthew Aaron : The idea of Central Europe and Visegrad cooperation, in : International politics 2/35 (Juni 1998), S. 165–186, hier S. 174. 6 Vgl. Lang, Kai-Olaf : Tschechische Positionen zur künftigen Gestalt der Europäischen Union. Studie der Stiftung Wissenschaft und Politik. Deutsches Institut für Internationale Politik und Sicherheit, Berlin 2002, S. 26 ; http://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/studien/S01_02_sicher. pdf (online am 20. November 2012). 7 Sabrow, Martin : Einführungsvortrag. Zeitgeschichte schreiben in der Gegenwart. Konferenz des Zentrums für Zeithistorische Forschung Potsdam am 20./21. März 2009, https ://www.zzf-pdm.de/Portals /_Rainbow/Documents/Sabrow/09%2520Zeitgeschichte%2520schreiben%2520in%2520der%2520 Gegenwart(2).doc (online am 2. Oktober 2012), S. 10.
Der Umbruch von 1989
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Dennoch zeigt sich, dass sich der gegenwärtige Zustand Europas von dem Ergebnis, das 1989 während des Umbruchs erwartet wurde, ziemlich unterscheidet. Die politischen und gesellschaftlichen Ereignisse von 1989 haben die Determinanten der Forschung und die historischen Urteile gravierend verschoben. Neue Themen rückten anstelle bisheriger inhaltlicher Schwerpunkte in den Vordergrund, man denke dabei beispielsweise an die Erforschung »nationaler« und »europäischer Identitätskonzepte«, an »Aufarbeitung« und »Erinnerungskultur« oder »Kontinuitäten« und »Zäsuren« in Osteuropa. Der nachfolgende Beitrag befasst sich mit dem Umbruch von 1989, dem damit verbundenen Paradigmenwechsel sowie den gesellschaftlichen und politischen Transformationen mit Blick auf die Republik Österreich. Dabei werden die Begrifflichkeiten bezüglich dieses historischen Umbruchs eingehender beleuchtet und differenziert. Im Zuge dessen geht dieser Text insbesondere auf den Begriff der »Friedlichen Revolution« ein und stellt die Frage, inwieweit dieser Terminus gerechtfertigt ist. Zudem beschäftigen sich die folgenden Ausführungen mit der Problematik der Aufarbeitung der kommunistischen Vergangenheit und dem damit verbundenen Wandel des gesellschaftlichen Auftrags der Geschichtswissenschaft, bedingt durch die Auswirkungen der Systemtransformation. Schließlich werden in einem Ausblick Aspekte zur zukünftigen Rolle der Geschichtswissenschaft in der Untersuchung der Transformationsphase sowie die Generierung von »Erinnerungskultur« und »Gedächtnis« erörtert.
II. Differenzierung der Begrifflichkeiten Die Begriffszuschreibungen für die Ereignisse des Jahres 1989 sind höchst vielfältig. Hier stellt sich die Frage, inwiefern die jeweiligen Ausdrücke die Veränderungen umschreiben können und eine bestimmte Deutung mit sich bringen. Was heißt es beispielsweise, wenn in Bezug auf das Jahr 1989 von einer »Stunde Null« gesprochen wird ? Dieser Ausdruck, der zuvor schon im Kontext des Jahres 1945 verwendet wurde, erschien wohl zuerst als literarischer Begriff, seine genaue Herkunft ist jedoch nicht zu ermitteln.8 Mit dem von Gesellschaft und Medien verwendeten Begriff der 8 Vgl. Kleßmann, Christoph : 1945 – welthistorische Zäsur und »Stunde Null«, Version : 1.0, in : Docupedia-Zeitgeschichte, 15. Oktober 2010, http://docupedia.de/zg/1945#cite_note–19 (online am 3. April 2013) ; Fischer, Ludwig : Die Zeit von 1945 bis 1967 als Phase der Gesellschafts- und Literaturentwicklung, in : Fischer, Ludwig (Hg.) : Literatur in der Bundesrepublik Deutschland bis 1967, München 1986, S. 29–37 ; Esselborn, Karl : Neubeginn als Programm, in : Fischer, Ludwig (Hg.) : Literatur in der Bundesrepublik Deutschland bis 1967, München 1986, S. 230–237 ; Giles, Geoffrey J. (Hg.) : Stunde Null. The End and the Beginning Fifty Years ago, German Historical Institute (Occasional Paper
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»Stunde Null« soll die enorme Reichweite der Veränderungen veranschaulicht werden, die nach 1989 auf gesellschaftlicher, wirtschaftlicher, kultureller und sozialer Ebene eintraten, und damit begrifflich ein absoluter Neuanfang ausgedrückt werden. An dieser Stelle soll nun aber darüber nachgedacht werden, ob eine solche »Stunde Null« im Jahr 1989 überhaupt existierte. Generell handelt es sich bei diesem Ausdruck um ein fragwürdiges Konstrukt, das bereits heftig kritisiert wurde und auch weiter zu kritisieren ist, denn mit diesem beinahe polemischen Ausdruck werden Kontinuitäten geleugnet und damit zugleich längere Entwicklungslinien, Krisen und Reformen in West und Ost während der 1980er-Jahre ausgeblendet. Vielmehr geht dieser Begriff von einer »tabula rasa« aus, wie sie in kaum einem politisch-gesellschaftlichen Bereich existiert. Da es keinen konkreten Anfangs- oder gar Nullpunkt der Geschichte gibt, kann man auch nicht von einer »Stunde Null« sprechen. Damit ist der Terminus nach Erachten der Autorin historisch-wissenschaftlich unbrauchbar. Insbesondere im Österreichischen findet sich sowohl im wissenschaftlichen wie auch im medialen oder öffentlichen Sprachgebrauch der Begriff der »Ostöffnung«9. Obwohl schon einmal zur Umschreibung der Osteuropa zugewandten Außenpolitik Willy Brandts in Verwendung, wird damit im Zusammenhang mit der Phase von 1989 und den Jahren danach die wirtschaftliche wie politische Öffnung der westeuropäischen Länder hin zu ihren östlichen Nachbarn ausgedrückt, die sich beispielsweise in einem deutlich gewachsenen Anteil der österreichischen Exporte in osteuropäische Länder widerspiegelt. Im Jahr 2012 fanden sich zu diesen Vorgängen positive wie auch kritische Kommentare : In der Wiener Zeitung las man etwa : »Ostöffnung war Erfolg«10. Die Presse erklärte, dass es eine Generation gebraucht habe, bis die Österreicher die Ostöffnung verkraftet hätten.11 Man beachte hierzu die Ausführungen von Oliver Kühschelm in seinem Beitrag »Den ›Osten‹ öffnen« in diesem Band, in welchem der Historiker auf die Bedeutung gemeinsamer Narrative und politischer wie wirtschaftlicher Schnittstellen für die Beziehungen zu den östlichen Nachbarn eingeht.
20), Washington 1997 ; http://www.ghi-dc.org/publications/ghipubs/op/op20.pdf (online am 3. April 2013), S. 5 f. 9 Vgl. Kühschelm, Oliver : Wirtschaft und Konsumkultur im Umbruch, http://www.univie.ac.at/offene grenzen/themenkomplexe/wirtschaft.pdf (online am 2. April 2013). 10 Vgl. »Ostöffnung war Erfolg«, in : Wiener Zeitung online vom 7. Mai 2012, http://www.wienerzei tung.at/themen_channel/wz_integration/politik_und_recht/456146_Ostoeffnung-war-Erfolg.html (online am 2. April 2013). 11 Vgl. Böhm, Wolfgang : Ostöffnung : Hallo Nachbar ! Die späte Versöhnung, in : Die Presse online vom 19. Februar 2012, http://diepresse.com/home/politik/eu/733445/Ostoeffnung_Hallo-Nachbar-Diespaete-Versoehnung (online am 2. April 2013).
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Der Umbruch von 1989 wird auch als »annus mirabilis«12 beschrieben.13 Der Ausdruck des »annus mirabilis« (lat. ›Wunderjahr‹) kennzeichnet ein Jahr, in dem sich mehrere herausragende, einflussreiche Ereignisse zutragen. Sowohl in der Geistesgeschichte wie auch in der Naturwissenschaft existieren mehrere »anni mirabiles« – zum Beispiel 1666, 1907, 1955, 1989. Für 1989 wird der Begriff von manchen Zeitgenossen verwendet, da in diesem Jahr die Demokratisierungswelle im Osten Europas ihren Höhepunkt erreichte.14 Dies ist jedoch kritisch zu sehen, was im Folgenden erläutert werden soll. Deutlich passender als für das Jahr 1989 ist die Begrifflichkeit eines »annus mirabilis« für das Jahr 1955 in Österreich. Es handelt sich dabei um das Jahr, in dem die Besatzertruppen aus Österreich vollständig abzogen und mit dem Österreichischen Staatsvertrag die Unabhängigkeit des Landes wiederhergestellt werden konnte. Geoffrey Wallinger, seinerzeit britischer Botschafter in Wien, hat in seinem Jahresbericht für 1955 diesen Begriff im Zusammenhang mit der Charakterisierung des Staatsvertragsjahrs verwendet.15 Die Entwicklung dieses »wunderbaren Jahres« hing zwar sehr eng mit der Lösung der Deutschen Frage zusammen,16 die »Wunderbarlichkeit« des Jahres aber rührte vor allem daher, dass es der zeitgenössischen Bevölkerung wie ein Wunder vorkommen musste, dass gerade die UdSSR eine treibende Kraft war, durch welche letztendlich Österreich von der belastenden Präsenz der Besatzer befreit wurde. Daher lässt sich dieses Schicksalsjahr 1955, das als wichtige Zäsur in der Geschichte der Zweiten Republik Österreichs gilt, durchaus berechtigt als »annus mirabilis« bezeichnen. Ob es sich bei 1989 jedoch um ein wirkliches »Wunderjahr« (für Österreich) handelt, ist kritisch zu hinterfragen. Der in diesem Jahr eingeschlagene Kurs der Einführung der Demokratie und des Aufbaus der Marktwirtschaft in den Ländern des ehemaligen Ostblocks stellte sich als schwieriger als angenommen heraus. Die Erfahrung, an die Grenzen der Machbarkeit zu stoßen, 12 Vgl. u. a. Gehler, Michael : Die Umsturzbewegungen 1989 in Mittel- und Osteuropa, in : Aus Politik und Zeitgeschichte 41–42/2004, S. 36–46, http://www.bpb.de/apuz/28060/die-umsturzbewegungen– 1989-in-mittel-und-osteuropa ?p=all (online am 4. April 2013). 13 Vgl. http://www.demokratiezentrum.org/themen/europa/europaeisches-bildgedaechtnis/1989.html#_ ftn51 (online am 15. Oktober 2012). 14 Vgl. Kraus, Peter A./Merkel, Wolfgang : Die Konsolidierung der Demokratie nach Franco, in : Bernecker, Walther L./Discherl, Klaus (Hg.) : Spanien heute, Frankfurt am Main 1998, S. 37–62. 15 Vgl. Foreign Office 371/124080, Austria : annual review for 1955, Wallinger to Selwyn Lloyd, 18. Januar 1956, The National Archives, Kew, RR1011/1 ; Stourzh, Gerald : Geschichte des Staatsvertrages, 1945–1955 : Österreichs Weg zur Neutralität, Graz 1985, S. 131. 16 Vgl. Gehler, Michael : Klein- und Großeuropäer : Überlegungen zu einer vergleichenden Betrachtung der »Six«- und »Non-Six«-Staaten am Beispiel der Bundesrepublik Deutschland und Österreichs, in : Müller, Guido (Hg.) : Deutschland und der Westen. Internationale Beziehungen im 20. Jahrhundert. Festschrift für Klaus Schwabe zum 65. Geburtstag (Historische Mitteilungen, Beiheft 29), Stuttgart 1998, S. 247–269, hier S. 255.
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entzauberte vielmehr das Ideal des demokratischen Fortschritts. Einem propagierten »annus mirabilis« folgten mehrere »anni miserabiles«17. Gleichzeitig haben die Ereignisse des Jahres 1989 gezeigt, dass seinerzeitige Versuche, große Voraussagen zu machen, scheitern mussten. Keiner der politischen Akteure konnte zu diesem Zeitpunkt auch nur erahnen, mit welcher ungeheuren Beschleunigung sich die Ereignisse entwickeln würden.18 Die Zeitgenossen erkannten zwar in den Ereignissen von 1989 eine erstaunliche politische Entwicklung, hatte doch der Staatskommunismus nach vier Jahrzehnten der Prävalenz in mehreren Staaten in kürzester Zeit seinen Einfluss verloren, jedoch »war das Jahr 1989 [zwar] das Zeichen, dass etwas zu Ende geht, doch man wusste nicht im Geringsten, wie und bis wann«19. Neben den eben untersuchten Narrativen existieren zahlreiche weitere Termini, um die Ereignisse von und nach 1989 in Worte zu fassen. Dabei treten unterschiedlichste Begriffszuschreibungen je nach Sprachraum und Nation auf. Teile der deutschen Bevölkerung sprechen vom »Ende der alten Ordnung«20, dem »Ende des Kommunismus«21 oder dem Ende »der alten Zeit«22. Im slawischen Sprachraum ist der Begriff »Wechsel« (beispielsweise polnisch »zmiany«) verbreitet.23 In Deutschland wurde insbesondere der Terminus »Wende« zum Synonym für jenen historischen Prozess, der 1989 seinen Ausgang nahm. Unabhängig von dessen Popularität ist diese Begrifflichkeit alles andere als eindeutig, sondern vielmehr in Fachkreisen umstritten. Wurde schon im Jahr 1982 der bundesdeutsche Kanzlerwechsel von Helmut Schmidt zu Helmut Kohl als »konservative Wende« bezeichnet, wurde dieser Terminus im Zusammenhang mit den Ereignissen des Herbstes 1989 erstmals von Erich Honeckers Nachfolger Egon Krenz zur Beschreibung seiner Politik benutzt. Als neuer Generalsekretär der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) äußerte Krenz in seiner Rede auf der 9. Tagung des Zentralkomitees der SED laut Pressemitteilung : 17 Vgl. Berend, Ivan T. : Central and Eastern Europe, 1944–1993. Detour from the periphery to the periphery (Cambridge studies in modern economic history 1), Cambridge 1996, S. 341. 18 Vgl. Lendvai, Paul : Der schwierige Weg Ostmitteleuropas in die Union, Kempfenhausener Gespräche, Dritter Gesprächszyklus (1996–1998), Gespräch 2, »Rückkehr nach Europa«, S. 22–30, http://www. gcn.de/Kempfenhausen/aktuell/downloads/lendvai.pdf (online am 2. April 2013). 19 Michnik, Adam : Wir waren das Volk, in : Die Zeit online vom 5. März 2009, http://www.zeit.de/2009/ 11/Ostblock–89 (online am 3. Oktober 2012), S. 1. 20 Vgl. Schöllgen, Gregor : Die Außenpolitik der Bundesrepublik Deutschland. Von den Anfängen bis zur Gegenwart, Becksche Reihe, 3., erw. und aktualisierte Aufl., München 2004, S. 14. 21 Vgl. Jarausch, Konrad H. : Kollaps des Kommunismus oder Aufbruch der Zivilgesellschaft ? Zur Einordnung der friedlichen Revolution von 1989, in : Conze, Eckart (Hg.) : Die demokratische Revolution 1989 in der DDR, Köln 2009, S. 25–45, hier S. 25. 22 Vgl. Wensierski, Hans-Jürgen von : Mit uns zieht die alte Zeit : Biographie und Lebenswelt junger DDR-Bürger im gesellschaftlichen Umbruch, Wiesbaden 1994, S. 66, S. 136 sowie S. 212. 23 Vgl. Paczkowski, Andrzej : Polska 1986–1989 : koniec systemu [Polen 1986–1989 : Ende des Systems], Referaty, Wydaw. Trio, Warschau 2002, S. 75 sowie S. 167.
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»Fest steht, wir haben in den vergangenen Monaten die gesellschaftliche Entwicklung in unserem Lande in ihrem Wesen nicht real genug eingeschätzt und nicht rechtzeitig die richtigen Schlußfolgerungen gezogen. Mit der heutigen Tagung werden wir eine Wende einleiten, werden wir vor allem die politische und ideologische Offensive wieder erlangen.«24
Der Zeithistoriker Michael Richter bemerkt in seiner Analyse zum Begriffsverständnis des Redners hierzu einschränkend, dass Krenz mit dem Begriff »Wende« jedoch »keine demokratischen Veränderungen gemeint [habe]. Vielmehr handelte es sich um den Versuch eines Machterhalts durch Maßnahmen einer Flexibilisierung der SED-Diktatur.«25 Die dessen ungeachtete Popularität des Begriffs »Wende« rührt wohl eher daher, dass der Terminus aufgrund seiner Mehrdeutigkeit unabhängig davon verwendet werden kann, ob der Sprecher die Zäsur von 1989 als Revolution, Reform, Transformation oder in einem anderen, weiteren Sinne versteht.26 Diese begriffliche Indifferenz mag wohl im alltäglichen Sprachgebrauch sinnvoll sein, für eine wissenschaftliche Analyse, für die Begriffsklarheit unabdingbar ist, wirkt sich jede Unbestimmtheit jedoch eher disqualifizierend aus. Die Frage nach einer korrekten Bezeichnung für den untersuchten historischen Einschnitt wird daher begleitet von einem Diskurs, in dem Gegner des Wende-Begriffs argumentieren, dass es »für eine sich auch als Aufklärung verstehende Historiografie gänzlich inakzeptabel« wäre, »dem Volk […] den Begriff einer Wende«27 anzudienen. Auch »politischer Umbruch« oder »Umsturz« gehören zu den wiederkehrenden Begriffen, mit denen die gesellschaftspolitische Transformationsphase bezeichnet wird. Auch werden Beschreibungen wie »Kollaps« oder »Implosion« durchaus auch im Zusammenhang mit den hier dargestellten Ereignissen verwendet. Die Nomenklatur zeichnet sich insbesondere durch die sich wiederholende Problematik aus, dass die üblichen Varianten als beschreibende Begriffe von der Öffentlichkeit zumeist ohne analytischen Anspruch aufgegriffen und eingesetzt werden. Es können in den nachfolgenden Ausführungen zwar nicht alle dieser üblichen Termini lückenlos diskutiert werden, dennoch sollen einige markante Begrifflichkeiten in den Blick genommen werden : In der Betrachtung der verschiedenen historischen Narrative stellt sich dabei die Frage : Sollte nicht doch von einer »Revolution« gesprochen werden ? Hierbei handelt es sich um keinen Quellenbegriff ; das heißt, der Begriff »Revolution« wurde im Herbst 1989 von Zeitgenossen nicht verwen24 Krenz, Egon : Rede auf der 9. Tagung des ZK der SED am 18. Oktober 1989, in : Neues Deutschland vom 19. Oktober 1989, S. 1. 25 Richter, Michael : Die Wende. Plädoyer für eine umgangssprachliche Benutzung des Begriffes, in : Deutschland Archiv 5/40 (2007), S. 861–868, hier S. 862. 26 Vgl. Jarausch, Konrad Hugo : Die unverhoffte Einheit : 1989–1990, Frankfurt am Main 1995, S. 114 f. 27 Eckert, Rainer : Gegen die Wende-Demagogie – für den Revolutionsbegriff, in : Deutschland Archiv 5/40 (2007), S. 1084–1086, hier S. 1085.
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det. Erst später sollte durch dessen Gebrauch der scharfen Zäsur Ausdruck verliehen werden.28 In der Fachgemeinschaft ist auch dieser Begriff umstritten. Der Schriftsteller Günther de Bruyn äußerte Vorbehalte gegenüber dem Revolutionsbegriff, da dieser »historisch beladen« sei und der »Verdacht der Heroisierung« naheliege.29 Betrachtet man die Ausführungen der Publizistin und Theoretikerin Hannah Arendt, stellt man fest, dass sie zu den Kriterien von Revolution zählt, dass deren Ziel die Freiheit und die Bildung eines neuen Gemeinwesens ist. In ihren Ausführungen erläutert Arendt, dass alle Revolutionen als Reformbestrebungen beginnen, geprägt sowohl vom Wunsch nach Befreiung als auch dem Willen, gewonnene Freiheit dauerhaft gesellschaftlich zu verankern.30 Gleichzeitig weist sie unter Ablehnung eines Geschichtsdeterminismus darauf hin, dass Revolutionen nicht nach einem vorgezeichneten Ablauf geschehen und dementsprechend nicht nach einem vorgezeichneten Plan verlaufen würden.31 Weiter gilt für Arendt Gewalt als ein entscheidendes Kriterium einer Revolution.32 Auch im Verständnis der Soziologie sind Revolutionen zumeist mit Gewalt verbunden : »Unter Revolutionen verstehen wir den erfolgreichen Umsturz einer herrschenden Elite […] durch eine neue Elite […], die nach der Machtübernahme, die üblicherweise den Gebrauch von Gewalt und die Mobilisierung von Massen [einschließt], die Sozialstruktur […] fundamental verändert.«33 Dies trifft für 1989 jedoch im Großen und Ganzen nicht zu. Der Publizist und Politikwissenschaftler Eckhard Jesse zweifelt sehr an einer berechtigten Verwendung des Begriffs »Revolution«, da seiner Ansicht nach eine revolutionäre Gruppe einem utopisch-visionären Anspruch folge, welcher seiner Ansicht nach dieser Bewegung fehlte.34 Auch der Soziologe und Philosoph Jürgen Habermas betont in seiner Terminuskritik mit dem seiner Meinung nach »fast vollständigen Mangel an innovativen, zukunftsweisenden Ideen«35 einen seines Erachtens eigentümlichen Zug dieser Revolution. 28 Vgl. Ther, Philipp : 1989 – eine verhandelte Revolution, htp ://docupedia.de/zg/1989 ?oldid=84583 (online am 3. Oktober 2012). 29 De Bruyn, Günther : Jubelschreie, Trauergesänge, in : Die Zeit online vom 7. September 1990, http:// www.zeit.de/1990/37/jubelschreie-trauergesaenge (online am 3. Oktober 2012), S. 1. 30 Vgl. Arendt, Hannah : Über die Revolution, 4. Aufl., München 2000, S. 10, S. 162 und S. 185. 31 Vgl. ebd., S. 250 f. und S. 328. 32 Vgl. ebd., S. 19. 33 Zimmermann, Ekkart : Krisen, Staatsstreiche und Revolutionen. Theorien, Daten und neuere Forschungsansätze (Studien zur Sozialwissenschaft 47), Opladen 1981, S. 12. 34 Vgl. Jesse, Eckhard : Der innenpolitische Weg zur deutschen Einheit. Zäsuren einer atemberaubenden Entwicklung, in : Jesse, Eckhard/Mitter, Armin (Hg.) : Die Gestaltung der deutschen Einheit. Geschichte – Politik – Gesellschaft (Schriftenreihe der Bundeszentrale für Politische Bildung 308), Bonn/ Berlin 1992, S. 111–141, hier S. 138. 35 Habermas, Jürgen : Die nachholende Revolution (Kleine Politische Schriften VII), Frankfurt am Main 1990, S. 181.
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Hierzu gegensätzlich spricht sich der Revolutionshistoriker Charles Tilly für eine Verwendung des Terminus aus ; auch wenn er zwar in einigen osteuropäischen Ländern die »revolutionäre Situation« beziehungsweise einen »revolutionären Prozess« vermisse,36 verzeichne er jedoch gleichzeitig einen eindeutigen Herrschaftswandel, welcher tief greifende soziale und ökonomische Veränderungen mit sich brachte. Damit sei mit den Ereignissen des Herbstes 1989 das Paradigma von Gewalt als konstitutionellem Element der Revolution aufgebrochen worden. Auch Martin Sabrow konstatiert, dass »nicht die Blutigkeit des Umsturzes […] den Begriff der Revolution aus[macht], sondern die Unumkehrbarkeit der von ihr bewirkten plötzlichen Veränderung«.37 Noch weiter geht die Interpretation des Schriftstellers und Essayisten Robert Menasse. Er bemerkte 1995 in einem Interview : »Die eigentliche Revolution 1989 in Europa hat […] in Österreich stattgefunden.«38 Im selben Gespräch äußerte er seine Gedanken weiter erklärend : »Das Komische, das niemand bemerkt und niemand diskutiert hat, ist, daß die Ereignisse 1989 auch Österreich erschüttert haben – und zwar nachhaltig positiv. Plötzlich kam in Österreich ein Bewußtsein davon auf, daß nicht alles, wie es ist, sein muß.«39
Der geradezu inflationäre Gebrauch des Begriffs der »Revolution« mag wohl suggerieren, dass dieser Terminus angemessener als andere sei, die Entwicklungen sprachlich zu fassen. Die Begriffsproblematik liegt jedoch nicht nur im Begriff für die Zäsur an sich, sondern ebenfalls in deren attributiven Zuschreibungen dieses Umbruchs, die aufgrund ihrer reduzierenden, gewichtenden oder gar mystifizierenden Funktionen nicht unproblematisch gesehen werden können. Einige populäre Beispiele hierzu führt der Historiker Karsten Timmer in seinen Ausführungen zur Begriffsproblematik an. In Bezug auf die Attribution der »Revolution« nennt er hier eine »›friedliche‹ (Helmut Kohl), ›freiheitliche‹ (Hans-Dietrich Genscher), ›missglückte‹ (Konrad Weiß), ›geklaute‹ oder ›protestantische‹ (Ehrhart Neubert), ›abgetriebene‹ (Michael Schneider), ›zivilgesellschaftliche‹ (Volker Gansow/Konrad Jarausch), ›nationaldemokratische‹ (Hartmut Zwahr), ›volkseigene‹ (Karl-Dieter Opp) [sowie eine] ›nachholende‹ (Jürgen Habermas)«40 Revolution.
36 Vgl. Tilly, Charles : Die europäischen Revolutionen (Europa bauen), München 1993, S. 336. 37 Sabrow, Martin : Der ostdeutsche Herbst 1989 – Wende oder Revolution ? Vortrag auf dem Festkolloquium »Herrschaftsverlust und Machtverfall« am 11. Oktober 2008 in Münster, S. 2 f. 38 Menasse, Robert : »Österreicher sind nicht unfähig«, Interview in : morgen 18/100 (1995), S. 24. 39 Ebd., S. 22 f. 40 Timmer, Karsten : Vom Aufbruch zum Umbruch. Die Bürgerbewegung in der DDR 1989 (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 142), Göttingen 2000, S. 15.
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Gleichsam als geschichtspolitisches Konstrukt hat sich in wissenschaftlichen, medialen und institutionellen Kreisen das Geschichtsnarrativ einer »friedlichen Revolution« etabliert. Der Autor Dirk Schröter erläutert, dass die »gern zitierte, weil wohlklingende Begriffsschöpfung der ›friedlichen Revolution‹ zu einem Gemeinplatz geworden [ist], auf dem sich die Einheitsbefürworter wortreich tummeln. Die zur friedlichen Revolution stilisierte und beschönigte Volkserhebung der Montagsdemonstrationen versinnbildliche nur noch, was ohnehin nicht mehr ernsthaft zu leugnen gewesen war […].«41
Zwar war der politische Umbruch von 1989 eine Revolution nach einem neuen Modell, welches jene, die genau 200 Jahre zurücklag, eben nicht zum Beispiel nahm. Dennoch verlief der Umbruch im Einzelnen nicht ganz so friedlich und reibungslos, wie es heute in manchen verklärenden Darstellungen suggeriert wird, denn entgegen mancher Darstellung waren die Auseinandersetzungen mit den Sicherheitskräften stellenweise durchaus beträchtlich. So setzte etwa die Staatspartei bis zur Demonstration der 70.000 in Leipzig am 9. Oktober 1989 durchaus Gewalt ein.42 Mancherorts kam es im Laufe der Kundgebungen zu eskalierenden Situationen wie den Ausschreitungen der Polizei in Dresden in der ersten Oktoberwoche, bei denen Demonstranten verprügelt und Massenverhaftungen vorgenommen wurden.43 Daher ist der Begriff der Gewaltlosigkeit im Zusammenhang mit diesem Umschwung zu hinterfragen. »Gewaltlosigkeit« impliziert eine Beschränkung auf friedliche Mittel, wie beispielsweise den einvernehmlichen Dialog zwischen Volk und Staatsführung, was so nicht gegeben war. Dennoch darf hier auch nicht von einer »gewaltvollen Revolution« gesprochen werden, denn gleichzeitig griffen die Akteure auch auf politische Mittel zurück, wodurch blutige Eskalationen während der Massendemonstrationen in Berlin und Leipzig verhindert wurden, die mit den traumatischen Ereignissen in Ungarn im Oktober und November 1956, in der DDR am 17. Juni 1953, der »Tschechienkrise« im August 1968 oder gar in China auf dem Tian’anmen-Platz am 4. Juni 1989 vergleichbar wären, wo sowjetische Panzer auf die Demonstranten schossen. So wurden zwar im Zuge der Proteste von 1989 politisch Oppositionelle festgenommen, jedoch wurden diese nicht massenhaft in Lager gebracht oder gar getötet. Daher kann man hier zwar nicht von einer »gewaltlosen« oder gar »friedlichen Revolution« sprechen, jedoch handelte es sich angesichts der verhältnismäßig geringen eingesetzten Gewalt ebenso wenig um eine »blutige Revolution«. 41 Schröter, Dirk : Deutschland einig Vaterland. Wende und Wiedervereinigung im Spiegel der zeitgenössischen deutschen Literatur, Leipzig/Berlin 2003, S. 13 f. 42 Vgl. Eckert, R. 2007, S. 1085. 43 Vgl. Schabowski, Günter : Der Absturz, Berlin 1991, S. 147 f.
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Der Bürgerrechtler und Theologe Ehrhart Neubert hat den Begriff einer »protestantischen Revolution« geprägt. Dies begründet er mit der maßgeblichen Rolle informeller und alternativer Gruppierungen als seiner Ansicht nach dominierende Träger der historischen Ereigniskette.44 Der Osteuropahistoriker Philipp Ther empfiehlt in seinen Ausführungen zu »1989« den Begriff der »verhandelten Revolution«, denn »letztlich beruhte der Machtwechsel auf beiderseitigem Willen zu Verhandlungen und deren Resultaten«45. Doch auch diese Bezeichnung suggeriert Abläufe des Systemwechsels, die so in diesem Maße nicht vorhanden waren. Zwar kamen den Verhandlungen an den verschiedenen nationalen »Runden Tischen«, beispielsweise in Polen oder Ungarn, eine durchaus nicht ungewichtige Bedeutung zu, jedoch ging es bei diesen Gesprächen weniger um die grundsätzliche Frage einer politischen Transformation als vielmehr um die Klärung konkreter Fragen der systemischen Transformation sowie um Vereinbarungen zu Detailaspekten der politischen Neugestaltung, zumal nicht in allen Bereichen, wie beispielsweise hinsichtlich des zukünftigen Wahlmodus und der Frage des Vermögens der staatlichen Partei, allgemein akzeptierte Regelungen vereinbart werden konnten. Aufgrund dieser beschränkten Rolle der Ausgleichsgespräche ist auch der Terminus einer »verhandelten Revolution« ein weniger anschauliches Konstrukt. Eine andere Interpretation bietet Ash, der für die deutsch-deutsche Politik jener Zeit beziehungsweise für die mittelosteuropäischen Staaten den Begriff der »Refolutionen« geprägt hat. Darunter sei eine Mischung aus Revolutionen von unten und Reformen von oben zu verstehen.46 In diesem Terminus spiegelt sich nicht nur ein semantischer Streit wider, sondern er zeigt auch einen Wettbewerb um »Deutungshoheit, Sinngebung und damit Wertung einer historischen Phase an, der in den folgenden Jahrzehnten alle rückblickenden und prospektiven Wende-Diskurse durchzieht und zuweilen dominiert«47. Die in breiten Gesellschaftskreisen zum Teil indifferente Verwendung der Begrifflichkeiten gründet in einer wenig tief greifenden fachlichen Reflexion beziehungsweise Diskussion sowie in einer unhinterfragten Übernahme populärer Begriffe von Medien und deren Vertretern. Auch ist hinter dieser Mehrbegrifflichkeit eine asymmetrische Wahrnehmung des Umbruchs von 1989 zu vermuten. Deren 44 Vgl. Neubert, Ehrhart : Eine protestantische Revolution, in : Deutschland Archiv 9/23 (1990), S. 704– 713. 45 Ther, P. 2010, S. 1. 46 Ash, Timothy Garton : Im Namen Europas. Deutschland und der geteilte Kontinent. München/Wien 1993, S. 503 f. 47 Schweiger, Irmy : Wendezeiten – Zeitenwende, in : Caspar-Hehne, Hiltraud/Schweiger, Irmy (Hg.) : Deutschland und die »Wende« in Literatur, Sprache und Medien. Interkulturelle und kulturkontras tive Perspektiven. Dokumentation eines Expertenseminars für Internationale Alumni der Georg-August-Universität Göttingen vom 8.–13. Juli 2007, Göttingen 2008, S. 17–28, hier S. 17 f.
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Ursprung ist in einer strukturellen Asymmetrie der gegenseitigen Beachtung wie auch Nichtbeachtung zwischen den beteiligten nationalen Akteuren zu suchen, welche sich auf sämtlichen Ebenen der wechselseitigen Perzeption, wie beispielsweise der Publizistik, der Politik, der Ökonomie oder auch der Historiografie, beobachten lässt. Die Grenzöffnung erscheint beispielsweise aus einer multiperspektivischen Erinnerung für Österreich als Ostöffnung, aus polnischem Blickwinkel handelt es sich vielmehr um eine Westöffnung, was sich wiederum auch in den Begrifflichkeiten niederschlägt.48 Die divergierenden Sichtweisen erschweren jedoch die Fokussierung auf »1989« als gesamteuropäisches Phänomen und damit auch die Kenntnisnahme der voneinander abweichenden Gegebenheiten. Fasst man die Diskussion zusammen, lässt sich nach Ansicht der Autorin feststellen, dass es keines der hier angeführten begrifflichen Konzepte hinreichend vermag, die Ereignisse vom Herbst 1989 so zu erfassen, dass sich dem Rezipienten Zugänge zur Erfassung und Interpretation kollektiver und individueller Handlungsmuster bieten und zugleich die Umstände und Auswirkungen der Protestwelle weder in einer stark verkürzten Sichtweise noch in einer begrifflichen Beliebigkeit dargestellt werden. Daher bedarf es in der fachlichen Darstellung einer objektiven, fundierten Auseinandersetzung des eigenen Begriffsverständnisses sowie einer Erläuterung der Auswahlmotivation der eingesetzten Termini.
III. Die Rolle des Historikers in der Untersuchung dieser Umbruchsphase Während die wissenschaftliche Untersuchung der Zäsur von 1989 und der Ereignisse der nachfolgenden Epoche anfänglich als Domäne der Sozialwissenschaften galt, wurde mit und in den zahlreichen Veranstaltungen zum 20-jährigen Jubiläum der Ereignisse jenes Jahres deutlich, dass 1989 und die anschließende Phase der »Transformationen« zunehmend auch Historiker zu Forschungen veranlassen.49 Dies bedeutet, die wichtigsten Charakteristika dieser Epoche herauszuarbeiten, ihr eine räumliche und zeitliche Grenze zu geben und relevante Forschungsfragen zu generieren. Zwar war der »Fall« der Berliner Mauer ein für Deutschland nationalhistorisches Ereignis, jedoch ist dieser eingebettet in die damit zusammenhängenden gesellschaftlichen und politischen Prozesse und ist damit nur transnational in einem gesamteuropäischen Rahmen zu verstehen. Um die sozialen Auswirkungen von 1989 historisch zu begreifen, ist die Zeitgeschichte in Zustimmung zu Philipp Ther 48 Zur Asymmetrie der österreichisch-ungarischen Wahrnehmung vgl. den Beitrag von Laszlo J. Kiss in diesem Band. 49 Vgl. hierzu den Text von Andrea Brait in diesem Band.
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gefordert, in interdisziplinärer Perspektive die Erkenntnisse der Sozialwissenschaft, insbesondere »der so genannten Transformationsforschung zu nutzen. Aber schon schließt sich die Frage an, ob als Sekundärliteratur oder als im zeitlichen Kontext stehende Quelle.«50 Da diejenigen, die nach 1989 geboren sind, weder den »Eisernen Vorhang« noch die konkrete Grenzsituation samt Stacheldraht und Kontrollen erlebt haben, tritt das Bedürfnis einer Aufarbeitung zutage, die jenen Nachgeborenen die heutige Situation offener europäischer Grenzen im Zusammenhang der historischen Ereignissen vermittelt.51 In den ersten Jahren nach 1989 trat in der Geschichtsschreibung ein Narrativ in den Vordergrund, das den Staatssozialismus delegitimierte.52 Ziel der historischen Aufarbeitung sollte es sein, dem vorangegangenen System die Legitimität zu entziehen und seinen Wertekanon wie auch dessen Elitekontinuität infrage zu stellen.53 In der geschichtspolitischen Auseinandersetzung mit der kommunistischen Vergangenheit Deutschlands zeichnete sich insbesondere die Bewertung des totalitären Charakters der DDR in Gegenüberstellung zum totalitären Charakter des nationalsozialistischen Deutschland ab. Zur geschichtspolitischen Debatte trugen erheblich ehemalige Bürgerrechtler, Vertreter der Opposition und der politischen Opfer bei und erreichten als Mitakteure der Geschichtsaufarbeitung erheblichen Einfluss. Die eher subjektive Perspektive der Betroffenen und sogenannten »Helden des Herbstes 1989«54 führte dazu, dass sich der Blick der deutschen Geschichtsschreibung »schnell auf eine Aufarbeitung der Repressions- und Herrschaftsgeschichte der SBZ/ DDR [verengte]«55. Mit dieser Problematik der Aufarbeitung der kommunistischen Vergangenheit und zum Teil politisch aufgeladenen Versuchen, diese zu historisieren, setzten sich zu Beginn des 21. Jahrhunderts einige Historiker auseinander, womit diese Thematik mittlerweile selbst zum Gegenstand der Zeitgeschichte geworden 50 Vgl. Ther, Philipp : Das »neue Europa« seit 1989. Überlegungen zu einer Geschichte der Transformationszeit, in : Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History, Online-Ausgabe 1/6 (2009), http://www.zeithistorische-forschungen.de/site/40208898/default.aspx (online am 17. September 2012). 51 Diese Frage beschäftigt insbesondere den Schulunterricht. Vgl. dazu u. a. den Beitrag von Christoph Kühberger in diesem Band. 52 Vgl. Gängel, Andreas : Die DDR-Justiz im Prozeß der »Wende«, in : Rottleuthner, Hubert (Hg.) : Steuerung der Justiz in der DDR. Einflussnahme der Politik auf Richter, Staatsanwälte und Rechtsanwälte, Bundesanzeiger, Köln 1994, S. 429–449, hier S. 429. 53 Vgl. Kinkel, Klaus : Begrüßungsansprache vor dem 15. Richtertag, in : Deutsche Richterzeitung 1/1992, S. 5. 54 Tietzel, Manfred/Weber, Marion/Bode, Otto F. : Die Logik der Sanften Revolution : Eine ökonomische Analyse, Tübingen 1991, S. 56. 55 Rudnick, Carola S. : Die andere Hälfte der Erinnerung. Die DDR in der deutschen Geschichtspolitik nach 1989, Bielefeld 2011, S. 735.
