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German Pages [454] Year 2014
Karel Vodička Die Prager Botschaftsflüchtlinge 1989 Geschichte und Dokumente
Berichte und Studien Nr. 67 herausgegeben vom Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung e.V.
Karel Vodička
Die Prager Botschaftsflüchtlinge 1989 Geschichte und Dokumente
Mit einem Prolog von Hans-Dietrich Genscher sowie unter Mitarbeit von Jan Gülzau und Petr Pithart
V&R unipress
Gefördert mit Mitteln der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur und des Deutsch-Tschechischen Zukunftsfonds
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Umschlagabbildung: Tschechische Polizisten versuchen einen DDR-Flüchtling daran zu hindern, die deutsche Botschaft in Prag zu betreten. Foto: pictures alliance/AP Images.
1. Aufl. 2014 © 2014, V&R unipress in Göttingen / www.vr-unipress.de Alle Rechte vorbehalten Satz: Hannah-Arendt-Institut, Dresden Druck und Bindung: CPI buchbuecher.de GmbH, Birkach Printed in Germany ISBN 978-3-8471-0345-5 ISBN 978-3-8470-0345-8 (E-Book)
»Der Flüchtlingsstrom verwandelte sich in einen Urstrom der Geschichte. [...] Nun aber hatte sich der politische Urstrom in Bewegung gesetzt und schob sich ungehindert durch die DDR. Dieses Urstromtal nahm seinen Ausgang in Prag, der europäischsten aller europäischen Städte. Aber ihre Kräfte empfing die Entwicklung vom Willen der Menschen nach Freiheit und Selbstentfaltung. Wie lange hatten sie darauf gewartet, wieviel Zeit ihres Lebens dafür eingesetzt !« Hans - Dietrich Genscher
Inhaltsverzeichnis
1.
Was für ein schicksalhaftes Jahr 1989!
2.
Der Kreis schließt sich Prolog von Hans-Dietrich Genscher
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Allgemeines zur DDR / ČSSR-Diktatur vor dem Einsturz
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3.1 3.2 3.3 3.4 3.5
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3.
4.
Die Meilensteine auf dem Weg zur Freiheit 4.1 4.2 4.3
5.
6.
Die DDR ab Mitte der 1970er Jahre Kommunistische Diktatur in der Tschechoslowakei Krisenhafte Entwicklung der Wirtschaft in der DDR/ ČSSR Zur Implosion des kommunistischen Regimes in der DDR Der SED-Beschluss zur Entlassung der Botschaftsflüchtlinge
September: Dammbruch Oktober: Grenzschließung – Startschuss zur Revolution November: Mauerfall und »Samtene Revolution«
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Schlussfolgerungen. Der Flüchtlingsstrom als Urstrom der Geschichte
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Imponderabilien mit Gewicht. Reflexionen eines Prager Oppositionellen Petr Pithart
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7.
Inhaltsverzeichnis
Im Rückblick: Gescheiterte Fluchtversuche an den Staatsgrenzen der ČSSR und der DDR Jan Gülzau / Karel Vodička 7.1 7.2 7.3 7.4 7.5 7.6
DDR-Fluchtbewegung über andere Ostblockstaaten – oftmals mit fatalem Ende 1972: mehr als 80 Prozent aller Fluchtversuche über sozialistische Drittstaaten Grenzsicherungssysteme der ČSSR Grenztote in der ČSSR und der DDR Opferschicksale an DDR-Außengrenzen Verzeichnis der an der tschechoslowakischen Staatsgrenze ums Leben gekommenen Deutschen (1948–1989)
275 276 278 281 286 289 295
8.
Dokumente
301
9.
Anhang
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Quellenverzeichnis Literaturverzeichnis Abkürzungsverzeichnis Personenregister Danksagung Autoren
437 439 443 447 451 453
1. Was für ein schicksalhaftes Jahr 1989 !
Im Herbst 1989 berührten sich die deutsche und die tschechische Geschichte auf eine besondere Art und Weise. Zehntausende DDR - Bürger flüchteten damals über die »Goldene Stadt« Prag in die Freiheit ! Dabei erlebten sowohl die Zufluchtsuchenden selbst als auch alle weiteren involvierten Akteure extrem dramatische Stunden, Tage und Wochen. Es war wohl eine große Ausnahme der Geschichte : sie nahm ein glückliches Ende. Die Zufluchtsuchenden gelangten unversehrt in das gelobte Land. Das kommunistische Regime in der DDR war durch den Massenexodus, Grenzschließung, daraus entstandene Demonstrationen und das Aufbegehren der Bürger so stark erschüttert, dass auch die Berliner Mauer bald fiel. Die Ereignisse um die Prager Botschaft und die Massendemonstrationen in der DDR, die schließlich zum Zusammenbruch des kommunistischen Regimes in der DDR geführt hatten, waren große Ermunterung für die Tschechen und Slowaken. Die kommunistische Diktatur in der Tschechoslowakei brach dann praktisch zeitgleich mit dem Regime in der DDR in sich zusammen. Es stellt sich heraus, dass es im Herbst 1989 Wechselwirkungen zwischen der ČSSR und der DDR in Bezug auf die politischen Entwicklungen gab und dass es zu Synergieeffekten in beiden Ländern gekommen ist. Die tschechoslowakischen Forderungen im Zusammenhang mit der Problematik der Zufluchtsuchenden in der Prager Botschaft der Bundesrepublik Deutschland wirkten sich entscheidend auf die innere Entwicklung in der DDR aus. Der Massenexodus der DDR - Bürger, die anschwellenden Demonstrationen in der DDR nach der Grenzschließung am 3. Oktober 1989 und schließlich der Fall der Berliner Mauer waren wiederum ausschlaggebende Impulse und Katalysatoren der »Samtenen Revolution« in Prag. Nicht nur fielen beide kommunistischen Regime nahezu zeitgleich zusammen; ihre Schicksale waren auch eng miteinander verbunden. Tschechische und deutsche Geschichte haben sich im 20. Jahrhundert mehrfach gegenseitig in essentieller Weise beeinflusst, in der Vergangenheit überwiegend auf tragische Weise für beide Nationen. Dem gegenüber gehört die parallel verlaufende und gegenseitig
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bedingte Implosion der kommunistischen Regime in beiden Ländern im Herbst 1989 zweifellos zu den glücklichen Momenten in der Geschichte beider Völker. Dieser erfreuliche Ausgang der gemeinsamen historischen Ereignisse hat das Potential, das Geschichtsbewusstsein beider Völker dauerhaft positiv zu prägen.
2. Der Kreis schließt sich Prolog von Hans - Dietrich Genscher
Die Stunden in der deutschen Botschaft in Prag am 30. September 1989 gehören zu den bewegendsten meines Lebens. Schon im Herbst 1988 hatte ich gegenüber dem sowjetischen Außenminister Schewardnadse in New York die Erwartung geäußert, dass es im nächsten Sommer in der DDR zu Protestkundgebungen kommen werde, wenn es bis dahin keine Reformen gäbe. Der fortschreitende Zerfall der sozialistischen Staats - und Gesellschaftsstrukturen war unübersehbar, diese Entwicklung würde vor der DDR nicht haltmachen. Im Gegenteil : Seit Anfang 1989 beschleunigte sie sich auf dramatische Weise. Am 2. Mai 1989 hatte Ungarn begonnen, die Grenzsicherungen nach Österreich abzubauen; damit war der Eiserne Vorhang an entscheidender Stelle geöffnet. Am 27. Juni 1989 durchschnitten die Außenminister Ungarns und Österreichs, Horn und Mock, den Stacheldraht, der West - und Osteuropa trennte – ein historischer Tag, dessen Bedeutung wohl nur von wenigen erkannt wurde. Schließlich war Ungarn neben der Tschechoslowakei das bevorzugte Reiseland der DDR - Bewohner. Nun konnten sie von dort aus in den Westen gelangen. Einige Monate zuvor, am 18. Januar 1989, hatte ich in meiner Rede vor der KSZE - Folgekonferenz in Wien gesagt : »Die Schlussakte von Helsinki ermutigt die Kräfte, die jetzt in verschiedenen Staaten auf grundlegende Reformen drängen [...]. Was in den letzten Tagen in Leipzig und Prag gegen friedliche Demonstranten geschah, darf sich nicht wiederholen.« Das gemeinsame Haus Europa »muss ein Haus sein mit offenen Türen und Fenstern, in dem Menschenrechte und Menschenwürde geachtet werden, in dem jeder ohne Angst leben kann. Es ist eine historische Tatsache : Auch Jahrzehnte der Trennung, auch Jahre des kalten Krieges haben aus einem Europa nicht zwei gemacht, und auch aus einer deutschen Nation nicht zwei. Alles, was künstlich trennen soll, wird immer anachronistischer – die Mauer in Berlin ist ein solches Relikt. Nutzen wir die Möglichkeiten, die Lage in Europa grundlegend zu verändern, gehen wir den Weg, den europäischen Friedensweg, entschlossen weiter [...]. Wenn Europa zu sich selbst zurückfindet, finden alle Europäer zueinander. Die Bundesrepublik
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Deutschland wird weiter, wie es im Brief zu deutschen Einheit heißt, auf einen Zustand des Friedens in Europa hinwirken, im dem das deutsche Volk in freier Selbstbestimmung seine Einheit wiedererlangt.« Im August 1989 bereitete ich mich wie üblich auf meine Reise nach New York zur UN - Vollversammlung vor. Es war die Zeit, als die Lage in der deutschen Botschaft in Prag dramatische Formen annahm. Die Ost - Berliner Anwälte Wolfgang Vogel und Gregor Gysi waren nach Prag gereist, um die DDR - Flüchtlinge zur Rückkehr zu bewegen; was sie den Menschen zusicherten, war Ausreise innerhalb von sechs Monaten nach der Rückkehr. Sie mussten unverrichteter Dinge zurückkehren. Unterdessen ließ sich der Flüchtlingsstrom nicht mehr bewältigen. Alle Botschaftsangehörigen waren auf den Beinen, Tag und Nacht, rund um die Uhr. Unser Botschafter Huber, seine Frau und die gesamte Besatzung leisteten Übermenschliches. Aber die normalen Bordmittel reichten nicht mehr aus. Wir entsandten immer mehr Mitarbeiter aus der Zentrale und von anderen Botschaften in die tschechoslowakische Hauptstadt, die dort in Hotels untergebracht wurden. Die Behörden duldeten das, obwohl das alte ZK der Kommunistischen Partei noch im Amt war. Offensichtlich war man innerhalb der Führung unsicher geworden. Gleichzeitig verschärfte sich die Lage für die DDR - Flüchtlinge von Tag zu Tag. Immer mehr DDR - Bewohner suchten Zuflucht, und dieser Strom schwoll noch dramatischer an, nachdem die ungarische Regierung am 11. September die Grenze nach Österreich für alle ausreisewilligen DDR - Bürger im Lande geöffnet hatte. Am Samstag, dem 23. September, reiste ich zur UN - Vollversammlung nach New York. Im Flugzeug begleiteten mich Professor Kessler und sein Oberarzt. Sie hatten eine komplette kardiologische Ausrüstung dabei, falls es über dem Atlantik zu einem Herzinfarkt kommen sollte. Diese Gefahr war nicht auszuschließen, nachdem ich am 20. Juli 1989 einen Herzinfarkt erlitten hatte, und so hätte man im Flugzeug notfalls eine sogenannte Lyse machen können. Auch im Hotel waren die Ärzte unmittelbar neben der Suite untergebracht, in der meine Frau und ich wohnten. Meine Rede vor der Vollversammlung hielt ich am Vormittag des 27. September 1989. Sie schloss eine Passage zur deutschen Ostgrenze ein, die ich auf dem Flug nach New York wieder und wieder überarbeitet hatte. Angesichts der Entwicklung in der DDR und in den anderen sozialistischen Staaten war eine solche Stellungnahme notwendig geworden, denn wenn sich die Möglichkeit der Überwindung des Eisernen Vorhangs und damit auch der deutschen Teilung abzeichnete, dann durfte unsere Haltung zur Ostgrenze nicht unklar sein. Die Frage nach der Oder - Neiße - Linie würde von allen Seiten in Ost und West gestellt werden. Schwiegen wir uns hier aus, dann räumten wir der DDR die Rolle eines Garanten der polnischen Westgrenze ein. Wozu aber hätte das führen können ? Zu einer
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Verfestigung der deutschen Spaltung ? Deshalb war ein deutliches, ein in der Sache verpflichtendes Wort unumgänglich. So erklärte ich fünfzig Jahre nach dem Beginn des Zweiten Weltkriegs in feierlicher Form vor dem Forum der Welt, der Generalversammlung der Vereinten Nationen : »Das polnische Volk ist vor fünfzig Jahren das Opfer des von Hitler Deutschland vom Zaun gebrochenen Krieges geworden. Es soll wissen, dass sein Recht, in sicheren Grenzen zu leben, von uns Deutschen weder jetzt noch in Zukunft durch Gebietsansprüche in Frage gestellt wird. Das Rad der Geschichte wird nicht zurückgedreht. Wir wollen mit Polen für ein besseres Europa der Zukunft arbeiten. Die Unverletzlichkeit der Grenzen ist Grundlage des friedlichen Zusammenlebens in Europa.« Mit dieser Passage wandte ich mich direkt an den polnischen Außenminister Skubiszewski, der, wie ich wusste, im Plenarsaal anwesend war. Die internationale Wirkung der Rede war groß. Das bestätigte ihre Notwendigkeit und Dringlichkeit. Nach der Sitzung der Generalversammlung hatte uns Außenminister Schewardnadse zum Mittagessen in die Residenz des sowjetischen UN - Botschafters geladen. Zu Beginn bedankte ich mich für einen sehr persönlich gehaltenen Brief Schewardnadses. Dieser wiederum würdigte meine Rede vom Vormittag. Offensichtlich hatte er die Botschaft verstanden, denn ich hatte mich nicht nur zur Frage der deutschen Ostgrenze geäußert, sondern auch zu den Rahmenbedingungen für die sich abzeichnende deutsch - deutsche Annäherung und Vereinigung : »Kein Staat wird sich dieser Entwicklung«, gemeint war die Reformentwicklung, »auf Dauer entziehen können. Wer auf das Scheitern der Reformen hofft, wird von der Entwicklung überrannt werden. Auch im Westen sollte niemand die neuen Möglichkeiten unterschätzen, sondern sie entschlossen im Interesse des ganzen Europa nutzen. Die Geschichte pflegt ihre Angebote nicht zu wiederholen. Ich appelliere an die Staaten Europas, diese geschichtliche Stunde nicht zu versäumen [...]. Die Bundesrepublik Deutschland sieht in der europäischen Friedensordnung auch den Rahmen für das Ziel, das der Brief zur deutschen Einheit formuliert hat, nämlich: auf einen Zustand des Friedens in Europa hinzuwirken, in dem das deutsche Volk in freier Selbstbestimmung seine Einheit wiedererlangt. Dieses Ziel wollen wir unter voller Achtung der von uns geschlossenen Verträge erreichen. Das kann nur mit allen Staaten in Europa und nicht gegen sie geschehen. Niemand in Europa hat Anlass, unsere Politik zu fürchten. Sie ist eingebettet in das Schicksal des ganzen Kontinents. Sie ist europäische Friedenspolitik. Das schließt natürlich Alleingänge aus.« Das war der Rahmen, in dem wir das Ziel, das wir im Brief zur deutschen Einheit formuliert hatten, erreichen wollten. Im Lauf des Gesprächs kam ich auch auf Schewardnadses UN - Rede vom Vortag zu sprechen. Er hatte darin die alte Koalition des Zweiten Weltkriegs beschworen und vor einem in Deutschland neu aufkommenden Revanchismus gewarnt, der versuche, die Nachkriegsordnung in Europa in Frage zu stellen.
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Niemand, so sagte er, dürfe willentlich oder unwillentlich die Kräfte des Revanchismus ermutigen. Zutiefst bestürzt und alarmiert hatte ich den Text dieser Rede gelesen, denn wir konnten solche Polemik mit allen ihren Folgen gerade jetzt nicht gebrauchen. Nach Beratung mit meinen Mitarbeitern packte ich den Stier bei den Hörnern. Mit großer Offenheit, so begann ich unser Gespräch, wolle ich seine Ausführungen vom gestrigen Tag ansprechen. Sie habe in der deutschen Öffentlichkeit große Aufmerksamkeit gefunden, weil man nach dem Stand unserer Beziehungen derartige Äußerungen nicht mehr für möglich gehalten habe. Der sowjetische Außenminister erwiderte, Anlass dazu seien einige Elemente in der Rede des Bundeskanzlers auf dem CDU - Parteitag in Bremen gewesen, vor allem die Passage über die Wiedervereinigung Deutschlands in den alten Grenzen. Er habe bewusst keine Namen genannt, um die Sache nicht zu verschlimmern, aber er halte die Lage für ernster als nach dem Interview des Bundeskanzlers von 1986. Diese Beurteilung der Bremer Rede wies ich zurück. Es gebe, so betonte ich, keinen Anlass zu einer solchen Bewertung. Im Übrigen wisse ich sehr genau, wie der Bundeskanzler zur Grenzfrage stehe; er sehe die Dinge nicht anders als ich, und meine Rede am Morgen sei wohl hinreichend klar gewesen. Mit großer Entschiedenheit legte ich Schewardnadse unsere Politik dar : Sie nehme ernst, was in der deutsch - sowjetischen Erklärung vom Frühsommer 1989 vereinbart sei – keinesfalls dürften wir uns um die Früchte des gemeinsam Erreichten bringen. Schließlich war Schewardnadse mit einer gemeinsamen Sprachregelung für die Öffentlichkeit einverstanden : Man sei sich einig, die Beziehungen in vollem gegenseitigen Vertrauen zwischen der sowjetischen Führung und der Bundesregierung weiter zu entwickeln. Als diese heikle Frage geklärt war, kam ich auf mein eigentliches Thema zu sprechen, die Lage in der DDR. Schon bei früheren Begegnungen, sagte ich zu Beginn, hätte ich ihn auf die Notwendigkeit von Reformen in der DDR hingewiesen, denn die Ursachen der allgemeinen Unzufriedenheit und der Fluchtbewegung lägen nicht vornehmlich im materiellen Bereich. Dann schilderte ich dem sowjetischen Außenminister die immer unerträglichere Lage in unserer Prager Botschaft, beschrieb die ähnliche Situation in Warschau und bat nachdrücklich um Hilfe für unser Bemühen, diese Probleme zu lösen und von der DDR - Führung die Zustimmung zur Ausreise zu erlangen. Schewardnadse, der zu erkennen gab, dass auch er Reformen in der DDR für notwendig hielt, versprach, Generalsekretär Gorbatschow unverzüglich über unser Gespräch zu unterrichten. Diesmal war er offensichtlich von meiner Analyse überzeugt. Ein Jahr zuvor, als ich ihn – ebenfalls in New York – schon einmal auf die bei ausbleibenden Reformen unvermeidlichen Entwicklungen in der DDR hingewiesen hatte, äußerte er noch erhebliche Zweifel an meiner Einschätzung. Aber auch damals sicherte er die Unterrichtung Gorbatschows zu.
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Am Abend des 27. September 1989 traf ich in unserer UN - Vertretung zu einem Abendessen mit DDR - Außenminister Oskar Fischer zusammen. Unsere Begegnungen waren zu einer nützlichen Tradition geworden, durch die wir in den Ost - West - Fragen im Allgemeinen, im KSZE - Prozess und in aktuellen Problemen zu einem Meinungsaustausch mit der DDR kamen. Bilaterale Fragen standen, entsprechend unserer Zuständigkeitsverteilung in der Bundesregierung, nicht auf der Tagesordnung. Nichts wäre der DDR - Seite schließlich lieber gewesen, als wenn von den Außenministern Themen der Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der DDR besprochen worden wären. Das hätte die These der DDR, dass beide deutsche Staaten füreinander Ausland seien, unterstrichen. Humanitäre Fragen hingegen warf ich immer wieder auf, und erfahrungsgemäß konnten Fälle, die bei solchen Gelegenheiten Erwähnung fanden, auch gelöst werden. Bei dieser Begegnung bat ich Außenminister Fischer zunächst um ein Gespräch unter vier Augen. Mit Bundesminister Seiters, der für die Beziehungen zur DDR zuständig war, hatte ich vereinbart, dass ich mit Fischer die gegenwärtige Situation behandeln würde. So erläuterte ich ihm die Lage in unseren Botschaften in Prag und in Warschau, wobei die Lage in der tschechischen Hauptstadt zweifellos dramatischer war. Wiederholt nickte Fischer bei meinen Darlegungen; offensichtlich war er über die Situation vor Ort umfassend informiert. Sodann machte ich ihm zwei Vorschläge, wie man die Ausreisefrage für die Zufluchtsuchenden in den Botschaften lösen könne. Die erste Alternative lautete : Wir gestatten Konsularbeamten der DDR, in unserer Botschaft die Pässe der Deutschen aus der DDR mit der erforderlichen Ausreisegenehmigung zu versehen; dann reisen diese mit Sonderzügen der Bundesbahn von Prag direkt in die Bundesrepublik Deutschland. Der Souveränitätsanspruch der DDR wird durch die Pass - Eintragungen gewahrt. Zweite Alternative : Die Sonderzüge fahren von Prag aus über DDR - Gebiet in die Bundesrepublik Deutschland. Dann können Formalitäten unterwegs erledigt werden. Vorausgegangen war ein offener, ernsthafter Meinungsaustausch. Ich erklärte Außenminister Fischer, dass die Deutschen aus der DDR auf keinen Fall bereit sein würden, an ihre alten Wohnorte zurückzukehren. »Warum genügen nicht sechs Stunden anstelle der bisher üblichen sechs Monate ?«, fragte ich. Damit spielte ich auf die zweite Alternative an, die ich danach präsentierte. Mein Eindruck war : Fischer sah die Notwendigkeit einer Lösung. Überhaupt lernte ich ihn an diesem Tage von einer Seite kennen, die mit seinem Verhalten bei unseren ersten Begegnungen vor fast anderthalb Jahrzehnten kaum zu vergleichen war. Plötzlich hörte ich nicht mehr die Sprache eines Mannes, der Erklärungen des Politbüros oder Zentralkomitees wiedergab. Auch Fischer suchte einen Weg und versprach, sofort nach seiner Rückkehr mit Honecker zu sprechen; telefonisch oder schriftlich sei das nicht möglich. Nach meiner Einschät-
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zung war der Grund für diese Haltung nicht böser Wille oder Uneinsichtigkeit, sondern die Sorge, dass irgend jemand – doch wer ? – gegensteuern könne. Rechnete Fischer mit einem Einlenken Honeckers, hatte aber Sorge vor anderen Kräften ? Auf meine Frage, wann er wieder in Ost - Berlin sei, sagte er : »Am Wochenende.« »Das ist zu spät«, war meine Antwort. Er müsse jetzt tätig werden. Am nächsten Morgen gegen 9 Uhr rief ich Fischer an. Erneut informierte ich ihn über die immer unerträglicher werdende Lage in der Botschaft. Auf meine dringende Bitte hin versprach er schließlich, meine Vorschläge nach Berlin weiterzuleiten. Nach meinem Eindruck gab sich Oskar Fischer Mühe, eine Lösung nach einem meiner Vorschläge herbeizuführen. Noch am selben Tag appellierte ich in einem persönlichen Gespräch an ČSSR Außenminister Johanes, zu einer Lösung beizutragen. Es müsse etwas geschehen. Johanes sagte nur zu, er werde Prag von meinen Ausführungen informieren; persönlich allerdings schien er nicht sehr berührt und meinte, diese Sache müsse zwischen Bonn und Berlin geregelt werden. Seine Regierung trage keine Verantwortung für die entstandene Lage. »Das ist nicht das Problem«, erwiderte ich. Es gehe darum, den Menschen zu helfen. Im Ton war ich um Zurückhaltung bemüht, denn immerhin tolerierte die Regierung der ČSSR alle unsere Aktivitäten – die Verpflegungszufuhr, die medizinische Betreuung, die Abordnung von zahlreichen Angehörigen des Auswärtigen Amts nach Prag. Das waren zwar Selbstverständlichkeiten, doch noch ein paar Monate früher wäre alles anders gewesen. Das ungarische Beispiel wirkte wenigstens insoweit bis nach Prag. Am späten Abend gab es ein Abendessen der Sieben, das heißt der USA, Kanadas, Großbritanniens, Frankreichs, Italiens, Japans und Deutschlands. Als ich auch dort über die Lage berichtete, sagten Jim Baker und Roland Dumas sofort Hilfe zu. Die entscheidende Wende ging aber offensichtlich von dem Gespräch mit Schewardnadse am Nachmittag in der sowjetischen Vertretung aus. Über den Leiter des Ministerbüros, Frank Elbe, ließ ich ihn dringlich um ein persönliches Gespräch bitten. Mein sowjetischer Kollege reagierte auf der Stelle : Ich möge bitte sofort kommen. Da jedoch für den Nachmittag bereits Begegnungen mit anderen Außenministern in meiner Hotelsuite vorgesehen waren, standen mir unsere Fahrzeuge nicht zur Verfügung, und so sprach Elbe die Besatzung eines Streifenwagens der New Yorker Polizei an. Kurz erläuterte er die Lage, dann stiegen wir ein. Mit Blaulicht und Sirene ging es zur sowjetischen Botschaft, wo diese ungewöhnliche Art der Vorfahrt verständlicherweise einiges Aufsehen erregte, vielleicht aber auch den Ernst der Lage unterstrich. Schewardnadse erwartete mich. Er hatte den jugoslawischen Außenminister Lončar, der ebenfalls eingetroffen war, für die Verzögerung ihres Treffens um Verständnis gebeten. Mit großem Nachdruck erläuterte ich Schewardnadse die Lage. Ich bäte um Hilfe; es gehe um die Zustimmung zum unverzüglichen Beginn der Ausreise und um eine sofortige gesicherte Unterbringung auch außerhalb der Botschaft, weil
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wir mit stündlich ansteigenden Zahlen rechneten. Der sowjetische Außenminister fragte : »Sind Kinder dabei und wie viele ?« »Viele.« »Ich helfe Ihnen.« Er wollte sich an Gorbatschow, auch an Ost - Berlin und an Prag wenden und zeigte sich zutiefst betroffen über meine Schilderung. Der sensible Mann empfand als Mensch, er versteckte sich nicht hinter einer ideologischen oder einer vermeintlichen Staatsräson. Er erinnerte sich wohl daran, was ich ihm vor einem Jahr an gleicher Stelle gesagt hatte. Als ich die Botschaft verließ, dankte ich ihm. Seine rechte Hand ergriff ich mit beiden Händen. Am Freitag, dem 29. September, war ich gegen 17.00 Uhr gerade im Begriff, das Hotel zum Rückflug nach Bonn zu verlassen, als das Telefon klingelte : Ein Mitarbeiter von Außenminister Fischer – Botschafter Niklas – informierte uns, der Ständige Vertreter der DDR werde am Morgen des nächsten Tages mit neuen Instruktionen ins Bonner Auswärtige Amt kommen. »Herr Fischer lässt Herrn Genscher sagen, es lohne sich immer, mit ihm zu sprechen.« Daraufhin ließ ich Fischer ausrichten, der Ständige Vertreter möge nicht im Auswärtigen Amt, sondern wie üblich im Kanzleramt vorstellig werden. Gerade in dieser dramatischen Phase der deutsch - deutschen Beziehungen wollte ich auf keinen Fall die Zuständigkeiten innerhalb der Regierung verwischen, weshalb ich auf korrekter Verfahrensweise bestand. Hier ging es nicht um formale Kompetenz - , sondern um Statusfragen. Da die DDR für uns nicht Ausland war, blieb sie der einzige Staat, mit dem die bilateralen Beziehungen in der Zuständigkeit des Bundeskanzleramts lagen. Noch vor Verlassen des Hotels informierte ich telefonisch den Bundeskanzler und Bundesminister Seiters. Diese Woche war in vieler Hinsicht symbolträchtig für die Veränderungen in Europa und in der Welt. Während ich noch darum rang, von der DDR - Führung die Zustimmung zur Ausreise der Deutschen aus Prag zu erhalten, übergab mir der Außenminister Ungarns, Gyula Horn, ein Stück des Stacheldrahts, der einmal an der ungarisch - österreichischen Grenze Europa geteilt hatte. Dieses Symbol der Einheit hat einen Ehrenplatz in meiner Bibliothek gefunden, um mich stets an das zu erinnern, was war, und auch daran, dass nichts unmöglich ist, nicht die Teilung Europas, aber auch nicht ihre friedliche Überwindung. Während der Unterhaltung mit Gyula Horn erfuhr ich, dass er Probleme mit seinem Rückflug nach Europa hatte. Ich lud ihn zum Mitflug in unserer Bundeswehrmaschine ein, und so saß, während ich auf dem Weg von New York nach Bonn war, neben mir der Außenminister eines Landes, das noch immer Mitglied des Warschauer Pakts war. Offen erörterten wir in seiner Gegenwart unsere Absichten und Sorgen für den nächsten Tag. Wir vertrauten ihm; er gehörte zu uns. Er hatte Menschlichkeit bewiesen, hatte gezeigt, dass Ungarn längst einen neuen Weg beschritten hatte. Am Morgen des 30. September 1989 landeten wir in Bonn. Zu Hause machte ich mich frisch, dann fuhr ich ins Kanzleramt. Als der Ständige Vertreter Ost -
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Berlins, Neubauer, Bundesminister Seiters und mir erklärte, man habe sich beim Abwägen der beiden von mir vorgeschlagenen Varianten für die zweite entschieden, also für die Fahrt durch die DDR, antwortete ich : »Die Lage hat sich inzwischen weiter verschärft. Es ist deshalb notwendig, dass die Züge von hochrangigen Beamten der Bundesregierung begleitet werden. Außerdem werde ich selber nach Prag reisen, weil die Stimmung, wie sie alle Beobachter schildern, inzwischen so gespannt ist, dass die Flüchtlinge die Botschaft nicht verlassen wollen. – Ich muss Ihnen die Lage so schildern, wie sie ist. Die Flüchtlinge vertrauen Ihnen nicht. Aber ich bin sicher, dass ich die Menschen durch eine Art persönlicher Bürgschaft bewegen kann, durch die DDR zu reisen. Wichtig wird sein, dass Herr Seiters und ich sowie hohe Beamte die Züge begleiten, als eine Art vertrauensbildende Maßnahme.« Neubauer fuhr daraufhin in sein Büro nach Bad Godesberg, telefonierte mit Ost - Berlin, kam zurück ins Kanzleramt und erklärte das Einverständnis. Noch am selben Nachmittag flog ich zusammen mit Kanzleramtsminister Seiters nach Prag. Ich legte Wert auf seine Mitreise, weil ich in dieser Lage auch nach außen den Schulterschluss von Regierung und Koalition zeigen wollte. Begleitet wurden wir von Staatssekretär Priesnitz aus dem Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen, von Ministerialdirektor Kastrup aus dem Auswärtigen Amt, Ministerialdirigent Duisberg aus dem Kanzleramt sowie von Ministerialdirektor Jansen aus dem Auswärtigen Amt und dem Leiter des Ministerbüros, Frank Elbe. Kurz bevor die Türen der Bundeswehrmaschine geschlossen wurden, rief mich ein Unteroffizier ans Telefon. Ich erfuhr, dass die Situation sich noch einmal geändert hatte : Der Ständige Vertreter der DDR sagte nun, abweichend von unserer Verständigung vor wenigen Stunden, dass die Führung der DDR mit der Mitreise der beiden Bundesminister Seiters und Genscher in den Sonderzügen nicht einverstanden sei. Ich nahm diese Nachricht zur Kenntnis und machte mir nun die größten Sorgen, wie wir unter diesen Umständen das Vertrauen der Menschen für eine Fahrt durch die DDR noch gewinnen könnten. Unsere Mitreise hätte die Sache fraglos erleichtert. Ich kündigte ein weiteres Gespräch mit Botschafter Neubauer aus Prag an. Kurz danach startete eine zweite Maschine mit Staatssekretär Dr. Sudhoff nach Warschau. Auf dem Flug dachte ich darüber nach, was ich in Prag zu den in der Botschaft versammelten Menschen sagen sollte. In dieser Stunde war mir bewusst : Jetzt würden nicht nur einige Tausend Deutsche aus der DDR unsere Botschaft in Richtung Bundesrepublik verlassen können, es kündigt sich Historisches an : Die DDR ist am Ende. Was sich hier vollzieht, ist im Grunde der Zusammenbruch der DDR von innen und von unten; das Ende der Mauer rückt in Sichtweite. War die Ausreise aus Ungarn noch gegen den wütenden Protest der Führung in Ost Berlin geschehen, so reisten die Menschen aus der Prager Botschaft – nur zwanzig Tage später – mit ihrer Zustimmung aus. Der Flüchtlingsstrom verwandelte
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sich in einen Urstrom der Geschichte. Es wurde wahr, was ich immer wieder in meinen Reden gesagt hatte : »Selbst Jahrzehnte der Trennung können aus einem Volk nicht zwei machen.« Auch erinnerte ich mich, dass in der Bundesrepublik die Aufnahme von Deutschen aus der DDR in unseren Botschaften in Mittel und Osteuropa mitunter als eine unnötige Störung der Entspannungspolitik empfunden worden war. Die Forderung Ost - Berlins, wir sollten Deutschen aus der DDR in unseren Botschaften keine Aufnahme gewähren, fand durchaus offene Ohren – ein Ansinnen, das ich immer zurückgewiesen hatte. Wir durften uns nicht zu Hilfskräften der Abgrenzungspolitik machen, durften die Mauer nicht administrativ an den Toren unserer Botschaften noch einmal errichten. Am Flughafen in Prag begrüßte mich am Nachmittag ganz offiziell der Staatssekretär im tschechoslowakischen Außenministerium. Die Regierung brachte damit zum Ausdruck, dass sie diesen Besuch offiziell zur Kenntnis nahm. Unverzüglich fuhren wir zu unserer Botschaft, vor der wir auf eine unser Kommen gespannt erwartende große Menschenansammlung stießen. Wir gingen durch die Tür des Gebäudes und sahen schon im Torbogen die Betten dreifach übereinander stehen : Ein Teil der Flüchtlinge musste liegen, weil nicht genug Bewegungsfläche für alle da war. Botschafter Huber geleitete mich den Gang hinunter. Zunächst, so bemerkte ich, realisierten die Menschen gar nicht, dass der Außenminister angekommen war. Über Schlafende hinweg stiegen wir die Treppe hinauf ins obere Stockwerk zur Wohnung des Botschafters, von wo ich noch einmal mit Botschafter Neubauer telefonierte, um ihn auf die möglichen Folgen aufmerksam zu machen, wenn Seiters und ich nicht mitreisen. Neubauer teilte mir mit, er habe keine neuen Weisungen aus Ost - Berlin. So mussten wir versuchen, das Vertrauen der Flüchtlinge auf andere Weise zu gewinnen. Nachdem wir die weiteren Einzelheiten besprochen hatten, sagte ich : »Herr Huber, es ist wohl Zeit, auf den Balkon zu gehen, um von dort die Menschen zu informieren.« Wir traten hinaus. »Liebe Landsleute« – ein Jubelsturm brach los. Dann begann ich : »Wir sind gekommen, um Ihnen zu sagen ...« Ehe ich den Satz zu Ende bringen konnte, noch einmal unbeschreiblicher Jubel. Auch heute, im Rückblick der Jahre, ergreift mich bei dieser Erinnerung noch immer tiefe Bewegung. Dann erklärte ich : »Der erste Zug fährt schon heute. Ich bitte Sie, dass vor allem die Kranken und Mütter mit kleinen Kindern Platz finden.« Und weiter sagte ich : »Ich will Sie noch über den Weg, der vor Ihnen liegt, informieren. Die Züge werden die Grenze zwischen der tschechoslowakischen Republik und der DDR überqueren.« Plötzlich wurde große Unruhe spürbar. »Ich bitte Sie, mich anzuhören !« fuhr ich fort. »Die Züge werden ohne Halt durchfahren. Sie müssen die Züge nicht verlassen. Ich weiß, was Sie empfinden. Sie sind alle in einem Alter, in dem ich war, als ich die DDR verlassen habe. Deshalb kann ich nachfühlen, was Sie in diesem Augenblick empfinden, auch Ihre Sorge.« Nur persönliche Glaubwürdigkeit,
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spürte ich, konnte die Menschen überzeugen : »Wenn jemand, der einen Lebensweg, der ein Schicksal hinter sich hat wie ich, Ihnen sagt, ich verbürge mich dafür, dass die Versprechungen eingehalten werden, dann dürfen Sie das glauben.« Wieder gab es Beifall. »In jedem Zug werden zwei Beamte von uns sein, aus dem Kanzleramt und aus dem Auswärtigen Amt. Hier stehen sie.« Ich stellte die Beamten namentlich vor : »Das ist der Ministerialdirektor Dr. Jansen. Das ist der Vortragende Legationsrat Elbe. Hier steht der Ministerialdirigent Duisberg aus dem Bundeskanzleramt und hier Staatssekretär Priesnitz. Sie alle werden in den Zügen sein. Sie können uns vertrauen.« Dann wandte ich mich noch an Flüchtlinge aus meiner Heimatstadt : »Sind denn Hallenser da ?« Sofort riefen einige Stimmen : »Ja, hier !« Es war ein unvergesslicher Moment, für mich ebenso wie für die in der Botschaft versammelten Menschen, und noch heute höre ich bei zufälligen Begegnungen immer wieder : »Wir waren damals in der Botschaft in Prag mit dabei !« Der erste Zug verließ schon am Abend des 30. September 1989 Prag in Richtung DDR. Die mitreisenden Beamten riefen mich am nächsten Morgen an : »Sie können sich nicht vorstellen, was wir erlebt haben !« Die Sympathiekundgebungen unterwegs waren überwältigend. Überall an der Bahnstrecke hatten DDR Bürger gewinkt. Manch einer hatte sogar Betttücher aus dem Fenster gehängt. Wenn man mich nach dem Gespräch mit Außenminister Fischer in New York gefragt hätte, welche der beiden Varianten die DDR wohl wählen würde, hätte ich auf die erste, die des direkten Weges in die Bundesrepublik Deutschland, getippt. Wie konnte die Führung in Ost - Berlin unterschätzen, welchen psychologischen Effekt der Transport tausender Flüchtlinge durch die DDR haben würde ? Die Wirkung war unübersehbar. Bei einer direkten Ausreise wie der von Ungarn über Österreich wären die Konsequenzen kaum so schwerwiegend gewesen; nun aber hatte der politische Urstrom sich in Bewegung gesetzt und schob sich ungehindert durch die DDR. Dieses Urstromtal nahm seinen Ausgang in Prag, der europäischsten aller europäischen Städte. Aber ihre Kräfte empfing die Entwicklung vom Willen der Menschen nach Freiheit und Selbstentfaltung. Wie lange hatte ich darauf gewartet, wieviel Zeit meines Lebens dafür eingesetzt ! Lange schien das Ziel schwer und nur in ferner Zeit erreichbar, dann wurde es als Möglichkeit sichtbar und zuletzt so schnell greifbar, dass ich zu träumen glaubte. Als ich von Prag nach Bonn zurückflog, als Außenminister des freien Deutschland, gingen meine Gedanken zurück zu meiner Kindheit und Jugend in Halle : Was hätten wir damals, nach der Befreiung vom Nationalsozialismus und nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs dafür gegeben, gemeinsam neu anfangen zu können in einem geeinten, demokratischen Deutschland ? Nun hatte ich die Hoffnung, es werde mehr als vierzig Jahre später möglich sein. (Siehe auch: Genscher, Erinnerungen, S. 13–24 und 637–650.)
3. Allgemeines zur DDR / ČSSR - Diktatur vor dem Einsturz
3.1 Die DDR ab Mitte der 1970er Jahre Mitte der 1970er Jahre schien die DDR auf dem Höhepunkt ihrer Entwicklung : Die Unterzeichnung der KSZE - Schlussakte in Helsinki am 1. August 1975 bedeutete für das SED - Regime ein sichtbares Zeichen endlich errungener internationaler Anerkennung. Zugleich stand Erich Honecker auf dem Höhepunkt seiner Macht : Nur ein dreiviertel Jahr später wurde er auf dem IX. Parteitag der SED (18.–22. 5. 1976) zum Generalsekretär ernannt. Dennoch setzt nur wenige Monate später jener Wendepunkt ein, welcher der weiteren Entwicklung des sozialistischen deutschen Staates die entscheidende Prägung geben sollte. Schon im Sommer 1976 wurde die SED - Führung von einer Flut von Ausreiseanträgen von DDR - Bürgern überrascht, die sich trotz zu erwartender massiver persönlicher, familiärer und beruflicher Repressalien ausdrücklich auf das auch von Honecker unterzeichnete Recht auf Freizügigkeit in der KSZE - Akte ( sog. »Korb 3«) beriefen. Fortan sollte sich die nicht abreißende Flut von Ausreiseanträgen zu einem gravierenden innenpolitischen Problem der DDR entwickeln, dessen die SED nicht mehr Herr wurde. Nicht zuletzt die Ausbürgerung Wolf Biermanns, eines überzeugten Sozialisten, zugleich aber auch entschiedenen Kritikers des SED - Regimes im November 1976, nach einem Konzert in Köln, markierte mehr als nur eine entscheidende Wende der DDR - Kulturpolitik, sondern zog auch schwere innenpolitische Konflikte nach sich. Denn die Solidarisierung namhafter Künstler und Autoren der DDR mit Biermann führte binnen weniger Jahre zu ihrem Exodus in die Bundesrepublik. Zudem bewertete ein Teil der kritischen Intelligenz und der Jugend das harsche Vorgehen der SED zu Recht als Symptom einer allgemeinen politisch - ideologischen Verhärtung. Gleichwohl blieb das Machtmonopol der Partei davon unberührt. Es war nicht nur »verfassungsrechtlich« begründet ( vgl. die Verfassungen der DDR von 1968 und 1974); auch eine von der SED unabhängige, freie Meinungsbildung und kritische Öffentlichkeit wurde weiterhin nicht
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Allgemeines zur DDR / ČSSR-Diktatur vor dem Einsturz
erlaubt. Presse, Hörfunk und Fernsehen blieben zensiert und wurden nach wie vor streng kontrolliert, politisch Andersdenkende Repressionsmaßnahmen ausgesetzt.1 Insbesondere das Ministerium für Staatssicherheit wurde in den 1970er Jahren zu einem die ganze Gesellschaft durchdringenden Organ der Überwachung und gezielten Zersetzung oppositioneller Gruppierungen ausgebaut. Die allgegenwärtige Staatssicherheit war das wichtigste Herrschafts - und Kontrollinstrument der SED.2 In ihrem Dienste standen 90 000 hauptamtliche Mitarbeiter ( Stand : Oktober 1989) und auch eine hohe Zahl von rund 174 000 »Inoffiziellen Mitarbeitern«.3 Mehr als die Hälfte der »IM« waren SED - Mitglieder.4 Überhaupt wies die SED eine hohe Mitgliederzahl auf und war eine Massenpartei; noch im Jahr 1989 war jeder fünfte DDR - Bürger SED - Parteimitglied.5 Dies war indessen nur selten ein Ausdruck des Glaubens an den Sozialismus. Viele Parteimitglieder sind der SED beigetreten, um ihre beruflichen Chancen wahrzunehmen; ohne den Beitritt blieben die meisten Karrierewege verschlossen.6 Den SED - Führungskadern stand somit ein hoch effizientes Kontrollsystem bei der Besetzung von beruflichen und Leitungspositionen aller Art im Rahmen ihrer »Kaderpolitik« zur Verfügung.7 Die Mehrheit der Bevölkerung in der DDR, einschließlich der nominellen SED - Parteimitglieder, war mit den herrschenden politischen und wirtschaftlichen Verhältnissen unzufrieden, auch wenn dies öffentlich nicht geäußert wurde und auch kaum werden konnte. Angesichts des existenten Spitzelwesens und der vielen Repressionsmöglichkeiten, die das Regime besaß, gab es daher in der DDR kaum nennenswerten Widerstand gegen die kommunistische Diktatur.8 Gleichwohl zeigten sich Ende der 1970er Jahre erste Krisensymptome. Erstmals kamen allmählich kleine Zirkel und unabhängige Gruppen auf, deren Entstehung unterschiedlichen Motiven entsprang. Die Tatsache, dass öffentliche Diskussionen über bestehende Probleme in Staat und Gesellschaft nicht möglich waren, stellte vielleicht die wichtigste Ursache dar.9 Die Gruppenbildung war aber auch eine Reaktion auf die permanente Selbststilisierung der DDR als Friedensstaat, die im krassen Widerspruch zur forcierten Militarisierung von Staat und Gesellschaft stand; schließlich hatte die SED am 1. September 1978 die Ein1 2 3 4 5 6 7 8 9
http ://www.kas.de / wf / de /71.6611; 13.11.2013. http ://www.kas.de / wf / de /71.6614; 13.11.2013. Mählert, Kleine Geschichte der DDR, S. 172. Ilko-Sascha Kowalczuk, Endspiel, S. 36. Süß, Der Untergang der Staatspartei, S. 285. Kowalczuk, Endspiel, S. 39 f.; http ://www.kas.de / wf / de /71.6640/, 13.11.2013. Mählert, Kleine Geschichte der DDR, S. 56 f.; Kowalczuk, Endspiel, S. 35 f.; http ://www.kas.de / wf / de /71.6640/, 13.11.2013. Pollack, Die friedliche Revolution : Strukturelle und ereignisgeschichtliche Bedingungen des Umbruchs 1989 in der DDR. Heydemann, Die Innenpolitik der DDR.
Kommunistische Diktatur in der Tschechoslowakei
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führung des Wehrkundeunterrichts als Pflichtschulfach beschlossen.10 Der Erlass sah eine verstärkte vormilitärische Erziehung bis in die Kindergärten hinein vor. Auch die sich Ende der 1970er Jahre wieder verschärfende internationale Lage trug zur Entstehung solcher ( Friedens )Gruppen bei : Der Einmarsch der Sowjetunion in Afghanistan Ende 1979, die sowjetische Stationierung von Mittelstreckenraketen in Osteuropa und der DDR, der mit dem »NATO - Doppelbeschluss« die Androhung der Stationierung analoger Waffensysteme in Westeuropa und der Bundesrepublik folgte – dies alles ließ den Wunsch nach Frieden durch Abrüstung auch in der DDR - Gesellschaft wach werden. In der Tat waren die Deutschen in Ost und West diejenigen, die am stärksten von der beiderseitigen Aufrüstung bedroht wurden. Aber auch aus den wachsenden, täglich erfahrbaren Belastungen von Luft und Wasser in der DDR, hervorgerufen durch die extensive Industrialisierungspolitik der SED, resultierte ein verstärktes ökologisches Engagement. Schließlich trug die fortgesetzte Unterdrückung von Menschen - und Bürgerrechten im SED - Staat zur Bildung von systemkritischen Gruppen bei. Die vornehmlich im kirchlichen Umkreis entstehenden Gruppen führten allerdings eher ein Randdasein in der Gesellschaft. Eine wirklich starke, systemimmanente Opposition hat es im sozialistischen deutschen Staat nicht gegeben.11 Erst als die DDR im Herbst 1989 durch die größte Fluchtbewegung seit dem Mauerbau immer mehr destabilisiert wurde und das SED - Regime seine Reformunfähigkeit deutlich zeigte, schlug die Stunde der unabhängigen Bürgerinitiativen, die ab nun einen deutlich stärkeren Zulauf engagierter Bürger verzeichneten. 12
3.2 Kommunistische Diktatur in der Tschechoslowakei Nach dem Einmarsch der Warschauer - Pakt - Truppen im Jahre 1968, die den aufkeimenden »Prager Frühling« gewaltsam unterdrückten, d. h. den Versuch, einen »Sozialismus mit menschlichem Antlitz« zu schaffen, wurde die einst demokratische, nun okkupierte Tschechoslowakei zum europäischen Land mit den zeitweilig massivsten politischen Repressionen. Die kommunistische Parteiführung, nach 1969 als Statthalter der sowjetischen Besatzungsmacht eingesetzt, führte massenhaft Säuberungen durch, um die Bevölkerung einzuschüchtern und zu disziplinieren. Mehrere hunderttausend Bürger, die mit den demokratischen Reformen des »Prager Frühlings« sympathisiert und die militärische Besetzung
10 11 12
Ebd. Ebd., S. 35. Mählert, Geschichte der DDR 1949–1990, S. 85.
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Allgemeines zur DDR / ČSSR-Diktatur vor dem Einsturz
der Tschechoslowakei verurteilt hatten, wurden mit Berufsverbot bestraft.13 Insgesamt 400 000 tschechoslowakische Bürger flüchteten ins Exil.14 Die Spitze der KPTsch, die mit Hilfe des hierarchisch gegliederten Partei - und Staatsapparats und massiver Indoktrination herrschte, sicherte ihr Machtmonopol durch ein System institutioneller und persönlicher Beziehungen ab. Das wichtigste Machtinstrument war dabei die Kaderpolitik. Als Besetzungsmonopol von Arbeitsplätzen ermöglichte sie den Entzug der materiellen Existenzbasis für nicht regimekonforme Bürger und stellte dadurch ein äußerst wirksames Machtsicherungsinstrument dar. In der Phase der sog. »Konsolidierung« nach der Niederschlagung des »Prager Frühlings« wurde dieser Disziplinierungsmechanismus rücksichtslos eingesetzt. Eine halbe Million reformorientierter Parteimitglieder wurde aus der KPTsch ausgeschlossen, die daraufhin von ihren führenden Positionen zurücktreten mussten; entsprechend verloren 40% der Wirtschaftsmanager und 40% der Journalisten ihre Arbeit.15 Darüber hinaus erstreckte sich der Rachefeldzug der Partei auch auf die Kinder der Ausgeschlossenen. Sie durften kein Gymnasium besuchen und an keiner Hochschule studieren.16 Dies stellte sich als wirksamstes Disziplinierungsmittel überhaupt heraus. Denn die Eltern sahen es als ihre Pflicht an, sich zu opfern und – erzwungenermaßen – regimeloyal zu verhalten, um die berufliche Zukunft ihrer Kinder nicht zu gefährden.17 Nach der Besetzung der Tschechoslowakei durch die Warschauer - Pakt Truppen herrschte zwanzig Jahre lang politische Totenstille. Da es keine Hoffnung auf eine baldige Veränderung der Verhältnisse gab, zog sich die Masse der Bevölkerung – wie in der DDR – aus dem politischen und gesellschaftlichen Leben so weit wie möglich zurück. Über ihr Leben legte sich der graue Schleier des real existierenden Sozialismus mit den täglichen Versorgungsdefiziten, Mangelerscheinungen und Unzulänglichkeiten und nicht zuletzt Propagandalügen. Die im Lande verbliebenen Bürger waren von Gefühlen der Depression und sozialen Apathie erfasst; ihre Angstgefühle äußerten sich in der Flucht ins Private. Dadurch breitete sich soziale Schizophrenie aus : In der Öffentlichkeit verhielt sich die Bevölkerung zum verhassten Regime loyal und huldigte der Partei. Nur im Privaten trauten sich die Menschen, ihre wahren Gedanken offen zu äußern; Lüge und Heuchelei gehörten zum Alltagsleben. Das absolute Stillschweigen der Bevölkerung wurde erst durch das mutige Auftreten der Charta 77 durchbrochen. Die Charta 77 blieb jedoch auf einen kleinen, elitären, von der kommunistischen Staatssicherheit vollständig isolierten 13 14 15 16 17
Vgl. Mauritz, Tschechien, S. 198. Vgl. Bartošek, Zentral- und Südosteuropa, S. 489. Vgl. Mauritz, Tschechien, S. 198. Vgl. Vodička, Politisches System Tschechiens, S. 33. Vodička, Tschechien, S. 165–166; Vodička, Das politische System Tschechiens, S. 32 f.
Wirtschaft DDR / ČSSR
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Personenkreis beschränkt. Die Masse verharrte in passiver Opposition. Eine breite Widerstandsbewegung gegen das verachtete kommunistische Regime entstand erst gegen Ende der 1980er Jahre, als die in der Sowjetunion eingeleitete Perestroika berechtigte Hoffnungen auf ein mögliches Ende der kommunistischen Diktatur aufkeimen ließ.
3.3 Krisenhafte Entwicklung der Wirtschaft in der DDR / ČSSR Obwohl die DDR und ČSSR im Hinblick auf ihre industrielle Tradition und Modernität vor 1945 vergleichsweise günstige Ausgangspositionen einnahmen und zu den ökonomisch am meisten entwickelten Ostblockländern gehörten, fielen sie im Wettbewerb mit den westlichen Industrieländern, allen voran die Bundesrepublik, bald zurück. Denn in den 1960er Jahren war in den westlichen Industrieländern eine neue Entwicklung eingetreten, die durch die Ölschocks der 1970er und 1980er Jahre beschleunigt wurde : Die technologisch fortgeschrittensten Länder der Welt hatten ihre Produktion bei relativ stagnierendem Energie und Rohstoffverbrauch erweitert bzw. qualitativ verbessert. Der Schwerpunkt der Wirtschaftsentwicklung verlagerte sich von extensivem Wachstum auf intensive Faktoren, auf ökonomische Initiativen, Rationalisierung, Effizienz und innovatives Denken. Die Intensivierung der Wirtschaftsentwicklung und Produktion führten in der Folge zu einer erheblichen Steigerung des Wirtschaftswachstums, mit dem das zentral - planwirtschaftliche System nicht Schritt halten konnte, da es nach wie vor auf extensiven, Ressourcen verschwendenden ( d. h. überwiegend quantitativen statt qualitativen ) Produktionsweisen basierte.18 Hinzu kam, dass die substantiellen Strukturelemente des planwirtschaftlichen Systems ( Staatseigentum an Produktionsmitteln, dadurch Blockierung von privaten Wirtschaftsinitiativen; zentrale Planung und Lenkung der Wirtschaft mit hohem administrativen Aufwand; Vernachlässigung der Produktionskosten; zu geringe technologische Innovationen; fehlende Markt - und Geldsteuerungsmechanismen; Besetzung von Arbeitsplätzen und Gewährung von Aufstiegschancen nach politisch - ideologischen und nicht nach Leistungskriterien u. a. m.) eine wirksame Leistungsmotivation der Beschäftigten verhinderten. Ohne eine echte Motivierung der Menschen im wirtschaftlichen Prozess war indessen der dringend erforderliche Übergang zu einer effizienten Wirtschaft ausgeschlossen. Darüber hinaus wurden technische Innovationen zu spät eingeführt oder blieben ganz aus, die Arbeitsproduktivität sank spürbar und nicht
18
Karel Vodička / Heydemann, Postkommunistischer EU-Raum : Konsolidierungsstand und Perspektiven. S. 344.