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ist.56 Im Hinblick auf diese Vorgeschichte bedarf der zukünftige Erinnerungsdiskurs vorbehaltlos einer sachlich-objektiven Darstellung und einer von wissenschaftlicher Objektivität geprägten Aufarbeitung der Umstände und Zusammenhänge, die sich nicht ausschließlich auf die bislang propagierte Totalitarismustheorie stützt. Seit dem Ende des Kalten Krieges liegt eine Aufgabe des Historikers darin, eine über Jahrzehnte ideologisch gefärbte Erinnerungskonkurrenz der beiden Machtblöcke zu überwinden. Eine vornehmliche Aufgabe des Historikers besteht weiter darin, das Erinnerungsnarrativ nicht von einer undifferenzierten, subjektiven Auslegung der Vergangenheit dominieren zu lassen, sondern in der historischen Interpretation inneren Abstand zu nehmen von zwar medienwirksamen, jedoch untauglichen NSAnalogien oder gar Geschichtsverzerrungen durch Faktenverdrehungen und Zahlenmanipulationen. Dabei sollte die erinnerungskulturelle Deutungshoheit nicht allein einer Interessensgruppe überlassen werden, sondern vielmehr von einer professionellen Forschungsgemeinschaft aufgrund objektiver Wissenschaftlichkeit und Nachprüfbarkeit generiert werden. Zu diesem verantwortlichen Umgang mit Erinnerungskultur stellt der Journalist und Publizist Axel Schmidt-Gödelitz die Frage in den Raum : »Ist [es] nicht ein wichtiger Grundsatz des Rechtsstaates, dass Opfer niemals Richter sein dürfen ? […] Eine ruhige, abwägende Diskussion ist kaum möglich – das Thema ist angstbesetzt, kaum jemand wagt sich, solche Fragen öffentlich aufzuwerfen.«57
IV. Fazit und Ausblick Das Jahr 1989 mit seinen Umbrüchen ging mit tief greifenden gesellschaftlichen, ökonomischen und sozialen Umstrukturierungen einher. Diese Zäsur ist jedoch weniger als finaler Punkt bisheriger Entwicklungen zu verstehen, sondern vielmehr als Beginn oder Mittelpunkt gesellschaftlicher Prozesse. Rund 25 Jahre nach Ende der Ost-West-Spaltung Europas ist der Wandel bis heute nicht vollständig in den Gesellschaften angekommen. Immer noch existieren Barrieren, das Bild »des Ostens« 56 Vgl. Beattie, Andrew H. : Playing Politics with History. The Bundestag Inquiries into East Germany (Studies in Contemporary European History 4), New York/Oxford 2008, S. 161–193 ; Vergau, Jutta : Aufarbeitung von Vergangenheit vor und nach 1989 : Eine Analyse des Umgangs mit den historischen Hypotheken totalitärer Diktaturen in Deutschland, Marburg 2000, S. 143–166 ; Mehlhorn, Ludwig : Das Jahr 1989 und das fortdauernde Problem der Delegitimierung des Kommunismus, in : Surynt, Izabela/Zybura, Marek (Hg.) : Die politische Wende 1989/90 im öffentlichen Diskurs Mittel- und Osteuropas, Wissenschaftlicher Verlag Dokumentation & Buch, Hamburg/Wroclaw 2007, S. 36–41. 57 Schmidt-Gödelitz, Axel : Der Rechtsstaat ist kein Rachestaat, Rückblick auf die Veranstaltung des OstWest-Forum am 8. Oktober 2011, http://www.ost-west-forum.de/oeffentliche-veranstaltungen/ostwest/419-rueckblick-der-rechtsstaat-ist-kein-rachestaat.html (online am 21. Juni 2013).
Der Umbruch von 1989
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ist in manchen Köpfen immer noch negativ behaftet. Europa ist nach wie vor eine Baustelle, auf der es viel zu tun gibt. Der österreichische Diplomat und Historiker Emil Brix unterstreicht diese Notwendigkeit : »Ich glaube, in der Bevölkerung ist das viel stärker angekommen als bei manchen Eliten. Wenn ich mir vorstelle, welche Angst lokale Politiker haben, neue Grenzübergänge […] aufzumachen, welche Angst, grenzüberschreitende Probleme des Umweltschutzes zu diskutieren […] ! Da denke ich mir, dass die Menschen dort schon weiter sind, als die Politik ihnen zutraut. Hier würde ich mir weit mehr Mut – im Sinne von Überzeugungsarbeit […] – von der Politik wünschen.«58
Brix äußert weiter die Ansicht, dass die Regierungsparteien »zu wenig stark darauf hinweisen, was hier alles mit gelebter Nachbarschaft zu gewinnen wäre«59. Es gibt keine Garantie für ein reibungsloses Miteinander, aber wenn jemand vor dreißig Jahren das freie, friedliche und zunehmend geeinte Europa vorausgesagt hätte, wäre dies wahrscheinlich als optimistische Fantasterei belächelt worden.60 Nach wie vor bedarf es der Anstrengungen im Osten wie im Westen, sich dem Nachbarn zu öffnen. Daher ist es für die Länder des Westens wichtig, sich auf formeller wie auf informeller Ebene mit den östlichen Nachbarn auseinanderzusetzen. Denn nur indem Berührungsängste zwischen den Nationen abgebaut werden, kann eine effektive plurale und multiperspektivische Aufarbeitung stattfinden, welche das politische Bekenntnis zu den Werten eines freiheitlichen Europas mit der historischen Erkenntnis um die Bedeutung der Überwindung diktatorischer Gegenmodelle verbindet. Der Geschichtswissenschaft kommt dabei die grundlegende Aufgabe zu, der Gesellschaft methodisch gesicherte, von generationellen Erfahrungshorizonten weitestgehend unabhängige Theorien und Fakten darzubieten. Die Arbeit des Historikers wird damit zudem »zum Bezugspunkt moralischer Selbstbefragung und in dieser Verschränkung von objektiven und subjektiven Momenten zu einer prekären Herausforderung für eine neue gesellschaftliche Identitätsfindung«61. Dem Zeithis58 Die »Samtene Revolution« 1989 und ihre Folgen. Akteure, Zeitzeugen und Historiker diskutieren, in : Laussegger, Armin (Hg.)/Linke, Reinhard/Perzi, Niklas : Österreich. Tschechien. Unser 20. Jahrhundert. Begleitband zum wissenschaftlichen Rahmenprogramm der Niederösterreichischen Landesausstellung 2009 »Österreich. Tschechien. Geteilt – getrennt – vereint« (Schriftenreihe der WaldviertelAkademie 5), Wien 2009, S. 173–184, hier S. 182. 59 Ebd. 60 Vgl. Kocka, Jürgen : Arbeiten an der Geschichte. Gesellschaftlicher Wandel im 19. und 20. Jahrhundert (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 200), Göttingen 2012, S. 302 f. 61 Rüdiger, Thomas : Aufklärung statt Abrechnung : Anmerkungen zum Umgang mit der DDR-Geschichte, in : Weidenfeld, Werner (Hg.) : Deutschland. Eine Nation – doppelte Geschichte (Arbeitsergebnisse der Studiengruppe Deutschlandforschung 5), Köln 1993, S. 263–276, hier S. 263.
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toriker kommt dabei gleichzeitig die Doppelrolle eines subjektiven Teilnehmers und objektiven Beobachters zu, welche unabdingbar einer persistenten theoretischen Selbstreflexion bedarf. Durch die Entwicklung und Belebung von Diskursen zu Aspekten der Vergangenheit wirkt die historische Profession prägend auf das kulturelle Selbstverständnis und soziale Strukturen der Gesellschaft. Mit den daraus resultierenden Perspektiven auf Verlauf und Relevanz vergangener Ereignisse offeriert sie gleichzeitig Anregungen zur Bewältigung der Gegenwart,62 was nicht zuletzt ihren gesellschaftlichen Auftrag mitbegründet. Damit übernimmt die Gemeinschaft der historischen Wissenschaftler eine Funktion für die Öffentlichkeit und in der Öffentlichkeit, welche sich keineswegs nur speziell auf einen fachinternen Interessentenkreis beschränkt, sondern die allgemeine Öffentlichkeit erreicht. Nach wie vor bedürfen vielschichtige Dynamiken und synchrone Handlungsstränge einer historisch-wissenschaftlichen Untersuchung.63 Mit der Epoche der Transformation beziehungsweise den Folgen der Zäsur von 1989 werden auch Fragen zum Wandel der jeweiligen gesellschaftlichen Erinnerungsdiskurse zum Gegenstand der Geschichtswissenschaft. Insbesondere in einer komparatistischen, länderübergreifenden Perspektive, aber auch bei der Betrachtung von Verbindungen zwischen einzelnen nationalstaatlichen Entwicklungen besteht weiterhin Forschungsbedarf. Um eine differenzierende Vergangenheitskritik zu gewährleisten, ist es nach Ansicht der Verfasserin notwendig, den historischen Diskurs zu entsubjektivieren und zu entpolitisieren. Mittels eines differenzierten Blicks auf reflexartige Haltungen, einseitige Lesarten und dominierende Deutungsmuster ist es Aufgabe der Geschichtswissenschaft, die Aufarbeitung der Ereignisse des Herbstes 1989 zu versachlichen wie auch historisch-wissenschaftlich zu professionalisieren und in dieser Weise die komplexen Vorgänge historisch zu erklären und zu erinnern.
62 Vgl. Kühberger, Christoph : Ethik in der Geschichtswissenschaft, Wien 2008, S. 21 f. 63 Vgl. Rudnick, Carola S. : Diktaturenvergleiche im Geschichtslernen – Fragestellungen und Problematiken, in : Lernen aus der Geschichte, Lehren & Lernen, Art. vom 9. November 2011, http://lernenaus-der-geschichte.de/Lernen-und-Lehren/content/9939 (online am 4. Mai 2013).
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1989 und die österreichische Identität der nationalen Minderheiten Bei der Zäsur des Jahres 1989 stehen nicht die Ereignisse in Berlin am Anfang, der erste Spalt im »Eisernen Vorhang« wurde aus westlicher Sicht im österreichischen Burgenland, genauer : an der ungarisch-österreichischen Grenze geöffnet. Direkt an dieser Grenze leben Österreicher, die in besonderem Maße von den Entwicklungen von 1989 betroffen waren, da durch die Grenzöffnungen die existenzielle Frage entstand, wo ihre Heimat sein sollte und könnte. Es handelt sich hierbei um die beiden sogenannten Volksgruppen der österreichischen Ungarn und Kroaten. Die Grenzöffnungen und die späteren Beitritte der ehemals kommunistischen Nachbarländer zur Europäischen Union, was 2013 auch für Kroatien vollzogen wurde,1 haben den zwei bereits erwähnten und den anderen nationalen Minderheiten Österreichs ganz neue Möglichkeiten eröffnet, haben aber auch die Frage nach ihrer Identität aufgeworfen : Ist man in erster Linie Österreicher, der zufällig nicht Deutsch als Muttersprache2 hat, oder beispielsweise Ungar, der nur durch die Zufälle der Nachkriegsordnungen in Österreich und nicht im Nationalstaat der Magyaren gelandet ist, und sollte man nach der Öffnung der Grenzen Teil der österreichischen Gesellschaft bleiben oder die neue Möglichkeit wahrnehmen und Teil einer Nationalgesellschaft gemäß der eigenen Muttersprache werden ? Hier soll die sich durch die Ereignisse von 1989 sowie deren Folgeerscheinungen verändernde Situation von fünf der sechs sehr unterschiedlichen Volkgruppen 1 Vgl. dazu den Beitrag von Oliver Schwarz in diesem Band. 2 Der Begriff der »Muttersprache« wird genau wie »Erstsprache« oder »Familiensprache« und »Umgangssprache« in den verschiedenen sozialwissenschaftlichen Fächern unterschiedlich verstanden, alle Termini teilen das gleiche Schicksal, sie können mit einem Wort nicht die Vielfalt adäquat wiedergeben. Die Begriffs-Diskussion ist auch nach über einem Jahrhundert noch nicht zur Ruhe gekommen, die Benennung eines Gedenktages für den Schutz gefährdeter Sprachen durch die UNESCO als »International Mother Language Day« sollte nicht darüber hinwegtäuschen, dass für verschiedene regionale oder soziale Gegebenheiten auch unterschiedliche Begriffe in Betracht gezogen werden sollten. Hier wird Muttersprache als die von den ersten Bezugspersonen eines Kindes vermittelte Sprache betrachtet, welche bei nationalen Minderheitenangehörigen die Erstsprache sein kann, aber oft nicht ist, weil sie sich zumeist ab Krippe oder Kindergarten in der Gesellschaft der Mehrheitssprache bewegen. Hödl, Günther für die Österreichische Rektorenkonferenz (Hg.) : Bericht der Arbeitsgruppe »Lage und Perspektiven der Volksgruppen in Österreich«, Wien 1989, S. 88–96, behandelt die Problematik der Verdrängung der »Herkunftssprache« durch das Deutsch der Mehrheitsbevölkerung, benutzt aber an anderer Stelle den Terminus »Muttersprache«, beispielsweise S. 18.
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Österreichs angesprochen werden, wobei fußend auf mehreren Zeitzeugengesprächen3 und dem Vergleich der Literatur vor und nach 1989 gefragt wird, in welchen Bereichen in den letzten rund 25 Jahren Änderungen zustande gekommen sind und ob sie auf 1989 zurückgeführt werden können. Für die Beurteilung der Lage von Minderheiten kann man generell sogenannte harte Kriterien, wie die zur Verfügung stehenden potenziellen Rechte, berücksichtigen, genauso zentral aber sind die nur schwer greifbaren und erforschbaren Gefühle und Eindrücke.4
I. Definitionen Die Existenz verschiedenster sozialer Arten von Minderheiten innerhalb einer Gesellschaft und in sehr diversen regionalen Ausprägungen erschwert den Versuch, den Begriff zu beschreiben. In diesem Artikel geht es um eine spezifisch österreichische Variante von Minderheiten, nämlich die zumeist ethnisch-linguistisch-historisch definierten »Volksgruppen«, die man auch als »nationale Minderheiten« bezeichnen kann. Vom Wort her bezeichnet »Minderheit« einfach eine kleinere Gruppe als die Mehrheit der Bevölkerung (eines Staates), wobei oft Diskriminierung als wichtiges Merkmal gesehen wird. Da keine allgemein gültige und akzeptierte Definition existiert, bedient man sich zumeist lieber eines Kataloges an Merkmalen, bei dem aber nicht alle für jede Minderheit zutreffend sein müssen. Definitionsversuche anhand fester Kriterien können dazu führen, dass aufgrund fehlender Merkmale einer Definition einer sich als Minderheit sehenden Gruppe die Anerkennung als Minderheit verweigert werden kann. Fast jeder Mensch gehört auf die eine oder andere Weise solch einer sozialen Minderheit an. Dabei werden zumeist alle Mitglieder der verschiedenen Gruppen in irgendeiner Form eine von der Mehrheit unterschiedliche Behandlung oder Situation erfahren, was Benachteiligung, aber ebenso Vorzüge mit sich bringen kann, wobei wichtig ist, festzustellen, dass dabei nicht immer eine Diskriminierungsabsicht besteht, sondern oft eher ein Nichtverstehen oder gar Nichtwahrnehmen der Andersartigkeit und der dadurch bedingten Probleme mit den von der Mehrheit in welcher Form auch immer vorgegebenen Normen des gesellschaftlichen Lebens. Die 3 Durch qualitative Interviews können vor allem Eindrücke gewonnen werden, nur quantitative, im Rahmen des Projektes nicht mögliche Erhebungen könnten hier verlässliche Zahlen liefern. 4 Gedanken zu einer Methodik zur Erforschung von Gefühlen sind in den letzten Jahren vielfältig publiziert worden, hier sei nur beispielsweise verwiesen auf Plamper, Jan : Geschichte und Gefühl. Grundlagen der Emotionsgeschichte, München 2012.
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Zugehörigkeit zu sozialen Minderheiten ist teilweise nicht selbst gewählt und auch nicht änderbar, während man Mitglied einer nationalen Minderheit meist durch Geburt, manchmal auch durch freie Wahl werden und diese auch wieder verlassen kann. Viele solcher Minderheiten bilden ihre eigenen Subkulturen heraus, die inzwischen in Gesellschaften westlich-pluralistischer Prägung häufig als Bereicherung angesehen werden, da sie die mittlerweile nicht mehr favorisierte Homogenisierung einer Gesellschaft als Nation durch Heterogenität ersetzen,5 womit auch eine als Aufgabe der Eigenheit verstandene Assimilation nicht mehr notwendig erscheint. Viele der unbeabsichtigten Nachteile für Minderheiten werden seit Jahrzehnten durch die sich immer weiter diversifizierenden Gesellschaften westlichen Musters entdeckt und versucht auszugleichen, das ist aber immer noch oft nicht der Fall für die sogenannten nationalen Minderheiten, die vielerorts nicht durch nicht wahrgenommene Probleme Diskriminierung erfahren, sondern als anders wahrgenommen und gezielt diskriminiert werden.6 Eine Art Grundstock für Definitionen nicht sozialer, sondern nationaler Minderheiten gibt die United Nations Organization (UNO), indem sie postuliert, dass diese Minderheiten sich auszeichnen durch • • • •
numerische Unterlegenheit in Bezug auf Gesamtbevölkerung, nicht dominante Stellung im Staat, Selbstwahrnehmung als Gruppe/Minderheit, Pflege gemeinsamer ethnischer, religiöser, sprachlicher (oder kultureller und historischer) Gemeinsamkeiten, • (Staatsangehörigkeit im Aufenthaltsstaat).7 Während für die UNO der Verweis auf Ethnie, Religion und Sprache anscheinend ausreicht, um den nationalen Minderheiten Inhalt zu geben, sind für den Historiker
5 Dieses Verständnis ist bereits in den Lehrbüchern angekommen, so beispielsweise in Elwert, Georg : Ethnizität und Nation, in : Joas, Hans (Hg.) : Lehrbuch der Soziologie, 3. Aufl., Frankfurt am Main/ New York 2007, S. 267–287, hier S. 272 sowie S. 286 ; siehe dazu auch das UNESCO-Übereinkommen über den Schutz und die Förderung der Vielfalt kultureller Ausdrucksformen von 2005, http://www. unesco.de/konvention_kulturelle_vielfalt.html (online am 11. Oktober 2013). 6 Die am häufigsten diskriminierte Minderheit in Europa dürften momentan die Roma sein, vgl. Koch, Ute : Soziale Konstruktion und Diskriminierung von Sinti und Roma, in : Hormel, Ulrike/Scherr, Albert (Hg.) : Diskriminierung. Grundlagen und Forschungsergebnisse, Wiesbaden 2010, S. 255–278. 7 Es existiert keine allgemein akzeptierte UN-Definition, meist folgt man dem Capotorti-Beschreibungsversuch von 1979, der also für die Ausarbeitung des Volksgruppengesetzes noch nicht zur Verfügung stand, siehe http://www.ohchr.org/EN/Issues/Minorities/Pages/internationallaw.aspx (online am 20. April 2013), genauere Auskunft im auf dieser Seite verlinkten PDF »Minority Rights : International Standards and Guidance for Implementation« (HR/PUB/10/3).
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noch Geschichte und Kultur als nationsdefinierende Merkmale mit aufgenommen. Wichtig ist hier besonders der Aspekt der möglichen freiwilligen Zugehörigkeit, was man als Bekenntnis werten kann, was aber nicht bei jedem Mitglied einer nationalen Minderheit der Fall sein muss, da auch anscheinend unverrückbare Kriterien wie die Geburt und die Muttersprache feste Merkmale sein können, die nicht in Zweifel gezogen werden. Einem Menschen ist es aber fast immer möglich, eine nationale Minderheit zu verlassen und sich einer Mehrheit offiziell anzuschließen, was wiederum zu Assimilationsdruck führen kann. Der Begriff der »Volksgruppen« bezeichnet in Österreich solche »nationalen Minderheiten«, die nicht erst im späten 20. oder 21. Jahrhundert nach Österreich gekommen sind, sondern schon viele Generationen in Österreich wohnen ; der Begriff »Minderheiten« dagegen soll die Arbeitsmigranten, Flüchtlinge und andere erst vor weniger als drei Generationen gekommene und daher nur als »Gäste« empfundene Menschen benennen.8 Dabei sind die Angehörigen der »Volksgruppen« österreichische Staatsbürger mit doppelter Nationalität, aber einfacher Staatsbürgerschaft. In Österreich unterscheidet man weiterhin zwischen Autochthonen und Allochthonen ;9 beides soll Gruppen bezeichnen, die schon längere Zeit in Österreich leben, wobei hier die ersten Schwierigkeiten auftauchen, gerade auch durch 1989 bedingt. Slowenen als Gruppe leben wahrscheinlich länger als deutschsprachige Österreicher im Bereich der Bundesländer Kärnten und Steiermark. Daraus ergibt sich die Frage der Definition, ob ein nach Öffnung der Grenzen zum Beispiel zu Verwandten in Österreich zugezogener Slowene nun zu dieser Volksgruppe gehört, deren Teilung erst im Gefolge des Ersten Weltkriegs geschah, oder eher zu einer schon längere Zeit existierenden neuen Minderheit, den Gastarbeiterslowenen als Untergruppe der ehemaligen Gastarbeiterjugoslawen ? Einerseits hat diese Person eine Grenze überquert, was im Zeitalter der Nationalstaaten normalerweise heißt, dass sie sich von einer Nation in eine andere begeben hat, andererseits ist diese Person im Gebiet der gleichen »Volksgruppe« geblieben, im slowenischen Raum, und nur durch Ereignisse der neuesten Geschichte in zwei Staaten gelandet. Auf der Internetseite des österreichischen Bundeskanzleramtes findet sich das einschlägige Zitat aus dem Volksgruppengesetz, welches laut § 1, Absatz 2 besagt, dass »die in Teilen des Bundesgebietes wohnhaften und beheimateten Gruppen österrei8 Vgl. Toggenburg, Gabriel N./Rautz, Günther : ABC des Minderheitenschutzes in Europa, Wien/Köln/ Weimar 2010, S. 261. 9 Für Gruppen und Individuen ist es schwer, hier genaue Zeitgrenzen und Kriterien festzulegen. Zur Problematik der Ethnogenese und Ethnisierung von Individuen und Kollektiven gibt es seit einigen Jahren Diskussionsbedarf, siehe beispielsweise Salzborn, Samuel : The Concept of Ethnic Minorities. International Law and German-Austrian Response, in : Behemoth. A Journal on Civilisation 2/3 (2009), S. 63–79, http://www.behemoth-journal.de/archive/volume–2-no3/ (online am 12. Oktober 2013).
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chischer Staatsbürger mit nichtdeutscher Muttersprache und eigenem Volkstum« als Volksgruppen zu verstehen seien.10 Neben der Sprache wird hier also das nicht weiter definierte Volkstum in den Mittelpunkt der Volksgruppenzugehörigkeit gestellt. Eindeutig wird hier ein Unterschied von Volksgruppen und anderen Minderheiten herausgestellt, auch ist die Anzahl der Volksgruppen nicht durch das Vorhandensein zweier bekannter Merkmale – hier die seit den 1980er-Jahren als fragwürdiges Merkmal angesehene Staatsangehörigkeit und die Volkstum genannte Pflege ethnischer, religiöser, sprachlicher, kultureller oder historischer Gemeinsamkeiten – begrenzt, sondern durch die Anerkennung dieser Merkmale als Volksgruppe durch den Staat. Solch eine restriktive Handhabung von staatlicher Seite findet sich in vielen Ländern, was auch für Österreich heißt, dass nicht das Selbstverständnis als nationale Minderheit, sondern die Anerkennung als solche durch den in den Politikern repräsentierten Willen der Mehrheit eines Staates zentral ist.
II. Die rechtliche Lage der Volksgruppen und Minderheiten in Österreich 11 Ein Konglomerat von Rechtsquellen aus den historischen Etappen Österreichs konstituiert die rechtliche Lage der Volksgruppen, da sich die österreichische Verfassung selbst – der britischen ähnlich – aus verschiedenen Dokumenten zusammensetzt.12 Im Vielvölkerstaat der Habsburgermonarchie bestanden große Unterschiede in der Behandlung der einzelnen ethnisch-historischen Gruppen. Dies beruhte ab 1867 auf dem Versuch der Negierung und Nivellierung der Unterschiede im Reich der Stephanskrone und dem Verständnis der Notwendigkeit von 10 Vgl. http://www.bka.gv.at/site/3515/default.aspx (online am 14. November 2012). 11 Dieses Thema wurde in Österreich besonders von Theodor Veiter – bei all seiner politisch-ideologischen Problematik doch ein wichtiger Nationalitäten- und Völkerrechtler (so beispielsweise Veiter, Theodor : Nationalitätenkonflikt und Volksgruppenrecht im 20. Jahrhundert, München 1977) – und Felix Ermacora (z. B. Ermacora, Felix : Zum Recht auf Schutz der Minderheiten, in : Henke, Reinhold (Hg.) : Leben lassen ist nicht genug. Minderheiten in Österreich, Wien 1988, S. 205–220) behandelt sowie in der Zeitschrift Europa Ethnica, stellvertretend hier besonders Kolonovits, Dieter : Die rechtliche Situation der kroatischen und der slowenischen Volksgruppe in Österreich, in : Europa Ethnica 3–4/53 (1996), S. 99–116, und Okresek, Wolf : Die rechtliche Stellung der Volksgruppen in Österreich, in : Europa Ethnica 3–4/54 (1997), S. 98–102. 12 Okresek, W. 1997, S. 98, und Hödl, G. 1989, S. 152 f., beschreiben dieses Konglomerat als drei Schichten (1867, 1919 und 1955), was die historische Genese von Habsburg über die Erste zur Zweiten Republik ins Zentrum stellt, die Unterschiede zwischen innerstaatlichem Staatsgrundgesetz 1867 und den völkerrechtlichen Verträgen von 1919 (Staatsvertrag von St. Germain-en-Laye, StGBl. 320/1920) und 1955 (Staatsvertrag von Wien, BGBl. 152/1955) sowie die vielfältigen Änderungen in den 1920erund 1930er-Jahren eher aus dem Blickfeld rückt.
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nationalen Arrangements in der österreichischen Reichshälfte, was aber nur selten wirklich gelang.13 Das neue Land aus den vornehmlich deutschsprachigen Resten der Doppelmonarchie, welches die Alliierten in den Pariser Vorortverträgen als Staat deklariert hatten, musste wie die anderen neuen Staaten mit vielen Kompromissen leben. Im Staatsvertrag von St. Germain wurde 1919 durch die Alliierten in den Artikeln 62–69 festgeschrieben, wie die neue Republik Österreich mit seinen nach Lage der Dinge in Mitteleuropa nahezu unvermeidbaren Minderheiten umzugehen hatte, was vor allem die Gleichberechtigung der Minderheiten mit der Mehrheitsbevölkerung besonders für die Bereiche Sprache und Erziehung umfasste.14 Der wiederum mithilfe der Siegermächte des Zweiten Weltkriegs 1955 zustande gekommene Staatsvertrag von Wien beruhte einerseits auf den immer noch gültigen Regelungen von 1867 und 1919,15 enthielt aber mit dem Artikel 7 eine neue Regelung zur österreichischen Minderheitenfrage (hier wurde noch der Terminus »Minderheit« gebraucht), die in Österreich zu diesem Zeitpunkt in dieser Form wohl eher nicht gewollt worden war.16 Der Druck Jugoslawiens mit seinem Interesse an den österreichischen Slowenen und Kroaten war in diesen Jahren des beginnenden Kalten Krieges sehr ausgeprägt ; die Forderungen nach Abtretung »Slowenisch-Kärntens« sowie nach einem Bevölkerungsaustausch für die Burgenland-Kroaten, was beides von alliierter Seite abgelehnt wurde, wurden zwar fallen gelassen, aber die Rolle einer intervenierenden Schutzmacht gab Jugoslawien bis zum Staatsvertrag von 1955 nicht auf.17 Dort wurde dementsprechend nur den beiden erwähnten Minderheiten der Slowenen und Kroaten territorialgebunden das Recht auf eigenständige Organisation und Elementarunterricht in der eigenen Sprache eingeräumt, die anderen noch nach dem Ersten Weltkrieg inkludierten Minderheiten fehlten in diesen Regelungen.18 13 Vgl. Baumgartner, G. 1995, S. 15 f. 14 Vgl. Staatsvertrag von St.-Germain-en-Laye vom 10. September 1919 (StGBl. Nr. 303/1920) sowie Matscher, Franz : Die Minderheitenregelungen im Staatsvertrag, in : Suppan, Arnold/Stourzh, Gerald/ Mueller, Wolfgang (Hg.) : Der österreichische Staatsvertrag 1955. Internationale Strategie, rechtliche Relevanz, nationale Identität, Wien 2005, S. 783–819, hier S. 784 f. 15 Vgl. Kolonovits, D. 1996, S. 100–103. 16 Siehe hierzu die einschlägigen Werke von Stourzh, Gerald : Um Einheit und Freiheit. Staatsvertrag, Neutralität und das Ende der Ost-West-Besetzung Österreichs 1945–1955, 5. Aufl., Wien/Köln/Graz 2005, und Suppan, Arnold/Stourzh, Gerald/Mueller, Wolfgang (Hg.) : Der österreichische Staatsvertrag 1955. Internationale Strategie, rechtliche Relevanz, nationale Identität, Wien 2005. 17 Vgl. Matscher, F. 2005, S. 815 ; Baumgartner, Gerhard/Perchinig, Bernhard : Minderheitenpolitik, in : Dachs, Herbert/Gerlich, Peter/Gottweis, Herbert/Kramer, Helmut/Lauber, Volkmar/Müller, Wolfgang C./Tálos, Emmerich (Hg.) : Politik in Österreich, Wien 2006, S. 686–700, hier S. 688–690. Dieses Engagement Jugoslawiens mag in Österreich mit Blick auf seine Rolle als Schutzmacht für Südtirol sogar nachvollziehbar sein. 18 Matscher, F. 2005, S. 786–791.
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Die Bestimmungen des Staatsvertrages von 1955 aber waren zu ungenau und es fehlten auch zeitliche Vorgaben, was es Österreichs Politikern ermöglichte, diesen Artikel erst relativ spät, in den 1970er-Jahren, mit mehr Inhalt zu füllen. Auch waren nur die für Jugoslawien interessanten Minderheiten erfasst, die Slowaken, Tschechen und Ungarn sowie die noch nicht als Volksgruppe gesehenen Roma blieben außen vor, von kleineren Gruppen wie den Polen ganz zu schweigen, die sich heute um Anerkennung als Volksgruppe bemühen. Die Initiative von Bundeskanzler Bruno Kreisky in den 1970er-Jahren führte zwar zum Volksgruppengesetz von 197619, die Umsetzung scheiterte aber am Widerstand vor Ort, besonders in Kärnten, wobei dort beide Seiten, die deutschsprachigen und die slowenischsprachigen Österreicher, unzufrieden waren.20 Auch die Novelle dieses Gesetzes von 201121 stößt nicht auf ungeteilte Anerkennung. Derzeit sind dank dieses Prozesses sechs Minderheiten von diesem Gesetz erfasst, wobei die Roma bei der Fragestellung der Veränderung der Lage der Volksgruppen durch die Ereignisse von 1989 nicht mit den anderen Gruppen vergleichbar erscheinen, da sie einerseits vor 1989 nicht zu den Volksgruppen gezählt wurden, aber vor allem, weil sie nicht einen nach 1989 zugänglichen Nachbarstaat als Quasi-Mutternation (kin-state) ihr Eigen nennen können. Deswegen werden sie hier nicht weiter behandelt, auch wenn die auf ihre Anerkennung folgenden Bombenanschläge eventuell durch die von der Grenzöffnung erzeugten Ängste hervorgerufen wurden.22 Neben den österreichischen Gesetzen existiert eine Reihe europäischer Abkommen, wie beispielsweise das »Rahmenübereinkommen zum Schutz nationaler Minderheiten« (RÜK) des Europarates, welches 1995 verabschiedet wurde, den Staaten aber viel Interpretationsfreiheit lässt. Es muss konstatiert werden, dass anscheinend in seiner Auslegung zwischen Volksgruppen und österreichischer Politik eklatante Unterschiede vorherrschen. In dem 2. »Bericht zur Durchführung des europäischen Rahmenübereinkommens zum Schutz nationaler Minderheiten in Österreich des Volksgruppenzentrums« aus dem Jahr 2007 findet sich folgernder Passus :
19 Vgl. Bundesgesetz vom 7. Juli 1976 über die Rechtsstellung von Volksgruppen in Österreich (Volksgruppengesetz) (BGBl. 396/1976). 20 Zur frühen Interpretation des Ortstafelstreits siehe zum Beispiel den Sammelband der Arbeitsgemeinschaft Volksgruppenfrage (Hg.) : Kein einig Volk von Brüdern. Studien zum Mehrheiten-/Minderheitenproblem am Beispiel Kärntens, Wien 1982. 21 Vgl. Bundesgesetz, mit welchem das Volksgruppengesetz geändert wird (BGBl. 46/2011). 22 Baumgartner und Perchinig sehen die Bombenanschläge eher als Zeichen für »eine tiefgehende Gefährdung des antifaschistischen Grundkonsenses« denn als Zeichen individuell hervorbrechender Ängste. Vgl. dazu Baumgartner, Gerhard/Perchinig, Bernhard : Vom Staatsvertrag zum Bombenterror. Minderheitenpolitik in Österreich seit 1945, in : Sieder, Reinhard/Steinert, Heinz/Tálos, Emmerich (Hg.) : Österreich 1945–1995, Wien 1995, S. 511–524, hier S. 524.
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»Das Österreichische Volksgruppenzentrum als Dachorganisation von Vertretungsorganisationen aller autochthonen Volksgruppen in Österreich übermittelt dem Generalsekretär des Europarates diesen NGO-Bericht zur Durchführung des RÜK in Österreich parallel zum 2. österreichischen Staatenbericht auch deshalb, weil die österreichische Bundesregierung – entgegen den Ausführungen im Staatenbericht – regierungsunabhängige Vertretungsorganisationen der österreichischen Volksgruppen in die Berichtserstellung nicht eingebunden hat. Die zuständige Abteilung des Bundeskanzleramtes hat einzig und allein den von der Regierung bestellten sogenannten Volksgruppenbeiräten einen Entwurf des Staatenberichtes rund um den 20. Dezember 2005 vorgelegt und Stellungnahmen hierzu bis 13. Jänner 2006 eingefordert. Eine ernsthafte Befassung mit der umfangreichen Materie war also kaum möglich. Der zuständigen Beamtenschaft Willkür vorzuhalten[,] bewusst die Weihnachts- und Neujahrsfeiertage ausgesucht zu haben[,] ist eventuell unangebracht, obwohl dies nicht [a]uszuschließen ist, da der Staatenbericht fast noch ein ganzes Jahr im zuständigen Ressort verblieb und erst im Dezember 2006 dem Europarat übermittelt wurde. Jedenfalls ist der Staatenbericht tendenziös und unobjektiv gestaltet.«23
Der 2. Staatenbericht selbst sieht keinerlei Probleme und bekennt sich deutlich zum Dialog mit den Volksgruppen.24 In den im Anhang des 2. Staatenberichts befindlichen Stellungnahmen der Volksgruppenbeiräte ab Seite 185 finden sich Hinweise auf ein Hauptproblem der Umsetzung. Während der Bundeskanzler als Person an wenigstens einer Stelle für seine Bemühungen gelobt wird,25 wird die fehlende oder sogar verweigerte Umsetzung von Stellungnahmen des Verfassungsgerichtshofes herausgestellt, wofür besonders die nachgeordneten Behörden und das Land Kärnten verantwortlich gemacht werden.26 Der im Jahr 2010 erstellt 3. Bericht der Republik Österreich enthält wiederum Stellungnahmen einiger Volksgruppen. Der Ton ist insgesamt nicht mehr so scharf, es werden teilweise Fortschritte gewürdigt, die Nichtumsetzung als Grundproblem aber scheint weiter zu bestehen.27
23 Österreichisches Volksgruppenzentrum : 2. Bericht zur Durchführung des europäischen Rahmenübereinkommens zum Schutz nationaler Minderheiten in Österreich, http://www.minelres.lv/reports/ austria/NGOBerichtII2007deutsch.pdf (online am 11. Oktober 2013), S. 3. 24 Bundeskanzleramt (Hg.) : 2. Bericht Österreichs gemäß Artikel 25 Abs. 2 des Rahmenübereinkommens zum Schutz nationaler Minderheiten, Wien 2006, http://www.bka.gv.at/DocView.axd ?CobId=21385 (online am 11. Oktober 2013), S. 6. 25 Vgl. ebd., S. 186. 26 Vgl. ebd., S. 186 sowie S. 189–190. 27 Vgl. Bundeskanzleramt (Hg.) : 3. Bericht der Republik Österreich gemäß Artikel 25 Absatz 2 des Rahmenübereinkommens zum Schutz nationaler Minderheiten, Wien 2010, S. 106–127, http://www.bka. gv.at/DocView.axd ?CobId=42120 (online am 11. Oktober 2013).