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Allgemeines zur DDR / ČSSR-Diktatur vor dem Einsturz
zuletzt wurden Arbeiter und Angestellte angesichts des sichtbaren ökonomischen Niedergangs nachhaltig demotiviert. Aufgrund dessen gelang es den sozialistischen Wirtschaftssystemen der früheren Ostblockstaaten nicht, aus der Sackgasse extensiver Wirtschaftsproduktion herauszukommen und zu einem intensiven Wirtschaftswachstum überzugehen. Die seit den 1970er Jahren bereits chronische ökonomische Gesamtkrise erwuchs zur schleichenden Erosion des »realen Sozialismus«. Zudem hatte dieser »circulus vitiosus« auch soziale Folgen, denn die dort lebenden Menschen begannen zunehmend zu spüren, dass ihre Versorgung schlechter wurde und Qualitätsprodukte kaum oder nur mit überhöhten Preisen oder westlichen Devisen erhältlich waren. Dies zwang die sowjetische Führung dazu, mit den Stichworten Glasnost und Perestroika umfassende Reformen einzuleiten, doch sollte diese Reformpolitik ganz im Gegensatz zu ihrer Absicht zu einer der Hauptursachen des Umbruchs in Osteuropa werden.19 In der DDR war Ende der 1970er Jahre das von Honecker seit seiner Machtübernahme im Jahre 1971 propagierte wirtschafts - und sozialpolitische Ziel der »untrennbaren Einheit der Wirtschafts - und Sozialpolitik« bereits gescheitert. Die Zielsetzung, durch Intensivierung des Arbeitseinsatzes, des Produktionsprozesses sowie mittels Einsparungen, genannt »sozialistische Rationalisierung«, den erhöhten Finanzbedarf für die erweiterten sozialpolitischen Leistungen abzudecken, hatte sich als illusorisch erwiesen. Auch das Konzept, durch Kredite westlicher Staaten die DDR - Wirtschaft mittels gezielter Investitionen zu modernisieren, war nicht aufgegangen. Stattdessen hatte sich bereits 1980 die Verschuldung der DDR gegenüber westlichen Banken auf 25,3 Milliarden Valutamark erhöht, während demgegenüber die Arbeitsproduktivität gefallen war und sich im Vergleich zur Bundesrepublik 1983 nur noch auf 47% belief.20 Seither stand das SED - Regime unter dem permanenten Druck, ein weiteres Anwachsen der Auslandsverschuldung zu vermeiden. Doch der erheblich forcierte Export in westliche Staaten vermochte dies nicht zu verhindern, vielmehr gingen damit auch negative Entwicklungen einher. Denn Qualitätsprodukte wurden ins Ausland exportiert und dadurch der eigenen Bevölkerung vorenthalten; zudem verschlissen Produktionsanlagen und Maschinen aufgrund mangelnder Investitionen. Aus der unüberbrückbaren Kluft zwischen der ständig propagierten Überlegenheit der sozialistischen Wirtschaftsordnung und den konkreten Erfahrungen »der Werktätigen« im Betriebsalltag erwuchs indes Zynismus, was wiederum die Arbeitsmotivation schwächte. Dennoch hielt die SED - Führung an diesem Kurs fest. 19
20
Vgl. Heydemann / Vodička, Vom Ostblock zur EU, S. 345; Vodička, Motivationskrise als Auslöser des Systemwechsels in Osteuropa; Kirelli, Vom Plan zum Markt, S. 165; Ehrke, Das neue Europa, S. 2. Heydemann, Die Innenpolitik der DDR, S. 32.
Wirtschaft DDR / ČSSR
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Die wirtschaftliche wie politische Erstarrung, die das System des realen Sozialismus in der DDR wie in der ČSSR zunehmend in den 1980er Jahren prägte, wurde von der Bevölkerung aufmerksam registriert, zumal man durch den Empfang westlicher Fernseh - und Rundfunksender gleichsam Auge und Ohr an der prosperierenden Entwicklung in der Bundesrepublik hatte. Sukzessive stieg die Frustration, auch wenn eine Änderung der politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Lage nach wie vor undenkbar schien. Symptomatisch für die Lage und Stimmung in der Bevölkerung der DDR war, dass diejenigen, die einen Antrag auf Ausreise stellten, im Verlauf der 1980er Jahre zu einer Massenbewegung anwuchsen. Deren Zahl versechsfachte sich in kurzer Zeit zwischen 1980 (21 500) und 1989 (125 000). Zwei vom SED - Politbüro genehmigte Ausreisewellen (1984 und 1988) führten zwar zu einer zeitweiligen Reduzierung dieses inneren Konfliktpotenzials, ermunterten aber viele weitere DDR - Bürger zur Antragstellung.21 Obwohl das SED - Regime auf die Antragsteller mit massiven Repressionen reagierte, wuchs der Druck, die DDR zu verlassen. Daneben gab es nach wie vor Menschen, die versuchten, die Grenzanlagen zu überwinden, und dabei Leib und Leben riskierten.22 Kaum anders war die sozio - ökonomische Entwicklung in der Tschechoslowakei. Auch hier fiel die Konkurrenzfähigkeit des Landes in der Ära der staatlichen Zentralverwaltungswirtschaft schnell zurück. Zwar gehörte die Wirtschaft der ČSSR durch ihren hohen Industrialisierungsgrad auch in der kommunistischen Ära zu den stärksten innerhalb des RGW. Die Arbeitsproduktivität der Wirtschaft, mit ideologisch begründetem Schwerpunkt in der Schwerindustrie, war jedoch gering und verursachte darüber hinaus langfristige Schäden, insbesondere im Bereich der Umwelt ( hohe Energieintensität, Braunkohlekraftwerke, ohne Berücksichtigung der Auswirkungen der Industrie auf die Umwelt ). Die niedrige Effizienz der staatlichen Zentralverwaltungswirtschaft hatte eine absinkende Produktivität im Industriesektor und zunehmende technologische Rückständigkeit zur Folge. Der systemimmanente Mangel an Motivation spielte auch hier eine zentrale Rolle. Gegen Ende der 1980er Jahre waren die tschechoslowakischen Produkte auf dem Weltmarkt nicht mehr konkurrenzfähig. Die tschechoslowakische Planwirtschaft geriet im Vergleich zum Niveau der Leistungsfähigkeit der Volkswirtschaften in Westeuropa und Nordamerika immer mehr in Rückstand. Unter dem Zwang, zumindest die Grundversorgung der Bevölkerung mit elementaren Wirtschaftsgütern zu gewährleisten, verhielten sich die Parteiführungen sowohl in der DDR als auch in der Tschechoslowakei ausgesprochen rücksichtslos zu der Umwelt. Beide Staaten gehörten zu den größten Umwelt21 22
Ebd., S. 35. Vgl. hierzu den Beitrag von Jan Gülzau und Karel Vodička in diesem Buch.
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Allgemeines zur DDR / ČSSR-Diktatur vor dem Einsturz
sündern Europas.23 Die Berichte über die Umweltverschmutzung blieben allerdings streng geheim. Gegen die drastisch zunehmende Umweltbelastung begannen sich in beiden Ländern ökologisch orientierte Bürgerinitiativen zu engagieren und gehörten damit zu einer der wichtigsten Oppositionsströmungen.24 Gegen Ende der 1980er Jahre war das ökonomische wie ökologische Desaster in beiden Länder sowohl für die Parteiführung wie auch für die einfachen Bürger unübersehbar. Es wurde zu einem wichtigen Stimulus sowohl für den Massenexodus der DDR - Bevölkerung im Herbst 1989 als auch für die Friedlichen Revolutionen in beiden Ländern.
3.4 Zur Implosion des kommunistischen Regimes in der DDR In die ab Mitte der 1980er Jahre um sich greifende Frustration der Gesellschaft in der DDR über die unübersehbare Erstarrung des kommunistischen Regimes fiel der Regierungsantritt Michail Gorbatschows in der Sowjetunion im Frühjahr 1985. Das von ihm verkündete Reformprogramm mit den Schlagworten Glasnost und Perestroika, womit eine tief greifende Modernisierung des »real existierenden Sozialismus« – auch in der Sowjetunion – durchgeführt werden sollte, wurde von vielen DDR - Bürgern wie ein unerwarteter Lichtstrahl in tiefer Dunkelheit empfunden. Hoffnungen kamen auf, dass sich die politischen und Lebensverhältnisse in der DDR verändern könnten. Gorbatschows Reformansätze stießen jedoch auf einhellige Ablehnung der SED - Führung. Dort erkannte man instinktiv und durchaus realistisch, dass grundlegende Reformen in der Staatswirtschaft und im Einparteiensystem die eigene Machtposition aufs Spiel setzen könnten. Die ablehnende Haltung der SED - Spitze verstärkte die inzwischen weit verbreitete gesellschaftliche Frustration, häufig gepaart mit dem Wunsch, die DDR zu verlassen. Hatten die regimekritischen Gruppen bisher nur am Rande der DDR Gesellschaft existiert, so rückten sie ab Ende 1987 erstmals in den Blick einer größeren Öffentlichkeit, nicht zuletzt durch die Berichterstattung westdeutscher Medien. Mit der Stürmung der Berliner Umweltbibliothek, eines Treffpunkts regimekritischer Oppositioneller, durch das MfS und der Verhaftung von Mitarbeitern und Sympathisanten wurde eine neue Eskalationsstufe erreicht. Nur wenige Wochen später, am 17. Januar 1988, ging das Regime erneut hart gegen Kritiker des DDR - Sozialismus vor, die sich mit eigenen Transparenten und Plakaten an der offiziellen Luxemburg - Liebknecht - Demonstration beteiligen wollten. Die inzwischen offen zutage tretende politische, wirtschaftliche und 23 24
Kowalczuk, Kleine Geschichte der DDR, S. 126. Heydemann, Die Innenpolitik der DDR, S. 34.
Zur Implosion des kommunistischen Regimes in der DDR
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gesellschaftliche Krise in der DDR erhielt einen neuen Höhepunkt, als am 7. Mai 1989 Kommunalwahlen durchgeführt wurden. Da eine Wahlfälschung von vornherein erwartet worden war, überprüften erstmals viele regimekritische Gruppen deren Durchführung und konnten die offensichtlichen Manipulationen bei den Auszählungen nachweisen. Damit hatte die SED - Führung die letzten Reste der Legitimation ihrer Herrschaft verloren. Unterdessen wurde in Ungarn Ende Mai 1989 damit begonnen, die ersten Grenzsicherungsanlagen zu Österreich zu demontieren. Am 27. Juni zerschnitten die beiden Außenminister Ungarns und Österreichs, Gyula Horn und Alois Mock, in einem symbolischen Akt den Stacheldrahtzaun des Eisernen Vorhangs zwischen beiden Ländern und griffen damit der ein halbes Jahr später erfolgenden Maueröffnung in Berlin am 9. November voraus.25 Die Nachricht, von westlichen Fernsehsendern übertragen, sprach sich in der DDR wie ein Lauffeuer herum. Vornehmlich Antragsteller, die seit Jahren auf ihre Ausreise warteten, sahen plötzlich die Chance, über Ungarn und Österreich in die Bundesrepublik Deutschland zu gelangen. Der Massenandrang von DDR - Ausreisewilligen an der ungarisch - österreichischen Grenze wie bald darauf in den bundesdeutschen Botschaften in Budapest, Prag und Warschau weitete sich bald von einem deutsch - deutschen zu einem internationalen Politikum aus, da sich dort Tausende von DDR - Bürgern einfanden. Insbesondere der Andrang auf die Prager Botschaft der Bundesrepublik und die sich rasch daraus entwickelnde prekäre Lage sollte zu einem wichtigen Faktor des Zusammenbruchs der SED Diktatur und der Wiedervereinigung werden. Insgesamt gesehen ist die DDR aus mehreren Gründen zusammengebrochen, wobei zwischen internen und externen Faktoren unterschieden werden muss, die sich indes ab Mitte der 1980er Jahre zunehmend verschränkten. In interner Hinsicht ist zunächst die vom Kriegsende 1945 bis zum Schluss fehlende demokratische Legitimation des von der KPD / SED errichteten Herrschafts - , Wirtschafts - und Gesellschaftssystems von ausschlaggebender Bedeutung, das überdies von der sowjetischen Besatzungsmacht nicht nur errichtet, sondern bis 1989 auch geschützt wurde. Zudem gelang es nie, ein leistungsfähiges Wirtschaftssystem zu entwickeln, das international wettbewerbsfähig war und mehr als nur die Grundversorgung der Bevölkerung zu befriedigen vermochte. Aus dieser permanenten ökonomischen Ineffizienz resultierte ab Mitte der 1970er Jahre eine wachsende Verschuldung, die am Ende der DDR nicht mehr mit eigener Kraft zu bewältigen war. Mit den sich intensivierenden Wirtschafts - , Finanz - und Versorgungsproblemen im sozialistischen deutschen Staat nahm auch der innenpolitische Druck zu. Ab Mitte der 1980er Jahre klafften Anspruch und Wirklichkeit des »real existierenden Sozialismus« im SED 25
Vgl. Dalos, Der Vorhang geht auf, S. 92.
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Allgemeines zur DDR / ČSSR-Diktatur vor dem Einsturz
Staat immer mehr auseinander. Die spürbare Erstarrung des Systems wurde in allen Bevölkerungsschichten bis in die SED hinein als massiver Reform - und Modernisierungsstau registriert. Durch den massenhaften Exodus von DDR Bürgern, die ihr Land im Spätsommer 1989 verließen und dem öffentlichen Hervortreten von oppositionellen Bürgergruppen war das Ende des SED - Staates besiegelt. In externer Hinsicht wurden für die DDR wie für die anderen Ostblockstaaten die Machtübernahme Michail Gorbatschows im Jahre 1985 und die von ihm verfolgte Reform des sozialistischen Systems entscheidend. Sie führte zu einer auch für die Bevölkerung in der DDR unübersehbaren Distanzierung des SED Regimes von der Sowjetunion, die bis dahin immer dominierender Bezugspunkt gewesen war. Noch folgenreicher war die Aufgabe der sowjetischen Bestandsgarantie für die DDR. Das Nichteingreifen der sowjetischen Armee während der Friedlichen Revolution von 1989/90 besiegelte faktisch ihr Ende. Darüber hinaus ist die »Wende« in der DDR auch Teil des gesamten osteuropäischen Revolutionsprozesses gewesen, dessen einzelne sozialistische Staaten in einem weltweit beobachteten Prozess nach dem Domino - Prinzip zusammenbrachen. Als Besonderheit kam in der DDR hinzu, dass eine demokratische Revolution nicht nur eine kommunistische Diktatur abschüttelte, sondern auch die Wiedervereinigung Deutschlands herbeiführte.26 Die Botschaftsflüchtlinge in Prag haben dazu maßgeblich beigetragen.
3.5 Der SED - Beschluss zur Entlassung der Botschaftsflüchtlinge In Bezug auf die Motive für die plötzliche, Tabu brechende Grundsatzentscheidung des SED - Politbüros vom 29.9.1989, die Zuflucht suchenden DDR Bürger aus der Prager und der Warschauer Botschaft der Bundesrepublik ausreisen zu lassen, gab es bislang keinen wissenschaftlichen Konsens. Hertle erwähnt diesbezüglich lediglich, dass die SED diesen Beschluss fasste, »um die Lage in Polen und in der ČSSR zu bereinigen.«27 Nach der »Chronik der Mauer« des Zentrums für Zeithistorische Forschung Potsdam e. V., der Bundeszentrale für politische Bildung und des Deutschlandradios »lenkt( e ) die DDR im Prager Botschaftskonflikt auf sowjetischen Druck hin ein.«28 Die »Chronik 1989/90« der Bundesstiftung Aufarbeitung vertritt hingegen folgende These : »Am Rande der UN - Vollversammlung verhandelt der deutsche Außenminister Hans - Dietrich Genscher mit den Außenministern der UdSSR, der DDR, der Tschechoslowakei und 26 27 28
Vgl. Heydemann, Die Innenpolitik der DDR, S. 45 f. Hertle, Chronik des Mauerfalls, S. 108. http ://www.chronik-der-mauer.de / index.php / de / Chronical / Detail / month / September / year / 1989; 15.08.2013
Zum SED-Beschluss vom 29. 9. 1989 zur Entlassung der Botschaftsflüchtlinge
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Polens. Er erwirkt die Ausreiseerlaubnis für die Flüchtlinge.«29 Gemäß der Bundeszentrale für politische Bildung : »Der durch einen Herzinfarkt geschwächte Außenminister Genscher (...) gewann am Rande der UN - Vollversammlung die Unterstützung seines sowjetischen Amtskollegen Eduard Schewardnadse. Auch die USA, Großbritannien und Frankreich stellen sich in der Flüchtlingsfrage hinter Genscher. Während dieser eine Ausreise der Flüchtlinge ohne Umwege in die BRD forderte, pochte der damalige DDR - Außenminister Oskar Fischer auf eine vorübergehende Rückkehr der Ostdeutschen in die DDR, um die Souveränität seines Staates zu wahren. Doch dann lässt sich Ostberlin überraschend auf einen Kompromiss ein.«30 Kowalczuk schildert den Ablauf folgendermaßen : »Am 29. September 1989 um 17 :00 Uhr unterrichtete Erich Honecker (...) das SED - Politbüro, dass in einer einmaligen Aktion die in den beiden Botschaften befindlichen Menschen (...) in die Bundesrepublik ausreisen dürfen.«31 Auf die Motive für diese unerwartete und folgenschwere Entscheidung geht er indessen nicht ein. Erst die Zusammenführung der deutschen und tschechischen Dokumente, die sich gegenseitig schlüssig ergänzen, ermöglichte eine lückenlose Rekonstruktion der epochemachenden Ereignisse : Neben den anderen Faktoren war es schließlich – als der letzte Tropfen, der dass Fass zum Überlaufen brachte – der immense, ultimative, von Stunde zur Stunde größere Druck der tschechoslowakischen Partei - und Staatsführung, der das SED - Politbüro zu dem Beschluss bewegte, die Botschaftsflüchtlinge in die Bundesrepublik ausreisen zu lassen. Die tschechoslowakischen Machthaber wollten sicherlich die drohende humanitäre Katastrophe abwenden. Ihr wichtigstes Motiv war jedoch Eigennutz : Sie wollten einer potentiellen Massendemonstration vorbeugen, um eine weitere Eskalation und den möglichen Verlust der Kontrolle über die Gesellschaft zu verhindern.
29 30 31
http ://www.bundesstiftung-aufarbeitung.de / chronik-1989–90–4502.html; 13.2.2014. http ://www.bpb.de / politik / hintergrund-aktuell /69294/ prag-30–september-1989–29–09–2009; 1.4.2014 Kowalczuk, Endspiel, S. 378.
4. Die Meilensteine auf dem Weg zur Freiheit
4.1 September : Dammbruch Silvesternacht 1988/1989 Prag, Botschaft der Bundesrepublik
Es ist die Silvesternacht des Jahres 1988. Über der Prager Burg erleuchtet ein prächtiges Feuerwerk den mitternächtlichen Himmel. Am Moldau - Ufer, gleich gegenüber dem Hradschin, stehen Tausende Prager und Touristen, um das imposante Schauspiel zu bewundern. Von den umstehenden Feiernden unbemerkt,
Silvesternacht in Prag. Foto: wikimedia.
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Die Meilensteine auf dem Weg zur Freiheit
entfernen sich zwei junge DDR-Bürger aus der Menge. Sie haben Wichtigeres – und Gefährlicheres – vor, als das neue Jahr zu begrüßen. In einer abgelegenen Ecke der Prager Kleinseite, von der Straßenbeleuchtung nur in fahles Licht getaucht, überklettern sie in dieser Nacht den hohen Zaun zur bundesdeutschen Botschaft, der das großzügige Gelände der diplomatischen Vertretung der Bundesrepublik Deutschland umgibt. Sie gehen dabei ein hohes Risiko ein : Sollten tschechoslowakische Sicherheitskräfte auf sie aufmerksam werden, würden sie mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit wegen versuchter »Republikflucht« festgenommen und für zwei Jahre – oder sogar noch länger – ins Gefängnis kommen. Und ihre berufliche Karriere wäre definitiv vorbei – lebenslang ! Aber wenn ihr Vorhaben gelingen sollte ... Dann hätten sie die einmalige Chance, so ihre ganze Hoffnung und zugleich treibende Kraft, in die Freiheit, in den Westen, in die Bundesrepublik Deutschland zu gelangen. Und in dieser Nacht ist ihnen das Glück hold. Das Palais Lobkowicz in Prag, welches der Bundesrepublik Deutschland als Botschaftsgebäude und Konsulat dient, befindet sich im Barockviertel Kleinseite ( Malá Strana ), unmittelbar unterhalb der Prager Burg Hradschin ( Hradčany ). Es wurde zwischen 1702 und 1710 erbaut und ist für Kenner barocker Architektur ein Begriff. Zwischen 1794 und 1796 nutzte Ludwig van Beethoven den Kuppelsaal für Konzerte; zwischen 1813 und 1816 musizierte hier Carl Maria von
Prachtvoll. BRD - Botschaft in Prag. Foto: Antonin Nový
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Weber, der in dieser Zeit Kapellmeister an der Deutschen Oper in Prag war, gemeinsam mit Fürst Ferdinand Lobkowicz. Seit 1973 hat hier die Botschaft der Bundesrepublik Deutschland ihren Sitz. In den Folgejahren avancierte das Palais dann zu einer der am intensivsten observierten diplomatischen Einrichtungen des Landes überhaupt; gleichzeitig entwickelte es sich zu einem Hort der Zuflucht in der kommunistischen Tschechoslowakei, vor allem für Bürger der DDR, die pass - und visumfrei in die ČSSR einreisen dürfen. Für das Botschaftspersonal beginnt der erste Arbeitstag des Jahres 1989 mit einem »Ansturm von Rat - und Zufluchtsuchenden Deutschen aus der DDR«.1 Die zwei DDR - Bürger, die in der Silvesternacht über den Botschaftszaun geklettert sind, haben sich in die Botschaft geflüchtet und hier festgesetzt, drei weitere versuchen es. Am 9. Januar folgen zwei weitere Festsetzungen, zwei andere Personen verlassen die Botschaft am 10. Januar wieder.2 Botschafter Hermann Huber rechnet damit, dass mit Blick auf die Unsicherheiten über die neuen Ausreisebestimmungen in der DDR3 die Zahl derer, die in der Prager Botschaft Schutz und Zuflucht suchen, künftig weiter steigen wird.4 Als Reaktion auf die Ereignisse vom Jahreswechsel schicken die zuständigen DDR - Stellen den mit entsprechenden Vollmachten versehenen Rechtsanwalt ihres Vertrauens, Wolfgang Vogel, ins Palais Lobkowicz, mit dem Auftrag, die Zufluchtsuchenden zu einer Rückkehr in die DDR zu bewegen. In der Botschaft angekommen, sichert Vogel seinen Landsleuten im Falle ihrer Rückkehr in die DDR Straffreiheit und wirksame Hilfe bei der legalen Ausreise in die Bundesrepublik Deutschland zu.5 15. Januar 1989 Ostberlin, Ministerium für Staatssicherheit : »Erpresser verließen die Botschaft«
Sowohl die tschechoslowakische als auch die DDR - Staatssicherheit verfügen über ein umfassendes und dicht verwobenes Netzwerk an Spähern und Spionen sowie an ausgeklügelten Abhöranlagen. Beide Sicherheitsdienste sind ständig über das Geschehen in der Prager Botschaft der Bundesrepublik Deutschland 1
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Botschafter Huber an AA vom 4.1.1989. Betr. : Vorsprachen und Zufluchtnahme von Deutschen aus der DDR, hier : 1. Statistik für Dezember 1988, 2. Jahresstatistik für 1988 ( PA AA, 210, 140734 E, unpag.). Ebd. Vgl. Verordnung über Reisen von Bürgern der Deutschen Demokratischen Republik nach dem Ausland vom 30.11.1988. In : Gesetzblatt der DDR, Teil I, 1988, S. 271–274. Botschafter Huber an AA vom 4.1.1989. Betr. : Vorsprachen und Zufluchtnahme von Deutschen aus der DDR, hier : 1. Statistik für Dezember 1988, 2. Jahresstatistik für 1988 ( PA AA, 210, 140734 E, unpag.). AA, Vermerk von VLR Dr. Mulack vom 10. 1. 1989. Betr. : Zufluchtsfälle in der Botschaft Prag, hier : Änderung der DDR - Praxis ( PA AA, 210, 140734 E, unpag.).
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ausgezeichnet informiert. So wissen zum Beispiel die Mitarbeiter der tschechoslowakischen Staatssicherheit, worüber am jeweiligen Tag Botschafter Huber mit Außenminister Genscher telefoniert.6 Auch heute erhält der Staatsratsvorsitzende der DDR, Erich Honecker, aus erster Hand seine Informationen über die Situation in der bundesdeutschen Prager Botschaft. Erich Mielke, der DDR - Minister für Staatssicherheit, erläutert in einem Brief an Honecker den aktuellen Stand der Dinge. Für ihn sind die Botschaftsflüchtlinge nichts anderes als »Erpresser« : »Lieber Erich ! Gegenwärtig halten sich vier Bürger der DDR widerrechtlich in der Ständigen Vertretung der BRD in der DDR auf, um mit erpresserischem Druck ihre ständige Ausreise zu erzwingen. Mit der gleichen Zielstellung halten sich drei Bürger der DDR in der Botschaft der BRD in der ČSSR auf. In Begleitung eines Bürgers befinden sich zwei minderjährige Kinder. [...] Seitens der BRD werden diese erpresserischen Aktivitäten unterstützt. [...] Ich halte es deshalb für dringend geboten, auf die erpresserischen Forderungen der Bürger der DDR nicht einzugehen [...] Aus diesen Gründen schlage ich vor, die betreffenden Bürger der DDR nochmals zum unverzüglichen Verlassen der Vertretungen der BRD aufzufordern und ihnen auf der
Berlin, Stasi-Gefängnis Hohenschönhausen, Eingangsschleuse. Foto: ullstein bild – CARO / Andreas Muhs
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Vgl. die Aufzeichnungen der tschechoslowakischen Staatsicherheit und der DDR - Staatssicherheit im weiteren Verlauf.
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Grundlage der bestehenden Rechtsvorschriften der DDR zu erklären, bei den zuständigen staatlichen Organen der DDR einen Antrag auf ständige Ausreise zu stellen.«7
Für dieses Mal geht der Plan der SED - Oberen noch auf. Rechtsanwalt Vogel gelingt es schließlich, die Ausreisewilligen zur Rückkehr in die DDR zu bewegen. Wie die Staatssicherheit selbstzufrieden feststellt, wurde »erreicht, dass alle Erpresser [...] die Botschaft der BRD in der ČSSR verließen und an ihre Wohnorte zurückkehrten. [...] Zwischenzeitlich sind erste Erpresserfälle zur Ausreise gelangt.«8 Doch besteht aus Sicht der Staatssicherheit auch Grund zur Sorge : Über einige der Ausreisen, die man den »Botschaftserpressern« bewilligte, wurde in westlichen Medien berichtet. Deshalb müsse künftig mit einem erhöhten Zulauf in die Botschaften der Bundesrepublik gerechnet werden. Es sei daher dringend notwendig, so die Staatssicherheit, »unverzüglich alle erforderlichen, politisch - operativen Maßnahmen einzuleiten bzw. zu intensivieren, um die Entwicklung neuer Erpresserfälle zu verhindern, einen Zulauf zur Ständigen Vertretung und eine neue Konzentration von Antragstellern auf ständige Ausreise in den Auslandsvertretungen der BRD nicht zuzulassen«.9
15. Januar 1989 Prag, »Palach - Woche«
Auf den Tag genau vor zwanzig Jahren, am 15. Januar 1969, hat sich der Student der Philosophischen Fakultät in Prag, Jan Palach, aus Protest gegen die Okkupation der Tschechoslowakei durch die sowjetische Armee verbrannt. Für die Tschechen und Slowaken ist er zu einem Symbol des antikommunistischen Widerstands geworden. Heute kehrt aus Anlass des 20. Jahrestages seines Protestes und Todes das Andenken an Jan Palach in den öffentlichen Raum zurück. Mehrere oppositionelle Gruppen,10 die von der kommunistischen Diktatur als illegal betrachtet und auch entsprechend behandelt werden, haben für Sonntag, den 15. Januar 1989, zu einer Gedenkversammlung an der St. - Wenzel - Statue im Zentrum Prags aufgerufen. 7 8
9 10
Minister für Staatssicherheit Mielke an SED - Generalsekretär Honecker vom 9.1.1989 ( BArch B, DY 30/ IV /2/2039/349, Bl. 45–47) – Dok. 1. Leiter der BV Dresden des MfS, Generalmajor Böhm, an alle Diensteinheiten vom 16. 1. 1989 : Aktuell erforderliche Maßnahmen gegen die Versuche der Organisierung fortgesetzter Erpresserfälle in der Ständigen Vertretung der BRD und anderen Auslandsvertretungen der BRD ( BStU, ASt. Dresden, BV Dresden, Abt. XX, 9220, Bl. 356–358). Ebd. Konkret : Charta 77, České děti ( Böhmische Kinder ), Mírový klub Johna Lennona ( John Lennon - Friedensklub ), Nezávislé mírové sdružení ( Unabhängiger Friedensverein ) und Společenství přátel USA ( Gemeinschaft der USA - Freunde ).
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Was ursprünglich lediglich als kleine Erinnerungsfeier mit Kranzniederlegungen geplant war, spitzt sich in den Tagen vor der eigentlichen Gedenkveranstaltung jedoch dramatisch zu : Am 9. Januar erhält der Sprecher der Opposition, Václav Havel, einen anonymen Brief. Darin teilt der ihm unbekannte Verfasser mit, dass er sich auf dem Wenzelsplatz am 15. Januar, nach dem Vorbild Jan Palachs, aus Protest gegen die politischen Verhältnisse verbrennen wolle. Havel bittet daraufhin das tschechoslowakische Fernsehen, ihm einen Auftritt zu ermöglichen, um dem möglichen Palach - Nachfolger von seiner Tat abzuraten. Doch die Sendeanstalten lehnen sein Gesuch ab, woraufhin sich Havel umgehend an ausländische Rundfunkstationen wendet. Radio Freies Europa, das seit Dezember 1988 in der Tschechoslowakei ungestört empfangen werden kann, sendet schließlich seinen Appell. Nicht zuletzt vor diesem Hintergrund wandelt sich der von oppositionellen Gruppen organisierte Gedenktag zum 20. Jahrestag des Todes von Jan Palach, unerwartet und ganz anders als geplant, zu einer politischen Großdemonstration um. Die tschechoslowakische Polizei, verstärkt um sog. »Volksmilizen« ( paramilitärische Trupps der Kommunistischen Partei ), setzt auf Gewalt und geht gegen die Demonstranten mit äußerster Brutalität vor. Die repressiven Kräfte benutzen Schlagstöcke und Tränengas, setzen Schäferhunde und Wasserwerfer ein. Die Polizisten sind überall, in der Mitte des Wenzelsplatzes ebenso wie auch an dessen höher gelegenem Ende, und treiben die Demonstrationsteilnehmer vor sich her. In dem Gedränge fallen mehrere Leute zu Boden, werden zur Seite gezogen, zusammengeschlagen und mit Füßen getreten. In den Nebenstraßen stehen Polizeifahrzeuge bereit, mit welchen die Verhafteten abtransportiert werden.11 Die Polizeirazzia löst eine weitere, unerwartet hohe Flut von Protesten aus. Von Montag, dem 16. Januar, bis Freitag, dem 20. Januar, demonstrieren jeden Nachmittag auf dem Wenzelsplatz mehrere Tausend meist junger Menschen friedlich gegen das kommunistische Regime. Viele Demonstrationsteilnehmer erleiden Verletzungen infolge polizeilicher Übergriffe, die beträchtliche Zahl von 1 400 Frauen und Männern wird festgenommen. Unter den Verhafteten befinden sich auch mehrere bekannte Vertreter der Opposition, darunter Václav Havel und der Sprecher der Charta 77, Alexander Vondra. Havel wird zu acht Monaten Haft verurteilt.12
11
12
Schneibergová / Rühmkorf, Auge in Auge mit der Volksmiliz – Erinnerungen an die Palach Woche ( http ://www.radio.cz / de / rubrik / tagesecho / auge - in - auge - mit - der - volksmiliz - erinnerungen - an - die - palach - woche; 27.2.2014). Začal nenápadně. Palachův týden v lednu 1989 otřásl komunismem ( http ://relax.lidovky.cz / palachuv - tyden - v - lednu - 1989–otrasl - komunistickym - rezimem - pj3–/ zajimavosti.aspx ?
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Die Geschehnisse rund um die sogenannte »Palach - Woche« im Januar 1989 erschüttern das kommunistische Regime der Tschechoslowakei und liefern gewissermaßen einen ersten Vorgeschmack auf die revolutionären Ereignisse im November 1989. Die »Palach - Woche« hatte zunächst leise begonnen, als eine kleine Erinnerung an den Märtyrer, um ihn durch eine Kranzniederlegung auf dem Wenzelsplatz zu ehren. Doch die Intensität und vor allem das Ausmaß der Proteste schreckt die regierenden Politiker der ČSSR auf und überrascht auch die Opposition. In der Sowjetunion läuft die Perestroika ( russ. Umbau, Umgestaltung ) schon auf vollen Touren. Es gibt viele Anzeichen, die darauf hindeuten, dass dieses Jahr für die kommunistischen Machthaber der Tschechoslowakei ein anderes wird als die bleiernen Jahre zuvor – jene Jahre der »Normalisierung«, wie die staatliche Propaganda die Zeit der Wiederherstellung der kommunistischen Alleinherrschaft nach 1968 so beschönigend genannt hat. 27. Juni 1989 Ungarisch - österreichische Grenze, Grenzzaun zerschnitten
Die Ungarn reagieren auf ihre Weise auf die in der Sowjetunion durch Gorbatschow angekündigte Öffnung – Glasnost ( russ. Offenheit, Transparenz ) und Perestroika genannt. Seit Mai 1989 bauen sie die gefährlichen und aufwendigen Grenzanlagen entlang des Eisernen Vorhangs nach und nach ab. Am 27. Juni 1989 zerschneiden dann die Außenminister Österreichs und Ungarns, Alois Mock und Gyula Horn, bei den Städten Sopron und Klingenbach in einem feierlichen Akt symbolisch die Drähte des Zauns. Dieser Tag und seine Bilder werden in die Geschichte eingehen. Aufnahmen des symbolischen Arbeitseinsatzes der beiden Außenminister, die Mock und Horn dabei zeigen, wie sie ziemlich ungeschickt mit den schweren Zangen hantieren, sind noch am Abend des gleichen Tages an den Fernsehschirmen in aller Welt zu sehen.13 In der DDR, wo das »Westfernsehen« besonders aufmerksam verfolgt wird, löst es Hoffnungen in der Bevölkerung aus – und verständlicherweise erhebliche Empörung in der SED Parteiführung : »Ungarn verrate den Sozialismus und füge dem ganzen sozialistischen Lager unermesslichen Schaden zu.«14 Die nächste symbolische Öffnung eines Grenztors zwischen Österreich und Ungarn findet mit Zustimmung beider Regierungen im Zuge des sogenannten Paneuropäischen Picknicks am 19. August 1989 statt. Zwischen 600 und 700
13 14
c=A140111_182956_ln - zajimavosti_hm; 27. 2. 2014); Jan Palach. Multimediales Projekt der Karlsuniversität Prag, hier Palach - Woche ( http ://www.janpalach.cz / de / default / jan - palach / palachuvtyden; 27.2.2014). Oplatka, Der erste Riss in der Mauer, S. 105 f. Ebd., S. 110.
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Die Außenminister Gyula Horn (Ungarn) und Alois Mock (Österreich) durchschneiden symbolisch den Eisernen Vorhang. Foto: ullstein bild – AP
DDR - Bürger nutzen die kurze Öffnung des Eisernen Vorhangs zur Flucht in den Westen, nachdem sie zuvor durch Flugblätter der Organisatoren auf die Veranstaltung aufmerksam geworden waren. Die zumeist jungen Leute stürmen auf die österreichische Seite, wo sich Journalisten und ein Kamerateam anlässlich des Paneuropäischen Picknicks eingefunden haben. So verbreitet sich die Nachricht ihrer geglückten Flucht binnen kürzester Zeit.15
15
Wunderlich, Paneuropäisches Picknick, Sopron 1989 ( http ://www.dieterwunderlich.de /paneuropaeisches_picknick_sopron_1989.htm; 12.12.2013); http ://de.wikipedia.org / wiki /Paneurop %C3%A4isches_Picknick; 12.12.2013.
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10. September 1989 Reisewelle DDR - Ungarn
Aus westdeutschen Medien erfährt die Bevölkerung der DDR, dass ein Schlupfloch in den Eisernen Vorhang geschnitten wurde. Abertausende drängen daraufhin nach Ungarn in der Hoffnung, über Österreich in die Bundesrepublik weiterreisen zu können. Die Ungarn sind indes zunächst bestrebt – trotz symbolischen Abbaus des Zaunes – durch verstärkte Bewachung der Grenze die Herausbildung einer durchlässigen, »grünen« Grenze zu verhindern.16 Budapest, Fernsehsendung »A Hét«
Schließlich führen der Druck durch die DDR - Bürger sowie die konsequente und geschickte Diplomatie der Bundesrepublik zur Grenzöffnung für die Ausreisewilligen. Am Sonntag, dem 10. September 1989 um 19 Uhr, verkündet das ungarische Fernsehen in der regelmäßigen Sendung »A Hét« ( Die Woche ), dass sich die Regierung Ungarns dazu entschlossen habe, die streng bewachte Westgrenze Ungarns für die Flüchtlinge aus der DDR zu öffnen. Die explosive Nachricht wird in der Fernsehsendung vom ungarischen Außenminister, Gyula Horn, persönlich verkündet.17 Parallel zum Fernsehauftritt Horns verbreitet die ungarische Nachrichtenagentur MTI eine entsprechende Regierungserklärung dazu. Die Lage an der Grenze, wo sich Zwischenfälle häufen, ist unhaltbar geworden. Die Zahl der übersiedlungswilligen DDR - Bürger nimmt beständig zu. Ungarn lässt sich in seiner Entscheidung vor allem von menschenrechtlichen und humanitären Grundsätzen leiten. Der Weg für die Deutschen aus der DDR ist von Mitternacht an frei. Zwar fügt Horn in seinem Fernsehauftritt noch hinzu, dass die Regierung jene fraglichen Punkte des deutsch - ungarischen Staatsvertrags, unter denen sich Ungarn in der Vergangenheit verpflichtet hatte, DDR Bürger nicht in Drittländer ausreisen zu lassen, nur zeitweilig suspendiere. Zugleich lässt er aber erkennen, dass die neue Grenzregelung über einen längeren Zeitraum hinweg Bestand haben werde – so lange die Gründe, die zur Entscheidung der ungarischen Regierung geführt hätten, nicht beseitigt seien.18 Mainz, Fernsehsendung »ZDF - Studio«
Die Fernsehkanäle der Bundesrepublik übernehmen am Sonntagabend direkt das TV - Programm aus Budapest. Bundesaußenminister Genscher kommentiert im ZDF - Studio selbst die Nachricht aus Ungarn. Er bedankt sich bei der ungari16 17 18
Oplatka, Der erste Riss in der Mauer, S. 105 f. Ebd., S. 228 f. Ebd., S. 229.
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schen Regierung und bezeichnet ihre Entscheidung als einen Akt zugunsten der Menschrechte.19 Genscher weist dabei erneut Gerüchte zurück, die ungarische Regierung habe für den Schritt wirtschaftliche Gegenleistungen verlangt.20 Bremen, Stadthalle, CDU - Parteitag
Wenige Stunden vor seiner Abreise zum CDU - Bundesparteitag – es ist in der Mittagszeit des 10. September, eines Sonntags – erhält Bundeskanzler Kohl nach Tagen angespannten Wartens, in denen allerlei Falschmeldungen und Gerüchte für Verunsicherung gesorgt haben, von Ungarns Botschafter Horvath endlich die ersehnte Nachricht aus Budapest, dass es um 24.00 Uhr desselben Tages soweit sein werde – dass Ungarn die Deutschen aus der DDR nach Österreich ausreisen lasse.21 Der Bundeskanzler, der zugleich CDU - Vorsitzender ist, nutzt die Gelegenheit und hält noch rasch vor seiner Abreise zum Parteitag eine kurzfristig anberaumte Pressekonferenz ab, in der er u. a. seine Dankbarkeit gegenüber Ungarn betont.22 Derartig bestärkt, mit einer fulminanten Pressekonferenz und einem großen außenpolitischem Erfolg im Rücken, geht der innenpolitisch angeschlagene Kohl aus dem nachfolgenden CDU - Parteitag als Sieger hervor. Die Nachrichten aus Budapest helfen ihm nicht zuletzt dabei, einen Angriff auf seine Position aus der Gruppe um Heiner Geißler und Rita Süssmuth abzuwehren, zumal die 738 Delegierten des Bundesparteitags da noch ganz unter dem Eindruck der Ereignisse, die die Welt verändern sollen, stehen. Kohl wird eindrucksvoll im Amt des Parteivorsitzenden bestätigt, Volker Rühe setzt sich als Nachfolger Geißlers im Amt des Generalsekretärs durch.23 11. September 1989 Ungarisch - österreichische Grenze, 0 :00 Uhr, Grenze offen
Für die Deutschen aus der DDR in Ungarn ist die Nachricht vom Sonntag eine Erlösung. In den Lagern herrscht großer Freudentaumel. Hunderte von Familien fahren unmittelbar nach der Nachricht noch am Sonntagabend mit ihren Pkws in Richtung ungarisch - österreichische Grenze.24 Am 11. September, um 0.00 Uhr, ist es soweit : Ungarn öffnet für die DDR - Bürger seine Grenze zu Österreich. Dadurch wird eine Massenflucht von Deutschen aus der DDR, die bis dato nahe 19 20 21 22 23 24
Vgl. ebd. Vgl. ebd. Die Bundesregierung gewährte den Ungarn allerdings im Nachhinein einen Zusatzkredit in Höhe von 500 Mio. DM. Vgl. Hertle, Chronik des Mauerfalls, S. 69. Http ://www.2plus4.de / chronik.php3 ?date_value=11.09.89–13.&sort=000–003; 12.12.2013. Oplatka, Der erste Riss in der Mauer, S. 230. Http ://www.2plus4.de / chronik.php3 ?date_value=11.09.89–13.&sort=000–003; 12.12.2013. Oplatka, Der erste Riss in der Mauer, S. 229.
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der Grenze in Lagern ausharrten, in die Alpenrepublik ermöglicht.25 Und mit jedem Tag schwillt die Ausreisewelle weiter an. Schon am 11. September überschreiten ca. 8 000 Personen die Grenze nach Österreich, drei Tage später sind es bereits 18 000. Die Bilder der Autokolonnen, welche die Grenze passieren, gehen um die Welt.26 Zehntausende von DDR - Bürgern reisen in den nächsten Tagen und Wochen über Österreich in die Bundesrepublik aus.27 Die freigegebene ungarische Westgrenze wird auch in den nachfolgenden Monaten nicht mehr geschlossen. Bis zum 9. November verlassen insgesamt rund 50 000 DDR Deutsche über Ungarn und Österreich den SED - Staat.28 Erst mit dem Fall der Berliner Mauer wird der ungarisch - österreichische Grenzübergang schlagartig obsolet. Ostberlin, SED - Parteiführung : »Kreuzzug des Imperialismus gegen den Sozialismus«
Die SED - Führung bezeichnet die neuen Reisebestimmungen der ungarischen Regierung als Teil eines »Kreuzzuges des Imperialismus gegen den Sozialismus«29 und reagiert auf den Massenexodus, welcher die DDR in ihren Grundfesten erschüttert, mit einer drastischen Verschärfung des Grenzregimes.30 In der Folge erhalten DDR - Bürger für Reisen nach Ungarn kein Visum mehr. Die Fluchtwilligen, die keine gültige Einreiseerlaubnis für Ungarn vorweisen können, werden demzufolge an der tschechoslowakisch - ungarischen Grenze von tschechoslowakischen Grenzsoldaten an der Weiterreise ins Nachbarland gehindert. Die Abgewiesenen lehnen allerdings eine Rückkehr in die DDR entschieden ab. Viele von ihnen suchen fortan Zuflucht in der Prager Botschaft der Bundesrepublik Deutschland. 12. September 1989 Prag, Botschaft der Bundesrepublik, Anzahl der Zufluchtsuchenden nimmt zu
Mit steigender Tendenz melden sich Zufluchtsuchende aus der DDR in der Prager Botschaft der Bundesrepublik Deutschland. Es gibt Befürchtungen, Erich Honecker könnte im Rahmen des 40. Jahrestags der DDR am 7. Oktober die Grenze zur Tschechoslowakei schließen. Auch aus diesem Grund wächst die Zahl 25 26 27 28 29 30
Oplatka, Als die Grenze im September 1989 aufging ( http ://www.mfa.gov.hu / kulkepviselet / DE / de /de_20_eves_jubileum / oplatka.htm; 7.12.2013). Neues Deutschland vom 12.9.1989. Hertle, Chronik des Mauerfalls, S. 61–71. Oplatka, Der erste Riss in der Mauer, S. 231; Hertle, Chronik des Mauerfalls, S. 69. Neues Deutschland vom 12.9.1989 : »Der große Coup der BRD«. Kiessler / Elbe, Ein runder Tisch mit scharfen Ecken, S. 30.
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derer, die täglich über den drei bis vier Meter hohen Zaun der westdeutschen Botschaft in Prag klettern. Immer seltener werden sie von den tschechoslowakischen Sicherheitskräften daran gehindert, denn auch in der Tschechoslowakei hat Gorbatschows Perestroika politisches Tauwetter ausgelöst. Der Prager Botschafter der Bundesrepublik Deutschland, Hermann Huber, sieht sich gezwungen, wegen der stetig steigenden Zahl an Zufluchtsuchenden vorzeitig seinen Urlaub abzubrechen.31 In der Botschaft der Bundesrepublik, im Palais Lobkowicz, trifft Rechtsanwalt Wolfgang Vogel ein, um die Zufluchtsuchenden zur Rückkehr in die DDR zu bewegen.32 Die SED - Führung setzt auch im Sommer 1989 auf Vogels Überredungskünste und diplomatisches Geschick; Fähigkeiten, die sich in der Vergangenheit wiederholt bewährt hatten. Er soll die fluchtwilligen DDR - Bürger zur Umkehr bewegen und dabei helfen, die Gesamtsituation in der Prager Botschaft zu entschärfen. Schon in den Jahren 1984/85 hatten mehrere Hundert DDR - Bürger in der westdeutschen Botschaft Zuflucht gesucht, wo ihnen Verpflegung und Unterkunft bereitgestellt wurden. Der Großteil der Zufluchtsuchenden kehrte gleichwohl in die DDR zurück, nachdem Vogel erfolgreich als Unterhändler gewirkt und seinen Mitbürgern Straffreiheit sowie die Ausstellung gültiger Ausreisepapiere versprochen hatte.33 Von Seiten der KPTsch, welche das Flüchtlingsproblem möglichst zeitnah und ohne Eigenaufwand zu bereinigen wünscht, erfährt denn auch Vogels jüngster Einsatz vollste Zustimmung.34
13. September 1989 Ostberlin, Parteiorgan »Neues Deutschland«
In der Zeitung »Neues Deutschland« wird verzweifelt versucht, die DDR - Bürger von der Ausreise abzuschrecken. Im Artikel »Der Medienrummel und die Realitäten« schildert ADN - Korrespondent Horst Schäfer die angeblich schlimmen Folgen für die Ausgereisten : »Nach dem Medien - und Politikerrummel in der BRD um den ›Tag X‹ sehen sich die in einer illegalen Nacht - und - Nebel - Aktion abgeworbenen DDR - Bürger ihrem Schicksal überlassen. [...] Nach der abenteuerlichen Reise wird manchem erst bewusst, auf was er sich da eingelassen hat. [...] Schon bei ihrer Ankunft in den bayerischen Aufnahmelagern mussten die 31 32 33 34
Huber, DDR - Flüchtlinge in der Botschaft 1989 ( http ://www.prag.diplo.de / contentblob /1796820/Daten /141437/ erinnerungen_botschafterhuber_1989_d.pdf; 2.12.2009). Ebd. Brautlecht, Die Prager Botschaftsflüchtlinge ( http ://www.bpb.de / geschichte / deutsche - einheit / deutsche - teilung - deutsche - einheit /43767/ die - prager - botschaft; 16.5.12013). DDR - Botschaft in Prag an Außenminister Fischer und Gen. Sieber, ZK - IV, vom 15. 9. 1989 (BStU, ZA, ZAIG 13019, Bl. 1).
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Abgeworbenen feststellen, dass ihnen weder in Bezug auf Wohnungen noch auf Arbeitsplätze feste Zusagen gemacht werden konnten. Auch die zuvor versprochene freie Ortswahl in der BRD war erheblich eingeschränkt. Für die meisten gebe es auch keine Chance, so wurde ihnen bedeutet, in ihren erlernten Berufen zu arbeiten. In den Lagern gab es zwar Schalter des Arbeitsamtes, doch die seien, so erfuhren die ehemaligen DDR - Bürger, in erster Linie dazu da, sie als Arbeitslose zu registrieren. [...] Allein in Niederbayern gebe es fast 24 000 Arbeitslose. Die Erwartungen der abgeworbenen DDR - Bürger auf eigene Wohnung wurden [...] erheblich gedämpft. [...] Auch deren Fragen nach Betreuung ihrer Kinder in Kindergärten konnten die Regierungsvertreter angesichts von über 500 000 fehlenden Kindergartenplätzen in der BRD nicht mit Zusagen beantworten. Mit der Nacht - und - Nebel - Aktion zur Abwerbung von in Ungarn befindlichen DDR - Bürgern und dem damit verbundenen Medienrummel [...] haben so manche in der Bonner politischen Szene zweifellos auch das Ziel verfolgt, die massenhaften Proteste in der Bundesrepublik gegen die fortgesetzte Hochrüstung und die permanente Massenarbeitslosigkeit aus der öffentlichen Diskussion zu verdrängen.«35
15. September 1989 Prag, Botschaft der Bundesrepublik, weitere Ausreisewillige
Innerhalb eines einzigen Tages melden sich weitere 484 Ausreisewillige in der Prager Botschaft der Bundesrepublik. Wohl gelingt es dem von Ostberlin entsandten Unterhändler Rechtsanwalt Vogel, 300 von ihnen durch das Versprechen der späteren Ausreisebewilligung zur Rückkehr in die DDR zu bewegen. Dennoch steigt die Zahl der Zufluchtsuchenden in der Botschaft stetig an. Begünstigt durch die Ereignisse in Ungarn, wandelt sich nämlich deren Stimmung – die Bereitschaft zur Rückkehr in die DDR nimmt ab. Zitat eines Ausreisewilligen : »Vor ein paar Wochen gab’s nur Straffreiheit, jetzt gibt’s schon umfassende anwaltliche Betreuung durch Rechtsanwalt Vogel, mal sehen, was es in ein paar Wochen gibt.«36 Als Muster gilt ihnen Ungarn. Auch dort sei bis vor kurzem eine unmittelbare Ausreise in den Westen so nicht möglich gewesen. Warum aber sollte, so fragen sie sich, das Gleiche nicht auch hier möglich werden? Einwände des Botschaftspersonals, dass die Situation in der ČSSR eine andere sei, werden nicht akzeptiert. Man sei vielmehr bereit, so wird unterstrichen, auch noch »sehr lange in der Botschaft zu bleiben«.37
35 36 37
Horst Schäfer, Der Medienrummel und die Realitäten. In : Neues Deutschland vom 13.9.1989. Botschafter Huber an AA zur Situation in der Botschaft vom 14. 9. 1989 ( PA AA, 513, B 85 Nr. 2346 E, unpag.). Ebd.
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Prag, Außenministerium der ČSSR
Die tschechoslowakischen Stellen werden von dem Geschehen in der Botschaft zunehmend beunruhigt. Das Föderale Ministerium des Auswärtigen in Prag informiert die Botschaften der Tschechoslowakei über die Problematik der DDRBürger, die eine Ausreise in die Bundesrepublik anstreben, sowie über die sachlichen und rechtlichen Zusammenhänge. Das Ministerium empfiehlt, entschiedene Maßnahmen zu ergreifen, damit die Situation nicht noch weiter eskaliert. Unter den Zufluchtsuchenden nimmt nämlich der Anteil derer zu, die sich mit den Zusagen der DDR - Unterhändler nicht mehr zufriedengeben. Ferner kritisiert das Ministerium in seinem Schreiben, dass die Bundesrepublik ihre Botschaft zu Zwecken missbrauche, die im Widerspruch zur Wiener Konvention aus dem Jahre 1961 über diplomatische Vertretungen stünden. Gemäß dieser Konvention sind Auslandsvertretungen nicht berechtigt, Asyl zu gewähren. Die westdeutschen Behörden argumentieren ihrerseits mit der Verfassung der Bundesrepublik Deutschland und der darin zum Ausdruck kommenden, unterschiedlichen Rechtsauffassung in Bezug auf die DDR - Bürger. Im Sinne des Grundgesetzes seien die DDR - Staatsangehörigen ebenfalls als Bürger der Bundesrepublik anzusehen. Eine Rechtsauffassung, welche die tschechoslowakische Seite wiederum als völkerrechtswidrig beurteilt. »Dies bewerten wir als eine rechtswidrige Politik, die auf die pangermanischen Bestrebungen nach der Wiedervereinigung ausgereichtet ist.«38 In den empfindlichen zwischenstaatlichen Beziehungen zur DDR und Ungarn vertritt Prag nach Möglichkeit eine Politik der Nichteinmischung, gerade auch was das Verhältnis seiner beiden Nachbarn zur Bundesrepublik Deutschland betrifft. Gleichzeitig verhalten sich die tschechoslowakischen Stellen Ostberlin gegenüber solidarisch und gewähren der DDR Zugang zu allen relevanten Informationen hinsichtlich der Flüchtlingsproblematik, über die sie verfügen.39 Insbesondere die Parteiführungen und die Staatssicherheitsdienste arbeiten eng und intensiv zusammen. In Ostberlin weiß man die Prager Solidarität sehr wohl zu schätzen. Wiederholt äußern die zuständigen Behörden ihre Dankbarkeit den tschechoslowakischen Stellen gegenüber für deren Unterstützung. Sowohl das SED Politbüro als auch die Regierung, das Ministerium für Auswärtiges sowie die DDR - Botschaft in der Tschechoslowakei bringen mehrfach und auf unterschiedlichen Ebenen ihre Anerkennung für den festen Standpunkt zum Ausdruck, den die tschechoslowakischen Partei - und Staatsorgangen zur Unterstützung der 38 39
Außenministerium der ČSSR an die Botschaften vom 15. 9. 1989 ( AMZV Praha, Telegramy odeslané, 1989, sv. 8, pořadové číslo 3168). Zit. nach Prečan, Ke svobodě přes Prahu, S. 50. Polizeibericht vom 15. 9. 1989 ( ABS Praha, Objektový svazek reg. č. 845 [»Obora«], část 9, Bl. 153–155).