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Neben dem Europarat haben sich auch die Vereinten Nationen und die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) für Minderheiten eingesetzt, nur die Europäische Union (EU) hielt sich hier bis in die späten 1990er-Jahre zurück. Das Europäische Parlament verfasste seitdem einige Resolutionen, für die neuen Beitrittskandidaten wurde mit den sogenannten »Kopenhagener Kriterien« auch die Minderheitenbehandlung ein wichtiger Punkt, nicht so aber für die alten Mitglieder. Das scheint sich langsam zu ändern, wobei hier anscheinend die Beschäftigung mit den Minderheitenproblemen der östlichen Nachbarn Anlass gewesen ist – die Öffnung von 1989 kann demnach hier direkt als Ursache angesehen werden. Christoph Pan und Beate Sibylle Pfeil vergleichen die rechtliche Stellung europäischer Volksgruppen in ihrem Sammelwerk »Minderheitenrechte in Europa«. Österreich liegt im europäischen Vergleich des Minderheitenschutzes mit Ländern wie Deutschland, Großbritannien und Slowenien auf dem sechsten Platz.28 Dabei fällt auf, dass Belgien die Liste anführt, dort aber die Lage zwischen den Wallonen und Flamen durch ständige Spannungen gekennzeichnet ist, eine wirkliche Lösung ethnisch bedingter Konfliktsituationen demnach nur bedingt aus solch einer Rangordnung herausgelesen werden kann. Insgesamt kann die legale Lage der österreichischen Volksgruppen und ihrer Mitglieder, wie sie von unterschiedlich entstandenen Dokumenten bestimmt wird, im europäischen Vergleich eher als überdurchschnittlich bewertet werden.29 Zu einer ähnlich positiven Einschätzung im europäischen Vergleich kommt ein Mitglied der Arbeitsgruppe der Österreichischen Rektorenkonferenz, das meint, »daß trotz vielem Mangelhaften die Behandlung der Volksgruppen in Österreich global vielmehr über als unter dem durchschnittlichen Zustand in Westeuropa steht«30. Wenn die rechtliche Lage vergleichend betrachtet eher überdurchschnittlich sein sollte, die Umsetzung aber meist stark hinter den Vorgaben liegt, müssen die von den Volksgruppen wahrgenommenen Probleme in einem anderen Bereich liegen. Einen Hinweis auf das Hauptproblem gibt Marjan Sturm, Vorsitzender des Beirates für die slowenische Volksgruppe, in seinem Kommentar zum 2. Staatenbericht : »Es geht um die Schaffung eines Klimas der Offenheit und der Toleranz. Eine Politik des interkulturellen Dialoges muss nicht nur vertrauensbildende Maßnahmen fördern, sondern auch unter den nunmehr geänderten Rahmenbedingungen der EU-Erweite28 Vgl. Pan, Christoph/Pfeil, Beate Sibylle : Minderheitenrechte in Europa. Handbuch der europäischen Volksgruppen, Bd. 2, 2. Aufl., Wien 2006, S. 16–19. 29 Vgl. Pan, C./Pfeil, B. S. 2006, S. 17 sowie S. 19 geben den europäischen Durchschnitt für 2001 mit 13,55 Punkten von 26 möglichen und für 2006 mit 14,53 an. Österreich erreicht für beide Jahre 16 Punkte. 30 Hödl, G. 1988, S. 159 : Hödl stellt diese sonst von der Gruppe nicht geteilte Einzelmeinung sogar in der Einleitung heraus (S. 13).
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Andreas Schimmelpfennig
rung die neue Funktion der Minderheitensprachen im Bereich der grenzüberschreitenden Kooperation im Bereich Wirtschaft, Kultur und Gesellschaft hervorheben.«31
III. Die Schwierigkeit exakter Zahlen Um die österreichische Situation besser einschätzen zu können, wäre Klarheit bei den Zahlen wünschenswert. Wie so oft steckt auch in den folgenden statistischen Daten der mögliche Fehler im Detail der Definition. Valentin Inzko unterscheidet nicht zu Unrecht in einem Beitrag die »volksbewussten« Slowenen von der Gesamtheit aller Slowenen, wobei die Zahl der bewussten ihm zufolge dreimal niedriger liegt als die von Inzko für Anfang der 1990er-Jahre angenommene Zahl aller Slowenen von etwa 45.000.32 Die offizielle Statistik Austria33 geht von den folgenden Zahlen aus, wobei hier die Umgangssprache berücksichtigt wird und es sich eher um die Zahlen der »bewussten« Volksgruppenmitglieder handelt :
Volksgruppenmitglieder/Jahr
1951
1981
1991
Slowenisch
42.413
16.290
19.289
17.953
Kroatisch
35.181
22.113
29.596
19.374
Ungarisch
8.408
12.043
19.638
25.884
Tschechisch
3.817
5.101
9.822
11.035
Slowakisch
2001
301
698
1.015
3.343
nicht erfasst
nicht erfasst
nicht erfasst
4.348
44.202 (0,6 %34)
79.360 (1,1 %)
81.937 (1,1 %)
Staatsangehörige
7.263.890
7.278.096
7.322.000
Gesamtbevölkerung
7.555.338
7.795.786
8.032.926
Romanes Volksgruppen insgesamt
Tabelle 1 : Österreichische Staatsbürger mit nicht deutscher Umgangssprache34
Das Volksgruppenzentrum gibt als Vertretung der Volksgruppen selbst in einem »Report des österreichischen Volksgruppenzentrums an die drei EU-Weisen« aus 31 Bundeskanzleramt 2006, S. 186. 32 Vgl. Inzko, Valentin : Die Volksgruppen in Österreich, in : Mantl, Wolfgang (Hg.) : Politik in Österreich. Die Zweite Republik : Bestand und Wandel, Wien 1992, S. 595–619, hier S. 597. 33 Statistiken der Volkszählungen auf http://www.statistik.at/web_de/statistiken/bevoelkerung/volkszaehlungen _registerzaehlungen/bevoelkerung _nach_demographischen_merkmalen/index.html (online am 11. Oktober 2013). 34 Der Staatsangehörigen.
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1989 und die österreichische Identität der nationalen Minderheiten
dem Jahr 2000 etwas höhere geschätzte Zahlen an, die nicht auf Volkszählungsdaten beruhen, aber eher mit dem Ansatz von Inzko übereinzustimmen scheinen.35
Kroaten
40.000–50.000
Polen
ca. 30.000
Roma
10.000–20.000
Slowaken
5.000–10.000
Slowenen
ca. 50.000
Tschechen
15.000–20.000
Ungarn
30.000–50.000
Tabelle 2 : Volksgruppenangehörige laut Eigenannahme des Volksgruppenzentrums für das Jahr 2000
Wie man in der ersten Tabelle erkennen kann, gab es in der Zweiten Republik offiziell nie sehr viele Volksgruppenmitglieder, 1–2 % erscheinen verschwindend gering. Selbst die höheren geschätzten Zahlen des Volksgruppenzentrums liegen für das Jahr 2000 mit ungefähr 200.000 oder etwa 2,5 % der Staatsangehörigen nicht erheblich höher. Die OSZE geht von höheren Zahlen für die Roma aus als die offizielle Statistik, während die anderen Volksgruppen hier als geringer an Anzahl eingeschätzt werden ; auch benennt die Statistik der OSZE Volksgruppen, nicht Umgangssprachler :36
Volksgruppe Roma
Anzahl und % der österr. Staatsangehörigen 20.000–25.000 (0,15–0,30 %)
Burgenland-Kroaten
19.109 (0,24 %)
Kärntner Slowenen
14.850 (0,19 %)
Steirische Slowenen
1.695 (0,02 %)
Burgenland-Ungarn
10.000 (0,13 %)
Tschechen
8.000 (0,1 %)
Tabelle 3 : Angehörige der Volksgruppen laut OSZE für das Jahr 2001
35 Österreichisches Volksgruppenzentrum : Report des österreichischen Volksgruppenzentrums an die drei EU-Weisen, http://www.gfbv.it/3dossier/oevz/repoevz.html (online am 11. Oktober 2013) ; interessanterweise sind hier die Polen schon in die Statistik übernommen, obwohl im Report selbst meist nur die gesetzlich anerkannten sechs Volksgruppen behandelt werden. 36 Entnommen aus : Trifunovska, Snežana (Hg.) : Minority Rights in Europe. European Minorities and Languages, Den Haag 2001, S. 396.
456
Andreas Schimmelpfennig
Österreich ist im europäischen Vergleich ein Staat mit vergleichsweise geringer Einwohnerzahl, dementsprechend wirken auch die Personenzahlen von Minderheiten nie sehr groß im Vergleich mit der Anzahl der Minderheitenangehörigen bevölkerungsreicherer Länder. So zeigt der Zahlenvergleich innerhalb Europas, dass einerseits die Volksgruppen sehr klein in ihrer Mitgliederzahl sind, aber man es dennoch in Österreich im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung mit ähnlichen Relationen zu tun hat wie in anderen Staaten.37 So ist der prozentuale Anteil in Deutschland deutlich kleiner, die Mitgliederzahl der drei Minderheiten außer den Roma und Sinti aber ungefähr doppelt so hoch wie der der Burgenland-Kroaten als größter Volksgruppe Österreichs. Besonders der für Österreich naheliegende Vergleich mit den deutschsprachigen Südtirolern (0,5 % der Italiener) scheint hier eine ganz andere Perspektive zu eröffnen, denn die Prozentzahlen sind ähnlich, wobei die Südtiroler den Vorteil haben, in einem eng begrenzten Gebiet konzentriert zu siedeln und einige größere kulturelle Zentren und eine eigene Partei ihr Eigen nennen zu können – alles Merkmale, die den österreichischen Minderheiten fehlen. Bei den oben angegebenen Zahlen sollte man vorsichtig sein ; neben den bei Statistiken offensichtlich vorhandenen Manipulationsmöglichkeiten können schon die einer Volkszählung zugrunde liegenden Definitionen Probleme bereiten. So ist Sprache, wie oben bereits erwähnt, nicht das einzige Kriterium einer Minderheit oder Volksgruppe : Beispielsweise sprechen die meisten Weißrussen russisch als Muttersprache und würden sich dennoch nicht als Russen bezeichnen.38 Sprache kann verloren gehen und wiedererlernt werden, wenn eine Gruppe oder ein Individuum das wünscht. Im schon erwähnten »Report des österreichischen Volksgruppenzentrums an die drei EU-Weisen« wird mit der Frage nach »Umgangssprache, Muttersprache, Denksprache, Kulturkreis, Familiensprache« die unterschiedliche und daher willkürlich erscheinende Praxis der Datenerhebung kritisiert, eine allgemein akzeptierbare Praxis aber erscheint unmöglich. Auch vornehmlich deutschsprachige Österreicher können Wurzeln in einer der Volksgruppen besitzen und diese je nach Interesse negieren oder für sich selbst als wichtig deklarieren. Als Beispiele seien hier die Bundeskanzler Fred Sinowatz und Franz Vranitzky sowie Vizekanzler Erhard Busek genannt : Alle drei besitzen offensichtlich deutsch klingende Vornamen und aus slawischen Sprachen stammende Nachnamen. Die Versteifung auf die Sprache führt meist zu niedrigeren offiziellen Zahlen, die nicht wirklich das Bewusstsein eines nicht 37 Deutschland 270.000 (0,3 %), Frankreich 5,3 Mio. (9,2 %), Italien 2,8 Mio. (4,9 %), Ungarn 197.000 (1,9 %), Minderheitenzahlen entnommen aus Trifunovska, S. 2001, S. 468, 473, 479 sowie 499. 38 Vgl. Bekus, Nelly : Struggle over Identity. The Official and the Alternative »Belarusianness«, Budapest 2010, S. 151–156.
1989 und die österreichische Identität der nationalen Minderheiten
457
deutschsprachigen Hintergrundes bei den Österreichern widerspiegeln müssen. Wie in den Bonn-Kopenhagener Erklärungen und auch in späteren UN-Dokumenten immer wieder erwähnt wird, es ist das Gefühl der Zugehörigkeit zu einer Minderheit, das ausschlaggebend ist, nicht die im Alltag oder zu Hause gesprochene Sprache, die Herkunft, Verwandtschaft oder phänotypische Merkmale, die ausschlaggebend sind. Die Grenzöffnung von 1989 hat die Lage für statistische Erhebungen eindeutig verändert. Wer kann sich als autochthones Volksgruppenmitglied fühlen – nur die schon vor dem Ersten Weltkrieg im heutigen Staatsgebiet Wohnenden oder auch Menschen, die die Katastrophen der beiden Weltkriege nach Österreich verschlagen haben ? Wie steht man zu den Flüchtlingen des Aufstandes von 1956 in Ungarn oder den Menschen, die vor den Repressionen nach dem Prager Frühling 1968 nach Österreich gekommen sind ? Bis 1989 kann man daher von vor allem zwei unterschiedlichen Gruppen innerhalb der österreichischen nationalen Minderheiten ausgehen, nach 1989 gesellt sich noch eine dritte Gruppe dazu, sodass neben den Alteingesessenen und den politischen Flüchtlingen des Kalten Krieges die meist als Arbeitsmigranten anzusehenden Zuwanderer der Post–1989er-Zeit die österreichischen Minderheiten belebt haben. Im Gespräch mit einem Mitglied der Ungarisch sprechenden Österreicher stellte sich dabei heraus, dass seiner Erfahrung nach diese letzte Gruppe zwar die Angebote der Volksgruppen wahrnimmt, aber dank EU kaum mehr Interesse zeigt, die österreichische Staatsbürgerschaft zu erwerben, wie es noch bei den Flüchtlingen des Kalten Krieges der Fall war. Neben der österreichischen Volksgruppe entsteht demnach eine neue ungarische Subkultur innerhalb der österreichischen Grenzen, die nicht mehr in gleichem Maße die Kultur des dann als Gastland zu titulierenden Österreichs rezipiert.39
IV. Die Lage der Volksgruppen vor 1989 Die Lage der Volksgruppen ist oft in der Literatur behandelt worden, ein Titel aber erscheint hier besonders erwähnenswert, denn »Leben lassen ist nicht genug. Minderheiten in Österreich«40 drückt drastisch aus, dass einige Autoren dieses 1988 erschienenen Sammelbandes einen sehr negativen Eindruck von der Situation der Volksgruppen vor 1989 hatten. In einem anderen wichtigen Beitrag einer interdisziplinären Arbeitsgruppe der Österreichischen Rektorenkonferenz findet sich für die letzten Jahre vor 1989 die folgende Beurteilung : »Nach Meinung der Mehrheit der Mitglieder der Arbeitsgruppe ist die Stellung der Volksgruppen als rechtlich defi39 Vgl. Interview von Andreas Schimmelpfennig mit einem Vertreter der Burgenland-Ungarn, Wien, 4. Oktober 2012. 40 Henke, Reinhold (Hg.) : Leben lassen ist nicht genug. Minderheiten in Österreich, Wien 1988.
458
Andreas Schimmelpfennig
nierte Minderheit, international gesehen, in Österreich bedauernswert schlecht.«41 Dabei wurden verschiedene Aspekte bemängelt, wie beispielsweise die unzureichende mediale Repräsentation, das nicht adäquate Schulwesen, die schwierige psychosoziale Lage oder die Nichtanerkennung einiger Minderheiten als schützenswerte Volksgruppen. • Minderheiten haben in der Regel vor allem Interesse am Erhalt ihrer Gruppe, nicht an einer Vergrößerung – es sind keine missionarischen Gemeinschaften –, was meist durch die folgenden Punkte geschieht : • eigenes Erziehungswesen, was mit Elementarerziehung im Kindergarten anfängt und bei einer eigenen Universität aufhört ; • kulturelle und mediale Grundversorgung, also eigene Radio- und Fernsehsendungen, Presseerzeugnisse, Theater- und Musikmöglichkeiten ; • selbst gewählte Organisationen ; • politische Repräsentation und Mitbestimmung ; • sprachliche Entfaltungsmöglichkeiten, Gebrauch der eigenen Sprache bei regionalen Behörden. Diese Punkte greifen ineinander : So ist der Erhalt einer nationalen Minderheit in Europa ohne eigene Medien heutzutage kaum mehr denkbar, weil ansonsten die Reizüberflutung durch die Medien der Mehrheit nur schwer zu vermeiden ist, was besonders das Überleben der Sprachen erschwert. Der Konsum von Medien der eigenen Gruppe wiederum ist eng an die Erziehung in der eigenen Sprache und Kultur gebunden. In Österreich ist mit dem staatlichen Rundfunk ORF die Möglichkeit gegeben, für alle Volksgruppen eine mediale Grundversorgung sicherzustellen,42 was einerseits zentral in Wien passiert, vor allem aber durch die regionalen Redaktionen in Kärnten und im Burgenland. Diese produzieren Sendungen in den verschiedenen Volksgruppensprachen, aber nur sehr wenige Sendungen für ganz Österreich über die Volksgruppen. Das führt zu einem Randgruppendasein der Volksgruppen, ein Ausgreifen in die Informationslandschaft der Mehrheitsgesellschaft findet nur bedingt statt, daher werden die Volksgruppen von der Mehrheit auch nicht wirklich als gleichwertig wahrgenommen.43 Das aber ist ein Problem vieler Minderheiten und nicht österreichspezifisch. Eine Lösung könnte aber die inzwischen in vielen Gesellschaften gewollte, weil als Gewinn betrachtete, Pluralisierung bringen. 41 Vgl. Hödl, G. 1989, S. 166. 42 Für genauere Zahlen der medialen Versorgung siehe die nächste Tabelle. 43 Eine interessante Analyse der Kärntner Situation liefert Busch, Brigitte : Der virtuelle Dorfplatz : Minderheitenmedien, Globalisierung und kulturelle Identität, Klagenfurt 1999.
1989 und die österreichische Identität der nationalen Minderheiten
459
Ein demgegenüber österreichisches Spezifikum kann in der anscheinend staatlich gewollten regionalen Disparität gesehen werden, mit der die Volksgruppen zu kämpfen haben. Sowohl slowenisch- als auch kroatisch- und ungarischsprachige Österreicher werden zumeist nur in ihren als angestammt definierten Gebieten – also in Kärnten, der Steiermark und im Burgenland – staatlich gefördert, es gilt ein Territorialprinzip.44 Sobald Mitglieder dieser regionalen Minderheiten sich wie alle Mehrheitsmitglieder benehmen und horizontale Mobilität beweisen, also meist in die Großstädte ziehen, gelten sie nicht mehr als förderungswürdig, was besonders im »Schmelztiegel« Wien negative Konsequenzen zeitigt. Eine Förderung aller über Österreich verstreut lebenden Volkgruppenangehörigen an allen Orten kann verständlicherweise nicht geleistet werden, in Großstädten aber erscheint das machbar. Ein wichtiger Schritt hierzu erfolgte 1992 : Die Wiener Ungarn werden seitdem als Teil der ungarischen Volksgruppe interpretiert, ein Aufweichen des Territorialprinzips allgemein aber lässt sich nicht erkennen. Für die Volksgruppen und viele Erforscher derselben ist die Geschichte der Volksgruppen ein wichtiges Kriterium, denn hierbei kann ihr Anteil an der österreichischen Geschichte dargestellt werden. Dadurch kann man sie in die Geschichte der Republik Österreich und der nun wieder leichter zugänglichen Nachbarländer einordnen sowie ihre eigene Perzeption der Zugehörigkeit zur Zweiten Republik verständlich machen.45 Einige Volksgruppen existieren als kulturtragende Gruppen ungefähr ebenso lange auf heutigem österreichischem Territorium wie die Deutsch sprechenden Österreicher und haben jahrhundertelang in Koexistenz floriert. Daher wurde auch im Bericht der Rektorenkonferenz eindringlich die Pluralität des Österreichischen hervorgehoben und vor einer Verengung auf einen nationalen Ansatz »im Sinne des 19. Jahrhunderts« gewarnt.46
V. Die Lage im Jahr 1989 und in den folgenden Jahren Literatur zu den Volksgruppen und dem Jahr 1989 existiert bisher nicht, weshalb sich die hier vorliegende Analyse vor allem auf Experteninterviews mit Volksgruppenvertretern stützt. Dabei zeigten sich einige Parallelen : Alle befragten Volksgruppenangehörigen bestätigten für die Sommer- und Herbstmonate des Jahres 1989 eine euphorische Stimmung, die auch in einem Interview mit einem Nationalratsabgeordneten der Grünen 44 Vgl. Hödl, G. 1989, S. 154–155. 45 So begegnet man beispielsweise im Bericht der Rektorenkonferenz (Hödl, G. 1988, S. 62–76) oder kürzer im Report des österreichischen Volksgruppenzentrums an die drei EU-Weisen (siehe Anmerkung 35) diesem historischen Abriss. 46 Vgl. Hödl, G. 1988, S. 57.
460
Andreas Schimmelpfennig
anklang.47 Konkrete Veränderungen im selben Jahr aber wurden nicht erwähnt, die Folgen zeigten sich erst in der längeren Perspektive. Nur auf Nachfrage gingen alle Befragten auf 1989 ein, kein Ereignis schien wichtig genug, um es selbst als relevant zu erwähnen. Es zeigte sich also eine ganz andere Perspektive als in Deutschland nach dem »Mauerfall« und den darauf folgenden Erlebnissen vieler Individuen. Eine direkte Instrumentalisierung des bei den Volksgruppen vorhandenen Potenzials vonseiten der verschiedenen Teile der österreichischen Exekutive wurde in den Gesprächen sowohl für das Jahr 1989 als auch die Folgezeit verneint, sodass anscheinend dieses spezielle Potenzial Österreichs in dieser Umbruchphase des erneuten Kennenlernens nicht genutzt wurde oder nicht als solches interpretiert wurde. Die wichtigsten legalen Veränderungen seien hier nur kurz erwähnt, sie können aber nur bedingt als Folge der Ereignisse des Jahres 1989 interpretiert werden, da sich in den letzten rund 25 Jahren die rechtliche Situation der nationalen Minderheiten in Europa insgesamt deutlich verbessert hat. Neben der Anerkennung der Roma als Volksgruppe 1993 sind die Erweiterung der ungarischen Volksgruppe um die Wiener Ungarn und die Aufnahme des Volksgruppenschutzes als Staatsziel im Jahre 200048 wahrscheinlich die gewichtigsten legalen Schritte in Richtung eines minderheitenfreundlichen Österreichs. Eine ähnlich schlechte Sicht der Lage der Minderheiten wie die oben erwähnte Publikation der Österreichischen Rektorenkonferenz für die Zeit vor 1989 präsentiert für 1997 ein Bericht des Österreichischen Volksgruppenzentrums, eines Zusammenschlusses vieler österreichischer Volksgruppenorganisationen, der in unregelmäßigen Abständen Stellung zur Lage der nationalen Minderheiten Österreichs nimmt :49 Recht
Kärntner Slowenen
Steirische Slowenen
Burgenländische Kroaten
Roma
Slowaken
Tschechen
Ungarn
Territoriale Autonomie
nein
nein
nein
nein
nein
nein
nein
Minderheitenrechte unabhängig von zahlenmäßiger Stärke
nur bezüglich Elementarunterricht
nein
nur bezüglich Elementarunterricht
nein
nein
nein
nur bezüglich Elementarunterricht
Verbandsklagerecht nein für Vertretungsorganisationen
nein
nein
nein
nein
nein
nein
nein
nein
nein
nein
nein
nein
nein
Garantierte Vertretung im Parlament/ Landtag
47 Vgl. Interview von Andreas Schimmelpfennig mit einem Nationalratsabgeordneten der Grünen, Wien, 5. Oktober 2012. 48 Vgl. BGBl Nr. 68/2000. 49 Österreichisches Volksgruppenzentrum (Hg.) : Volksgruppenreport 1997, Wien 1997, S. 242 ; eine ähnliche, bis August 2000 aktualisierte Fassung findet sich im »Report des österreichischen Volksgruppenzentrums an die drei EU-Weisen«, siehe Anmerkung 35.
461
1989 und die österreichische Identität der nationalen Minderheiten Kärntner Slowenen
Recht
Steirische Slowenen
Burgenländische Kroaten
Roma
Slowaken
Tschechen
Ungarn
Recht auf Verwendung der Minderheitensprache vor Ämtern und Behörden
in 14 von 41 nein Gemeinden des autochthonen Siedlungsgebietes ; vor Bundes- und Landesbehörden nur für Bürger aus diesen 14 Gemeinden
in 25 Gemeinden ; vor Bundes- und Landesbehörden nur für Bürger aus diesen 25 Gemeinden
nein
nein
nein
nein
Recht auf Verwendung der Minderheitensprache bei Gericht
bei 3 Bezirksgerich- nein ten ; beim Landesgericht nur für Bürger aus diesen Bezirksgerichtssprengeln
bei 6 Bezirksgerichten
nein
nein
nein
nein
Zweisprachige Formulare
nur bei Finanzämtern
nein
nur vereinzelt
nein
nein
nein
nein
Zweisprachiger Personalausweis
nein
nein
nein
nein
nein
nein
nein
Verwendung der Minderheitensprache bei amtlichen Bekanntmachungen
nein
nein
nein
nein
nein
nein
nein
Zweisprachige topografische Aufschriften
in 68 von ca. 800 Ortschaften des autochthonen Siedlungsgebietes
nein
nein
nein
nein
nein
nein
Muttersprachliche Erziehung in den Kindergärten
6 private Kindergärten ; 7 öffentliche Kindergärten (keine gesetzliche Regelung)
nein
nein 24 öffentliche Kindergärten (Kroatisch zumindest 6 Stunden wöchentlich)
nein
1 privater Kindergarten
4 öffentliche Kindergärten (Ungarisch zumindest 6 Stunden wöchentlich)
Muttersprachlicher Elementarunterricht
ja
An einzelnen Pflichtschulen 2 Wochenstunden als Freifach
ja
nein
nein
1 private Volksschule
ja
Eigene Mittelschulen
ja
nein
ja
nein
nein
private bilinguale Sekundarschule
ja
Radioprogramme in der Minderheitensprache
50 Minuten täglich
nein
40 Minuten täglich, außer an Sonntagen
30 Minuten monatlich
nein
nein
30 Minuten wöchentlich
TV-Programme in der Minderheitensprache
30 Minuten wöchentlich
nein
30 Minuten wöchentlich
nein
nein
nein
30 Minuten vierteljährlich
Printmedien in der Minderheitensprache
Wochenzeitungen und Periodika
Vereinszeitung
Wochenzeitungen und Periodika
Vereinszei- Vereinszeitung tung
Periodika
Periodika
Unabhängige wirtschaftliche Struktur und Aktivitäten
ja
nein
nein
nein
nein
nein
nein
Tabelle 4 : Rechte der ethnischen Minderheiten und ihre Umsetzung in Österreich
462
Andreas Schimmelpfennig
Aus der Tabelle wird schnell ersichtlich, dass die meisten Forderungen, die dem Volksgruppenzentrum wichtig erscheinen, bis 1997 nicht erfüllt wurden. Dabei ergeben sich regionale und je nach Volksgruppe Differenzen. So ist aufgrund des Staatsvertrages von Wien die Lage der Burgenland-Kroaten und Slowenen automatisch eine andere und in Teilbereichen bessere als beispielsweise die der Wiener Tschechen. Besonders auffallend ist die sehr negative Einschätzung der Lage der Slowaken und Roma, auch die steirischen Slowenen schneiden hier nicht wirklich besser ab. Man sollte aber vorsichtig sein, alle Probleme dem Staat und seinen Institutionen allgemein anzulasten. Im Gespräch mit einem ungarischen Minderheitenvertreter stellte sich heraus, dass zwar eine Schule der Ungarn im Burgenland vom zuständigen Bischof geschlossen wurde, dies aber nicht auf staatlichen Druck hin oder wegen fehlender staatlicher Unterstützung geschah, sondern weil in dieser Schule nur noch die Kinder angemeldet wurden, die auf keiner deutschen Schule einen Platz gefunden hatten. Hier geschah also keine absichtliche Diskriminierung der BurgenlandUngarn, sondern die verantwortlichen Volksgruppenvertreter sahen sich wegen der gesellschaftlichen Situation zum Schließen einer Bildungseinrichtung gezwungen, die nicht mehr die eigenen Standards erfüllen konnte, was vor allem am Verhalten der eigenen Volksgruppenangehörigen lag. Hier müsste man auf jeden Fall fragen, warum im Burgenland der Wunsch nach dem Besuch einer deutschen Schule stärker war als nach dem Besuch einer Schule in der eigenen Muttersprache, denn wahrscheinlich findet auf diese Weise – vermutlich ungewollt von staatlicher Seite – ein Assimilationsprozess statt, der die Bemühungen sowohl staatlicher Stellen als auch der Organisationen der Burgenland-Ungarn konterkariert.50 Dafür spricht auch die erfolgreiche Etablierung des bilingualen Gymnasiums Oberwart im Burgenland 1992. Um ein weiteres positives Beispiel für Veränderungen im Zuge von 1989 anzuführen : In Wien existiert schon seit etwa 140 Jahren eine tschechische Bildungsinitiative, der Schulverein Komensky, der heute Kinder und Jugendliche vom Kindergarten bis zur Matura ausbildet. Die vom Verein betreute Schule war vor 1989 durch die Assimilation der Volksgruppenmitglieder in Wien am Absterben, die Neuzuzüge nach 1989 ermöglichten es aber, diese Institution mit ihrem kulturellen Angebot wiederzubeleben.51 Gehören die Tschechen und Slowaken der neuesten Gruppe der »Nach-89er« nun zu der gesetzlich definierten Volksgruppe oder sind sie nur als Arbeitsmigranten ohne österreichischen »Stallgeruch« einzustufen und haben daher auch nicht die gleichen Rechte wie ihre ebenso tschechisch oder slowakisch fühlenden Mitbürger ? Die seit 1980 bestehende Bezahlung der Lehrer der Schule durch den österreichi50 Vgl. Interview von Andreas Schimmelpfennig mit einem Vertreter der Burgenland-Ungarn, Wien, 4. Oktober 2012. 51 Vgl. Interview von Andreas Schimmelpfennig mit einer Vertreterin der Wiener Tschechen, Wien, 2. Oktober 2012.
1989 und die österreichische Identität der nationalen Minderheiten
463
schen Staat deutet an, dass von staatlicher Seite keine Trennung in förderungswürdige Volksgruppe und neu zugewanderte tschechische Minderheit gewollt ist. Im Gespräch mit einer tschechischen Wienerin, die auch Mitglied des KomenskySchulvereins war, wurde aber auch ein anderes Manko der Integration der Volksgruppen in Österreich deutlich : Projekte, die der Identitätswahrung der Tschechen in Wien dienen könnten, werden nicht von österreichischer Seite unterstützt, sondern von Tschechien.52 Zwar ist die Unterstützung von Nichtregierungsorganisationen (NGOs) von außen häufig der Fall, könnte aber bei gänzlicher Ablehnung innerösterreichischer Hilfe zu einem Gefühl von Ungewolltheit und Isoliertheit aufseiten der Volksgruppen führen, was den Zusammenhalt der verschiedenen Teile der österreichischen Gesellschaft behindern mag. Eine weitere positive, hier direkt mit 1989 verbundene Entwicklung ermöglichte es den Wiener Tschechen, das Beispiel der Versöhnung zwischen Nichtkommunisten und Kommunisten in der Tschechoslowakei als Beispiel zu begreifen und den gleichen Schritt in Wien zu wagen, was eine die Kulturarbeit behindernde, lange währende politische Aufsplitterung der Volksgruppe beendete.53 In Kärnten scheint sich eine andere Entwicklung anzubahnen, wobei bisher hierfür keine konkreten Zahlen zu eruieren waren, die Information beruht nur auf Annahmen eines Vertreters der slowenischen Volksgruppe und Mitarbeiters im Volksgruppenzentrum und auf einem kurzen Verweis in der Fachliteratur.54 Während den meisten deutschsprachigen Österreichern bis 1989 eher Desinteresse an der slowenischen Sprache nachgesagt werden kann, haben die Grenzöffnung und die Möglichkeit, auf beiden Seiten wirtschaftlich tätig werden zu können, in den letzten Jahren dazu geführt, dass einerseits die Slowenen Österreichs ein Pfund haben, mit dem sie in der Wirtschaft wuchern können, was wohl stark durch die EU bedingt ist, und dass andererseits schon vermehrt deutschsprachige Österreicher Slowenisch lernen sollen, um neue Möglichkeiten auszuschöpfen. Die dank 1989 nach Osten offenen Grenzen haben zu starken Veränderungen in der Struktur der Volksgruppen geführt. Neben die sogenannten Autochthonen sind in Österreich vermehrt Zuwanderer getreten, deren Situation und rechtlicher Status eher denen der anderen Gastarbeiter ähneln, obwohl sie Tschechen, Ungarn, Slowenen, Slowaken oder Kroaten sind.55 Die meisten Volksgruppen setzen sich daher 52 Vgl. ebd. 53 Vgl. ebd. 54 Vgl. Interview von Andreas Schimmelpfennig mit einem Vertreter der Kärntner Slowenen, Wien, 3. Oktober 2012 ; Baumgartner, G./Perchinig, B. 1995, S. 522 f. 55 Die Partei der Grünen setzt hier nicht ganz zu Unrecht an und möchte die Grenzen zwischen den Volksgruppen und den anderen nationalen Minderheiten negiert sehen, vgl. Interview von Andreas Schimmelpfennig mit einem Nationalratsabgeordneten der Grünen, Wien, 5. Oktober 2012. Dabei wird natürlich die unterschiedliche historische Genese zugunsten der heutigen Situation vernachlässigt, was zu Ablehnung in den Volksgruppen führen könnte.
464
Andreas Schimmelpfennig
heute aus drei Gruppen zusammen : den Alteingesessenen, schon mehrere Genera tionen im Gebiet des heutigen Österreich Lebenden, den Flüchtlingen aus den kommunistischen Staaten Ostmittel- und Südosteuropas sowie den nach 1989 neu Zugezogenen, wobei die sogenannten Gastarbeiter eine eigene Gruppe bilden. Während die rein legalistische Zählung diesen Zuwachs nicht den Volksgruppen zurechnen müsste, ist es für die Kulturarbeit unsinnig, hier zu trennen ; das kulturelle Leben hat durch den Zuzug gewonnen, wie das Beispiel des Komensky-Vereins zeigt. Das hat ein schon existierendes Problem noch deutlicher werden lassen : Während die Ungarn und Kroaten im Burgenland und die Slowenen in Kärnten und der Steiermark als Volksgruppen vor Ort offiziell Anerkennung gefunden haben, erfahren ortswechselnde Volksgruppenmitglieder in den großen österreichischen Städten nicht die gleiche Förderung (Territorialprinzip), sie fallen aus dem ortsgebundenen Volksgruppenansatz heraus. Es ist verständlich, dass nicht alle Rechte in ganz Österreich Auswirkung finden können – mehrsprachige Ortstafeln in ganz Österreich beispielsweise würden die Volksgruppenförderung ad absurdum führen –, aber in anderen Bereichen ist der bundeslandgebundene Ansatz in einer auf Mobilität setzenden modernen Gesellschaft ein Anachronismus. Die nach 1989 neu Zugezogenen gehören legal gesehen ebenso wenig zu den Volksgruppen wie Ortswechsler, wohnen auch tendenziell weniger in den ländlichen Bereichen der Volksgruppen, sondern sind eher urban, teilen aber offensichtlich viele Merkmale mit den eigentlichen Volksgruppenangehörigen. Dennoch existiert ein eklatanter Unterschied, denn durch die Möglichkeiten der EU ist es für die neu Zugezogenen nicht unbedingt notwendig und daher auch oft nicht gewünscht, österreichischer Staatsbürger und Österreicher zu werden und sich in die österreichische Gesellschaft zu integrieren.56 Dies stellt die Volksgruppenangehörigen, die seit Generationen in Österreich integriert sind, vor neue Herausforderungen. Nur vorsichtige qualitative Interviews könnten herausfinden, wie sich die Mehrheit der Mitglieder der Volksgruppen hier entwickelt, ob eher die nationale Zugehörigkeit zu Österreich oder zu einem der Nachbarländer überwiegt. Wie in den meisten europäischen Ländern hat sich die Vernetzung der Volksgruppen intensiviert ; es existiert eine Fülle an NGOs, wobei sich hier im Internet eine Zweiteilung erkennen lässt : Die ortsgebundenen Volksgruppen behalten ihre Sprache als Kommunikationssprache und bieten manchmal nicht einmal eine Übersetzung ins Deutsche an,57 während ein urbaner Verein wie der Klub Slowenischer Studentinnen und Studenten in Wien (KSŠŠD) zeitgemäß ein dreisprachiges An-
56 Vgl. Interview von Andreas Schimmelpfennig mit einem Vertreter der Burgenland-Ungarn, Wien, 4. Oktober 2012. 57 Als Beispiel sei hier der Kroatische Kulturverein im Burgenland genannt : http://www.hkd.at/ (online am 30. April 2013).
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gebot bereitstellt.58 Inwieweit das zivilgesellschaftliche Angebot des gegenseitigen Austausches vonseiten der urbanen Volksgruppen von der Mehrheitsbevölkerung angenommen wird, hängt auch von der Offenheit der österreichischen Gesellschaft ab, sich nicht nur auf die deutschen Wurzeln zu reduzieren. Auch in den Medien zeigt sich eine Zweiteilung. Im ORF existieren mit der Minderheitenredaktion und den Redaktionen in Klagenfurt und in Eisenstadt viele Angebote für die Volksgruppen, die aber wegen der nur in geringem Maße vorhandenen Sprachkenntnisse der deutschsprachigen Österreicher nicht zur gegenseitigen Integration dienen können.
VI. Fazit Es ist offensichtlich, dass sich die Lage der Volksgruppen in den rund 25 Jahren seit 1989 geändert hat ; die Zahl der Volksgruppen wurde erhöht, ihre rechtliche Situation wurde diskutiert. Nicht alle Änderungen können direkt als Folge der Geschehnisse, die mit 1989 in Zusammenhang gebracht werden, interpretiert werden. Die Anerkennung der Slowaken als Volksgruppe ist mit Sicherheit ein Resultat der Entwicklungen, die durch 1989 angestoßen wurden, da nur so eine Trennung der Tschechoslowakei in zwei Nationalstaaten möglich wurde. Die Anerkennung der Wiener Ungarn als Teil der Volksgruppe war ein wichtiger Schritt, ebenso die Anerkennung der Roma für das gesamte Bundesgebiet als erste gänzlich neue Minderheit, was bei anderen nationalen Minderheiten Hoffnungen geweckt hat. Die genaue Anzahl der Volksgruppenmitglieder lässt sich nicht mit Sicherheit ermitteln, es kann aber gesagt werden, dass durch die Öffnung des »Eisernen Vorhangs« die Zahlen angestiegen sind. Dabei ist es wichtig, die Gemeinsamkeiten und Unterschiede dieser neuen Bewohner Österreichs mit bzw. gegenüber den österreichischen Volksgruppenangehörigen zu beachten. Sie haben eine Nationalität gemein, beispielsweise die ungarische oder slowenische, aber nicht die zweite Nationalität der Volksgruppenangehörigen, die österreichische, da sie nicht in der österreichischen Gesellschaft sozialisiert und dort auch nicht geboren wurden. Nach § 1 Volksgruppengesetz teilen die Neuzuwanderer zwar die »nichtdeutsche Muttersprache« und in Teilen sogar das »eigene Volkstum«, aber einen slowenischen, als sogenannten
58 Vgl. http://www.ksssd.org/de/der-klub/ (online am 30. April 2013) ; interessanterweise existiert keine feste Webseite des Volksgruppenzentrums ; man findet einige Dokumente auf den Seiten der Gesellschaft für bedrohte Völker, wobei seit 2005 keine Aktualisierung mehr erfolgte. Das kann dafür sprechen, dass entweder das Zentrum für die Volksgruppen an Wichtigkeit verloren oder die verringerte monetäre Ausstattung durch das Bundeskanzleramt diese Folgen gezeitigt hat, siehe http://www.gfbv. it/3dossier/oevz/oevztaetig.html (online am 11. Oktober 2013).
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Gastarbeiter gesehenen Migranten mag nach mehreren Jahrzehnten in Österreich mehr mit den Kärntner Slowenen verbinden als einen nach der EU-Osterweiterung neu Zugezogenen. Die offenen Grenzen ermöglichen ein Leben mit der Grenze und über die Grenze hinweg, im Gegensatz zu früheren Migranten muss spätestens seit Einbindung aller direkten Nachbarn durch die europäische Integration keine Staatsbürgerschaft mehr erworben werden und hat eine gewollte Integration in eine nationale Gesellschaft an Wichtigkeit verloren, solange vor allem die Sprache keine größere Barriere darstellt. Eine konsensuale Neuregelung der verschiedenen Teile der die verschiedenen Minderheiten in Österreich betreffenden Gesetze mit Einbeziehung der neuen Gegebenheiten ist bisher nicht gelungen. Wie das naheliegende Beispiel Südtirol im Vergleich zeigt, ist es für eine ethnische Minderheit von zweitrangiger Bedeutung, wie groß die Anzahl ihrer Mitglieder im Vergleich zur Mehrheit ist, das Bedürfnis nach Erhalt der Eigenheit innerhalb der Mehrheitsgesellschaft ist hier maßgebend. Und obwohl sowohl die numerische Stärke als auch der prozentuale Anteil der nationalen Minderheiten in Österreich eher kleiner sind als bei anderen europäischen Gesellschaften, befand sich nur Österreich nach 1989 in der Lage, von allen neuen direkten Nachbarn Minderheiten im Land zu besitzen. Auch wenn laut Christoph Reinprecht59 die Österreicher zwar eine stärkere emotionale Bindung zu den Deutsch sprechenden Nachbarn in Bayern und Südtirol als zu den neuen östlichen Partnern haben,60 so sollten die Möglichkeiten der kulturellen Nähe nicht außer Acht gelassen werden, zumal auf beiden Seiten nationale Minderheiten als Vermittler zur Verfügung stehen, besonders Österreich hier demnach einen Beitrag für Europa leisten könnte. Die österreichischen Minderheiten konnten trotz aller Veränderungen auch ihrer Lage von der Öffnung und den Veränderungen bisher wenig profitieren, auch scheint ihre Lage nicht dramatisch genug, um Schutzmaßnahmen von außen erwarten zu lassen, wenn man einmal von der europäischen Angst vor der Freiheitlichen Partei Österreichs (FPÖ) absieht, die in den Sanktionen des Jahres 2000 gegen die Koalitionsregierung Schüssel I offensichtlich wurde. Man kann es als gutes Zeichen werten, dass nur die Roma und Sinti für den österreichischen Zweig der »Gesellschaft für bedrohte Völker« ein besorgniserregendes Thema bilden.61 59 Vgl. Reinprecht, Christoph : Österreich und der Umbruch in Osteuropa, in : Sieder, Reinhard/Steinert, Heinz/Tálos, Emmerich (Hg.) : Österreich 1945–1995. Gesellschaft – Politik – Kultur, 2. Aufl., Wien 1996, S. 341–353, hier S. 349–351. 60 Das zeigt auch die im Rahmen des Forschungsprojekts »Offene Grenzen, neue Barrieren und gewandelte Identitäten« durchgeführte Meinungsumfrage, in der die Bundesrepublik Deutschland die größten Sympathiewerte erzielte, gefolgt von Italien und der Schweiz, während Ungarn als am nahesten bewertetes Nachbarland des ehemaligen Ostblocks schon viel geringere Werte aufweist. 61 Vgl. Gespräch mit einer Expertin für Romafragen bei der Wiener Gesellschaft für bedrohte Völker, Wien, 2. Oktober 2012.
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Die Euphorie des Jahres 1989 auch der deutschsprachigen Österreicher war für die Volksgruppenmitglieder laut allen Interviewpartnern fassbar und äußerst hilfreich. Die Aufwertung der Nachbarstaaten, die ehemals einerseits als kommunistische Staaten und Satelliten des »Sowjetimperialismus«, andererseits als Armenhaus Europas eher negative Konnotationen bei den Österreichern hervorgerufen zu haben scheinen, sind Geschäftspartner und Nachbarn in der EU geworden, stehen demnach auf ungefähr gleicher Stufe wie das demokratische und reiche Österreich. Auch ist die Angst verschwunden, als »Fünfte Kolonne« Moskaus oder Prags, Budapests oder Belgrads gesehen zu werden, was besonders für Flüchtlinge von 1956 und 1968 schmerzhaft gewesen sein muss. Es sind also vielfach Gefühle, die das Zusammenleben nach 1989 verbessert haben, weniger bessere Gesetze oder eine stärkere Wahrnehmung und Anerkennung seitens der Mehrheitsbevölkerung. Die Volksgruppen haben im Jahre 1989 keine große Rolle bei den Umbrüchen gespielt, auch in den Folgejahren waren sie eher passive Teilnehmer eines sie gleichwohl sehr berührenden Prozesses. Gespräche über die Grenze hinweg wurden angefangen, führten aber anscheinend zu keinen nennenswerten Resultaten. Die österreichische Politik hat die Volksgruppen in den 1989er-Prozessen eher randständig behandelt, nicht eingebunden und so ein Potenzial ungenutzt liegen lassen. Gemeinsame Aktivitäten der Volksgruppen im Rahmen des erwähnten Volksgruppenzentrums scheinen für die 1990er-Jahre wünschenswert und machbar gewesen zu sein, seit 2000 bis etwa 2010 aber war ein Rückgang dieser Aktivitäten festzustellen. Es lassen sich nach 1989 vier Phasen in der Volksgruppenbehandlung unterscheiden : Bis Mitte der 1990er-Jahre kann man von Zusammenarbeit sprechen, in der zweiten Hälfte der 90er-Jahre scheint die durch die neue Situation dank der Ereignisse von 1989 getragene Euphorie zu erlahmen, um dann ab 2000 in Konfrontation überzugehen, die in den letzten Jahren ab etwa 2009 wieder nachzulassen scheint. Der wichtigste Punkt zu 1989 und den Volksgruppen hat sich bei den Treffen mit einzelnen Volksgruppenvertretern ergeben. Dabei kam zur Sprache, dass sich durch die Veränderungen von 1989 vor allem ein interner Prozess im einzelnen Volksgruppenangehörigen in Bewegung gesetzt hat, der eher nicht durch Gesetze oder Kulturpolitik von oben erfassbar und förderbar ist. So sahen sich einige der Mitglieder der Volksgruppen seit 1989 mit der Frage konfrontiert, ob sie als Angehöriger einer Minderheit in Österreich bleiben oder ein Mitglied der Mehrheit eines Nationalstaates ihrer eigenen Sprache werden wollten. Diese Frage stellte sich unterschiedlich bei den einzelnen Gruppen und eher auf individueller Basis und nicht der Volksgruppe allgemein, wobei hier anscheinend ein Stadt-Land-Unterschied bestand, neben den schon erwähnten Unterschieden hinsichtlich Zeitpunkt und Grund des Aufenthaltes in Österreich. Die meisten Volksgruppenmitglieder sind laut Auskunft von Volksgruppenvertretern in Österreich geblieben, haben sich also bewusst für Österreich entschieden – ein Punkt, den sie einigen anderen Österreichern voraushaben, die
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eventuell darüber reflektieren, was den Österreicher ausmacht, aber weniger ihre Zugehörigkeit dazu infrage stellen würden. Volksgruppenmitglieder können demnach bedingt durch die Ereignisse und Veränderungen von 1989 sehr bewusste Österreicher sein. Weitere Studien könnten aufzeigen, welche Gründe zum Bleiben ausschlaggebend waren, und so erhellen, was an Österreich interessant ist. Die Ereignisse von 1989 haben demnach die Einstellung vieler Volksgruppenmitglieder zu Österreich verbessert ; die Volksgruppenmitglieder können auf Augenhöhe ohne schlechtes Gewissen mit deutschsprachigen Österreichern kommunizieren ; was jetzt noch fehlt, ist die Anerkennung eines größeren Teils der österreichischen Gesellschaft und die Akzeptanz der Mehrheit, dass nicht deutschsprachige Österreicher ebenso gute, sogar sehr bewusste Staatsbürger mit einigen kleinen Unterschieden sein können, die Österreich bereichern können. Das mag auch dazu führen, dass die komplizierte Selbstdefinition des Österreichers wieder mehr einen Bezug auf die Geschichte der letzten Jahrhunderte nehmen kann und nicht nur auf den Ereignissen nach 1918 oder gar 1945 beruht.62
62 Reinprecht, C. 1996, S. 351, spricht sich eher gegen eine historische »Berufung« aus, was realistisch und praktisch wirkt, Österreich aber eventuell eines seiner Einmaligkeitsmerkmale nehmen und so auf längere Sicht entnationalisieren könnte, was im Zuge der europäischen Integration verschieden interpretiert werden kann.
Christoph Kühberger
1989 im österreichischen Geschichtsunterricht Über Zeitpunkte und Ikonen
I. Österreichische Perspektiven auf 1989 Alltagsgeschichtliche Quellen überliefern uns ein spannendes Bild von 1989, auch aus österreichischer Sicht. Anhand von fotografischem Material einer Familienreise aus dem Frühsommer 1989 nach Ungarn kann man versuchen, jene Aspekte einzufangen, die sogenannten Knipsern und Knipserinnen aus ihrem Zeitgeist heraus als derart wichtig erschienen, dass sie diese dokumentierten. Derartige »Knipserfotografien« werden im Rahmen der Visual History nach Marita Krauss als »autobiografische Quellen« betrachtet, welche zwischen Tagebuch und gedruckten Memoiren angesiedelt werden können, da auf den Fotos Wahrnehmungs-, Erinnerungs- und Selbstdarstellungsprozesse kumulieren.1 Im Gebrauchszusammenhang als Erinnerung an einen familiären Sommerurlaub haben dabei nicht alle prinzipiell abbildbaren Facetten Platz. Fotografien stellen nämlich keine »wirklichkeitsgetreue Wiedergabe realer Verhältnisse« dar, sondern sie sind mittelbar und perspektivisch.2 Es handelt sich beim Jahr 1989 um einen technikgeschichtlichen Zeitpunkt, an dem das Fotografieren durch technische Innovationen zwar bereits leichter handhabbar und eindeutig billiger war als noch Jahre zuvor, doch die Digitalisierung stand noch aus.3 Fotos wurden demgemäß nach der Brauchbarkeit des Motivs ausgewählt und hinsichtlich der damit verbundenen Entwicklungskosten vom Negativ zum Farbfoto abgewogen. Die tatsächliche Revolution in diesem Bereich und damit ein noch nicht abschätzbares Problem für die Geschichtswissenschaft stellen sicherlich die privaten Fotomassen der sich seit einigen Jahren durchsetzenden Digitalkameras bzw. der Handykameras dar, da diese zwar ein Mehr an Alltag und an unbeabsichtigten, aber mitgelieferten Aspekten dokumentieren, aber aufgrund der leichten Verfügbarkeit
1 Krauss, Marita : Kleine Welten. Alltagsfotografie – die Anschaulichkeit einer »privaten Praxis«, in : Paul, Gerhard (Hg.) : Visual History. Ein Studienbuch, Göttingen 2006, S. 57–75, hier S. 57–59. 2 Tschopp, Silvia Serena : Forschungskontroversen, in : Tschopp, Silvia Serena/Weber, Wolfgang E. J. : Grundfragen der Kulturgeschichte, Darmstadt 2007, S. 24–122, hier S. 106. 3 Vgl. Sauer, Michael : Bilder im Geschichtsunterricht. Typen, Interpretationen, Unterrichtsverfahren, 3. Aufl., Seelze-Velber 2007, S. 163.
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eine Anzahl von Fotos produzieren, die, so viel können wir bereits heute feststellen, sicher unüberschaubar ist. Für einen Kulturhistoriker ist es ein Glücksfall, derartige private Fotos zur Verfügung zu haben, um das Jahr 1989 in Ungarn »von unten« analysieren zu können. Dem Autor standen 26 Urlaubsfotos zur Verfügung, die vom Vater einer dreiköpfigen Familie aus Salzburg als Dias ausgefertigt wurden, und sieben Fotos des dreizehnjährigen Sohnes, der erstmalig selbstständig Fotos mit einer veralteten Kamera anfertigen durfte.4 Dabei ist es spannend, dass die politischen Veränderungen jener Zeit durchaus im Zentrum der Wahl des Urlaubsortes standen. Der Vater der Familie, ein Gendarmeriebeamter, hatte nämlich beschlossen, die ungarische Aufbruchsstimmung und die erleichterte Einreise für einen Familienurlaub zu nutzen, um den Osten – zumindest jenen zwischen der burgenländischen Grenze, dem Balaton und Budapest – zu bereisen und um dort zu urlauben. Auch wenn die Reise gleich zu Beginn mit einem Reifenplatzer auf der Autobahn im Abschnitt Salzburg-Nord eine unliebsame Unterbrechung erfuhr, wie dies vom Sohn bildlich festgehalten wurde, folgte für den Dreizehnjährigen in Wien, das man offensichtlich am Weg in den Osten als Station mitnahm, bald ein erstes Highlight, nämlich das Parlament. Das eigentliche Ziel war der Plattensee und ein noch nicht genauer fixierter Campingplatz am Nordufer. Es wurde schließlich Révfülöp. Die Urlaubsfotos zeigen uns wenig von der Begegnung mit dem Osten. Es sind eher die Sehenswürdigkeiten in Budapest und Veszprém, der morbide Charme des Zurückgebliebenen, den man in Österreich selbst auf dem Land in den 1980er-Jahren immer seltener antraf, und eine Überschwemmung auf dem Campingplatz, ein eher unter der Kategorie »Naturschauspiele« einzureihendes Ereignis mit fatalen Auswirkungen auf die Wohnqualität im Campinganhänger. Das, was nicht dokumentiert wurde, wurde mündlich tradiert. Dazu zählten der gern gesehene Schilling und die noch lieber angenommene Westmark, die Möglichkeit, sich etwas leisten zu können, was zu Hause nicht möglich gewesen wäre, aber auch die Begegnung mit den Menschen des Ostens. Vor allem auch mit Urlaubern und Urlauberinnen aus der DDR, denen am Campingplatz ein eigener Bereich zugesprochen worden war, eine Art Ghetto für die Ossis ; doch die Büsche waren durchlässig und das Waschhaus wurde gemeinsam benutzt. Der Kofferraum der ostdeutschen Urlauber und Urlauberinnen war voll mit Lebensmitteln, auch mit 4 Die historische Bildkunde ist stark durch die Ausweitung des Quellenbegriffes seitens der Neuen Kulturgeschichte beeinflusst, um damit neue Dimensionen der menschlichen Realität auf visuell fixierter Basis in die geschichtswissenschaftliche Erkenntnis einfließen zu lassen. Vgl. Reinhardt, Rolf : Bildund Mediengeschichte, in : Eibach, Joachim/Lottes, Günther (Hg.) : Kompass der Geschichtswissenschaft, Göttingen 2002, S. 219–245.
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Abbildung 1 : Der Charme der Fremde, Veszprém 1989; Quelle: Privatbesitz Familie Kühberger.
verderblichen (wie z. B. Brot), und ihr Alkoholkonsum war erhöht, was sich negativ auf die hygienischen Zustände der Toilettenanlagen auswirkte. Davon erzählen die Familienfotos aus dem Juli 1989 knapp vor der Massenflucht von zahlreichen Staatsbürgern und Staatsbürgerinnen der DDR über die ungarisch-österreichische Grenze nichts. Eine derartige Stimmung wurde auch von westlichen Urlaubern beziehungsweise westlichen Urlauberinnen nicht wahrgenommen oder verdrängt. Die Salzburger Familie war die meine, das hier abgebildete Foto (siehe Abbildung 1) zeigt meine Mutter. Was damit verdeutlicht werden sollte, ist, wie sich 1989 an österreichischen Menschen im Privatleben nahezu unbemerkt vorbeischlich. Bei der Recherche zu diesem Beitrag habe ich meine Eltern gefragt, wann wir in Ungarn auf Urlaub waren, und es konnte von ihnen keine Ad-hoc-Verbindung zu 1989 hergestellt werden. In Kleinstschritten habe ich dann das familiäre Urlaubsverhalten rekonstruiert und konnte meine Vorahnung verifizieren, nämlich, dass wir tatsächlich im besagten Jahr gerade dort urlaubten, von wo aus viele aufbrachen, um später im Hochsommer am Paneuropäischen Picknick teilzunehmen und um im Spätsommer in den Westen zu fliehen. »Horn ließ am 10./11. September 1989 die Grenzen offiziell zur freien Ausreise öffnen, was rund 12.000 Ostdeutsche binnen weniger Stunden die Ausreise ermöglichte sowie
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den gesellschaftlichen Umbruch und den politischen Zusammenbruch der DDR einleitete. Zehntausende folgten.«5
Ein Problem bleibt jedoch : Die von mir verspürte Leere im Umgang mit 1989 aus österreichischer Perspektive. 1989 ist in meiner Familie und – verzeihen Sie mir die gewagte These – für die meisten Österreicher und Österreicherinnen kein zentraler »Erinnerungsort«. Ausnehmen möchte ich hier vielleicht nur jene Gemeinden, die in Ostösterreich Erstaufnahmelager aufbauten, um den Ansturm zu kanalisieren. Dort wird sich eine lokal begrenzte Erinnerung abgesetzt haben, wie dies auch der Beitrag von Andrea Brait in diesem Band verdeutlicht.6 Unter einem »Erinnerungsort« (»lieux de mémoire«) kann daher hier nach Pierre Nora ein materieller oder immaterieller »Ort« verstanden werden, an dem sich das Gedächtnis einer kulturellen Gruppe »in besonderem Maße kondensiert, verkörpert oder kristallisiert hat«7. Es handelt sich letztlich um einen Kristallisationskern eines kollektiven Gedächtnisses, der unter vielfältiger Nutzung zwischen historischer Sinnstiftung und Sinnfindung anzusiedeln ist und dabei zentrale Einblicke in den Umgang mit Teilen der Vergangenheit und der daran geknüpften Geschichte ermöglicht.8 In diesem Sinn können eben auch Jahreszahlen (wie »1989«) als immaterielle Orte der Erinnerung begriffen werden, mit denen man ein vielschichtiges kulturelles Gedächtnis in Verbindung bringt.9 Dies geschieht jedoch im Fall des Jahres 1989 für die österreichische Geschichte nur marginal oder gar nicht. Als Geschichtswissenschaftler bzw. Geschichtswissenschaftlerin ist man sich zwar bewusst, dass sich dieses Jahr zur Strukturierung der europäischen Geschichte, wenn nicht sogar einer internationalen Perspektive, anbietet und dies auch im fachspezifischen Diskurs bereits konkrete Formen annimmt, doch gleichzeitig passiert das, ohne nachhaltige Wirkung auf Basisnarrative der österreichischen Öffentlichkeit auszuüben. Denn der Beitritt zur EU kam trotz des Beitrittsgesuches an die EG aus dem Jahr 1989 erst 1995 zustande, der Abbau der Grenzen (Stichwort : »Eiserner Vorhang«) wurde durch eine österreichische Aufrüstung in Form eines verfassungsmäßig zumindest seltsamen Assistenzeinsatzes des Bundesheeres zur Grenzraumüberwachung in den Köpfen der Bevölkerung verschleppt10 und die Ostöffnung ver 5 Gehler, Michael : Europa. Ideen – Institutionen – Vereinigung, München 2010, S. 278. 6 Vgl. dazu den Beitrag von Andrea Brait in diesem Band. 7 Nora, Pierre : Zwischen Geschichte und Gedächtnis, Berlin 1990, S. 7. 8 François, Etienne/Schulze, Hagen : Einleitung, in : François, Etienne/Schulze, Hagen (Hg.) : Deutsche Erinnerungsorte, Bonn 2005, S. 7–12, hier S. 8 f. 9 So präsentiert etwa auch Luisa Passerini 1968 als Erinnerungsort. Vgl. Passerini, Luisa : Il ’68, in : Isnenghi, Mario (Hg.) : I luoghi della memoria. Personaggi e date dell’Italia unita, Rom/Bari 1997, S. 373–388. 10 Vgl. Pudlat, Andreas : Grenzen ohne Polizei – Polizei ohne Grenzen ? Überlegungen zu den Ambi-
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lief schleichend und nicht abrupt. 1989 ist für Österreich als Epochenwende schwer verständlich, man sollte sich dabei nicht vom bundesdeutschen Diskurs blenden lassen, in dem für ein neu erwachtes, vereintes Deutschland 1989 als Erinnerungsort und Gedenkjahr einen ungleich höheren Stellenwert besitzt.11 Was aus österreichischer Perspektive vielmehr benötigt wird, ist eine Interpretation des Umbruchs in längeren Schnitten, die dann auch dazu in der Lage sind, die staatliche und wirtschaftliche Neupositionierung in den 1990er-Jahren zu erklären, die sich letztlich auch auf das Alltagsleben der Menschen auswirkte. Erst nach und nach zeigten sich nämlich die Entwicklungen im Bereich von wirtschaftlichen Investitionsstrategien (z. B. in Gestalt österreichischer Banken in Ungarn), des Konsumaustauschs (z. B. in Form des ungenierten Schmuggels von billigem Fleisch aus Ungarn im Badetuch nach Österreich), von kulturellen Projekten zwischen den Staaten oder in der Angst vor Heerscharen von Arbeitssuchenden, die letztlich aber bereitwillig, vor allem illegal, im sozialen Bereich zum Einsatz kamen. Was sich jedoch auch zeigte, sind enttäuschte Hoffnungen, wie etwa im Waldviertel, das trotz des Endes des Kalten Krieges, des Falls des Eisernen Vorhanges und einer Annäherung an den nördlichen Nachbarn in der Peripherie verbleiben musste.12 Eine Verkürzung auf das Jahr 1989 greift folglich zu kurz, vermutlich sollte man die »friedliche Revolution« im Osten bereits mit 1980 und der Gründung der unabhängigen Gewerkschaft »Solidarność« beginnen lassen und die effektiven Auswirkungen auf Österreich herausarbeiten, anstatt ein »symbolisches Wendejahr« zu stilisieren, welches für den nationalen Zusammenhang nur eine vage oder eben keine Interpretationskraft besitzt.13 Man könnte die damit in Verbindung stehende Frage jedoch nochmals wenden und festhalten, dass es zudem derzeit in der österreichischen Zeitgeschichte keinen überzeugenden Versuch gibt, die Zweite Republik hinsichtlich zentravalenzen des Schengen-Prozesses, in : Gehler, Michael/Pudlat, Andreas (Hg.) : Grenzen in Europa, Hildesheim 2009, S. 269–303, hier S. 288, sowie seinen Beitrag in diesem Band. 11 Ohne hier näher darauf einzugehen, ist es auffällig, dass auch der deutsche geschichtswissenschaftliche Diskurs in seiner nationalhistorischen Ausprägung »1989« ebenfalls nicht auf die Umwandlung der europäischen Nachkriegsordnung beschränkt, sondern vielmehr ein Doppeljahr als Zäsur ausmacht »1989/90« und dabei die beiden deutschen Staaten und ihre Entwicklung in den Fokus nimmt. Vgl. Wehler, Hans-Ulrich : Deutsche Gesellschaftsgeschichte 1949–1990, Bonn 2009, S. 321. Lenkt man den Blick überhaupt von strukturgeschichtlichen Betrachtungen weg und hin zur Kulturgeschichte, so tritt »1989« selbst für Deutschland hinter stärker nationalstaatlich geprägte Periodisierungen (z. B. 1990) zurück. Vgl. Schildt, Alex/Siegfried, Detlef : Deutsche Kulturgeschichte. Die Bundesrepublik 1945 bis zur Gegenwart, Bonn 2009, S. 403–469. 12 Komlosy, Andrea : Auswirkungen der Grenzöffnung 1989. Das Beispiel des Oberen Waldviertels, in : Stiefel, Dieter (Hg.) : Der »Ostfaktor«. Die österreichische Wirtschaft und die Ostöffnung 1989 bis 2009, Wien 2010, S. 247–292. 13 Vgl. http://www.1989–2009.at/?story=2 (online am 18. Dezember 2012).
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ler Schlüsseljahre zu strukturieren, da nämlich neben 1989 etwa auch 1968 als Wendejahr, wie man dies tendenziell in anderen Ländern beobachten kann, im österreichischen Kontext weitgehend fehlschlägt.14 Der österreichische Zeithistoriker Ernst Hanisch lässt seine österreichische Gesellschaftsgeschichte des 20. Jahrhunderts zwar 1990 enden, doch mag es eher dem Zufall geschuldet sein denn einem geschichtswissenschaftlichen Kalkül, dass ein 1987 angeregtes und 1994 fertiggestelltes Buch 1990 als Schnitt setzt. Fest steht allerdings, dass Hanisch 1989 nicht thematisiert. Er überließ das Jahr vermutlich vorerst den Politikwissenschaftlern und Politikwissenschaftlerinnen. Gleichzeitig aber, offensichtlich im Zeitgeist der frühen 1990er-Jahre, spürte Hanisch offenkundig nichts davon, dass sich diese Jahreszahl zum Kernbestand des nationalhistorischen Kanons an Schlüsseljahren aufschwingen würde.15 Eindeutiger wird die hier konstatierte Bedeutungslosigkeit jedoch dort, wo ein anderer österreichischer Zeithistoriker 1989 nicht als strukturierendes Element benötigt, als er die Zeit zwischen 1945 und 2005 betrachtet. Oliver Rathkolb referiert in »Die paradoxe Republik. Österreich 1945–2005« ebenfalls nicht auf eine Zäsur 1989, sondern ist sogar in der Lage, über die wirtschaftlichen Entwicklungen ohne Bezugnahme auf 1989 zu schreiben.16 Zu einer anderen Einschätzung ringt sich demgegenüber der seit Jahren in Deutschland lehrende österreichische Historiker Michael Gehler durch. Aus einer Außenperspektive, die nicht zuletzt durch Gehlers Forschungsschwerpunkt zur europäischen Integration mitbestimmt ist, erkennt er in Anlehnung an HansPeter Schwarz bereits seit Längerem eine global wahrnehmbare Zäsur der frühen Neunzigerjahre des 20. Jahrhunderts, indem er 1989/90 als einen Wendepunkt der Zeitgeschichte, auch der österreichischen, ausmacht.17 Der mit der Deutschen Wiedervereinigung verbundene Machtzuwachs Deutschlands innerhalb des europäischen Mächtegefüges wird dabei, vor allem im Zusammenhang mit der politischen Positionierung Österreichs, betont.18 So wird das Einbringen der österrei14 Einen Versuch gab es am 30. Dezember 2013 seitens des ORF durch eine Befragung von österreichischen Geschichts- und Politikwissenschaftler/inne/n, indem nach den Schlüsseljahren des 20. Jahrhunderts für Österreich gefragt wurde. Auch dort zeigt sich, dass 1989 als Schlüsseljahr für Österreich keine Rolle spielt, dieses Jahr sehr wohl jedoch für die internationalen Schlüsseljahre gerankt wurde. Vgl. http://orf.at/stories/2211176/2211177/ (online am 10. Februar 2014) und http://orf.at/ stories/2211176/2211206/ (online am 10. Februar 2014). 15 Vgl. Hanisch, Ernst : Der lange Schatten des Staates. Österreichische Gesellschaftsgeschichte im 20. Jahrhundert, Wien 1994, S. 17. 16 Vgl. Rathkolb, Oliver : Die paradoxe Republik. Österreich 1945–2005, Wien 2005, S. 141–148. 17 Vgl. Gehler, Michael : Zeitgeschichte, in : Reinalter, Helmut/Brenner, Peter J. (Hg.) : Lexikon der Geisteswissenschaften. Sachbegriffe – Disziplinen – Personen, Wien 2011, S. 1128. 18 Gehler, Michael : Paving Austria’s Way to Brussels. Chancellor Franz Vranitzky (1986–1997). A Banker, Social Democrat, and Pragmatic Leader, in : Journal of European Integration History 2/18 (2012), S. 170 f.; Gehler, Michael : Die Europäische Union – ein postmodernes Imperium ?, in : Gehler, Michael/
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chischen Bewerbung um eine Mitgliedschaft in der Europäischen Gemeinschaft von Gehler eng mit 1989 verknüpft.19 Diese Sichtweise einer international ausgerichteten staats- und politikgeschichtlichen Geschichtsschreibung zu Österreich fand bisher jedoch im Zusammenhang mit nationalstaatlich ausgerichteten historischen Narrationen nahezu keine Beachtung. Die nationale Nabelschau dürfte sowohl in der Geschichtswissenschaft wie auch in der Geschichtskultur derartige Perspektivierungen ausblenden, wie dies auch im nächsten Abschnitt am Beispiel der Schulgeschichtsbücher und Lehrpläne verdeutlicht werden kann.
II. Welche Perspektive wird in den Geschichtsschulbüchern eingenommen ? Auch die österreichischen Lehrbücher für den Geschichtsunterricht spiegeln in Teilen die oben skizzierte Problematik als eine Art Seismograf der schulischen Geschichtskultur wider. Es ist vor allem ersichtlich, dass die (österreichische) Zeitgeschichte für die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts ein Periodisierungsproblem besitzt und sinnvolle Vorschläge einer Strukturierung fehlen. Exemplarische Einblicke in aktuelle Schulgeschichtsbücher sollen dies verdeutlichen. Das österreichische Lehrwerk für die Sekundarstufe I »Geschichte live« greift 1989 in einer Zeitleiste der österreichischen Geschichte zwischen 1945 und 2002 erst gar nicht auf, auch nicht in den Texten zum dazugehörigen Kapitel.20 Durch das Isolieren der nationalen Geschichte und das Ignorieren größerer weltweiter Veränderungen und deren Rückwirkungen auf Österreich entsteht ein nationalstaatlich verengter Blick auf die Vergangenheit, der von größeren transnationalen Periodisierungen (z. B. 1945 – 1989 – 2001) absieht und stattdessen ein vielleicht liebloses, aber sicher egozentrisches Flickwerk der Zeitgeschichte präsentiert. In nur einem Satz geht das Schulbuch »Geschichte Rollinger, Robert (Hg.) : Imperien und Großreiche in der Weltgeschichte. Epochenübergreifende und globalgeschichtliche Vergleiche, Bd. 2, Wiesbaden 2014, S. 1255–1307. 19 »What were the reasons for Austria’s application for full EC membership in 1989 ? In 1992, three years before the actual accession, [the Austrian chancellor] Vranitzky was asked this question by an Austrian journalist, and mentioned several motives : there would be no alternative for his country – European integration would move forward anyhow – be it with Austria taking an active part or not ; a nonaccession or a special agreement with the Communities would be of no real benefit ; whereas both sides could profit from closer relations, and not just within the framework of the EC ; the project of ›Europe‹ would also mean closer links and ties between the European populations. European Integration would not only be an economic or political task but also a cultural one. Last but not least, European integration that was achieved would also have to be seen within a context of peace in a world with increasing threats.« Gehler, M. 2012, S. 168. 20 Ammerer, Heinrich/Ecker, Maria/Hammerschmid, Helmut/Steinberger, Sigrid/Windischbauer, Elfriede : Geschichte live 4, Linz 2010, S. 155.
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für alle« auf 1989 als Teil der österreichischen Entwicklung von 1945 bis heute ein : »Nachdem im Sommer 1989 viele DDR-Bürger über Ungarn in die BRD geflüchtet waren, führte dies zum Ende des Eisernen Vorhangs.«21 Auch das Oberstufenbuch »Zeitbilder 7 & 8« greift 1989 in seiner Ausgabe von 2006 weder in der angebotenen Zeittafel noch im Bereich der Darstellung der Zweiten Republik auf.22 Einzig in einem halbseitigen »Fallbeispiel« zu Ungarn wird auf die ungarische Grenzpolitik in der Jahresmitte 1989 eingegangen. 1989 fungiert dabei jedoch nicht als strukturierende Einheit oder zentrales Ereignisjahr für Österreich oder Europa, sondern wird auf die Ebene der ungarischen Entwicklungsgeschichte gehoben und nur kurz gestreift.23 In der Neubearbeitung des Schulbuches aus dem Jahr 2012 wird 1989 in den Rahmen des Kapitels zum »Kalten Krieg« eingebettet, erfährt aber ebenfalls keine besondere Würdigung.24 Weitaus geringer fällt die Thematisierung nur in dem Unterrichtswerk »netzwerk@geschichte 8« aus, welches das Jahr nur beiläufig im Zusammenhang mit dem »Zusammenbruch des Kommunismus«25 erwähnt. Das gänzlich neu gestaltete, kompetenzorientierte Oberstufenwerk »GO ! Geschichte Oberstufe 7« nutzt das Jahr 1989 ebenfalls nicht als strukturgebendes Element der österreichischen Zeitgeschichte. Vielmehr werden im Rahmen einer Darstellung von Kontinuitäten und Diskontinuitäten das Jahr 1986 und die damit verbundene »Waldheim-Affäre«, welche durch das Antreten des ehemaligen Wehrmachtsmitgliedes Kurt Waldheim bei den Präsidentschaftswahlen ausgelöst wurde, und die damit verbundenen geschichtskulturellen Kontroversen zum öffentlichen Umgang mit der NS-Vergangenheit in Österreich als »Wendejahr« stilisiert.26 In Schulbüchern, welche 1989 aufgreifen, geschieht dies auch nicht mit einem Blick auf eine längere Zeitspanne, sondern hinsichtlich der jeweiligen nationalen Geschehnisse rund um den Zerfallsprozess des europäischen Kommunismus. Wiederkehrendes Motiv dabei ist die Medienikone des Aufschneidens des Zaunes an der österreichisch-ungarischen Grenze 1989.27 21 Monyka, Elisabeth/Schreiner, Eva/Mann, Elisabeth : Geschichte für alle. 4. Klasse, Wien 2010, S. 96. Ähnlich marginal behandelt das Schulbuch »Geschichte und Geschehen« diese Thematik in einem Absatz : Donhauser, Gerhard/Memminger, Josef/Steidl, Hans/Wiesnger, Barbara N. : Geschichte und Geschehen 2 für berufsbildende höhere Schulen, Wien 2009, S. 106. 22 Vgl. Wald, Anton/Staudinger, Eduard/Scheucher, Alois/Scheipl, Josef/Ebenhoch, Ulrike : Zeitbilder 7 & 8. Geschichte und Sozialkunde, Politische Bildung, Wien 2006, S. 198–225. 23 Ebd., S. 126. 24 Staudinger, Eduard/Scheucher, Alois/Ebenhoch, Ulrike/Scheipl, Josef : Zeitbilder 7 & 8. Geschichte und Sozialkunde, Politische Bildung, Wien 2012, S. 173. 25 Pokorny, Hans/Pokorny, Regina/Lemberger, Michael : netzwerk@geschichte 8, Linz 2010, S. 26. 26 Melichar, Franz/Plattner, Irmgard/Rauchegger-Fischer, Claudia : GO ! Geschichte Oberstufe 7, Wien 2013, S. 117. 27 Vgl. u. a. : Vogel, Bernd/Wallner-Strasser, Birgit : Durch die Zeiten 4. Geschichte 4. Klasse, Wien 2007, S. 100. Auch »Go ! Geschichte Oberstufe 7« bringt die Ikone, auf der Horn und Mock den Draht
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Bevor nun jedoch die Funktion dieser Ikone im österreichischen Kontext und als mediatisierte Geschichte näher betrachtet wird, ist es angebracht, auch einen Blick in die derzeit gültigen Lehrpläne zu werfen. Letztlich müsste man bei approbierten Schulbüchern, also bei Lehrmittel, welche eine offizielle Genehmigung für den Einsatz im Unterricht seitens des Bundesunterrichtsministeriums erhalten haben,28 davon ausgehen können, dass auch die Lehrpläne für den Geschichtsunterricht einen Einflussfaktor für die derzeitige Situation darstellen. Durchsucht man die österreichischen Lehrpläne der Sekundarstufe I sowie der gymnasialen Sekundarstufe II, so zeigt sich, dass dort der prinzipielle Rahmen einer Thematisierung von 1989 gelegt wäre. Dies hängt mit den offenen normativen Vorgaben in den im gesamten Bundesgebiet gültigen Lehrplänen zusammen, welche von den österreichischen Lehrer/ inne/n und Schulbuchverlagen individuell ausgelegt werden können, wenngleich das Jahr 1989 selbst nicht erwähnt wird. Dadurch wird einmal mehr deutlich, dass »1989« in der schulischen Zeitgeschichte noch nicht den Rang anderer Schlüsseljahre (wie etwa 1918 oder 1945) erreicht hat und somit in der Tradition der bereits oben präsentierten Zeitgeschichtsschreibung steht.29
III. Ikonen als medial reproduzierte » goldene Erinnerungsorte« Dass das Foto der beiden Minister an der ungarischen Grenze, die den Zaun aufschneiden, als ein bestimmter Typus von Fotografie zur Ikone erstarren konnte, als österreichische Chiffre für 1989, für das Ende des Kalten Krieges und das damit verbundene Ende des »Eisernen Vorhanges«, kann interpretativ eng an das Vorhandensein jenes österreichischen Mythos gebunden werden, der sich in den Nachkriegsjahren in der Zweiten Republik etablierte und als »Brückenmythos« bezeichnet wird. Dieser wurde sowohl in der Literatur als auch in der populären Geschichtsschreibung (etwa in Fremdenführern oder Österreich-Büchern) zum oft wiederhol-
zerschneiden, aus dem Jahr 1989. Weitere Ereignisse rund um das Geschehen werden jedoch nicht berücksichtigt. Melichar, F./Plattner, I./Rauchegger-Fischer, C. 2013, S. 88 ; Wald, A./Studinger, E./ Scheucher, A. et al. 2006, S. 126 ; Staudinger, E./Scheucher, A./Ebenhoch, U./Scheipl, J. 2012, S. 173 ; Donhauser, G./Memminger, J./Steidl, H./Wiesnger, B. N. 2009, S. 103. 28 Vgl. zum österreichischen Schulbuchmarkt und seinem Kontext : Kühberger, Christoph/Windischbauer, Elfriede : Schulbücher in Österreich, in : Inventing the EU. Zur De-Konstruktion von »fertigen Geschichten« über die EU in deutschen, polnischen und österreichischen Schulgeschichtsbüchern, Schwalbach/Ts. 2009, S. 18–24. 29 Lehrpläne der Sekundarstufe I, http://www.cisonline.at/fileadmin/kategorien/BGBl_Nr_II_290_2008polit-Bildung.pdf (online am 10. Juli 2013) ; Lehrplan gymnasiale Sekundarstufe II, http://www.bmukk. gv.at/medienpool/11857/lp_neu_ahs_05.pdf (online am 10. Juli 2013).