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DDR-Flüchtlinge gelangen über den Zaun des Palais Lobkowicz in die bundesdeutsche Botschaft in Prag. Foto: Antonin Nový
DDR einnehmen. Lob erfahren auch die Kommentare der tschechoslowakischen Presseagentur ČTK und jener Zeitungen, die Ungarn wegen dessen Nichteinhaltung von zwischenstaatlichen Verträgen der Verbündeten untereinander kritisieren. Es handelt sich um Abkommen, in denen sich Ungarn eigentlich verpflichtet hatte, DDR - Bürger an der Ausreise nach Österreich zu hindern, und die jetzt von Ungarn nicht eingehalten werden.40
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Außenministerium der ČSSR an die Botschaften vom 15.9.1989. Zit. nach Prečan, Ke svobodě přes Prahu, S. 50.
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Die Meilensteine auf dem Weg zur Freiheit
Tschechoslowakisch - ungarische Grenze, Grenzübertritte von DDR - Bürgern
In Zusammenhang mit der schnell ansteigenden Zahl von Zufluchtsuchenden aus der DDR auf dem Gebiet der ČSSR sieht sich auch die tschechoslowakische Grenzpolizei immer häufiger mit Versuchen von DDR - Bürgern konfrontiert, die Staatsgrenze zu Ungarn illegal zu überqueren. Der unerlaubte Grenzübertritt stellt, gemäß dem tschechoslowakischen Strafrecht, eine Straftat dar. Diejenigen DDR - Bürger, die im Zusammenhang mit einer versuchten illegalen Grenzüberquerung aufgegriffen wurden, werden gemäß den tschechoslowakischen Strafrechtsvorschriften juristisch zur Verantwortung gezogen. Zugleich werden auch die zuständigen DDR - Behörden über den Vorgang in Kenntnis gesetzt. Diesen obliegt es sodann, eine Überstellung der strafrechtlich verfolgten DDR Bürger zu beantragen. Entsprechenden Anträgen wird dann in der Regel auch stattgegeben.41 Nach Informationen des DDR - Ministeriums für Staatssicherheit (MfS ) werden laut Weisung des Innenministers der ČSSR DDR - Bürger, die den Grenzübertritt nach Ungarn ohne Genehmigung versuchen, zurückgewiesen, mit einem Stempeleintrag im Personalausweis versehen und anschließend bis an die Grenze der DDR zurückgebracht.42 Umgekehrt werden die zuständigen DDR- Stellen auch dann informiert, wenn die tschechoslowakischen Behörden feststellen müssen, dass DDR - Bürgern der Grenzübertritt nach Ungarn gelungen ist. Das Föderale Ministerium des Auswärtigen informiert darüber hinaus durchgehend die DDR - Botschaft in Prag über von DDR - Bürgern zurückgelassene Fahrzeuge und übergibt ihr regelmäßig entsprechende Kfz - Verzeichnisse. Wenn die DDR - Stellen die Herausgabe der Fahrzeuge anfordern, werden ihnen diese übergeben.43 16. September 1989 Prag, Botschaft der Bundesrepublik
Im Laufe des Tages klettern weitere 81 DDR - Bürger über den Zaun auf das Grundstück des Palais Lobkowicz. Botschafter Huber berichtet vom allgemeinen Erschöpfungszustand des Botschaftspersonals und bittet das Auswärtige Amt um Lebensmittel, Kleidung, Baumaterialien sowie eine erhebliche Aufstockung des Botschaftspersonals. Der Diplomat schlägt Alarm : »Weiterer großer Andrang in den kommenden Tagen zu erwarten. Vorsorgliche Bereitstellung von Versor-
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Ebd. MfS, ZAIG - Information vom 14.9.1989 ( BStU, ZA, ZAIG 22443, Bl. 1 f.). Außenministerium der ČSSR an die Botschaften vom 15.9.1989. Zit. nach Prečan, Ke svobodě přes Prahu, S. 50.
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gungsgütern notwendig.«44 Unterstützung kommt vom bundesdeutschen Militärattaché Adolf Brüggemann, der einen weiteren Anstieg der Flüchtlingszahlen prognostiziert – um tausend Personen innerhalb einer Woche ! Er erweitert Hubers Gesuch an das Auswärtige Amt um eine Feldküche, Zelte, Feldbetten und Schlafsäcke.45 Prag, Parteiorgan »Rudé Právo« : »Wir unterstützen unseren Freund«
Der Regierung der ČSSR missfällt die Situation im Palais Lobkowicz zunehmend. Die kontinuierliche Zulieferung von Gütern und Hilfspersonal aus der Bundesrepublik behindert sie jedoch nicht – sie will nicht die in letzter Zeit besser gewordenen Beziehungen zur Bundesrepublik wieder substanziell beeinträchtigen. Doch die Waffen der Parteipropaganda werden voll eingesetzt, mit schwerer Munition. In der KPTsch - Parteizeitung »Rudé Právo« erscheint am 16. September ein Hetzartikel, der das Vorgehen der Behörden und der Botschaft der Bundesrepublik heftig angreift und bereits in der Überschrift – »Wir unterstützen unseren Freund« – die uneingeschränkte Solidarität der KPTsch mit den DDR Genossen bekräftigt. Eine rechtlich durchaus nachvollziehbare Argumentation wird geschickt mit völlig frei erfundenen, massiven Beschuldigungen vermischt. Der Kommentator, Jan Kovařík, bezeichnet die Gesamtentwicklung um das Palais Lobkowicz als eine von höchsten Stellen der Bundesrepublik lange im Voraus geplante Aktion, die es zum Ziel habe, die staatliche Souveränität der DDR fundamental zu erschüttern : »Der Verlauf der illegalen Ausreise der Bürger der DDR in die BRD, als die ungarische Regierung [...] den Bürgern der DDR die Ausreise über Österreich in die BRD mit von westdeutschen Behörden ausgestellten Pässen ermöglicht hat, beweist, dass es um eine von höchsten Stellen der BRD lange im Voraus geplante und koordinierte Aktion geht. [...] Alles spricht dafür, dass es das Hauptziel der Aktion ist, den ersten Arbeiter - und Bauernstaat auf deutschem Boden zu diskreditieren, die Prinzipien in Zweifel zu ziehen, auf die sich nach der Niederlage des Faschismus die Kommunisten mit den Sozialdemokraten und weiteren fortschrittlichen Anti - Kriegskräften geeinigt haben. Die DDR ist den westdeutschen Reaktionären die gesamten vierzig Jahre ihrer Existenz ein Dorn im Auge gewesen. Die Angriffe, verborgen oder öffentlich, sind nicht zu zählen. Und das Ergebnis ? Die DDR wurde ein anerkannter Faktor auf der internationalen Bühne, deren Politik dem Gedanken dient, einen gerechten Staat der Werktätigen aufzubauen, der sich für das friedliche Zusammenleben und die Zusammenarbeit auf internationaler Ebene einsetzt. 44
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Botschafter Huber an AA vom 16.9.1989. Betr. : Zufluchtsuchende Deutsche aus der DDR, hier: Lagebericht 16.9.1989 ( PA AA, 513, B 85 Nr. 2346 E, unpag.) und Personalverstärkung für die Botschaft Prag ( PA AA, 214, 139918 E unpag.). Militärattaché Brüggemann und Botschafter Huber an AA über die Sicherstellung der Versorgung für die Zufluchtsuchenden vom 16.9.1989 ( PA AA, 513, B 85 Nr. 2346 E, unpag.).
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Niemals, ja niemals haben die Bemühungen der BRD aufgehört, der DDR vorzuschreiben, wie sie ihre Angelegenheiten regeln soll, nie aufgehört hat das Bestreben, die sozialistische Entwicklung umzukehren. Und jetzt stellt die von westdeutschen Stellen organisierte Flucht von DDR - Bürgern einen weiteren solchen Versuch dar, und dies ohne Rücksicht auf internationales Recht, auf den Geist der zwischen beiden deutschen Staaten abgeschlossenen Verträge, ohne Rücksicht auf den Schaden, den dies nicht nur den Beziehungen zwischen der DDR und der BRD, sondern auch dem sich aussichtsreich entwickelnden Entspannungsprozess zufügt. Es ist eine gefährliche Kurzsichtigkeit, die Position der BRD auf der Nichtanerkennung des Rechts eines anderen Staates, der DDR, aufzubauen. Man muss keine große juristische Bildung haben, um zu verstehen, dass dem Bürger eines anderen Staates ein Personaldokument auszustellen, in diesem Fall einen Reisepass, eine Rechtsverletzung darstellt, ein Eingreifen in die inneren Angelegenheiten eines anderen souveränen Staates. Das kann nicht einmal mit dem ›Wunsch nach Wiedervereinigung‹, geschweige denn durch Berufung auf die westdeutsche Verfassung gerechtfertigt werden. Die internationale Gemeinschaft richtet sich nach gewissen Regeln, die es nicht zulassen, dass irgendein Staat einem anderen seine Gesetze oder deren Auslegung aufzwingen kann. Auf dieser Gewissheit beruht der gesamte gegenwärtige Prozess der Entspannung, des Aufbaus gegenseitigen Vertrauens. Die DDR hat eine Reihe von konstruktiven Vorschlägen zu einer beiderseitig annehmbaren Lösung der Probleme der DDR - Bürger gemacht, die sich in Ungarn aufhalten, mit dem Ziel, in ein anderes Land auszureisen. [...] Die Behörden der DDR garantieren ihnen Straffreiheit und die Möglichkeit, auf normalem Wege, legal und gesetzlich, einen Antrag auf eventuelle Ausreise zu stellen. Dies entspricht unserer Zeit – es respektiert die Souveränität des Staates und zugleich das Recht des Bürgers, sich zu entscheiden. Deshalb kommt man gar nicht umhin, als das Vorgehen der westdeutschen Stellen abzulehnen, die wissen, dass es einen Weg des rechtmäßigen Vorgehens gegeben hat und gibt. In Wirklichkeit gelingt es ihnen jedoch nicht, ihren Hass gegen den Sozialismus zu verbergen. Und Hass ist, wie bekannt, ein schlechter Ratgeber für jegliches Handeln, umso mehr im internationalen Zusammenleben. Man kann nicht für Recht und Gesetz eintreten und selbiges zugleich mit Füßen treten, nur weil es einem in einem bestimmten Augenblick nicht passt. Wir schätzen die DDR als einen bewährten, zuverlässigen Partner, Nachbarn und Verbündeten. Entschieden verurteilen wir die Kampagne gegen die DDR und unterstützten den Standpunkt unserer Freunde. Unsere Genossen in der DDR sollen wissen, dass wir weiterhin die beiderseitige Zusammenarbeit unter strenger Einhaltung aller vertraglichen Verpflichtungen hochhalten werden.«46
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Jan Kovařík, Podporujeme našeho přítele ( Wir unterstützen unseren Freund ). In : »Rudé Právo« vom 16. 9. 1989. Der Artikel kann als Beginn des kurzen »Medienkriegs« zwischen der Bundesrepublik auf der einen sowie der DDR und der ČSSR auf der anderen Seite angesehen werden – Dok. 6.
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17. September 1989 Prag, Botschaft der Bundesrepublik, wachsende Flüchtlingszahlen
Adolf Brüggemanns Prognose schnell wachsender Flüchtlingszahlen wird bereits am darauffolgenden Tag bestätigt, als weitere 115 Flüchtlinge auf dem Botschaftsgelände in Prag eintreffen. Im Gegensatz zu früheren Zufluchtsuchenden, die nahezu ausschließlich in Folge abgelehnter Ausreiseanträge in das Palais Lobkowicz geflüchtet sind, hat jetzt kaum einer der Neuankömmlinge einen Antrag gestellt. Diese Menschen sind schlicht aus Enttäuschung und Verzweiflung geflohen und wünschen sich nichts sehnlicher, als der DDR für immer den Rücken zu kehren. Bis dato vorgenommene Betreuungsaufgaben wie beispielsweise der Schulunterricht für Kinder entfallen jetzt, da alle Kapazitäten der Botschaft erschöpft sind.47 Ostberlin, Politbüro der SED
Aus persönlichen Notizen Egon Krenz’ zum heutigen Tage geht hervor, dass sich die SED - Führung über die Hintergründe der Fluchtbewegung sehr wohl im Klaren ist. Zum einen sind die DDR - Bürger von der Hoffnung erfüllt, in der Bundesrepublik eine umfassendere materielle Versorgung sowie bessere berufliche Verdienstmöglichkeiten wahrnehmen zu können. Zum anderen trägt das starre, hoch bürokratisierte Regierungssystem und dessen Repressionen gegenüber individueller Selbstverwirklichung zur Politikverdrossenheit der Menschen in starkem Maße bei.48 Die Schuld daran sucht Krenz jedoch nicht im politischen Kurs der SED, sondern schreibt sie der medialen Propaganda Westdeutschlands zu.49 Krenz’ Lösungsansätze für das Ausreisedilemma stehen ganz im Lichte der orthodox - kommunistischen Staatsdoktrin der DDR : So beabsichtigt er, an den Prinzipien von Planwirtschaft, Realsozialismus und Einparteienstaat festzuhalten, während gleichzeitig insbesondere die Jugend für vorgenannte Prinzipien wieder gewonnen werden soll.50
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Botschafter Huber an AA vom 17.9.1989. Betr. : Zufluchtsuchende Deutsche aus der DDR, hier: Lagebericht 17.9.1989 ( PA AA, 214, 139918 E, unpag.). Krenz, Einschätzungen über die politische Situation in der DDR vom 17. 9. 1989 ( http ://startext.net - build.de :8080/ barch / MidosaSEARCH / dy30bkr / xml / inhalt /1c6793d9–070e - 4384– b5d1–c3013ac6bb30.htm; 27.2.2014). Kiessler / Elbe, Ein runder Tisch mit scharfen Ecken, S. 28. Krenz, Einschätzungen über die politische Situation in der DDR vom 17. 9. 1989 ( http ://startext.net - build.de :8080/ barch / MidosaSEARCH / dy30bkr / xml / inhalt /1c6793d9–070e - 4384– b5d1–c3013ac6bb30.htm; 27.2.2014).
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18. September 1989 Prag, Botschaft der Bundesrepublik
Unter der Leitung des Bundesgeschäftsführers der SPD, Peter Glotz, trifft in Prag eine Gruppe Bonner Parlamentarier ein. Sie besucht das Palais Lobkowicz und macht sich ein eigenes Bild von der Situation. Trotz wachsender Flüchtlingszahlen ist die allgemeine Stimmung in der Botschaft friedlich und die Lage noch unter Kontrolle. Lediglich am Rande kommt es zu vereinzelten Ausfällen. So gibt beispielsweise eine kleine Gruppe Zufluchtsuchender ein Interview in aggressiver Form, dabei skandiert sie »Stasi raus !«.51 Ansonsten bleibt die Stimmung auch dank des sommerlichen Wetters verhältnismäßig gut, es gibt kaum Krankheitsfälle. Inzwischen sind unter den Flüchtlingen auch wieder zwei Ärzte, was eine willkommene Hilfe darstellt. Lediglich das Schulzelt, in dem bisher ein – freilich recht provisorischer – Unterricht für die Kinder organisiert worden war, muss aus Platzgründen geräumt werden. Der Ort wird für die Unterbringung der Neuankömmlinge benötigt. Dennoch sind auch weiterhin etliche Menschen ohne Schlafplatz. Botschafter Huber fordert sechs zusätzliche Zelte, Betten und eine mobile Küche an.52 Prag, Außenministerium der ČSSR
Peter Glotz wird zusammen mit Botschafter Hermann Huber durch den tschechoslowakischen Außenminister Jaromír Johanes empfangen. Dieser lässt verlauten, dass die ČSSR bei der Bewältigung des Flüchtlingsproblems auch weiterhin keine Schwierigkeiten machen werde. Er teile ansonsten in der Sache den Standpunkt der DDR, gegenüber der man Vertragsverpflichtungen habe, die einzuhalten seien. Nach seiner Meinung sollten »die DDR - Flüchtlinge in der DDR bleiben und sich dort an der Demokratisierung beteiligen«.53 Wie Huber anschließend völlig zutreffend konstatiert, hätten alle Gespräche gezeigt, dass sich die ČSSR zwar gegenüber der DDR in der Pflicht sehe, »es sich dabei aber auch nicht mit dem anderen deutschen Nachbarn verderben will«.54 Eine Einschätzung, die durch die Entwicklung in den folgenden Tagen und Wochen vollauf bestätigt wird. Die tschechoslowakischen Stellen sind während des gesamten Flüchtlingsdramas darum bemüht, die Verträge mit der DDR strengs-
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Botschafter Huber an AA vom 20.9.1989. Betr. : Zufluchtsuchende Deutsche aus der DDR, hier: Schreiben an Herrn BM ( PA AA, 214, 139918 E, unpag.). Botschafter Huber an AA vom 18.9.1989. Betr. : Zufluchtsuchende Deutsche aus der DDR, hier: Lagebericht 18.9.1989 ( PA AA, 513, B 85 Nr. 2346 E, unpag.). Botschafter Huber an AA vom 19.9.1989. Betr. : Delegationsreise der deutsch - tschechoslowakischen Parlamentariergruppe in die ČSSR vom 18.–21.9.1989 ( PA AA, 214, 139918 E, unpag.). Ebd.
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tens einzuhalten und gleichzeitig die zu dieser Zeit bereits im Wesentlichen normalisierten – vor allem wirtschaftlichen – Beziehungen zur Bundesrepublik Deutschland aufrechtzuerhalten. Ostberlin, Ministerium für Staatssicherheit
So wie das Politbüro ist sich auch das Ministerium für Staatssicherheit über die Ausreisegründe der Flüchtlinge im Wesentlichen im Klaren. Wie das MfS feststellt, führe fast jeder die Hauptursachen für das Verlassen der Republik auf innere Probleme und Schwierigkeiten zurück. So behaupten zum Beispiel die Leitungskader im VEB Erntemaschinen Neustadt, »der Westen könne gar keine Massenausreise organisieren, die Menschen gingen aus freien Stücken, da sie mit der Gesamtsituation in der DDR unzufrieden seien«.55 Leipzig, Montagsdemonstration
Parallel zur stetig an Dynamik gewinnenden Fluchtbewegung über das Ausland wird der SED auch zunehmend im eigenen Land vor Augen geführt, wie unzufrieden die Bevölkerung mit der Gesamtsituation ist. In Leipzig gehen im Anschluss an das Friedensgebet in der Nikolaikirche mehrere Hundert Menschen zur Montagsdemonstration auf die Straße. »Wir bleiben hier !«, lauten die Sprechchöre, anstelle von : »Wir wollen raus !« Zahlreiche Demonstranten werden festgenommen. Rockmusiker, Liedermacher und Unterhaltungskünstler fordern in einer öffentlichen Resolution – als Reaktion auf die wachsenden Flüchtlingszahlen – Demokratisierung und Reformen nach ungarischem Vorbild.56 Tschechoslowakisch - ungarische Grenze, Grenzübertritt zunehmend schwieriger
Der Drang zahlloser DDR - Bürger, über Ungarn und Österreich in den Westen zu gelangen, dauert an. Jedoch längst nicht alle erreichen auch ihr Ziel. Jene DDR Bürger, die versuchen, über Ungarn in die Bundesrepublik zu fliehen, ereilt oft ein bedauerliches Schicksal. Von Sicherheitskräften der ČSSR an der ungarischen Grenze aufgegriffene Menschen werden mit einem entsprechenden Vermerk im Personalausweis binnen 24 Stunden zurück in die DDR geschickt. Die Kreisdienststellen für Staatssicherheit ( KD ) führen entsprechende Personenlisten und haben über den Entzug des Personalausweises sowie eventuelle Fahndungsmaß55 56
Kreisdienststelle Sebnitz des MfS, gez. Major Israel, vom 31. 8. 1989 : Information über Stimmung und Reaktion der Bevölkerung ( BStU, ASt. Dresden, KD Sebnitz 4258, Bl. 33–36). Vgl. Bundeszentrale für politische Bildung, Chronik – September 1989 ( http ://www.chronik der - mauer.de / index.php / de / Chronical / Detail / month / September / year /1989; 16.5.2013).
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nahmen zu entscheiden. Der ungesetzliche Grenzübertritt ist nach § 213 des StGB der DDR eine strafbare Handlung, im Sprachgebrauch als »Republikflucht« bezeichnet, die mit Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren oder mit Verurteilung auf Bewährung bestraft wird. In schweren Fällen wird der Täter nach § 213 Abs. 2 des StGB mit Freiheitsstrafe von einem Jahr bis zu fünf Jahren bestraft. Die Strafbarkeit steht im Widerspruch zum Völkerrecht, insbesondere Art. 13 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der UN, die die Reisefreiheit garantiert. Einmal erfassten Personen werden außerdem Reisen ins Ausland hernach natürlich nicht mehr genehmigt.57 19. September 1989 Warschau, Botschaft der Bundesrepublik
Die bundesdeutsche Botschaft in Warschau muss wegen Überfüllung vorrübergehend geschlossen werden.58 Ostberlin, Parteiorgan »Neues Deutschland« : Bundesregierung betreibe »Menschenhandel«
Die jüngste Ausgabe der Zeitung »Neues Deutschland« widmet der Situation in Ungarn gleich eine ganze Seite und erhebt dabei massive Vorwürfe gegen die Bundesregierung. Diese betreibe in einer konzertierten Aktion gemeinsam mit den Medien gezielt »Menschenhandel, um dem bundesdeutschen Arbeitsmarkt neue Arbeitskräfte zuzuführen«. Gleichzeitig sei sie nicht in der Lage, bezahlbare Wohnungen zur Verfügung zu stellen. Dies alles diene »allein der revanchistischen, großdeutschen Politik einer Wiederherstellung des ›Großdeutschen Reiches in den Grenzen von 1937‹«.59 Tschechoslowakisch - ungarische Grenze, mit jedem Tag gefährlicher
Für jene DDR - Bürger, die auch weiterhin versuchen, die Bundesrepublik über Ungarn und Österreich zu erreichen, wird das Unterfangen mit jedem Tag gefährlicher. Inzwischen sind die Kontrollen sowohl innerhalb der ČSSR als auch entlang der tschechoslowakisch - ungarischen Grenze erheblich verschärft wor-
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Vgl. Rundschreiben der BV Dresden des MfS, gez. Oberst Anders, an alle Kreisdienststellen vom 18.9.1989 ( BStU, ASt. Dresden, KD Großenhain 10139, Bl. 23). Vgl. Bundeszentrale für politische Bildung, Chronik – September 1989 ( http ://www.chronik der - mauer.de / index.php / de / Chronical / Detail / month / September / year /1989; 16.5.2013). »Menschenhandel. Tatsachen enthüllen den rücksichtslosen Umgang der BRD mit Menschenschicksalen und mit dem Völkerrecht.« In : Neues Deutschland vom 19.9.1989.
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den. Die tschechoslowakischen Sicherheitskräfte sind dabei angehalten, insbesondere nach Westgeld und privaten Dokumenten wie Zeugnissen etc., zu suchen. Etliche Personen wissen von vorübergehenden Festnahmen inklusive drastischer Verhörmethoden zu berichten. So heißt es u. a. : »Die [ tschechoslowakischen Sicherheitskräfte ] schlagen gleich zu.« Oder : »Die haben uns an die Heizung angekettet.« »Sehr übel« würden DDR - Bürger behandelt, die beim Versuch eines illegalen Grenzübertritts nach Ungarn gefasst wurden. DDR - und ČSSR - Staatssicherheit arbeiten bei der Verfolgung der Fluchtwilligen intensiv und eng zusammen. Da viele Flüchtlinge versuchen, über die Donau zu schwimmen, stellt die tschechoslowakische Seite Grenzposten entlang des Ufers im Abstand von ca. 100 Metern auf. Anders als die repressiven Sicherheitsorgane der ČSSR zeigt sich die ungarnstämmige Bevölkerung auf tschechoslowakischer Seite ausgesprochen hilfsbereit.60 Bonn, Auswärtiges Amt / Prag, Botschaft der Bundesrepublik und Außenministerium der ČSSR
Botschafter Huber wird vom Leiter der Politischen Abteilung des Auswärtigen Amtes in Bonn, Dieter Kastrup, gebeten, unverzüglich beim tschechoslowakischen Ministerpräsidenten Ladislav Adamec und KPTsch - Parteichef Miloš Jakeš vorzusprechen und ihnen eine persönliche Botschaft des Bundesaußenministers zu überbringen, unter Verweis auf die jahrzehntelangen Bemühungen Genschers, sich auch in schwierigen Zeiten für gute Beziehungen mit der ČSSR einzusetzen. Huber soll der tschechoslowakischen Seite deutlich machen, dass es nach bundesdeutschem Verständnis nicht möglich sei, mit Gewalt gegen Deutsche vorzugehen, die sich »ohne unser Zutun auf das Botschaftsgrundstück begeben«. Nachdrücklich lässt Genscher darum bitten, noch einmal die Möglichkeit einer pragmatischen und humanitären Lösung, z. B. mit Hilfe des Internationalen Roten Kreuzes, zu prüfen.61 Als Reaktion auf Hubers Gesuch, mit der Staats - und Parteiführung der ČSSR ins Gespräch zu kommen, um die persönliche Botschaft Genschers zu übermitteln, wird der tschechoslowakische Außenminister Johanes beauftragt, den westdeutschen Botschafter sofort zu empfangen.62 Im Vorfeld dieser Begegnung lässt der erfahrene Diplomat sondieren, ob bzw. inwiefern es etwaige Meinungsver60 61 62
Botschafter Arnot in Budapest an AA vom 20.9.1989. Betr. : Einreise von Übersiedlungswilligen Deutschen aus der DDR über die ČSSR ( PA AA, 210, 140733 E, unpag.). AA, gez. Kastrup, an Botschafter Huber vom 19.9.1989. Betr. : Deutsche aus der DDR ( PA AA, 214, 139918 E, unpag.) – vgl. Dok. 7. Vermerk des Abteilungsleiters »Benachbarte Länder« im Außenministerium der DDR, Schwiesau, über ein Gespräch von Außenminister Fischer mit dem Hauptabteilungsleiter im Außenministerium der ČSSR Kadnár vom 21.9.1989 ( BArch B, DY 30/11621, Bl. 161 f.).
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schiedenheiten auf Seiten der tschechoslowakischen Staats - und Parteiführung hinsichtlich der Behandlung des Flüchtlingsproblems auf dem Gelände der westdeutschen Botschaft in Prag gibt. Huber verbindet dann die Verhandlungen mit Johanes mit dem Hinweis darauf, dass die Bundesrepublik Deutschland gegenüber der Volksrepublik Ungarn ihren Dank schon ausgedrückt habe und diesen auch materiell zeigen werde. Dasselbe Angebot gelte im Übrigen auch für die Tschechoslowakei.63 Die im Zuge des Gesprächs übermittelte Botschaft Genschers enthält eine sehr emotional beschriebene Passage der Situation in der westdeutschen Vertretung in Prag sowie den Vorschlag, das Flüchtlingsproblem nach dem »ungarischen Modell« zu lösen oder wahlweise wie in Sofia, wo die rumänischen Bürger ungarischer Nationalität mit Dokumenten des Internationalen Roten Kreuzes ausreisen durften. Die Bundesrepublik wolle niemanden irritieren und werde deshalb auch keine Pässe für die betroffenen DDR - Bürger ausstellen. Außenminister Johanes betont in seiner Stellungnahme die uneingeschränkte Unterstützung der DDR seitens der tschechoslowakischen Organe und kritisiert, dass die Haltung der BRD direkt gegen die Schlussakte der KSZE Konferenz von Helsinki verstoße. Huber beharrt seinerseits darauf, dass nichtsdestotrotz eine »pragmatische humanitäre Lösung« gefunden werden müsse.64 Ostberlin / Leipzig / Erfurt, »Neues Forum«
In der DDR wie auch in der Tschechoslowakei schießen neue Bürgerinitiativen wie Pilze aus dem Boden. Das »Neue Forum«, das neun Tage zuvor, am 10. September, mit einem Gründungsaufruf an die Öffentlichkeit getreten ist, beantragt als erste oppositionelle Gruppierung die Zulassung als Bürgervereinigung. »In unserem Land ist die Kommunikation zwischen Staat und Gesellschaft offensichtlich gestört«,65 heißt es in der Gründungserklärung. Im Gründungsaufruf werden massenhafte Auswanderung und Fluchtbewegung als Belege für die zerstörte Beziehung zwischen Staat und Gesellschaft angegeben. Zwei Tage später lehnt das Innenministerium den Antrag mit der Begründung ab, das »Neue Forum« stelle eine »staatsfeindliche Plattform« dar. Bis zu diesem Zeitpunkt
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Ebd. Botschafter Huber an AA über eine Botschaft von Außenminister Genscher an Ministerpräsidenten der ČSSR, Ladislav Adamec, und Generalsekretär der KPČ, Miloš Jakeš, vom 20. 9. 1989 ( PA AA, 214, 139918 E, unpag.); Vermerk des Abteilungsleiters »Benachbarte Länder« im Außenministerium der DDR, Schwiesau, über ein Gespräch von Außenminister Fischer mit dem Hauptabteilungsleiter im Außenministerium der ČSSR Kadnar vom 21.9.1989 ( BArch B, DY 30/11621, Bl. 161 f.). Gründungsaufruf des Neuen Forums vom 10. 9. 1989 ( http ://www.chronik - der - mauer.de / index.php / de - / Media / GalleryPopup / id /319023/ item /0/ month / September / oldAction / Detail / oldModule / Chronical / year /1989; 27.2.2014).
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Das Neue Forum als »neue Hoffnung« der DDR-Bürger fordert politische Partizipationsrechte und Reformen. Foto: pictures alliance/ZB
haben bereits etwa 3 000 Menschen den Aufruf unterschrieben, angesichts des repressiven Charakters des SED - Regimes eine große Zahl. 3 000 Unzufriedene, unter denen die Entscheidung des Innenministeriums jetzt für weitere Empörung sorgt.66 Eisenach
Die Synode des Evangelischen Kirchenbundes verabschiedet in Eisenach einen Beschluss, in dem sie eine pluralistische Medienpolitik, demokratische Parteienvielfalt, Reisefreiheit für alle Bürger, wirtschaftliche Reformen sowie Demonstrationsfreiheit als »längst überfällige Reformen« einklagt.67
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Ebd.; Bundeszentrale für politische Bildung, Chronik – September 1989 ( http ://www.chronik der - mauer.de / index.php / de / Chronical / Detail / month / September / year /1989; 16.5.2013). Bundeszentrale für politische Bildung, Chronik – September 1989 ( http ://www.chronik - der mauer.de / index.php / de / Chronical / Detail / month / September / year /1989; 16.5.2013).
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20. September 1989 Prag, Botschaft der Bundesrepublik
Auf dem Botschaftsgelände in Prag wird unterdessen Kinderkleidung verteilt. Gegen Abend treffen neue Betten, Kleidungsstücke und Lebensmittel aus der Bundesrepublik ein. Das Zusammenleben der auf engstem Raum zusammengedrängten Zufluchtsuchenden verläuft weiterhin überwiegend reibungslos. Die Botschaftsflüchtlinge verwalten eine eigene, stark frequentierte Bibliothek.68 Trotzdem werden auch kritische Stimmen laut. Die Deutsche Presse - Agentur (DPA ) berichtet, dass eine Gruppe der Flüchtlinge mit Sprechchören Aufsehen erregt und eine »zunehmend aggressive Haltung« an den Tag gelegt habe. Die Unzufriedenen kritisieren, dass »sich zu wenig tue«. Der Erklärung des Botschaftspersonals, eine direkte Ausreise komme ohne Zustimmung der ČSSR Regierung nicht in Frage, schenken sie kaum Glauben.69 Moskau, Erklärung zur Nationalitätenpolitik
Das Zentralkomitee der Kommunistischen Partei der Sowjetunion verabschiedet eine wichtige Erklärung zur Nationalitätenpolitik – auch der Wirtschaftsbereich wird nach und nach liberalisiert. In Zukunft sollen die einzelnen Republiken der Sowjetunion über weitgehende Selbstständigkeit in ihrer Wirtschaftspolitik verfügen.70 Bonn, Bundesregierung und Auswärtiges Amt
Das Kabinett in Bonn befasst sich mit der Lage in der DDR und den ständig steigenden Flüchtlingszahlen.71 Im Auswärtigen Amt wird eine Vorlage für das bevorstehende Gespräch Genschers mit dem Außenminister der Sowjetunion, Eduard Schewardnadse, in New York ausgearbeitet. Die Gesprächsvorlage zeigt deutlich die Sicht des Auswärtigen Amtes und fasst die wichtigsten Eckpunkte der westdeutschen Argumentationslogik noch einmal zusammen. Man betrachte die Entwicklung in der DDR mit großer Sorge. Hundertausende DDR - Bürger hätten Ausreiseanträge gestellt, weil sie in der DDR keine Perspektive mehr 68 69 70 71
Botschafter Huber an AA vom 20.9.1989. Betr. : Zufluchtsuchende Deutsche aus der DDR, hier: Lagebericht 20.9.1989 ( PA AA, 214, 139918 E, unpag.). DPA - Meldung vom 20.9.1989, 14.15 Uhr : Ab - und Zugänge in der deutschen Botschaft in Prag ( PA AA, Bo. Prag, 20682 E, unpag.). Bundeszentrale für politische Bildung, Chronik – September 1989 ( http ://www.chronik - der mauer.de / index.php / de / Chronical / Detail / month / September / year /1989; 16.5.2013). AA, gez. Schrömbgens, an Referat 011 vom 19. 9. 1989. Betr. : Kabinettssitzung am 20. 9. 1989, hier : Bericht über die Lage der Deutschen aus der DDR in Ungarn sowie in den Botschaften Prag und Warschau ( PA AA, 214, 139918 E, unpag.).
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sähen. Die DDR könne nicht – als einziger Staat in Europa – am Eisernen Vorhang festhalten. Sie müsse wieder Anschluss an die europäische Entwicklung gewinnen. Der Vorwurf sei absurd, man betreibe Abwerbung und Menschenhandel. Die Flüchtlinge würden lediglich von ihrem Recht Gebrauch machen, aus ihrem Land auszureisen, so wie es im Übrigen auch in den Menschenrechtsverträgen der Vereinten Nationen stehe. Die Bundesrepublik gewähre konsularischen Schutz, da man dazu verfassungsrechtlich verpflichtet sei. Der Grundlagenvertrag über die Grundlagen der Beziehungen zwischen der Bundesrepublik und der DDR habe die Frage der Staatsbürgerschaft ausdrücklich nicht geregelt.72 21. September 1989 Ostberlin, Parteiorgan »Neues Deutschland« : »skrupellose Menschenhändler«
Die Aussetzung der Reisemöglichkeiten nach Ungarn löst bei DDR - Bürgern Zorn und große Verbitterung aus. Die SED - Diktatur versucht auf ihre Weise dagegen zu steuern : mit einem völlig die Tatsachen verdrehenden Artikel in der Parteizeitung »Neues Deutschland«. Darin wird der Bundesregierung u. a. die Organisation von Menschenhandel vorgeworfen. Die über Ungarn in den Westen geflohenen DDR - Bürger seien als billige Arbeitskräfte ohne Obdach »verschachert« worden. Dieser Menschenhandel diene allein »der revanchistischen, großdeutschen Politik einer Wiederherstellung des Großdeutschen Reiches in den Grenzen von 1937«.73 Zur Illustration dient nachfolgende Geschichte : Ein ahnungsloser Mitropa Koch, glücklich verheiratet, Vater von drei Kindern, gerät in Budapest durch eine Unachtsamkeit in die Fänge skrupelloser Menschenhändler. Sie betäuben ihn mit einer präparierten Menthol - Zigarette und verschleppen ihn nach Wien. Dort erhalten sie im Austausch gegen ihr Opfer »einen Packen D - Mark - Scheine«. Was sich wie das Drehbuch eines billigen Agenten - Thrillers liest, tischt das »Neue Deutschland« seinen Lesern als wahre Geschichte auf. Allerdings : Kaum jemand, weder oppositionelle noch linientreue DDR - Bürger, hält die Geschichte für wahr. Der Gegensatz zu den Bildern im westdeutschen Fernsehen von flüchtenden DDR - Bürgern in Ungarn und überfüllten Botschaften in Prag und Warschau ist einfach zu evident. »Die Menschen konnten über so viel Unsinn nur noch lachen. Wozu könne eine Regierung fähig sein, fragten sich viele, die ein ganzes Volk für
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AA, Referat 210, Gesprächsvorlage für ein Gespräch Genschers mit Außenminister Schewardnadse vom 20.9.1989. Betr. : Lage in der DDR, Fluchtwelle, innerdeutsche Beziehungen ( PA AA, 210, 140733 E unpag.). Hartmut Ferworn, Ich habe erlebt, wie BRD - Bürger »gemacht« werden. In : Neues Deutschland vom 21.9.1989.
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so dumm halte, so etwas glauben zu sollen ?«74 Das Interview mit Mitropa - Koch Hartmut Ferworn über dessen angebliche Entführung aus Budapest durch eine westliche Schlepperbande wird bald in die Mediengeschichte eingehen – als ein besonders dreister Fall gezielter Falschinformation zu propagandistischen Zwecken.75 Prag, Botschaft des Königreichs Belgien, 27 DDR - Bürger über den Zaun der Botschaft geklettert
Der tschechoslowakische Staatssicherheitsdienst hört den Telefonverkehr in der ČSSR ab. Wichtiges Ziel seiner Agenten sind dabei die Vertretungen der westlichen Staaten, wo auch häufig Abhöranlagen installiert sind. Auf diese Weise erhält der tschechoslowakische Staatssicherheitsdienst auch Kenntnis über ein abgehörtes Gespräch zwischen dem belgischen und dem westdeutschen Botschafter. So ist im zugehörigen Bericht der Staatssicherheit vermerkt : »Die Quelle teilte mit, dass am 21. September 1989, um 7.30 Uhr, sich der belgische Botschafter in Prag, Beyens, telefonisch an den BRD - Botschafter Huber wandte.«76 Wie aus dem Bericht der Staatssicherheit hervorgeht, informierte Beyens Huber darüber, dass sich in der belgischen Vertretung in Prag derzeit 27 Bürger aus der DDR aufhielten, die politisches Asyl beantragt hätten. Sie seien schlicht aus Versehen über den Zaun der belgischen Botschaft geklettert, in der irrigen Annahme, dass es sich um die westdeutsche Vertretung handele. Beyens ist durch den Vorfall sichtlich verärgert und überlegt, die Botschaft schließen zu lassen. Er bittet Huber nachdrücklich, die Situation schnellstens zu bereinigen. Huber versichert Beyens, dass er sofort ein Fahrzeug entsenden werde, welches die Zufluchtsuchenden abholt. Die Überstellung der DDR - Bürger per Botschaftsfahrzeug in die westdeutsche Vertretung in Prag erfolgt noch am gleichen Tag.77 Prag, Botschaft der Bundesrepublik
In der Prager Botschaft treffen weitere Versorgungsgüter und Materialien ein, darunter sechs Zelte und eine mobile Küche samt Personal. Der Flüchtlingszustrom nimmt jedoch weiter zu. Unter den neu hinzugekommenen Flüchtlin-
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Kowalczuk, Endspiel, S. 353. Ebd.; Irene Altenmüller, Märchenstunde in der DDR - Presse – die Menthol - Zigaretten - Story (http ://www.ndr.de / geschichte / grenzenlos / bleiben / hartmutferworn100.html; 5.1.2014). Aufzeichnung der tschechoslowakischen Staaatsicherheit des Telefongesprächs zwischen Beyens und Huber vom 21.9.1989 ( ABS Praha, Objektový svazek reg. č. 845 [»Obora«], část 9, Bl. 37f.). Ebd.; Botschafters Huber an AA vom 21. 9. 1989. Betr. : Zufluchtsuchende Deutsche aus der DDR, hier : Lagebericht 21.9.1989 ( PA AA, 214, 139918 E, unpag.).
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gen befinden sich auch jene 27 DDR - Bürger, die zuvor irrtümlich auf dem Gelände der belgischen Botschaft Zuflucht gesucht hatten.78 Prag, Botschaft der USA
Die neue US - Botschafterin in Prag, Shirley Temple - Black, nimmt die Entwicklung der Flüchtlingsproblematik mit Sorge zur Kenntnis und verspricht Botschafter Huber, US - Außenminister James Baker über die Situation zu unterrichten und anzuregen, dass dieser die Flüchtlingsfrage in New York gegenüber dem tschechoslowakischen Außenminister Johanes zur Sprache bringt.79 Prag, Zentralkomitee der KPTsch
Das Politbüromitglied des ZK der SED, Günther Schabowski, weilt zu einem »kurzen Arbeitsbesuch« ( so die Presseagentur ČTK ) in Prag, wo er vom Generalsekretär der Kommunistischen Partei, Milouš Jakeš, und vom KPTsch Sekretär der Stadt Prag, Miroslav Štěpán, empfangen wird. Laut »Rudé Právo«80 geht es sowohl um die Zusammenarbeit von SED und KPTsch als auch um die von DDR und ČSSR. Beide Seiten bekräftigen ihre gegenseitige Solidarität. Schabowski informiert über die aktuelle Lage in seinem Land und über die »gegenwärtige feindliche Kampagne« gegen die DDR, die aus dem Westen in der Absicht geführt werde, »die erreichten Ergebnisse des Aufbaus des Landes am Vorabend des 40. Jahrestages der Gründung der DDR zu diskreditieren«. Schabowski dankt der tschechoslowakischen Führung für die »Unterstützung des Standpunktes der DDR im Kampf gegen diese massive Hetzkampagne« und die aktive Unterstützung durch die »Organe des Innenministeriums«, womit Polizei und Geheimdienste gemeint sind. Es sei wohltuend, »bewährte und verlässliche Partner, Nachbarn und Verbündete fest an unserer Seite zu wissen«. Hohe Anerkennung findet insbesondere die strikte Beachtung des Reiseabkommens.81 Bonn, Auswärtiges Amt
Im Auswärtigen Amt wird eine Gesprächsvorlage für die Verhandlungen zwischen Genscher und dem tschechoslowakischen Außenminister Johanes in New 78 79 80 81
Ebd. Botschafter Huber an AA vom 22.9.1989. Betr. : Zufluchtsuchende Deutsche aus der DDR ( PA AA, 214, 139918 E, unpag.). »Přijetí u M. Jakeše« [ Empfang bei M. Jakeš ]. In : Rudé Právo vom 22.9.1989. MfS, ZAIG, Zuarbeit für Gen. Schabowski, Arbeitsbesuch in ČSSR vom 21. 9. 1989 ( BStU, ZA, ZAIG 22443, Bl. 13–15); Botschafters Huber an AA vom 25.9.1989. Betr. : Beziehungen ČSSR DDR, hier : Zufluchtsuchende Deutsche aus der DDR ( PA AA, 210, 140715 E, unpag.).
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York vorbereitet. Genscher soll in Hinblick auf die unerträgliche Lage in der Prager Botschaft den tschechoslowakischen Kollegen Johannes darum bitten, ob die dortigen Flüchtlinge – unter Beibehaltung ihres Status – nicht an einem anderen Ort untergebracht werden können, wahlweise unter der Obhut einer humanitären Organisation oder des bisherigen Botschaftspersonals. Außerdem sollen die tschechoslowakischen Sicherheitsbehörden davon ablassen, DDR - Bürger in der ČSSR gezielt aufzugreifen und gegen ihren Willen in die DDR zurückzuschicken.82 Ausgehend von den Bestimmungen der KSZE - Schlussakte von Helsinki und der Genfer Flüchtlingskonvention sieht die Bundesrepublik die ČSSR in der Pflicht, eine humanitäre Intervention auf ihrem Staatsterritorium zu erlauben und die flüchtigen DDR - Bürger in ein Drittland weiterziehen zu lassen.83 Ostberlin, Außenministerium
Mit steigender Zahl der Ausreisewilligen auf dem Prager Botschaftsgelände wird das Flüchtlingsdrama auch für die tschechoslowakischen Partei - und Staatsorgane zu einem diffizilen Problem. Als Sonderbeauftragter im Auftrag des KPTsch - Parteichefs Jakeš und der tschechoslowakischen Regierung reist deshalb der Hauptabteilungsleiter im Außenministerium der ČSSR, Milan Kadnár, nach Ostberlin. Im Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten verhandelt er mit DDR - Außenminister Oskar Fischer. Kadnár erklärt zunächst umfassend und mit großen Worten, dass die ČSSR die Innen - und Außenpolitik der DDR in voller Breite und nachhaltig unterstütze und auch künftig mit ihr bei der Abwehr des Angriffs des Imperialismus auf das sozialistische System in Europa gemeinsam handeln werde. Er erinnert in diesem Zusammenhang ferner an die dazu von tschechoslowakischer Seite abgegebenen Erklärungen, die stets bedingungslos solidarisch mit der DDR gewesen seien. Nach der feierlichen Zusicherung des festen Zusammenhalts geht Kadnár allerdings zum eigentlichen Anlass seines Besuches über : zum Problem mit den »Botschaftsbesetzern«. Man müsse doch in Betracht ziehen, so Kadnár, dass sich der 40. Jahrestag der DDR nähere, die UNO- Vollversammlung beginne und der Gegner die entstandene Lage zu einer breiten Kampagne missbrauchen könnte. Es könne schließlich nicht ganz ausgeschlossen werden, dass auch eine Epidemie ausbräche oder dass es zu Selbstmordversuchen komme, woraufhin sich die Berichterstattung der westlichen 82
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AA, Referat 214, Gespräch BM mit tschechoslowakischen AM Johanes am Rande der 44. VN GV in New York, Gesprächsführungsvorschlag, o. D. ( wohl September 1989), mit Bezug zum 21.9.1989 ( PA AA, 214, 139918 E, unpag.). Ebd. – Die KSZE - Schlussakte verpflichtete alle Unterzeichner zur Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten ( einschließlich der Gedanken - , Gewissens - , Religions - oder Überzeugungsfreiheit ) und zur grundsätzlichen Zusammenarbeit in humanitären Bereichen. Laut der Genfer Flüchtlingskonvention dürfen Menschen aufgrund politischer und wirtschaftlicher Diskrepanzen in einem anderen Land Zuflucht suchen.
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Medien auf »menschliche Tragödien«, von denen nicht zuletzt auch Frauen mit Kleinstkindern betroffen seien, konzentrieren würde.84 Er habe deshalb den Auftrag, die höfliche Bitte und Frage zu äußern, ob zur Lösung des Flüchtlingsproblems nicht zu jener Praxis zurückgekehrt werden könne, wie sie 1984 angewandt wurde, als sich gleichfalls ca. 500 DDR - Bürger in der bundesdeutschen Botschaft in Prag aufhielten.85 Die DDR werde gebeten, zu überlegen, ob eine Lösung des Problems in Prag durch eine einmalige – ausdrücklich als große Ausnahme deklarierte – Verfahrensweise nicht möglich wäre ( womit er die Ausreise der Botschaftsflüchtlinge meint ). Die tschechoslowakische Seite würde absichern, dass demnächst eine lückenlose Bewachung der BRD - Botschaft sowie eine Erhöhung des Stahlzaunes um das Botschaftsgelände, das Eigentum der ČSSR ist, vorgenommen werde.86 Damit bliebe weiteren DDR - Bürgern künftig der Zugang in die Botschaft versperrt. 22. September 1989 Prag, Außenministerium der ČSSR
Die tschechoslowakische Seite hatte, wie erwähnt, die Initiative übernommen und tags zuvor mit Milan Kadnár einen Sonderbeauftragten zu DDR Außenminister Fischer geschickt. Jetzt überbringt der Botschafter der DDR in Prag, Helmut Ziebart, dem stellvertretenden tschechoslowakischen Außenminister Pavel Sadovský die Antwort seiner Regierung. Minister Fischer verspricht, dass die DDR versuchen werde, das Problem ihrer Bürger in der BRD - Botschaft in Prag zu lösen. Um 18.00 Uhr übergibt Rechtsanwalt Vogel dem Bundesminister für besondere Aufgaben, Rudolf Seiters, eine Erklärung, dass die DDR bereit sei, die Ausreiseanträge ihrer Bürger auf dem Botschaftsgelände der Bundesrepublik schneller als bisher zu erledigen. Versprochen wird, die Anträge binnen sechs Monaten zu bearbeiten. Zugleich fordert die DDR eine Gegenleistung – sie möchte von der BRD die Zusage, dass deren Prager Botschaft keine weiteren »Asylanten« mehr aufnehmen werde. Vizeaußenminister Sadovský dankt den DDR - Stellen für die Handhabung der Angelegenheit. Noch am glei-
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Vermerk des Abteilungsleiters »Benachbarte Länder« im Außenministerium der DDR, Schwiesau, über ein Gespräch von Außenminister Fischer mit dem Hauptabteilungsleiter im Außenministerium der ČSSR Kadnár vom 21.9.1989 ( BArch B, DY 30/11621, Bl. 161 f.). Damals wurde die Situation dadurch gelöst, dass den DDR - Bürgern die Ausreise in die Bundesrepublik erlaubt wurde. Vgl. Prečan, Ke svobodě přes Prahu, S. 30. Vermerk des Abteilungsleiters »Benachbarte Länder« im Außenministerium der DDR, Schwiesau, über ein Gespräch von Außenminister Fischer mit dem Hauptabteilungsleiter im Außenministerium der ČSSR Kadnár vom 21.9.1989 ( BArch B, DY 30/11621, Bl. 161 f.).
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chen Tag setzt er die beiden Mitglieder des ZK der KPTsch, Jozef Lenárt und Michal Štefaňák, über die Zusagen der SED in Kenntnis.87 Prag, Botschaft der Bundesrepublik
Derweil beenden Vertreter einer Bundestagsdelegation unter Peter Glotz ( SPD ) einen viertägigen Besuch in Prag. Glotz erklärt gegenüber der Deutschen Presse Agentur, dass die Flüchtlinge den Zusagen der DDR nicht trauen würden : »In keinem Fall« seien wirtschaftliche Aspekte für deren Flucht ausschlaggebend gewesen, vielmehr »die ständige Gängelung, der Kasernenton und das Gefühl, ewig Untertan zu bleiben. Das Vertrauen zwischen DDR - Bürgern und -Behörden ist völlig zerrüttet.«88 Zwar verlassen insgesamt zwölf Personen die Botschaft aufgrund der Zugeständnisse und Garantien von Rechtsanwalt Vogel, doch treffen gleichzeitig 54 neue Flüchtlinge ein.89 Ein Augenzeugenbericht von Hila Röder, einer Mitarbeiterin des Bonner Frauen - und Familiendienstes, verdeutlicht die prekäre Situation der Zufluchtsuchenden : »Die Zustände waren katastrophal. Inmitten von Müll und Unrat standen und lagen Leute auf Decken, Koffern und Kisten. Im Garten der Botschaft waren Zelte und sanitäre Anlagen aufgestellt. Lange Menschenschlangen belagerten die Tische des Roten Kreuzes. Man konnte sich dort anmelden oder Auskunft bekommen. Auch vor den Toiletten hieß es Schlange stehen. Es roch nicht gut. An mehreren Tischen wurde Essen ausgegeben, Kinder schrien, Väter brüllten. Überall herrschte nervöse, aggressive Stimmung. War es vielleicht der Argwohn vor Spitzeln, oder die Angst, die Botschaft wieder verlassen zu müssen ? Der Rasen und die Blumenbeete waren zertreten, knöcheltief der Schlamm. Es war nass und kalt, grau und traurig. Ich ging durch eine der Seitentüren in das Botschaftsgebäude hinein. Auf den breiten Treppenstufen in der Halle lagen überall Menschen, manche in Schlafsäcke oder Decken eingerollt. In den Nebenräumen, soweit man hineinsehen konnte, standen Betten in Viererreihen, jeweils drei Pritschen übereinander. Später hörte ich, dass in Schichten geschlafen wurde. Es waren Zustände wie im Krieg. Ich fühlte mich hilflos. Wo sollte ich anfangen ? [...] Am hinteren Zaun des Gartens kletterten Leute von außen an den langen Eisenstäben hoch. Sie versuchten es zumindest, wurden jedoch von Milizen wieder herunter gezogen. An anderer Stelle klappte es. Von der Innenseite des Zaunes wurde ihnen geholfen, eine Schulter gereicht oder eine Hand.«90
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Außenministerium der ČSSR, Information für Außenminister Johanes nach New York vom 21.9.1989 ( AMZV Praha, Telegramy odeslané, 1989, sv. 9, pořadové číslo 3251). DPA - Meldung vom 22.9.1989, 12.00 Uhr : Zahl der Flüchtlinge in Prag steigt ( PA AA, Bo. Prag, 20682 E, unpag.). Botschafter Huber an AA vom 22.9.1989. Betr. : Zufluchtsuchende Deutsche aus der DDR, hier: Lagebericht 22.9.1989 ( PA AA, 513, B 85 Nr. 2346 E, unpag.). Röder, Windeln und Wodka für die Deutsche Botschaft in Prag ( http ://www.leselupe.de / lw / titel - Windeln - und - Wodka - fuer - die - Deutsche - Botschaft - in - Prag - 92349.htm; 20.5.2010).