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ten Motiv,30 das jene Topoi aufgriff, auf welche man sich in Österreich auch in den europäischen Umbruchsjahren um 1989 gerne zurückzog : »Österreich als Land mit einem immensen kulturellen Erbe, das am Schnittpunkt von Ost und West liegt, wodurch eine Brückenfunktion gegeben ist. Österreich als Hort des Friedens und der Vermittlung.«31 1989 schien Österreich damit auch außenpolitisch eine neue Position einzunehmen, welche nicht mehr randständiger Natur war, und man entkam der Peripherie des Westens.32 Man entledigte sich damit aber auch geschickt des älteren Bollwerk-Mythos, der Österreich lange Zeit als »Grenzfeste des christlichen Abendlandes gegen den Osten, von den Awareneinfällen bis zum Kommunismus«33 inszeniert hatte, ein Motiv, das eigentlich nur noch von der politischen Rechten aufgegriffen wird (vgl. FPÖ-Comic aus dem Jahr 2009)34. Betrachtet man die Bilder rund um die Grenzöffnung genau, zeigt sich die politische Inszenierung in aller Deutlichkeit. Durch die Parallelisierung des Endes des OstWest-Konflikts mit dem Durchschneiden des Stacheldrahtes als Pars pro Toto für den Eisernen Vorhang durch die Politiker der benachbarten Staaten und Regionen wurde eine bildliche symbolische Geste gesetzt, die auf eine Handlung am 27. Juni 1989 zwischen dem österreichischen Außenminister Alois Mock und seinem ungarischen Amtskollegen Gyula Horn an der österreichisch-ungarischen Grenze zurückgeht und im Anschluss als mediale Inszenierung von deutschen, tschechoslowakischen und österreichischen Politikern an den jeweiligen Grenzen wiederholt wurde.35 Dabei entsprechen derartige Bilder, die durch die Medien- und Geschichtskultur zu Ikonen stilisiert werden, eindeutig den typischen Merkmalen einer bildlichen Ästhetisierung, welche über das Visuelle die diskursive gesprochene und geschriebene Kommunikation verdrängt. Rationale Verständigung und kritischer Diskurs werden dabei zugunsten einer visuellen Eigenlogik ausgeblendet, und es hat den Anschein, als ob das 30 Vgl. Koth, Markus : Das Österreichbild in den literarischen Werken Jörg Mauthes – ein Beitrag zur Identitätsgeschichte der Zweiten Republik, Wien 2008 (ungedruckte Dissertation), S. 52. 31 Ebd. 32 Vgl. Brix, Emil : Die Mitteleuropapolitik von Österreich und Italien im Revolutionsjahr 1989, in : Gehler, Michael/Guiotto, Maddalena (Hg.) : Italien, Österreich und die Bundesrepublik Deutschland. Ein Dreiecksverhältnis in seinen wechselseitigen Beziehungen und Wahrnehmungen von 1945/49 bis zur Gegenwart (Historische Forschungen 8), Wien 2012, S. 455–467. 33 Hanisch, Ernst : Das Erbe Österreichs (Manuskript für einen Vortrag, gehalten bei der Auslandskulturtagung in Wien am 3. September 2000), zitiert nach : http://www.demokratiezentrum.org/fileadmin/media/pdf/erbe_oesterreichs.pdf (online am 20. Oktober 2012). 34 Vgl. http://www.fpoe.at/fileadmin/Contentpool/Portal/PDFs/EUWahl09/comic_web.pdf (online am 10. April 2013). 35 Mayrhofer, Petra : Visualisierung von Inklusion und Exklusion in EU-Europa, in : Diendorfer, Gertraud/Uhl, Heidemarie (Hg.) : Europäische Bilderwelten. Visuelle Darstellungen EU-Europas aus österreichischer Perspektive (Schriftenreihe des Dokumentationszentrums Wien 1), Innsbruck/Wien/ Bozen 2009, S. 157–171, hier S. 163.
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Bildliche eine besondere Art der Wahrheit vermitteln würde.36 Letztlich zeigt sich in der hier besprochenen Ikone am »Eisernen Vorhang« eine ästhetisierte Politik, in der politisches Handeln »im schillernden Sinn anschaulich« wird.37 Vermutlich offenbart sich in der Arbeit mit derartigen Bildern ein Zugang zum historischen Lernen, der auch bei anderen bildmächtigen Inszenierungen in der Zeitgeschichte vernünftigerweise zum Einsatz kommen könnte, nämlich der, die fotografische Ikone als historischen Kristallisationspunkt, als narrative Abbreviatur eines Veränderungsprozesses wahrzunehmen. Die besondere Funktion derartiger Bilder vergangenen Geschehens liegt nach Reinhard Krammer darin, dass wir sie im Kopf haben, »sie zählen zum festen Inventar unserer historischen Imagination. Es sind Bilder aus der Vergangenheit und zugleich Bilder, die wir uns von der Vergangenheit machen. Sie werden immer dann aktiviert, wenn es um bestimmte historische Ereignisse geht, die eine emotionale Saite in uns zum Schwingen bringen, die mit unseren Gefühlen, Einstellungen und Haltungen zu tun haben. Das Dargestellte erinnert an etwas, das uns auch in der Retrospektive zu bewegen und anzurühren vermag, und ruft Ereignisse oder Situationen ins Gedächtnis, denen wir Auswirkungen auf unser Leben zuschreiben. In vielen Fällen sind es [eben ; C. K.] Fotos, die diese nachhaltige Wirkung entfalten.«38
Das Bild der beiden Außenminister, die den Stacheldraht zwischen den Staaten entfernen, besaß eine derartige Wirkung, dass der Gestus eben gleich an anderen Grenzen wiederholt wurde und selbst 2007 anlässlich der Schengenerweiterung reinszeniert wurde.39 Auf diese Weise wurden anhand einer ikonischen Sujetnutzung emotionale Dispositionen, die der ursprünglichen Ikone aus dem Jahr 1989 zugeschrieben werden, auf die neue Situation übertragen, und das (neue) Bild hebt sich damit von der alltäglichen Bilderflut ab. Die historische Referenz zur Situation von 1989 wird durch die prägnante optische Qualität sowie das darin lagernde Klischeehafte erreicht, was zudem ein schnelles Wiedererkennen ermöglicht.40 36 Meyer, Thomas : Visuelle Kommunikation und Politische Öffentlichkeit, in : Münkler, Herfried/Hacke, Jens (Hg.) : Strategien der Visualisierung. Verbildlichung als Mittel der politischen Kommunikation, Frankfurt am Main 2009, S. 53–69, hier S. 55–57. 37 Ebd., S. 61. 38 Krammer, Reinhard : Über Fotos, die jeder kennt. Warum Bilder Karrieren machen, in : Bauer, JanPatrick/Meyer-Hamme, Johannes/Körber, Andreas (Hg.) : Geschichtslernen – Innovationen und Reflexionen. Geschichtsdidaktik im Spannungsfeld von theoretischen Zuspitzungen, empirischen Erkundungen, normativen Überlegungen und pragmatischen Wendungen. Festschrift für Bodo von Borries zum 65. Geburtstag (Geschichtswissenschaft 54), Kenzingen 2008, S. 162–182, hier S. 165. 39 Mayrhofer, P. 2009, S. 163. 40 Paul, Gerhard : »Mushroom Clouds«. Entstehung, Struktur und Funktion einer Medienikone des 20.
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Bei der Arbeit mit derartigen Fotos geht es darum, die Kommunikationskraft zu dechiffrieren, um einerseits auf der Ebene des Entstehungszusammenhangs die Intentionen offenzulegen, die mit der Inszenierung in Verbindung stehen, und um andererseits auf der Ebene des kollektiven Gedächtnisses einer Gemeinschaft danach zu fragen, welche historischen Narrationen sich darin ablagerten. Aus geschichtsdidaktischer Perspektive geht es daher darum, auf der einen Seite den besonderen Quellenwert und mögliche Bedeutungszuweisungen in der Vergangenheit herauszuarbeiten, auf der anderen Seite aber auch die durch die politische Kultur gesetzten und von den Medien rezipierten ikonografischen Zeichen im Zusammenhang mit dem Fall des »Eisernen Vorhangs«, welche in der Folge von einer österreichischen Geschichtskultur aufgenommen und in einer visuell verfassten historischen Narration tradiert wurden, zu hinterfragen. Es entsteht daher beim Arbeiten mit dieser Ikone ein spannungsreicher »Double Bind« zwischen notwendigen historischen Denkakten der Re- und De-Konstruktion im Umgang mit Vergangenheit und Geschichte.41 Auf der Ebene des Entstehungszusammenhangs handelt es sich im hier diskutierten Fall um ein inszeniertes Pressefoto, das eine Hoffnung und einen Aufbruch zum Ausdruck bringen möchte. Es stellt den symbolischen Kulminationspunkt einer historischen Entwicklung dar und markiert den Bruch einer Kontinuität. Die Eindringlichkeit des Bildes, welche durch den »Eisernen Vorhang« und dessen Durchtrennung durch die Nachbarn entsteht, die bei Betrachtung des Bildes ja bereits auf der gleichen Seite des Zaunes zusammenkommen, um den Fotografen und Fotografinnen ein optimales Bild zu liefern, versucht, den Prozess der Rezeption durch die Betrachter und Betrachterinnen hinsichtlich des positiv konnotierten Ereignisses zu lenken. Vergessen ist dabei auch, dass es sich um eine Inszenierung handelt, vielleicht sogar um eine komplett gestellte Szene an der ungarischen Grenze, da man ja bereits Monate vor der Aufnahme des Bildes die Grenzbefestigungen zurückgebaut hatte, wie dies auch ein aktuelles österreichisches Schulbuch betont.42 Auf der Ebene des kollektiven Gedächtnisses geht es jedoch darum, festzustellen, welche Zeichen und Symbole das Bild transportiert und welche Bedeutung dabei den einzelnen Aspekten des Bildes zugeschrieben wird. Man sollte danach fragen, welches typische Lebensgefühl einer bestimmten »Epoche« die Ikone eingefangen hat und welche Positionen, Haltungen und Überzeugungen selbst im Heute noch damit verbunden werden. Kurz : Die im Bild angelagerte und in ihm verdichtete hisJahrhunderts im interkulturellen Vergleich, in : Paul, Gerhard (Hg.) : Visual History. Ein Studienhandbuch, Göttingen 2006, S. 243–264, hier S. 243 f. 41 Vgl. Körber, Andreas/Schreiber, Waltraud/Schöner, Alexander (Hg.) : Kompetenzen historischen Denkens. Ein Strukturmodell als Beitrag zur Kompetenzorientierung in der Geschichtsdidaktik, Neuried 2007. 42 Bachlechner, Michael/Benedik, Conny/Graf, Franz/Niedertscheider, Franz/Senfter, Michael : Bausteine. Geschichte – Sozialkunde – Politische Bildung, Wien 2012, S. 86.
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torische Narration ist dazu imstande, Orientierung zu bieten und die Kohäsionskraft einer Gemeinschaft angesichts der im Bild zum Ausdruck kommenden Veränderung zu festigen.43 Derart könnte diese Ikone den produktiven Ausgangspunkt setzen, um sich mit den Schülern und Schülerinnen der Chiffre 1989 auch für Österreich zu nähern. Es wird dabei darum gehen, das transnationale Jahr 1989 zu verzeitlichen, das heißt nicht im erstarrten Querschnitt eine nationale Gesellschaft und ihre Vernetzung nach innen und außen zu sezieren, sondern über einen Längsschnitt Sichtweisen einzubringen, wie dies auch auf der Tagung »Grenzöffnung – Grenzen im Kopf – Grenzüberwindung« in Salzburg Ende 2012 versucht wurde. Solange man jedoch in der theoretischen Konzeption der österreichischen Zeitgeschichte in der Wissenschaft und beim Erstellen von Schulgeschichtsbüchern darauf verzichtet, über eine vernünftige Periodisierung nachzudenken, um diese anwendbar und kritisierbar zu machen, wird 1989 von ethnozentrischen Blicken verstellt oder als Zeitpunkt oder Chiffre an die bundesdeutsche Geschichte delegiert, die im Kanon des historischen Lernens in Österreich dann vermutlich keinen Platz finden wird. Während die deutschsprachige Geschichtswissenschaften derzeit transkulturelle und globalgeschichtliche Perspektiven als Innovation feiert, verkümmern Fragen der nationalgeschichtlichen Periodisierung, gehen gerade nicht in neuen weltgeschichtlichen Konzepten auf, sondern existieren entkoppelt neben den verschiedensten geschichtswissenschaftlichen Diskursen. In einer sich globalisierenden Welt, in der nationale und regionale Zusammenhänge nicht an Bedeutung verlieren, wird es daher konzeptioneller Anstrengungen bedürfen, um ein komplex interagierendes zeitliches und räumliches Mehr-Ebenen-System (nicht nur für die Zeitgeschichte) neu zu denken. Ob dabei 1989 für eine österreichische Perspektive ein erkenntnisbringendes Jahr im Umgang mit Vergangenheit werden wird, werden weitere Diskussionen zeigen.
43 Krammer, R. 2008, S. 177.
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Zur Konstruktion eines europäischen Gedächtnisortes Blicke auf 1989 in den Jahren 1999 und 2009
I. Gedächtnis- und Erinnerungsorte Der Bogen der revolutionären Ereignisse des Jahres 1989 spannt sich vom Massaker auf dem Platz des Himmlischen Friedens bis zum Fall der Berliner Mauer. Das europäische Staatengefüge und die weltpolitischen Konstellationen wurden in der Folge nachhaltig verändert – darüber sind sich Experten weltweit weitgehend einig. Neben den Jahren 1917 und 1945 gilt das Jahr 1989 unter österreichischen Historikern und Politologen als das Jahr, welches das 20. Jahrhundert am meisten geprägt hat, wie eine kleine Studie der Redaktionen von ZiB 2 und ORF.at Ende 2013 ergab.1 Bereits im Jahr 1990 sprach ÖVP-Politiker Andreas Khol im »Österreichischen Jahrbuch für Politik« davon, dass »aufgrund der Implosion des kommunistischen Systems im östlichen Mitteleuropa und in Teilen Osteuropas ein neuer Zeitabschnitt, ein neues Saeculum begann«2. Wolfgang Schmale meint, dass »[n]ach dem Fall der Mauer und des Eisernen Vorhangs 1989 […] eine neue historische Phase« in Europa begonnen habe, wobei jedoch zu bedenken sei, dass nicht in allen Staaten die Weichen 1989 gestellt wurden, denn insbesondere für die Nachfolgestaaten der Sowjetunion sei 1991 das bedeutendere Jahr.3 Die Bewertung dessen, welche Bedeutung konkret das Jahr 1989 für die Geschichte Europas hat, scheint also schwierig, was auch damit zu tun hat, dass sich aufgrund unterschiedlicher Biografien in Ost und West verschiedene Erinnerungen herausgebildet haben,4 nicht nur bezogen auf Deutschland. Michael Gehler kommt dennoch zu einer klaren Anerkennung der historischen Bedeutung des Umbruchs. Er spricht von einem »welthistorischen Epochenjahr« und vergleicht »1989«5 mit 1 Vgl. Wolf, Armin : Drei Daten stechen heraus, http://orf.at/stories/2211176/2211206 (online am 31. Dezember 2013). 2 Khol, Andreas : Österreich und Europa im Annus mirabilis Europae 1989, in : Khol, Andreas/Ofner, Günther/Stirnemann, Alfred (Hg.) : Österreichisches Jahrbuch für Politik 1989, Wien/München 1990, S. 813–841, hier S. 814. 3 Vgl. Troebst, Stefan : Europas geteilte Erinnerung : Wann endet(e) eigentlich die Nachkriegszeit ?, in : Der Standard vom 28. November 2008, S. 30. 4 Vgl. dazu den Beitrag von Juliane Holzheimer in diesem Band. 5 Die Anführungszeichen verweisen auf die vielfältigen Bedeutungszuschreibungen, welche aus der Jah-
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»1789« – bedeutete der Sturm der Bastille doch gleichsam wie der Fall der Berliner Mauer erst den Beginn einer Systemänderung.6 Troebst meint, dass sich andere Periodisierungsversuche, die etwa den 11. September 2001 als Beginn einer neuen Ära definieren, gegen den dominierenden »lieu de mémoire« nicht durchsetzen können.7 Was sind »Gedächtnisorte« ? Wir kennen den Begriff seit Pierre Noras siebenbändigem Werk zu den französischen »lieux de mémoire«,8 die als »Auftakt« eines Nachdenkens darüber gesehen werden können, wie »Gesellschaften nachträglich ihre Vergangenheit erleben und deuten«9. Das Konstrukt »Gedächtnisort« beschränkt sich ihm zufolge nicht nur auf topografische Punkte. Nora ging es darum, Orte, Ereignisse, Personen, Mythen und Symbole zu finden, die für die französische Identität von Bedeutung sind.10 Nach ihm haben zahlreiche Wissenschaftler mit dem Begriff gearbeitet und nach italienischen, deutschen und österreichischen sowie auch nach lokalen und regionalen »Gedächtnisorten« gesucht beziehungsweise solche identifiziert. Nora hat zweifellos eine Lawine losgetreten und gleichsam eine neue Forschungstradition begründet, womit alle Klagen über den »Verlust der Geschichte«11 verstummten.12 Für deren Erfolg war, wie Pim den Boer, Heinz reszahl ein Schlagwort machten, mit dem mehr verbunden wird als diverse Daten von historischen Ereignissen. 6 Vgl. Gehler, Michael : Kein Ende der Geschichte : Das Epochenjahr 1989, in : Die Presse vom 30. September 2009, S. 30. Auch Herrmann Rudolph zieht diesen Vergleich, vgl. Rudolph, Hermann : 9. November 1989 : Ein Sprung der Geschichte, in : François, Etienne/Puschner, Uwe (Hg.) : Erinnerungstage, Wendepunkte der Geschichte von der Antike bis zur Gegenwart, München 2010, S. 371–388. Der 14. Juli 1789 wurde in Frankreich als »Gedächtnisort« institutionalisiert, indem der 14. Juli im Jahr 1880 zum Nationalfeiertag erklärt wurde, vgl. Amalvi, Christian : Le 14 juillet, in : Nora, Pierre (Hg.) : Les lieux de mémoire, Bd. 1 : La République, Paris 1984, S. 421–472. 7 Vgl. Troebst, Stefan : Europas geteilte Erinnerung : Wann endet(e) eigentlich die Nachkriegszeit ?, in : Der Standard vom 28. November 2008, S. 30. Die Bezeichnungen für die Ereignisse des Jahres 1989 sind äußerst vielfältig. Ralf Dahrendorf unterstreicht die Bedeutung des Jahres 1989, indem er von einer »europäischen Revolution« spricht, vgl. Dahrendorf, Ralf : Betrachtungen über die Revolution in Europa in einem Brief, der an einen Herrn in Warschau gerichtet ist, 2. Aufl., Stuttgart 1990, S. 26. Hans-Dietrich Genscher meint, es habe sich um eine »europäische Freiheitsrevolution« gehandelt, vgl. Genscher, Hans-Dietrich : »Europäische Freiheitsrevolution«, in : Profil vom 22. Juni 2009, S. 90 f. Vgl. hierzu auch den Beitrag von Felicitas Söhner in diesem Band. 8 Nora, Pierre (Hg.) : Les lieux de mémoire, 7 Bände, Paris 1984–1992. 9 François, Etienne/Puschner, Uwe : Warum Erinnerungstage, in : François, Etienne/Puschner, Uwe (Hg.) : Erinnerungstage. Wendepunkte der Geschichte von der Antike bis zur Gegenwart, München 2010, S. 13–24, hier S. 16, zitierend : Rousso, Henry : La hantise du passé, Paris 1998, S. 13. 10 Vgl. Nora, Pierre : Zwischen Geschichte und Gedächtnis, Frankfurt am Main 1998, S. 40. 11 Vgl. Heuss, Alfred : Verlust der Geschichte, Göttingen 1959. 12 Münch, Paul : Einleitung, in : Münch, Paul (Hg.) : Jubiläum, Jubiläum … Zur Geschichte öffentlicher und privater Erinnerung, Essen 2005, S. 7–25, hier S. 7.
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Duchhardt, Georg Kreis und Wolfgang Schmale in ihrer Einleitung zum dreibändigen Sammelband »Europäische Erinnerungsorte« betonen, das »Zusammentreffen gleich mehrerer turns in den Geisteswissenschaften verantwortlich : die generelle Hinwendung zu kulturalistischen Fragestellungen, das neue Gewicht, das die Gedächtnisforschung in genere gewann, nicht zuletzt die – schon etwas ältere – Mentalitätsgeschichte, vor allem in ihrer Variante, wie Gesellschaften über ihr eigenes Werden und ihre Signaturen nachdenken.«13
Nora sah in den »lieux de mémoire«, die in den von ihm herausgegebenen Bänden beschrieben wurden, mehr als eine Verteidigung von nationalen Mythen und Symbolen. Daher war es wohl nur eine Frage der Zeit, dass Wissenschaftler zu überlegen begannen, ob dieses Konzept nicht auf eine transnationale Perspektive umgelegt werden könne. Jacques Le Rider, Moritz Csáky und Monika Sommer versuchten bereits 2002, transnationale »Gedächtnisorte« zu definieren, und meinten, dass »die in Erinnerungsorten versammelten Identifikatoren prinzipiell von transnationaler Provenienz und Relevanz sind – trotz der Tatsache, dass sie immer wieder national vereinnahmt wurden und werden«.14 2012 erschien schließlich auch ein dreibändiger Sammelband zu »europäischen Erinnerungsorten«, in denen »Gedächtnisorte mit einer europäischen Relevanz« untersucht wurden, »also symbolische Orte, die für den ganzen Kontinent oder doch große Teile von ihm von Belang waren in dem Sinn, dass man in ihnen etwas Gemeinsam-Verbindendes sah, etwas, das für das Konstrukt einer europäischen Identität als wesentlich angesehen wurde«.15 Die Herausgeber schreiben in ihrer Einleitung, dass es ihnen nicht darum gegangen sei, »einen verbindlichen ›Kanon‹ zu entwerfen«, und dass die vorgelegte Sammlung anregen solle, »über weitere Lemmata nachzudenken, denen die Dignität eines europäischen Erinnerungsorts eignen könnte«.16 Genau dies ist das Ziel der folgenden Untersuchung, die damit der prinzipiellen Frage, ob sich europäische »lieux de mémoire« finden lassen, die nicht nur aus einem nationalstaatlichen Vergleich oder einer Addition von nationalen »Gedächtnisorten« konstruiert werden, sondern konstitutive Faktoren einer spezifisch europäischen »Gedächtniskultur« sind,17 anhand eines konkreten Falles nachgeht. Dabei wird von der 13 Boer, Pim den/Duchhardt, Heinz/Kreis, Georg/Schmale, Wolfgang : Einleitung, in : Boer, Pim den/Duchhardt, Heinz/Kreis, Georg/Schmale, Wolfgang (Hg.) : Europäische Erinnerungsorte 2. Das Haus Europa, München 2012, S. 9–14, hier S. 9. 14 Le Rider, Jacques/Csáky, Moritz/Sommer, Monika : Vorwort, in : Le Rider, Jacques/Csáky, Moritz/ Sommer, Monika (Hg.) : Transnationale Gedächtnisorte in Zentraleuropa (Gedächtnis – Erinnerung – Identität 1), Innsbruck/Wien/München/Bozen 2002, S. 7–11, hier S. 8. 15 Boer, P./Duchhardt, H./Kreis, G./Schmale, W. 2012, S. 10. 16 Ebd., S. 13. 17 Vgl. Funke, Peter : Europäische lieux de mémoire oder lieux de mémoire für Europa im antiken Griechenland, in : Jahrbuch für Europäische Geschichte 3 (2002), S. 3–16, hier S. 10.
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These ausgegangen, dass sich das Jahr 1989 prinzipiell als »transnationaler Gedächtnisort« eignet, zumal die politischen Umwälzungen nicht nur die Ebene eines Nationalstaates betrafen und sich die jeweils nationalstaatlich spezifischen Entwicklungen gegenseitig beeinflussten. 1989 brachte außerdem eine Wende transnationaler Deutungs- und Identifikationsangebote. Wie Kerstin von Lingen meint, erodierten die nationalen Kriegsgedächtnisse und die daraus gebildeten Gründungmythen.18 »Erst nach der Wende von 1989 ist die Erinnerung an den Holocaust in das Zentrum nicht nur der Erinnerungskultur einzelner Länder, sondern eines europäischen Gedächtnisses gerückt.«19 Günther Lottes gibt darüber hinaus zu bedenken, dass uns auch »die Suche nach europäischen Erinnerungsorten zu einem Zeitpunkt zu beschäftigen beginnt, da Europa erstmals in seiner Geschichte […] auf dem Wege zu sein scheint, stabile kooperative, ja gesamtstaatliche Strukturen hervorzubringen«20. 1989 bietet sich also auch als Ausgangspunkt für die Konstruktion einer europäischen Identität an und kann daher – so die These – als »lieu de mémoire« beschrieben werden. Allerdings ist zu berücksichtigen, dass die historischen Einschätzungen der Folgen der Umbrüche, die 1989 ihren Ausgang nahmen, in verschiedenen Staaten sehr unterschiedlich ausfallen. So zeigte etwa eine 2008 durchgeführte statistische Erhebung in Polen, der Tschechischen Republik und Ungarn, dass nur in Polen und der Tschechischen Republik eine positive Bewertung des Systemwechsels nachzuweisen ist, während es in Ungarn keine eindeutige Position gibt.21 Von einer gemeinsamen europäischen Narration in Bezug auf das Jahr 1989 ist also nicht auszugehen. Dies ist jedoch kein Hinderungsgrund für die Beimessung von Bedeutung, auch wenn diese dann mit einer nationalstaatlichen Sicht aufgeladen wird. So wird etwa auch der Holocaust sehr unterschiedlich bewertet, doch wohl kaum jemand würde dessen Bedeutung als Zäsur im 20. Jahrhundert infrage stellen. Wenn wir »1989« als »europäischen Gedächtnisort« betrachten, geht es vielmehr »um historische Zusammenhänge und langfristige Wirkungen von Verflechtungen und kulturellen Transfers«.22 Im Gegensatz zu einem ländervergleichenden Ansatz fokussiert die folgende Analyse auf die Frage, inwiefern dem Jahr 1989 in Österreich (gesamteuropäische 18 Lingen, Kerstin von : Kriegserfahrung und die Formierung nationaler Identität in Europa nach 1945. Eine kurze Einführung, in : Lingen, Kerstin von (Hg.) : Kriegserfahrung und nationale Identität in Europa nach 1945. Erinnerung, Säuberungsprozesse und nationales Gedächtnis (Krieg in der Geschichte 49), Paderborn/München/Wien/Zürich 2009, S. 11–26, hier S. 25. 19 Schmale, W. 2013, S. 155. 20 Lottes, Günther : Europäische Erinnerung oder europäische Erinnerungsorte ?, in : Jahrbuch für Europäische Geschichte 3 (2002), S. 81–92, hier S. 81. 21 Vgl. Rathkolb, Oliver : 1989 – ein vielstimmiger Erinnerungsort im Europäischen Erinnerungsraum, in : Der Donauraum 3–4/49 (2009), S. 355–362, hier S. 357 f. 22 Wolfgang Schmale bezeichnet daher auch Jerusalem, Armenien und Marokko als »europäische Erinnerungsorte«, vgl. Schmale, W. 2013, S. 11.
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bzw. transnationale) Bedeutung beigemessen wird. Sie konzentriert sich23 – der Unterscheidung von Aleida Assmann folgend – auf das »kollektive Gedächtnis«, nicht auf das »kommunikative«.24 Im Speziellen geht es um ein »politisches Gedächtnis«, das im »Unterschied zum Familiengedächtnis, zum Gedächtnis der Religionen und Kirchen, des Bildungssystems, der Berufsvereinigungen, der Sportclubs und der anderen Teilsysteme und Organisationen der Gesellschaft […] in einem nachdrücklichen Sinn der Gegenstand und das Ergebnis öffentlicher Aushandlungen« sowie im »Unterschied zum kommunikativen Gedächtnis […] mediengestützt« ist. »Das politische Gedächtnis manifestiert sich in Denkmalen, Jahrestagen, Feiern, Ritualen, Symbolen«.25 Gegenstand der Analyse ist ein »kollektives Gedächtnis«, bei dem der Vergangenheitsbezug immer ein öffentlicher, offizieller und generalisierter ist, während die »persönlichen Erinnerungen« individuell und privat sind.26 Es geht in der Folge also, um mit Susan Sontag zu sprechen, um die Betrachtung einer Gedächtnisform, die »nicht auf Erinnerung [beruht], sondern auf einer Verabredung«,27 also um die Konstruktion eines »Gedächtnisses« für eine Gemeinschaft. Dabei ist zu bedenken, dass das, »was als Gedächtnis einer bestimmten Gruppe gelten soll, […] immer selektiv, umstritten und gegenwartsgebunden ist«28. Die Studie wählt damit einen spezifischen Blick und untersucht die Konstruktion eines »Gedächtnisorts«, nicht die eines »Erinnerungsorts«.29 Die beiden Begriffe werden in der Literatur oft gleichgesetzt, allerdings ist zu konstatieren, dass die deutsche Sprache die Gelegenheit zur Differenzierung für zwei unterschiedliche Phänomene bietet, die genutzt werden sollte. Das »Digitale Wörterbuch der deutschen Sprache«30 definiert die »Erinnerung« als Teil des »Gedächtnisses«, als »Fä23 Vgl. im Gegensatz dazu die Analyse von Christoph Kühberger in diesem Band. 24 Vgl. Assmann, Aleida : Vier Formen des Gedächtnisses, in : Erwägen Wissen Ethik. Deliberation Knowledge Ethics 1/13 (2002), S. 183–190, hier S. 186–189. 25 König, Helmut : Das Politische des Gedächtnisses, in : Gudehus, Christian/Eichenberg, Ariane/Welzer, Harald (Hg.) : Gedächtnis und Erinnerung. Ein interdisziplinäres Handbuch, Stuttgart/Weimar 2010, S. 115–125, hier S. 115. 26 Vgl. Assmann, Aleida : Der lange Schatten der Vergangenheit. Erinnerungskultur und Geschichtspolitik, München 2006, S. 33–36. 27 Sontag, Susan : Regarding the Pain of others, New York 2003, S. 85 f., zitiert nach : Assmann, A. 2006, S. 29. 28 Simon, Vera Caroline : Gefeierte Nation. Erinnerungskultur und Nationalfeiertag in Deutschland und Frankreich seit 1990 (Campus Historische Studien 53), Frankfurt am Main/New York 2010, S. 26. 29 Sie unterscheidet sich damit etwa vom Ansatz Schmales, der meint, dass sich »Erinnerungsorte« auf der Basis von Erzählungen konstruieren, »die immer auch Erinnerungen darstellen«. Vgl. Schmale, W. 2013, S. 11 f. 30 Das Projekt der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften hat zum Ziel, das verfügbare lexikalische Wissen der bisher erschienenen großen Wörterbücher zusammenführen und zu aktualisieren.
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higkeit, Vergangenes durch das Gedächtnis in der Vorstellung wieder zu beleben«, als »Reservoir, Speicher der aufgenommenen Sinneseindrücke, des Erlernten« sowie als ein »im Gedächtnis bewahrter Eindruck«.31 Der Begriff des »Gedächtnisses« reicht demnach weiter, er ist dem Wörterbuch zufolge zu definieren als »Fähigkeit des Gehirns, die die Speicherung von Lernstoff, Eindrücken, Erlebnissen und Erfahrungen und die Reproduktion derselben zu einem späteren Zeitpunkt möglich macht«32. Man kann also definieren – und dies ist die Grundannahme der folgenden Ausführungen –, dass der Begriff des »Gedächtnisses« auch die Gefühlswelt, die Interpretation und Gewichtung von Vergangenem umfasst und somit stark in die Zukunft gerichtet ist.33 Die Analyse fragt also nicht nach den persönlichen »Erinnerungen« an »1989«, sondern danach, inwiefern »1989« Teil des »kollektiven Gedächtnisses« wurde. Nora verwies darauf, dass auch bestimmte Jahreszahlen einen besonderen Platz im »Gedächtnis« von Kollektiven einnehmen.34 Dabei gehe es oft um Ereignisse, die »mit einem stark symbolischen Sinn geladen sind und bereits im Augenblick des Geschehens als ihre vorweggenommene Jubelfeier erscheinen«35. Die Konstruktion solcher »Gedächtnisorte« hat darüber hinaus viel mit der sogenannten »Magie der runden Zahl« zu tun – auch die Tagung »Grenzöffnung – Grenzen im Kopf – Grenzüberwindung. Österreich 1989 : Innen- und Außenperspektiven«, die diesem Band zugrunde liegt, fiel hier nicht aus dem Rahmen, haben sich die Veranstalter doch nicht zufällig für das Wochenende um den 9. November entschieden. Die Frage der Bedeutung von Jubiläen für nationale Identitäten scheint abgesehen von wenigen Ausnahmen, in denen weniger intensiv als von manchen erwartet »gefeiert« wurde,36 weitgehend geklärt. In der Hoffnung auf Stärkung eines nationalen Bewusstseins betreibt der Staat 31 http://www.dwds.de/?qu=Erinnerung&view=1 (online am 28. Dezember 2012). 32 http://www.dwds.de/?qu=Ged%C3%A4chtnis&view=1 (online am 28. Dezember 2012). 33 Die dieser Untersuchung zugrunde liegende Unterscheidung wendet sich damit auch gegen jene von Martin Sabrow, der meint, dass der Begriff »lieu de mémoire« deshalb als »Erinnerungsort« in die deutsche Sprache übernommen worden sei, da die »Erinnerung« anders als die Begriffe »memoria« und »Gedächtnis« »eine sprachliche Parteinahme für die Vergangenheitsvergegenwärtigung und gegen die Vergangenheitsabkehr« impliziere. Sabrow, Martin : Die DDR erinnern, in : Sabrow, Martin (Hg.) : Erinnerungsorte der DDR, München 2009, S. 11–27, hier S. 24. 34 Manchmal sind es, wie im Falle des Staatsvertrages von Wien, auch ganz bestimmte Daten, vgl. Wegan, Katharina : Gedächtnisort : Staatsvertrag. Über österreichische Eigenbilder zum Staatsvertragsjubiläum …, in : Csáky, Moritz/Zeyringer, Klaus (Hg.) : Inszenierungen des kollektiven Gedächtnisses. Eigenbilder, Fremdbilder, Innsbruck 2002, S. 193–219. 35 Nora, P. 1998, S. 37. 36 Vgl. dazu etwa die Verwunderung von Ernst Bruckmüller über die ausgebliebenen Feiern im Jahr 1995 (fünfzig Jahre Zweite Republik, vierzig Jahre Staatsvertrag) : Bruckmüller, Ernst : Nation Österreich. Kulturelles Bewusstsein und gesellschaftlich-politische Prozesse (Studien zu Politik und Verwaltung 4), 2., ergänzte und erweiterte Aufl., Wien/Köln/Graz 1996, S. 9.
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hier bewusst Geschichtspolitik mittels der Förderung von Ausstellungsprojekten, Publikationen, Festveranstaltungen und dergleichen. Doch wie verhält es sich mit überstaatlichen Jubiläen ? Gibt es solche und, wenn ja, wie werden diese »gefeiert« ? Die Suche nach dem »Gedächtnisort 1989« ist also eine Suche nach Jubiläums feiern,37 denn es ist davon auszugehen, dass »Gedächtnisorte« nicht nur von wissenschaftlichen Eliten als solche wahrgenommen werden, sondern auch eine breitere gesellschaftliche Akzeptanz beziehungsweise Aufmerksamkeit erfahren. Um »Denkmäler in der Zeit«38 zu schaffen, bedarf es einer regelmäßigen Vergegenwärtigung des vergangenen Ereignisses, womit das »geschichtliche Ereignis in ein ›historisches‹ Ereignis verwandelt wird, das eine Zäsur markiert«.39 Insofern ist hinsichtlich des »Gedächtnisortes 1989« nicht nur nach dem wissenschaftlichen Diskurs zu fragen, sondern auch nach einem öffentlichen beziehungsweise medialen (wenn wir als Grundthese annehmen, dass unsere Gesellschaft in der betreffenden Zeitspanne stark von Medien geprägt war und ist)40. Für diese öffentliche/mediale Wahrnehmung sind auch bewusst gesetzte politische Akte beziehungsweise Inszenierungen wesentlich, mittels derer auch ein »Wieder-holen mittels Wiederholungen [stattfindet], sodass das, was wiederholt wird, letztlich die Wiederholung selbst ist. Es wird, mit anderen Worten, nichts Substantielles zurückgeholt, sondern vielmehr ein öffentlicher, allgemein zugänglicher Zeit-Raum der organisierten Wiederkehr von Vergangenheit geschaffen.«41
Bei genauerer Betrachtung der Medienberichterstattung zeigt sich – zumindest für Österreich, dessen Medien in der Folge analysiert werden – vielfach eine Verbindung zwischen wissenschaftlichen Veranstaltungen, Aufarbeitungen der Vergangenheit, die an eine breitere Öffentlichkeit gerichtet sind (an dieser Stelle werden museale Präsentationen in den Blick genommen), sowie politischen »Wir-Inszenierungen«.
37 Analysiert werden an dieser Stelle die beiden »runden« Jubiläen 1999 und 2009. Das 25-jährige Jubiläum im Jahr 2014 fällt mit dem 100. Jubiläum des Beginns des Ersten Weltkriegs zusammen, weshalb keine ganz so intensive Auseinandersetzung zu erwarten ist. Erste Medienrückblicke auf »1989« sind dennoch schon erschienen, vgl. u. a. Busek : »Ich habe das Knistern der Geschichte gehört«, in : Kurier vom 2. März 2014, S. 18 f. 38 Vgl. Assmann, Aleida : Jahrestage – Denkmäler in der Zeit, in : Münch, Paul (Hg.) : Jubiläum, Jubiläum … Zur Geschichte öffentlicher und privater Erinnerung, Essen 2005, S. 305–314. 39 François, E./Puschner, U. 2010, S. 20. 40 Untersuchungen zeigen, dass auch die Ereignisse von 1989 selbst von den Massenmedien stark beeinflusst wurden, vgl. u. a. Bösch, Frank : Medien als Katalysatoren der Wende ? Die DDR, Polen und der Westen 1989, in : Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung 4/59 (2010), S. 459–471. Vgl. dazu auch den Beitrag von Helmut Wohnout in diesem Band. 41 Assmann, A. 2005, S. 310.
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II. Gedächtnis befeiert 42 1. Wissenschaftliche Auseinandersetzungen mit »1989« Die Zunft der Historiker hat, das zeigte etwa die Betrachtung verschiedener Ereignisse im Band »Erinnerungstage« deutlich, einen wichtigen Anteil daran, dass aus einem geschichtlichen Ereignis ein »historisches« wird. »Weit davon entfernt, die Gedächtniskonstruktion kritisch zu überprüfen und in Frage zu stellen, agieren sie in den meisten Fällen«, so Etienne François und Uwe Puschner, »als Verbündete und Helfershelfer des Gedächtnisses«.43 Wissenschaftliche Auseinandersetzungen mit den Ereignissen des Jahres 1989 finden sich sowohl im Jahr 1999 als auch im Jahr 2009 zahlreiche. Die frühe intensive wissenschaftliche Beschäftigung mit der Bedeutung der Geschehnisse verweist auf den hohen Symbolgehalt, der von Beginn an mit diesem Jahr verbunden war. Doch stellt sich die Frage, inwiefern »1989« in seiner transnationalen Dimension untersucht wurde, inwiefern es durch den wissenschaftlichen Austausch zu einer Konstruktion eines nicht nur »nationalen«, sondern »europäischen Gedächtnisorts« kam. Als Voraussetzung ist zu bedenken, dass das Jahr 1989 auch eine Veränderung von wissenschaftlichen Zugängen brachte. Insbesondere die Möglichkeiten, »europäische« Geschichte zu schreiben und »neue, gesamteuropäische Perspektiven auf die Jahrzehnte seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges«44 zu entwickeln, wurden erweitert, was darauf zurückzuführen ist, dass sich die »mental maps«, also die Vorstellungen vom Raum Europa, gewandelt haben.45 Bernd Florath argumentiert im Band zur 2009 ausgerichteten Tagung »Das Revolutionsjahr 1989. Die demokratische Revolution in Osteuropa als Zäsur der europäischen Geschichte« im Rahmen des »Geschichtsforums 1989/2009. Europa zwischen Teilung und Aufbruch«, dass das Jahr 1989 eine »transnationale Zäsur« darstellt,46 zumal die Umwälzungen alle ineinandergriffen. Doch stellt sich die Frage, ob sich in den Jahren
42 Die folgende Darstellung hat keine vollständige Auflistung aller Veranstaltungen zum Ziel, die sich mit »1989« auseinandersetzten. Vielmehr sollen einige Trends aufgezeigt werden. 43 François, E./Puschner, U. 2010, S. 23. 44 Liebhart, Karin : Politisches Gedächtnis und Erinnerungskultur – Die Bundesrepublik Deutschland und Österreich im Vergleich, in : Gehler, Michael/Böhler, Ingrid (Hg.) : Verschiedene europäische Wege im Vergleich. Österreich und die Bundesrepublik Deutschland 1945/49 bis zur Gegenwart. Festschrift für Rolf Steiniger zum 65. Geburtstag, Innsbruck/Wien/Bozen 2007, S. 468–490, hier S. 482. 45 Vgl. Kaelble, Hartmut : Europäische Geschichte aus westeuropäischer Sicht ?, in : Budde, Gunilla/ Conrad, Sebastian/Janz, Oliver (Hg.) : Transnationale Geschichte. Themen, Tendenzen und Theorien, Göttingen 2006, S. 105–116, hier S. 105. 46 Vgl. Florath, Bernd : Das Revolutionsjahr 1989. Die demokratische Revolution in Osteuropa als transnationale Zäsur (Analysen und Dokumente 34), Göttingen 2011.
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1999 und 2009 auch bereits »spezifisch europäische Gedenkveranstaltungen«47 ausmachen lassen. Beispielhaft erwähnt sei die Tagung »Zurück nach Europa – Wie geht es weiter ?«,48 die am 18. Oktober 1999 im Radio Kulturhaus in Wien stattfand. Ziel der Veranstaltung, an der unter anderem Thomas Klestil und Erhard Busek teilnahmen, war es, über europäische Integrationsbestrebungen zu diskutieren. In zahlreichen Vorträgen wurde die globale Verantwortung von Europa hinsichtlich der Kreation einer gemeinsamen Zukunft und von Demokratie betont. Auffallend war die Begrüßungsrede von Manfred Jochum (damals Rundfunkintendant), der speziell die geografische Sonderrolle Österreichs für die Herausforderung der EU-Erweiterung betonte.49 Es zeigte sich hier also – trotz des eindeutigen Tagungsthemas – ein deutlich nationaler Blick, der durch die rege Teilnahme von österreichischen Politikern verstärkt wurde, wenngleich auch nach Kooperationsprojekten, etwa im kulturellen Bereich, gefragt wurde.50 Es sollte zahlreiche ähnliche Veranstaltungen geben : Viele internationale Spitzenpolitiker, wie Václav Havel, Alexander Kwaśniewski und Viktor Orbán, sowie der damalige Bundeskanzler Viktor Klima versammelten sich im Juni 1999 zur Tagung »Zehn Jahre nach 1989 : Politik, Ideologie und die internationale Ordnung«, die vom Institut für die Wissenschaft vom Menschen organisiert worden war.51 Das Grazer Ludwig-Bolzmann-Institut veranstaltete im September 1999 die Tagung »Heißer Frieden – Kalter Krieg«, im Rahmen derer auch Alois Mock von seinen Erinnerungen an das Jahr 1989 erzählte.52 Die Beteiligung von Politikern an wissenschaftlichen Tagungen setzte sich 2009 fort, wobei insbesondere der Europakongress »Geteilt | Geeint. 1989–2009 : Aufbruch in ein neues Europa« hervorzuheben ist, der von politischen Akteuren der 47 François, Etienne : Europäische lieux de mémoire, in : Budde, Gunilla/Conrad, Sebastian/Janz, Oliver (Hg.) : Transnationale Geschichte. Themen, Tendenzen und Theorien, Göttingen 2006, S. 290–303, hier S. 292. 48 Vgl. Stingeder, Heinz (Hg.) : Zurück nach Europa – wie geht es weiter ? 18. bis 20. Oktober 1999 in Wien. Tagungsbericht (Studien des Institutes für den Donauraum und Mitteleuropa 23), Wien 2001. 49 Vgl. http://www.idm.at/publikationen/studien/122001-Zurueck-nach-Europa-Wie-geht-es-weiter--a291. html (online am 15. Dezember 2012). 50 Vgl. Wenninger, Andreas : Plenarveranstaltung : Kultur, Wissenschaft und Bildung, in : Stingeder, Heinz (Hg.) : Zurück nach Europa – wie geht es weiter ? 18. bis 20. Oktober 1999 in Wien. Tagungsbericht (Studien des Institutes für den Donauraum und Mitteleuropa 23), Wien 2001, S. 9–19. 51 Vgl. Vor zehn Jahren fiel der Eiserne Vorhang zu Ungarn, in : Wiener Zeitung vom 24. Juni 1999, S. 3 ; Was blieb vom Jahr 1989 in Europa ?, in : Die Presse vom 26. Juni 1999, S. 6 ; »Der erfolgreiche Kampf um Ideale«, in : Der Standard vom 28. Juni 1999, S. 3 ; Realisten, Revolutionäre, Provokateure : Nüchterner Blick zurück auf 1989, in : Die Presse vom 28. Juni 1999, S. 5. 52 Vgl. Kalter Krieg im Fokus, in : Wiener Zeitung vom 29. September 1999, S. 23. Zur Rolle von Alois Mock im Jahr 1989 vgl. den Text von Helmut Wohnout in diesem Band.
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Jahre 1989 und 2009 dominiert wurde und bei dem neben dem Verkünden von politischen Botschaften wie jene von Michael Spindelegger, der sich für eine rasche Heranführung der Westbalkan-Staaten an die EU aussprach,53 auch die Symbolik nicht zu kurz kam : Von den Teilnehmern wurden »Friedens«tauben vor der Hofburg in die Freiheit entlassen.54 Die Tagung markiert den Höhepunkt des wissenschaftlichen Veranstaltungsreigens in diesem Jubiläumsjahr und galt als Auftakt für Festivitäten in ganz Europa :55 Das Rumänische Kulturinstitut organisierte die Tagung »Was it or was it not ?«, die sich mit den Ereignissen des Jahres 1989 in Rumänien befasste ; eine Konferenz war dem Thema »Die Wende von 1989 in Bulgarien. 20 Jahre danach« gewidmet ; eine Tagung in Salzburg zum Thema »Revolution ? Aufbruch ? Wende ? – Europa 1989–2009« beschäftigte sich auch mit den kulturellen Initiativen nach dem Fall des Eisernen Vorhangs ;56 eine weitere in Wien widmete sich dem Thema »1989–2009 : Religion und Wende in Ostmittel- und Südosteuropa« ; eine Podiumsdiskussion trug den Titel »Die postsozialistischen Länder 20 Jahre danach – von Ost nach West ?« ; an der Wirtschaftsuniversität war eine Podiumsdiskussion der »dritten Dekade für Österreichs Ostgeschäft« gewidmet. Auch die Aktionstage Politische Bildung des Unterrichtsministeriums waren Teil des Veranstaltungsprogramms und standen unter dem Motto »1989–2009 : Meilensteine der europäischen Integration und neue Grenzen«. Die Auslandskulturtagung des Jahres 2009 befasste sich mit dem Generalthema »Grenzenlos«, was ebenso als Beitrag zu den Jubiläumsfeierlichkeiten zu verstehen war. Ein Beispiel für eine weniger von Politikern und Zeitzeugen dominierte Tagung war die von der Österreichischen Akademie der Wissenschaften veranstaltete internationale Konferenz »The Revolutions of 1989«57. Dass diese umfangreiche Beschäftigung mit »1989« im Jahr 2009 zu bedeutenden neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen führte, wird jedoch bezweifelt. Der Publizist und Historiker Karl Schlögel meinte etwa : »[E]s war vor allem ein nochmaliges Durchleben der Geschehnisse von 1989. Dass es großartige neue wissenschaftliche Erkenntnisse gegeben hätte, sehe ich nicht. Was mich 53 Vgl. Spindelegger : Westbalkan rasch an EU heranführen, APA-JOURNAL Emerging Europe vom 28. Mai 2009. 54 Vgl. Friedenstauben, in : Neues Volksblatt vom 29. Mai 2009, S. 6 ; 1989 und die Beschwörung Mitteleuropas, in : Die Presse vom 29. Mai 2009, S. 8. 55 Vgl. Klambauer, Otto : Neues Leben für die Mitteleuropa-Idee, in : Kurier vom 29. Mai 2009, S. 6. 56 Vgl. Vom Kalten Krieg zum neuen Europa, in : Salzburger Nachrichten vom 28. Mai 2009, S. 3. 57 Vgl. http://www.1989–2009.at/dateien/78_Revolutionen1989_Programm1.pdf (online am 20. Februar 2012) ; »Der Westen war nicht vorbereitet«, in : Die Presse vom 3. Oktober 2009, S. 6 ; Kugler, Martin : »Es gibt keine 89er«, in : Die Presse vom 4. Oktober 2009, S. 24 ; Ein Riesenglück namens Gorbatschow, in : Die Presse vom 5. Oktober 2009, S. 4.
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irritiert, war diese ungeheure Konzentration auf 1989 und das gleichzeitige Ausblenden des Umstands, dass wir heute zwanzig Jahre weiter sind. Ich hatte den Eindruck, man beschäftigt sich lieber mit dem abgeschlossenen Jahr 1989 als mit dem offenen Jahr 2009.«58
Dem ist entgegenzuhalten, dass trotz der Konzentration auf »1989« der Schwerpunkt vieler Veranstaltungen weniger auf den Ereignissen des Umbruchsjahres selbst lag und man sich vielmehr mit den vielfältigen Folgen befasste und insbesondere den europäischen Integrationsprozess genauer betrachtete. Bei der groß angelegten Tagung der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) »The Revolutions of 1989« wurde sogar die »Gedächtniskultur« zum Thema gemacht ; viele Vorträge, die neben dem Ablauf der Revolutionen in einzelnen Staaten unter anderem auch die Osterweiterungen von NATO und EU thematisierten, stützten sich auf bislang nicht zugängliche Dokumente ehemals kommunistischer Archive in Osteuropa.59 2. (Politische) Festakte Die Beteiligung von Politikern an zahlreichen Tagungen zeigt, dass das Thema »1989« bei diesen sehr beliebt war – man setzte sich gerne damit in Szene. Und so wundert es auch nicht, dass wissenschaftliche Auseinandersetzungen auch öfter in einem Zusammenhang mit Feierlichkeiten standen, die von politischer Seite inszeniert wurden. So erfolgte etwa im Rahmen des »Weltrechtskongresses« in Budapest und Wien im Oktober 1999 die Enthüllung eines Mahnmals im burgenländischen St. Margarethen durch Alois Mock und den »Grenzübertritts-Bürgermeister« Andreas Waha sowie Ungarns Botschafter in den USA, Geza Jeszenszky.60 Die zentrale Figur bei den diversen Feierlichkeiten war 1999 ganz klar Mock. Gemeinsam mit dem damaligen ÖVP-Europasprecher Nikolaus Berlakovich war er beispielsweise am 27. Juni 1999 – am Jahrestag der Zerschneidung des Eisernen Vorhangs durch Mock und seinen ungarischen Amtskollegen Gyula Horn – in Eisenstadt, um dort Bilanz über die Auswirkungen des Jahres 1989 auf Österreich und im Besonderen auf das Burgenland zu ziehen. Berlakovich erklärte, dass die Ostöffnung für das Burgenland sicherlich die größte Bedeutung gehabt habe.61 Mock wurde schließlich ein Stück Stacheldraht aus dem ehemaligen Eisernen Vorhang zur Erinnerung überreicht – es war sicher nicht das erste.62 58 »Putin ist zu klein für dieses Land«, in : Der Standard vom 12. Dezember 2009, S. A3. 59 Es hätte auch anders kommen können, Pressetext der ÖAW vom 21. September 2009, http://www. oeaw.ac.at/shared/news/2009/press_inf_20090921.html (online am 6. November 2012). 60 Vgl. Juristen-Weltkongress tagt in Budapest und Wien, APA-Meldung vom 1. Oktober 1999. 61 Vgl. Kroemer, Heike : »Menschen können wieder sagen, was sie denken«, in : Kurier vom 29. Juni 1999, S. 8. 62 Vgl. 1989–1999 : Zehn Jahre Fall des Eisernen Vorhanges, APA-OTS-Pressemeldung vom 28. Juni 1999.
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Im September 1999 fand aus Anlass des zehnjährigen Jubiläums der Grenzöffnung auf Schloss Weitra die Grundsteinlegung für die Errichtung einer »politischen Erlebniswelt« statt, die sich in den folgenden Jahren zum »Demokratieforum Schloss Weitra« weiterentwickeln sollte,63 in dem seit 2003 die (2012 neu konzipierte) Ausstellung »Schauplatz Eiserner Vorhang« die Geschichte Europas seit 1945 mit einem regionalen Schwerpunkt auf Niederösterreich und die Tschechische Republik in den Blick nimmt.64 Die Initiative zur Gründung eines »Vereins zur Dokumentation der Zeitgeschichte« geht auf Mock und den niederösterreichischen Landeshauptmann Erwin Pröll zurück.65 Im Anschluss an die Grundsteinlegung sprach im Rahmen einer Podiumsdiskussion zum Thema »Die Ideologie hinter dem Eisernen Vorhang. Der Kommunismus : Verbrechen, Irrweg oder Utopie ?« neben anderen abermals Mock.66 Zahlreiche weitere Festakte folgten : Am 11. Dezember 1999 feierte die SPÖ Oberösterreich beim Grenzübergang Wullowitz zum zehnjährigen Jubiläum des Beginns des Abbaus der Grenzanlagen an dieser Stelle ein kulturelles tschechischösterreichisches Begegnungsfest.67 Am 17. Dezember 1999 wurde ein Festakt »10 Jahre Fall des Eisernen Vorhanges« in Laa an der Thaya, im Rathaus sowie am Grenzübergang zu Tschechien, begangen. Unter der Leitung von Monika Lindner vom ORF diskutierten Mock, Landeshauptmann a. D. Siegfried Ludwig, Landesrat Wolfgang Sobotka sowie tschechische Vertreter von Staat und Kirche zum Thema »Eiserner Vorhang – vergessen, vorbei ?«. Im Rahmen der Feierlichkeiten wurde auch das vom Künstler Leo Schatzl gestaltete Denkmal »Hoher Zaun« enthüllt.68 Und auch außerhalb Österreichs beteiligten sich österreichische Politiker an Festakten : Am 10. September 1999 nahm etwa der damalige österreichische Bundeskanzler Viktor Klima gemeinsam mit dem damaligen deutschen Bundeskanzler Gerhard Schröder und dem ungarischen Premierminister Orbán in Budapest an einer Festveranstaltung anlässlich des 10. Jahrestags der Grenzöffnung teil.69
63 Vgl. www.weitra.at/…2009/Einladung_Plattform_Kultur_Weitra.PDF (online am 2. November 2012). 64 Vgl. Fasslabend, Werner : Das Jahr 1989 – Auftrag zur Erinnerung, in : Verein zur Dokumentation der Zeitgeschichte (Hg.) : Schauplatz Eiserner Vorhang. Europa : gewaltsam geteilt und wieder vereint, S. 14. 65 Vgl. Weitra wird zu einem »Ort der Begegnung« mit der Zeitgeschichte, APA-OTS-Pressemeldung vom 23. September 1999. 66 Vgl. Grundsteinlegung für »politische Erlebniswelt« auf Schloß Weitra, APA-OTS-Pressemeldung vom 21. September 1999. 67 Vgl. Einladung : »Vorhang auf – 10 Jahre nach Öffnung der Grenze«, APA-OTS-Pressemeldung vom 6. Dezember 1999. 68 Am 17. Dezember 1989 fiel der Eiserne Vorhang, APA-OTS-Pressemeldung vom 15. Dezember 1999. 69 Vgl. Klima erinnert an 10. Jahrestag des Grenzübertritts von DDR-Bürgern aus Ungarn nach Österreich, APA-OTS-Pressemeldung vom 19. August 1999.
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Politiker verwiesen außerdem auch abseits der klassischen Jubiläumsveranstaltungen gerne auf die Bedeutung des Jahres 1989, wie etwa der damalige Bundespräsident Klestil anlässlich des »Carinthischen Sommers 1999«70, in seiner Rede zur Eröffnung der Bregenzer Festspiele sowie in der Neujahrsansprache an das Diplomatische Korps.71 Wie 1999 blieben auch 2009 Festakte und Gedenkveranstaltungen nicht aus. Wolfgang Machreich meinte in Die Furche, dass in Österreich »mehr und freudiger dieser Revolution gedacht [werde] als in den ehemaligen Ländern des Ostblocks. Dort hat man die damals verteilten rosaroten Brillen schon lange enttäuscht abgelegt.«72 Der Höhepunkt der Feierlichkeiten an den österreichischen Grenzen fand am 26. Juni 2009 statt : Anlässlich des 20-jährigen Jubiläums der Durchschneidung des Eisernen Vorhangs durch Mock und Horn fand eine Zeremonie statt, zu der neben anderen Bundespräsident Heinz Fischer und der ungarische Präsident László Sólyom geladen waren. Über die Grenzstraße fuhr ein Konvoi von 70 bunten Trabis und in einem Festzelt sprachen schließlich neben zahlreichen Politikern Zeitzeugen zu ihren Erlebnissen in Verbindung mit der Grenzüberquerung von Ungarn nach Österreich.73 Auch an das »Paneuropäische Picknick« wurde im Rahmen einer Gedenkveranstaltung an der österreichisch-ungarischen Grenze erinnert. An den Feierlichkeiten in der Nähe von Sopron nahmen unter anderen die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel und Sólyom teil.74 Die österreichische Bundesregierung war durch Außenminister Michael Spindelegger vertreten, was für Irritationen sorgte. Im Nachrichtenmagazin NEWS war zu lesen : »Österreich, wo die EU als solche ohnehin in Diskussion ist, versäumte eine hervorragende Gelegenheit, das europäische Friedensprojekt gerade in Zeiten der Krise an einem handfesten Beispiel der kritischen Bevölkerung einmal mehr in nachdrücklicher Form nahezubringen. Ein erbärmliches Politmarketing !«75 Der Kommentar zeigt deutlich, welche Bedeutung solchen Veranstaltungen zugeschrieben wird, ein Außenminister schien nicht ranghoch genug zu sein. 70 Vgl. Eröffnungsrede von Bundespräsident Dr. Thomas Klestil anl. des »Carinthischen Sommers 1999«, 2. Juli 1999, APA-OTS-Pressemeldung vom 2. Juli 1999. 71 Vgl. Neujahrsansprache von Bundespräsident Dr. Thomas Klestil an das Diplomatische Corps am Montag, dem 11. Jänner 1999, im Zeremoniensaal der Wiener Hofburg, APA-OTS-Pressemeldung vom 11. Jänner 1999 ; Eröffnungsrede von Bundespräsident Dr. Thomas Klestil anläßlich der Bregenzer Festspiele am 20. Juli 1999, APA-OTS-Pressemeldung vom 19. Juli 1999. 72 Machreich, Wolfgang : 1989er-Gedenken anders als gedacht, in : Die Furche vom 19. März 2009, S. 12. 73 Vgl. 20 Jahre Freiheit : Dank an Ungarn, in : Wiener Zeitung vom 27. Juni 2009, S. 6 ; Symbol der Freiheit, in : Kronen-Zeitung vom 28. Juni 2009, S. 26 ; Ein Fest für einen symbolischen Akt, in : Kleine Zeitung vom 27. Juni 2009, S. 15. 74 Vgl. 20 Jahre »Paneuropäisches Picknick«, in : Wiener Zeitung vom 20. August 2009, S. 5. 75 Ein Sommer der Versäumnisse, in : NEWS vom 27. August 2009, S. 24.
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Dass sich österreichische Politiker so gerne in Verbindung mit dem Umbruchsjahr 1989 in Szene setzen, zeigt deutlich, wie positiv besetzt »1989« in Österreich war und ist. In vielen Reden wird »1989« bewusst zitiert, um genau das zu machen, was das Nachrichtenmagazin NEWS im Sommer 2009 vermisste : »1989« wird angeführt, um Stimmung für die Europäische Union zu machen und speziell für die Mitgliedschaften der östlichen Nachbarstaaten Österreichs. Bei den Feierlichkeiten wurde allerdings immer wieder besonders auf die Folgen für die nationalstaatliche Ebene hingewiesen. 3. Mediale Berichterstattung Der Standard sprach im Dezember 2009 von einem »Megagedenkjahr«76. Die These von Egyd Gstättner, dass »Geschichte […] erst im Lauf der Geschichte wirklich Geschichte [wird]«, bestätigte sich. Geschichte »wächst und tut so, als könnten die Ereignisse, die sie transportiert, rückwirkend noch wachsen«.77 Ein Blick auf die quantitative Verteilung von Berichten in österreichischen Printmedien, die auf das Durchschneiden des Eisernen Vorhanges durch Mock und Horn, auf das Paneuropäische Picknick und auf den Fall der Berliner Mauer Bezug nehmen, zeigt eine Ausweitung der Berichterstattung zu »1989« im Jahr 2009 gegenüber 1999.78 Die weitaus größte Beachtung fand in beiden Jahren der Fall der Berliner Mauer, gefolgt von der Durchschneidung des Eisernen Vorhanges durch Mock und Horn und schließlich das Paneuropäische Picknick. Bei Letzterem erweiterte sich die Berichterstattung nur geringfügig, die größte Ausweitung der Berichterstattung ergab sich hinsichtlich der Aktion von Horn und Mock (siehe Diagramm 1). Die mediale Aufmerksamkeit richtete sich in beiden Jubiläumsjahren stark auf den 9. November, wobei über viele Feierlichkeiten in Deutschland und insbesondere in Berlin berichtet wurde.79 Das zeigte sich nicht nur in den Printmedien, sondern auch
76 »Putin ist zu klein für dieses Land«, in : Der Standard vom 12. Dezember 2009, S. A3. 77 Gstättner, Egyd : Man muss die Mauern feiern, wenn sie fallen, in : Der Standard vom 14. November 2009, S. 35. 78 Die statistische Auswertung basiert auf Abfragen in der Datenbank APA Defacto beziehungsweise APA Defacto Campus. Abgefragt wurden die Stichworte »Mock UND Horn UND Vorhang«, »Paneuropäisches/n Picknick« sowie »Berliner Mauer UND Fall UND 1989«. Artikel, die sich auf diese Ereignisse bezogen, ohne die Schlagwörter zu erwähnen, konnten demnach nicht erfasst werden. Berücksichtigt wurden nur Printmedien, die 1999 und 2009 erschienen sind : Der Standard, Die Presse, Kärntner Tageszeitung, Kleine Zeitung, Kronen-Zeitung, Kurier, Neue Vorarlberger Tageszeitung, Neues Volksblatt, Oberösterreichische Nachrichten, Salzburger Nachrichten, Tiroler Tageszeitung, Vorarlberger Nachrichten, Wiener Zeitung, WirtschaftsBlatt. 79 Vgl. u. a. Male, Eva : »Ein Feiertag für alle, die mehr Freiheit haben«, in : Die Presse vom 10. November 2009, S. 2.
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200 150 105 100 50
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0 Mock UND Horn UND Vorhang
Paneuropäisches/n Picknick
Berliner Mauer UND Fall UND 1989
Diagramm 1 : Quantitativer Vergleich der Berichterstattung der österreichischen Printmedien in den Jahren 1999 und 2009
im Rundfunk und im Fernsehen. 1999 gab es eine eigene ZiB 2-Sondersendung aus Berlin, die sich mit dem Jubiläumsthema auseinandersetzte. Auch in zahlreichen anderen Sendungen des ORF war der Mauerfall das zentrale Thema : Gleich im Anschluss an die »ZiB 2 spezial« moderierte Barbara Rett die Sendung »Treffpunkt Kultur« live aus Berlin ; »Brennpunkt spezial« trug den Titel »Die geheime Geschichte vom Fall der Mauer«. Ö1 brachte Hörbilder mit dem Titel »Schabowskis Zettel oder Der Fall der Berliner Mauer«, in den »Gedanken für den Tag« sprach zwei Tage »Friedrich Schorlemmer zum 10. Jahrestag des Falls der Berliner Mauer« ; Blue Danube Radio brachte in »Today at Six« ein Feature mit dem Titel »The Wall«.80 2009 definierte der ORF sogar einen eigenen Programmschwerpunkt mit dem Titel »20 Jahre Mauerfall«, im Rahmen dessen zahlreiche Spielfilme (wie »Die Frau vom Checkpoint Charlie« und »Das Wunder von Berlin«) und mehrere »Menschen & Mächte«-Dokumentationen (unter anderem »Das Wunder von Leipzig« und »Schabowskis Zettel«) gezeigt wurden ; die »Matinee am Sonntag« widmete sich dem Thema »Klassik und Kalter Krieg – Musiker in der DDR«. Den Reigen eröffnete am 29. September der bekannte Spielfilm »Good bye, Lenin«.81 Allerdings wurde auch den Ereignissen an den österreichischen Grenzen viel Aufmerksamkeit zuteil. So widmete sich etwa die Sendung »Thema« am 19. August 1999 den Erinnerungen von Grenzgendarmen, Bewohnern der Gegend sowie von Flücht80 Vgl. Zeit im Bild 2 spezial : 10 Jahre nach dem Fall der Mauer, APA-OTS-Pressemeldung vom 5. November 1999. 81 Vgl. ORF-Programmschwerpunkt »20 Jahre Mauerfall« vom 29. September bis 11. November, APAOTS-Pressemeldung vom 28. September 2009.
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lingen des Jahres 1989.82 Der ORF legte auch im Sommer 2009 einen Programmschwerpunkt auf »1989« und widmete sich in einer »Am Schauplatz«-Reportage, mit dem Film »Geteilt – getrennt – geeint« sowie mit der Dokumentation »Der Grenzer vom Eisernen Vorhang« der Öffnung des Eisernen Vorhangs an der österreichischungarischen Grenze im Sommer 1989. Im Rahmen eines »Runden Tisches« wurde darüber diskutiert, ob auch die Grenzen im Kopf verschwunden sind und was aus den politischen und wirtschaftlichen Träumen von damals wurde.83 In den Tageszeitungen finden sich sowohl 1999 als auch 2009 nicht nur Berichterstattungen zu den bereits erwähnten Tagungen und Festakten. Es wurden auch zahlreiche historische Rückblicke auf die Ereignisse des Jahres 1989 publiziert84 und die Bedeutung dieser für einzelne Staaten85 oder mehrere analysiert. Dabei wurden auch zahlreiche Interviews mit Zeitzeugen abgedruckt, wie etwa eines mit Jiří Dienstbier im Kurier86, eines mit Karel Schwarzenberg in Die Presse87, eines mit Wolfgang Schäuble in Die Presse88 und eines mit Tadeusz Mazowiecki in der Kleinen Zeitung89. Die Magazine Profil und NEWS veröffentlichten Artikel von Hans-Dietrich Genscher.90 In verschiedenen Tageszeitungen wurden im Verlauf der Jahre 1999 und 2009 ganze Serien zu den Ereignissen des Jahres 1989 publiziert : Beispielhaft erwähnt seien jene von Die Presse : 1999 wurde eine Serie »1989–1999. Zehn Jahre nach dem Umbruch« publiziert und 2009 eine mit dem Titel »20 Jahre nach der Wende«, wobei immer wieder einzelne Ereignisse genauer beleuchtet wurden,91 Zeitzeugen und Experten befragt wurden,92 aber auch Bilanz zu den Veränderungen seit 82 Vgl. ORF-Programmnachtrag für Montag, 23. August 1999, APA-OTS-Pressemeldung vom 20. August 1999. 83 Vgl. »Runder Tisch« zu »20 Jahre nach Ende des Eisernen Vorhangs«, APA-OTS-Pressemeldung vom 25. Juni 2009. 84 Vgl. u. a. Thanei, Christoph : »Die Slowaken blickten immer nach Österreich«, in : Die Presse vom 17. November 2009, S. 4. 85 Vgl. u. a. Dumbs, Helmar : 1989 – als Jugoslawien noch im toten Winkel lag, in : Die Presse vom 23. November 2009, S. 4. 86 Vgl. Klamar, Konrad : »Man kann nicht immer jammern und klagen«, in : Kurier vom 29. Mai 2009, S. 7. 87 Vgl. Bischof, Burkhard : »Es dauert, bis wir den Gestank wieder los werden«, in : Die Presse vom 30. Mai 2009, S. 6. 88 Vgl. »Die Trennung wird langsam überwunden«, in : Die Presse vom 1. November 2009, S. 6. 89 Vgl. »Heute leben wir in Freiheit«, in : Kleine Zeitung vom 24. Juni 2009, S. 11. 90 Vgl. Genscher, Hans-Dietrich : »Europäische Freiheitsrevolution«, in : Profil vom 22. Juni 2009, S. 90 f.; Genscher, Hans-Dietrich : Als die Mauer fiel, in : NEWS vom 5. November 2009, S. 55–58. 91 Vgl. u. a. : Bachmann, Klaus : Wie Polen den Kommunismus abschaffte und die Kommunisten leben ließ, in : Die Presse vom 3. August 1999, S. 6 ; Martos, Peter : In Ungarn stand die Wiege der demokratischen Revolutionen von 1989, in : Die Presse vom 9. August 1999, S. 6. 92 Vgl. u. a. : Bischof, Burkhard : Annus mirabilis 1989 : Samtene Revolution fast ohne Blutvergießen. »Das kommunistische System war gegen die Logik der Geschichte«, in : Die Presse vom 16. Juli 1999, S. 8.