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Um jeden Preis über die Mauer. Foto: Antonín Nový
Prag, Zentralkomitee der KPTsch
Am Tag nach dem Besuch Schabowskis tritt das Präsidium der KPTsch zu seiner üblichen Sitzung zusammen. Auf der Tagesordnung steht auch das Thema »Zufluchtsuchende Deutsche aus der DDR in der westdeutschen Botschaft in Prag«. Bemerkenswerterweise fehlt hierzu allerdings jeglicher Hinweis in den tschechoslowakischen Medien, die seit über einem Jahr stets ausführlich über jede Präsidiumssitzung der KPTsch berichten. Dabei liegt es nahe, in Schabowskis Besuch und der Präsidiumssitzung der KPTsch einen Zusammenhang zu sehen. Die tschechoslowakische Seite macht sich nämlich ernsthafte Gedanken darüber, ob und wie der dramatischen Überfüllung der westdeutschen Botschaft durch DDR - Bürger Einhalt geboten werden könne. Von konkreten Maßnahmen will sie allerdings so lange wie möglich Abstand nehmen, »um nicht in internationale Abläufe« eingreifen zu müssen.91 Budapest, Regierungspräsidium
Die Beziehungen zwischen der DDR und Ungarn leiden schwer unter dem Flüchtlingsdrama. In Budapest bringt das Mitglied des SED-Politbüros Gerhard Schürer seine Enttäuschung gegenüber Ministerpräsident Miklós Németh ganz 91
Botschafter Huber an AA vom 25. 9. 1989. Betr. : Beziehungen ČSSR - DDR, hier : Zufluchtsuchende Deutsche aus der DDR ( PA AA, 210, 140715 E, unpag.).
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direkt und undiplomatisch zum Ausdruck. Es beunruhige die DDR, dass das Territorium Ungarns »in das Kalkül der Gesamtstrategie derjenigen politischen Kräfte der BRD einbezogen wurde, die den Prozess der Entspannung und Zusammenarbeit in Europa gefährden«.92 Man bedaure, dass sich Ungarn habe dazu verleiten lassen, »gültige Verträge zu suspendieren, dem Menschenhandel Vorschub zu leisten und sich damit in die inneren Angelegenheiten der DDR einzumischen«.93 Schürer schlägt vor, zu den bisherigen Formen der Zusammenarbeit zurückzukehren. Németh seinerseits weist den Begriff »Menschenhandel« entschieden zurück und bittet um Verständnis für die ungarische Haltung. Nach 30 000 Menschen aus Rumänien seien nun auch noch mehr als 10 000 aus der DDR gekommen, die nicht bereit dazu seien, in ihre Heimat zurückzukehren. Damit nicht genug, zeichne sich zwischen beiden deutschen Staaten noch immer keine Lösung ab. Man könne aber nicht auch noch 10 000 DDR - Flüchtlinge über den Winter versorgen. Seit dem Vertragsabschluss von 1962 habe sich die Lage verändert, weswegen man auch zwei Artikel des Vertrages vorübergehend aufgehoben habe. Klar sei jedenfalls, »dass die Grenze nicht ewig offen bleiben könne«.94 Es sei tragisch, dass vor allem junge Leute das Land verließen. Dafür müsse es gleichwohl andere Gründe als ausschließlich westliche Hetze geben.95 Bonn, Bundeskanzleramt
Offiziell ist Rechtsanwalt Wolfgang Vogel nur Beauftragter des DDR - Staatsratsvorsitzenden Erich Honecker für humanitäre Fragen. Doch spielt der Advokat auch noch eine gewichtige Rolle beim Austausch von Agenten, arbeitet eng mit dem Ministerium für Staatssicherheit zusammen und übt Einfluss auf führende Machthaber aus.96 Am 22. September ist er als Chef - Unterhändler der DDR in Bonn zu Besuch. Bisher hatte Vogel den Zufluchtsuchenden in der Prager Botschaft lediglich Straffreiheit zugesichert und eine »Bearbeitung des Übersiedlungsantrages bei Inaussichtstellung einer positiven Lösung ohne Fristnennung« versprochen.97 Bundesminister Rudolf Seiters kann den Rechtsanwalt jetzt zu der Zusage bewegen, den Flüchtlingen umfassendere Zusiche92 93
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Notiz des DDR-Botschafters Gerd Vehres über ein Gespräch von Gerhard Schürer mit Miklós Németh vom 22.9.1989 in Budapest ( PA AA, 214, 139918 E, unpag.). Ebd. Beim Vorwurf des Vertragsbruchs spricht Schürer maßgeblich die Klauseln des »Warschauer Pakt - Vertrags« und des »Vertrags über Freundschaft, Zusammenarbeit und gegenseitigen Beistand zwischen der Deutschen Demokratischen Republik und der Ungarischen Volksrepublik« an. Ebd. Ebd. Mayer, Flucht und Ausreise, S. 414. AA, Vermerk von VLR Dr. Mulack vom 16. 1. 1989. Betr. : Zufluchtsfälle in Botschaften, hier : neueste Entwicklung ( PA AA, 210, 140733 E, unpag.).
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rungen als bisher zu gewähren, nämlich die garantierte Ausreise innerhalb von sechs Monaten nach ihrer Rückkehr in die DDR. Seiters fordert Vogel dazu auf, mit diesem jüngsten Angebot unverzüglich nach Prag zu reisen und die dortigen Botschaftsflüchtlinge so rasch wie möglich darüber in Kenntnis zu setzen.98 Ostberlin, Politbüro der SED
Die SED - Parteispitze mobilisiert verstärkt gegen den zunehmend aktiven Widerstand in der Bevölkerung. Fest entschlossen, allen Demonstrationen und »Provokationen« ein schnelles Ende zu bereiten, weist Honecker die Ersten Sekretäre der SED - Bezirksleitungen in einem Fernschreiben an, »dass diese feindlichen Aktionen im Keime erstickt werden müssen«. Zugleich sei Sorge dafür zu tragen, »dass die Organisatoren der konterrevolutionären Tätigkeit isoliert werden«.99 23. September 1989 Prag, Botschaft der Bundesrepublik und Außenministerium der ČSSR
Der Staatssekretär des Auswärtigen Amtes der Bundesrepublik, Jürgen Sudhoff, schildert seine Eindrücke von seinem vormittäglichen Besuch in Prag : »In den Straßen hinauf zum Hradschin Trabis und Wartburgs, vor der Botschaft eine Menschentraube«, er selbst habe »ein Gefühl der Ohnmacht« verspürt. Nicht zuletzt aufgrund der Gespräche im Außenministerium der ČSSR, die ohne Ergebnis endeten : »Das waren ganz schlimme Betonköpfe. Die haben mich praktisch rausgeschmissen.«100 Nachmittags trifft Sudhoff in der Botschaft auf den Vorsitzenden des Kollegiums der Rechtsanwälte der DDR, Gregor Gysi, und DDR - Chefunterhändler Vogel. Sie offerieren den Flüchtlingen Straffreiheit und Ausreise binnen sechs Monaten bei Rückkehr in die DDR. Rund 200 Flüchtlinge gehen auf das Angebot der beiden Anwälte ein, doch gereicht dies Gysi und Vogel kaum mehr als zu einem Achtungserfolg, übersteigt doch schon binnen kürzester Zeit die Zahl der Neuankömmlinge wieder die derjenigen, die sich zu einer Rückkehr in
98 AA, gez. Höynck, an Botschaft in Prag und Info New York UNO vom 25.9.1989. Betr. : Deutsche aus der DDR ( PA AA, 214, 139918 E, unpag.). 99 Bundeszentrale für politische Bildung, Chronik – September 1989 (http ://www.chronik - der mauer.de / index.php / de / Chronical / Detail / month / September / year /1989, 16.5.2013). 100 AA, handschriftlicher Vermerk vom 23. 9. 1989. Betr. : Entsendung von BGS nach Prag, StS Sudhoff teilt mit ( PA AA, 214, 139918 E, unpag.); »Der Schaffner der Freiheit. Wie der Staatssekretär a.D. Jürgen Sudhoff an der Ausreise von DDR - Flüchtlingen mitwirkte.« In : Berliner Kurier vom 4.8.2009.
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die DDR bereiterklärt haben.101 Botschafter Huber rechnet zudem mit einer weiteren Flüchtlingswelle, da am Abend der Fußball - Oberligist Hansa Rostock bei Sparta Prag zu Gast ist; ein Spiel, für das in der DDR über 4 100 Karten verkauft worden sind.102 Das Botschaftspersonal und deren Helfer tun derweil auch weiterhin alles Menschenmögliche, um Versorgungsengpässen und Missstimmungen entgegenzuwirken.103 Am Abend teilt Sudhoff mit, dass das Bundesministerium des Innern zur personellen Unterstützung umgehend acht Bundesgrenzschutz Beamte nach Prag entsenden werde.104 Deutsch - polnische Grenze
Seit in westlichen Medien darüber berichtet wird, dass sich eine Lösung für die Warschauer Botschaftsflüchtlinge abzeichnet, steigt die Zahl der illegalen Grenzübertritte nach Polen – beginnend mit dem 23. September – sprunghaft an.105 24. September 1989 Prag, Außenministerium der ČSSR / New York, UNO - Vollversammlung
Der tschechoslowakische Minister des Auswärtigen, Jaromír Johanes, der an der Vollversammlung der Vereinten Nationen in New York teilnimmt, empfängt ein Telegramm aus Prag, das über die jüngsten Entwicklungen im Flüchtlingsdrama informiert. Wie es scheint, tragen die diplomatischen Bemühungen endlich Früchte. Nicht zuletzt aufgrund der Interventionen der tschechoslowakischen Diplomatie ist erreicht worden, dass sich beide deutsche Staaten dazu bereit erklärt haben, hochrangige Vertreter nach Prag zu entsenden, um nach einer gemeinsamen Lösung zu suchen. Bonn schickt seinen höchsten Vertreter, der für die deutsch - deutschen Beziehungen zuständig ist, in Person des Bundesministers für besondere Aufgaben, Seiters. Die DDR wird ihren Vertreter erst noch benen-
101 Botschafter Huber an AA vom 23.9.1989. Betr. : Zufluchtsuchende Deutsche aus der DDR, hier: Lagebericht 23.9.1989 ( PA AA, 513, B 85 Nr. 2346 E, unpag.). 102 Ebd. 103 Brüggemann, Als Militärattaché aktiver Zeitzeuge in Prag 1989, S. 829 f. Brüggemann kümmerte sich als Militärattaché um die Zulieferung weiterer Versorgungsgüter, insbesondere Toiletten und beheizbare Zelte. 104 AA, handschriftlicher Vermerk vom 23. 9. 1989. Betr. : Entsendung von BGS nach Prag, StS Sudhoff teilt mit ( PA AA, 214, 139918 E, unpag.). 105 Leiter der BV Dresden des MfS, Generalmajor Böhm, an alle Kreisdienststellen vom 25.9.1989 ( BStU, ASt. Dresden, KD Riesa 13456, Bl. 19).
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nen. »Es sieht vielversprechend aus«, meint der Berichterstatter, der Direktor der 4. Territorialabteilung im Außenministerium ČSSR, Milan Kadnár.106 Prag, Botschaft der Bundesrepublik
Mittlerweile befinden sich beinahe 900 flüchtige DDR - Bürger im Palais Lobkowicz.107 Hilflosigkeit und Verzweiflung nehmen unter den Ausreisewilligen immer mehr zu. Ständig mangelt es an Versorgungsgütern. Die Flüchtlinge bringen verstärkt ihren Unmut über die fehlende Hilfsbereitschaft von SED und KPTsch zum Ausdruck. Auch die Bundesregierung handelt nach Ansicht vieler zu langsam und zu unentschlossen. Derweil ist der deutsche Botschafter emsig damit beschäftigt, die Menschen in persönliche Gespräche zu verwickeln und zu besänftigen. Große Dankbarkeit gebührt den Vertretern des Deutschen Roten Kreuzes, die freiwillig auf dem Botschaftsgelände aushelfen.108 Botschafter Huber beschreibt die zunehmend schwierige Lage in der Prager Botschaft. Er erwähnt dabei auch den permanenten Verdacht der Zufluchtsuchenden, dass sich verdeckte Stasi - Agenten in ihren Reihen befänden: »Am 24. September waren schon wieder 865 Personen in der Botschaft. Wir räumten weitere Büros, entfernten Sträucher im Park, Schulunterricht konnte nur noch in reduziertem Maß für die 1. und 2. Klasse erteilt werden. Die Stimmungslage sank von Tag zu Tag. Immer wieder musste ich auch eingreifen, wenn Flüchtlinge glaubten, ein Mitglied der Stasi im Lager enttarnt zu haben. [...] Man [ die tschechoslowakische Seite ] bot uns nur an, die Zugänge verschärft zu bewachen, was wir natürlich sofort zurückwiesen. Im Übrigen zeigte sich eine gewisse Hilflosigkeit. Man wisse schon, dass man am Ende im Regen stehe und sei nicht bereit, die deutsch - deutsche Suppe auszulöffeln. [...] Natürlich hatte das DRK Ärzte mitgebracht [...]. Dennoch wurde die Lage kritisch, als eine Frau in die Wehen kam und sich herausstellte, dass niemand Geburtshilfe leisten konnte. Wir brachten die Frau endlich dazu, ihrem Transport in eine Klinik zuzustimmen.«109
Bundesaußenminister Hans - Dietrich Genscher erinnert sich : »Unterdessen ließ sich der Flüchtlingsstrom nicht mehr bewältigen. Alle Botschaftsangehörigen waren auf den Beinen, Tag und Nacht, rund um die Uhr. Unser Botschafter Huber, seine Frau und die gesamte Besatzung leisteten Übermenschliches. Aber die normalen Bordmittel reichten nicht mehr aus. Wir entsandten immer mehr 106 Direktor der 4. Territorialabteilung im Außenministerium der ČSSR, Milan Kadnár, an Außenminister Johanes in New York vom 24.9.1989 ( AMZV Praha, Telegramy odeslané, 1989, sv. 9, pořadové číslo 3262). 107 Brüggemann, Als Militärattaché aktiver Zeitzeuge in Prag 1989, S. 831. 108 Ebd.; Huber, DDR - Flüchtlinge in der Botschaft 1989 ( http ://www.prag.diplo.de / contentblob /1796820/ Daten /141437/ erinnerungen_botschafterhuber_1989_d.pdf; 2.12.2009); Botschafter Huber an AA vom 24.9.1989. Betr. : Zufluchtsuchende Deutsche aus der DDR, hier : Lagebericht 24.9.1989 ( PA AA, 513, B 85 Nr. 2346 E, unpag.). 109 Ebd.
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Es sind vor allem junge Familien, die alles riskieren, um ihren Töchtern und Söhnen zu ermöglichen, jenseits der Diktatur in Freiheit aufzuwachsen. Foto: Antonín Nový
Mitarbeiter aus der Zentrale und von anderen Botschaften in die tschechoslowakische Hauptstadt, die dort in Hotels untergebracht wurden. Die Behörden duldeten das, obwohl das alte Zentralkomitee der Kommunistischen Partei noch im Amt war. Offensichtlich war man innerhalb der Führung unsicher geworden.«110 Wien, Zeitung »Der Kurier«
In der österreichischen Zeitung »Kurier« erscheint ein Artikel über die Fluchtversuche an der tschechoslowakisch - ungarischen Grenze und über das Vorgehen der tschechoslowakischen Sicherheitskräfte. Er zeigt Bilder, auf denen gefasste Flüchtlinge, darunter auch junge Mädchen, in Handschellen zur Rückkehr in die DDR gezwungen werden. Entlang der Grenze betrieben die
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Sicherheitskräfte »eine regelrechte Menschenjagd auf Flüchtlinge«.111 Der Artikel liefert die Vorlage für einen polemischen Bericht der »Bild« - Zeitung am darauffolgenden Tag. Tschechoslowakisch - ungarische Grenze: zwei Grenztote
Viele DDR - Bürger, die von den tschechoslowakischen Grenzsoldaten nicht ohne gültiges Visum nach Ungarn gelassen werden, versuchen, die Staatsgrenze illegal – und oft auf abenteuerliche Weise – zu überqueren. Heute versuchen Brigitte und Jens Wenda die Donau in der Nähe der Stadt Komárno zu durchschwimmen, wo der Fluss die tschechoslowakisch - ungarische Grenze markiert. Der verzweifelte Fluchtversuch des Ehepaares endet jedoch in einer Tragödie. Die Wendas werden von der Flussströmung mitgerissen, beide ertrinken in den Fluten der Donau. Die dritte Binnenwasserstraßeneinheit der Grenzwache Komárno kann nur noch ihre Leichen bergen.112 Mit den Wendas finden zwei der letzten DDR - Bürger bei ihrem verzweifelten Versuch, der kommunistischen Diktatur zu entfliehen, den Tod. An der Grenze hat es zuvor viele Tragödien gegeben. Diese ist jedoch noch umso tragischer, als sie nur wenige Tage vor der ersten Freilassung der Botschaftsflüchtlinge aus Prag und nur wenige Wochen vor dem endgültigen Mauerfall passiert. 25. September 1989 Prag, Außenministerium der ČSSR
Im Außenministerium der ČSSR findet ein Treffen zwischen dem stellvertretenden Außenminister der Tschechoslowakei, Pavel Sadovský, und Botschafter Huber statt. Letzterer bittet seinen tschechoslowakischen Gesprächspartner eindringlich, unter Verweis auf die Schlussakte der Wiener Folgekonferenz über die Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa ( KSZE ), allen 874 DDR - Bürgern, die sich gegenwärtig auf dem Botschaftsgelände aufhalten, die freie Ausreise in die Bundesrepublik zu ermöglichen. Der deutsche Botschafter betont, dass schon in nächster Zeit eine hochrangige Delegation beider deutschen Staaten nach Prag reisen wird, der es gelingen sollte, das Flüchtlingsdrama vor Ort zu lösen.113 Nur für die Übergangszeit drängt Huber die Tschechoslowaken zur Vermietung eines
111 Der Kurier vom 24.9.1989 ( Kopie in PA AA, Bo. Prag, 20682 E, unpag.). 112 Pulec, Organizace a činnost ozbrojených pohraničních složek, S. 302. 113 Mitglieder der Delegation sind Rechtsanwalt Wolfgang Vogel, der Abteilungsleiter des Bundesaußenministeriums Dieter Kastrup, der Staatssekretär im Ministerium für innerdeutsche Beziehungen Walter Priesnitz und der Leiter der ständigen Vertretung der Bundesrepublik in der DDR Franz Bertele.
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größeren Gebäudes in Prag auf exterritorialer Basis, in welchem die ausreisewilligen DDR - Bürger so lange unterkommen können. Sollte die Tschechoslowakei indes weiter bei ihrer ablehnenden Haltung in der Sache bleiben, so könnte dies die Beziehungen zur Bundesrepublik durchaus negativ beeinflussen. Der Botschafter betont die extreme Dringlichkeit dieser Angelegenheit und bittet um einen Appell an die KPTsch - Führung, den Flüchtlingen schon aus humanitären Gründen heraus zu helfen. Sollte sich die ČSSR dem verweigern, so rühre dies an der Substanz der bilateralen Beziehungen überhaupt. Nicht nur die Bundesrepublik, auch alle übrigen Staaten würden das Verhalten der Tschechoslowakei an dem messen, was in vergleichbaren Situationen in anderen Staaten – z. B. Ungarn – möglich ist. Für unkontrollierbare Situationen, die sich jetzt in der Botschaft ergeben können, trage allein die Tschechoslowakei vor der Weltöffentlichkeit die Verantwortung.114 Vizeaußenminister Sadovský lehnt diese Art der Argumentation entschieden ab. Wie er erklärt, schaffe sich die Bundesrepublik ihre Probleme selbst, indem sie die Staatsbürgerschaft der souveränen, international anerkannten DDR missachte, dabei noch Bedingungen stelle und darüber hinaus beharrlichen Druck auf die souveräne ČSSR ausübe. Außer der Schlussakte der Konferenz über die Sicherheit in Europa würden doch auch noch rechtsverbindliche Gesetze und Verordnungen der konkreten Staaten bestehen, die es ebenso zu respektieren gelte. Sadovský gibt zu bedenken, dass es die westdeutsche Botschaft sei, welche die Regeln der Wiener Folgekonferenz115 verletze. Vor diesem Hintergrund verhalte sich die Tschechoslowakei sogar noch außerordentlich zurückhaltend, indem sie die anormale Situation in der Botschaft toleriere. Eine ausländische Vertretung dürfte doch nicht die Funktion eines Immigrationsamtes oder Reisebüros für DDR - Bürger ausüben. Ferner weist er darauf hin, dass die Tschechoslowakei unter humanitären Aspekten das maximal Mögliche tue. Sie erlaube die Zufahrt von Lkws, den Nachschub von Lebensmitteln, Zelten, Betten, 114 Höynck, Leiter der Unterabteilung 21 des AA, an Botschaft in Prag über die Gesprächsführung gegenüber dem stellvertretenden Außenminister der ČSSR, Pavel Sadovský, vom 25.9.1989 ( PA AA, 214, 139918 E, unpag.) – Dok. 12. 115 Wiener Übereinkommen vom 18. 4. 1961 über diplomatische Beziehungen, Art. 41 : »(1) Alle Personen, die Vorrechte und Immunitäten genießen, sind unbeschadet derselben verpflichtet, die Gesetze und andere Rechtsvorschriften des Empfangsstaats zu beachten. Sie sind ferner verpflichtet, sich nicht in dessen innere Angelegenheiten einzumischen. (2) Alle Amtsgeschäfte mit dem Empfangsstaat, mit deren Wahrnehmung der Entsendestaat die Mission beauftragt, sind mit dem Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten oder dem anderen in gegenseitigem Einvernehmen bestimmten Ministerium des Empfangsstaats zu führen oder über diese zu leiten. (3) Die Räumlichkeiten der Mission dürfen nicht in einer Weise benutzt werden, die unvereinbar ist mit den Aufgaben der Mission, wie sie in diesem Übereinkommen, in anderen Regeln des allgemeinen Völkerrechts oder in besonderen, zwischen dem Entsendestaat und dem Empfangsstaat in Kraft befindlichen Übereinkünften niedergelegt sind.« Zit. nach http ://www. datenbanken.justiz.nrw.de / ir_htm /frame_wued_18–04–1961.htm; 27.2.2014.
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Ärzten und Arzneien. Dabei entstünden auf dem Staatsgebiet der Tschechoslowakei allerlei Schwierigkeiten, die durch das rechtswidrige Verhalten der Bundesrepublik überhaupt erst hervorgerufen würden. »Wir fordern«, beendet Sadovský seine Tirade dem deutschen Botschafter gegenüber, »dass dieser anormale Zustand sofort beendet wird«.116 Eine Unterkunft für ausreisewillige DDR - Bürger außerhalb des Botschaftsgeländes schließt Sadovský ebenfalls entschieden aus. Stattdessen schlägt er vor, den Botschaftszaun zu erhöhen, diesen mit Stacheldraht zu versehen und zusätzliche Hundestreifen der tschechoslowakischen Streitkräfte einzusetzen. Dies wird wiederum von Botschafter Huber – wenig überraschend – als komplett inakzeptabel zurückgewiesen.117 Die Information über den Stand der Verhandlungen zwischen Huber und Sadovský wird von beiden Seiten sofort an die jeweiligen Außenminister telegrafisch nach New York übermittelt, wo sowohl der tschechoslowakische Außenminister Johanes als auch dessen deutscher Amtskollege Genscher auf der alljährlichen Vollversammlung der Vereinten Nationen zu Gast sind – und zwar, noch bevor beide Außenminister mit ihrer Verhandlung beginnen.118 New York, UNO - Vollversammlung
In New York trifft Bundesaußenminister Genscher am Rande der 44. UNO Vollversammlung zu Verhandlungen mit seinem tschechoslowakischen Amtskollegen Jaromír Johanes zusammen. Der deutsche Außenminister lenkt das Gespräch sofort auf die brennendste Problematik – auf die rasch wachsende Zahl von DDR - Bürgern in der Prager Botschaft. Genschers Ziel ist es, Johanes dazu zu bewegen, einer humanitären Intervention zuzustimmen. Es sei dringend erforderlich, argumentiert der Bundesaußenminister, dass die tschechoslowakische Seite in dieser heiklen Frage Menschlichkeit walten lasse. Johanes versichert, es gebe seit mehreren Tagen intensive Bemühungen, gemeinsam mit der DDR die Situation um die Botschaft zu lösen. Dennoch wiederholt Genscher noch einmal das Interesse der Bundesregierung an einer humanitären und pragmatischen Lösung. Die rechtliche Legitimation für eine solche Maßnahme sieht er in den Bestimmungen der KSZE - Schlussakte von Helsinki, der Genfer Flüchtlingskonvention und der allgemeinen Erklärung der Menschenrechte.
116 Außenministerium der ČSSR an Außenminister Johanes vom 25. 9. 1989. Zit. nach Prečan, Ke svobodě přes Prahu, S. 59. 117 Botschafter Huber an AA vom 25.9.1989. Betr. : Zufluchtsuchende Deutsche aus der DDR, hier: Demarche bei Vize - AM Sadowsky am 25.9.89 ( PA AA, 214, 139918 E, unpag.). 118 Außenministeriums der ČSSR an Außenminister Johanes vom 25.9.1989. Zit. nach Prečan, Ke svobodě přes Prahu, S. 59.
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Johanes schildert daraufhin eingehender den tschechoslowakischen Standpunkt in der Flüchtlingsfrage. Er betont erneut, dass es sich primär um ein Problem zwischen der DDR und der BRD handele. Ferner weist er darauf hin, dass es die Vorgehensweise der Bundesrepublik sei – Nicht - Anerkennung der DDR - Staatsbürgerschaft, Ausgabe von Reisedokumenten an DDR - Bürger, Missachtung von Gesetzen und Vorschriften der DDR zur Reiseregelung, etc. –, welche die Probleme hervorrufe. Johanes weist den Vorwurf des Prager Botschafters Huber zurück, dass die Tschechoslowakei Art. 20 der Wiener KSZESchlussakte verletze, und betont, es sei im Gegenteil doch gerade die Bundesrepublik, deren Vorgehen sich außerhalb der Bestimmungen der Schlussakte bewege.119 Johanes verweist darüber hinaus auf die Schwierigkeiten bei der Aufrechterhaltung der Sicherheit rund um die Prager Botschaft, für welche in der gegenwärtigen Konstellation die tschechoslowakische Seite auf keinen Fall die Verantwortung übernehmen könne. Die Lösung, welche er Genscher anbietet, entspricht überdies genau jenem Vorschlag, den schon sein Vertreter Sadovský Botschafter Huber in Prag unterbreitet hat : Das Botschaftsgelände könne doch von außen in einer Weise abgeriegelt werden, die es DDR - Bürgern künftig nahezu unmöglich mache, Zugang zur Botschaft zu erhalten. Genscher weist diesen Vorschlag jedoch ebenso entschieden zurück, wie es vor ihm bereits der deutsche Botschafter in Prag tat : Die Bundesrepublik beabsichtige auf keinen Fall, die tschechoslowakischen Behörden damit zu beauftragen, DDR - Bürgern den Zugang zum Botschaftsgelände zu verwehren. Während beide Außenminister hinsichtlich des weiteren Schicksals der Botschaftsflüchtlinge völlig gegensätzliche Positionen vertreten, stimmen sie bei der allgemeinen Beurteilung der internationalen Lage weitgehend überein. Beide loben die wesentlichen Fortschritte bei den Wiener Abrüstungsverhandlungen : Dieser Prozess sei von außerordentlicher Bedeutung für die Sicherheit Europas.120 Tschechoslowakische Grenze zu Ungarn und zur Bundesrepublik
Immer strenger lässt die Tschechoslowakei die Grenze zu Ungarn von Grenzsoldaten und zusätzlichen Sicherheitskräften überwachen. Das DDR - Ministerium für Staatssicherheit ( MfS ) setzt täglich bis zu fünf Sondermaschinen zur Rückführung von DDR - Flüchtlingen aus Prag und Bratislava ein; insgesamt
119 Außenminister Johannes an Außenministerium der ČSSR vom 25. 9. 1989 ( AMZV Praha, Telegramy přijaté, 1989, sv. 34, čj. : 053327). 120 Ebd.
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weist die Statistik allein für den Monat September 1169 derartige Übernahmen aus. 121 Während der Druck auf die tschechoslowakisch - ungarische Grenze anhält, kommt es immer häufiger auch zu gewaltsamen Durchbruchsversuchen von DDR - Bürgern an der Grenze zur Bundesrepublik, wobei auch Schusswaffen zum Einsatz kommen. So beschwert sich der Leiter der Grenzabteilung Cheb ( Eger ), Oberst Vitou, in einem Schreiben vom 25. September 1989 : »Die größten Probleme gegenwärtig ruft der Teil der DDR - Bürger hervor, der im Grenzgebiet nicht auf den Anruf zum Stehenbleiben und selbst nicht auf abgegebene Warnschüsse reagiert. Es ist aber die Pflicht der Posten, die Waffe zum Schutz der Ordnung im Grenzgebiet anzuwenden. Gleichzeitig kommt es dabei zum aktiven Widerstand der DDR - Bürger gegenüber einschreitenden Grenzposten. Es ist verständlich, dass es trotz maximaler Bemühungen, Gesundheit und Leben zu schonen, zu Verletzungen beim dienstlichen Einschreiten kommt.«122 Hamburg, »Bild« - Zeitung
In der »Bild« - Zeitung erscheint ein Bericht unter der Überschrift »Menschenjagd in der ČSSR. Flüchtlinge in Ketten nach Ost - Berlin zurück«. Dem Artikel zufolge würden DDR - Flüchtlinge in der Tschechoslowakei mit Bluthunden gejagt und, an Händen und Füßen gefesselt, zurück nach Ostdeutschland deportiert. An dem Gesamtgeschehen seien auch Mitarbeiter des DDR - Ministeriums für Staatssicherheit beteiligt. Der Bericht schlägt hohe Wellen. Das Auswärtige Amt erklärt, man nehme die Vorwürfe ernst. Bundesaußenminister Genscher habe den »Gesamtkomplex« im Gespräch mit seinem tschechoslowakischen Amtskollegen Johanes zur Sprache gebracht.123 Prag, Botschaft der Bundesrepublik
Bedingt durch die verstärkten Kontrollen an der tschechoslowakisch - ungarischen Grenze, nimmt die Zahl der Botschaftsflüchtlinge nur noch schneller zu. Im Palais Lobkowicz zählt die Botschaftsadministration mittlerweile 933 Zufluchtsuchende, darunter mehr als 200 Minderjährige. Gleichzeitig gehen die tschechoslowakischen Sicherheitskräfte immer gewalttätiger gegen neu eintreffende DDR - Bürger vor. Bei dem Versuch, den Botschaftszaun zu überklettern, wird eine Familie mit Schlagstöcken angegriffen. Huber beschwert sich umge121 Tantzscher, Die verlängerte Mauer, Berlin 1998, S. 69. 122 Zit. nach Tantzscher, Die verlängerte Mauer, S. 70. 123 Bundeskanzleramt, Vermerk Dr. Westdickenberg an Dr. Hartmann ( zur Weiterleitung an Büro ChBK ) : Heutige Meldung in der Bild - Zeitung zu angeblicher Misshandlung von Deutschen aus der DDR durch tschechoslowakische Behörden vom 25.9.1989 ( BArch, B 136/33965, unpag.).
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hend bei Milan Kadnár, dem Hauptabteilungsleiter im Außenministerium der ČSSR, über den Vorfall.124 Dank eines Versorgungstransports des Deutschen Roten Kreuzes treffen neue Lebensmittel und Materialien in der Botschaft ein. Zur Sicherstellung einer stabilen Versorgung organisiert Huber die Bildung eines Arbeitsstabes unter Leitung des Militärattachés der Bundeswehr in Prag, Adolf Brüggemann. Dieser soll eine kontinuierliche Materialzufuhr aus den Beständen der Bundeswehr über den Land - und Luftweg organisieren.125 Leipzig, Montagsdemonstration
Für die SED wird es immer schwieriger, die Demonstrationen unter Kontrolle zu halten. Auf der Montagsdemonstration in Leipzig fordern nahezu 8 000 Demonstranten demokratische Reformen und die staatliche Anerkennung des »Neuen Forums«.126 26. September 1989 Prag, Botschaft der Bundesrepublik
Das Botschaftspersonal wird über die erfolglosen Verhandlungen zwischen Genscher und Johanes vom Vortag in New York informiert. Die wohl einzige Möglichkeit, das Flüchtlingsproblem jetzt noch zu lösen, besteht darin, die Flüchtlinge wie bisher davon zu überzeugen, zunächst in die DDR zurückzukehren; ein Schritt, für den ihnen im Gegenzug seitens des SED - Regimes Straffreiheit und später die Bewilligung der Ausreise zugesichert worden ist. Doch scheint dies auch unter den neuen, verbesserten Konditionen nicht im gewünschten Ausmaß zu funktionieren. Die Ausreisewilligen sind immer misstrauischer und immer weniger bereit, noch einmal in die DDR zurückzukehren. Einen »Plan B« gibt es jedoch nicht.127 Botschafter Huber wird sich in diesen Tagen der möglicherweise historischen Dimension des Geschehens in der Vertretung allmählich bewusst : »Langsam wurde uns in der Botschaft klar, dass es nicht mehr darum gehe, wie wir verhindern konnten, dass die Botschaft überquelle, sondern dass gerade der durch den Zustrom der Flüchtlinge erzeugte Überdruck ein sehr
124 Botschafter Huber an AA vom 25.9.1989. Betr. : Zufluchtsuchende Deutsche aus der DDR, hier: Lagebericht 25.9.1989 ( PA AA, 513, B 85 Nr. 2346 E, unpag.). 125 Brüggemann, Als Militärattaché aktiver Zeitzeuge in Prag 1989, S. 830. 126 Bundeszentrale für politische Bildung, Chronik – September 1989 ( http ://www.chronik - der mauer.de /index.php / de / Chronical / Detail / month / September / year /1989; 16.5.2013). 127 Huber, DDR - Flüchtlinge in der Botschaft 1989 ( http ://www.prag.diplo.de / contentblob / 1796820/ Daten / 141437/ erinnerungen_ botschafterhuber_1989_d.pdf; 2.12.2009).
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Die Flucht bedeutet für alle einen tiefen Einschnitt in ihrem Leben. Foto: pictures alliance/AP images
viel größeres geschichtliches Rad in Bewegung setzen könnte. Mit anderen Worten : es ging nur darum, durchzuhalten.«128 Unterdessen nimmt die Lage in der Botschaft immer dramatischere Formen an. Das Botschaftspersonal will sogar eine mögliche Geiselnahme nicht mehr länger ausschließen. Botschafter Huber erinnert sich : »Als Vogel am 26. September wieder in die Botschaft kommt, um die Flüchtlinge mit erneut aufgebesserten Angeboten zur Rückkehr in die DDR zu bewegen, schlägt ihm eine Woge eisiger Feindseligkeit entgegen. Er wird teilweise regelrecht ausgepfiffen und merkt, dass sich die Situation in den vergangenen zwei Wochen grundlegend geändert hatte. Die Zahl derer, die sich zur Rückkehr überreden lassen, ist bei weitem geringer, als die Zahl der weiter zuströmenden Flüchtlinge, die jetzt bereits 1 600 überschreitet. Bei uns steigt die Ratlosigkeit. Auch unter den Flüchtlingen zeigt sich wachsender Unmut, der sich in Protestaktionen verschiedener Art manifestiert. So rasierten sich alle Männer von Zelt 16 die Haare ab und bewiesen auf diese nicht gerade wirksame Art ihre Unzufriedenheit mit der Politik der tschechoslowakischen Behörden. Jedenfalls wirkten die Glatzköpfe recht martialisch, und als dann auch noch etwa 20 lange Brotmesser verschwunden waren, hielten einige meiner Mitarbeiter dies nicht mehr gerade für eine vertrauensbildende Maßnahme. Sie rieten mir ab, künftig allein und so oft wie bisher ins Zeltlager zu gehen, weil sie eine mögliche Geiselnahme befürchteten. Diesen Rat konnte ich natürlich nicht befolgen, denn gerade meine Besuche im Lager dienten ja der Aufrechterhaltung der Stimmung und auch als Blitzableiter für viele, die bei mir über die Verhältnisse in der DDR schimpfen, oder sich ganz einfach über ihre Zukunft in der Bundesrepublik unterhalten woll128 Ebd.
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ten. Dabei wurde immer wieder deutlich, wie erstaunt sie darüber waren, dass ein Botschafter mit ihnen wie ein normaler Mensch redete. So etwas, meinten sie, hätte es in ihrem Arbeiter und Bauernstaat niemals gegeben. Die Brotmesser sammelten wir übrigens nach kurzer Zeit wieder ein. Einige hatten diese Messer einfach in der Überzeugung behalten, dass man so etwas immer mal brauchen könne, eben, um Brot zu schneiden. Mit steigender Zahl der Flüchtlinge war naturgemäß eine gewisse Anonymität eingetreten. Das persönliche Verhältnis, das wir zu den ersten Flüchtlingen noch hatten, ließ sich so nicht auf alle ausdehnen. Vorbei waren die Zeiten, wo man noch seinen Speisezettel in jedem Zelt bestimmte, Essen gab es nur noch aus der Feldküche, die Nächte wurden kälter, die Wartezeiten vor den 22 Toiletten wurden länger und die Schlafgelegenheiten wurden enger. Vor allem aber : es zeichnete sich noch immer keine Lösung ab.«129
Auch Militärattaché Brüggemann kommt zu dem Schluss, dass sich die Erfolge von DDR - Chefunterhändler Vogel in engen Grenzen halten, da die Stimmung unter den Flüchtlingen umgeschlagen ist. Letztere sind nicht länger gesprächsbereit. Stattdessen fordern sie fast aggressiv von ihm, die DDR Regierung zur Aufgabe ihrer starren Haltung zu bewegen. Deren Position in der Flüchtlingsfrage scheint jedoch verhärteter denn je, und auch die Regierung der ČSSR zeigt keinerlei Bereitschaft, bei einer politischen Lösung behilflich zu sein.130 Selbst die Vertreter der Bundesregierung geben sich Vogels Vermittlungsversuchen gegenüber zunehmend skeptisch. Der Leiter des Arbeitsstabes Deutschlandpolitik im Bundeskanzleramt, Claus - Jürgen Duisberg, vertritt die Meinung, man solle zwar auf die Vorteile der Vogel - Regelung hinweisen, ansonsten aber nicht dazu zu raten, dessen Angebot anzunehmen. Dies ist offenbar mit dem Bundesminister für besondere Aufgaben Seiters abgestimmt.131 New York, UNO - Vollversammlung, Rede Schewardnadses
Auf der UNO - Vollversammlung hält der sowjetische Außenminister Eduard Schewardnadse eine Rede, die eine Warnung an die Bundesrepublik Deutschland impliziert : »Es ist bedauerlich, dass manche Politiker ein halbes Jahrhundert nach dem Zweiten Weltkrieg dessen Lehren zu vergessen beginnen. [...] Heute, da die Kräfte des Revanchismus, die nach Revision und Veränderung der Nachkriegsrealitäten in Europa dürsten, vor unseren Augen wieder aktiv werden, sind wir verpflichtet, jene zu warnen, die sie bewusst oder unbewusst ermuntern. Die Bewegung des Revanchismus ist gefährlich und bedroht jenen Friedensmarsch, von dem gestern Präsident Bush an dieser Stelle gesprochen hat.«132
129 Ebd. 130 Brüggemann, Als Militärattaché aktiver Zeitzeuge in Prag 1989, S. 831 f. 131 AA, gez. Höynck, an Botschaft in Prag vom 27. 9. 1989. Betr. : Deutsche aus der DDR, hier : Gespräche in W. ( PA AA, Bo. Prag, 20682 E, unpag.). 132 Http ://www.2plus4.de / chronik.php3 ?date_value=19.09.89–27&sort=000–000; 30.5.2013.
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Schewardnadse macht keinen Hehl aus der Empörung der sowjetischen Führung über die Geschehnisse auf dem CDU - Parteitag in Bremen vom 11. September 1989. Dort hatte die Gruppe »Ost - und Mitteldeutsche Vereinigung« Faltblätter an die Delegierten verteilt, auf denen für ein Deutschland in den Grenzen von 1937 geworben wurde. Provozierend war darin von den »Ostprovinzen des Deutschen Reiches, die polnisch und sowjetisch verwaltet« würden, die Rede.133 Ostberlin, Ministerium für Staatssicherheit
Die repressiven Organe mobilisieren gegen die unaufhaltsam aufstrebende, friedliche Opposition der Bürgergruppen alle ihre Instrumente. Der stellvertretende Minister für Staatssicherheit, Rudolf Mittig, ruft die stellvertretenden Chefs der MfS-Bezirksverwaltungen zusammen und gibt als Parole aus, die »feindlich-oppositionellen Zusammenschlüsse« mit dem Ziel der Zerschlagung »operativ zu bearbeiten«. Das MfS solle in diesen Gruppen – nicht zuletzt mit seinen darin eingeschleusten inoffiziellen Mitarbeitern – Grabenkämpfe forcieren, Misstrauen säen, die Mitglieder aufsplittern und generell versuchen, die Politisierung der Gruppen durch das Aufwerfen von Organisations- und Strukturfragen zu stoppen.134 Zeitgleich befiehlt Honecker zur »Gewährleistung der Sicherheit und Ordnung« sowie »zur Verhinderung von Provokationen unterschiedlicher Art« für den 40. Jahrestag der DDR die Herstellung der Führungsbereitschaft sowohl der Bezirkseinsatzleitung Berlin als auch der Kreiseinsatzleitungen der Berliner Stadtbezirke. Auf Grundlage dieses Befehls wird Verteidigungsminister Keßler tags darauf vorsorglich die Nationale Volksarmee für die Zeit vom 6. bis zum 9. Oktober befehlsmäßig für einen Einsatz in der ostdeutschen Hauptstadt in Stellung bringen.135 27. September 1989 Prag, Botschaft der Bundesrepublik
Unterdessen kehrt eine Person in die Botschaft zurück, die dem Angebot Vogels gefolgt war. Mehrere Rückkehrwillige waren am Bahnhof von tschechoslowakischen Sicherheitskräften festgenommen und ihnen die Begleitschreiben abgenommen worden. Ein Beteiligter, der fliehen konnte, berichtet über den Vorgang, was unter den Zufluchtsuchenden in der Botschaft Bestürzung auslöst und die 133 Kiessler / Elbe, Ein runder Tisch mit scharfen Ecken, S. 25–26. 134 Bundeszentrale für politische Bildung, Chronik – September 1989 ( http ://www.chronik - der mauer.de /index.php / de / Chronical / Detail / month / September / year /1989; 16.5.2013). 135 Ebd.
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Zahl derer erheblich reduziert, die Vogels Angebot nutzen.136 Für Rechtsanwalt Vogel bedeutet der Vorfall den Verlust seiner letzten Glaubwürdigkeit.137 Obwohl er sich nach Kräften bemüht, die Gespräche mit den Betroffenen fortzusetzen, stoßen seine Worte allseits auf taube Ohren. Entgegen einer Weisung des Auswärtigen Amtes, die Zufluchtsuchenden in keiner Weise zu beeinflussen,138 raten mehrere in Prag befindliche ranghohe Ministerialbeamte inzwischen ausdrücklich davon ab, auf Vogels Zusagen noch einzugehen.139 Unter den Botschaftsflüchtlingen kursieren mittlerweile Gerüchte, die ČSSR wolle die Versorgung der Menschen behindern.140 In der Nacht wird ein DDR - Bürger, der anderen über den Zaun helfen will, von tschechoslowakischen Sicherheitskräften bewusstlos geschlagen. Huber beschwert sich erneut beim tschechoslowakischen Außenministerium über den Vorfall, dort sagt man wie immer eine Überprüfung des Geschehens zu.141 Prag, Polizeipräsidium
Fachleute der zuständigen Abteilung des tschechoslowakischen Polizeipräsidiums erstellen eine juristische Analyse zur Flüchtlingsproblematik in der Prager Vertretung der Bundesrepublik für den tschechoslowakischen Außenminister.142 Wie die Rechtsexperten darin betonen, sollen die Bundesrepublik und die DDR das Problem der Zufluchtsuchenden, die sich illegaler Weise auf dem Botschaftsgelände aufhalten, so bald wie möglich und gemeinsam lösen. Die gegenwärtige Situation führe nämlich gleich zu einer ganzen Reihe von Komplikationen. Da wäre zunächst ganz praktisch die wesentliche funktionelle Einschränkung der diplomatischen Vertretung der BRD, wie z. B. die Behinderung von Visa - Erteilungen. Längst musste die Botschaft aufgrund des Flüchtlingszustroms aus der DDR nämlich wegen Überfüllung geschlossen werden – eine Maßnahme, die wiederum den Zugang tschechoslowakischer Bürger
136 AP - Meldung vom 27.9.1989 : Erste Rückreisewillige kehrten wieder nach Prag zurück ( PA AA, 214, 139918 E, unpag.). 137 Ebd. 138 Pressereferat des AA an Botschaft in Prag vom 27.9.1989. Anlage : Unkorrigiertes Manuskript, nur zur dienstlichen Verwendung, Pressekonferenz Nr. 105/89 am 27.9.1989 ( PA AA, Bo. Prag, 20682 E, unpag.). 139 BM - Delegation, gez. Kastrup, an Referat 214 des AA vom 27. 9. 1989. Betr. : Zufluchtsuchende Deutsche aus der DDR in Botschaft ( PA AA 214, 139918 E, unpag.). 140 AP - Meldung vom 27.9.1989 : Erste Rückreisewillige kehrten wieder nach Prag zurück ( PA AA, 214, 139918 E, unpag.). 141 Botschafters Huber an AA vom 27. 9. 1989. Betr. : Zufluchtsuchende Deutsche aus der DDR, hier: Lagebericht 27.9.1989 ( PA AA, 513, B 85 Nr. 2346 E, unpag.). 142 Analyse für das Außenministerium der ČSSR vom 27. 9. 1989 ( ABS Praha, Objektový svazek reg. č. 845 [»Obora«], část 9, Bl. 169–172).
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Der Weg in die überfüllte Botschaft ist mühevoll, verzwickt, riskant und gefährlich. Nicht allen gelingt’s. Foto: pictures alliance/AP Images
und Organisationen zur bundesdeutschen Botschaft erheblich eingeschränkt habe. In der Nähe der Botschaft gebe es regelmäßige Störungen der öffentlichen Ordnung. Die Nachtruhe werde nicht eingehalten. Dies wirke sich negativ auf die Behandlung von Kranken im nahegelegenen Krankenhaus aus. Die abgestellten Fahrzeuge der DDR - Bürger blockierten den Verkehr auf angrenzenden Straßen. Der Zugang zum Krankenhausgelände werde zunehmend erschwert, in einigen Fällen sogar ganz verhindert. In den Räumlichkeiten der Botschaft dränge sich eine große Menschenmasse, was wiederum zum Ausbruch von Seuchen führen könne. Es drohe außerdem die Beschädigung der Bausubstanz eines überaus wertvollen Kulturdenkmals, des Palais Lobkowicz, welches zwar die westdeutsche Vertretung beheimate, jedoch zum Staatseigentum der ČSSR gehört. Da es sich bei der ganzen Flüchtlingsproblematik allerdings um eine Frage der Beziehungen
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zwischen der DDR und der Bundesrepublik handele, seien der tschechoslowakischen Seite die Hände gebunden. Die tschechoslowakischen Rechtsexperten berufen sich ferner auf die Resolution 41/70 der UNO - Vollversammlung, welche alle Mitgliedsstaaten dazu verpflichtet, Maßnahmen zu ergreifen, um künftigen Flüchtlingswellen vorzubeugen. Die tschechoslowakische Seite äußert entsprechend ihre Hoffnung, dass sich die Bundesrepublik im Geiste dieser Resolution verhalten werde. Was die Behandlung der DDR - Bürger an der Grenze zu Ungarn betrifft, so gingen die tschechoslowakischen Einwanderungs - und Zollbehörden gemäß den gültigen Vorschriften und internationalen Verpflichtungen vor. Zu Konflikten käme es dort, wo DDR - Bürger versuchen würden, ohne gültige Reisedokumente über die Grenze nach Ungarn zu gelangen.143 Prag, Außenministerium der ČSSR
In Prag verhandelt der Staatssekretär des Auswärtigen Amtes der Bundesrepublik, Jürgen Sudhoff, mit dem tschechoslowakischen Kollegen, dem Vizeaußenminister Sadovský. Sudhoff schildert ihm zunächst die immer dramatischer werdende Situation in der Botschaft. Im Augenblick befänden sich bereits 1 400 DDR - Bürger auf dem Botschaftsgelände. Zwar sei die Kanzlei von Rechtsanwalt Wolfgang Vogel darum bemüht, die Situation zu entspannen, so werde den Ausreisewilligen versichert, dass die DDR - Regierung ihnen ihre Ausreise binnen sechs Monaten garantieren würde. Indes habe sich die Einstellung der DDR - Bürger während der letzten Tage radikal gewandelt : Inzwischen sei eine überwältigende Mehrheit von ihnen dazu entschlossen, so lange in der Botschaft auszuharren, bis sie direkt in die Bundesrepublik ausreisen dürften. Dieser Stimmungswandel habe die Situation massiv verschärft. Nicht länger sei die Zahl der Zufluchtsuchenden noch rückläufig, im Gegenteil nehme sie jetzt immer rascher zu. Von Sudhoff erhält Sadovský ferner eine alarmierende Information, die dieser von den Nachrichtendiensten erfahren haben will : Unter den DDR - Bürgern in der Botschaft befänden sich auch Stasi - Agenten, deren Aufgabe es sei, nicht nur über die Situation in der Botschaft zu berichten, sondern auch eventuelle Zwischenfälle zu provozieren. Sudhoff beschreibt die Situation als kritisch, weshalb die Bundesregierung die tschechoslowakische Regierung auch dringend dazu auffordere, den DDR - Bürgern eine vorübergehende Unterkunft bereitzustellen. Weiter betont er, dass sich die tschechoslowakische Seite ihrer Verantwortung nicht entziehen könne, sollte die Situation auf dem Botschaftsgelände außer
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Kontrolle geraten. »Es gibt keine andere Wahl, wenn wir eine Katastrophe verhindern wollen«, so die eindringliche Mahnung des Staatssekretärs.144 Der stellvertretende tschechoslowakische Außenminister reagiert sehr ausfallend auf die Vorhaltungen Sudhoffs. Er fragt sogleich, wie sich denn das Auswärtige Amt der Bundesrepublik Deutschland den weiteren Fortgang vorstelle. Die Belehrungen über die Verantwortung der ČSSR lehnt er rundheraus ab. Die Tschechoslowakei habe doch bereits dem deutschen Botschafter Huber »wegen der Territorialität und Unantastbarkeit des Botschaftsgeländes Garantien durch entsprechende Maßnahmen angeboten«, die aber seien abgelehnt worden.145 Sadovský offeriert sodann erneut einen verbesserten Schutz der Botschaft, damit deren »Exterritorialität nicht von Bürgern anderer Staaten verletzt« werde, womit er nichts anderes meint, als den Zugang der DDR - Bürger zur Botschaft definitiv zu verhindern.146 »Es genügt ein Wort«, verspricht Sadovský. Solange aber die Tschechoslowakei nicht darum gebeten werde, die Botschaft abzuschirmen, weise sie jede Mitverantwortung ab. »Warum sagt ihr nicht, dass wir die Botschaft abschotten sollen, ihr lasst Räuber und Halunken rein. Ihr schafft die Probleme und uns sagt ihr, wir seien inhuman. [...] Wir haben diesen Stand der Dinge nicht verursacht. Das ist ein Problem zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der DDR. Wir erwarten, dass zwei souveräne Staaten Lösungen finden.«147 Sudhoff argumentiert, dass die beiden deutschen Staaten tatsächlich in Verhandlungen getreten seien, die Situation vor Ort jedoch sofortiges Handeln erforderlich mache. Sadovský wiederum bewertet das Flüchtlingsproblem als eine von der Bundesrepublik gezielt initiierte Schwächung der Souveränität der DDR und betont : »Der Bundesrepublik Deutschland ist es ganz klar, dass das eine politische Frage ist, die der Staatsbürgerschaft der DDR. Und als Unbeteiligte werden wir damit erpresst. Die ČSSR ist nicht bereit, das ungarische Modell nachzuvollziehen.148 [...] Wir können auf keinen Fall zulassen, dass die BRD 144 Botschafter Huber an AA vom 28.9.1989. Betr. : Zufluchtsuchende Deutsche aus der DDR, hier: Gespräch zwischen STS Dr. Sudhoff und dem 1. Tsl. VAM Sadovsky vom 27. 9. 1989 ( PA AA, 513, B 85 Nr. 2346 E, unpag.); Pressereferent Steiner der Botschaft Prag an AA vom 28.9.1989. Betr. : Tsl. Presse zu DDR - Flüchtlingen, hier : Gespräch StS Dr. Sudhoff - VAM Sadovsky vom 27.9.1989 ( PA AA, 214, 139918 E, unpag.). 145 Ebd. 146 Aufzeichnung der Verhandlungen zwischen dem Staatssekretär Sudhoff und Vizeaußenminister Sadovský vom 27. 9. 1989 ( ABS Praha, Objektový svazek reg. č. 845 [»Obora«], část 9, Bl. 169– 172). 147 Botschafter Huber an AA vom 28.9.1989. Betr. : Zufluchtsuchende Deutsche aus der DDR, hier: Gespräch zwischen STS Dr. Sudhoff und dem 1. Tsl. VAM Sadovský vom 27. 9. 1989 ( PA AA, 513, B 85 Nr. 2346 E, unpag.) – Dok. 15; Pressereferent Steiner der Botschaft Prag an AA vom 28. 9. 1989. Betr. : Tsl. Presse zu DDR - Flüchtlingen, hier : Gespräch StS Dr. Sudhoff - VAM Sadovský vom 27.9.1989 ( PA AA, 214, 139918 E, unpag.). 148 Ebd.