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1989 gezogen wurde.93 Es wurde aber nicht nur die Politik in den Blick genommen, sondern auch unter anderem 20 Jahre danach auf den 3 : 0-Sieg der österreichischen Fußballnationalmannschaft über jene der DDR zurückgeblickt.94 Ähnliche Serien mit historischen Rückblicken und Bilanzen finden sich in zahlreichen Printmedien, wie in die Kleine Zeitung, dem Kurier, den Salzburger Nachrichten und in Die Furche. Neben den Ereignissen in Europa war aber auch das Massaker am Platz des Himmlischen Friedens in Peking ein Thema für die Medien.95 Ebenfalls thematisiert wurden die Auswirkungen der Ereignisse des Jahres 1989 auf Jugoslawien.96 Durch die Medienberichterstattung wurde eine Bildikone97 ganz besonders geprägt : jenes Foto, das Mock und Horn zeigt, wie sie im Rahmen eines symbolischen Akts am 27. Juni 1989 den Eisernen Vorhang beim Grenzübergang Klingenbach durchschneiden. Während zum Paneuropäischen Picknick viele unterschiedliche Bilder gezeigt wurden, die vornehmlich flüchtende DDR-Bürger zeigen, wurde gerade jenes Foto zur Ikone, das eine politische Inszenierung darstellt.98 Beide Politiker erinnerten sich sehr gerne an das Ereignis und schilderten zu passenden Gelegenheiten Details der Abläufe. Horn meinte etwa 1999, dass er sich geärgert habe, weil seine Drahtschere stumpf gewesen sei.99 Derartige lebensgeschichtliche Details am Rande belebten die Ikone. Ein klarer Topos, der sich in diversen Berichten in den großen Tageszeitungen zur Bedeutung des Jahres 1989 für Österreich findet, lautete : Die ost- beziehungsweise südosteuropäischen Nachbarn werden als »finanzkräftige Konsumenten und Immobilienkäufer« gesehen, welche die regionale Wirtschaft in den Grenzgebieten 93 Vgl. u. a. Thanei, Christoph : Arme Nachbarn, reiche Nachbarn, in : Die Presse vom 3. Dezember 2009, S. 22. 94 Vgl. Wiederstein, Wolfgang : Ein Spiel, das nicht zu gewinnen war, in : Die Presse vom 15. November 2009, S. 30 f.; Ein Match ist in die Hose gegangen, in : Die Presse am Sonntag vom 15. November 2009, S. 30. 95 Vgl. u. a. Lietsch, Jutta : Nervöses Treiben vor Mao-Mausoleum, in : Die Presse vom 5. Juni 2009, S. 8. 96 Vgl. Dumbs, Helmar : 1989 – als Jugoslawien noch im toten Winkel lag, in : Die Presse vom 23. November 2009, S. 4. 97 Zur Genese und Bedeutung von Bildikonen allgemein vgl. Reiche, Jürgen : Bilder im Kopf, in : Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland (Hg.) : Bilder im Kopf. Ikonen der Zeitgeschichte. Begleitbuch zur Ausstellung im Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, Bonn, 21. Mai bis 11. Oktober 2009, Wanderausstellung ab Frühjahr 2010, im Zeitgeschichtlichen Forum Leipzig der Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, Sommer 2011, Bonn/ Köln 2009, S. 11–17. 98 Vgl. u. a. : Den Osten in der Schachtel, in : Falter 33/1999, S. 8 ; Auer, Matthias : »In ein paar Jahren wird der Osten den Westen wieder füttern«, in : Die Presse vom 30. Mai 2009, S. 6 ; Schmidl, Erwin A. : Das Jahr, das alles veränderte, in : Wiener Zeitung vom 20. Juni 2009, S. 1 und 4, hier S. 4 ; Wimmer, Kurt : Der Hunger nach Freiheit war das Größte, in : Kleine Zeitung vom 20. Juni 2009, S. 3. 99 Vgl. Eine stumpfe und eine scharfe Drahtschere, in : Der Standard vom 25. Juni 1999, S. 2.
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stützen ; Hainburg, Wolfsthal, Berg, Kittsee und nach und nach auch weiter von der Staatsgrenze entfernte Gemeinden werden zu »Wohn- und Einkaufsvororten der Boomstadt Bratislava«.100 In zahlreichen Medienberichten wurden insbesondere die unternehmerischen Chancen, die sich infolge des Falls des Eisernen Vorhanges ergaben, hochgelobt ;101 Österreich wurde als »Gewinner der Ostöffnung«102 gefeiert. Dass es sich dabei nicht nur um einen in den Medien vermittelten Eindruck handelte, zeigt ein Interview mit Georg Hartl, dem Bürgermeister der Gemeinde Berg, der betonte, dass seine Gemeinde seit 1989 aus einer Sackgasse befreit worden sei : Von einem verschlafenen Dorf habe sich Berg zu einem Vorort einer Großstadt entwickelt, in dem unter anderem Tourismus aufgebaut worden sei.103 Allerdings war die Berichterstattung in beiden Jubiläumsjahren nicht völlig frei von kritischen Stimmen. Besonders betont wurden speziell 1999 immer wieder der »Zustrom illegaler Grenzgänger« infolge der Grenzöffnungen und der Assistenzeinsatz des Bundesheeres.104 In einem Interview brachte der Zeithistoriker Oliver Rathkolb einige Beispiele für nach wie vor bestehende Grenzen in den Köpfen auf beiden Seiten des ehemaligen Eisernen Vorhanges und erwähnte etwa einen Kommentar einer tschechischen Tageszeitung, als Karel Brückner mit der österreichischen Fußballnationalmannschaft Erfolge feierte : »Jetzt haben wir es den Österreichern gezeigt, jetzt liefern wir ihnen nicht mehr Dienstboten, sondern einen Startrainer.«105 Die überwiegende Mehrheit der Medienberichte betonte hingegen die Chance, Österreich infolge der Ostöffnung »ins Zentrum Europas zu rücken«106. 4. Museale Präsentationen zu »1989« Neben dem klassischen wissenschaftlichen und dem medialen Diskurs etablierte sich in beiden Jubiläumsjahren ein dritter, ein musealer. Bereits 1999 gab es einige Ausstellungen, die sich mit »1989« im weitesten Sinne auseinandersetzten, wie etwa die bereits erwähnte Ausstellung im Schloss Weitra. Das Österreichische Museum für Volkskunde zeigte die Schau »Leben in der Platte. Alltagskultur der DDR der 70er und 80er Jahre«107, die gemeinsam mit dem Dokumentationsarchiv Alltagskultur der 100 Vgl. Arme Nachbarn, reiche Nachbarn, in : Die Presse vom 3. Dezember 2009, S. 22. 101 Vgl. u. a. : Kirchengast, Josef : Geschichten aus dem neuen Mitteleuropa, in : Der Standard vom 24. November 2009, S. 8. 102 Österreich als Gewinner der Ostöffnung, in : Die Presse vom 24. Juni 1999, S. 9. 103 Vgl. Interview von Andrea Brait mit Georg Hartl, Berg, 16. Oktober 2012. 104 Vgl. »Offene Grenze« : Vom historischen Schnitt zum Bundesheereinsatz, in : Die Presse vom 26. Juni 1999, S. 18 ; Von Räuber und Gendarm, in : NEWS vom 5. August 1999, S. 26. 105 »Ressentiments überraschen«, in : Die Furche vom 22. Oktober 2009, S. 12. 106 Grenzland, in : Kurier vom 27. Juni 1999, S. 1. 107 Vgl. Müller, Wenzel : Leben in der Platte. Alltagskultur der DDR der 70er und 80er Jahre, Wien 1999.
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DDR in Eisenhüttenstadt verwirklicht worden war. In der Ausstellung waren rund 600 Alltagsgegenstände beziehungsweise Konsumgüter der DDR zu sehen und die Räume einer P2-Plattenbauwohnung waren im Museum in Originalgröße nachgebaut worden, wobei die Wohneinheiten jedoch nicht originalgetreu möbliert worden waren, um falsche Assoziationen zu vermeiden.108 In jedem Wohnraum wurde ein anderes gesellschaftspolitisches Thema angesprochen, womit es den Ausstellungsmachern gelungen war, auf den Zusammenhang zwischen dem privaten und dem öffentlichen Raum hinzuweisen : Im Bad ging es etwa um die Stellung der Frau in der Gesellschaft, im Kinderzimmer um Erziehungsfragen.109 Allerdings wurde diese Schau nur relativ begrenzt vermarktet. Das Volkskundemuseum konnte im Jahr 1999 insgesamt gerade einmal 21.534 Besuche verzeichnen,110 was eine deutliche Sprache hinsichtlich der Reichweite der Ausstellung spricht. Die Ausweitung der Beschäftigung mit dem Jahr 1989 im Jahr 2009 betraf nicht nur den Bereich der medialen Berichterstattung, sondern auch den musealen, wobei es sich um ein Medium handelt, das sich ebenso wie Printmedien und das Fernsehen an ein breites Publikum richtet und nicht in erster Linie an ein wissenschaftliches. Am meisten beworben wurde die Niederösterreichische Landesausstellung, die sich als grenzüberschreitendes Kooperationsprojekt mit Tschechien präsentierte und unter dem Titel »Geteilt – Getrennt – Vereint« eine dreigeteilte Ausstellung in zwei österreichischen Städten und einer tschechischen bot. Sie wurde von österreichischen und tschechischen Wissenschaftlern erarbeitet, die sich den Geschichten der beiden Staaten und deren Wechselwirkungen näherten. Mit der Schau war das Ziel verbunden, wie Landeshauptmannstellvertreter Ernest Gabmann meinte, »Grenzen und Ressentiments in den Köpfen ab[zu]bauen, um mit dieser Landesausstellung für beide Regionen Wertschöpfungseffekte zu erzielen«111 – ein sehr ambitioniertes Projekt, das mit über 400.000 Besuchen zur erfolgreichsten Niederösterreichischen Landesausstellung der letzten 30 Jahre wurde.112 Die Ausstellung wurde zu dem Aushängeschild Niederösterreichs zum Jubiläumsjahr. Dennoch war sie nicht in allen Details gelungen. Speziell der in der niederösterreichischen Stadt Horn gezeigte Ausstellungsteil hatte den Charakter einer Parallelerzählung, von einem transnationalen Blick auf die Geschichte war speziell im Bereich des 20. Jahrhunderts wenig 108 Grieshofer, Franz : Zur Ausstellung, in : Müller, Wenzel : Leben in der Platte. Alltagskultur der DDR der 70er und 80er Jahre, Wien 1999, S. 7–10, hier S. 9. 109 Vgl. Die verlorene heile Welt in der »Platte«, in : Die Presse vom 3. November 1999, S. 28. 110 Vgl. www.bmukk.gv.at/medienpool/973/15volksk.pdf (online am 2. November 2012). 111 »Niederösterreich heute« vom 22. November 2006, 19 :00 Uhr, Landesausstellung 2009, »Im Herzen Europas«. 112 Vgl. Groß, Marlene Anna-Lisa : HRANICE – GRENZE. Funktion, Darstellung und Bedeutung der Grenze zwischen der Tschechischen Republik und der Republik Österreich, Wien 2010 (ungedruckte Diplomarbeit), S. 90.
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zu sehen. Die Grenzen, die 1918 geschaffen wurden, fanden sich in der Ausstellung wieder ; statt des Gemeinsamen stand das Trennende im Zentrum. Die Schau problematisierte dies kaum und beschränkte sich auf die Darlegung historischer Fakten. Hierbei muss jedoch positiv bemerkt werden, dass zeithistorische Reibungspunkte, insbesondere die Geschichte der Vertreibungen im und nach dem Zweiten Weltkrieg, nicht ausgespart wurden. Gelungener präsentierte sich hinsichtlich der Frage nach den Möglichkeiten einer transnationalen Perspektive der in Raabs an der Thaya gezeigte Ausstellungsteil, der das Thema »Grenzen« in verschiedenen Perspektiven behandelte : Thematisiert wurden sowohl die »Grenzen« im physischen Sinn – jene, die Staaten und Regionen trenn(t)en – als auch »Grenzen« im Kopf – Nationalismen, nationale Mythen und Symbole – sowie gemeinsame Traditionen trotz Grenzen. Am stärksten auf die Gemeinsamkeiten in Geschichte und Kultur zielte der Ausstellungsteil in Telč ab, in dem künstlerische Verbindungen thematisiert wurden. An den Erfolg der Ausstellung in Niederösterreich (sowie an grenzüberschreitende Projekte mit Bayern) versuchte 2013 die Oberösterreichische Landesausstellung anzuknüpfen : Unter dem Titel »Alte Spuren, Neue Wege – Oberösterreich Südböhmen«113 wurde eine fünfgeteilte Ausstellung in Freistadt, Bad Leonfelden, Vyssi und Krumau gezeigt, welche die gemeinsame Kulturgeschichte von Mühlviertel und Südböhmen dokumentieren sollte : »In der Ausstellung werden die Verbindungen der beiden Regionen aufgezeigt, die ein langes Stück ihres historischen Weges miteinander gegangen sind, bis der Eiserne Vorhang sie voneinander trennte. So werden unter anderem verbindende Elemente der Landschaften, die verkehrstechnische Erschließung im Mittelalter, die Salzstraße und Gemeinsamkeiten in Kulinarik und Brauchtum thematisiert.«114
Ähnlich wie 2009 war auch 2013 das Medienecho positiv. Gerhard Stadler resümierte etwa : »Das ehrgeizige Vorhaben, durch eine Mehrzahl von Ausstellungen das Gemeinsame in Geschichte und Kultur von Mühlviertel und Südböhmen umfassend näherzubringen, ist gelungen.«115 Rund 285.000 Besuche116 zeigen klar : Grenzüberschreitende Ausstellungsprojekte interessieren. Josef Ertl meinte im Kurier, dass die Schau »einen wesentlichen Beitrag zur Verständigung zwischen den Tschechen und den Österreichern geleistet« habe. Auch wenn die Schau nun geschlossen sei, werde
113 Vgl. Amt der Oberösterreichischen Landesregierung, Direktion Kultur (Hg.) : Alte Spuren – Neue Wege. OÖ. Landesausstellung 2013, 2 Bände, Linz 2013. 114 http://www.landesausstellung.com (online am 29. Dezember 2012). 115 Stadler, Gerhard : Enzyklopädie der Regionen, in : Wiener Zeitung vom 16. Mai 2013, S. 25. 116 Vgl. Hirsch, Philipp : Freistadt war der Besuchermagnet der Landesausstellung 2013, in : Oberösterreichische Nachrichten vom 6. November 2013, S. 29.
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»der Weg der Öffnung […] weitergegangen«, wie er betonte und im gleichen Atemzug auf das 25-Jahr-Jubiläum von »1989« im Jahr 2014 verwies.117 Neben der niederösterreichischen Landesausstellung gab es 2009 eine Reihe weiterer Sonderausstellungen : In der Kunsthalle Wien wurde die Schau »1989 – Ende der Geschichte oder Beginn der Zukunft« gezeigt. In dieser wurden »36 künstlerische Positionen aus 20 Nationen in Ost und West« präsentiert, in denen die Künstler ihre persönliche Sicht auf das Jahr 1989 und dessen Vor- und Nachgeschichte den allseits bekannten Bildern vom Ende der Trennung Europas gegenüberstellten. Im Zentrum standen nicht die jeweiligen nationalen Geschichtsschreibungen, sondern »Anmutungen, Gefühle und Atmosphären […], die mit der Realität einer ideologisch zweigeteilten Welt und dem Zusammenbruch und Wandel eines totalitären Systems verbunden sind«118, wie der damalige Direktor der Kunsthalle, Gerald Matt, betonte. Die Schau konnte sich damit vom Versuch eines geschlossenen wissenschaftlichen Erklärungsansatzes distanzieren und bezog sich darüber hinaus nicht nur auf den Fall des Eisernen Vorhangs in Europa, sondern richtete unter anderem mit einer Arbeit von Chen Danqing zum Massaker am Tian’anmen-Platz den Blick auch darauf, dass die Demokratiebewegung im Jahr 1989 nicht überall siegte.119 Zur historischen Kontextualisierung wurde von Zeithistorikern eine Art Vorspann gestaltet, der als didaktische Einführung in die Geschichte des Kalten Krieges und die Bedeutung des Jahres 1989 konzipiert war.120 Im Österreichischen Museum für Volkskunde wurden unter dem Titel »Reisen im Niemandsland – Von Lübeck bis Triest«121 Schwarz-Weiß-Bilder des Salzburger Fotografen Kurt Kaindl gezeigt, der knapp 20 Jahre nach dem Fall des Eisernen Vorhangs nach dessen Überresten gesucht und seine persönlichen Eindrücke von beiden Seiten der Grenze fotografisch festgehalten hatte. Die Bilder, so der Pressetext zur Ausstellung, dokumentieren die »durch das ausgedehnte Niemandsland entstandene Landschaft und vor allem die Menschen, die immer noch oder jetzt erst wieder an dieser Grenze leben«. Kaindl besuchte »Menschen, die sich bewusst in die noch 117 Vgl. Ertl, Josef : Es wächst zusammen, was zusammengehört, in : Kurier vom 3. November 2013, S. 2. 118 Matt, Gerald : Vorwort Ausstellung Wien, in : KUNSTHALLE wien/Matt, Gerald/Hug, Cathérine/ Mießgang, Thomas (Hg.) : 1989. Ende der Geschichte oder Beginn der Zukunft ? Anmerkungen zum Epochenbruch, Wien 2009, S. 14. 119 Vgl. Hug, Cathérine : Chen Danqing, in : KUNSTHALLE wien/Matt, Gerald/Hug, Cathérine/ Mießgang, Thomas (Hg.) : 1989. Ende der Geschichte oder Beginn der Zukunft ? Anmerkungen zum Epochenbruch, Wien 2009, S. 112 f. 120 Vgl. Interview mit Oliver Rathkolb, http://www.kunsthallewien.at/cgi-bin/mediazone/videos/list. pl?id=88&exhibition=&lang=de (online am 24. Mai 2011). 121 Vgl. Kaindl, Kurt/Gauß, Karl-Markus : Reisen im Niemandsland. Von Lübeck bis Triest. Fotografien entlang des Eisernen Vorhangs (Kataloge des Österreichischen Museums für Volkskunde 91), Salzburg 2009.
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immer bestehende Einsamkeit des ehemaligen Niemandslandes zurückgezogen haben[,] und er sucht[e] solche Menschen auf, die die ehemalige Grenze als Chance für kulturellen und wirtschaftlichen Neubeginn sehen«122. Im Museum für Volkskunde war noch eine zweite Ausstellung zum Jahr 1989 und den Folgen zu sehen : »Aus Nachbarn werden Freunde. Jugendkontakte in Mitteleuropa seit 1989«.123 Die Schau gründete auf einem Projekt, in das auch die grenzüberschreitende Plattform für Jugendliche und Kunstschaffende »together« eingebunden war und im Rahmen dessen zahlreiche Interviews über Erfahrungen im Grenzraum während der letzten 20 Jahre geführt worden waren. Nach der Ausstellungsdauer im Museum für Volkskunde stand sie Schulen und Auslandsvertretungen zur Verfügung.124 Daneben gab es 2009 noch viele weitere Ausstellungen, die sich mit dem Kalten Krieg in Europa und dessen Ende befassten. Im Schloss Weitra waren beispielsweise die Sonderausstellung »Das Jahrzehnt der Solidarność 1979–1989«, die auch im Senatssaal der Universität Wien gezeigt wurde,125 sowie eine kleine Dokumentation mit dem Titel »Freiheit und Demokratie. Ungarn vom Fall des Eisernen Vorhangs bis zum Schengen-Beitritt« zu sehen. Die bereits 2004 eröffnete Dauerausstellung »Schauplatz Eiserner Vorhang« ist den noch immer bestehenden Grenzen in den Köpfen gewidmet.126 Im Atelierhaus der Akademie der bildenden Künste Wien wurde die Schau »Wege zur Freiheit über Soldiarność nach Europa« zu sehen.127 Die Schau »Witz und (R)Evolution. 1989. Davor/Danach«, die in der Kirchlich Pädagogischen Hochschule in Krems und im Collegium Hungaricum in Wien zu sehen war, näherte sich den Entwicklungen infolge der Umbrüche des Jahres 1989 auf humorvolle Weise, indem sie Werke von Karikaturisten aus Südosteuropa zeigte.128
122 Pressetext zur Ausstellung, zur Verfügung gestellt von Kurt Kaindl. 123 Vgl. Interkulturelles Zentrum (Hg.)/Helm, Barbara (Red.) : Aus Nachbarn werden Freunde. Jugendkontakte in Mitteleuropa nach 1989. Begleitmaterial zur Ausstellung. Texte, Unterrichtsvorschläge, Kontaktadressen für Schulpartnerschaften, Projekte und interkulturelle Begegnung, Wien 2009. 124 Vgl. Projekt über Grenzraum, in : Niederösterreichische Nachrichten vom 4. März 2009, S. 47. 125 Vgl. Klambauer, Otto : Als in Europa die Mauern eingerissen wurden, in : Kurier vom 29. Mai 2009, S. 6 f. 126 Vgl. Der Sieg des einfachen Menschen, in : Wiener Zeitung vom 9. Juli 2009, S. 12. 127 Vgl. Ausstellung »Wege zur Freiheit über Soldiarność nach Europa«, in : Kronen-Zeitung vom 9. September 2009, S. 42 ; Die »Westler« als Bremser auf dem Rücksitz, in : Die Presse vom 10. September 2009, S. 6. 128 Vgl. Für eine Kultur der Nachbarschaft, in : Die Furche vom 17. September 2009, S. 13 ; Hawlik, Johannes : Die Grenzen im Kopf gibt es noch, in : Die Furche vom 21. Mai 2009, S. 20.
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III. Fazit Rund 25 Jahre nach dem Ereignis war nicht zu erwarten, dass »1989« bereits zu einem »langlebig[en], Generationen überdauernde[n] Kristallisationspunkt kollektiver Erinnerung und Identität« geworden ist, der in »gesellschaftliche, kulturelle und politische Üblichkeiten eingebunden«129 ist. Jedoch zeigt die Analyse klar, dass in den Jahren 1999 und 2009 zahlreiche Anstrengungen von Wissenschaftlern, Politikern, Journalisten und schließlich auch Ausstellungsmachern unternommen wurden, um »1989« zu einem »Gedächtnisort« zu machen. Allerdings bedarf es, wie eingangs festgestellt wurde, auch einer gesellschaftlichen Anerkennung, um »1989« als »Gedächtnisort« beschreiben zu können. Konrad H. Jarausch argumentiert, dass »die zeitliche Distanz noch zu gering [ist] für die Ausbildung einer gemeinsamen ›Erinnerungskultur‹, die nicht nur von Politikern propagiert, sondern auch von den Staatsbürgern akzeptiert wird«130. Auch François meinte in einem Interview, dass es schwierig sei, Ereignisse der nahen Vergangenheit eindeutig zu bewerten, zumal diese noch im Stadium der Kristallisation seien.131 In Bezug auf das Jahr 1989 stellt sich auch als Schwierigkeit heraus, dass es keinen eindeutigen Ort gibt, der für den demokratischen Aufbruch steht. Auch der Zusammenbruch der DDR ist nicht alleine an der Berliner Mauer zu lokalisieren, ebenso entscheidend waren die Öffnung der österreichisch-ungarischen Grenze, die Freilassung der DDR-Bürger aus der Prager Botschaft sowie die Straßen zahlreicher ostdeutscher Städte, auf denen demonstriert wurde.132 Die im Rahmen des Projekts »Offene Grenzen, neue Barrieren und gewandelte Identitäten« durchgeführte österreichweite repräsentative Meinungsumfrage133 zeigt aber deutlich, dass die österreichische Bevölkerung dem Jahr 1989 eine große Bedeutung zumisst : Die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung (über 91 %) ist der Auffassung, dass der Fall des »Eisernen Vorhangs« 1989 und die folgende Demokratisierung in den östlichen Nachbarstaaten Österreichs für Österreich eher beziehungsweise sehr wichtig waren. Gefragt nach der unterschiedlichen Bedeutung verschiedener politischer Veränderungen, räumten die Österreicher dem »Fall des Eisernen Vorhangs 1989« die größte Bedeutung hinsichtlich der Auswirkungen auf Österreich ein – noch vor dem »EU-Beitritt Österreichs 1995«. 129 François, Etienne/Schulze, Hagen : Einleitung, in : François, Etienne/Schulze, Hagen (Hg.) : Deutsche Erinnerungsorte, München 2001, S. 9–24, hier S. 18. 130 Jarausch, Konrad H. : Der Umbruch 1989/90, in : Sabrow, Martin (Hg.) : Erinnerungsorte der DDR, München 2009, S. 526–535, hier S. 527. 131 Vgl. Stenke, Wolfgang : Deutsche Erinnerungsorte, Beitrag vom 9. Mai 2002, http://www.deutschlandfunk.de/deutsche-erinnerungsorte.700.de.html ?dram :article_id=80485 (online am 7. September 2013). 132 Vgl. Jarausch, K. H. 2009, S. 527 f. 133 Vgl. hierzu insbesondere die Einleitung zu diesem Band.
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Andrea Brait
Zusammenfassend sind zwei Punkte festzuhalten : Erstens : »Nicht alle Zeit ist gleich vor dem Gedächtnis«134, wie Gerhard Baumgartner zu Recht betont. Immer wiederkehrende Vergleiche mit »1789« und die Debatten um die diversen Versuche, die Ereignisse des Jahres 1989 mit einer treffenden Begrifflichkeit zu beschreiben, zeigen, dass »1989« nur wenige Jahre danach große Bedeutung zugeschrieben wurde.135 Wissenschaftliche, politische, mediale und museale Diskurse konstruierten gleichermaßen »1989« zu einem »Gedächtnisort« (im übertragenen Sinne). 2009 lässt sich im Vergleich zu 1999 lediglich eine Ausweitung der Gedenkkultur in Österreich feststellen, die nun auch den musealen Bereich viel stärker erfasste, als dies noch 1999 der Fall war. Das Medium historische Ausstellung durchlebte in diesen zehn Jahren in Österreich einen Bedeutungswandel, der insbesondere durch die ab 1999 intensiv geführten Debatten um ein »Haus der Geschichte« sowie die Erfolge einiger historischer Großausstellungen getragen war136 – dass es als Mittel der Vergangenheitsbewirtschaftung137 nun auch in Österreich anerkannt war, bestätigt das vielfältige Ausstellungsprogramm des Jahres 2009. Die mannigfaltige Beschäftigung mit den Ereignissen des Jahres 1989 »wie etwa zum 20. Jahrestag regt das Nachdenken darüber an«, wie Jarausch meint, »was in diesem annus mirabilis […] eigentlich geschehen ist«138 und welche Entwicklungen unmittelbar darauf zurückzuführen sind. Es wird aber noch Zeit brauchen, bis sich klarere Deutungen etablieren. Michael Fleischhacker ist zuzustimmen in dem Urteil : »Erst, wenn 1968 so weit weg ist wie 1945, wird man einen umfassenden Blick auf 1989 werfen können.«139 Zweitens : Wenn man von einem »Gedächtnisort 1989« spricht, so folgt diese Definition bislang stark einem nationalen und internationalen und noch wenig einem transnationalen Ansatz. Sowohl in der medialen Berichterstattung als auch bei den bisherigen wissenschaftlichen Tagungen – und da ist die dem vorliegenden Band zu134 Baumgartner, Gerhard : Erinnerte und vergessene Zeit, in : Brix, Emil/Bruckmüller, Ernst/Stekl, Hannes (Hg.) : Memoria Austriae I. Menschen, Mythen, Zeiten, Wien 2004, S. 530–544, hier S. 530. 135 Vgl. die in der Einleitung vorgestellten Theorien hinsichtlich der Auswirkungen auf die weltpolitischen Konstellationen. 136 Vgl. zur Entwicklung historischer Ausstellungen in Österreich sowie zu den Debatten um ein österreichisches »Haus der Geschichte« Brait, Andrea : Gedächtnisort Historisches Nationalmuseum. Eine Analyse unter besonderer Berücksichtigung der Debatten um Museumsneugründungen in Deutschland und Österreich, Wien 2011 (ungedruckte Dissertation), S. 523–697. 137 Vgl. zu dem Begriff Kühberger, Christoph/Pudlat, Andreas : Vergangenheitsbewirtschaftung – Geschichte, Wirtschaft und Ethik, in : Kühberger, Christoph/Pudlat, Andreas (Hg.) : Vergangenheitsbewirtschaftung. Public History zwischen Wirtschaft und Wissenschaft, Innsbruck/Wien/Bozen 2012, S. 7–13, hier S. 7. 138 Jarausch, K. H. 2009, S. 534. 139 Fleischhacker, Michael : Die klammheimliche Freude der Verlierer, in : Die Presse vom 7. November 2009, S. 33.
Zur Konstruktion eines europäischen Gedächtnisortes
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grunde liegende nicht auszunehmen – stand der nationale Blick im Zentrum beziehungsweise wurde höchstens nach Wechselwirkungen und Interaktionen zwischen Staaten gefragt ; die transnationale Perspektive wurde bislang deutlich weniger beachtet. Einige wenige Ausnahmen gab es, und im musealen Bereich haben wir mit der Schau von Kaindl auch schon ein gutes Beispiel gesehen : Kaindl hat keine klassischen »lieux de mémoire« im Sinne Noras fotografiert, aber dennoch aufgezeigt, wie in der Folge von »1989« Räume entstehen, die jenseits der alten Grenzen des Eisernen Vorhanges existieren.140
140 Das Projekt von Kaindl wurde anlässlich des 25-jährigen Jubiläums im Jahr 2014 fortgeführt, vgl. E-Mail von Kurt Kaindl an die Verfasserin vom 27. Jänner 2014. In der Landesgalerie Linz wurde im Sommer 2014 schließlich die Schau »Grenzfälle Eiserner Vorhang« gezeigt, in der Kaindl neue Arbeiten präsentierte, vgl. E-Mail von Kurt Kaindl an die Verfasserin vom 28. Juni 2014.
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a. D. außer Dienst AA Auswärtiges Amt (der Bundesrepublik Deutschland) AGM Ausgleichsmaßnahmen AKW Atomkraftwerk AL Albanien ANS Amt für Nationale Sicherheit APA Austria Presse Agentur APS Allgemeines Präferenzsystem ARD Arbeitsgemeinschaft der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten der Bundesrepublik Deutschland ARGE Arbeitsgemeinschaft Art. Artikel ASFINAG Autobahnen- und Schnellstraßen-Finanzierungs-Aktiengesellschaft ASP Allgemeines Zollpräferenzschema AssE Assistenzeinsatz ATS Österreichische Schilling Aufl. Auflage BArch Bundesarchiv BAS Befreiungsausschuss Südtirol Bd. Band BG Bulgarien BGBl. Bundesgesetzblatt BGS Bundesgrenzschutz BIH Bosnien und Herzegowina BMaA Bundesministerium für auswärtige Angelegenheiten (bis 2007) BStU Bundesbeauftragter für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR BTI Bertelsmann Transformation Index CDU Christlich Demokratische Union Deutschlands CEFTA Central European Free Trade Agreement (Zentraleuropäisches Freihandelsabkommen) CEI Central European Initiative CEON Central European Operational Network COMECON Council for Mutual Economic Assistance CSCE Conference on Security and Cooperation in Europe ČSFR Tschechische und Slowakische Föderative Republik ČSSR Tschechoslowakische Sozialistische Republik
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ČST Tschechoslowakischer Fernsehfunk CSU Christlich-Soziale Union in Bayern ČTK Československá tisková kancelář (Tschechoslowakische Presseagentur) CY Zypern CZ Tschechische Republik d. h. das heißt DDR Deutsche Demokratische Republik DM Deutsche Mark EA Europaabkommen EAG Europäische Atomgemeinschaft ebd. ebenda EBRD European Bank for Reconstruction and Development EDU Europäische Demokratische Union EE Estland EEA Einheitliche Europäische Akte EFRE Europäischer Fonds für Regionale Entwicklung EFTA European Free Trade Association (Europäische Freihandelsassoziation) EG Europäische Gemeinschaften EGKS Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl EIB Europäische Investitionsbank ENP Europäische Nachbarschaftspolitik EPZ Europäische Politische Zusammenarbeit ESES European Structure of Earnings Survey etc. et cetera ETH Eidgenössische Technische Hochschule EU Europäische Union EUR Euro EVP Europäische Volkspartei EWG Europäische Wirtschaftsgemeinschaft EWR Europäischer Wirtschaftsraum EZB Europäische Zentralbank FCG Fraktion Christlicher Gewerkschafter FDI Foreign Direct Investments FDP Freie Demokratische Partei FIW Forschungsschwerpunkt Internationale Wirtschaft FPÖ Freiheitliche Partei Österreichs FYROM Former Yugoslav Republic of Macedonia G7 Gruppe der Sieben GAP Gemeinsame Agrarpolitik GASP Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik GATT General Agreement on Tariffs and Trade GFC Globale Finanz- und Wirtschaftskrise GMBl. Gemeinsames Ministerialblatt GPS Global Positioning System
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GPT Grenzüberschreitendes Polizeiteam GRÜ Grenzraumüberwachung GUS Gemeinschaft Unabhängiger Staaten GZ Grundzahl HDZ Hrvatska Demokratska Zajednica (Kroatische Demokratische Union) HR Kroatien Hg. Herausgeber HU Ungarn IAEO Internationale Atomenergie Organisation IDU Internationale Demokratische Union IGH Internationaler Gerichtshof der Vereinten Nationen IMF International Monetary Fund (Internationaler Währungsfonds) IM Informeller Mitarbeiter insb. insbesondere IR Infanterieregiment ISPA Instrument for Structural Policies for Pre-Accession (Strukturpolitisches Instrument zur Vorbereitung auf den Beitritt [in die EU]) k. u. k. kaiserlich und königlich Kfz Kraftfahrzeug KI Konfidenzintervall km Kilometer KMU Kleine und mittlere Unternehmen Königreich SHS Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen KP Kommunistische Partei KPdSU Kommunistische Partei der Sowjetunion KPÖ Kommunistische Partei Österreichs KPTsch Kommunistische Partei der Tschechoslowakei KSČ Komunistická strana Československa (tschechoslowakische Kommunistische Partei) KSS Komunistická strana Slovenska (slowakische Kommunistische Partei) KSŠŠD Klub Slowenischer Studentinnen und Studenten in Wien KSZE Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa Lkw Lastkraftwagen LT Litauen LV Lettland MDF Ungarische Demokratische Forum MfAA Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten der DDR MFN most-favored-nation MfS Ministerium für Staatssicherheit der DDR MiG Mikojan-Gurewitsch Mio. Million(en) MK Mazedonien MNE Montenegro MOEL mittel- und osteuropäische Länder
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MT Malta N+N Gruppe neutraler und blockfreier Staaten NATO North Atlantic Treaty Organization NGO Non-Governmental Organization NÖ Niederösterreich NÖN Niederösterreichische Nachrichten NPL non-performing loans Nr. Nummer NZZ Neue Zürcher Zeitung ÖAW Österreichische Akademie der Wissenschaften ÖB Österreichische Botschaft ÖBB Österreichische Bundesbahnen OECD Organisation for Economic Cooperation and Development OeNB Österreichische Nationalbank ÖGB Österreichischer Gewerkschaftsbund ÖGfE Österreichische Gesellschaft für Europapolitik OIER Organization for International Economic Relations ÖMV Österreichische Mineralölverwaltung ORF Österreichischer Rundfunk ÖRK Österreichisches Rot Kreuz OSZE Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa OTS Original Text Service ÖVP Österreichische Volkspartei PA Politisches Archiv des Auswärtigen Amtes PEN poets essayists novelists PHARE Poland and Hungary : Aid for Restructuring of the Economies PL Polen PolKG Polizeikooperationsgesetz RCA revealed comparative advantage RCC Regional Cooperation Council (Regionaler Kooperationsrat) RGW Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe RIAS Rundfunk im amerikanischen Sektor RKS Kosovo RO Rumänien RoA Gesamtkapitalrentabilität nach Steuern RoE Eigenkapitalrentabilität nach Steuern RÜK Rahmenübereinkommen zum Schutz nationaler Minderheiten S. Seite(n) SAPARD Special Accession Programme for Agriculture and Rural Development SAPMO Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisationen der ehemaligen DDR SBZ Sowjetische Besatzungszone Deutschlands SDÜ Schengener Durchführungsübereinkommen SED Sozialistische Einheitspartei Deutschlands
Abkürzungsverzeichnis
SEECP
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South-East European Cooperation Process (Südosteuropäischer Kooperations prozess) SI Slowenien SITC Standard International Trade Classification SK Slowakische Republik Soko Sonderkommission SPD Sozialdemokratische Partei Deutschlands SPÖ Sozialistische (1945–1991) bzw. (seit 1991) Sozialdemokratische Partei Österreichs SRB Serbien SS Schutzstaffel StGBl. Staatsgesetzblatt SU Sowjetunion TR Türkei UdSSR Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken UNESCO United Nations Educational, Scientific and Cultural Organization UNO United Nations Organization US United States USA United States of America USAP Ungarische Sozialistische Arbeiterpartei USD US-Dollar USG Unterstützungsgruppe USP Ungarische Sozialistische Partei UVR Ungarische Volksrepublik VI Vienna Initiative VOEST Vereinigte Österreichische Eisen- und Stahlwerke VPN Verejnosť proti násiliu VRP Volksrepublik Polen VVSBM Verhandlungen über Vertrauens- und Sicherheitsbildende Maßnahmen WEU Westeuropäische Union WIFO Österreichisches Institut für Wirtschaftsforschung wiiw Wiener Institut für Internationale Wirtschaftsvergleiche WP Warschauer Pakt WWU Wirtschafts- und Währungsunion ZDF Zweites Deutsches Fernsehen ZiB Zeit im Bild ZK Zentralkomitee Zl. Zahl (Geschäftszahl)
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Auswahlbibliografie
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Auswahlbibliografie
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Auswahlbibliografie
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Wohnout, Helmut : Die Gunst der Stunde genutzt. Alois Mocks Rolle im Jahr 1989, in : Europäische Rundschau. Vierteljahreszeitschrift für Politik, Wirtschaft und Zeitgeschichte 2/37 (2009), S. 83–88. Wolfmayr, Yvonne : Österreichs Außenhandel mit den EU-Beitrittsländern, in : WIFO-Monatsberichte 4/77 (2004), S. 231–249. Zaiotti, Ruben : Cultures of Border Control. Schengen & the Evolution of European Frontiers, Chicago/London 2011. Zelikow, Philip/Rice, Condoleeza : Sternstunde der Diplomatie. Die deutsche Einheit und das Ende der Spaltung Europas, Berlin 1997. Zimmermann, Ekkart : Krisen, Staatsstreiche und Revolutionen. Theorien, Daten und neuere Forschungsansätze (Studien zur Sozialwissenschaft 47), Opladen 1981.