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Botschaft zum Reisebüro für die Reisen in die Bundesrepublik wird ! Uns dafür verantwortlich zu machen, ist unfair. Das muss ich kategorisch ablehnen !«149 Erst zum Ende der Verhandlungen kommt Sadovský seinem Gegenüber doch ein Stück weit entgegen. Er verspricht, dass es dem Tschechoslowakischen Roten Kreuz, welches bisher nicht an der Flüchtlingsproblematik beteiligt war, künftig erlaubt sein wird, mit dem Deutschen Roten Kreuz zusammenzuarbeiten und in der Sache ebenfalls behilflich zu sein.150 Ferner versichert er, dass die Tschechoslowakei medizinische und andere Hilfe offeriere und den freien Zugang zur Botschaft solange garantiere, wie die Bundesrepublik darauf bestehe. Für eine etwaige Notfallsituation, die in der Vertretung entstehen könne, übernehme die Tschechoslowakei jedoch keinerlei Verantwortung. Eine Lösung in der Sache müssten BRD und DDR gemeinsam finden.151 Der Niederschrift der Verhandlungen ist eine Anmerkung angefügt : »Der DDR - Botschafter Ziebart informiert : In der Botschaft in Prag befinden sich zurzeit 1300 DDR - Bürger; unter ihnen ist ein ›harter Kern‹ mit einer aggressiven Einstellung. Sie verlangen eine direkte Ausreise in die BRD. Sie schüchtern die anderen ein.«152 Über den Verlauf und die Ergebnisse der Verhandlungen zwischen Sadovský und Sudhoff werden sowohl der Außenminister der ČSSR, Johanes, als auch Bundesaußenminister Genscher umgehend informiert. Im Telegramm an Johanes heißt es : »Situation kritisch, sofortige Lösung erforderlich.«153 New York, UNO - Vollversammlung, Rede Genschers
In New York spricht der Außenminister der Bundesrepublik Deutschland, Hans Dietrich Genscher, vor den Delegierten der UNO - Vollversammlung. Dabei reagiert er auch unmittelbar auf die Rede des sowjetischen Außenministers Schewardnadse vom Vortag. Der entsprechende Passus richtet sich direkt an den anwesenden polnischen Außenminister Krzysztof Skubiszewski : »Das polnische 149 Aufzeichnung der Verhandlungen zwischen dem Staatssekretär Sudhoff und Vizeaußenminister Sadovský vom 27. 9. 1989 ( ABS Praha, Objektový svazek reg. č. 845 [»Obora«], část 9, Bl. 169– 172). 150 Ebd., Bl. 173–176. 151 Ebd., Bl. 169–172; Botschafter Huber an AA vom 28.9.1989. Betr. : Zufluchtsuchende Deutsche aus der DDR, hier : Gespräch zwischen STS Dr. Sudhoff und dem 1. Tsl. VAM Sadovsky vom 27.9.1989 ( PA AA, 513, B 85 Nr. 2346 E, unpag.) – Dok. 15; Presserefernet Steiner der Botschaft Prag an AA vom 28. 9. 1989. Betr. : Tsl. Presse zu DDR - Flüchtlingen, hier : Gespräch StS Dr. Sudhoff - VAM Sadovsky vom 27.9.1989 ( PA AA, 214, 139918 E, unpag.). 152 Aufzeichnung der Verhandlungen zwischen Staatssekretär Sudhoff, und Vizeaußenminister Sadovský vom 27. 9. 1989 ( ABS Praha, Objektový svazek reg. č. 845 [»Obora«], část 9, Bl. 169– 172). 153 Außenministerium der ČSSR an Außenminister Johanes in New York vom 27. 9. 1989 ( AMZV Praha, Telegramy odeslané, 1989, sv. 9, pořadové číslo 3296).
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Volk ist vor fünfzig Jahren das erste Opfer des von Hitler - Deutschland vom Zaune gebrochenen Krieges geworden. Es soll wissen, dass sein Recht, in sicheren Grenzen zu leben, von uns Deutschen weder jetzt noch in Zukunft durch Gebietsansprüche in Frage gestellt wird. Das Rad der Geschichte wird nicht zurückgedreht. Wir wollen mit Polen für ein besseres Europa der Zukunft arbeiten. Die Unverletzlichkeit der Grenzen ist Grundlage des friedlichen Zusammenlebens in Europa.«154 Die internationale Resonanz auf die Rede ist überwältigend. New York, Unterredung Genschers mit Schewardnadse
Während Genschers Zusicherung, die primär an Skubiszewski und Schewardnadse gerichtet war, in Bonn keineswegs kritiklos aufgenommen wird, reagiert der sowjetische Außenminister ausgesprochen positiv. Bei einem gemeinsamen Mittagessen mit Schewardnadse in der New Yorker Residenz des sowjetischen UN - Botschafters gelingt es Genscher, alle auf sowjetischer Seite verbliebenen Zweifel auszuräumen, die durch den CDU - Parteitag in Bremen entstanden waren. Anschließend kommt der Bundesaußenminister auf das Flüchtlingsdilemma in der Prager Botschaft zu sprechen. Er schildert die alltägliche Situation der Flüchtlinge im Palais Lobkowicz und äußert seine Überzeugung, dass die DDR den Menschen ihre Ausreise nicht verweigern dürfe und zugleich den innenpolitischen Reformprozess engagierter fortsetzen müsse als bisher. Schewardnadse bewertet den bisherigen Reformprozess der DDR ebenfalls als mangelhaft und verspricht, Gorbatschow über Genschers Schilderungen in Kenntnis zu setzen.155 New York, UNO - Vertretung der Bundesrepublik, Unterredung Genschers mit Fischer
Am Abend trifft sich Genscher in der UNO - Vertretung der Bundesrepublik zu einem persönlichen Gespräch mit DDR - Außenminister Oskar Fischer. Letzterer ist offensichtlich über die Situation rund um die BRD - Botschaft in Prag umfassend informiert. Der Druck seitens der ČSSR, die auch weiterhin auf eine baldige Lösung der Flüchtlingsproblematik drängt, lastet zunehmend auf Fischers Schultern. Entsprechend zeigt sich der DDR - Außenminister kompromissbereiter und handlungswilliger als bisher. Genscher schlägt im Laufe des Abends zwei Handlungsalternativen vor, wie die Ausreise der Botschaftsflüchtlinge organisiert werden könne. Die erste Variante lautet : »Wir gestatten Konsularbeamten der DDR, in unserer Botschaft die Pässe der Deutschen aus der DDR mit der erfor154 Rede Genschers vor der 44. UN - Vollversammlung. In : Genscher., Erinnerungen, S. 15. 155 Ebd., S. 16 f.
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derlichen Ausreisegenehmigung zu versehen; dann reisen diese mit Sonderzügen der Bundesbahn von Prag direkt in die Bundesrepublik Deutschland. Der Souveränitätsanspruch der DDR wird durch die Passeintragungen gewahrt.« Alternative Variante : »Die Sonderzüge fahren von Prag aus über DDR - Gebiet in die Bundesrepublik Deutschland. Dann können Formalitäten unterwegs erledigt werden.«156 Genscher gewinnt den Eindruck, dass Fischer die Notwendigkeit einer baldigen Lösung einsieht. Zumal dieser auch versichert, sofort nach seiner Rückkehr mit Honecker zu sprechen; telefonisch oder schriftlich sei ihm dies leider nicht möglich. Nach Genschers Einschätzung ist der Grund für diese Haltung nicht böser Wille oder Uneinsichtigkeit, sondern die Sorge, dass irgendjemand – doch wer ? – gegensteuern könne. Auf Genschers Frage, wann er wieder in Ost - Berlin sei, antwortet Fischer : »Am Wochenende.« Also erst in drei Tagen. »Das ist zu spät«, moniert Genscher und verlangt, dass Fischer sofort tätig werde.157 28. September 1989 Prag, Botschaft der Bundesrepublik, 900 Neuankömmlinge
Im Palais Lobkowicz treffen im Laufe des Tages über 900 weitere DDR - Bürger ein, woraufhin die Gesamtzahl der Zufluchtsuchenden auf rund 2 500 Personen ansteigt. Tausende Zeltbewohner hausen mittlerweile im Garten der Vertretung, den der Regen der vergangenen Tage in eine Schlammwüste verwandelt hat. Manche vegetieren schon seit Wochen auf Gummimatten, Luftmatratzen und nassen Lattenrosten. Es stinkt nach Müll und Urin, obschon Campingduschen und Chemietoiletten aufgestellt worden sind. Und stündlich kommen dutzende Neuankömmlinge über den Botschaftszaun auf das exterritoriale Gelände hinzu. Kleinkinder werden über das Eisengitter gehoben. Die Kapazität des Botschaftsgeländes ist längst hoffnungslos erschöpft. Auch beim Botschaftspersonal ist die Grenze der Belastbarkeit erreicht. Dem Präsidenten des Deutschen Roten Kreuzes, Prinz Botho von Sayn - Wittgenstein, gelingt es in Gesprächen mit Vertretern des Tschechoslowakischen Roten Kreuzes, zusätzliches ärztliches Personal für die Botschaft zu gewinnen. Ferner organisiert er in Zusammenarbeit mit dem Militärattaché der Bundeswehr in Prag, Adolf Brüggemann, weitere Materialien, Lebensmittel und Hygieneartikel von der Bundeswehr.158 Botschaf156 Ebd., S. 18 f. 157 Ebd. 158 Botschafter Huber an AA vom 28.9.1989. Betr. : Zufluchtsuchende Deutsche aus der DDR, hier: Lagebericht 28. 9. 1989 ( PA AA, 214, 139918 E, unpag.); Jochen Bölsche u. a., 100 Tage im Herbst – »Wir wollen raus.« Spiegel - Serie über Wende und Ende des SED - Staates. Die Woche vom 25.9. bis 1. 10. 1989. In : Der Spiegel, 39/1999 ( http ://www.spiegel.de / spiegel / print / d 14838457.html; 15.11.2013).
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ter Huber sucht derweil beherzt auf eigene Faust – nachdem ihm der tschechoslowakische Vizeaußenminister Sadovský dafür am Vortag die Zustimmung verweigert hatte – nach Unterbringungsmöglichkeiten außerhalb der Botschaft. In einem geheimen Gespräch mit dem Erzbischof von Prag, František Tomášek, bittet Huber darum, kirchliche Räume und Einrichtungen für die Flüchtlinge zur Verfügung zu stellen. Doch Tomášek sieht sich außerstande, Hubers Bitte nachzukommen. Die KPTsch hat seit ihrer Machtübernahme im Jahre 1948 alle kirchlichen Einrichtungen verstaatlicht und lässt jeden Schritt des Erzbischofs von der Staatssicherheit überwachen.159 New York, Hotelsuite des Bundesaußenministers
Bereits am Morgen, gegen 9.00 Uhr, ruft Genscher DDR - Außenminister Fischer an. Erneut schildert er ihm die zunehmend menschenunwürdige Lage im Palais Lobkowicz. Auf Genschers dringende Bitte hin verspricht Fischer schließlich, dessen Vorschläge nach Berlin weiterzuleiten. Im Anschluss an das Gespräch ist der Bundesaußenministers optimistisch gestimmt : Seinem Eindruck nach gibt sich der DDR - Außenminister durchaus Mühe, zu einer Lösung des Flüchtlingsdramas beizutragen.160 Am selben Tag appelliert Genscher auch in einem kurzen persönlichen Gespräch noch einmal nachdrücklich an den tschechoslowakischen Außenminister, seinerseits an einer Lösung des Flüchtlingsproblems mitzuwirken; es müsse etwas geschehen. Doch Johanes gibt sich unbewegt. Alles, was er bereit ist, dem Bundesaußenminister zu versprechen, ist, Prag über dessen Vorschläge zu informieren. Die ganze Angelegenheit muss ohnehin zwischen Bonn und Berlin geregelt werden. Überhaupt trage die tschechoslowakische Regierung keinerlei Verantwortung für die entstandene Situation. Johanes Abfuhr zum Trotz gibt sich Genscher betont zurückhaltend, fürchtet er doch, dass die ČSSR im Falle einer weiteren Eskalation des Konflikts die hermetische Abriegelung der Grenze für Hilfspersonal und - güter veranlassen könnte.161
159 Botschafter Huber an AA vom 28.9.1989. Betr. : Zufluchtsuchende Deutsche aus der DDR, hier: Suche nach alternativen Unterbringungsmöglichkeiten ( PA AA, 513, B 85 Nr. 2346 E, unpag.). 160 Genscher, Erinnerungen, S. 18 f. 161 Ebd., S. 19 f.; Kiessler / Elbe, Ein runder Tisch mit scharfen Ecken, S. 36; Leiter der UNO Vertretung der ČSSR, Zápotocký, an Außenministerium der ČSSR vom 28. 9. 1989 ( AMZV Praha, Telegramy odeslané, 1989, sv. 9, pořadové číslo 3296).
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New York, Botschaft der UdSSR, Unterredung Genschers mit Schewardnadse, Durchbruch
Die entscheidende Wende geht dann von einem Nachmittagstreffen Genschers mit dem sowjetischen Außenminister Eduard Schewardnadse aus. Nachdem Genscher den neuesten Drahtbericht aus Prag erhalten hat, demzufolge die Zustände im Palais Lobkowicz nun gänzlich unerträglich geworden sind, wird die Zusammenkunft sehr kurzfristig anberaumt.162 Zu den epochemachenden Verhandlungen der beiden Außenminister reist Genscher über die zur Rush Hour völlig verstopfte Third Avenue mit Blaulicht und Sirene : »Über den Leiter des Ministerbüros, Frank Elbe, ließ ich ihn dringlich um ein persönliches Gespräch bitten. Mein sowjetischer Kollege reagierte auf der Stelle : Ich möge bitte sofort kommen. Da jedoch für den Nachmittag bereits Begegnungen mit anderen Außenministern in meiner Hotelsuite vorgesehen waren, standen mir unsere Fahrzeuge nicht zur Verfügung, und so sprach Elbe die Besatzung eines Streifenwagens der New Yorker Polizei an. Kurz erläuterte er die Lage, dann stiegen wir ein. Mit Blaulicht und Sirene ging es zur sowjetischen Botschaft, wo diese ungewöhnliche Art der Vorfahrt verständlicherweise einiges Aufsehen erregte, vielleicht aber auch den Ernst der Lage unterstrich. Schewardnadse erwartete mich. Er hatte den jugosla-
Eduard Schewardnadse und Hans-Dietrich Genscher – Kollegen und Freunde? Foto: ullstein bild – AP
162 AA, Vermerk des Leiters des Ministerbüros Elbe vom 10.10.1989. Betr. : Gespräche BM mit AM Schewardnadse, AM Johanes, AM Fischer, AM Dumas und AM Baker über die Situation der Deutschen aus der DDR in der Botschaft Prag am 28.9.1989 in New York ( PA AA, 214, 139918 E, unpag.).
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wischen Außenminister Loncar, der ebenfalls eingetroffen war, für die Verzögerung ihres Treffens um Verständnis gebeten. Mit großem Nachdruck erläuterte ich Schewardnadse die Lage. Ich bäte um Hilfe; es gehe um die Zustimmung zum unverzüglichen Beginn der Ausreise und um eine sofortige gesicherte Unterbringung auch außerhalb der Botschaft, weil wir mit stündlich ansteigenden Zahlen rechneten. Der sowjetische Außenminister fragte : ›Sind Kinder dabei und wie viele ?‹ ›Viele.‹ ›Ich helfe Ihnen.‹ Er wollte sich an Gorbatschow, auch an Ost - Berlin und an Prag wenden und zeigte sich zutiefst betroffen über meine Schilderung. Der sensible Mann empfand als Mensch, er versteckte sich nicht hinter einer ideologischen oder einer vermeintlichen Staatsräson. [...] Als ich die Botschaft verließ, dankte ich ihm. Seine rechte Hand ergriff ich mit beiden Händen.«163
Noch am gleichen Abend, am Rande eines Abendessens im Rahmen der UNO - Vollversammlung, bittet Genscher seinen französischen Amtskollegen Roland Dumas, beim ČSSR - Außenminister Johanes im Namen der Zwölf (Mitglieder der Europäischen Gemeinschaft ) zu intervenieren. Der sagt ohne Umschweife zu. US - Außenminister James Baker, der das Gespräch mitverfolgt, verspricht ebenfalls seine nachhaltige Unterstützung.164 Bonn, Botschaft der ČSSR
Der tschechoslowakische Botschafter in Bonn, Dušan Spáčil, sendet einen Lagebericht an das Föderale Ministerium des Auswärtigen, in welchem er auf die potentiellen Risiken hinweist, die im Zusammenhang mit den Prager Botschaftsflüchtlingen entstehen könnten. Es sei davon auszugehen, dass sich die Situation mit der zu erwarteten Wetterverschlechterung noch verschlimmern werde : »Wir müssen in diesem Zusammenhang scharfe Angriffe gegen die Tschechoslowakei erwarten, sowohl in der Presse als auch in Regierungskreisen, mit der Intention, die Tschechoslowakei der inhumanen Verhaltensweise zu beschuldigen.«165 Der Botschafter schlägt vor, eine offizielle Erklärung der höchsten tschechoslowakischen Stellen zu publizieren, in welcher auf die bestehenden Risiken für die Flüchtlinge ausdrücklich hingewiesen werde, versehen mit dem Zusatz, dass die Bundesregierung auf eben jene Gefahren rechtzeitig aufmerksam gemacht worden sei und dementsprechend jetzt auch die Verantwortung hierfür trage. Außerdem sei es gemäß Spáčil erforderlich, unverzüglich »bereits jetzt dagegen zu protestieren, dass die diplomatische Vertretung der BRD
163 Genscher, Erinnerungen, S. 19 f. 164 AA, Vermerk des Leiters des Ministerbüros Elbe vom 10.10.1989. Betr. : Gespräche BM mit AM Schewardnadse, AM Johanes, AM Fischer, AM Dumas und AM Baker über die Situation der Deutschen aus der DDR in der Botschaft Prag am 28.9.89 in New York ( PA AA, 214, 139918 E, unpag.); Kiessler / Elbe, Ein runder Tisch mit scharfen Ecken, S. 38. 165 Botschafters Spáčil an Außenministerium der ČSSR vom 28.9.1989 ( AMZV Praha, Telegramy přijaté, 1989, sv. 34, čj. : 053420).
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als Immigrationsbehörde missbraucht wird, damit sich die gegenwärtigen Probleme in Zukunft nicht mehr wiederholen«.166 29. September 1989 Ostberlin, vormittags
Der Septembertag, der in die Weltgeschichte eingehen soll, beginnt in Ostberlin wie jeder andere, hinter der Fassade der kommunistischen Propaganda. In deren Mittelpunkt steht heute die »ewige Freundschaft und Brüderlichkeit« zwischen tschechoslowakischen und ostdeutschen Kommunisten, in einem Festakt feierlich zur Schau getragen. Jene Kampfgruppe der Arbeiterklasse,167 die zur besten Kampfgruppe der DDR auserkoren wurde, bekommt feierlich die Ehrenfahne des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei der Tschechoslowakei überreicht. An der Festveranstaltung nehmen hohe Parteifunktionäre sowohl der ČSSR ( u. a. der tschechoslowakische Botschafter in DDR František Langer ) als auch der DDR teil. Am Rande der Feierlichkeiten kritisieren Teilnehmer die Berichterstattung des westdeutschen Fernsehens, in der DDR - Bürger »leider [...] sehen konnten, dass die Überwindung des Zauns um die Prager BRD - Botschaft leicht möglich« ist.168 Mitglieder der tschechoslowakischen Delegation sprechen sich eindeutig für eine Absperrung der Prager Botschaft aus, fordern jedoch nachdrücklich, dass die DDR entsprechende Maßnahmen bei den zuständigen tschechoslowakischen Stellen offiziell beantragen möge.169 Bonn, Auswärtiges Amt, vormittags
Am Morgen gibt Irmgard Adam - Schwaetzer, Staatsministerin im Auswärtigen Amt, im Deutschlandfunk ein Interview, in dem sie betont, dass die ČSSR die Versorgung der Zufluchtsuchenden bisher nicht behindert habe. Kranke seien problemlos außerhalb der Botschaft behandelt worden : »Also wir sollten uns sehr große Mühe geben, auch in unserer eigenen Behandlung des Themas, keine gegenteiligen Reaktionen hervorzurufen.« Gerüchte über eine Behinderung von DDR - Rückkehrern hätten sich nicht bestätigt, selbiges hätte im Übrigen auch der
166 Ebd. 167 Die Kampfgruppen der Arbeiterklasse, auch Betriebskampfgruppen genannt, waren eine paramilitärische Organisation von Beschäftigten in Betrieben der DDR. Durch die Kampfgruppen wurde die Herrschaft des Proletariats in der DDR auch militärisch manifestiert und sie waren eine wichtige Stütze des SED - Herrschaftsmonopols. 168 Botschafter Langer an Außenministerium der ČSSR vom 29.9.1989 ( AMZV Praha, Telegramy přijaté, 1989, sv. 34). 169 Ebd.
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Haltung der ČSSR widersprochen.170 Was die Staatsministerin zu diesem Zeitpunkt wahrscheinlich nicht weiß : Zwei Tage zuvor hat es tatsächlich einige Zwischenfälle mit der tschechoslowakischen Polizei gegeben. Es kam zu Festnahmen und zum vorübergehenden Einzug persönlicher Dokumente; Vorfälle, die größtenteils wohl auf sprachliche Barrieren und daraus resultierende Missverständnisse zurückzuführen sind.171 Bonn, Botschaft der ČSSR, vormittags
Während Adam - Schwaetzer im Deutschlandfunk die Haltung der ČSSR im Großen und Ganzen eher positiv beurteilt, ist beim Bundesaußenminister nichts dergleichen zu spüren. Wie dem nach Bonn zurückgekehrten Staatssekretär Sudhoff mitgeteilt wird, sei Genscher von der gleichgültigen und abweisenden Haltung seines tschechoslowakischen Amtskollegen Johanes zutiefst enttäuscht. Sudhoff trifft sich daraufhin mit dem tschechoslowakischen Botschafter in Bonn, Dušan Spáčil, um nach möglichen Lösungsansätzen zu suchen. Doch auch Spáčil streitet jegliche Mitverantwortung der ČSSR ab und bezeichnet die gesamte Situation sogar als »vorsätzlich geplanten Menschenschmuggel« seitens der Bundesrepublik. Zutiefst verärgert entgegnet Sudhoff mit aller Schärfe, dass »die zementierte Haltung der Tschechoslowakei« die »Beziehungen zwischen BRD und ČSSR nachhaltig schädigen und beeinträchtigen« würde.172 Spáčil sieht das naturgemäß anders und weist seinerseits die »politische Erpressung« Sudhoffs entschieden zurück.173 Genscher wird über das erfolglose Treffen der beiden umgehend unterrichtet.174
170 Pressemitteilung des AA Nr. 1146/89 : Interview der Staatsministerin im Auswärtigen Amt, Dr. Irmgard Adam - Schwaetzer, mit dem Deutschlandfunk am 29. 9. 1989 zur Lage der DDR Flüchtlinge in der Botschaft Prag ( PA AA, 513, B 85 Nr. 2346 E, unpag.). 171 AP - Meldung vom 27.9.1989 : Erste Rückreisewillige kehrten wieder nach Prag zurück ( PA AA, 214, 139918 E, unpag.). 172 AA, Vermerk, gez. Derix. Betr. : Zufluchtsuchende Deutsche aus der DDR in der Botschaft Prag, hier : Gespräch StS Dr. Sudhoff mit dem tschechoslowakischen Botschafter Dr. Spáčil vom 29.9.1989 ( PA AA, 513, B 85 Nr. 2346 E, unpag.). 173 Außenministerium der ČSSR an UN - Vertretung in New York und Außenminister Johanes vom 29.9.1989 ( AMZV Praha, Telegramy odeslané, 1989, sv. 9, pořadové číslo 3338). 174 AA gez. Sudhoff / Lautenschläger, an BM - Delegation in New York vom 29.9.1989. Betr. : Lage in unserer Botschaft Prag. Anlage : Schreiben von Bundeskanzler Kohl an Generalsekretär Jakeš (PA AA 513, B 85 Nr. 2346 E, unpag.) – Dok. 17.
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Bonn, Bundeskanzleramt, vormittags
Bundeskanzler Helmut Kohl wendet sich mit einem Brief an die kommunistische Führung der Tschechoslowakei, in dem er inständig an den Generalsekretär der KPTsch, Herrn Dr. Miloš Jakeš, Prag appelliert : »Sehr geehrter Herr Generalsekretär, die Lage in der Botschaft der Bundesrepublik Deutschland in Prag, in der mehr als 3 000 Bürger der DDR Zuflucht gesucht haben, wird immer besorgniserregender. [...] Ich wende mich an Sie mit der dringenden Bitte, einer Regelung zuzustimmen, die es ermöglicht, die betroffenen Menschen vorübergehend außerhalb des Botschaftsgeländes unterzubringen. [...] Die Menschen, die sich in unserer Botschaft aufhalten, haben sich entschieden, in die Bundesrepublik Deutschland auszureisen. Sie möchten deshalb sicher sein, bei vorübergehender Unterkunft außerhalb der Botschaft nicht gegen ihren Willen in die Heimat zurückgeführt zu werden. Für eine entsprechende Zusicherung wäre ich Ihnen ebenfalls dankbar. Ich appelliere an Sie, im humanitären Geiste und im Einklang mit den Prinzipien der KSZE - Schlussakte von Helsinki zu handeln. Mit dem Ausdruck meiner vorzüglichen Hochachtung, gez. Helmut Kohl.«175
New York, UNO - Vollversammlung
DDR - Außenminister Oskar Fischer spricht heute vor der gesamten UNO Vollversammlung. In seiner offensiv geführten Rede kritisiert er scharf die Aufnahme der Zufluchtsuchenden in den westdeutschen Botschaften, sieht darin eine Verletzung der Hoheitsrechte anderer Staaten und eine friedensgefährdende Provokation von Konflikten. »Nicht die Unterschiedlichkeit der sozialen Systeme macht den Bau des europäischen Hauses problematisch. Das Wettrüsten, die aufrecht erhaltene militärische Bedrohung und neuerdings verstärkte Versuche, den Sozialismus als Gesellschaftsordnung zu beseitigen, behindern dies. Das Deutsche Reich ist als Folge seiner Aggressionspolitik 1945 untergegangen. Zu den europäischen Realitäten gehört seither die Existenz zweier souveräner deutscher Staaten. Grenzen in Zweifel zu ziehen oder sich unter dem Deckmantel der Humanität unter Verletzung der Hoheitsrechte anderer Staaten eine sogenannte Obhutspflicht für deren Bürger anzumaßen, muss Konflikte provozieren, die Zusammenarbeit im Herzen Europas untergraben, sogar den Frieden gefährden.«176
Prag, Botschaft der Bundesrepublik
Das tschechoslowakische Außenministerium informiert die Botschaftsadministration darüber, dass alkoholisierte Zufluchtsuchende in den letzten Tagen die öffentliche Ordnung vermehrt gestört und die Stadt verschmutzt hätten. Künftig 175 Ebd. 176 Heumann, »Mauersplitter« im Deutschlandfunk – Dokumente einer Revolution, Manuskript, S. 19 ( http ://dlf.deutschlandradio.de / mauersplitter - transkripte.download.d9e2bcdca07718975c39 dcaf85ed 4132. pdf; 13.8.2013).
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wollen die tschechoslowakischen Sicherheitskräfte rigoros gegen derartige Unruhestifter vorgehen und diese umgehend in die DDR zurückbefördern bzw. den dafür zuständigen Behörden übergeben. Unter den Botschaftsangehörigen wird diese Nachricht mit erheblicher Nervosität aufgenommen.177 Die Zahl der Zufluchtsuchenden steigt nämlich von Minute zu Minute an. Bis zum Abend sind es rund 3 500 Personen. Eine Zahl, mit der nun endgültig die Aufnahmekapazität der Botschaft überschritten ist.178 Der Präsident des DRK, Prinz zu Sayn - Wittgenstein, hatte kurz zuvor die Maximalkapazität der Botschaft auf rund 3 000 Personen eingestuft; eine noch höhere Personenzahl gefährde selbst die Statik des Gebäudes.179 Die Betten müssen in Schichten genutzt werden; viele schlafen auf den Treppen. In dieser beängstigenden Enge stehen kaum genug Stehplätze für alle zur Verfügung.180 Auch die sanitäre Situation ist nicht mehr länger haltbar : Die maximale Belastungskapazität der Kanalisation ist erreicht, zusätzliche Toilettencontainer dürfen nicht mehr angeschlossen werden. Als Toilettenersatz müssen die Zwischenräume zwischen den Zelten herhalten. Es herrscht Wassermangel. Die Gesundheitslage wird zunehmend prekär, die Gefahr von Seuchen und Durchfallerkrankungen nimmt zu. Eine Epidemie erscheint angesichts der drangvollen Enge fast unausweichlich. Einige Kinder haben bereits fiebrige Durchfallerkrankungen.181 Auch die Gefährdung durch Feuer wächst. Sogar eine in der Folge ausgelöste Massenpanik kann nicht mehr ausgeschlossen werden.182 Eine erneute Bitte Hubers, die DDR - Flüchtlinge außerhalb des Palais Lobkowicz unterbringen zu dürfen, will sich der stellvertretende tschechoslowakische Außenminister Sadovský nicht einmal mehr anhören.183 Berücksichtigt man freilich die tschechoslowakische Interessenslage, so haben die dortigen Machthaber gleichwohl triftige Gründe, die Unterbringung der DDR - Flüchtlinge außerhalb des Botschaftsgeländes zu verwehren. Dies würde einem Flüchtlingslager für DDR - Deutsche auf dem Gebiet der Tschechoslowakei gleichkommen, 177 Botschafter Huber an AA vom 29.9.1989. Betr. : Zufluchtsuchende Deutsche aus der DDR, hier: Vorgehen der tsl. Sicherheitskräfte ( PA AA, 513, B 85 Nr. 2346 E, unpag.). 178 Botschafter Huber an AA vom 29.9.1989. Betr. : Zufluchtsuchende Deutsche aus der DDR, hier: Lagebericht 29.9.1989 ( ebd.). 179 AA gez. Sudhoff / Lautenschläger, an BM - Delegation in New York vom 29.9.1989. Betr. : Lage in unserer Botschaft Prag. Anlage : Schreiben von Bundeskanzler Kohl an Generalsekretär Jakeš (ebd.) – Dok. 17. 180 Ebd. 181 Botschafter Huber an AA vom 29.9.1989. Betr. : Zufluchtsuchende Deutsche aus der DDR, hier: Lagebericht 29.9.1989 ( PA AA, 513, B 85 Nr. 2346 E, unpag.). 182 AA gez. Sudhoff / Lautenschläger, an BM - Delegation in New York vom 29.9.1989. Betr. : Lage in unserer Botschaft Prag. Anlage : Schreiben von Bundeskanzler Kohl an Generalsekretär Jakeš (ebd.). 183 Botschafter Huber an AA vom 29.9.1989. Betr. : Zufluchtsuchende Deutsche aus der DDR, hier: Lagebericht 29.9.1989 ( ebd.).
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was sowohl der eigenen Bevölkerung als auch dem Verbündeten gegenüber kaum zu erklären sein dürfte. Entsprechend äußert sich auch der Präsident des Tschechoslowakischen Roten Kreuzes, Novotný, im Gespräch mit seinem deutschen Amtskollegen Prinz zu Sayn - Wittgenstein, wenn er zu bedenken gibt, dass seine Regierung einen »Dammbruch« befürchte, sobald in der Tschechoslowakei Flüchtlingslager für DDR - Deutsche errichtet würden. Einmal etabliert, sähe sich die ČSSR einem mutmaßlich weitgehend unkontrollierbaren Zulauf von DDR Bürgern gegenüber, in dessen Folge es leicht zu einer humanitären oder politischen Eskalation kommen könne.184 Botschafter Huber weiß zu diesem Zeitpunkt nicht mehr, wie er die Neuankömmlinge noch unterbringen soll. Zu Recht befürchtet er, dass es nur eines winzigen Zwischenfalls bedarf, ausgelöst durch schlechtes Wetter, Alkohol, Ehekonflikte oder dergleichen mehr, um eine Katastrophe auszulösen. Vor allem kann es zu einem Epidemie - Ausbruch oder zu einem Großbrand kommen. Es ist völlig unklar, wie die noch zu erwartenden Neuankömmlinge untergebracht werden sollen. Nur soviel ist augenfällig : Die jüngsten Neuankömmlinge werden die nächste Nacht unter freiem Himmel verbringen müssen.185 Prag, Regierungspräsidium, vormittags, Ausreisegenehmigung empfohlen
Auch die tschechoslowakischen Genossen werden durch die konfliktgeladene, unberechenbare Lage in der Prager Botschaft zunehmend verunsichert. Sie suchen nach einer möglichst raschen Lösung des Flüchtlingsdramas. Am Morgen kommen im Regierungspräsidium der ČSSR186 beim Abteilungsleiter Soukup, unter der Leitung des Direktors der vierten Territorialabteilung im Außenministerium der ČSSR, Milan Kadnár, führende Sekretäre des ZK - KPTsch und Abteilungsleiter des Außenministeriums zu einer dringenden Krisensitzung zusammen.187 Als allererste Notmaßnahme schlagen die Partei - und Staatssekretäre eine hermetische Abriegelung des Botschaftsgeländes vor. Mit Hilfe der Polizei solle ein undurchdringlicher Kordon geschaffen und der Botschaftszaun erhöht werden. Zu dieser Maßregel möchten die Tschechoslowaken allerdings ein Alibi 184 Botschafter Huber an AA vom 29.9.1989. Betr. : Zufluchtsuchende Deutsche aus der DDR, hier: Gespräche Präsident DRK mit tsl. Rotem Kreuz ( ebd.). 185 Ebd. 186 Aus dem Tschechischen : »Předsednictvo vlády«, PV ČSSR. 187 An der Sitzung im Regierungspräsidium nahmen Abteilungsleiter Soukup, der Leiter der Presseabteilung des Regierungspräsidiums Pavel und der Abteilungsleiter der 4. Territorialabteilung des Föderalen Außenministeriums Kadnár teil. Zuvor wurde die Lage mit Lenárt, Fojtík und Štefaňák besprochen. Vgl. Niederschrift der Lagebesprechung im Regierungspräsidium zur Lage in der Botschaft der BRD am 29.9.1989 ( ABS Praha, Objektový svazek reg. č. 845 [»Obora«], část 9, Bl. 177f.).
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bekommen, um sich nicht international zu diskreditieren : Das Außenministerium der DDR soll mittels einer diplomatischen Note das Föderale Ministerium des Auswärtigen um entsprechende Maßnahmen ersuchen. Sollte die Bundesrepublik ihrerseits mit Gegenmaßnahmen reagieren, so könne man die Sicherheitsvorkehrungen mit Hilfe der Wiener Konvention von 1961 begründen, die besagt, dass eine ausländische Vertretung nicht zur Asylgewährung missbraucht werden darf.188 Doch die brisanteste Empfehlung steht am Schluss : Darin schlagen die Sitzungsteilnehmer vor, den auf dem Botschaftsgelände befindlichen DDR Deutschen ausnahmsweise eine Ausreisegenehmigung zu erteilen. Immerhin sei es möglich, diese Notmaßnahme ideologisch fundiert – als großzügige Geste zum 40. Jubiläum der Gründung der DDR – zu »verkaufen«. Die Empfehlungen werden umgehend an das Politbüro der KPTsch und den stellvertretenden Außenminister Sadovský weitergeleitet, damit sie unverzüglich bei der heutigen Politbürositzung erörtert werden können.189 Prag, Krisensitzung im Zentralkomitee der KPTsch, vormittags, Ja zur Ausreise
Auch im eigentlichen Machtzentrum in Prag, im Zentralkomitee der Kommunistischen Partei der Tschechoslowakei, laufen fieberhafte Beratungen, die sich mit der Flüchtlingsproblematik beschäftigen. Es werden die im Regierungspräsidium zuvor unter der Leitung von Kadnár vorbereiteten Vorschläge heiß diskutiert. Die Krisensitzung findet unter Teilnahme von ranghöchsten KP - Funktionären, Die Machtzentrale – ZK-KPTsch. Foto: Antonin Nový wie Politbüromitglied und ZK - Sekretär Jozef Lenárt, dem Abteilungsleiter für internationale Politik im ZK - KPTsch, Michal Stefaňák, dem stellvertretenden tschechoslowakischen Außenminister, Pavel Sadovský, und dem Direktor im Außenministerium, Milan Kadnár, statt. Das Politbüro akzeptiert im Wesentlichen die zuvor von den zuständigen Partei - und Staatssekretären vorbereiteten Empfehlungen. Es werden Lösungsvorschläge kategorisch formuliert, die durch den tschechoslowakischen Botschafter in der DDR, František Langer, den 188 Vgl. ebd. 189 Vgl. ebd.
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führenden DDR - Funktionären des SED - Regimes, ZK - Politbüromitglied Hermann Axen bzw. ZK - SED - Mitglied Günter Sieber, höchstpersönlich und sofort übermittelt werden sollen. »Die DDR muss deutlich aktiver im Interesse der Entspannung der ganzen Problematik handeln«, fordern die tschechoslowakischen Genossen ultimativ. »Die tschechoslowakische Seite erwartet, dass ein DDR - Bevollmächtigter die tschechoslowakischen Behörden offiziell um die Verstärkung der Sicherheitsvorkehrungen um die BRD - Botschaft ersucht, damit das weitere Eindringen der DDR - Bürger in die BRD - Botschaft verhindert wird.«190 Sodann sprechen sich die hochrangigen tschechoslowakischen Funktionsträger erstmals klar und deutlich auch für die Ausreise der DDR - Flüchtlinge in die Bundesrepublik aus : – »Die DDR könne doch anlässlich des 40. Jahrestages der DDR - Gründung eine Amnestie verkünden. – Im Rahmen dieser großzügigen Amnestie könnten dann die DDR - Behörden den DDR Bürgern Pässe und Ausreisegenehmigungen für die BRD ausstellen. Diese Vorgehensweise würde der DDR - Seite eine Selektion der Ausreisebewilligungen ermöglichen. – Die DDR könne zu der BRD - Botschaft Busse zur Verfügung stellen und ihre Bürger über das DDR - Staatsgebiet in die BRD transportieren, wo sie dann entlassen werden könnten.«191
Über diese Forderungen, die an die DDR - Führung prompt und direkt übergegeben werden sollen, wird der KPTsch - Generalsekretär Jakeš informiert. Die vorhin geäußerten Bitten seitens der Bundesregierung, die »ungarische Lösung« anzuwenden oder für die Botschaft ein weiteres Gebäude mit dem Exterritorialitätsrecht zur Verfügung zu stellen, lehnen die tschechoslowakischen Entscheidungsträger bei der Krisenberatung weiterhin explizit und entschieden ab. Die KPTsch - Machthaber schalten auch die tschechoslowakischen Medien intensiv ein. Die Parteizeitung »Rudé Právo«, die Presseagentur ČTK und das Außenministerium werden angewiesen, einen scharfen Kommentar gegen die Politik der Bundesrepublik Deutschland zu verfassen. Es sollen dabei, so die Direktiven der Parteifunktionäre, insbesondere die bewährten Propaganda Hassworte wie »Pangermanismus, Neorevanchismus und territorialer Revanchismus, Störung des Entspannungsprozesses, usw.« angewandt werden.192
190 Außenministeriums der ČSSR an UN - Vertretung in New York vom 29. 9. 1989 : Informationen der 4. Abteilung des Außenministeriums für Außenminister Johanes zu den neuesten tschechoslowakischen Vorschlägen und zu den weiteren Schritten in der Lösung der Situation der Prager Botschaft ( AMZV Praha, Telegramy odeslané, 1989, sv. 9, pořadové číslo 3335). 191 Ebd. 192 Ebd.
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Vorschläge vom ZK der KPTsch an das SED-Politbüro: DDR muss aktiver werden. Amnestie zum 40. Jahrestag verkünden. Die DDR-Bürger aus der BRD-Botschaft über das DDR-Staatsgebiet in die BRD transportieren. Dort entlassen.
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Über den weiteren Ablauf in der Sache vermerkt ein Telegramm an den in New York weilenden Außenminister Johanes : »Botschafter Langer hat Sieber193 besucht und ihm die Vorschläge vorgetragen. Wir erwarten die Antwort der DDR.«194 Ostberlin, Zentralkomitee der SED, vormittags, Parteiführung tief besorgt
Die SED - Parteiführung ist tief besorgt : Das bald anstehende Jubiläum zum 40. DDR - Gründungstag könnte durch das in den Medien von Tag zu Tag immer stärker präsente Drama der Botschaftsflüchtlinge komplett verdorben werden. Die prekäre Lage in der bundesdeutschen Botschaft könnte schnell eskalieren : ein Selbstmord oder eine Epidemie mit mehreren Toten hätten im Nu eine intensive Medienkampagne zu Folge – und das weltweit ! Auch so schon werden die internationalen Forderungen, welche von allen Seiten an die SED - Funktionäre herangetragen werden, immer eindringlicher. Überdies schließen sich neuerdings sogar die mächtigen Sowjets den Appellen an, endlich etwas in der Angelegenheit zu tun. So berichtet DDR - Außenminister Fischer im heutigen Telegramm an Honecker aus New York von den gestrigen Verhandlungen mit dem UdSSR - Außenminister, Genossen Schewardnadse, bei welchen zwar der sowjetische Außenminister eingeräumt habe, dass die BRD für die entstandene Lage »natürlich [...] verantwortlich« sei. Zugleich habe er aber die DDR - Führung dazu aufgefordert, Überlegungen anzustellen, »um einen Skandal zu verhindern«.195 Und zu dem ohnehin schon immensen Druck der internationalen Diplomatie kommen jetzt auch noch die nachdrücklichen Aufforderungen der letzten echten Verbündeten – der tschechoslowakischen Genossen – hinzu. Die Tschechoslowaken fürchten wohl zu Recht um die Stabilität des kommunistischen Regimes in ihrem Land; eine Furcht, für welche die DDR - Machthaber durchaus Verständnis haben. Vor diesem Hintergrund entschließt sich SED - Generalsekretär Honecker an jenem letzten Freitag im September unter dem gewaltigen Druck der Krisenlage zum Handeln. Er telefoniert mit seinem tschechoslowakischen Amtskollegen, KPTsch - Parteichef Milouš Jakeš. Honecker dankt den tschechoslowakischen Genossen zunächst für deren solidarische Haltung zur DDR. Durch sein Telefonat will sich Honecker freilich vor allem versichern, dass die Tschechoslowaken sich 193 Günter Sieber, Mitglied des ZK der SED, seit 1980 Leiter der Abteilung Internationale Verbindungen. 194 Außenministerium der ČSSR an UN - Vertretung in New York vom 29. 9. 1989 ( AMZV Praha, Telegramy odeslané, 1989, sv. 9, pořadové číslo 3335). 195 Außenminister Fischer an SED - Generalsekretär Honecker vom 29. 9. 1989 ( http ://www.chronik-der - mauer.de / index.php / de / Media / TextPopup / id /1261505/ month / September /oldAction / Detail / oldModule / Chronical / year /1989; 31.5.2013).
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auf keinen Fall vom Budapester Beispiel anstecken lassen und die Botschaftsflüchtlinge direkt in die Bundesrepublik entlassen. Während des Telefonats gibt Jakeš seinem DDR - Amtskollegen allerdings deutlich zu verstehen, dass die Dissidenten in der Tschechoslowakei, welche mit den Botschaftsbesetzern sympathisieren, durch »die Vorgänge um die BRD - Botschaft Oberwasser bekämen«.196 Honecker bringt die Möglichkeit ins Gespräch, die »Botschaftsbesetzer« mit Zügen der Deutschen Reichsbahn über das Territorium der DDR in die BRD zu überführen. Es sei ganz sicher die beste Lösung, entgegnet Jakeš, wenn die DDR das Problem, das beide Seiten belaste, selbst aus der Welt schaffe.197 Prag, Zentralkomitee der KPTsch, mittags, sowjetischer Botschafter interveniert
Ein hochrangiger Vertreter der UdSSR, der sowjetische Botschafter Andrei Wjatscheslawowitsch Lomakin, stattet einen Besuch beim KPTsch - Generalsekretär Jakeš und dem ZK - KPTsch - Sekretär Lenárt ab. Der Vertreter der UdSSR kommt nicht mit leeren Händen – mit dabei hat er eine Aufzeichnung des Gesprächs zwischen Schewardnadse und Genscher vom Vortag in New York, in welchem der sowjetische Außenminister seinem westdeutschen Amtskollegen versprochen hat, sich für die Prager Botschaftsflüchtlinge einzusetzen. Die tschechoslowakischen Genossen, die sich ansonsten gegenüber dem »großen russischen Bruder« stets bedingungslos unterwürfig geben, bleiben dieses Mal jedoch bei ihrer unnachgiebigen Haltung. Trotzig antwortet Lenárt dem sowjetischen Botschafter : »1. Wir haben der DDR weitere Möglichkeiten vorgeschlagen, um die zunehmend schwierigere Lage zu entspannen. Wir erwarten von der DDR eine Antwort. 2. Wir werden weder ein Gebäude noch andere Räumlichkeiten auf der Basis der Exterritorialität für die DDR - Emigranten zur Verfügung stellen. Wir haben nicht vor, auf tschechoslowakischem Gebiet Flüchtlingslager einzurichten. 3. Wir sind bei dieser Angelegenheit an eine Reihe internationaler Verträge mit der DDR gebunden und wir werden diese Verträge einhalten.198 Eine Verletzung der gültigen Verträge
196 Schabowski, Der Absturz, S. 234. 197 Ebd. 198 Am 30.3.1978 wurde zwischen den Regierungen der DDR und der ČSSR ein Abkommen über den visafreien Reiseverkehr geschlossen, dessen geheimes Zusatzprotokoll die Verpflichtung enthielt, Staatsbürger des anderen Staates nicht nach dritten Staaten oder Westberlin ausreisen zu lassen, und die Personalien von Personen, deren Aufenthalt auf dem Hoheitsgebiet des Abkommenspartners unerwünscht sind, gegenseitig auszutauschen. Vgl. Zusatzprotokoll zum Abkommen vom 30.3.1978 zwischen den Regierungen der DDR und der ČSSR über den visafreien Reiseverkehr. Zit. nach Tantzscher, Die verlängerte Mauer, S. 43.
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erachten wir im Hinblick auf die tschechoslowakischen historischen Erfahrungen für eine ›Appeasement - Politik nach Münchner Art‹ [›mnichovanství‹].«199
Fazit der tschechoslowakischen Parteispitze in Bezug auf ihr Gespräch mit dem sowjetischen Botschafter : »Der tschechoslowakische Standpunkt bleibt unverändert.«200 Prag, Botschaft der Volksrepublik China, 16.35 Uhr, Ultimatum an das SED - Politbüro
Beim Empfang in der chinesischen Botschaft in Prag zum 40. Jahrestag der Volksrepublik kommt es zu spannungsgeladenen Diskussionen zwischen dem DDR - Botschafter, Ziebart, und führenden tschechoslowakischen Funktionären. Der KPTsch - Sekretär Lenárt teilt Ziebart mit, dass das KPTsch - Politbüro den Lagebericht von Sadovský über die Situation in der hiesigen BRD - Botschaft entgegennahm und empfahl, die darin enthaltenen Vorschläge für eine Lösung der gegenwärtigen Situation dem ZK der SED zu übermitteln. Botschafter František Langer erhielt Auftrag, diese den Genossen Sieber oder Axen vorzutragen. Im direkten persönlichen Gespräch wird Lenárt freilich noch deutlicher : »Die große Anzahl der sich in der BRD - Botschaft befindlichen DDR - Bürger und die damit verbundenen Auswirkungen auf die ČSSR (täglicher Neuzugang von DDRBürgern, Verstopfung von Prager Straßen, abgestellte PKW, unmögliche hygienische Zustände auf dem Gelände der Botschaft, die [ die ] Gefahr einer Epidemie befürchten lassen ) zwingen zu Überlegungen, welche weiteren Schritte unternommen werden könnten.«201 Damit teilt Lenárt zwar noch diplomatisch, aber doch unmissverständlich mit, dass die Tschechoslowakei auf eigene Faust Maßnahmen ergreifen werde, falls die DDR in kürzester Zeit keine Lösungsvorschläge unterbreitet. Die tschechoslowakische Führung fordert ultimativ : »Eine drastische Verringerung der gegenwärtigen Anzahl von DDR - Bürgern durch Ausreise per Bus über Territorium der DDR in die BRD. Auf dem Territorium der DDR könnten die erforderlichen Formalitäten zur Ausreise vorgenommen werden. Dabei könnte die DDR unter Umständen selektiv vorgehen.«202 Die Ausreise könne durch eine allgemeine Amnestie zum 40. Jahrestag der DDR überzeugend begründet werden.
199 Außenministerium der ČSSR an UN - Vertretung und Außenminister Johanes vom 29. 9. 1989 (AMZV Praha, Telegramy odeslané, 1989, sv. 9, pořadové číslo 3338). 200 Ebd. 201 Botschafter Ziebart an die Mitglieder des SED - Politbüros Mittag und Axen u. a. vom 29.9.1989 ( BStU, ZA, HA II, 32922, Bl. 5–7) – Dok. 23. 202 Ebd.
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Dringende Lösungsvorschläge der KPTsch-Parteiführung: Ausreise in die BRD, ansonsten »Überlegungen, welche weiteren Schritte unternommen werden könnten« (Auszug aus dem Blitztelegramm des DDR-Botschafters Ziebart an das SED-Politbüro vom 29.9.1989, 16.35 Uhr).
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Der stellvertretende Außenminister Sadovský, der bei dem Gespräch zugegen ist, teilt Ziebart, nachdem sich Lenárt verabschiedet hatte, noch folgende Gedanken aus seinem Bericht an das KPTsch - Präsidium mit : Die ČSSR ist in eine schwierige Lage geraten. Die DDR hat nach dem Scheitern der Bemühungen des Rechtsanwalts Vogel keine neuen Vorschläge zur Lösung des Problems unterbreitet. Mit dem vorgeschlagenen Bau einer Mauer sind die Prager Genossen keinesfalls einverstanden : »Die in Berlin geäußerte Idee, eine Mauer um die Botschaft zu bauen, sei für Prag nicht akzeptabel.«203 Für die Tschechoslowakei sei von besonderer Bedeutung : »Die internationalen Belastungen und das Drängen aus bestimmten ČSSR - Kreisen ( Kirche, Oppositionsgruppen ) nach einer Lösung nehmen zu.«204 Im weiteren Verlauf bittet der Prager Parteichef der KPTsch, Štěpán, den DDR- Botschafter Ziebart beiseite und teilt ihm unter vier Augen – mit der Bitte um absolute Vertraulichkeit – mit, »dass nach seiner Meinung die Gespräche Genschers mit Johanes und Schewardnadse in New York im Hintergrund der neuen Überlegungen stehen. Soviel er gehört habe, soll Genscher Schewardnadse gebeten haben, auf die ČSSR Einfluss zu nehmen, dass sie beweglicher auf die Bonner Forderungen reagiere.«205 Damit meint er offensichtlich, dass der Druck der sowjetischen Seite möglicherweise zur größeren Entschlossenheit der tschechoslowakischen Parteiführung geführt habe. Und zum Schluss das Wichtigste : Štěpán betont, dass die Lage um die Botschaft zunehmend zum »Problem der öffentlichen Ordnung in Prag« werde.206 Ziebart begreift sofort und informiert umgehend, per Blitztelegramm um 16.35 Uhr, ranghöchste SED - Politbürofunktionäre über die Krisensituation, die tschechoslowakischen Vorschläge und den sofortigen Handlungsbedarf.207 Ostberlin, Staatsoper, 17:20 Uhr, Zustimmung zur Ausreise
Am Nachmittag findet in der Berliner Staatsoper eine vornehme Festveranstaltung statt, an welcher die höchste Prominenz des Landes teilnimmt. Die Volksrepublik China feiert das 40. Jubiläum ihres Bestehens – genauso wie es auch die DDR bald tun will. Die mächtigsten Repräsentanten der DDR und der Volksrepublik China nehmen teil. Der chinesische Botschafter Zhang Dake und das Politbüromitglied des ZK der SED, Hermann Axen, halten die Festreden. SED - Generalsekretär Honecker ist ebenso anwesend wie das gesamte SED -
203 204 205 206 207
Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd.
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Politbüro, um dem kommunistischen Bruderland zu dessen runder Jubiläumsfeier die gebotene Referenz zu erweisen.208 Einigen SED - Politbüromitgliedern wird am späten Nachmittag das Blitz Telegramm des DDR - Botschafters in der Tschechoslowakei, Ziebart, zugestellt, das heute in Prag um 16.35 Uhr209 abgeschickt worden ist. Die zentrale Forderung der tschechoslowakischen Parteiführung lautet : Lasst die DDR - Bürger aus der Prager BRD - Botschaft in die Bundesrepublik ausreisen ! Aus dem Telegramm wird evident, dass rasch gehandelt werden muss. Wenn die DDR nichts in der Sache unternimmt, wird die ČSSR eigenständig in ihrem Interesse handeln, geben die tschechoslowakischen Entscheidungsträger zu bedenken.210 Der Selbsterhaltungstrieb ist stärker als die Pflicht der kommunistischen Solidarität. Das in Berlin angekommene Blitz - Telegramm zeigt sofortige Wirkung. Zum Schluss der Veranstaltung im Berliner Staatstheater wird den anwesenden SED Politbüromitgliedern zugeflüstert, sich noch einmal im Apollo - Saal, einer Art Foyer, einzufinden, und zwar ohne Frauen. Dort wird das Politbüro von Honecker von dem akuten Handlungsbedarf informiert. Die tschechoslowakische Parteiführung sähe sich nicht mehr imstande, die Entwicklungen rund um die Prager Botschaft unter Kontrolle zu halten. Sie äußere wiederholt die Befürchtung, dass das Problem der Botschaftsbesetzung die politische Gesamtlage in der Tschechoslowakei destabilisieren könnte. Es mobilisiert die Opposition. In Prag könnte es zu »Störungen von Ruhe und Ordnung«211 kommen (womit Massendemonstrationen gemeint sind ). Schlimmstenfalls könnte sich die ČSSR so unter Zugzwang sehen, dass sie die DDR - Bürger einfach eigenmächtig ausreisen lassen würde, was sowohl in der DDR einen innenpolitischen Schaden verursachen würde, als auch eine schwere Belastung der Beziehungen beider Staaten zueinander zur Folge hätte. »Ich habe die Entscheidung treffen müssen. Ihr sollt aber über die Sache schnell Bescheid wissen. Es bleibt uns nichts anderes übrig, wenn wir es bis zum 7. [Oktober] vom Tisch haben wollen«, begründet der SED - Chef seinen Entschluss.212 Honecker äußert seine Überzeugung, dass nach Lage der Dinge und in Hinblick auf den bevorstehenden 40. Jahrestag der DDR nicht noch weitere Komplikationen heraufbeschworen werden sollten. Deshalb beabsichtige er, durch einen einmaligen Akt der Entlassung dieser Menschen Ruhe zu schaffen und zwar über einen Weg, der durch die DDR führt. Damit soll ein Zustand ver208 Schabowski, Der Absturz, S. 234. 209 Botschafter Ziebart an die Mitglieder des SED - Politbüros Mittag und Axen u. a. vom 29.9.1989 ( BStU, ZA, HA II, 32922, Bl. 5–7) – Dok. 23. 210 Ebd. 211 Ebd.; Schabowski, Das Politbüro, S. 68 f.; ders., Der Absturz, S. 234 f.; Andert / Herzberg, Honecker im Kreuzverhör, S. 90 f. 212 Schabowski, Das Politbüro, S. 68 f.; ders., Der Absturz, S. 235.
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hindert werden, in dem die Leute sagen, die ČSSR sei die richtige Adresse, wenn sie heraus wollen.213 »Dem Vorschlag, die in den Botschaften der BRD in Prag und Warschau befindlichen DDR - Bürger mit Zügen der Deutschen Reichsbahn von Prag bzw. Warschau über das Territorium der Deutschen Demokratischen Republik in die BRD zu transportieren, wird zugestimmt«, beschließt daraufhin das Politbüro.214 Die epochemachende Krisensitzung des Politbüros, um 17.00 Uhr angefangen, dauert lediglich zwanzig Minuten. Bereits gegen 17. 20 Uhr stimmen dessen Mitglieder einstimmig zu, die Forderungen der tschechoslowakischen Genossen zu erfüllen und die in den Botschaften der Bundesrepublik befindlichen DDR Bürger mit Zügen über das DDR - Gebiet in die Bundesrepublik zu transportieren.215 Der Bundesregierung wird »anheimgestellt, sich dafür einzusetzen, dass die weitere Aufnahme von DDR - Bürgern in BRD - Botschaften im Ausland nicht gestattet wird«.216 Umgehend sollen DDR - Außenminister Fischer, KPTsch Generalsekretär Jakeš, Polens Staatspräsident Wojciech Jaruzelski und die Bundesregierung über den jüngsten Beschluss informiert werden. Der ständige Vertreter der DDR in Bonn, Horst Neubauer, wird beauftragt, »der Regierung der BRD anheimzustellen, diese Maßnahme zu unterstützen«.217 Honecker selbst schilderte im Nachhinein die entscheidenden Motive für seine geschichtsträchtige – und für ihn verhängnisvolle – Kehrtwende folgendermaßen : »Eine nicht geringe Rolle in Vorbereitung der sogenannten Novemberrevolution spielten die Botschaftsbesetzungen. [...] Am 29. September 1989 war noch eine ganz andere Entscheidung notwendig geworden. Seitens der Regierung der ČSSR wurden wir gebeten, das Problem der Botschaftsbesetzungen in dieser oder jener Form zu lösen, da es sonst zu Störungen von Ruhe und Ordnung in Prag kommen würde. Wir waren natürlich überhaupt nicht daran interessiert, dass die Ruhe und Ordnung in Prag gestört wurde. Wir besprachen diese Frage in einer kurz anberaumten Sitzung im Apollosaal der Staatsoper und kamen dann einmütig im Politbüro zu dem Beschluss, der Bitte der tschechoslowakischen Genossen zu entsprechen.«218
213 Ebd.; Andert / Herzberg, Honecker im Kreuzverhör, S. 90 f. 214 Protokoll Nr. 39 der Sitzung des Politbüros des ZK der SED vom 29.9.1989 ( BArch B, DY 30/ J / IV /2/2/2348, unpag.) - Dok. 24. 215 Vgl. ebd. 216 Vgl. ebd. 217 Ebd.; Schabowski, Das Politbüro, S. 69; ders., Der Absturz, S. 234 f. 218 Vgl. Andert / Herzberg, Honecker im Kreuzverhör, S. 90 f.
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Prag, 23.30 Uhr, Wohnung des KPTsch - Parteichefs, Bewilligung der Ausreise
In der nächtlichen Stille, kurz vor Mitternacht, klingelt das Telefon von KPTschParteichef Jakeš. Am anderen Ende der Leitung : der DDR - Botschafter Ziebart. Er informiert auf direkte Anweisung von Honecker, dass die DDR auf die tschechoslowakischen Vorschläge, die DDR - Bürger in der Botschaft ausreisen zu lassen, positiv reagiert : »1. Die DDR ist bereit, Spezialzüge für die DDR - Bürger, die sich in der BRD - Botschaft aufhalten, zur Verfügung zu stellen. Die DDR wird die Züge über Dresden zur BRD - Grenze überführen. Während der Fahrt werden allen Zuginsassen Reisedokumente der DDR ausgestellt, die für die Ausreise in die BRD erforderlich sind. Die DDR wird in den Zügen keine Kontrollen durchführen. 2. Die DDR wird die BRD direkt informieren, wann und über welche Grenzübergänge die Personen den zuständigen BRD - Organen übergeben werden. 3. Die DDR wird von der Bundesrepublik verlangen, dass sie in Bezug auf Prag die gleichen Maßnahmen beschließen möge, die vor kurzem in Berlin beschlossen wurden, d.h. nachdem die Menschen das Botschaftsgelände verlassen haben, die Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass keine unbefugten Personen mehr auf das Gelände der BRD - Botschaft gelangen können. 4. Die DDR wird die Bundesrepublik auffordern, dass die gesamte Aktion unter den Bedingungen einer vollen Diskretion durchgeführt wird, d.h. ohne westliche Medien und ohne Propaganda. 5. Die DDR schlägt vor, die Aktion am Sonntag, dem 1.10.1989, durchzuführen. 6. Die DDR bittet den Genossen Jakeš, der Durchführung der Aktion zuzustimmen.«219
Generalsekretär Jakeš spricht umgehend seine Zustimmung aus. Sein Einverständnis wird sofort nach Berlin übermittelt, an Honecker persönlich.220 New York, Hotelsuite des Bundesaußenministers, 17.00 Uhr New Yorker Zeit
In New York ist die 44. UNO - Vollversammlung gerade zu Ende gegangen und noch immer gibt es keine Neuigkeiten, keinen greifbaren Erfolg in der Sache der Prager Botschaftsflüchtlinge. Schon trägt sich Bundesaußenminister Genscher mit dem Gedanken, nochmals bei DDR - Außenminister Fischer bzw. bei dessen sowjetischem Amtskollegen Schewardnadse zu intervenieren. Gerade als Genscher im Begriff ist, gegen 17.00 Uhr New Yorker Zeit sein Hotel in Richtung Flughafen zu verlassen, klingelt das Telefon : Ein Mitarbeiter von DDR - Außenminister Fischer, Botschafter Manfred Niklas, ist am Apparat und informiert den Bundesaußenminister, dass der Ständige Vertreter der DDR in Bonn, Horst 219 Außenministerium der ČSSR an UN - Vertretung in New York vom 29. 9. 1989 ( AMZV Praha, Telegramy odeslané, 1989, sv. 9, pořadové číslo 3340). 220 Über die Vorschläge der DDR wurde neben Parteichef Jakeš auch das ZK - Mitglied Jozef Lenárt informiert. Vgl. ebd.
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Neubauer, am nächsten Morgen mit neuen Instruktionen ins Auswärtige Amt kommen werde. Mit den Worten »Herr Fischer lässt Herrn Genscher sagen, es lohne sich immer, mit ihm zu sprechen«,221 empfiehlt sich der DDR - Botschafter. Noch bevor Genscher sein Hotel verlässt, setzt er telefonisch Bundeskanzler Kohl und Kanzleramtschef Seiters über Niklas’ Anruf in Kenntnis. Alsdann lässt der Bundesaußenminister der DDR - Vertretung in Bonn seinen Dank für die Bemühungen Fischers ausrichten und Neubauer darum bitten, am nächsten Morgen nicht ins Auswärtige Amt, sondern ins Bundeskanzleramt zu kommen. Auch in dieser wirklich dramatischen Lage will er »Kleiderordnung«, das heißt die völker - und staatsrechtlichen Zuständigkeiten, wahren. Die DDR ist für die Bundesrepublik Deutschland nicht Ausland, deshalb ist für den Ständigen Vertreter der DDR das Bundeskanzleramt zuständig. Genscher bittet Rudolf Seiters, an dem Gespräch teilzunehmen.222 Über dem Atlantischen Ozean, nachts
Während einer Unterhaltung in New York erfährt der Bundesaußenminister, dass sein ungarischer Amtskollege Gyula Horn Probleme mit dem Rückflug nach Europa hat. Kurzerhand lädt er ihn ein, gemeinsam in der am Flughafen bereitstehenden Bundeswehrmaschine zurückzufliegen. Und Horn ergreift die sich ihm bietende Gelegenheit. Politisches Tauwetter liegt in der Luft, als die beiden Außenminister – Vertreter eines NATO - Mitglieds der eine, des Warschauer Pakts der andere – gemeinsam den nächtlichen Heimflug antreten. Genscher erinnert sich : »Diese Woche war in vieler Hinsicht symbolträchtig für die Veränderungen in Europa und in der Welt. Während ich noch darum rang, von der DDR - Führung die Zustimmung zur Ausreise der Deutschen aus Prag zu erhalten, übergab mir der Außenminister Ungarns, Gyula Horn, ein Stück des Stacheldrahts, der einmal an der ungarisch - österreichischen Grenze Europa geteilt hatte. Dieses Symbol der Einheit hat einen Ehrenplatz in meiner Bibliothek gefunden, um mich stets an das zu erinnern, was war, und auch daran, dass nichts unmöglich ist, nicht die Teilung Europas, aber auch nicht ihre friedliche Überwindung. [...] Und so saß, während ich auf dem Weg von New York nach Bonn war, neben mir der Außenminister eines Landes, das noch immer Mitglied des Warschauer Pakts war. Offen erörterten wir in seiner Gegenwart unsere Absichten und Sorgen für den nächsten Tag. Wir vertrauten ihm; er gehörte zu uns. Er hatte Menschlichkeit bewiesen, hatte gezeigt, dass Ungarn längst einen neuen Weg beschritten hatte.«223
221 Genscher, Erinnerungen, S. 19 f. 222 Ebd.; Genscher., »Wir sind zu Ihnen gekommen...«. In : Der Tagesspiegel vom 30.9.2009. 223 Ders., Erinnerungen, S. 20 f.
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30. September 1989 Bonn, Büro des Kanzleramtsministers, Botschaftsflüchtlinge dürfen ausreisen
Am Morgen des 30. September 1989, um 8.00 Uhr224 in der Früh, landet Außenminister Genscher in der Bundeshauptstadt. Für eine längere Ruhepause bleibt ihm keine Zeit, denn schon um 10.00 Uhr findet das gemeinsame Gespräch mit dem Bundesminister für besondere Aufgaben und Chef des Bundeskanzleramtes, Rudolf Seiters, und dem ständigen Vertreter der DDR in Bonn, Horst Neubauer, statt. Der DDR - Vertreter eröffnet das Gespräch zunächst mit massiven Vorwürfen : Die Bundesregierung dulde, entgegen internationalem Recht, den Zustrom von DDR - Bürgern in ihre Botschaften. Seiters und Genscher widersprechen : Die KSZE - Schlussakte von Helsinki, mit dem Recht auf Freizügigkeit, sei doch von der DDR selbst unterzeichnet worden. Doch die Vorwürfe sind nur der Auftakt, rasch kommt Neubauer zum Kern seines Anliegens. Und in der Sache hat er durchaus Wichtiges zu berichten : Die Prager Botschaftsflüchtlinge dürften ausreisen, erklärt der Bonner Vertreter Ost Berlins – allerdings nur über das Territorium der DDR und auch nur in eigens dafür bereitgestellten Sonderzügen. Dies sei der Wille von SED - Chef Honecker, womit die Souveränität der DDR bei der Ausreise der Flüchtlinge dokumentiert werden solle. Nach diesem diplomatischen Paukenschlag wird die Beratung erst einmal unterbrochen. Die beiden Bundesminister nehmen Kontakt mit Bundeskanzler Kohl auf, Neubauer setzt sich unterdessen mit Ostberlin in Verbindung.225 Als man danach wieder zusammenkommt, erklärt Genscher die grundsätzliche Bereitschaft der Bundesrepublik, auf den Vorschlag der DDR einzugehen – unter folgenden Bedingungen : Bonn sei an einer Lösung in der Nacht vom 30. September zum 1. Oktober interessiert. Er gehe davon aus, dass die DDR Busse für den Transport zum Bahnhof bereitstelle. Während Staatssekretär Sudhoff nach Warschau fliege,226 würden er und Seiters gemeinsam nach Prag reisen, um mit den Botschaftsflüchtlingen zu sprechen. Alsdann sieht der Plan vor, dass die beiden Bundesminister und deren Entourage die Ausreisewilligen auf ihrer Zugfahrt begleiten würden,227 »um den Menschen, die den Versprechungen der DDR - Repräsentanten zutiefst misstrauten, persönlich die Sicherheit zu geben, dass für sie jetzt die ungehinderte Ausreise garantiert sei«,
224 Huber, DDR - Flüchtlinge in der Botschaft 1989 ( http ://www.prag.diplo.de / contentblob /179 6820/Daten /141437/ erinnerungen_botschafterhuber_1989_d.pdf; 2.12.2009). 225 Langguth, 20 Jahre Mauerfall – Der zweite Mann ( http ://einestages.spiegel.de / static /topicalbumbackground - xxl /4842/ der_zweite_mann.html; 3.9.2013); Genscher, Erinnerungen, S. 20 f. 226 Ständiger Vertreter der DDR in Bonn, Neubauer, an stellv. Außenminister Krolikowski vom 30.9.1989 ( BStU, ZA, ZAIG 14395, Bl. 3–5) Dok. 27. 227 Ebd.
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wie sich Kanzleramtschef Seiters rückblickend an die damaligen Bonner Interessenlage erinnert.228 Neubauer willigt zunächst ein. Noch am selben Nachmittag, um 16.00 Uhr,229 fliegen Seiters und Genscher nach Prag; mit dabei sind u. a. Staatssekretär Priesnitz aus dem Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen, die Ministerialdirektoren Kastrup und Jansen aus dem Auswärtigen Amt, Ministerialdirigent Duisberg aus dem Kanzleramt sowie der Leiter des Außenministerbüros, Frank Elbe. Kurz bevor die Bundeswehrmaschine in Richtung Prag abhebt, wird Genscher noch einmal ans Telefon gerufen. Der Bundesaußenminister muss Unangenehmes erfahren : Die Situation hat sich abermals geändert. Der Ständige Vertreter der DDR sagt nun, abweichend von der nur wenige Stunden zuvor getroffenen Vereinbarung, dass die SED - Führung mit der Mitreise der beiden Bundesminister, Seiters und Genscher, in den Sonderzügen nicht einverstanden sei. Genscher bleibt nichts anderes übrig, als die jüngste Ostberliner Kehrtwende entrüstet zur Kenntnis zu nehmen. Innerlich aber ist der Bundesaußenminister tief besorgt, wie er unter diesen Umständen überhaupt noch das Vertrauen der Menschen in eine Fahrt quer durch das Territorium der DDR gewinnen solle. Seine eigene Anwesenheit und die seiner Begleiter hätten die ganze Angelegenheit für die Zufluchtsuchenden gewiss wesentlich glaubwürdiger gemacht, was die Durchführung der sensiblen Aktion wesentlich erleichtert hätte.230 Prag, Botschaft der Bundesrepublik
Am Abend erreichen die beiden Bundesminister und ihre Entourage den Prager Flughafen. Botschafter Huber heißt sie auf dem Airport willkommen und unterrichtet sie über die jüngsten Entwicklungen.231 Auch der Direktor im Außenministerium der ČSSR, Kadnár, begrüßt die Delegation aus Bonn. Zur schnellen Fahrt zur Botschaft wird eine Polizei - Eskorte zur Verfügung gestellt.232 Um 18.30 Uhr233 trifft die hochrangige Delegation im Palais Lobkowicz ein, steigt – über 228 Zit. nach Langguth, 20 Jahre Mauerfall – Der zweite Mann ( http ://einestages.spiegel.de / static /topicalbumbackground - xxl /4842/ der_zweite_mann.html; 3. 9. 2013). Vgl. auch Genscher, Erinnerungen, S. 20 f.; Ständiger Vertreter der DDR in Bonn, Neubauer, an stellv. Außenminister Krolikowski, vom 30.9.1989 ( BStU, ZA, ZAIG 14395, Bl. 3–5) – Dok. 27. 229 Huber, DDR - Flüchtlinge in der Botschaft 1989 ( http ://www.prag.diplo.de / contentblob /179 6820/Daten /141437/ erinnerungen_botschafterhuber_1989_d.pdf; 2.12.2009). 230 Langguth, 20 Jahre Mauerfall – Der zweite Mann ( http ://einestages.spiegel.de / static /topicalbumbackground - xxl /4842/ der_zweite_mann.html; 3.9.2013); Genscher, Erinnerungen, S. 20 f. 231 Genscher, Einnerungen, S. 20 f.; Huber, DDR - Flüchtlinge in der Botschaft 1989 ( http :// www.prag.diplo.de / contentblob /1796820/ Daten /141437/ erinnerungen_botschafterhuber_1989_d.pdf; 2.12.2009). 232 Kiessler / Elbe, Ein runder Tisch mit scharfen Ecken, S. 40. 233 Huber, DDR - Flüchtlinge in der Botschaft 1989 ( http ://www.prag.diplo.de / contentblob /1796 820/Daten /141437/ erinnerungen_botschafterhuber_1989_d.pdf; 2.12.2009).
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Schlafende hinweg – die Treppe hinauf ins obere Stockwerk zur Wohnung des Botschafters. Von hier aus telefoniert Genscher noch einmal mit dem Bonner DDR - Vertreter Neubauer, um ihn auf die möglicherweise fatalen Folgen aufmerksam zu machen, sollten er und Seiters mit den Botschaftsflüchtlingen nicht mitreisen dürfen. Neubauer gibt indes einsilbig zu verstehen, dass er keine neuen Weisungen aus Ostberlin erhalten habe.
Historische Stunde. Seiters und Genscher in der Botschaft. Foto: Antonín Nový
Nachdem noch einige letzte Einzelheiten besprochen worden sind, bedeutet Genscher Botschafter Huber, dass es jetzt wohl an der Zeit dafür sei, auf den Balkon zu gehen, um von dort die Menschen zu informieren. Was folgt, sind die wohl bewegendsten Minuten im Leben von Hans - Dietrich Genscher. Und ein spektakulärer, Epoche machender Moment, der nicht nur die deutsche, sondern auch die Weltgeschichte verändern wird. Um 18.58 Uhr234 betritt Genscher den Balkon des mit Stockbetten vollgestellten Kuppelsaals des Palais Lobkowicz. Mit der Schilderung der folgenden dramatischen Minuten und Sekunden wird Genscher später seine Memoiren beginnen:
234 Botschafter Huber an AA vom 2.10.1989. Betr. : Zufluchtsuchende Deutsche aus der DDR, hier: Lagebericht 2. 10. 1989 ( PA AA, Bo. Prag, 20682 E, unpag.); Huber, DDR - Flüchtlinge in der Botschaft1989( http ://www.prag.diplo.de / contentblob /1796820/ Daten /141437/ erinnerungenbotschafterhuber1989d. pdf; 2.12.2013) Dok. 35.
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»Wir traten hinaus. ›Liebe Landsleute‹ – ein Jubelsturm brach los. Dann begann ich : ›Wir sind gekommen, um Ihnen zu sagen...‹ [...] noch einmal unbeschreiblicher Jubel. [...] ›Der erste Zug fährt schon heute. Ich bitte Sie, dass vor allem die Kranken und Mütter mit kleinen Kindern Platz finden. [...] Die Züge werden die Grenze zwischen der Tschechoslowakischen Republik und der DDR überqueren.‹ Plötzlich wurde große Unruhe spürbar. ›Ich bitte Sie, mich anzuhören !‹ fuhr ich fort. ›Die Züge werden ohne Halt durchfahren. Sie müssen die Züge nicht verlassen. Ich weiß, was Sie empfinden. Sie sind alle in einem Alter, in dem ich war, als ich die DDR verlassen habe.235 Deshalb kann ich nachfühlen, was Sie in diesem Augenblick empfinden, auch Ihre Sorge.‹ Nur persönliche Glaubwürdigkeit, spürte ich, konnte die Menschen überzeugen : ›Wenn jemand, der einen Lebensweg, der ein Schicksal hinter sich hat wie ich, Ihnen sagt, ich verbürge mich dafür, dass die Versprechungen eingehalten werden, dann dürfen Sie das glauben.‹ Wieder gab es Beifall. ›In jedem Zug werden zwei Beamte von uns sein, aus dem Kanzleramt und aus dem Auswärtigen Amt. Hier stehen sie. [...] Sie können uns vertrauen.‹»236
Und danach – nach all den aufreibenden vorherigen diplomatischen Bemühungen, den vielen diffizilen Verhandlungen und den dramatischen Ereignissen – auf einmal läuft nun alles wie am Schnürchen. Bereits gegen 19.30 Uhr, also unmittelbar nach Genschers Ansprache auf dem Balkon, verlassen die ersten
... unbeschreiblicher Jubel ! Foto: Antonín Nový
235 Der gebürtige Hallenser ( Saale ) Genscher war 25 Jahre alt, als er im August 1952 über die damals noch offene Sektorengrenze Berlins in den Westen flüchtete. 236 Genscher, Erinnerungen, S. 22 f.
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Flüchtlinge die Botschaft.237 Die DDR hat, wie vereinbart, zu diesem Zweck Busse vor dem Botschaftsgelände bereitgestellt. Danach geht es in den voll besetzten Fahrzeugen direkt weiter zum Prager Vorortbahnhof Praha - Libeň, horní nádraží. Der erste Zug in die Freiheit setzt sich unmittelbar nach der Ankunft der Zufluchtsuchenden, bereits gegen 21.00 Uhr, in Bewegung. Die Ausreisewilligen sind überglücklich. Zwar müssen Genscher und Seiters außen vor bleiben, doch ein Teil des Prager Botschaftspersonals fährt ebenso mit wie der Rest der Bonner Delegation. Gemeinsam sichern sie die Fahrt der Flüchtlinge in den Westen.238
Unglaublich ... Der Traum wird Wirklichkeit ! Euphorie in Prag. Foto: pictures alliance/dpa
Bahnstrecke Prag - Bad Schandau - Hof, »Zug der Freiheit«
Der erste Zug nach Hof wird u. a. vom Leiter des Außenministerbüros, Frank Elbe, begleitet.239 Nach Einfahrt in den tschechoslowakischen Grenzbahnhof Děčín kommt der Zug zum Stehen. Auf dem Bahnhof warten einige DDR Bürger, irgendwie haben sie von der Ausreisemöglichkeit per Zug erfahren. Tschechoslowakische Polizisten, die ebenfalls vor Ort sind, bilden einen Absperr237 Botschafter Huber an AA vom 2.10.1989. Betr. : Zufluchtsuchende Deutsche aus der DDR, hier: Lagebericht 2.10.1989 ( PA AA, Bo. Prag, 20682 E, unpag.) – Dok. 35. 238 Ebd. 239 Ebd.; Kiessler / Elbe, Ein runder Tisch mit scharfen Ecken, S. 42–44; Kiessler / Elbe., Der Zug der Freiheit. In : Berliner Zeitung vom 1.10.1999.
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riegel. Doch die martialische Geste ist nur von kurzer Wirkung, schließlich fasst sich eine Familie ein Herz und geht mit ihren Koffern auf den Zug zu, andere folgen ihr. Hilfsbereite Hände strecken sich ihnen entgegen, um sie in den Zug zu ziehen. Die tschechoslowakische Polizei greift nicht ein, sie lässt die Menschen gewähren.240 Der Zug fährt danach weiter, über den nahen Grenzübergang Schöna erreicht er DDR - Gebiet, ohne dass etwas geschieht. Die Spannung unter den Zugreisenden nimmt ab. Über ihre Transistorradios können sie nun wieder deutschsprachige Rundfunksender empfangen. Dabei erfahren sie auch aus den Nachrichten der DDR - Sender, dass sich die SED - Regierung »aus humanitären Gründen« dazu entschlossen habe, die Botschaftsflüchtlinge auszuweisen. Der zynische Inhalt der Berichterstattung löst sowohl Empörung als auch Heiterkeit unter den Ausreisewilligen aus.241 Doch es kommt auch noch zu einer letzten verzweifelten Machtdemonstration des kommunistischen Regimes der DDR – zum massiven Einsatz von Bahnpolizei und Staatssicherheit. Im Bahnhof Reichenbach bleibt der Zug stehen. Frank Elbe, Leiter des Büros von Genscher, erinnert sich : »Das Bahnhofsgelände ist von der Bahnpolizei hermetisch abgesperrt. Etwa hundert Beamte der Staatssicherheit betreten den Zug. Sie gehen jeweils in Dreiergruppen in ein Abteil und nehmen den Menschen nach einem absurden System die Ausweise ab : Der erste nimmt den Ausweis ab, der zweite guckt hinein und der dritte steckt ihn in einen schwarzen Koffer. Es entsteht Unruhe. Die Stimmung gegen die Stasi - Beamten schlägt in Aggression um, als sich herausstellt, dass keine Ersatzpapiere bzw. Ausreisepapiere ausgestellt werden. Viele empfinden den Verlust ihrer Identitätspapiere als den letzten gemeinen Tritt, den ihnen das Regime verpasst. [...] Nachdem die Beamten den Zug verlassen haben, kommt es zu einer Demonstration ungewöhnlicher Art. Ein [...] Schlosser lehnt sich aus dem Abteilfenster und wirft sein Bargeld auf den Bahnsteig. Fast alle folgen seinem Beispiel. Der Bahnsteig ist innerhalb kurzer Zeit mit Banknoten und Münzen übersäht, aber auch mit Schlüsseln, Mitgliedsausweisen oder anderen Dingen, die Flüchtlinge im Westen nicht mehr brauchen werden.«242
Während Vertreter des SED - Regimes und dessen staatliche repressive Organe den Ausreisewilligen geradezu feindselig gegenüber auftreten, zeigen sich die normalen DDR - Bürger mit den Flüchtlingen solidarisch und bringen Verständnis und Sympathie zum Ausdruck. Ein Beamter der Reichsbahn nimmt seine rote Mütze ab und winkt. Gleisarbeiter in ihren schwarzen Arbeitsanzügen folgen seinem Beispiel und grüßen mit ihren Schutzhelmen. Bei der anschließenden Weiterfahrt durch Plauen stehen Hunderte von Menschen an den Fenstern ihrer Wohnkasernen und winken mit weißen Tüchern. Sogar ein mutiges Transparent mit der Aufschrift »Das Vogtland grüßt den Zug der Freiheit« wird entrollt.243 240 241 242 243
Kiessler / Elbe, Der Zug der Freiheit. In : Berliner Zeitung vom 1.10.1999. Kiessler / Elbe, Ein runder Tisch mit scharfen Ecken, S. 42–44. Ebd.; Kiessler / Elbe, Der Zug der Freiheit. In : Berliner Zeitung vom 1.10.1999. Ebd.
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»Im Zug verbreitet sich eine Stimmung der Ergriffenheit. Ein junger Mann steht fassungslos weinend vor mir und sagt : ›Nun weiß ich, dass es richtig war zu gehen, wenn die da draußen genauso denken wie wir. ‹«244 Auf den letzten Kilometern, vor dem Überqueren der streng bewachten Staatsgrenze zur Bundesrepublik Deutschland, wird indessen die Stimmung noch einmal zittrig und angespannt. Die Spannung ist mit Händen zu greifen : »Kurz vor der Grenze zur Bundesrepublik wird es noch einmal still. Der Zug fährt an kilometerlangen, perfekt installierten Sicherheitsanlagen vorbei. Als bei Gutenfürst der Zug den schwarz - rot - gold gestrichenen Grenzpfahl passiert, bricht ein unvorstellbarer Jubel los. Die Angst löst sich, die Menschen fallen sich weinend und lachend in die Arme. Für die einen ist eine Reise in eine neue Zukunft zu Ende gegangen. »Für uns«, resümiert Frank Elbe, »war es eine ungewöhnliche, bewegende Reise von New York über Prag nach Hof, die man nie vergessen wird.«245
Glückliche Familie. Foto: pictures alliance/dpa
244 Ebd. 245 Ebd.
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Die Meilensteine auf dem Weg zur Freiheit
Ostberlin / Prag, Absperrung des Botschaftsgeländes der Bundesrepublik
Der tschechoslowakische Außenminister Johanes befindet sich der UNO Vollversammlung wegen noch immer in New York, als er ein geheimes Blitztelegramm seines Ministeriums, abgeschickt um 21.10 Uhr mitteleuropäischer Zeit, erhält. Darin wird er informiert, dass Bundesaußenminister Genscher zusammen mit sechs weiteren hohen Beamten in der Prager Botschaft der Bundesrepublik eingetroffen ist, um die dort ausharrenden DDR - Bürger über deren plötzliche Ausreisemöglichkeit zu informieren. In diesen Minuten verlassen die ersten DDR - Bürger bereits die Botschaft.246 Zur gleichen Zeit mobilisiert die SED - Parteiführung gegen die potentiellen künftigen »Botschaftsbesetzer«. Wie aus dem Telegramm deutlich wird, setzt die Staats - und Parteiführung der DDR – zeitgleich mit ihrer Einwilligung in die Ausreise ihrer Staatsbürger – alle Hebel in Bewegung, um die Operation unter größtmöglicher Diskretion, d. h. ohne dass die westlichen Medien davon Kenntnis erhalten, durchzuführen. Außerdem werden von jetzt an intensive vorbeugende Maßnahmen ergriffen, damit sich die prekäre, für die DDR rufschädigende Situation in der Prager Botschaft nicht mehr wiederholt. So beantragt SED- Chef Honecker persönlich, unter Einschaltung des Ministers für Staatssicherheit Mielke und des DDR - Botschafters Ziebart, offiziell beim stellvertretenden tschechoslowakischen Außenminister Sadovský, eine weiträumige Absperrung des Botschaftsgeländes zu errichten, um das Gelände vor »unbefugten Personen« zu schützen. Gemeint ist damit »insbesondere [...] die Verhinderung des Zugangs zum Botschaftszaun, über welchen die DDR - Bürger in die Botschaft gelangen könnten«. Die tschechoslowakischen Genossen erfüllen den Wunsch der DDR - Funktionäre prompt. Ab 21.00 Uhr, mithin parallel zur einsetzenden Ausreisebewegung der in der Botschaft befindlichen DDR - Bürger, werden 150 tschechoslowakische Polizisten beauftragt, den Zugang zur Botschaft weiträumig abzuriegeln, damit in Zukunft die Zufluchtsuchenden die westdeutsche Vertretung erst gar nicht mehr erreichen können.247
246 Stellv. Außenminister Sadovský an Außenminister Johanes vom 30. 9. 1989 ( AMZV Praha, Telegramy odeslané, 1989, sv. 9, pořadové číslo 3341). 247 Ebd.
4.2 Oktober: Grenzschließung – Startschuss zur Revolution 1. Oktober 1989 Prag, Bahnhof Praha - Libeň, horní nádraží, Nacht vom 30. September zum 1. Oktober
Die Autobusse, mittels derer die Botschaftsflüchtlinge zum Prager Bahnhof gebracht werden, haben sowohl das tschechoslowakische Innenministerium (welches u. a. auch für die Staatssicherheit zuständig ist ) als auch das Ministerium für Staatssicherheit der DDR zur Verfügung gestellt. Die Weiterfahrt vom Bahnhof Praha - Libeň, horní nádraží, regelt dann die Staatsbahn der DDR, die Deutsche Reichsbahn. Deren Züge verlassen die tschechoslowakische Hauptstadt noch in der gleichen Nacht in rascher Folge, und zwar um 21.00 Uhr, 0.20 Uhr, 1.40 Uhr, 2.15 Uhr und 4.15 Uhr.249 Um 8.00 Uhr morgens fährt der letzte Autobus vom Botschaftsgelände in Richtung Bahnhof ab,250 der letzte Sonderzug setzt sich nur 30 Minuten später in Bewegung.251 Insgesamt reisen an diesem Tag rund 5 500 DDR - Bürger von Prag in die Bundesrepublik Deutschland aus; aus Warschau kommen auf die gleiche Weise noch einmal 809 Personen in den Westen.252 Lediglich 50 Prager Ausreisewillige erklären sich noch dazu bereit, das Angebot von Rechtsanwalt Vogel anzunehmen, also vorerst in die DDR zurückzukehren, verbunden mit der Zusicherung, binnen sechs Monaten den »Arbeiter- und Bauernstaat« legal verlassen zu dürfen. Die DDR bestätigt in diesem Zusammenhang nochmals ausdrücklich, dass dieses Angebot auch weiterhin seine Gültigkeit habe.253 Jene Personen, die auf die Zusicherungen Vogels eingegangen sind, verlassen Prag mit 36 Pkws in Richtung DDR.254 Dresden, Hauptbahnhof, 3.45 Uhr, »Es lebe Genscher !«
Ihre Fahrtroute führt die Ausreisewilligen, die in der Nacht von Prag aus in die Freiheit aufgebrochen sind, über den Grenzbahnhof Bad Schandau und Dresden ins bayerische Hof. In den meisten Fällen verläuft die Durchfahrt »ruhig und 249 MfS, ZAIG vom 1. 10. 1989 : Information über die Durchsetzung einer zentralen Entscheidung zur Ausreise der Botschaftsbesetzer von Prag und Warschau ( BStU, ZA, ZAIG 26516, Bl. 1 f.) – Dok. 28. 250 Botschafter Huber an AA vom 2.10.1989. Betr. : Zufluchtsuchende Deutsche aus der DDR, hier: Lagebericht vom 2.10.1989 ( PA AA, Bo. Prag, 20682 E, unpag.) – Dok. 35. 251 MfS, ZAIG vom 1. 10. 1989 : Information über die Durchsetzung einer zentralen Entscheidung zur Ausreise der Botschaftsbesetzer von Prag und Warschau ( BStU, ZA, ZAIG 26516, Bl. 1 f.). 252 Vorlage Duisbergs für Bundesminister Klein vom 2. 10. 1989. Betr. : Pressekonferenz am 2. Oktober 1989 um 14.30 Uhr. In : Dokumentation Deutsche Einheit, Dokument Nr. 54. 253 Ebd. 254 MfS, ZAIG vom 1. 10. 1989 : Information über die Durchsetzung einer zentralen Entscheidung zur Ausreise der Botschaftsbesetzer von Prag und Warschau ( BStU, ZA, ZAIG 26516, Bl. 1 f.).
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ohne Zwischenfälle«, wie die Transportpolizei Dresden zufrieden meldet.255 Was der Bahnpolizei indes weniger gefällt : Auf dem Dresdner Hauptbahnhof erschallen kurz nach Mitternacht aus den Sonderzügen die Rufe »Es lebe Genscher !« und »Freiheit !«. Zwei Männern und einer Frau gelingt es zudem, auf den Sonderzug aufzuspringen, der um 3.45 Uhr auf dem Dresdner Hauptbahnhof zum Halten kommt.256 Prag, Botschaft der Bundesrepublik, Abriegelung durch tschechoslowakische Sicherheitskräfte
Noch in der Nacht vom 30. September zum 1. Oktober – und damit parallel zur Abreise der Botschaftsflüchtlinge – beginnen tschechoslowakische Sicherheitsorgane fieberhaft damit, die Vertretung der Bundesrepublik deutlich stärker abzusichern als bisher. Damit sich eine Situation wie die vorausgegangene nicht noch einmal wiederholt, will die KPTsch künftig erheblich entschlossener gegen flüchtige DDR - Bürger vorgehen. Sofort nach Ankunft der ersten Neuankömmlinge versperren tschechoslowakische Polizeieinheiten den Botschaftseingang, die Seitenstraßen und den Zaun der Botschaft. Insbesondere der hintere Zaun wird hermetisch abgeriegelt, so dass DDR - Bürgern der Zugang zum Palais Lobkowicz über dessen Rückseite unmöglich wird.257 Dabei gehen die Sicherheitskräfte bisweilen auch gewaltsam vor : So wird eine Kleinfamilie unter Fußtritten und dem Einsatz von Gummiknüppeln am Übersteigen des Zaunes gehindert.258 Ostberlin, Ministerium für Staatssicherheit, am Morgen
Die Information über die von tschechoslowakischer Seite initiierten Abriegelungsmaßnahmen rund um die westdeutsche Botschaft in Prag erreicht die DDR- Staatssicherheit in Ostberlin am anderen Morgen. Ausdrücklich loben deren Funktionäre die – wie immer – ausgezeichnete Zusammenarbeit mit ihren Kollegen vom tschechischen Innenministerium, das für die Staatssicherheit zuständig ist.259 Die Kooperation zwischen dem MfS und der tschechoslowakischen 255 Transportpolizei Amt Dresden, Absicherungsbericht vom 1. 10. 1989 ( BStU, ASt. Dresden, BV Dresden, Abt. XIX 20229, Bl. 1 f.). 256 Information des MdI vom 2. 10. 1989. Betr. : Gewährleistung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit im Zusammenhang mit Sonderzugdurchfahrten am 1. 10. 1989 ( BStU, ZA, HA VII 6201, Bl. 14 f.). 257 MfS, ZAIG vom 1. 10. 1989 : Information über die Durchsetzung einer zentralen Entscheidung zur Ausreise der Botschaftsbesetzer von Prag und Warschau ( BStU, ZA, ZAIG 26516, Bl. 1 f.). 258 Vermerk des Leiters der Unterabteilung 21 des AA, Höynck, über ein Gespräch mit dem Botschafter der ČSSR in Bonn, Spáčil, über die Sicherung des freien Zugangs zur Botschaft in Prag am 1.10.1989 ( PA AA, 214, 139918 E, unpag.). 259 MfS, ZAIG vom 1. 10. 1989 : Information über die Durchsetzung einer zentralen Entscheidung zur Ausreise der Botschaftsbesetzer von Prag und Warschau ( BStU, ZA, ZAIG 26516, Bl. 1 f.).
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Staatssicherheit StB ( Státní bezpečnost ), durch eine Reihe verschiedener Vereinbarungen und Verträge geregelt, ist beiderseitig ebenso intensiv wie ergiebig. Bonn, Auswärtiges Amt, Proteste gegen das Vorgehen der tschechoslowakischen Polizei
Botschafter Huber berichtet über das Vorgehen der tschechoslowakischen Polizei im Allgemeinen und im Besonderen über den Zwischenfall mit den malträtierten DDR - Flüchtlingen am Botschaftszaun.260 In Bonn wird mit großem Unmut aufgenommen, dass die Polizei das Botschaftsgelände vollständig abgesperrt hat. Der Diplomat Wilhelm Höynck protestiert entschieden beim tschechoslowakischen Botschafter Dušan Spáčil gegen die Behinderung des freien Zugangs zur Botschaft und die Gewaltanwendung gegen Flüchtlinge. Doch der Botschafter streitet die Vorfälle der Misshandlung und des Gewalteinsatzes vehement ab. Spáčil rechtfertigt das tschechoslowakische Vorgehen vielmehr mit den Klauseln des Zusatzprotokolls zum Abkommen zwischen DDR und ČSSR zum visafreien Reiseverkehr.261 Außerdem sei der Zugang zur Botschaft doch offen, selbiger führe schließlich durch Türen und Eingänge, nicht jedoch über Zäune und Hecken. Als Höynck auch weiterhin eindringlich auf den tschechoslowakischen Botschafter einredet, setzt sich dieser mit seinem Außenministerium in Verbindung. Der stellvertretende Außenminister Pavel Sadovský veranlasst daraufhin den Abzug aller Polizeitruppen bis zum Abend des 1. Oktober.262 Prag, Botschaft der Bundesrepublik
Als der Morgen anbricht, sind sämtliche DDR - Flüchtlinge aus dem Palais Lobkowicz gen Westen abgereist. Die nun ungewohnt ruhige und menschenleere Atmosphäre empfindet Botschafter Huber als bedrückend : »Ich bin die ganze Nacht auf den verschiedenen Bahnsteigen. Um 8.00 Uhr lege ich mich schlafen. Schon lange weiß ich nicht mehr, was das eigentlich ist, Schlaf. Aber schon um 10.00 Uhr stehe ich wieder auf und schaue mir Hof, den Park, das Gebäude an. Eine gespenstische Stille liegt über dem infernalischen Chaos, das sich mir darbietet. Irgendwie fehlten mir die Flüchtlinge, aber das ist sicher schwer zu verstehen. Es war vielleicht auch die innere Leere, die man nach all den Wochen der 260 Vermerk des Leiters der Unterabteilung 21 des AA, Höynck, über ein Gespräch mit dem Botschafter der ČSSR in Bonn, Spáčil, über die Sicherung des freien Zugangs zur Botschaft in Prag am 1.10.1989 ( PA AA, 214, 139918 E, unpag.). 261 Vgl. Tantzscher, Die verlängerte Mauer, S. 51. Das Zusatzprotokoll verpflichtete beide Staaten zur Verhinderung nicht genehmigter Westreisen über das Territorium des jeweils Anderen. 262 Vermerk des Leiters der Unterabteilung 21 des AA, Höynck, über ein Gespräch mit dem Botschafter der ČSSR in Bonn, Spáčil, über die Sicherung des freien Zugangs zur Botschaft in Prag am 1.10.1989 vom 2.10.1989 ( PA AA, 214, 139918 E, unpag.).
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Anspannung fühlte. DRK - Helfer laden meine Frau und mich ein, im Hof mit ihnen eine Gulaschsuppe zu essen. Wir waren dankbar dafür.«263 Das Botschaftsgelände selbst befindet sich in einem katastrophalen Zustand. Überall liegen Müll, Lebensmittelreste und durch Exkremente verschmutzte Decken und Schlafsäcke herum. Am Vormittag beginnt das Botschaftspersonal, samt emsiger Unterstützung der DRK - Helfer, mit den Aufräumarbeiten.264 Den Botschaftseingang überwachen drei tschechoslowakische Polizisten. Im Laufe des Nachmittags klettern 16 Ausreisewillige über den Zaun, vor der Botschaft warten bereits wieder 250 bis 300 Menschen. Huber erklärt ihnen, dass eine Aktion wie am Vortag nicht noch einmal möglich sei. Danach ruft er Außenminister Genscher an und informiert über die entstandene Lage. Auf direkte Weisung Genschers lässt er schließlich um 17.00 Uhr die Pforten öffnen.265 Dies quittieren die Zufluchtsuchenden mit großem Jubel. Und dann geht es rasch. Bis 19.25 Uhr halten sich bereits wieder 1 622 DDR - Bürger in der Botschaft auf. Ab 20.40 Uhr gibt die tschechoslowakische Polizei nach und ermöglicht auch all jenen Ausreisewilligen, welche sie bis dato in den Zufahrtsstraßen festgehalten hatte, sich zur Botschaft zu begeben, woraufhin noch einmal rund 600 Personen ins Palais Lobkowicz kommen.266 Die Neuankömmlinge werden unverzüglich in die Aufräumarbeiten miteinbezogen und verwandeln das von ihren Vorgängern hinterlassene Chaos binnen kürzester Zeit wieder in ein ordentliches Zeltlager.267 Prag, tschechoslowakische Staatssicherheit, abgehörte Gespräche in der Botschaft
Die tschechoslowakische Staatssicherheit ist über die Ereignisse bestens informiert. Sie hört die Gespräche in der Botschaft der Bundesrepublik mit Hilfe ihrer Abhöranlagen ab. Unter Anwendung der Telefonüberwachung der Botschaftsleitungen berichtet am 1. Oktober die »Quelle« über die Situation in der Botschaft. Wie auch die tschechoslowakische Staatssicherheit festgestellt hat, sind am 30. September ungefähr 6 000 bis 6 500 DDR - Bürger in die BRD ausgereist. Die 263 Huber, DDR - Flüchtlinge in der Botschaft 1989 ( http ://www.prag.diplo.de / contentblob / 1796820/ Daten /141437/ erinnerungen_botschafterhuber_1989_d.pdf; 2.12.2009). 264 Vgl. Botschaft Prag an Präsidenten des DRK sowie AA, Referat 513, vom 8.10.1989 : Bericht der DRK - Einsatzleitung Prag vom 7.10.1989, gez. Schröder ( PA AA, 214, 139918 E, unpag.) – Dok 53. 265 Aufzeichnung der tschechoslowakischen Staatssicherheit vom 2. 10. 1989 über abgehörte Telefongespräche zwischen Botschafter Huber und Außenminister Genscher ( ABS Praha, Objektový svazek reg. c. 845 [»Obora«], část 9, Bl. 94 f.); Botschafter Huber an AA vom 2. 10. 1989. Betr. : Zufluchtsuchende Deutsche aus der DDR, hier : Lagebericht vom 2. 10. 1989 (PA AA, Bo. Prag, 20682 E ). 266 Botschafter Huber an AA vom 2.10.1989 ( ebd.). 267 Ebd.
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Staatssicherheit befürchtet, dass in nächster Zukunft weitere Tausende von Personen anreisen.268 Wie die »Quelle« weiter informiert, telefonierte Botschafter Huber heute mit Genscher persönlich. Der Außenminister forderte Huber auf, die Tore der Botschaft in Prag wieder zu öffnen und unter dem Schlagwort der »vorläufigen Maßnahme« alle Interessenten hinein zu lassen. Huber wies zwar auf die Tatsache hin, dass das Botschaftsgelände in einem schrecklichen Zustand sei, worauf er aus Bonn die Antwort erhielt, die Neuankömmlinge in der Botschaft sollen selbst aufräumen.269 Bonn, Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen, Neubauer gegen die Wiedereröffnung der Prager Botschaft
Im Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen protestiert derweil die DDR wegen der jüngsten Vorgänge in Prag. Deren Ständiger Vertreter, Horst Neubauer, beklagt sich beim westdeutschen Diplomaten Claus Duisberg über die neuerliche Wiederöffnung des Zugangs zum Palais Lobkowicz durch Botschafter Huber. Neubauer sieht darin einen bewussten »Wortbruch der Bundesregierung«, die doch versprochen habe, die bundesdeutschen Botschaften in Prag und Warschau künftig geschlossen zu halten. Duisberg entgegnet, der Vorwurf sei haltlos. Erstens hätte es eine solche Absprache nie gegeben. Wohl seien die Botschaften zur Sanierung und Renovierung kurzzeitig geschlossen worden, sollten aber baldmöglichst wieder eröffnet werden. Zweitens würden die DDR - Bürger aus westdeutscher Sicht weiterhin das Recht auf Ausreise besitzen. Das Gespräch verläuft »außerordentlich frostig«, bis es Neubauer erzürnt abbricht.270 New York, Unterredung Fischers mit Schewardnadse, nachlassende Unterstützung aus Moskau
DDR - Außenminister Fischer berichtet SED - Generalsekretär Honecker schriftlich von seinen wenig ergiebigen Beratungen mit dem sowjetischen Außenminister Schewardnadse auf der UN - Vollversammlung in New York. Fischer hatte darin den Standpunkt vertreten, dass man auch weiterhin als geschlossenes Bündnis gegen den westlichen Imperialismus und insbesondere gegen Westdeutschlands revanchistische Intentionen vorgehen müsse. Woraufhin Scheward268 Aufzeichnung der tschechoslowakischen Staatssicherheit vom 2. 10. 1989 über abgehörte Telefongespräche zwischen Botschafter Huber und Außenminister Genscher ( ABS Praha, Objektový svazek reg. c. 845 [»Obora«], část 9, Bl. 94 f.). 269 Ebd. 270 Gespräch des Leiters des Arbeitsstabes 20 im Bundeskanzleramt, Duisberg, mit dem Leiter der Ständigen Vertretung der DDR in Bonn, Neubauer, am 1. 10. 1989 ( BArch, B 136/21860, 22283105 Fa 3 NA 2).
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nadse geantwortet habe, »dass dies früher so [ gewesen sei ], heute aber nicht mehr gehe, denn heute habe man Demokratie«.271 Hinsichtlich der Situation in der Prager Botschaft habe Schewardnadses Empfehlung darin bestanden, dass die DDR doch die Ausreise der Flüchtlinge genehmigen solle, einerseits um für innenpolitische Entlastung zu sorgen und andererseits, um international den Ruf zu wahren. Fischer konstatiert gegenüber Honecker, dass die Bedeutung Westdeutschlands in der sowjetischen Außenpolitik erheblich zugenommen und man künftig vermehrt mit nachlassender Unterstützung aus Moskau zu rechnen habe.272 Für die DDR könnte die Zäsur größer kaum sein; Honecker ist ab diesem Moment auf sich gestellt. Künftig kann er nicht mehr ohne Weiteres auf die Unterstützung der Sowjetunion, in militärischer und politischer Hinsicht, bauen. Ostberlin, Ministerium für Staatssicherheit, Krisensitzung am Sonntag
Eine für den heutigen Sonntag anberaumte Krisenberatung des Leiters der zentralen Koordinierungsgruppe ( ZKG ) des Ministeriums für Staatssicherheit, Gerhard Niebling, mit Leitern der Bezirkskoordinierungsgruppen ( BKG ) verdeutlicht, dass sich die DDR - Führung über den Ernst der Lage sehr wohl im Klaren ist. Die Massenflucht der eigenen Bevölkerung hält an, ebenso der Druck auf die Grenzen. Reisen in die sozialistischen Nachbarländer werden immer häufiger zur Ausreise in den Westen »missbraucht«. Auch die Zahl der regulären Ausreiseanträge wächst beständig. Die Lage in Prag habe sich insbesondere im Zusammenhang mit den Vorbereitungen zum 40. Jahrestag der DDR zu einem »schwierigen, uns politisch stark belastenden Fakt« entwickelt. Auch die ČSSR bekomme dadurch Probleme, die bis an die Grenzen der Zumutbarkeit gingen. Im Hinblick auf die tschechoslowakischen Interessen hätte es aber keinen anderen Weg gegeben. Daher »wurden die Erpresser ohne Identitätsbescheinigung und Entlassungsurkunde aus der Staatsbürgerschaft der DDR in die BRD abgeschoben«. Viele Fragen seien bei dieser Notlösung allerdings offen geblieben, insbesondere die Problematik der Staatsbürgerschaft sowie Vermögens - und Wohnungsfragen. Im Übrigen geben sich die Funktionäre der Staatssicherheit keinerlei Illusionen hin, dass damit »künftige Erpressungsversuche« hinfällig würden. Im Gegenteil, so ihre Prognose, werde eine regelrechte Sogwirkung einsetzen, der begegnet werden müsse. Denn die Erklärung der Bundesrepublik, dass ihre Botschaft geschlossen sei, sei »doppelbödig und gebe keine Garantie«.273 271 Außenminister Fischer an SED - Generalsekretär Honecker vom 1. 10. 1989 ( BArch B, DY 30/ IV/2/2039/342, Bl. 49–51) – Dok. 32. 272 Ebd. 273 Thesen für Ausführungen des Leiters der Zentralen Koordinierungsgruppe des MfS, Niebling, vor Leitern der Bezirkskoordinierungsgruppe zu den Botschaftsbesetzungen vom 1. 10. 1989 (BStU, ZA, ZAIG 26516, Bl. 3–10).
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Die Stimmung in der Bevölkerung hat sich im Zusammenhang mit der Massenausreise radikal verschlechtert. Betrogen fühlen sich insbesondere diejenigen, welche die Botschaft freiwillig verlassen hatten, um die zeitlich gestaffelten Angebote von Rechtsanwalt Vogel zu nutzen. Aber auch alle übrigen Antragsteller fühlen sich nun geprellt, da sie für ihr gesetzeskonformes Verhalten bestraft worden sind. Damit spitzt sich die Gesamtlage noch weiter zu. Zu erwarten ist deshalb eine wachsende Zahl von Versuchen, die DDR illegal zu verlassen, eine Zunahme von Ausreiseanträgen sowie »Zusammenrottungen und öffentlichkeitswirksame Handlungen, wie letzten Montag in Leipzig«. Und als ob dies alles nicht schon genug wäre, wird das Ganze auch noch von einer »Eskalation der Medienkampagne des Gegners« begleitet.274 Die daraus zu ziehenden Konsequenzen kommen in einem anderen Empfehlungsschreiben der Stasi zur Sprache : So sei es nötig, Ausreiseanträge grundsätzlich schneller als bisher zu bearbeiten. Insbesondere müsse die Ablehnungspraxis von Grund auf geändert und abschlägige Antworten sollten nur noch in Ausnahmefällen ausgesprochen werden. Nichtsdestotrotz müssten natürlich auch weiterhin solche »Personen, die schwankend sind oder sich ruhig verhalten, zurückgewonnen werden«. Und selbstverständlich muss die Staatssicherheit primär an ihre eigenen Interessen denken. Die nun massenhaften Übersiedlungen sollen intensiv dazu genutzt werden, um neue Spione im Westen zu platzieren.275 2. Oktober 1989 Ostberlin, Parteiorgan »Neues Deutschland« : »Keine Träne nachweinen«
Ein in der heutigen Ausgabe der Tageszeitung »Neues Deutschland« erschienener Artikel gibt bekannt, dass »die ehemaligen Bürger der DDR, die sich rechtswidrig in den Botschaften der BRD in Prag und Warschau aufhielten, über die Deutsche Demokratische Republik in Zügen der Deutschen Reichsbahn in die BRD abgeschoben« worden seien. Schon die Überschrift – »Sich selbst aus unserer Gesellschaft ausgegrenzt« – macht deutlich, in welche Richtung der Artikel zielt; es folgen gleichermaßen wüste Beschimpfungen an die Adressen der Botschaftsflüchtlinge wie der Bundesregierung : »Die DDR sah sich dazu [ der Erteilung einer Ausreisebewilligung ] aus humanitären Gründen veranlasst angesichts der in den BRD - Vertretungen entstandenen unhaltbaren Situation, die beim eventuellen Ausbruch von Seuchen auch Menschen der betreffenden Länder bedroht hätte. Daran hätte auch die Tatsache nichts geändert, dass die entstandene Situation nicht durch uns verschuldet war, sondern durch die BRD auf Grund der Verletzung der völkerrechtlichen
274 Ebd. 275 Leiter der BV Dresden des MfS, Generalmajor Böhm, an alle Diensteinheiten vom 2. 10. 1989 (BStU, ASt. Dresden, BV Dresden, Abt. XX, 0185, unpag.).