Autorinnen und Autoren
A ndrea Br ait: Studium der Geschichte, Politikwissenschaft und Germanistik in Wien ; Lektorin am Institut für Geschichte der Universität Wien, am Institut für Geschichte der Stiftung Universität Hildesheim und an der PH Wien ; organisatorische Leiterin des Projektes »Offene Grenzen, neue Barrieren und gewandelte Identitäten. Österreich, seine Nachbarn und die Transformationsprozesse in Politik, Wirtschaft und Kultur seit 1989« ; forscht und lehrt insbesondere zu den Themen Gedächtnispolitik und Musealisierung im deutschsprachigen Raum, zu den Beziehungen Österreichs zu seinen Nachbarstaaten und im Bereich Geschichtsdidaktik. Fritz Breuss: Jean Monnet Professor für wirtschaftliche Aspekte der europäischen Integration an der Wirtschaftsuni Wien (WU) ; seit Oktober 2009 emeritierter Professor für Internationale Wirtschaft an der WU ; leitet am WIFO den Forschungsschwerpunkt »Internationale Wirtschaft«. Ernst Bruckmüller: Studium der Geschichte und Germanistik in Wien ; 2000– 2010 Professor für Wirtschafts- und Sozialgeschichte am Institut für Wirtschaftsund Sozialgeschichte der Universität Wien ; seit 1991 Vorsitzender des Instituts für Österreichkunde ; Gastprofessur an der EPHE, Section IV, Paris ; 2003 korrespondierendes Mitglied, 2006 wirkliches Mitglied der ÖAW ; 2009–2012 Direktor des Instituts Österreichisches Biographisches Lexikon ; 2004–2011 Leiter des Instituts für Geschichte des ländlichen Raumes (St. Pölten). Mich ael Gehler: Seit 2006 Professor und Leiter des Instituts für Geschichte im Fachbereich Erziehungs- und Sozialwissenschaften der Stiftung Universität Hildesheim sowie Jean Monnet ad personam Chair für vergleichende Zeitgeschichte Europas und europäische Integration ; Studium der Geschichte und Germanistik an der Universität Innsbruck ; 1989–1996 Lehrbeauftragter und freier Mitarbeiter am Institut für Zeitgeschichte der Universität Innsbruck ; 1990–1991 Erfassung des Karl Gruber Archivs am Institut für Zeitgeschichte ; 1992 gemeinsam mit Univ.-Prof. Rolf Steininger Begründer des »Arbeitskreises Europäische Integration« ; 1994–1998 Projektleiter eines Historikerteams im Rahmen eines Bundesländerforschungsprojekts zur Geschichte Tirols 1945 ; 1999–2006 außerordentlicher Professor am Institut für Zeitgeschichte der Universität Innsbruck ; 2000 Senior Fellow, 2001–2002
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Autorinnen und Autoren
Alexander-von-Humboldt-Forschungsstipendiat und seit 2002 Permanent Senior Fellow am Zentrum für Europäische Integrationsforschung (ZEI) der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn ; 2004–2005 Mitwirkung am Internationalen Graduiertenkolleg der DFG »Politische Kommunikation zur Herrschaftslegitimation. Von der Antike bis zum 20. Jahrhundert« ; seit 2013 Direktor des Instituts für Neuzeit- und Zeitgeschichtsforschung (INZ) der ÖAW. M arcus Gonschor: Lehramtsstudium der Fächer Geschichte und Wirtschaft an der Universität Hildesheim ; 2010–2012 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Geschichte der Stiftung Universität Hildesheim ; 2013 Promotion bei Prof. Dr. Michael Gehler ; aktuelle Publikation : Gehler, Michael/Gonschor, Marcus/Meyer, Hinnerk/Schönner, Johannes (Hg.) : Mitgestalter Europas. Transnationalismus und Parteiennetzwerke europäischer Christdemokraten und Konservativer, Sankt Augustin/Berlin 2013 ; letzter Vortrag : »Die USA und der Umbruch in Mittel- und Osteuropa 1989/90«, im Rahmen der Tagung »Grenzöffnung – Grenzen im Kopf – Grenzüberwindung. Österreich 1989 : Innen- und Außenperspektiven«, 9. November 2012, Salzburg. M a ximilian Gr af: Studium der Geschichte an der Universität Wien ; 2012 Promotion mit der Dissertation »Österreich und die DDR 1949–1989/90. Beziehungen – Kontakte – Wahrnehmungen« ; seit 2010 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Neuzeit- und Zeitgeschichtsforschung der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (vormals Historische Kommission) ; 2008 Würdigungspreis des Bundesministeriums für Wissenschaft und Forschung ; 2014 Karl-von-VogelsangStaatspreis für Geschichte der Gesellschaftswissenschaften (Förderpreis) ; Veröffentlichungen u. a. : Ein verdrängtes bilaterales Verhältnis : Österreich und die DDR 1949–1989/90, in : Zeitgeschichte 2/39 (2012), S. 75–97 ; Mithg. : From the Austrian Empire to Communist East Central Europe, Wien 2010 ; Mithg. : Das Burgenland als internationale Grenzregion im 20. und 21. Jahrhundert, Wien 2012. Simon Gruber: Studium der Rechtswissenschaften und der Geschichte in Innsbruck ; seit 2008 Referent für politische Fragen an der österreichischen Botschaft in Bratislava sowie seit 2009 Lehrbeauftragter an der Bratislava International School of Liberal Arts ; Publikationen (Auswahl) : Wilder Osten oder Herz Europas ? Die Slowakei als EU-Anwärterstaat in den 1990er-Jahren, Göttingen 2010 ; The Apostles of the Slavs versus the Velvet Revolution. The Use of History in the Struggle for Democracy in Slovakia during the 1990s, in : JEIH 2/15 (2009), S. 149–164. Gunther H auser: Studium der Politikwissenschaft in Innsbruck und Salzburg ; seit 2010 Leiter des Fachbereichs Internationale Sicherheit am Institut für Strategie
Autorinnen und Autoren
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und Sicherheitspolitik der Landesverteidigungsakademie in Wien ; Lehrbeauftragter am Department für Europäische Integration und Wirtschaftsrecht der DonauUniversität Krems ; stellvertretender Präsident des Wissenschaftlichen Forums für Internationale Sicherheit an der Führungsakademie der Bundeswehr in Hamburg ; Veröffentlichungen in den Bereichen europäische Sicherheit, transatlantische Beziehungen, Chinas Außen- und Sicherheitspolitik, Sicherheitspolitik und Völkerrecht, Neutralität und Bündnisfreiheit sowie österreichische Sicherheitspolitik ; zuletzt : The European Union – A Global Actor ?, Verlag Barbara Budrich 2013, hrsg. gemeinsam mit Sven Gareis und Franz Kernic. Juliane Holzheimer: Studium der Europäischen Ethnologie, Kunstgeschichte und Romanistik/Italienisch an der Otto-Friedrich-Universität Bamberg ; seit Jänner 2012 Promotion im Fach Europäische Ethnologie an der Otto-Friedrich-Universität Bamberg unter der Betreuung von Frau Prof. Dr. Bärbel Kerkhoff-Hader ; seit April 2013 Kollegiatin der a.r.t.e.s. Graduate School for the Humanities Cologne ; Publikationen : Damm, Juliane : »Du bist hier verkehrt.« Eine lebensgeschichtliche Untersuchung der Flucht 1989 aus der DDR (Bamberger Beiträge zur Europäischen Ethnologie), Bamberg 2012 [im Erscheinen ; Magisterarbeit, Bamberg 2014]. László J. K iss: Professor am Institut für Internationale Studien an der CorvinusUniversität Budapest und wissenschaftlicher Direktor des Ungarischen Instituts für Auswärtige Angelegenheiten (MKI) in Budapest. Georg K reis: Emeritierter Professor für Neuere Allgemeine Geschichte an der Universität Basel ; bis August 2011 Direktor des interdisziplinären Europainstituts Basel ; 1993–2011 Präsident der Eidgenössischen Kommission gegen Rassismus ; 1985–1995 Leiter des Nationalen Forschungsprogramms »Kulturelle Vielfalt und nationale Identität« ; 1991–1993 Leiter des historischen Berichts zum Schweizerischen Staatsschutz 1945–1991 (zur Aufarbeitung der sog. Fichenaffäre) ; 1996–2001 Mitglied der von der schweizerischen Regierung eingesetzten Historikerkommission »Schweiz – Zweiter Weltkrieg«. Mehrere Aufsätze zum österreichisch-schweizerischen Verhältnis, z. B. : Rücken an Rücken ? Die österreichisch-schweizerischen Beziehungen, in : Kreis, Georg (Hg.) : Nachbarn in Europa. Länderbeziehungen im Laufe der Zeit, Basel 2008, S. 103–114. Christoph Kühberger: Professor für Geschichts- und Politikdidaktik an der Pädagogischen Hochschule Salzburg ; Studium der Geschichte und Italianistik in Salzburg und Perugia ; Dissertation 2003 aus dem Bereich der Zeitgeschichte/Neuen Kulturgeschichte an der Universität Salzburg ; Habilitation an der Universität Hildesheim mit einer Arbeit zum historisch-politischen Lernen in der Postmoderne ;
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Autorinnen und Autoren
Privatdozent für Neuere und Neueste Geschichte und ihre Didaktik am Institut für Geschichte der Universität Hildesheim ; derzeit Vizerektor für Sozial- und Gesellschaftswissenschaften an der Pädagogischen Hochschule Salzburg ; Leiter des »Bundeszentrums für Gesellschaftliches Lernen« im Auftrag des Bundesunterrichtsministeriums an der PH Salzburg (ehemals »Zentrale Arbeitsstelle für Geschichtsdidaktik und Politische Bildung«) ; Forschungsschwerpunkte : theoretische und empirische Geschichtsdidaktik, Neue Medien und historisches Lernen, Theorie der Geschichte ; aktuelle Publikationen : Hg. : Historisches Wissen. Geschichtsdidaktische Erkundungen zu Art, Tiefe und Umfang für das historische Lernen, Schwalbach/Ts. 2012. Oliver Kühschelm: Assistent (Postdoc) am Institut für Wirtschafts- und Sozial geschichte der Universität Wien ; Forschungen zum Bürgertum des 19. Jahrhunderts, zu bürgerlichen Unternehmerfamilien, zu Unternehmen und Konsumgütern als nationalen Identifikationsfiguren, derzeit Forschung zu Buy-national-Kampagnen in Österreich und der Schweiz ; Publikationen : als Autor (mit André Pförtner) : Unternehmer, Firmen, Produkte (= Memoria Austriae III, hrsg. von Emil Brix, Ernst Bruckmüller und Hannes Stekl), Wien 2005 ; als Herausgeber (mit Franz X. Eder und Hannes Siegrist) : Konsum und Nation. Zur Geschichte nationalisierender Inszenierungen in der Produktkommunikation, Bielefeld 2012. Miroslav Kunštát: Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Internationale Studien der Karls-Universität Prag sowie am Masaryk-Institut der Tschechischen Akademie der Wissenschaften tätig ; wirkte nach 1989 in der Außenpolitischen Abteilung des Büros des tschechischen Präsidenten (1993–1995, extern bis 2003 als Konsulent) ; Tätigkeit für die deutsch-tschechische Historikerkommission ; spezialisiert auf verschiedene Aspekte der deutsch-tschechischen und österreichisch-tschechischen Beziehungen, auf die Religions- und Kirchengeschichte Böhmens im 19. und 20. Jahrhundert sowie auf die Universitäts- und Wissenschaftsgeschichte ; seit 2008 Mitherausgeber des Biographischen Lexikons zur Geschichte der böhmischen Länder (Collegium Carolinum München). A ndreas Pudlat: Studium der Neueren und Neuesten Geschichte, Pädagogik, Sozial- und Wirtschaftsgeographie in Chemnitz sowie der Kriminologie und Polizeiwissenschaft in Bochum ; 2004–2007 Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Technischen Universität Chemnitz ; seit 2006 Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Geschichte der Stiftung Universität Hildesheim ; 2010 Promotion ; Mitglied im »AKIS – Interdisziplinärer Arbeitskreis Innere Sicherheit« ; derzeit stellvertretender Leiter des Instituts für Geschichte der Stiftung Universität Hildesheim ; Forschungen zum »Schengen-Prozess« und den Grenzräumen aus zeithistorischer, kriminologischer und polizeiwissenschaftlicher Perspektive.
Autorinnen und Autoren
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A ndreas Schimmelpfennig: Studium der Geschichte, Geografie und Slawistik auf Magister und Lehramt Sekundarstufe II in Augsburg, Princeton (New Jersey), Köln, Budapest und Cambridge ; Master in Budapest an der Central European University (CEU) bei Péter Hanák ; Lehrtätigkeit an diversen Universitäten in Ungarn, Weißrussland und Litauen ; wissenschaftliche Hilfskraft und Promovend in Hildesheim ; Forschungsschwerpunkte : Geschichte Österreich-Ungarns, deutsche und britische Mediengeschichte, vergleichende europäische Kulturgeschichte, Nationalität und Nationalismus ; Arbeitstitel der Dissertation : Die Sicht der Anderen. Kulturelle Divergenzen als Basis außenpolitischer Interpretation. Die Donaumonarchie in den Augen dreier Nachbarn von 1894 bis 1915, ein Vergleich politischer und kultureller Zeitschriften Großbritanniens, Italiens und Deutschlands. Oliver Schwarz: Seit 2004 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Politikwissenschaft der Universität Duisburg-Essen (UDE) ; 2005–2007 Mitarbeiter im Forschungsprojekt »Konfliktbeilegung durch Europäisierung ? Griechenland und seine Nachbarn Mazedonien und Türkei« (publiziert 2008 bei Nomos) ; 2007 Visiting Scholar am Centre for European Studies der Nankai University ; 2010 Promotion zum Thema »Erweiterung als Überinstrument der Europäischen Union ? Zur Europäisierung des westlichen Balkans seit der EU-Osterweiterung« (publiziert 2010 bei Nomos) ; 2011 Auszeichnung mit dem »Duisburger Sparkassenpreis 2011« für die beste gesellschaftswissenschaftliche Dissertation an der UDE. A ngela Siebold: Studium der Mittleren und Neueren Geschichte, Politikwissenschaft und Pädagogik ; Promotion 2008–2012, Stipendiatin der Gerda Henkel Stiftung ; derzeit wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Zeitgeschichte und an der Professur für Public History am Historischen Seminar der Universität Heidelberg. Felicitas Söhner: Studierte Geschichte und Literatur (Universität Hagen) ; von 2007–2012 war sie Dozentin für Wissenschaftliches Arbeiten und Geschichte (Universität Linz) ; nach der Promotion (2012) bei Prof. P. Brandt und Prof. F. Boll zu Selbst- und Fremdbildern in Schlesien war sie wissenschaftliche Mitarbeiterin (Universität Passau) ; seit 2013 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin sowie Assistenz der Ärztlichen Direktion am Institut für Psychiatrie und Psychotherapie II (Universität Ulm) ; Forschungsschwerpunkte : Neuere Sozial- und Medizingeschichte, europäische Nationalgeschichte und Gedächtniskultur ; Publikationen : Zum Schreiben von Geschichte – Aufgabe und Ethik historischer Forschung, in : IABLIS Jahrbuch für europäische Prozesse, Universität Hagen 2013 ; Vertreibungsdiskurs und Erinnerungskultur, in : Deutschland Archiv 45/2, Bertelsmann, Hannover 2012, S. 364–373.
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Autorinnen und Autoren
Helmut Wohnout: 1982–1991 Studium der Geschichte an der Universität Wien ; 1991 Postgraduate-Studien an der Georgetown-University Washington, D. C.; 2011 Habilitation für das Fach Österreichische Geschichte an der Karl-FranzensUniversität Graz ; Abteilungsleiter im Bundeskanzleramt/Bundespressedienst, Geschäftsführer des Karl von Vogelsang-Instituts zur Erforschung der Geschichte der christlichen Demokratie in Österreich ; Herausgeber des Jahrbuchs »Demokratie und Geschichte« ; Forschungs- und Publikationsschwerpunkte : Studien zur österrei chischen Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, europäische Kulturgeschichte, Parteien- und Institutionengeschichte, österreichische Verfassungsgeschichte, Widerstand und Verfolgung, Antisemitismus, Restitution und Umgang mit den Opfern nationalsozialistischer Verfolgung nach 1945, Beiträge zur Entwicklung demokratischer Strukturen in Österreich und zur österreichischen Integrationsgeschichte sowie zur Stellung Österreichs in der Europäischen Union, Oral-history-Projekte.
Personenregister Ackermann, Eduard 147 Adamec, Ladislav 196, 374, 377, 383 Alster, Ladislav 380, 381 Andreotti, Giulio 201, 343 Andrian-Werburg, Viktor Franz Freiherr von 50 Antall, Jószef 340 Arendt, Hannah 436 Ash, Timothy Garton 429, 439 Assmann, Aleida 487 Auersperg, Anton Graf von 50, 51 Badinger, Harald 107 Baker, James 167, 178, 205, 206, 419 Barthes, Roland 120 Bartsch, Franz 113 Bartsch, Rudolf Hans 54 Bauer, Friedrich 158–160, 233 Baumgartner, Gerhard 451, 506 Beckstein, Günther 290, 293, 298 Beck, Tamas 130 Beil, Gerhard 161, 236, 239 Beneš, Edvard 20, 368, 370, 383 Benthien, Bruno 161, 239 Berlakovich, Nikolaus 493 Bessmertnych, Alexander 342 Biedenkopf, Kurt 150 Bienenstein, Karl 56 Biľak, Vasiľ 369, 370 Binder, Erich 238 Blecha, Karl 375 Bock, Fritz 109, 114, 116, 118–120, 125–127, 132 Boer, Pim den 484 Böhl, Meinrad 44 Borhi, László 420 Brait, Andrea 12, 22, 23, 440, 472 Brandt, Willy 432 Brejc, Janko 59 Breschnew, Leonid 170, 223, 370, 374 Breuss, Fritz 14, 43, 81, 99, 111, 326, 415 Brix, Emil 443
Broek, Hans van den 206 Bruck, Karl Ludwig von 121 Bruckmüller, Ernst 14, 488, 506 Brückner, Karel 500 Brühl, Dietrich Graf von 145, 146, 148, 150, 153, 158, 191 Bruyn, Günther de 436 Budaj, Ján 391, 395 Busek, Erhard 10, 135, 136, 162, 186, 194, 195, 201, 209, 214, 360, 361, 363, 375, 399, 456, 491 Bush, George H. W. 16, 158, 163–167, 169–183, 331, 419 Bútora, Martin 394 Čalfa, Marián 396 Čarnogurský, Ján 196 Ceauşescu, Nicolae 147, 192, 196, 197 Chnoupek, Bohuslav 137 Chorherr, Thomas 419 Chruschtschow, Nikita S. 143, 406 Čič, Milan 395 Colombo, Emilio 336 Coudenhove-Kalergi, Richard Nikolaus 122 Csáky, Moritz 485 Cuéllar, Javier Péres de 197 Cvirn, Janez 50, 55 Czibere, Tibor 140 Dahrendorf, Ralf 484 Danqing, Chen 503 Dell’mour, Rene 85 Delors, Jacques 337 De Maizière, Lothar 161, 200, 240 De Michelis, Gianni 212, 339 Dengler, Johann J. 356 Dienstbier, Jiří 196, 215, 375, 421, 498 Dimitrova, Antoaneta 317 Doderer, Heimito von 47 Dolberg, Richard 122 Duchhardt, Heinz 485
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Personenregister
Dumas, Roland 68, 189, 334, 338 Eagleburger, Lawrence 216 Egger, Peter 85 Egger, Theresia 44 Einem, Caspar 293 Engelmayer, Günther 186 Ertl, Josef 502 Eyskens, Mark 337 Falk, Martin 86 Fasslabend, Werner 341, 344 Fekter, Maria 276 Ferdinand II., Kaiser 49 Figl, Leopold 185 Fischer, Heinz 199, 200, 408, 409, 495 Fischer, Oskar 140, 148, 161, 225, 232, 233, 236, 239 Fleischhacker, Michael 506 Fleming, Marilies 379, 380 Florath, Bernd 490 Fojtík, Jan 369 Foucault, Michel 109 François, Etienne 490, 505 Frank, Michael 301 Franz Ferdinand, Erzherzog 332 Frischenschlager, Friedhelm 235, 412 Fukuyama, Francis 67 Gabmann, Ernest 501 Gajdek, Joanna 298, 301 Gál, Fedor 391 Gansow, Volker 437 Gateva, Eli 316 Gaulle, Charles de 308 Gehler, Michael 12, 13, 15, 16, 22, 68, 189, 192, 240, 242, 349, 361, 474, 475, 483 Geißler, Heiner 150 Genscher, Hans-Dieter 15, 137, 140, 147, 148, 150, 151, 153–157, 173, 180, 205, 206, 216, 217, 219, 336, 337, 419, 424, 437, 484, 498 Glogowski, Gerhard 299 Gonschor, Marcus 12, 16, 223 Gorbatschow, Michail 111, 143, 147, 168, 170, 172, 174, 178, 181–183, 187, 193, 202, 205, 223, 331, 336, 338, 370, 407, 420 Graf, Maximilian 17, 18, 170, 192
Graf, Robert 222 Grillparzer, Franz 49, 50, 52 Gron, Stefan 141, 160 Grósz, Károly 422, 425 Gruber, Simon 20 Grün, Anastasius 50 Gstättner, Egyd 496 Gugler, Klaus 85 Güntner, Hans 116 Habermas, Jürgen 436, 437 Habsburg, Otto von 15, 122, 144, 173, 192 Habsburg, Walpurga von 15, 144 Haider, Jörg 43, 325, 361 Hájek, Jiří 382 Hanisch, Ernst 474 Hantos, Elmér 122 Harders, Cilja 11 Harmel, Pierre 308 Hartl, Georg 500 Hauser, Gunther 19 Havel, Václav 137, 187, 188, 196, 367, 368, 378, 380, 384, 491 Hawlicek, Hilde 375 Hebbel, Friedrich 52 Heckmann, Friedrich 284 Heinl, Eduard 109, 113–115, 120–124 Hensel, Jana 260 Herder, Johann Gottfried 48, 49 Hillion, Christophe 322 Hitler, Adolf 60 Hobsbawm, Eric 9, 429 Hodža, Milan 389 Holzheimer, Juliane 17, 483 Honecker, Erich 140, 145, 147, 148, 162, 174, 222, 225, 228, 234, 235, 236, 370, 434 Horn, Gyula 15, 17, 20, 22, 68, 141, 142, 144, 147, 148, 150–152, 189–191, 194, 196, 204, 215, 219, 231, 232, 339, 354, 411, 421, 422, 424, 425, 471, 476, 478, 493, 495–497, 499 Horváth, István 146, 147, 150, 190, 419, 422 Howe, Geoffrey 137 Huber, Ludwig 119 Hummer, Waldemar 334–336 Hurd, Douglas 209 Husák, Gustáv 372, 374, 375, 391
Personenregister Inzko, Valentin 454, 455 Izetbegović, Alija 204 Jakeš, Miloš 370, 376 Janát, Bohumír 382 Jankowitsch, Peter 416, 417 Jansen, Michael 148, 173 Jarausch, Konrad H. 437, 505, 506 Jaruzelski, Wojciech 171 Jelzin, Boris 338 Jesse, Eckhard 436 Jeszenszky, Geza 493 Jochum, Manfred 491 Johanes, Jaromír 374, 377, 378 Jukić, Mirna 42, 43 Junuzović, Zlatko 42, 43 Juppé, Alain 328 Kádár, János 138, 144, 406–408, 419, 420 Kafka, Franz 109, 128–131 Kaindl, Kurt 44, 503, 507 Karadžić, Radovan 204 Karner, Otto 125 Keßler, Heinz 140 Khol, Andreas 333, 335, 418, 483 Kink, Martin 113 Kirchberger, Manfred 267 Kissinger, Henry 166 Kiss, László J. 21, 138, 142, 440 Klaus, Josef 118, 136, 186 Klein, Josef 113 Klestil, Thomas 362, 363, 411, 414, 491, 495 Klima, Viktor 491, 494 Kňažko, Milan 391 Kohl, Helmut 16, 17, 140, 144–148, 150–153, 158, 160–168, 171, 173–183, 191, 194, 198–202, 209–212, 216, 218, 219, 236, 237, 419, 424, 426, 434, 437 Koller, Wolfgang 86 König, Kardinal Franz 390 Kovács, László 150 Kovařík, Jan 381 Krammer, Reinhard 479 Krapfel, James 390 Krauss, Marita 469 Kraus, Wolfgang 214 Kreis, Georg 20, 485
541
Kreisky, Bruno 118, 137, 185, 222, 407, 408, 417, 451 Krejci, Herbert 353 Krenz, Egon 236, 434, 435 Kriechbaumer, Robert 44 Krugman, Paul 89 Kučan, Milan 341 Kühberger, Christoph 13, 22, 441, 487 Kühschelm, Oliver 12, 15, 415, 432 Kunštát, Miroslav 20 Kurz, Sebastian 19 Kussbach, Erich 148 Kutschera, Richard 123 Kuzmich, Stephan 238 Kwaśniewski, Alexander 491 Lacina, Ferdinand 160, 199 Laclau, Ernesto 120 Lanc, Erwin 409 Lange, Winfried 358 Lenin, Wladimir Iljitsch 497 Lichal, Robert 375 Lindner, Monika 494 Lingen, Kerstin von 486 Lintner, Eduard 294 Lipavský, Jan 381 Lončar, Budimir 339 Lottes, Günther 486 Lubbers, Ruud 198, 201 Ludwig, Siegfried 494 Lugmayr, Martin 324 Lullies, Christina 44 Lutterotti, Markus 350 Machreich, Wolfgang 495 Maria Theresia, Königin 117, 267, 385 Marković, Ante 341 Masaryk, Tomáš Garrigue 370 Matt, Gerald 503 Mautner-Markhof, Manfred 113 Mayr, Hans 378 Mazowiecki, Tadeusz 194, 498 Mečiar, Vladimír 399, 401 Medek, Ivan 380 Medgyessy, Péter 212 Meinl, Julius 122 Menasse, Robert 437
542
Personenregister
Merkel, Angela 495 Merkel, Ina 260, 261 Mesić, Stipe 204 Milošević, Slobodan 203, 204, 208, 332, 333 Mittag, Günter 222, 232, 235 Mitterrand, François 156, 172, 175, 177, 201, 210, 212, 236, 241 Mock, Alois 15–17, 20, 22, 68, 135–137, 140–145, 147–149, 161, 162, 173, 185–203, 205–208, 211– 219, 231, 233, 237, 242, 334, 339, 342, 344, 347, 351, 352, 354, 356, 358–360, 374, 375, 409, 413, 416, 421, 425, 476, 478, 491, 493–497, 499 Modrow, Hans 160, 161, 177, 178, 199, 200, 236, 238, 239, 240, 241 Molden, Berthold 267 Möllemann, Jürgen 140 Momper, Walter 160, 238 Nagy, Janos 140 Naumann, Friedrich 414 Németh, Miklós 138–140, 144–148, 151, 152, 171–173, 190, 192, 194, 338, 419, 422, 424, 425 Nettel, Erik 148 Neubert, Erhart 437, 439 Niethammer, Lutz 245 Nora, Pierre 472, 484, 485, 488, 507 Novák, Stanislav 397 Nowotny, Thomas 159, 335 Nyers, Rezső 409, 425 Olt, Reinhart 291, 295 Onaran, Özlem 87 Oplatka, Andreas 408, 422, 424, 425 Opp, Karl Dieter 437 Orbán, Viktor 491, 494 Ott, Harry 425 Palach, Jan 378 Palacký, František 49, 52 Palmer, Mark 419 Pan, Christoph 453 Peterle, Lojze 204, 205, 341 Pfaffermayr, Michael 85 Pfeil, Beate Sibylle 453 Piccolomini, Silvio 47 Pictet, François 363 Plassnik, Ursula 350
Pointner, Wolfgang 84 Pozsgay, Imre 144, 192 Preston, Christopher 307 Pridham, Geoffrey 317 Proksch, Udo 357 Pröll, Erwin 494 Pudlat, Andreas 12, 18, 297, 300, 347 Puschner, Uwe 490 Raab, Julius 185 Rathkolb, Oliver 474, 500 Rauscher, Michael 44 Reagan, Ronald 16, 163–169, 182, 336 Redlich, Joseph 51 Reinhold-Weisz, Eva 44 Reinprecht, Christoph 10, 466, 468 Reitzer, Hermann 116 Rett, Barbara 497 Richter, Michael 435 Rider, Jacques le 485 Riegler, Josef 194, 200, 201, 205 Rogge, Walter 53 Rohan, Albert 343 Roľko, Matej 395 Rosegger, Peter 55, 56 Rotter, Manfred 335 Rugova, Ibrahim 204, 332 Rupel, Dimitrij 204 Sabrow, Martin 430, 437, 488 Sacharow, Andrei 137, 187 Sant’Agata, Giulio Terzi di 328 Sauerzopf, Franz 139 Schabowski, Günter 497 Schäffer, Albert 291, 299 Schatzl, Leo 494 Schäuble, Wolfgang 498 Schebeck, Fritz 99 Schedl, Otto 119 Schelter, Kurt 294, 299 Schewardnadse, Eduard 137, 142, 178, 181, 225, 338, 430 Schikin, Gennadi 338 Schimmelfennig, Frank 306, 307 Schimmelpfennig, Andreas 12, 21, 22 Schiwkow, Toder 195 Schlögel, Karl 492
Personenregister Schlögl, Karl 290, 294, 299 Schmale, Wolfgang 483, 485–487 Schmidt-Gödelitz, Axel 442 Schmidt, Helmut 166, 420, 434 Schneider, Michael 437 Schneider, Wolfgang 345 Schorlemmer, Friedrich 497 Schröder, Gerhard 494 Schröter, Dirk 438 Schulz, Kurt-Werner 145 Schüssel, Wolfgang 130, 325, 361, 368, 466 Schwabe, Klaus 176 Schwarzenberg, Karel 498 Schwarz, Hans-Peter 219, 474 Schwarz, Oliver 19, 270, 302, 445 Schweitzer, Michael 335 Scowcroft, Brent 16, 163–165, 169–174, 176, 180, 182 Sebestyén, György 214 Sedelmeier, Ulrich 306, 307 Seiters, Rudolf 147 Shultz, George 137 Siebold, Angela 18 Sindermann, Horst 149, 233 Sinn, Hans-Werner 84 Sinowatz, Fred 456 Sipötz, Johann 139 Sirota, Igor 381 Skubiszewski, Krysztof 194, 298 Sobotka, Wolfgang 494 Söhner, Felicitas 21, 484 Sólyom, László 495 Sommer, Monika 485 Sontag, Susan 487 Späth, Lothar 150 Spiel, Hilde 60 Spindelegger, Michael 328, 492, 495 Stadler, Gerhard 502 Stafflmayr, Emil 213 Stamm, Rudolf 354 Staribacher, Josef 118, 119 Stavenhagen, Lutz 201 Stehrer, Robert 86 Stillfried, Bernhard 214 Stoph, Willi 235 Štrougal, Lubomír 370, 375, 376, 381 Štúr, Ľudovít 389
543
Sturm, Marjan 453 Sudhoff, Jürgen 143, 148 Sundhaussen, Holm 204, 217 Süssmuth, Rita 150 Szekely, János 138 Szűcs, Jenő 47 Teltschik, Horst 140, 146, 147, 151, 218 Thalberg, Hans 350 Thatcher, Margaret 172, 175, 177, 200, 201, 241, 337 Ther, Philipp 439, 440 Tilly, Charles 437 Timmer, Karsten 437 Tindemans, Leo 336, 337 Tito, Josip Broz 202, 332 Tőkés, László 196, 197 Tomei, Verónica 296 Tončić-Sorinj, Lujo 137 Töpfer, Klaus 379, 380 Troebst, Stefan 483, 484 Tudjman, Franjo 208, 332 Václavík, Milán 375 Vajnar, Vratislav 375 Vášáryová, Magda 398 Vehres, Gerd 143, 144, 150 Voigt, Karsten 150 Vranitzky, Franz 135–140, 149, 160–162, 193, 198, 199, 207, 222, 233–239, 241, 242, 340, 354, 359, 361, 363, 370, 374–376, 378, 381–383, 395, 397, 402, 419, 422, 456 Waha, Andreas 493 Waldheim, Kurt 43, 131, 334, 346, 347, 357, 476 Wałęsa, Lech 194 Wallinger, Geoffrey 433 Weber, Juliane 147 Weidenfeld, Werner 183 Weiß, Konrad 437 Whitman, Richard 305 Winkler, Arnold 124 Wohnout, Helmut 16, 17, 68, 230, 333, 421, 489, 491 Wolfmayr-Schnitzer, Yvonne 85 Wunderbaldinger, Franz 10, 158, 159, 238 Wutte, Martin 60
544 Zajac, Peter 391 Zeman, Miloš 368
Personenregister Zilk, Helmut 146 Zwahr, Hartmut 437
Personenregister
SCHRIFTENREIHE DES FORSCHUNGSINSTITUTES FÜR POLITISCH-HISTORISCHE STUDIEN DER DR.-WILFRIED -HASLAUER-BIBLIOTHEK HERAUSGEGEBEN VON ROBERT KRIECHBAUMER, HUBERT WEINBERGER UND FRANZ SCHAUSBERGER EINE AUSWAHL
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VERGÄNGLICHKEIT
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JÜDISCHE SOMMERFRISCHE IN
GERD BACHERS REDEN, VORTRÄGE,
SALZBURG
STELLUNGNAHMEN AUS DEN JAHREN
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1967 BIS 1994
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SPRACHE UND POLITIK
ROBERT HOFFMANN,
2002. 224 S. 12 S/W- UND 15 FARB. ABB.
ROBERT KRIECHBAUMER (HG.)
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SALZBURG STÄDTISCHE LEBENSWELT(EN) SEIT 1945
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2000. 439 S. 25 S/W-ABB. GB. MIT SU
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ISBN 978-3-205-99255-4
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DIE GROSSEN ERZÄHLUNGEN
ENDE DES 20. JAHRHUNDERTS AM
DER POLITIK
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2002. 168 S. 19 S/W-ABB. BR.
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WENDE BIS 1945 2001. 819 S. GB. MIT SU
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ISBN 978-3-205-99400-8
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SQ472
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DER GENERALINTENDANT
JÜDISCHE SOMMERFRISCHE IN
GERD BACHERS REDEN, VORTRÄGE,
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STELLUNGNAHMEN AUS DEN JAHREN
2002. 364 S. 47 S/W-ABB., 7 GRAF., 17 TAB.
1967 BIS 1994
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2002. 224 S. 12 S/W- UND 15 FARB. ABB.
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ENDE DES 20. JAHRHUNDERTS AM
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ÖSTERREICH VON DER JAHRHUNDERT-
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ERNST HANISCH, ROLAND FLOIMAIR,
FRONT 1933–1938
FRANZ SCHAUSBERGER (HG.)
2002. 272 S. 263 S/W-ABB. GB.
DIE ÄRA HASLAUER
ISBN 978-3-205-77011-4
SALZBURG IN DEN SIEBZIGER UND ACHTZIGER JAHREN
BD. 18 | FRANZ SCHAUSBERGER (HG.)
2001. 698 S. 17 S/W-ABB., 73 TAB., 15 GRAF.
ENGAGEMENT UND BÜRGERSINN
GB. MIT SU | ISBN 978-3-205-99377-3
HELMUT SCHREINER ZUM GEDENKEN 2002. 471 S. ZAHLR. S/W-ABB. AUF 36 TAF.
SQ472
GB. MIT SU | ISBN 978-3-205-77072-5
SCHRIFTENREIHE DES FORSCHUNGSINSTITUTES FÜR POLITISCH-HISTORISCHE STUDIEN DER DR.-WILFRIED -HASLAUER-BIBLIOTHEK BD. 40 | RICHARD VOITHOFER
BD. 45 | ROBERT KRIECHBAUMER
„… DEM KAISER TREUE UND
UMSTRITTEN UND PRÄGEND
GEHORSAM …“
KULTUR- UND WISSENSCHAFTSBAUTEN
EIN BIOGRAFISCHES HANDBUCH DER
IN DER STADT SALZBURG 1986–2011
POLITISCHEN ELITEN IN SALZBURG
2012. 268 S. 64 FARB. ABB. GB.
1861 BIS 1918
ISBN 978-3-205-78860-7
2011. 195 S. 10 S/W-ABB. BR. ISBN 978-3-205-78637-5
BD. 46 | ROBERT KRIECHBAUMER ZWISCHEN ÖSTERREICH UND
BD. 41 | HERBERT DACHS, CHRISTIAN
GROSSDEUTSCHLAND
DIRNINGER, ROLAND FLOIMAIR (HG.)
EINE POLITISCHE GESCHICHTE DER
ÜBERGÄNGE UND VERÄNDERUNGEN
SALZBURGER FESTSPIELE 1933–1944
SALZBURG VOM ENDE DER 1980ER
2013. 445 S. 70 S/W-ABB. UND 8 TAB. GB.
JAHRE BIS INS NEUE JAHRTAUSEND
MIT SU | ISBN 978-3-205-78941-3
2013. 893 S. 38 S/W-ABB. UND GRAF. GB. MIT SU | ISBN 978-3-205-78721-1
BD. 47 | ROBERT KRIECHBAUMER „... STÄNDIGER VERDRUSS UND VIELE
BD. 42 | ROBERT KRIECHBAUMER,
VERLETZUNGEN.“
PETER BUSSJÄGER (HG.)
DIE REGIERUNG KLIMA/SCHÜSSEL
DAS FEBRUARPATENT 1861
UND DIE BILDUNG DER ÖVP-FPÖ-REGIE-
ZUR GESCHICHTE UND ZUKUNFT DER
RUNG. ÖSTERREICH 1997–2000
ÖSTERREICHISCHEN LANDTAGE
2014. 432 S. 54 TAB. GB. MIT SU.
2011. 238 S. 7 S/W-ABB. GB. MIT SU
ISBN 978-3-205-79570-4
ISBN 978-3-205-78714-3 BD. 48 | OSKAR DOHLE, BD. 43 | ROBERT KRIECHBAUMER ,
THOMAS MITTERECKER (HG.)
FRANZ SCHAUSBERGER (HG.)
SALZBURG IM ERSTEN WELTKRIEG
DIE UMSTRITTENE WENDE
FERNAB DER FRONT – DENNOCH IM
ÖSTERREICH 2000–2006
KRIEG
2013. 848 S. ZAHLR. FARB. UND S/W-ABB.,
2014. 492 S. 154 S/W- UND FARB. ABB.
TAB. UND GRAF. GB. MIT SU
GB | ISBN 978-3-205-79578-0
SQ472
ISBN 978-3-205-78745-7