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Normen für Botschaften. Diese können in Europa kein Asyl gewähren. [...]. Zügellos wird von Politikern und Medien der BRD eine stabsmäßig vorbereitete ›Heim - ins - Reich‹ - Psychose geführt, um Menschen in die Irre zu führen und auf einen Weg in ein ungewisses Schicksal zu treiben. Das vorgegaukelte Bild vom Leben im Westen soll vergessen machen, was diese Menschen von der sozialistischen Gesellschaft bekommen haben und was sie nun aufgeben. Sie schaden sich selbst und verraten ihre Heimat. [...] Sie haben sich selbst von ihren Arbeitsstellen und von den Menschen getrennt, mit denen sie bisher zusammen lebten und arbeiteten. Bar jeder Verantwortung handelten Eltern auch gegenüber ihren Kindern, die im sozialistischen deutschen Staat wohlbehütet aufwuchsen und denen alle Kindereinrichtungen, alle Bildungs und Entwicklungsmöglichkeiten offenstanden. [...] Sie alle haben durch ihr Verhalten die moralischen Werte mit Füßen getreten und sich selbst aus unserer Gesellschaft ausgegrenzt. Man sollte ihnen deshalb keine Träne nachweinen. [...] Die heuchlerischen Erklärungen Bonner Politiker, ihre unverhohlenen Versuche, sich in die inneren Angelegenheiten der DDR einzumischen, der großdeutsche nationalistische Rummel, den sie veranstalten – dies alles läuft nur auf Konfrontation hinaus und schadet einer vernünftigen Zusammenarbeit der beiden deutschen Staaten, was den Interessen der Menschen, ja den Interessen Europas zuwiderläuft.«276
Verfasst wurde der Kommentar vom Chefredakteur der Zeitung »Neues Deutschland« persönlich, die zynische Formulierung »man sollte ihnen deshalb keine Träne nachweinen« stammt indes von Erich Honecker höchst selbst. Doch statt innenpolitische Entspannung zu erreichen, bewirkt der Zeitungsartikel das exakte Gegenteil. Der Kommentar steigert noch den Unmut über ein Regime, das aufgrund seiner ideologischen Beschränktheit nicht imstande zu sein scheint, die Ursachen für die Probleme zu erkennen, die den Massenexodus bewirkt haben. Prag, Botschaft der Bundesrepublik
Im Laufe des Tages steigt die Zahl der Zufluchtsuchenden im Palais Lobkowicz weiter stetig an. Trotz des gestrigen Abzugs der tschechoslowakischen Polizeitruppen kommt es in der Stadt immer wieder zu gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen flüchtigen DDR - Bürgern und tschechoslowakischen Sicherheitskräften. Ein Ausreisewilliger ruft früh morgens in der Botschaft an und berichtet, dass tschechoslowakische Polizisten in der Zugangsstraße zur Botschaft, in der »Vlašská«, eine Kette bilden würden. Rund fünfzig Menschen, die zur Botschaft wollten, sei körperliche Gewalt angetan worden. Eine andere Person wird mit Handschellen an eine Parkbank gefesselt und erst infolge des beherzten Eingreifens von Journalisten wieder freigelassen. Ebenfalls in Handschellen wird eine Frau vom Botschaftszaun weggeführt, woran auch der Protest eines Botschaftsmitarbeiters nichts zu ändern vermag. Wie Huber zutreffend feststellt, erfolgt die Abriegelung der Botschaft durch die tschechoslowakische
276 »Sich selbst aus unserer Gesellschaft ausgegrenzt«. In : Neues Deutschland vom 2. 10. 1989 – Dok. 31.
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Tschechoslowakische Polizisten versuchen, die Flüchtlinge am Betreten der Botschaft zu hindern. Foto: Antonín Nový
Polizei weder systematisch noch hermetisch.277 Vielmehr sollen die Flüchtlinge verunsichert und zu Gewaltakten provoziert werden. Prag, Staatssicherheit der ČSSR: Palais Lobkowicz hermetisch abriegeln
Tatsächlich ist die tschechoslowakische Staatssicherheit längst im Begriff, auch Maßnahmen zu ergreifen, die das Gebiet rund um das Palais Lobkowicz hermetisch abriegeln, um die DDR - Bürger so am Zutritt zum Botschaftsgelände zu hindern. Zu den Maßnahmen gehören neben der Kontrolle von Personalien auch die Verhinderung des Überkletterns des Botschaftszaunes sowie im Falle eines gewaltsamen Durchbrechens der Absperrung die sofortige Übergabe der fraglichen Person an die zuständigen Stellen der DDR. Für die Umsetzung werden etwa 320 zusätzliche Polizisten eingesetzt.278 Inzwischen haben die USA ganz offiziell um die Abschirmung ihres angrenzenden Botschaftsgeländes gegen
277 Botschafter Huber an AA wegen des Zugangs zur Botschaft vom 2. 10. 1989 ( PA AA, 513, B 85 Nr. 2346 E, unpag.). 278 Abteilungsleiter der II. SNB - Verwaltungsabteilung Vykypěl an stellv. Innenminister Lorenc vom 2.10.1989 ( ABS Praha, Objektový svazek reg. č. 845 [»Obora«], část 9, Bl. 187–204).
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eventuelle Eindringlinge gebeten, was die tschechoslowakische Staatssicherheit auch ausgesprochen bereitwillig wahrnimmt.279 Die Botschaft der Bundesrepublik besteht hingegen darauf, dass die DDR Bürger freien Zugang zum Palais Lobkowicz erhalten. Dem Einlass der Ausreisewilligen durch den Haupteingang der Botschaft kann daher auch die Geheimpolizei nicht allzu viel entgegensetzen. Eine vollständige Blockade des gesamten Bereichs ist aufgrund der offiziellen Funktion der Botschaft nicht möglich.280 Botschafter Huber reicht dennoch beim zuständigen Direktor der 4. Territorialabteilung im Außenministerium der ČSSR, Milan Kadnár, seinen Protest gegen die polizeilichen und geheimpolizeilichen Maßnahmen ein.281 Prag, Außenministerium der ČSSR : Bundesrepublik provoziert Flüchtlingsdrama
Das tschechoslowakische Außenministerium wiederum beschuldigt seinerseits die Bunderegierung auf einer Pressekonferenz, ein neues Flüchtlingsdrama zu provozieren. Erneut befänden sich Hunderte Zufluchtsuchende im Palais Lobkowicz, weil Westdeutschland nicht bereit sei, die DDR - Staatsbürgerschaft anzuerkennen. Außerdem stelle die Aufnahme neuer Flüchtlinge einen Bruch des Berliner Abkommens von Anfang September dar, wonach die Botschaften keine neuen Flüchtlinge mehr aufnehmen sollten.282 Zugleich ist die tschechoslowakische Seite laufend über die Ereignisse in der Botschaft informiert. Eine von der Staatssicherheit eingesetzte »Quelle« beschafft, indem sie den Telefonverkehr der Botschaft abhört, zuverlässig genaue Informationen, etwa, dass »man bis Mitte der Woche weitere 1 000 Leute erwartet« und dass dieser Fakt »die Schlacht der Freiheit« genannt wird.283 Bonn, Auswärtiges Amt, Proteste gegen tschechoslowakische Polizeimaßnahmen
Staatssekretär Jürgen Sudhoff trifft sich infolge der Ausschreitungen zwischen Zufluchtsuchenden und Polizisten im Auswärtigen Amt mit dem tschechoslowakischen Botschafter Dušan Spáčil. Er erhebt schärfsten Protest ob der gewaltsamen Übergriffe auf die Flüchtlinge : »Man werde dies nicht hinnehmen. So könn-
279 Ebd. 280 Ebd. 281 Botschafter Huber an AA vom 2.10.1989. Betr. : Zufluchtsuchende Deutsche aus der DDR, hier: Zugang zur Botschaft ( PA AA, 214, 139918 E, unpag.). 282 DPA - Meldung vom 2.10.1989, 18.36 Uhr ( PA AA, Bo. Prag, 20683 E, unpag.). 283 Bericht der tschechoslowakischen Staatssicherheit an Innenminister vom 2. 10. 1989 ( ABS Praha, Objektový svazek reg. č. 845 [»Obora«], část 9, Bl. 94 f.).
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ten sich die bilateralen Beziehungen nicht entwickeln.«284 Indes weist der Botschafter Sudhoffs Protest entschieden zurück. Seinen Angaben zufolge hätten die tschechoslowakischen Polizeikräfte lediglich ihre Arbeit getan. Sie würden die »Wege zur Botschaft sichern« und die »öffentliche Ordnung aufrechthalten«. Spáčils Vorschlag, auch den Botschaftseingang wieder durch Polizisten absichern zu lassen, stößt bei Sudhoff auf Ablehnung und Unverständnis. Den Ausführungen Spáčils hält der Staatssekretär entgegen, dass das gewaltsame Vorgehen der tschechoslowakischen Sicherheitskräfte »durch nichts zu entschuldigen« sei.285 Bonn, Bundeskanzleramt, deutsch - deutsche Konflikte
Im Kanzleramt trifft sich der Bundesminister für besondere Aufgaben und Chef des Bundeskanzleramtes, Rudolf Seiters, mit dem Ständigen Vertreter der DDR in Bonn, Horst Neubauer. Kritisch merkt der Bundesminister an, dass der Ablauf der Ausreise der Botschaftsflüchtlinge in einzelnen Punkten von den gegebenen Zusicherungen abgewichen sei, die der Ständige Vertreter zuvor am 30. September gemacht habe. So hätten etwa die DDR - Flüchtlinge keine Ausreisepapiere erhalten. Er bittet darum, den Betroffenen nachträglich eine offizielle Ausreisegenehmigung zu erteilen. Schließlich wäre deren Ausreise mit Zustimmung der DDR - Regierung und nach Kontrolle der zuständigen Behörden erfolgt. Neubauer, aufgrund des gestrigen Gespräches mit Duisberg wohl noch immer zornig, negiert Seiters Darstellung des Ablaufs und gibt sich in jeder Hinsicht unkooperativ.286 Leipzig, Montagsdemonstration : »Wir sind das Volk !«
Die SED - Parteizeitung »Neues Deutschland« macht heute mit der Schlagzeile »In den Kämpfen unserer Zeit stehen DDR und China Seite an Seite« auf. Nur einen Tag zuvor hatte SED - Politbüromitglied Egon Krenz in Peking an den Feierlichkeiten zum 40. Jahrestag der Gründung der Volksrepublik China teilgenommen. Dieser Zusammenhang weckt Befürchtungen, dass auch die SED bereit sein könnte, Demonstrationen gewaltsam niederzuschlagen, ganz so, wie es die chinesischen Machthaber unlängst am 4. Juni auf dem Platz des Himmlischen Friedens
284 Vermerk des Leiters der Unterabteilung 21 des AA, Höynck, über ein Gespräch mit dem Botschafter der ČSSR in Bonn, Spačil, über die Sicherung des freien Zugangs zur Botschaft in Prag vom 2.10.1989 ( PA AA, 214, 139918 E, unpag.). 285 Ebd. 286 Vgl. Vermerks Duisbergs über Gespräch des Chefs des Bundeskanzleramtes, Seiters, mit dem Leiter der Ständigen Vertretung der DDR, Neubauer, am 2. 10. 1989 ( BArch, B 136/21860, 22283105 Fa 3 NA 2).
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getan hatten.287 Nichtsdestotrotz nehmen an der heutigen Montagsdemonstration in Leipzig fast 20 000 Menschen teil – so viele wie noch nie. Die dort verkündeten Losungen lauten unter anderem »Wir bleiben hier« und »Freiheit für die Gefangenen«. Doch wird bei dieser Demonstration auch zum ersten Mal die Parole »Wir sind das Volk« gerufen. Am Ende greift eine Kompanie der Volkspolizei mit Sonderausrüstung, mit Schilden und Schutzhelmen, Schlagstöcken und Reizkörpern ein. Menschen werden verletzt, etliche Demonstranten festgenommen.288 Dresden, Bezirksverwaltung für Staatssicherheit
Der Leiter der Bezirksverwaltung für Staatssicherheit Dresden, Generalmajor Horst Böhm, sieht die Schuld an der Massenabwanderung in den »medialen Hetzkampagnen« Westdeutschlands. Die BRD setze alles daran, die »Vorbereitungen des 40. Jahrestages der DDR am 7. Oktober durch die geschürte Fluchtpsychose eskalieren zu lassen«.289 Kollateralschäden infolge der Ausweisung, insbesondere hinsichtlich ihrer Wirkung auf die bewaffneten Organe, das MfS und andere bedeutsame Institutionen des Staates seien, soweit als möglich, zu begrenzen. Die in die DDR »zurückgereisten Erpresser«, die dem Angebot von Rechtsanwalt Vogel gefolgt sind, dürften bei der Ausreise gegenüber den im Rahmen der »Aktion Zug« – so der interne Deckname der Operation – ausgewiesenen Personen nicht benachteiligt werden. Wo Ausreisen bewilligt werden, sollten vorrangig die Spionageinteressen der Staatssicherheit Berücksichtigung finden. Heißt : Erklärt der Staat seine Einwilligung zur Übersiedlung in die BRD, so sollten aus politisch - operativen Gründen heraus gemäß Befehl 2/88290 v. a. solche Personen vorzugsweise bedacht werden, die im Auftrag des Ministeriums für Staatssicherheit zu Spionageaktivitäten in der Bundesrepublik Deutschland herangezogen werden können.291
287 Bundeszentrale für politische Bildung, Chronik – Oktober 1989 ( http ://www.chronik - der mauer.de / index.php / de / Chronical / Detail / month / Oktober / year /1989; 15.5.2013). 288 Ebd. 289 Leiter der BV Dresden des MfS, Generalmajor Böhm, an Leiter der Struktureinheiten vom 2.10.1989 ( BStU, ASt. Dresden, BV Dresden, Abt. XX, 9185, Bl. 1–3). 290 Zum Befehl Nr. 2/88 des Stellvertreters des Ministers der HVA vom 20. 6. 1988 zur politisch operativen Vorbereitung der Hauptverwaltung A [ Aufklärung ] auf besondere Lagebedingungen im Operationsgebiet BRD und Westberlin vgl. Knabe, West - Arbeit des MfS, S. 507. 291 Leiter der BV Dresden des MfS, Generalmajor Böhm, an Leiter der Struktureinheiten vom 2.10.1989 ( BStU, ASt. Dresden, BV Dresden, Abt. XX, 9185, Bl. 1–3).
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3. Oktober 1989 Prag, Botschaft der Bundesrepublik, 3.45 Uhr, Schließung der Tore
Zwischenzeitlich hat die Zahl der Botschaftsflüchtlinge geradezu explosionsartig zugenommen. Mitten in der Nacht, um 3.45 Uhr, verfügt Huber auf Weisung des Bonner Staatssekretärs des Auswärtigen Amts, Sudhoff, die Schließung der Botschaftspforte. Auch das DRK sieht sich inzwischen außerstande, die Verantwortung für die vielen Menschen noch zu übernehmen. Unmittelbar danach lässt der Botschafter aber doch noch einige Familien mit Kleinkindern und Säuglingen herein, insgesamt rund 50 Personen. Zu diesem Zeitpunkt halten sich ca. 4 000 Menschen in der Botschaft auf. Gegen 16.30 Uhr beschließt Huber gegen den dringenden Rat der Ärzte, das Tor ein weiteres Mal für Frauen und Kinder zu öffnen, da die Temperaturen in der Zwischenzeit empfindlich gefallen sind. 600 von ihnen strömen daraufhin auf das völlig überfüllte Botschaftsgelände. Sie werden im Heizungskeller untergebracht, dem einzig verbliebenen freien Raum.292 Am Nachmittag überlassen viele junge Männer ihre Unterkünfte in der Botschaft jenen Frauen und Kindern, die seit dem frühen Morgen vor der Botschaftspforte ausgeharrt hatten. Dieser Umzug geschieht ohne Probleme, die
Menschenandrang vor der Botschaft der Bundesrepublik. Foto: Antonín Nový 292 Huber, DDR - Flüchtlinge in der Botschaft 1989 ( http ://www.prag.diplo.de / contentblob / 1796820/ Daten /141437/ erinnerungen_botschafterhuber_1989_d.pdf; 2.12.2009).
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Kooperation und Solidarität der Menschen untereinander ist in diesen schicksalhaften Stunden ohnegleichen. Derweil versammeln sich vor dem Botschaftsgelände bis zum späten Nachmittag weitere ca. 2 000 Personen, die dort zunächst noch »ruhig und bewegungslos« warten.293 Gegen Abend halten sich somit bereits wieder 4 500 Flüchtlinge in der Botschaft auf, weitere 2 000 warten davor auf Einlass. Die Situation vor Ort ist unerträglich. Alles drängt sich auf engstem Raum zusammen, die Wartezeiten vor den Toiletten betragen über zwei Stunden. Das Küchenpersonal hat keinen Platz mehr zum Arbeiten. Entsprechend schlecht steht es auch um die hygienischen Verhältnisse : Nach den Berichten des Roten Kreuzes sind sie schlimm und nicht zu verantworten. Nur unter allergrößten Schwierigkeiten ist es überhaupt möglich, den Müll per Lastwagen vom Botschaftsgelände zu schaffen. Für das DRK arbeiten zwei Ärzte und mehrere Schwestern und Betreuer rund um die Uhr. Eine Lösung in den nächsten Stunden ist unerlässlich.294 Auch die Lage vor der Botschaft spitzt sich jetzt dramatisch zu. Die Prager Polizisten beobachten unter jenen zurückgebliebenen DDR - Bürgern, die nicht mehr auf das Botschaftsgelände vorgelassen werden konnten, eine wachsende Aggressivität, die sich »vor allem gegen die Sicherheitsorgane, aber auch gegen einfache Bürger der ČSSR wendet«.295 Prags Botschafter in Ostberlin, František Langer, schätzt ein, dass die KPTsch - Führung vor allem eines sei : ratlos. Einerseits wolle man nicht mit harten Mitteln gegen die Bürger des ostdeutschen Verbündeten vorgehen, andererseits sehe man sich selbst großen Gefahren ausgesetzt, sofern man der Angelegenheit freien Lauf lasse.296 Prag, Straße U Brusnických kasáren, abgestelltes Fahrzeug mit Baby
Fußgänger entdecken in einem abgestellten, abgeschlossenen Fahrzeug ein vier Monate altes Baby. Sie informieren umgehend die Behörden. Das Baby wird per Nottransport auf die Säuglingsstation des Krankhauses im Prager Stadtteil 4 Podolí gebracht. Kurz darauf melden sich auf der Polizeidienststelle in der Vlašská - Straße, ganz in der Nähe der westdeutschen Botschaft, die Eltern – es handelt sich um DDR - Bürger. Der Vater des Säuglings ist ein Leutnant der Nationalen Volksarmee. Es besteht der begründete Verdacht, dass er den Vorsatz hatte, zusammen mit seiner Frau und seinen zwei Kindern auf das Botschaftsgelände zu gelangen. Die Polizisten handeln sofort. Bereits am nächsten Tag wird 293 Botschafter Huber an AA vom 3.10.1989. Betr. : Zufluchtsuchende Deutsche aus der DDR, hier: Lagebericht vom 3.10.1989 ( PA AA, 513, B 85 Nr. 2347 E, unpag.). 294 Ebd. 295 Telefonaufzeichnung des ČSSR - Botschafters Langer in der DDR vom 3. 10. 1989 ( SAPMO BArch, DY 30/ IV /2/2035/35, Bl. 235 f.). 296 Ebd.
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das Ehepaar den eigens angereisten Mitarbeitern der DDR - Staatssicherheit übergeben und per Flugzeug in die DDR zwangsabtransportiert.297 Bonn, Bundeskanzleramt, vormittags, immenser Handlungsdruck
Während das Palais Lobkowicz förmlich »aus allen Nähten« platzt, nimmt der Handlungsdruck auf die Bundesregierung immer weiter zu. Den ganzen Vormittag über finden im Bonner Kanzleramt laufend interne Beratungen statt. Außenminister Genscher sagt seine eigentlich für den heutigen Tag geplante Teilnahme am EG - Außenministerrat in Luxemburg kurzfristig ab. Stattdessen kommen unter seiner Leitung Vertreter der Bundesregierung im Kanzleramt zu einer Sondersitzung zusammen. Kohl selbst ist nicht anwesend, da er sich daheim in Oggersheim gerade von den Folgen einer Operation erholt, doch ist der Bundeskanzler laufend telefonisch in die Beratungen mit eingeschaltet. Vergeblich versucht Kohl an diesem Vormittag, mit Honecker zu telefonieren. Derweil wird im Kanzleramt die Meinung vertreten, dass die DDR wohl um eine »Anschlussregelung« noch in dieser Woche nicht umhinkommen werde.298 Bonn, Auswärtiges Amt, vormittags, fieberhafte Verhandlungen
Zur gleichen Zeit ist auch das Bonner Außenministerium Schauplatz fieberhafter diplomatischer Verhandlungen.299 Vormittags trifft sich der Ministerialdirektor im Auswärtigen Amt, Dieter Kastrup, mit dem tschechoslowakischen Botschafter Spáčil. Die vorgebrachten Argumente beider Seiten sind im Wesentlichen noch immer die gleichen wie zuletzt; entsprechend konträr bleiben die Positionen der Verhandlungspartner. Eine Kompromisslösung will sich daher nicht abzeichnen.300 Wenig später telefoniert Kastrup mit dem Ständigen Vertreter der DDR, Horst Neubauer. Der gibt sich auch an diesem Tag verärgert. Hintergrund sind die angeblich nicht eingehaltenen Absprachen zwischen Bonn und Ostberlin bezüglich der Abschirmung der Botschaften in Prag und Warschau vor dem Ansturm weiterer DDR - Ausreisewilliger. Auch hier bleiben die diplomatischen Fronten verhärtet. Die vorgebrachten Argumente beider Verhandlungsseiten
297 Bericht der tschechoslowakischen Staatssicherheit vom 4. – 5. 10. 1989 ( ABS Praha, Objektový svazek reg. č. 845 [»Obora«], Bl. 209–212). 298 DPA - Meldung vom 3. 10. 1989 : Hoffnungen auf eine »Anschlussregelung« ( BStU, ZA, ZAIG 22609, Bl. 17). 299 Information des Pressereferats des AA 220/89 vom 3.10.1989 ( PA AA, 214, 139918 E, unpag.). 300 Vgl. Vermerk des Vortragenden Legationsrats im AA Derix über die Einbestellung des Botschafters der ČSSR Spáčil durch den Leiter der Politischen Abteilung des AA Kastrup vom 3.10.1989 ( ebd.).
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bleiben extrem konträr. Eine Kompromisslösung ist nicht in Sicht,301 zumal Neubauer mit seinen Vorwürfen nicht allein steht; analog wird auch im tschechoslowakischen Außenministerium argumentiert.302 Ostberlin, Büro von Egon Krenz, vormittags
Im Büro von Egon Krenz werden unter der Federführung des Abteilungsleiters für Sicherheitsfragen beim Zentralkomitee der SED, Wolfgang Herger, Lösungsvorschläge entwickelt, mittels derer man das Problem der illegalen Ausreisen endlich in den Griff bekommen will. Die erste Variante sieht eine Forderung an die Bundesrepublik Deutschland vor, die Staatsbürgerschaft der DDR mit sofortiger und vollständiger Wirkung anzuerkennen. Sie erscheint allerdings allen Beteiligten – vollkommen zu Recht – nur wenig Aussicht auf Erfolg zu haben. Die zweite Variante zieht eine »vorläufige« Schließung der DDR- Außengrenze zur Tschechoslowakei in Erwägung, verbunden mit der Ankündigung, noch vor Weihnachten erweiterte Reisemöglichkeiten zu schaffen. Die Fluchtbewegung über die ČSSR würde dadurch mit Sicherheit erheblich eingeschränkt werden, doch wäre ein solches Vorgehen auch mit einem hohen Risiko verbunden : Die Schließung der Grenzen würde die innenpolitischen Spannungen weiter eskalieren lassen, möglicherweise bis zu einem Punkt, an dem sich die Gesamtsituation nicht mehr länger kontrollieren ließe. Als dritte Variante schlägt Herger eine Erweiterung der Reisemöglichkeiten für DDR - Bürger durch die sofortige Aushändigung von Pässen vor. Er hält diese Option für die Beste, da sie auf eine dauerhafte Lösung abzielt. Allerdings müsste dafür im Gegenzug die Auswanderung von Zehn - oder sogar Hunderttausenden DDR - Bürgern in Kauf genommen werden.303 Prag, Politbüro der KPTsch, vormittags, wiederholt die »Aktion Zug«
Am Vormittag findet im Politbüro der KPTsch eine neuerliche Krisensitzung statt. Die höchsten Parteifunktionäre beraten hier über das weitere Vorgehen angesichts einer stündlich dramatischeren Lage rund um die überfüllte bundesdeutsche Vertretung. Die KPTsch - Führung drängt auf eine sofortige Bereinigung der Situation. Die Menschenmasse vor und im Palais Lobkowicz lässt sich von 301 Vgl. Vermerk des Leiters der Politischen Abteilung des AA Kastrup über ein Gespräch mit dem Leiter der Ständigen Vertretung der DDR in Bonn, Neubauer, vom 3.10.1989 ( ebd.). 302 Vgl. Fernkopie der Botschaft Prag eines Schreibens des tschechoslowakischen Außenministeriums vom 3.10.1989 ( PA AA, 214, 140735 E, unpag.). 303 ZK - Hausmitteilung Krenz an SED-Generalsekretär Honecker vom 3.10.1989 mit Vorschlägen zur Lösung des Problems der illegalen Ausreisen vom 3.10.1989 ( BStU, Z - Archiv, RS 101, Band 1, Bl. 1–6) – Dok. 36.
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den vor Ort befindlichen Sicherheitskräften nicht mehr länger kontrollieren. Führende Genossen der KPTsch fürchten außerdem, dass die vor der Botschaft wartenden DDR - Bürger in Prag eine Massendemonstration initiieren könnten, der sich auch die tschechoslowakische Opposition anschließen könnte. Die KPTsch - Parteispitze fordert daher die DDR - Führung ultimativ auf, sofort zu handeln. Ansonsten wird sich die KPTsch - Spitze gezwungen sehen, die sich auf dem tschechoslowakischen Gebiet aufhaltenden DDR - Deutschen weiter nach Ungarn ziehen zu lassen, von wo sie dann ungestört in den Westen reisen können.304 Die tschechoslowakischen Forderungen, die über den Prager DDR - Botschafter Ziebart und den Ostberliner Außenminister Fischer sofort direkt an Honecker weiter geleitet werden, lauten : »Genosse Lenárt bat im Auftrage des Generalsekretärs, Genossen Jakeš, um 12.30 Uhr darum, dass Genosse Honecker und das Politbüro sofort informiert werden über die dramatische Zuspitzung der Situation in der BRD - Botschaft und vor der Botschaft durch DDR - Bürger. In der Botschaft befinden sich ca. 4 500 Menschen, vor der Botschaft weitere 1 000. Diese große Ansammlung ist nicht mehr zu beherrschen. Es wird von führenden Genossen der KPTsch befürchtet, dass die vor der Botschaft wartenden DDR - Bürger eine Demonstration durch Prag veranstalten, denen sich Prager Intellektuelle, Dissidenten und Jugendliche anschließen könnten. Offensichtlich ist dies das Konzept des Gegners, während der Feierlichkeiten zum 40. Jahrestag in Berlin in Prag große Gegendemonstrationen mit Beteiligung von tschechoslowakischen Bürgern und Besuchern Prags zu veranstalten. Die ČSSR ist nicht in der Lage, ein entsprechendes Gebäude zur Unterbringung der DDR Bürger zur Verfügung zu stellen. Sie hält es auch nicht für gut, zuzulassen, dass ein Teil der Leute über die ČSSR nach Ungarn und über Ungarn dann weiterreist. Aus all diesen Erwägungen bittet die Führung der KPTsch um die Wiederholung einer Aktion, wie sie am 30. stattgefunden hat. Um die Initiative in der Hand zu behalten, schlägt sie deshalb vor, einen zweiten humanitären Akt zu vollziehen. Genosse Lenárt bat darum, diese Information und diese Vorschläge sofort Genossen Honecker zu unterbreiten«.305
Ostberlin, engster Führungskreis der SED, 13.15 Uhr : »Erpresser« raus, Grenze zu
Jakeš’ Drängen auf eine rasche Lösung des Flüchtlingsdramas durch eine Wiederholung der »Aktion Zug« verfehlt seine Wirkung nicht; Ostberlin reagiert sofort. Um 12.30 Uhr ist Jakeš’ dringende Bitte dem Prager DDR - Botschafter Ziebart übermittelt worden. Und weniger als eine Stunde später, um 13.15 Uhr, ist dies beschlossene Sache : Die Botschaftsbesetzer sollen ein weiteres Mal in den Westen 304 Außenminister Fischer an SED - Generalsekretär Honecker vom 3.10.189 mit einer Information des Botschafters Ziebart über die Forderungen der Parteiführung der KPTsch vom 3. 10. 1989 (BArch B, DY 30/ IV /2/2039/342, Bl. 52 f.) – Dok. 37. 305 Ebd.
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entlassen werden. Parallel dazu wird allerdings die Grenze zur Tschechoslowakei hermetisch geschlossen. Dieser einschneidende und fundamentale Beschluss wird im engsten Führungskreis der SED getroffen; die formal korrekte, außerordentliche Politbürositzung findet erst am nächsten Tag, am 4. Oktober, statt.306 Der blitzschnellen Entscheidung folgt ein rasches Handeln. Bereits zehn Minuten nach Honeckers Entscheidung, die Botschaftsflüchtlinge zu entlassen und die Grenze zu schließen, gegen 13.25 Uhr, informiert der tschechoslowakische Botschafter in Ostberlin, František Langer, per Blitztelegramm das Außenministerium in Prag über den jüngsten Beschluss der SED - Parteispitze. Darin heißt es : »Nach der Erörterung in der SED - Parteiführung wurde Folgendes beschlossen : 1. Aufgrund der anhaltenden feindlichen Aktionen imperialistischer Kreise der BRD werden private Reisen der DDR - Bürger in die ČSSR mit sofortiger Wirkung gestoppt. 2. Die Situation der DDR - Bürger, die sich im Innern sowie auf dem Gebiet um die Botschaft der BRD aufhalten, wird ähnlich gelöst wie am 30.9. und 1.10. dieses Jahres. Ihnen wird die Ausreise ermöglicht. 3. Die Einzelheiten der konkreten Vorgehensweise wird der Minister für Staatssicherheit, Genosse Mielke, mit dem tschechoslowakischen Innenminister, Genossen Kincl, besprechen.«307
Der Beschluss, die Grenze zur Tschechoslowakei zu schließen, gehört zu den schicksalhaftesten Entscheidungen Honeckers. Zwar hatte sich zuvor auch Krenz für eine vorläufige Schließung der DDR - Außengrenze ausgesprochen, jedoch verbunden mit der Ankündigung erweiterter Reisemöglichkeiten bis Jahresende. Honecker indes lässt jetzt einfach nur den ersten Teil der Krenz’schen Vorschläge beschließen, ohne jedoch die darin enthaltenen gelockerten Reisemöglichkeiten für die nahe Zukunft in Aussicht zu stellen.308 Dieser extrem brisante Beschluss, die DDR - Grenze zur Tschechoslowakei für DDR - Bürger hermetisch abzuriegeln, wird in den nächsten Stunden die innenpolitische Lage in der DDR grundlegend verändern.
306 Botschafter Langer an Außenministerium der ČSSR vom 3. 10. 1989 um 13.25 Uhr ( AMZV Praha, Telegramy přijaté, 1989, sv. 35) – Dok. 38. 307 Ebd. 308 Vgl. Ergebnisse einer Beratung des 1. Stellvertreters des Leiters der BV Dresden des MfS, Hardi Anders, über Maßnahmen zur Schließung der Grenzen der DDR vom 3. 10. 1989 ( BStU, ASt. Dresden, I. Stellv. d. Ltr. 1, Bl. 178 f.); Minister des Innern und Chef der Deutschen Volkspolizei Dickel an die Chefs der Bezirksbehörden der Deutschen Volkspolizei zur Lage an der Grenze vom 3.10.1989 ( ABL, Dresden 891003–4, unpag.) – Dok. 39.
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Ostberlin, SED - Parteiführung / Prag, Zentralkomitee der KPTsch, 13.15 Uhr : Wir sind uns einig
Die Entscheidung der SED - Parteispitze, die Botschaftsflüchtlinge in den Westen zu entlassen, bei gleichzeitiger Schließung der Grenze zur Tschechoslowakei, wird umgehend an die Parteiführung der KPTsch weitergeleitet. Noch bevor ČSSR - Botschafter Langer sein Telegramm aufgesetzt hat, unterrichtet SED - Politbüromitglied Hermann Axen um 13.15 Uhr seinen tschechoslowakischen Amtskollegen Lenárt telefonisch über den Inhalt des jüngsten Ostberliner Beschlusses. Bei dessen Veröffentlichung solle unbedingt mit angegeben werden, dass die fragliche Entscheidung erst getroffen worden sei, nachdem man die tschechoslowakische Regierung konsultiert habe. Lenárt verspricht, die Stellungnahme der ČSSR innerhalb von 30 Minuten ab dem Telefongespräch mitzuteilen.309 Trotz intensiver Geheimhaltungsbemühungen dringen Informationen über die brisante Beschlusslage jedoch schon vorab an die Öffentlichkeit : Bereits um 14.30 Uhr vermeldet eine Reihe westlicher Rundfunkstationen die Neuigkeit.310 Prag, Außenministerium der ČSSR, 14.15 Uhr : »DDR - Aktion« wird unterstützt
Um 14.15 Uhr kommt in Prag DDR - Botschafter Ziebart zu einem offiziellen Gespräch mit dem stellvertretenden Außenminister der ČSSR, Pavel Sadovský, zusammen. Anwesend sind auch die hohen Diplomaten im Außenministerium, Kadnár und Větrovec. Der tschechoslowakische Vizeaußenminister unterrichtet Ziebart über die Bitte von Parteiführung und Regierung, die schwierige Lage zu verstehen, in welche die ČSSR durch die massenhafte Einreise von DDR Bürgern, die in die westdeutsche Botschaft wollten, geraten sei. In Zahlen ausgedrückt, befanden sich um 14.00 Uhr rund 4 500 Flüchtlinge auf dem Botschaftsgelände selbst und weitere 2 000 vor der Botschaft.311 Nach Informationen der tschechoslowakischen Sicherheitsorgane halten sich darüber hinaus weitere 4 000 DDR - Ausreisewillige auf tschechoslowakischem Gebiet auf. Führende Genossen seien außerordentlich besorgt, dass es in Prag zu Massendemonstrationen komme, denen sich tschechoslowakische Dissidenten, Intellektuelle und Jugendliche anschließen könnten. Massenkundgebungen von diesem Ausmaß könnten den Gegner verleiten, Aktionen nach dem Pekinger Model durchzuführen, befürchtet die KPTsch - Führung. Daher begrüße man die Entscheidung der DDR zur Lösung des Problems, eine zweite Ausweisungsaktion nach dem Beispiel der Maßnahme vom 30. September vorzunehmen. Die tschechoslowaki309 Botschafter Langer an Außenministerium der ČSSR vom 3. 10. 1989 um 13.25 Uhr ( AMZV Praha, Telegramy přijaté, 1989, sv. 35). 310 Ebd. 311 Damit hatte sich die Zahl derer, die vor dem Botschaftsgelände auf Ausreise hofften, binnen weniger Stunden verdoppelt.
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schen Diplomaten empfehlen außerdem, sich von der BRD eine schriftliche Zusicherung ausstellen zu lassen, dass sich solche Situationen demnächst nicht wiederholen werden. Die tschechoslowakische Seite werde ihrerseits alles tun, um diese Aktion zu unterstützen. Unter anderem gedenke sie, in der Presse Beiträge zu veröffentlichen, welche die Ziele der Bonner Aktion entlarven und die Solidarität mir der DDR deklarieren sollen.312 Bonn, Bundeskanzleramt, 16.50 Uhr
Um 16.10 Uhr bittet der Ständige Vertreter der DDR in Bonn, Horst Neubauer, um einen dringenden Termin bei Kanzleramtschef Rudolf Seiters. Bereits 40 Minuten später wird der oberste DDR - Diplomat in Bonn im Kanzleramt empfangen. Neubauer erklärt auf Weisung seiner Regierung : Eine große Anzahl von DDR - Bürgern halte sich widerrechtlich in der Botschaft der Bundesrepublik in Prag auf, darunter eine große Zahl von Kindern und Kleinstkindern. Die Regierung der DDR habe aus humanitären Gründen beschlossen, diese Personen in die Bundesrepublik Deutschland auszuweisen. Sie würden in Zügen der Deutschen Reichsbahn, in gleicher Weise wie am 1. Oktober, über den EisenbahnGrenzübergang Gutenfürst - Hof in die Bundesrepublik Deutschland gebracht. Der erste Zug werde noch am heutigen Abend um 20.00 Uhr in Prag bereitstehen. Seiters’ Frage, ob sich diese Entscheidung auch auf jene Personen erstrecke, die sich vor der Botschaft aufhielten, kann Neubauer zunächst nicht beantworten. Er verspricht aber, die Sache zu klären.313 Oggersheim, Privathaus des Bundeskanzlers / Prag, Sitz des Ministerpräsidenten der ČSSR, 17.00 Uhr
Um 17.00 Uhr telefoniert Bundeskanzler Kohl mit dem tschechoslowakischen Ministerpräsidenten Ladislav Adamec. Dabei drückt der Kanzler sein Bedauern über die Entstehung der dramatischen Situation rund um die bundesdeutsche Botschaft in Prag aus und appelliert zugleich an die humanitäre Verantwortung der ČSSR. Er fühlt sich durch diese Ereignisse tief bewegt. Adamec bedankt sich bei seinem westdeutschen Kollegen für dessen Anruf und unterrichtet diesen im Gegenzug über den jüngsten Stand der Dinge. In und um das Palais Lobkowicz herum befänden sich gegenwärtig etwa 6 000 Menschen, ca. 2 000 weitere verteilten sich über die Prager Innenstadt. Außerdem seien noch 3 000 bis 4 000 Menschen auf dem Weg in die tschechoslowakische Hauptstadt; alles in allem habe 312 Botschafter Ziebart an H. Krolikowski und Sieber vom 3.10.1989 ( BStU, MfS, HA II, 38061, Bl. 110 f.). 313 Gespräche und Kontakte des Chefs des Bundeskanzleramtes Seiters und des Ministerialdirigenten Duisberg vom 3.–5.10.1989 ( BArch, B 136/21329, 22135016 Ve 40 NA 1).
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man es mit rund 10 000 bis 11 000 Männern, Frauen und Kindern zu tun. Mit der DDR - Führung sei deshalb vereinbart worden, die gemeinsame Grenze zwischen der DDR und der Tschechoslowakei noch am heutigen Tage zu schließen. Alle DDR - Bürger, die sich gegenwärtig auf dem Gebiet der ČSSR aufhalten, sollten allerdings spätestens am morgigen Tag in die Bundesrepublik ausreisen dürfen. Kohl nimmt vor allem Adamecs Zusicherung, den DDR - Bürgern die Ausreise in den Westen zu ermöglichen, mit großer Erleichterung zur Kenntnis. Er erklärt, dass es sich für ihn um eine außerordentlich wichtige Angelegenheit handelt. Beide Politiker betonen, dass sie das gemeinsame Gespräch unter anderen, ruhigeren Umständen gerne fortsetzen würden. Die von der SED - Führung in Absprache mit den tschechoslowakische Stellen getroffenen Beschlüsse über die Ausreise der Zufluchtsuchenden und die Grenzschließung werden von beiden Seiten heute Abend der Öffentlichkeit bekannt gegeben.314 Dresden, Bezirksverwaltung der Staatssicherheit, 17.30 Uhr, Grenzschließung, »Maßnahmen zur Verhinderung von Erpresserfällen«
Die Mitarbeiter der Staatssicherheit bekommen strikte Direktiven bezüglich der Schließung der Staatsgrenze zur Tschechoslowakei. Staatssicherheit sowie Grenztruppen und Volkspolizei werden von 17.30 Uhr an in Alarmbereitschaft versetzt. In den grenzüberschreitenden Zügen in Richtung ČSSR sind ab sofort strenge Kontrollen durchzuführen : In jedem Waggon werden jeweils ein Passkontrolleur, ein Angehöriger des Zolls sowie der Transportpolizei eingesetzt. Personen, die des Vorsatzes der illegalen Ausreise verdächtig sind, werden erfasst und anschließend zurückgewiesen, im Falle eines unerlaubten Grenzübertritts auch festgenommen. Der stellvertretender Leiter der Bezirksverwaltung für Staatssicherheit Dresden, Hardi Anders, gibt zur »Verhinderung von Erpresserfällen« mobilisierende Anweisungen : »Bezogen auf die sich in Durchsetzung der erforderlichen Maßnahmen zur Verhinderung von weiteren Erpresserfällen, insbesondere in der BRD - Botschaft in Prag ergebende Lage, habe ich am heutigen Tage eine Beratung mit den verantwortlichen Leitern durchgeführt. [...] Die bisherigen eingeleiteten Maßnahmen im Kontroll - und Filtrierungsprozess in den grenzüberschreitenden Zügen – Richtung ČSSR – haben eine intensive Pass - und Zollkontrolle ab Dresden in Richtung Bad Schandau zum Inhalt. Ausgesetzt werden Personen, die kein konkretes Reiseziel angeben, insbesondere Jungerwachsene, Ehepaare mit schulpflichtigen Kindern und Ehepaare mit Kleinstkindern. Das Aussetzen erfolgt auf dem Bahnhof Bad Schandau. Die ausgesetzten Personen werden mit Personalien erfasst und zurückgewiesen. Dazu sind Transportmittel – 314 Vermerk Neuers über Telefongespräch des Bundeskanzlers Kohl mit Ministerpräsident Adamec vom 3. 10. 1989 ( BArch, B 136/21860, 22283105 Fa 3 NA 2; Dokumentation Deutsche Einheit, Nr. 55) – Dok. 40.
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Sonderzug in Richtung Dresden und Busse – bereitgestellt. Zur Verhinderung von ungesetzlichen Grenzübertritten an der Staatsgrenze DDR - ČSSR sind die Grenztruppen der DDR und der VP im verstärkten Einsatz. Personen, welche ungesetzlich die Staatsgrenze in Richtung ČSSR zu überschreiten beabsichtigen, werden festgenommen und zum Stützpunkt VPKA, Dezernat 11, zugeführt. Alle bisherigen Maßnahmen sind aufgrund der sich entwickelnden Lage zu verstärken.«315 »Zur Durchsetzung einer zügigen Passkontrolle während der Fahrt von Dresden nach Bad Schandau wird jeweils 1 Waggon durch einen Passkontrolleur, einen Angehörigen des Zolls sowie einem Angehörigen der Transportpolizei kontrolliert. Bei Eintreffen des Zuges in Bad Schandau werden die festgestellten verdächtigen Personen ausgesetzt. Dazu habe ich veranlasst, dass 20 operative Mitarbeiter aus dem Bestand der Bezirksverwaltung der Passkontrolle – PKE Bad Schandau – zugeordnet und entsprechend eingekleidet werden. Um Ansammlungen, Proteste und Sitzstreiks u. ä. Provokationen durch die ausgesetzten Personen kurzfristig zu zerschlagen, wurde im Zusammenwirken mit der DVP eine Kompanie der Bereitschaftspolizei zum Einsatz gebracht.«316
Ostberlin, Außenminister Fischer, Entwurf der ADN - Meldung
Die führenden SED - Funktionäre schreiben den Medien vor, was diese zu veröffentlichen haben. Im vorliegenden Fall obliegt es DDR - Außenminister Fischer, den Entwurf einer ADN - Meldung zu verfassen, in welcher über die genehmigte Ausreise der Botschaftsflüchtlinge als auch über die unmittelbar bevorstehende Grenzschließung zur Tschechoslowakei informiert wird. Nachfolgenden Entwurf legt er SED - Parteichef Honecker anschließend zur Bewilligung vor : »Werter Genosse Honecker ! Als Anlage übermittle ich Ihnen den Entwurf einer ADN Meldung im Zusammenhang mit der Ausweisung der Personen, die sich in den Botschaften der BRD befinden. Ich bitte um Zustimmung.«317 »ADN - Meldung : Durch Verschulden der BRD, die weiter Personen zum Verlassen der DDR ermuntert und sich nicht an getroffene Absprachen hält, ist es erneut insbesondere in der Botschaft der BRD in Prag zu einer unhaltbaren Situation gekommen. Wieder wurden von unverantwortlich handelnden Eltern Kinder und Kleinstkinder in diese üblen Machenschaften einbezogen. Die Regierung der DDR ließ sich vor allem vom Schicksal dieser Kinder leiten, die nicht für das gewissenlose Handeln ihrer Eltern verantwortlich gemacht werden können, wenn sie jetzt entschieden hat, die Personen, die sich erneut widerrechtlich in Botschaften der BRD aufhalten, über das Territorium der DDR in die BRD auszuweisen. Da die Erfahrungen zeigen, dass es nicht möglich ist, mit der BRD auf diesem Gebiet vertrauensvolle Absprachen zu treffen,
315 Ergebnisse der Beratung des 1. Stellvertreters des Leiters der BV Dresden des MfS, Hardi Anders, über Maßnahmen zur Schließung der Grenzen der DDR vom 3. 10. 1989 ( BStU, ASt. Dresden, 1. Stellv. d. Ltr. 1, Bl. 178 f.) – Dok. 39. 316 Ebd. 317 Außenminister Fischer an SED - Generalsekretär Erich Honecker vom 3. 10. 1989 mit dem Entwurf einer ADN - Meldung ( BArch B, DY 30/ IV /2/2039/352, Bl. 1 f.) – Dok. 41.
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sah sich die DDR veranlasst, nach Konsultation mit der ČSSR vorübergehend den visafreien Reiseverkehr zwischen der DDR und der ČSSR einzustellen.«318
Ostberlin, Presseagentur ADN / Prag, Presseagentur ČTK – gemeinsame Pressemeldung
Fischers – mutmaßlich von Honecker persönlich überarbeiteter – Entwurf wird alsdann an die staatlichen Presseagenturen von DDR und ČSSR, ADN und ČTK, weitergeleitet. Anschließend berichten beide wortgleich über die soeben vollzogene Grenzschließung zwischen beiden Staaten : »Auf Grund der Berichte, die der DDR zur Verfügung stehen, bereiten bestimmte Kreise in der BRD weitere Provokationen zum 40. Jahrestag der DDR vor, die gegen Ruhe und Ordnung gerichtet sind. Nach der Konsultation mit der ČSSR wurde die Vereinbarung getroffen, zeitweilig den pass - und visafreien Verkehr zwischen DDR und ČSSR für die Bürger der DDR mit sofortiger Wirkung auszusetzen.«319 Ostberlin, SED - Führung, abends
Die Bereitstellung der versprochenen Waggons verzögert sich, nachdem die SEDFührung erst die Bahnstrecke sichern und innerhalb der DDR Bahnhöfe und Gleise von Tausenden von Menschen räumen lässt, damit diese nicht auf die fahrenden Züge aufspringen bzw. selbige zum Stoppen bringen.320 Wegen des Aufschubs zieht sich die SED-Spitze den Zorn der tschechoslowakischen Regierung zu, die darauf drängt, die Ausreise der neuen Flüchtlinge, wie vereinbart, noch am heutigen Tag durchzuführen. Daraufhin kommt aus Ostberlin die beschwichtigende Nachricht, dass mit dem Beginn der Aktion am nächsten Tag zu rechnen sei.321 Staatsgrenze DDR - ČSSR, die Nacht vom 3. zum 4. Oktober – Grenzkontrollen
Staatssicherheit und Volkspolizei haben entlang der Grenze zur Tschechoslowakei jetzt viel zu tun. Der Militärattaché der Nationalen Volksarmee, Helmut Böhm, ordnet an, alle Zugreisende in Richtung ČSSR, die kein konkretes Reiseziel angeben können, auf dem Bahnhof Bad Schandau auszusetzen, »insbesondere Jungerwachsene, Ehepaare mit schulpflichtigen Kindern und Ehepaare mit Kleinstkindern«. Gemeinsam mit dem Leiter des Volkspolizeikreisamtes Dresden
318 Ebd. 319 Meldung der Presseagentur ČTK vom 3.1.1989. Zit. nach Prečan, Ke svobodě přes Prahu, S. 98. 320 Vgl. MfS, ZAIG - Information 438/89 vom 4. 10. 1989. In : Mitter / Wolle ( Hg.), »Ich liebe euch doch alle !«, S. 194. 321 Vgl. Przybylski, Tatort Politbüro, S. 112 f.
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wird die Variante »Filtrierung« der VP - Bereitschaft ausgelöst.322 Aus dem InterExpress 73 »Metropol« nach Budapest, der gegen 1.00 Uhr in Bad Schandau kontrolliert wird, müssen fast alle DDR - Bürger mit ihren Kindern aussteigen. Im vollbesetzten D 979 von Leipzig nach Dresden zählen die Volkspolizisten allein 30 Kinderwagen. Gegen 3.00 Uhr wechseln die Fahrgäste in Dresden in den D 479 zur Weiterfahrt nach Bukarest. Von den ca. 1 000 Reisenden, die sich in Bad Schandau noch im Zug befinden, werden etwa 100 an der Weiterfahrt gehindert. Für ihre Rückführung nach Dresden stehen Busse bereit. Auch den 10.00-Uhr- Zug nach Budapest müssen von 461 DDR - Reisenden 121, darunter 36 Kinder, verlassen. Spontan setzen sich daraufhin etwa 90 der an der Weiterfahrt Gehinderten auf die Gleise vor die Lok und verhindern vorerst die Weiterfahrt des Zuges. Andere lassen sich in der Bahnunterführung nieder und skandieren laut »Deutschland« und »Freiheit«. Erst ein Einsatz der Volkspolizei löst die Sitzblockade auf und zwingt die Reisenden zur Umkehr nach Dresden.323 Gegen Mittag wiederholt sich der Vorgang mit ca. 100 Personen, die aus dem D 375 ausgesetzt werden. Nach und nach sammeln sich so als unmittelbare Folge der Rückführungen immer mehr frustrierte Menschen auf dem Dresdner Hauptbahnhof.324 Ein Teil der Ausgesetzten versucht, sich Richtung Grenze durchzuschlagen, allerdings werden die Zufahrtswege dorthin besonders überwacht.325 In Schmilka werden 14 Personen, die durch Sprechchöre ihre Ausreise erzwingen wollen, festgenommen.326 Insgesamt kommen am 3. Oktober 73 Personen in Haft.327 Auf dem Bahnhof Bad Brambach ( Oelsnitz ) wird durch die Sicherheitsorgane gegen 15.00 Uhr der D 377 »Karlex« kontrolliert. Im Zug befinden sich ca. 100 Reisende nach Prag, einige von ihnen sind bereits zuvor in Bad Schandau aus dem Zug geholt worden. Insgesamt sechs Personen werden vorübergehend festgenommen (»zugeführt«).328
322 BV Dresden des MfS vom 3.10.1989 : Maßnahmen im Kontroll - und Filtrierungsprozess in den grenzüberschreitenden Zügen ( BStU, ASt. Dresden, 1. Stellv. d. Ltr. 1, Bl. 178 f.). 323 Güst DBS 117 an BV Dresden des MfS vom 3.10.1989 : Maßnahmen über den Ausreiseverkehr in die ČSSR ( ebd., Bl. 194 f.). 324 Vgl. BDVP Dresden vom 15. 10. 1989 : Zusammengefasste Darstellung der Entwicklung in Dresden vom 3.–9.10.1989 ( ABL, Dresden, unpag.). 325 Vgl. BDVP Dresden, Sicherungsmaßnahmen im Bahnhof Bad Schandau und GÜST Schmilka vom 3.10.1989 ( ABL, EA 891003, unpag.). 326 Vgl. BDVP Dresden vom 3. 10. 1989 ( ABL, Dresden, unpag.); Berichte einzelner Bezirke über Vorkommnisse und polizeiliche Einsätze über die Oktoberereignisse 1989 ( BArch B, DO 1, 54024, EA 400, unpag.). 327 Vgl. Leiter der BDVP Dresden, Nyffenegger, an Innenminister Dickel vom 5. 10. 1989 ( ABL, Dresden, unpag.). 328 Vgl. KD Oelsnitz des MfS vom 8.11.1989 : Lage ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 2147, 2, Bl. 37039).
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Bad Schandau, Grenzschließung, Wut der Bevölkerung
Allein am Grenzbahnhof Bad Schandau hindern die Grenzpolizisten mindestens 1 400 DDR - Bürger an der Weiterfahrt nach Prag.329 Die Nachricht sowohl von der Entlassung der Botschaftsflüchtlinge als auch von der Grenzschließung zur Tschechoslowakei verbreitet sich wie ein Lauffeuer. Die Empörung ist enorm. Die Bewohner der DDR zeigen sich wütend, schockiert, ungläubig. Ratlos fragen sich die Menschen : Wohin soll die Reise noch führen ?330 Schlimmer, so der allgemeine Tenor, gehe es jedenfalls nicht mehr. Eine Gefühlslage, die sich sehr bald schon als mächtiger Katalysator der näher rückenden friedlichen Revolution erweisen wird. Prag, Sitz des Ministerpräsidenten der ČSSR, 22.40 Uhr : sofortiges Handeln erforderlich !
Je später der Abend, desto ungeduldiger werden die tschechoslowakischen Genossen, ist doch die versprochene Lösung in der Flüchtlingsfrage bislang ausgeblieben. Es ist schon 22.40 Uhr, als Ministerpräsident Adamec den DDR Botschafter Ziebart anruft und ihn eine entsprechende Anfrage an Honecker entrichten lässt. Der diplomatische Vertreter Ostberlins notiert :331 »1. Genosse Adamec bittet um Information, warum die abgesprochene Aktion nicht läuft. Die ČSSR geht immer noch von der Mitteilung aus, die Genosse Axen gegen Mittag des 3.10.[19]89 Genossen Lenart übermittelte. 2. Warum wird die ČSSR nicht darüber informiert, dass die Aktion nicht weitergeführt wird bzw. was ist los ? 3. Genosse Adamec bittet, Genossen Stoph und andere Genossen der Führung davon in Kenntnis zu setzen, dass sich die Lage in und um die BRD - Botschaft in Prag weiter zuspitzt. 11 000 bis 12 000 Personen aus der DDR befinden sich auf dem Gelände der Botschaft, weitere 2 000 im näheren Umfeld. Es reisen weiterhin Personen mit PKW aus der DDR in Prag ein.«
Trotz der Dringlichkeit des tschechoslowakischen Appels werden Adamecs Anfragen und Bitten erst am Morgen des nächsten Tagens, am 4. Oktober, an Honecker weitergeleitet. Früher werden auch die Genossen Hermann Axen, Willi Stoph und Herbert Krolikowski nicht informiert.332
329 Kowalczuk, Endspiel, S. 383. 330 Ebd. 331 Außenminister Fischer an SED - Generalsekretär Honecker vom 4. 10. 1989 ( BArch B, DY 30/ IV/2/2039/352, Bl. 5 f.) – Dok. 43. 332 Ebd.
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Luxemburg, Rat der Außenminister, 23.00 Uhr
Die Bonner Staatssekretärin im Auswärtigen Amt, Irmgard Adam - Schwaetzer, schildert bei der Tagung des Rates der EU - Außenminister am Abend in Luxemburg die Lage der Prager Botschaftsflüchtlinge. Deren Schicksal berührt auch die europäischen Außenminister : Noch von der Ratstagung aus werden zwei Demarchen, jeweils an die Regierungen in Prag und Ostberlin, mit dem Ziel entsandt, eine humanitäre Lösung des Flüchtlingsdramas zu erreichen.333 4. Oktober 1989 Ostberlin, Parteiorgan »Neues Deutschland«
Die Zeitung »Neues Deutschland« vom 4. Oktober 1989 bringt böse Nachrichten. Je schlimmer, desto kürzer : »Zeitweilige Aussetzung des pass - und visafreien Verkehrs zwischen DDR und ČSSR. Vereinbarung nach Konsultation mit der ČSSR. Berlin ( ADN ). Auf Grund der Berichte, die der DDR zur Verfügung stehen, bereiten bestimmte Kreise in der BRD weitere Provokationen zum 40. Jahrestag der DDR vor, die gegen Ruhe und Ordnung gerichtet sind. Nach der Konsultation mit der ČSSR wurde die Vereinbarung getroffen, zeitweilig den pass und visafreien Verkehr zwischen DDR und ČSSR für die Bürger der DDR mit sofortiger Wirkung auszusetzen.«334
Bonn, Deutschlandfunk, morgens
Am Morgen erklärt Außenminister Genscher im Deutschlandfunk, dass die Verzögerung der Abreise der Botschaftsflüchtlinge aus Prag wohl auf technische Probleme zurückzuführen sei. Auf die Frage des Moderators, inwieweit Honecker Druck aus Moskau bekommen habe, die flüchtigen DDR - Bürger in den Westen zu entlassen, antwortet Genscher, dass es sich hierbei um eine Entscheidung der DDR - Führung handele, »an der sicher der Staatsratsvorsitzende Honecker nach seiner Rückkehr und Wiederaufnahme der Amtsgeschäfte maßgeblich mitgewirkt« habe.335
333 Fernschreiben aus »Brüssel Euro« an AA, gez. Ungerer, vom 3.10.1989. Betr. : 1349. Tagung des Rates ( Allgemeine Angelegenheiten ) vom 3. 10. 1989 in Luxemburg ( PA AA, 210, 140735 E, unpag.). 334 Neues Deutschland vom 4.10.1989. 335 AA, Pressereferat, an Botschaft Prag vom 4. 10. 1989. Anlage : Pressemitteilung des AA Nr. 1153/89 vom 4.10.1989 : Interview des Außenministers Genscher mit dem Deutschlandfunk am 4.10.1989 in der Sendung »Informationen am Morgen« ( Interviewpartner : Wolfgang Labuhn ) ( PA AA, Bo. Prag, 20683 E, unpag.).
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Prag, Botschaft und Umgebung, 11 000 Botschaftsflüchtlinge frieren
Zwischen Sonnenunter - und - aufgang liegen die Temperaturen nur knapp über dem Gefrierpunkt. Vergeblich warten die rund 11 000 Botschaftsflüchtlinge, in der Stasi - Terminologie »Erpresser«336 genannt, die ganze Nacht hindurch bis in die frühen Morgenstunden auf die Bereitstellung der Züge, mit denen sie in die Bundesrepublik ausreisen sollen. Nach Angaben der westdeutschen Vertretung in Prag gibt es auch um 5.00 Uhr morgens noch keinerlei Anzeichen dafür, dass in absehbarer Zeit eine Transportmöglichkeit für die Flüchtlinge bereitstünde. Tausende verzweifelte Frauen, Männer und Kinder müssen die Nacht erneut im Freien verbringen, auf dem Botschaftsgelände oder in den Straßen in der unmittelbaren Umgebung. Überall hüllen sich die Menschen ob der Kälte in Decken, dicke Pullover und Anoraks, man schläft mehr schlecht als recht auf Luftmatratzen inmitten der wenigen verbliebenen Habseligkeiten. Etlichen bleibt nur das blanke Kopfsteinpflaster. Im Botschaftsgebäude selbst übernachten vor allem Mütter mit kleinen Kindern. Obwohl die Ungeduld der Flüchtlinge wächst, je länger sich ihre Abreise verzögert, verliert niemand die Nerven. Denn zu abwegig erscheint die Vorstellung, dass die DDR - Regierung jetzt noch einen Rückzieher machen und ihre versprochene Ausreise annullieren könnte.337 Die DRK - Einsatzleitung erklärt unterdessen, dass sie die Verantwortung für Betreuung, Versorgung und Gesundheit der Flüchtlinge nicht mehr länger übernehmen könne. In Anbetracht der derzeitigen Temperaturen könnten schon in der kommenden Nacht, besonders bei einsetzendem Niederschlag, lebensbedrohliche Verhältnisse nicht ausgeschlossen werden. Vor allem Kleinkinder, Schwangere und bereits Erkrankte seien gefährdet. Neben der Kälte droht auch von anderer Seite Gefahr : Im Bereich der Unterkünfte liegen bereits Fäkalien. Der Ausbruch von Epidemien sei dementsprechend wahrscheinlich und jederzeit möglich.338 Das Botschaftspersonal und die Mitarbeiter des Deutschen Roten Kreuzes unternehmen alles Menschenmögliche, um eine Katastrophe abzuwenden. Alle Beteiligten stehen indessen am Ende ihrer Kräfte.339 Dessen ungeachtet ist die Entschlossenheit der tschechoslowakischen Behörden, den DDR - Bürgern keinerlei Unterkünfte zur Verfügung zu stellen, auch weiterhin ungebrochen. Eine gänzlich andere Einstellung legen hingegen die
336 Vgl. z. B. BStU, ASt. Dresden, KD Löbau des MfS 18008, KD Meißen 38515, KD Freital 15178. 337 DPA - Meldung vom 4. 10. 1989 : Auch Mittwochmorgen noch immer kein Zug für die Ausreise der DDR - Flüchtlinge aus Prag ( BStU, MfS, ZAIG 22609, Bl. 18 f.). 338 Botschafter Huber an AA vom 4.10.1989. Betr. : Zufluchtsuchende Deutsche aus der DDR, hier: Aktueller Situationsbericht der Einsatzleitung des DRK vom 4.10.1989 ( PA AA, 214, 139918 E, unpag.) – Dok. 46. 339 Ebd.
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Abschied der Tochter von der Mutter. Auf Wiedersehen? Foto: pictures alliance/dpa
Bewohner der umliegenden Häuser an den Tag, welche ihrer Solidarität mit den Flüchtlingen nicht zuletzt dadurch Ausdruck verleihen, indem sie diese mit Tee, Milch, Suppe und Decken warmherzig versorgen.340 Das brisante Geschehen inmitten der tschechoslowakischen Hauptstadt ist auch Thema auf den Titelseiten diverser Tageszeitungen. Wohl kommen diese nicht ohne die üblichen rhetorischen Pflichtübungen im Sinne der Parteipropaganda – zumeist in Form bekannter Vorwürfe – aus, zwischen den Zeilen stößt der Leser allerdings auf Überraschendes : Manches Bild und mancher Situationsbericht lässt durchaus verdeckte Sympathien für das Schicksal der Flüchtlinge aus der DDR erkennen. Dass dieser Eindruck auch nicht täuscht, geben die verantwortlichen Zeitungsredakteure unter der Hand bereitwillig zu.341
340 Vgl. Neue Züricher Zeitung vom 6.10.1989; Die Welt vom 6.10.1989. 341 Botschaft Prag an AA vom 4.10.1989. Betr. : Zufluchtsuchende aus der DDR, hier : TSL. Medien ( PA AA, 210, 140715 E, unpag.).
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Prag, Politbüro der KPTsch, 8.10 Uhr : DDR muss handeln !
Im eigentlichen Machtzentrum, im KPTsch - Politbüro, breitet sich Nervosität aus. Das Versprechen einer schnellen Lösung seitens der DDR vom Vortag sorgt nur kurz für Erleichterung. Die Situation wird jedoch nicht schnell genug gelöst, daher wird der Druck bis auf das diplomatisch Äußerste, was einem sozialistischen Bruderstaat zuzumuten ist, erhöht. Der Prager DDR - Botschafter in der ČSSR, Ziebart, wird um 8.10 Uhr342 vom Politbüromitglied Lenárt angerufen, der ihn im Auftrag des Generalsekretärs des ZK der KPTsch, Jakeš, um die Beantwortung folgender Fragen bittet :343 »1. Warum wurden die am 3. 10. zugesagten Vorbereitungen zur Lösung des Prager Problems gestoppt ? 2. Wann sind Lösungen seitens der DDR zu diesem Problem vorgesehen ? Wann beginnen die dringend notwendigen Maßnahmen ? 3. Genosse Jakeš bittet, Genossen Honecker persönlich mitzuteilen, dass die Lage in Prag äußerst kritisch ist.«
Prag, Regierungspräsidium, 8.15 Uhr, Ultimatum
Vor dem Hintergrund der drohenden humanitären Katastrophe sieht sich auch die tschechoslowakische Regierung unter enormem Handlungsdruck. Entsprechend werden alle nur erdenklichen diplomatischen Kanäle in Bewegung gesetzt. Telefondrähte laufen heiß. Schließlich entscheidet sich der tschechoslowakische Ministerpräsident Adamec nach der morgendlichen Regierungskrisensitzung um 8.00 Uhr für ein Ultimatum. Entweder wird die DDR handeln, oder die Tschechoslowakei wird in der heutigen Nacht selbst mit dem Abtransport der Botschaftsflüchtlinge in die Bundesrepublik beginnen. Die tschechoslowakische Staatsbahn hat bereits alle erforderlichen Vorbereitungen für den Abtransport in der heutigen Nacht getroffen. Im Auftrag von Ministerpräsident Adamec teilt der tschechoslowakische Verkehrsminister, František Podlena, dies telefonisch um 8.15 Uhr dem DDR - Botschafter in Prag, Ziebart, mit und bittet ihn nachdrücklich um sofortige Weiterleitung.344
342 Zeitangabe nach dem Telegramm des Botschafters Ziebart an die Mitglieder des Politbüros Axen, Mielke und Krolikowski vom 4.10.1989 ( BStU, ZA, Sekretariat des Minister 63, B. 25). 343 Außenminister Fischer an SED - Generalsekretär Honecker vom 4. 10. 1989 ( BArch B, DY 30/ IV/2/2039/352, Bl. 3 f.) – Dok. 44. 344 Telefongespräch des Botschafters Ziebart vom 4.10.1989 ( BArch B, DY 30/5195, Bl. 18).
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Die Meilensteine auf dem Weg zur Freiheit
Prag, DDR - Botschaft / Ostberlin, Außenministerium, 8.42 Uhr
Botschafter Ziebart leitet das tschechoslowakische Ultimatum umgehend telefonisch um 8.42 Uhr nach Ostberlin, mit der Bitte, sofort das Politbüromitglied Hermann Axen zu informieren.345 Um 8.55 Uhr bestätigt Ziebart die telefonische Mitteilung telegraphisch.346 Der DDR - Außenminister Fischer, vertreten durch Herbert Krolikowski, leitet die Forderungen der Prager Genossen umgehend im Eilbrief an Honecker weiter : »Der Verkehrsminister der ČSSR, František Podlena, teilt im Auftrag des Ministerpräsidenten Adamec dem DDR - Botschafter Ziebart telefonisch mit, dass heute früh eine Krisenberatung stattgefunden hat, in der einheitlich festgestellt wurde, dass die Situation in Prag äußerst kritisch sei. Die Staatsbahn und andere Institutionen der ČSSR hatten daher bereits alle Vorbereitungen getroffen, dass in der Nacht mit der Lösung des Problems begonnen werden kann. Genosse Adamec hat erklärt, dass der ČSSR sehr daran gelegen ist, dieses Problem verkehrstechnisch mit der DDR zu lösen. Wenn aber nicht bald eine Entscheidung vorliegt, sieht sich die Regierung der ČSSR gezwungen, eine eigene Lösung herbeizuführen.«347
Ostberlin, Botschaft der ČSSR, 9.00 Uhr
Der tschechoslowakische Botschafter in der DDR, František Langer, interveniert um 9.00 Uhr beim SED - Politbüromitglied Günther Kleiber und trägt ihm die Forderungen der tschechoslowakischen Regierung vor. Heute früh um 8.15 Uhr wurde er vom Ministerpräsidenten Adamec um diese Intervention gebeten. Der Botschafter teilt mit, dass die Situation der etwa 3 000 bis 4 000 DDR - Bürger, die sich in Prag auf der Straße aufhalten, kritisch sei. Große Gefahren bestünden insbesondere für die Kinder, die sich auf der Straße befinden. Der tschechoslowakische Ministerpräsident bittet um schnellen Abtransport aus Prag, weil es Anzeichen gäbe, dass die DDR - Bürger sich mit den tschechoslowakischen Oppositionsgruppen verbünden könnten. Falls die DDR nicht imstande sein sollte, die DDR - Bürger abzutransportieren, wird die Tschechoslowakei selbst adäquate Maßnahmen ergreifen. Die ČSSR ist bereit, die DDR - Bürger mit den Zügen der tschechoslowakischen Staatsbahnen direkt in die BRD zu transportieren.348
345 Ebd. 346 Botschafter Ziebart an die Mitglieder des Politbüros Axen, Mielke und Krolikowski vom 4.10.1989 ( BStU, ZA, Sekretariat des Ministers 63, B. 25). 347 Krolikowski i.V. von Außenminister Fischer an SED - Generalsekretär Honecker vom 4.10.1989 ( BArch B, DY 30, IV 2/22039/352, unpag.; BStU, ZA, Sekretariat des Ministers 63, B. 23 f.) – Dok. 44. 348 Kleiber an SED - Generalsekretär Honecker vom 4. 10. 1989 über die Intervention des ČSSR Botschafters Langer ( BArch B, DY 30/5195, Bl. 21). Zit. nach Prečan, Ke svobodě přes Prahu, S. 109.
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Ostberlin, Politbüro der SED, 10.10 Uhr
Um 10.10 Uhr tagt das Politbüro der SED. Es bestätigt formal, was bereits am Vortag seitens der engsten Parteiführung beschlossen worden ist : Genehmigung der nächsten Ausreisewelle »von ehemaligen Bürgern der DDR«349 bei gleichzeitiger Schließung der Grenze. Auch unterlassen es die Politbüromitglieder nicht, KPTsch - Chef Jakeš um Verständnis für die entstandene Verspätung zu bitten : »Entsprechend der Beratung im Politbüro am 4. 10. 1989 beginnt die Aktion der Ausreise von ehemaligen Bürgern der DDR aus Prag mit Zügen der Deutschen Reichsbahn am 4.10.1989 um 17.00 Uhr. Genosse Jakeš, Generalsekretär des ZK der KPTsch, ist durch ein Schreiben des Generalsekretärs des ZK der SED, Genossen E. Honecker, über die Entscheidung zu informieren. Dabei ist ihm der Dank für seine Information zu übermitteln und zum Ausdruck zu bringen, dass die zugesagten Vorbereitungen zur Lösung des Problems erst entschieden werden konnten, nachdem das Politbüro des ZK der SED die entsprechenden Beschlüsse gefasst hat.«350
Die Staatssekretäre des Ministeriums für Verkehrswesen werden zur Lösung logistischer Probleme nach Prag entsandt. Der Ständige Vertreter der DDR in Bonn, Horst Neubauer, erhält den Auftrag, Kanzleramtschef Seiters über den Ablauf der heutigen Operation zu informieren. Die Medien selbst sollen erst mit Beginn der Aktion um 17.00 Uhr unterrichtet werden.351 Ein Vorhaben, das sich einmal mehr als vergeblich herausstellt : Wie schon zuletzt, so dringen auch dieses Mal wieder Informationen über den geplanten Beginn der Operation nach draußen und westliche Medien berichten, sehr zum Leidwesen der SED - Führung, deutlich früher über das bevorstehende Ereignis als vom SED - Politbüro beabsichtigt. Für all jene DDR - Bürger aber, die sich noch immer mit Ausreisegedanken tragen, bringt die heutige Politbüro - Sitzung weiteres Ungemach mit sich : Die Aussetzung des pass - und visafreien Reiseverkehrs in die Tschechoslowakei wird auch auf den Transitverkehr nach Bulgarien und Rumänien ausgedehnt. Verteidigungsminister Heinz Keßler, Innenminister Friedrich Dickel und der Minister für Staatssicherheit Erich Mielke erhalten zudem den Auftrag, die Grenze zur ČSSR und zur Volksrepublik Polen »in ihrer Gesamtlänge unter Kontrolle zu nehmen«.352 Damit ist die DDR von allen Seiten hermetisch abgeriegelt.
349 Protokoll Nr. 41 der Sitzung des Politbüros des ZK der SED vom 4.10.1989 ( BArch B, DY 30/ J / IV /2/2/2350, unpag.) – Dok. 45. 350 Ebd. 351 Ebd. 352 Ebd.
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Prag, Botschaft der Bundesrepublik, 18.00 Uhr – Sympathie der Prager
Gegen 18.00 Uhr steht endlich der erste Sonderzug in Prag bereit. Als die flüchtigen DDR - Bürger die vor der Botschaft wartenden Busse besteigen, welche sie zum Bahnhof bringen sollen, jubeln ihnen umstehende Prager, unter denen sich auch Oppositionelle aufhalten, offen zu.353 Die zunehmende Anteilnahme und Hilfsbereitschaft der tschechoslowakischen Bevölkerung findet auch beim westdeutschen Militärattaché Adolf Brüggemann lobende Erwähnung : »Das Geschehen rund um unsere Botschaft wurde von Anfang an mit wachsender Anteilnahme und schließlich sogar praktischer Unterstützung nicht nur von der tschechoslowakischen Zivilbevölkerung, sondern auch von der eingesetzten Polizei und zahlreichen Soldaten der ČSSR Volksarmee ( ČLA ) aller Dienstgrade aufmerksam beobachtet. Ich erinnere mich noch gut daran, wie Polizisten während der zweiten Flüchtlingswelle, die am Vorabend noch mit brutaler Gewalt Flüchtlinge am Übersteigen des Gartenzauns der Botschaft hindern wollten, am nächsten Tage Flüchtlingen das Gepäck trugen, als diese mit Bussen zum Bahnhof gefahren werden sollten. Bei mehreren Gelegenheiten äußerten Generäle der Tschechoslowakischen Volksarmee mir gegenüber ihre Sympathie und Anerkennung für die humanitären und logistischen Leistungen der Botschaft, gleichzeitig aber auch ihren Unmut über die in der DDR liegenden Ursachen der Flüchtlingsbewegung. Von diesen Generalen erfuhr ich ferner, dass alle Ereignisse bereits auch in verschiedenen Verbänden der Tschechoslowakischen Volksarmee zu Diskussionen mit laut geäußerten Zweifeln am herrschenden kommunistischen System geführt hatten.«354
Bad Schandau, Eisenbahn - Grenzübergang
Von nun an werden mehr als 8 000 Personen355 mit Sonderzügen über das Gebiet der DDR ins bayerische Hof transportiert. Den ersten Sekretären der SED Bezirksleitungen Dresden und Karl - Marx - Stadt, Hans Modrow und Siegfried Lorenz, wird mitgeteilt, dass in der Nacht zum 5. Oktober mehrere Züge mit Ausreisewilligen durch ihre Bezirke fahren würden. Sicherheitsmaßnahmen oblägen der zentralen Leitung des MfS.356 Da Modrow gewaltsame Ausschreitungen befürchtet, schlägt er Verkehrsminister Otto Arndt vor, die Züge vor allem über 353 Botschaft Prag an AA vom 4.10.1989. Betr. : Zufluchtsuchende aus der DDR, hier : TSL. Medien ( PA AA, 210, 140715 E, unpag.). 354 Brüggemann, Als Militärattaché aktiver Zeitzeuge in Prag 1989, S. 833. 355 Leiter der BV Karl - Marx - Stadt des MfS, i.V. Schaufuß, an Stellvertreter des Ministers Neiber, Leiter ZAIG Irmler, Leiter ZKG Niebling, Leiter ZOS Sommer vom 5. 10. 1989 : Lageeinschätzung über die Situation im Bezirk Karl - Marx - Stadt im Zusammenhang mit der Durchführung zentral festgelegter Maßnahmen zur Ausweisung von Bürgern der DDR, die sich rechtswidrig in der diplomatischen Vertretung der BRD in der ČSSR aufhalten ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 469, 1, Bl. 345–350). 356 Vgl. SED - Generalsekretär Honecker an die 1. Sekretäre der SED - Bezirksleitungen Dresden und Karl - Marx - Stadt, Modrow und Lorenz, vom 4. 10. 1989 ( BStU, ZA, Sekretariat des Ministers 664, Bl. 59 f.).
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tschechoslowakisches Gebiet zu leiten und nur eine kurze Wegstrecke über die DDR, konkret von Bad Brambach nach Hof, zurücklegen zu lassen. Doch Modrows Vorschlag wird mit der Begründung abgelehnt, dass die Züge bereits an der Grenze vor Bad Schandau stünden.357 An die Bezirksbehörde der Deutschen Volkspolizei Dresden ergeht die Anweisung, die Streckenführung zu sichern, Unterbrechungen, Zustiege auf Bahnhöfen und freier Strecke konsequent auszuschließen sowie eine »Annäherung unberechtigter Personen an das Eisenbahngelände rechtzeitig zu verhindern«.358 Der erste Sonderreisezug trifft um 21.02 Uhr in Bad Schandau ein. Zwei weitere Züge folgen um 22.37 Uhr und 23.39 Uhr. Um die vor allem in Dresden höchst angespannte Lage nicht noch weiter eskalieren zu lassen – hier sammeln sich die aus dem grenzüberschreitenden Zugverkehr herausgeholten Reisenden in großer Zahl –, werden die Waggons mit den Botschaftsflüchtlingen bis kurz nach Mitternacht in Bad Schandau zurückgehalten. Staatsgrenze DDR - ČSSR, Widerstand gegen die Grenzschließung
Kurz nach Einstellung des visafreien Reiseverkehrs in die Tschechoslowakei kommt es bereits zu den ersten Komplikationen. Wie der Militärattaché der Nationalen Volksarmee, Helmut Böhm, berichtet, weigern sich etliche auf Auslandsreisen befindliche Menschen, in ihre Heimatorte zurückzukehren oder die bereits bestiegenen Züge wieder zu verlassen. Auch in der ČSSR ist man sich der explosiven Lage vollauf bewusst. Gemäß dem Lagebericht des tschechoslowakischen Botschafters in Ostberlin, František Langer, »spekulieren einige westliche Diplomaten, das könnte der sprichwörtlich letzte Tropfen im Becher der Geduld« sein.359 Ferner befürchtet der Botschafter, dass die im SED - Beschluss verwandte Formulierung von der Schließung der Staatsgrenze, welche in Absprache mit den tschechoslowakischen Stellen getroffen worden sei, zu »einer feindlichen Grundhaltung« der DDR - Öffentlichkeit gegenüber Bürgern der ČSSR führen könne.360 Nichtsdestotrotz sei anzunehmen, dass auch weiterhin DDR - Bürger versuchen würden, in die Tschechoslowakei einzureisen, mit dem Ziel, in die Prager Botschaft der BRD zu gelangen. Diejenigen DDR - Bürger, die sich derzeit im Ausland aufhielten, würden mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht mehr in die DDR zurückkehren wollen. Dies zeige die »fast schon fanatische Flucht« 357 Vgl. Modrow, Bilanz nach 150 Tagen. Rückblick auf meine Regierungszeit. In : Die Zeit vom 13.4.1990. 358 MdI an Chef der BDVP Dresden zu den Transporten von Prag vom 4.10.1989 ( ABL, Dresden, unpag.). 359 Botschafter Langer an Außenministerium der ČSSR vom 4.10.1989 ( AMZV Praha, Telegramy přijaté, 1989, sv. 35). 360 Ebd.
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einiger Bürger in letzter Zeit.361 Auch die tschechoslowakische Staatssicherheit berichtet derweil, dass sich der Druck auf die Grenze erhöht habe. Allein in der vergangenen Nacht seien von den tschechoslowakischen Sicherheitsorganen über 130 DDR - Bürger festgenommen worden, welche illegal die Grenze zur ČSSR überschritten hätten.362 Dresden, Hauptbahnhof / Karl - Marx - Stadt : »Wir wollen raus !«
Die Ausreisewelle schaukelt sich hoch. In der Nacht vom 4. zum 5. Oktober befördern mehrere Sonderzüge 8 270 Personen363 von Prag über die DDR nach Hof. Zwischen 1.00 Uhr und 2.00 Uhr in der Nacht rollen die Züge durch Dresden. Die von den Westmedien verbreitete Meldung der zweiten Zugdurchfahrt löst »bei den aus dem Reisestrom herausgelösten und sich noch in Dresden in hoher Anzahl konzentrierten Antragstellern und anderen negativen Kräften« Unruhen aus, wie es die Dresdner Staatssicherheit in ihrem zugehörigen Lagebericht später formulieren wird.364 Zahlreiche Ausreisewillige aus der gesamten DDR fahren an die Bahnstrecke und belagern Bahnhöfe und Haltestellen. Etliche Demonstranten, die von der hermetischen Abriegelung der Grenzen betroffen sind, während gleichzeitig Tausende DDR - Bürger in die Bundesrepublik entlassen werden, besetzen in ihrer Empörung die auf dem Weg liegenden Bahnhöfe.365 Im Bezirk Karl - Marx - Stadt ( heute Chemnitz ) zählt das Innenministerium allein am 4. Oktober 3 500 Personen, die versuchen, auf fahrende Züge aufzuspringen. Überall räumen Einheiten der Kontrollgruppe der Transportpolizei ( Trapo ) und der Kampfgruppen sowie MfS - Mitarbeiter mit Sonderausrüstung, Schlagstöcken und Schäferhunden die Bahnhöfe, zahlreiche Demonstranten werden festgenommen.366 361 Ebd. 362 Täglicher Situationsbericht des Innenministeriums der ČSSR vom 4. 10. 1989 ( ABS Praha, č.j. OV - 039/ A - 89). 363 Leiter der BV Karl-Marx-Stadt des MfS, i.V. Schaufuß, an Stellvertreter des Ministers Neiber, Leiter ZAIG Irmler, Leiter ZKG Niebling, Leiter ZOS Sommer, vom 5.10.1989: Lageeinschätzung über die Situation im Bezirk Karl-Marx-Stadt im Zusammenhang mit der Durchführung zentral festgelegter Maßnahmen zur Ausweisung von Bürgern der DDR, die sich rechtswidrig in der diplomatischen Vertretung der BRD in der ČSSR aufhalten (BStU, ASt. Chemnitz, AKG 469, 1, Bl. 345–350). In der statistischen Aufbereitung der Aktion »Schiene« vom 4.–5.10.1989 wird lediglich die Zahl von 6.242 DDR-Bürgern genannt (BStU, ASt. Chemnitz, AKG 435, Bl. 130–132). 364 BV Dresden des MfS : Lageeinschätzung für den 3.–8.10.1989 ( ABL, Dresden, unpag.). Zu den Vorgängen am Dresdner Hauptbahnhof vgl. auch Richter, Die Friedliche Revolution, S. 258– 286. 365 Vgl. MdI : Bericht von Karl - Marx - Stadt vom 5.10.1989 ( BArch B, DO 1, 54024); MdI - Lagefilm Oktober 1989, Nr. 114–132 ( BArch B, DO 1, 52461). 366 Einschätzung des Leiters der Bezirksverwaltung für Staatssicherheit Karl - Marx - Stadt, Gehlert, zur Lage im Bezirk Karl - Marx - Stadt vom 5.10.1989 ( BStU, ASt. Chemnitz, AKG 6 469 Bd 1, Bl. 345–350).
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In Dresden kommt es in Folge der zugespitzten Situation und der ergriffenen Maßnahmen der Sicherheitskräfte zur Eskalation. Am Abend stürmen Hunderte Ausreisewillige den Dresdner Hauptbahnhof in der Absicht, auf die einfahrenden Züge aufzuspringen, mittels derer die Prager Botschaftsflüchtlinge in die Bundesrepublik gebracht werden sollen. Nach der überraschenden Grenzschließung sehen viele in den Zügen ihre letzte verzweifelte Chance, doch noch der DDR entfliehen zu können.367 Um 19.15 Uhr »rotten« sich auf dem Gelände des Hauptbahnhofs Gruppen zu je 200 bis 300 Ausreisewilligen aus nahezu allen Bezirken der DDR ( außer Rostock und Suhl ), die mit der Reichsbahn bzw. dem Pkw angereist waren, zusammen. Eilig durchgeführte Räumungseinsätze der Sicherheitskräfte haben nur kurzfristig Erfolg. Obwohl die Eingänge zum Bahnhof abgesperrt sind und nur Personen mit gültigen Fahrkarten das Gebäude betreten dürfen, nimmt die Zahl der »Störer« weiterhin stark zu.368 Gegen 20.00 Uhr sind bereits rund 3 500 Menschen anwesend, von denen mindestens 1 000 durch Sprechchöre, Pfiffe und ähnlichem versuchen, ihre sofortige Ausreise zu erzwingen. Die Demonstranten fordern in Sprechchören lautstark : »Wir wollen raus !« Die Sicherheitskräfte versuchen ihrerseits, die »Unruhestifter« vom Bahnhofsgelände abzudrängen. Dabei setzen sie auch Lautsprecher ein, mittels derer sie die Demonstranten dazu auffordern, sich in ihre Heimatorte zu begeben und ihre Anliegen bei den staatlichen Stellen vorzutragen, denen dann sicher stattgegeben werde. Natürlich bleiben derartige Aufforderungen wirkungslos.369 Zwischen 21.00 Uhr und 22.00 Uhr braut sich eine Massendemonstration von bisher unbekanntem Ausmaß zusammen. Die Stimmung ist explosiv. Zu beiden Seiten sowie im nichtgeräumten Teil des Bahnhofes halten sich mittlerweile bis zu 20 000 Personen auf. Diese versuchen, gewaltsam die Absperrungen zu durchbrechen – unter anderem werden Bahnhofstüren zerschlagen, um neue Zugänge zum Areal zu erzwingen. Es entstehen erhebliche Sachschäden an der Intershop Einrichtung auf dem Bahnhofsgelände, Schalteranlagen gehen ebenso zu Bruch wie eine Vielzahl von Fensterscheiben.370 Vor dem Haupteingang des Bahnhofes wird das Kopfsteinpflaster aufgerissen, Sicherheitskräfte werden mit Steinen und Flaschen beworfen sowie mit Holzstöcken attackiert. Ein Funkstreifenwagen wird umgekippt und in Brand gesteckt. Der Konflikt wird bald lebensgefährlich. Als dem Minister für Staatssicherheit Mielke und dem Dresdener SED - Chef Modrow gemeldet wird, dass die Lage drohe, außer Kontrolle zu geraten, wenden sich die beiden am späten Abend, 367 Hertle, Chronik des Mauerfalls, S. 78 f. 368 Leiter der BV Dresden des MfS, Generalmajor Böhm, an Minister für Staatssicherheit Mielke vom 4.10.1989 ( BStU, ASt. Dresden, BV Dresden, Abt. XX, 9185, Bl. 10–12) – Dok. 48. 369 Ebd. 370 Ebd.
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zwischen 22.00 Uhr und 23.00 Uhr, mit der Bitte um Unterstützung an die Führung der Nationalen Volksarmee. Verteidigungsminister Keßler löst daraufhin für den gesamten Militärbezirk III ( Leipzig ) der Landstreitkräfte die Alarmstufe »erhöhte Gefechtsbereitschaft« aus. Mit der Aufgabe, die Polizeikräfte im Raum Dresden zu unterstützen, erhalten die Soldaten Maschinenpistolen und scharfe Munition ausgehändigt.371 Von der Einsatzleitung werden sodann weitere 1 750 Angehörige der Bereitschaftspolizei, der Nationalen Volksarmee, der Kampfgruppen und des Ministeriums für Staatssicherheit zum Einsatz gebracht. Mit Hilfe der zusätzlichen Sicherheitskräfte gelingt es schließlich, die Bahnsteige und das Mittelschiff des Bahnhofes zu räumen. Die nach außen abgedrängten Demonstranten versammeln sich jedoch zu beiden Seiten des Bahnhofes, wo sich ihnen diejenigen in großer Zahl anschließen, denen bereits zuvor das Betreten des Bahnhofes verwehrt worden war. Unter Einsatz von Wasserwerfern und Sonderausrüstung ( Schilde, Schlagstöcke, Schutzhelme, Reizkörper ) gelingt es den Sicherheitskräften schließlich bis Mitternacht, den Bahnhof vollständig zu räumen. Zu diesem Zeitpunkt befinden
Revolte in Dresden am 4. Oktober 1989: »Wir wollen raus!« – mit diesem Ruf blockieren bis zu 20 000 Menschen den Dresdner Hauptbahnhof. Sie wollen zu den Flüchtlingszügen von Prag nach Hof, die den Bahnhof passieren. Doch die Volkspolizei räumt das Bahnhofsgelände mit aller Gewalt. Foto: pictures alliance/ZB 371 Hertle, Chronik des Mauerfalls, S. 78 f.
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sich noch etwa 10 000 Demonstranten vor dem Bahnhofsgebäude, eine Zahl, die von den Einsatzkräften beständig verringert wird. Bis 1.00 Uhr in der Früh ist die Zahl derer, die noch Widerstand leisten, auf ca. 2 000 bis 3 000 Personen zusammengeschrumpft. Erst nach dem Eintreffen weiterer Einsatzkräfte kann die Menschenansammlung schließlich vollständig aufgelöst werden – mittlerweile ist es 3.00 Uhr morgens. Insgesamt werden während des Einsatzes 224 Personen abgeführt. Gegen sie werden strafrechtliche Verfahren eingeleitet. Auf Seiten der Sicherheitskräfte werden in dieser Nacht 45 Angehörige der Volkspolizei verletzt, einer davon mittelschwer.372 Suhl, Bezirksbehörde der Deutschen Volkspolizei
Die Bezirksleitung der Volkspolizei in Suhl will ihre Einsatzkräfte motivieren, damit sie bei den erwarteten Zusammenstößen mit Demonstranten standhaft bleiben und im Zuge der verstärkten Grenzsicherungsmaßnahmen gar nicht erst in Versuchung geraten, selbst »republikflüchtig« zu werden. Deshalb wird unter den Angehörigen der DVP eine Broschüre mit dem vielsagenden Titel »Argumentation der Bezirksbehörde der Deutschen Volkspolizei Suhl zur Notwendigkeit der Aussetzung des pass - und visafreien Reiseverkehrs zwischen der DDR und der ČSSR«373 verbreitet. Die Anleitung »zum richtigen Handeln« verunglimpft nicht nur die flüchtigen DDR - Bürger. Sie schiebt auch unauffällig die Schuld an der Grenzschließung der tschechoslowakischen Regierung zu. Wörtlich heißt es in der Broschüre : »Im Ergebnis einer zügellosen Hetz - und Verleumdungskampagne ist es dem Gegner in Vorbereitung des 40. Jahrestages gelungen, dass feindlich eingestellte, politisch labile, irre geleitete, verführte und abgeworbene Bürger der DDR unserem Staat den Rücken kehren. Besonders Hartnäckige besetzten die Botschaften der BRD in Prag und Warschau, um ihre Ausreise zu erzwingen. Dabei wurden und werden sie [...] unter menschenunwürdigen Bedingungen auf engstem Raum ohne ausreichende hygienische, sanitäre und versorgungsmäßige Voraussetzungen zusammengepfercht, so dass eine reale Gefahr für die Gesundheit und das Leben sowie für den Ausbruch von Seuchen gegeben ist. [...] Diese Menschen, die vorsätzlich gegen die Gesetze unserer Republik [...] verstoßen haben, brachten bedenkenlos sich und andere Bürger unserer befreundeten Nachbarländer in Gefahr. Selbst die Gesundheit der eigenen Kinder spielte keine Rolle. Wie moralisch verkommen muss ein Mensch sein, wenn er mit der Perspektivlosigkeit, Gesundheit und dem Leben der eigenen Kinder spielt. Nach intensivsten Bemühungen, diese Menschen zur Rückkehr zu bewegen, ohne dies aber zu erreichen, entsprach es dem Charakter
372 Leiter der BV Dresden des MfS,Generalmajor Böhm, an Minister für Staatssicherheit Mielke vom 4.10.1989 ( BStU, ASt. Dresden, BV Dresden, Abt. XX, 9185, Bl. 10–12) – Dok. 48. 373 Argumentation der Bezirksbehörde der Deutschen Volkspolizei zur Notwendigkeit der Aussetzung des pass - und visafreien Reiseverkehrs zwischen der DDR und der CSSR vom 4.10.1989 ( ThStAM, BdVP 630, unpag.).
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unserer humanistischen Gesellschaftsordnung, wenn unsere Partei - und Staatsführung entschieden hat, sie in die BRD abzuschieben. Die von der BRD in dem Zusammenhang getätigten Zusagen – nach dem humanitären Akt zu einem normalen, den internationalen Gepflogenheiten entsprechenden Betrieb in ihren Botschaften in Prag und Warschau überzugehen und fortzusetzen – wurden nicht eingehalten. [...] Über die westlichen Medien wurde [stattdessen] verkündet, dass den ausreisewilligen DDRBürgern auch künftig die Türen der Botschaft offen stehen. Dadurch wurden weitere Bürger der DDR ermuntert, über die rechtswidrige Besetzung der Botschaften die Ausreise zu erzwingen. Dies führte wiederum zu einer unerträglichen Situation und gefährdete darüber hinaus das gesamte politische Klima. Aus diesem Grund hat die Regierung der DDR nach Konsultation mit der Regierung der ČSSR sich für die zeitweise Aussetzung des visafreien Reiseverkehrs für Bürger der DDR nach der ČSSR entschieden. Dies entsprach ausdrücklich der Bitte der ČSSR. Die durch die Regierung beider Länder zurückliegend großzügig eingeführten Reisemöglichkeiten zwischen befreundeten sozialistischen Nachbarn wurden bar jeglicher staatsbürgerlichen Verantwortung missbraucht und dabei nationale Gesetze und völkerrechtliche Regelungen gröblichst missachtet. [...] Somit wurde diese Entscheidung notwendig und ist unumgänglich. Die Verursacher sitzen derzeit in den Botschaften der BRD in Prag und Warschau, die Drahtzieher und Organisatoren in Bonn. Ungewollte Konsequenzen für die Bürger der DDR, die der Kampagne des Gegners nicht auf den Leim gegangen sind, waren durch die Verursacher dieser Situation von vornherein einkalkuliert und beabsichtigt, um Unzufriedenheit und Misstrauen gegenüber unserer Partei - und Staatsführung zu erzeugen. Im Zusammenhang mit der Aussetzung des pass - und visafreien Reiseverkehrs zwischen der DDR und der ČSSR für Bürger der DDR ist in der politisch - ideologischen Arbeit folgendes durchzusetzen bzw. zu beachten : Die Veröffentlichungen der Massenmedien der DDR sind ständig aktuell zu verfolgen. Die Angehörigen und Zivilbeschäftigten [ der Deutschen Volkspolizei ] sind zu befähigen, in Diskussionen mit der Bevölkerung die Politik der SED und die Rechtsmäßigkeit der getroffenen Entscheidung standhaft und offensiv zu vertreten. Die Kräfte haben sich darauf einzustellen, dass sie mit höchster Wachsamkeit die angewiesenen Maßnahmen zur Gewährleistung einer hohen Grenzsicherheit durchsetzen sowie auf Provokationen besonnen und entsprechend den Festlegungen reagieren.«374
Nach der Lektüre eines solchen Textes – der durchaus exemplarischen Charakter für die Propaganda des SED - Regimes hat – drängt sich dem heutigen Leser sicherlich die Frage auf, inwieweit die damaligen Adressaten das Gelesene tatsächlich auch geglaubt haben. Und noch dringender : Haben es diejenigen, die es damals zu Papier brachten, geglaubt ? Die Jahrzehnte währende kommunistische Diktatur hat nicht nur das politische System, sondern auch das Wirtschafts - und Rechtssystem sowie die Eigentumsverhältnisse zerrüttet. Und auch die moralischen und ethischen Werte der vortotalitären Gesellschaft waren durch die vielen Jahre der Gewaltherrschaft weithin deformiert worden. Andauernde Verstellung und Lüge im öffentlichen Raum sowie kleine Bestechungen waren ein gängiges Mittel zur Absicherung der 374 Ebd.
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nackten Existenz. Die Menschen wurden unter den Bedingungen der unentwegten Lügenpropaganda sozialisiert. Die Gesellschaft war daher durch extremes Misstrauen geprägt. Sogar gute Freunde oder – und das ist gewiss das Unheilvollste – auch die engsten Familienmitglieder waren zu einander misstrauisch, was die politischen Einsichten und Äußerungen betraf. Den Zustand der durch die kommunistische Diktatur geprägten Gesellschaft beschrieb im Jahre 1990 der neue tschechoslowakische Staatspräsident Václav Havel wie folgt : »Wir sind moralisch krank geworden, weil wir uns angewöhnt haben, etwas zu sagen und etwas anderes zu denken. Wir haben gelernt, an nichts zu glauben, zueinander gleichgültig zu sein, uns nur um uns selber zu kümmern.«375 5. Oktober 1989 Dresden, Hauptbahnhof, 2.00 Uhr
Nachdem der größere Teil der Demonstrationen von den Sicherheitskräften aufgelöst worden ist, passiert der erste Zug den Dresdner Hauptbahnhof um 2.00 Uhr morgens. Die anderen fünf Züge werden ab 4.30 Uhr in Vojtanov / Bad Brambach an die Deutsche Reichsbahn übergeben und über Plauen nach Gutenfürst geleitet. Alle anderen Züge werden über Bad Brambach und Plauen umgeleitet. Die Züge werden schließlich am frühen Morgen in Gutenfürst an die Deutsche Bundesbahn übergeben.376 Hof, Hauptbahnhof – »Freiheit, Freiheit !«
Am Hofer Hauptbahnhof ist die Stimmung unter den Helfern am frühen Morgen gespannt. Mitarbeiter des Technischen Hilfswerks und des Deutschen Roten Kreuzes haben Eintöpfe gekocht, sie aber nach längerer Wartezeit an einige in der Nähe befindliche Altenheime abgegeben. Es kursieren Gerüchte über 10 000 bis 15 000 Flüchtlinge, unter denen sich auch Schwerverletzte befinden sollen. Inzwischen versammeln sich auch immer mehr Anwohner am Bahnhof, um die Flüchtlinge zu begrüßen oder einfach nur dem historischen Geschehen aus nächster Nähe beizuwohnen. Um 5.49 Uhr trifft schließlich der erste Sonderzug aus Prag ein. Die Flüchtlinge winken bei ihrer Ankunft aus den Fenstern; auf der »Luftbrücke«, einer Fußgängerüberführung über den Gleisen, drängen sich die Hofer. Binnen kürzester Zeit versammelt sich am Bahnhof eine stattliche Menschenmenge. Frank Hassler, Helfer des Roten Kreuzes, erinnert sich : »Ich
375 Zit. nach Vodička, Wir sind moralisch krank geworden ..., S. 250. 376 Vgl. Verkehrsministers Arndt an Krenz vom 5. 10. 1989. Anlage : Information über die Durchführung der Sonderzüge von Prag nach Hof ( BArch B, DY 30/ IV /2/2039/352, Bl. 9–14).
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Ankunft in Hof. Foto: pictures alliance/dpa
konnte schreiende, lachende, weinende, traurige, ernsthafte, bedrückte und ja, auch verzweifelte Menschen wahrnehmen.«377 Die engagierten Bürger aus Hof und der Region bereiten den ankommenden Flüchtlingen einen herzlichen Empfang. Wildfremde Menschen werden umarmt und begrüßt, als seien sie »alte Bekannte«. Bei Frank Hassler klingt das so : »Den nahezu ausschließlich jungen Menschen mit Kindern im Schlepptau konnte ich die Strapazen der Flucht ansehen. Sie hatten Tränen in den Augen. Ich stand hier am Bahnsteig und beobachtete rings um mich herum die unzähligen Menschen, die geweint hatten, vor lauter Freude laut geschrien hatten, sich gegenseitig umarmten und ihr großes Glück noch nicht fassen konnten. Dabei unüberhörbar war auch der nicht zu Ende gehende Sprechchor, der immer wieder : ›Freiheit, Freiheit !‹ rief.«378 377 Haßler, 44 Jahre gefangen im kommunistischen Käfig, S. 105. 378 Ebd., S. 108 f.
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Rotkreuzhelfer versorgen Babys und Kleinkinder mit Nahrung und neuer Kleidung, die Hofer Bürger gespendet haben. Die Erwachsenen erhalten Lunchpakete, Getränke und Obst. Vor den Gulaschkanonen bilden sich lange Schlangen, die gespendete Kleidung wechselt rasch den Besitzer. Im Sanitätszelt finden sich etliche Flüchtlinge ein, die sich Riss - oder Quetschwunden zugezogen haben, als sie voller Panik in Prag die Züge bestiegen. Zahlreiche Hofer bieten den Flüchtlingen Übernachtungsmöglichkeiten an. Nur wenige nutzen das Angebot, sofort mit Sonderzügen weiter in die Erstaufnahmelager nach Hannover, Lübeck, Deggendorf, Wildflecken, Bayreuth oder Hammelburg zu fahren. Stattdessen finden viele von ihnen in der Hofer Freiheitshalle eine provisorische Unterkunft.379 Die Bahnhofsmission informiert darüber, unter welchen Anschriften DDR - Flüchtlinge in der Bundesrepublik untergekommen sind. So können diejenigen, die sich aus den Augen verloren haben, einander wiederfinden. Teilweise waren Familien getrennt worden, als die Männer auf dem Botschaftsgelände im Freien übernachten mussten.380 Die Bundespost hat am Bahnhofsvorplatz drei Fernmeldewagen bereitgestellt, von denen die Flüchtlinge kostenfrei telefonieren können. Es bilden sich schnell lange Schlangen heraus. Die meisten rufen eifrig Verwandte und Freunde an, um ihnen stolz die schier unglaubliche Nachricht mitzuteilen : »Wir sind im Westen angekommen ! Die Luft zum Atmen ! ! Freiheit !«381 Prag, Botschaft der Bundesrepublik, Ausreise der Flüchtlinge ohne Probleme
Botschafter Huber berichtet am Morgen, dass die Ausreise der Flüchtlinge ohne Probleme oder größere Unruhen vonstatten gegangen sei, was für Prag genommen auch zutrifft. Im Palais Lobkowicz sind rund 200 Menschen zurückgeblieben, die von Rechtsanwalt Vogels Angebot doch noch Gebrauch machen wollen. Geplant ist, das Botschaftsgebäude sowie das umgebende Grundstück mit Hilfe des Deutschen Roten Kreuzes zu reinigen bzw. wieder instand zu setzen, so dass man sich der Wahrnehmung der üblichen Aufgaben bald wieder widmen kann.382 Wenige Stunden, nachdem die letzten Ausreisewilligen die Botschaft verlassen haben, erhalten deren Mitarbeiter den Hinweis, dass die von den Flüchtlingen zurückgelassenen Pkws abgeschleppt und im Prager Randgebiet von Džbán konzentriert werden. Finanziert wird das Ganze von der DDR. Die Prager Botschaft der Bundesrepublik setzt sich deswegen mit dem tschechoslowakischen Außenministerium in Verbindung und protestiert dagegen. Schließlich seien die 379 380 381 382
Vgl. ebd., S. 111. Ebd., S. 111. Vgl. ebd., S. 111. Vgl. Botschafter Huber an AA vom 5.11.1989. Betr. : Zufluchtsuchende Deutsche aus der DDR, hier : Ausreiseaktion am 4.10.1989 ( PA AA, 513, B 85 Nr. 2347 E, unpag.) – Dok. 49.
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fraglichen Pkws immer noch das Eigentum derjenigen, die gerade in die Bundesrepublik ausgereist sind.383 Prag, Untergrundzeitung »Lidové noviny«, Solidarität der Prager
Die jüngste Ausgabe der Untergrundzeitung »Lidové noviny« erhebt das emotionsgeladene Drama der Prager Botschaftsflüchtlinge zum größten tschechoslowakischen Ereignis der letzten zehn Jahre schlechterdings. Ein Autor, der seinen Text nur unter Pseudonym veröffentlichen kann, schreibt : »Vor den Augen der Tschechen spielte sich eine Tragödie von etwa 13 000 menschlichen Wesen ab, die sich mutig entschlossen hatten, den zerfallenden Torso des Eisernen Vorhangs, welcher Europa spaltet, zu überqueren. Man darf sich nicht durch den glücklichen Ausgang dieses Dramas blenden lassen. Ein massenhafter Exodus von Menschen, die sich, aus welchem Grund auch immer, entwurzeln, sich von Heimat, Eigentum, Freunden und Vergangenheit endgültig trennen, ist immer eine tragische Geschichte. Die Augen der Flüchtlinge hinter den Gittern des Zaunes der westdeutschen Botschaft – besorgt, verzweifelt, bittend – lassen darüber niemanden zweifeln, der den Willen und den Mut hatte, hinzusehen.«384
Alsdann macht der Autor auf die zunehmende Solidarität der Prager Bevölkerung aufmerksam : »So wie das Lager, und es war nichts anderes, apokalyptische Ausmaße annahm, wuchs auch die Anzahl der zusehenden Bürger. [...] Mit dem Zuwachs der Flüchtlingszahlen breiteten sich zunehmend Zeichen der Solidarität und Sympathie aus, angefangen von unauffällig zeigenden Fingern, die den ratlos umherirrenden DDR - Deutschen die Richtung zur Botschaft wiesen, über Blicke, Lächeln und freundliche Worte, bis hin zu materiellen Gesten. Eine ältere Frau verteilte Äpfel und Schokolade. Schließlich fing sie an zu weinen : ›Sie tun mir so leid – und ich mir eigentlich auch.‹ Eine andere Frau fragte nach dem Roten Kreuz und erklärte : ›Ich biete an, dass ich für sie kochen werde, ich kann mir das nicht mehr ansehen !‹«385
Viele Prager unterstützten die Flüchtlinge durch kleine Geschenke. Im Kleinseitner Theater ( Malostranské divadlo ) wurde Hilfe organisiert – Tee gekocht und an die Bedürftigen verteilt. Viele Kinder konnten sich in von Anwohnern zur Verfügung gestellten Zimmern zumindest zeitweilig aufwärmen.386
383 Botschaft Prag an Außenministerium der ČSSR vom 5. 10. 1989 : Notiz über Pkw von zufluchtsuchenden DDR - Deutschen in Prag ( PA AA, Bo. Prag, 20682 E, unpag.). 384 Karel Čermák ( Pseudonym ), Jací jsme ? In : Lidové noviny 10/1989, S. 4. Die Herausgabe und das Verfassen von Artikeln für unabhängige Untergrundzeitungen wurden im kommunistischen Regime als Straftat geahndet. 385 Ebd. 386 Ebd.
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Washington, US - Außenministerium / Prag, Botschaft der USA
Die Prager Botschaft der USA liegt in unmittelbarer Nachbarschaft zum Palais Lobkowicz. Im Gegensatz zur Bundesrepublik lassen die Vereinigten Staaten ihre Botschaft von tschechoslowakischen Sicherheitskräften abschirmen. Wie das USAußenministerium seinen Sprecher Richard Boucher am heutigen Tag erklären lässt, würden die Vertretungen der USA Fälle, wie jene in den westdeutschen Botschaften von Prag und Warschau, nicht dulden. Außenministeriumssprecher Richard Boucher erklärt in Washington, dass »die Botschaften der USA in Übersee nicht zu Zufluchtsstätten auch für nur kleine Menschengruppen werden«. Dies gelte auch für diejenigen Personen, die damit ihre Ausreise ins Ausland erzwingen wollten.387 Neu - Delhi, Zeitung »Indian Express«
Der Massenexodus der DDR - Bürger vom Vortag beherrscht praktisch die gesamte westliche Medienlandschaft. Überall wird die Rolle von Bundesaußenminister Genscher gewürdigt. Pressekommentatoren erklären das Verhalten der DDR vor allem damit, dass die SED - Parteiführung Ruhe und Ordnung zum unmittelbar bevorstehenden 40. Staatsgeburtstag am 7. Oktober wiederherstellen wolle. Aber nicht nur die westliche Presse, sogar die indischen Medien berichten ausführlich und voller Sympathie. So kommentiert die in millionenfacher Auflage erscheinende indische Tageszeitung »Indian Express« : »Mit grundlegenden Reformen des Systems [ in der DDR ] entfiele aber auch die Begründung für einen separaten deutschen Staat.«388 Wie zutreffend ! 6. Oktober 1989 Dresden, Bericht der Staatssicherheit : Überdruss wird größer als die Furcht
Die mächtige DDR - Staatssicherheit mit ihrem allgewaltigen Apparat ist immer gut informiert. Heute bringt sie allerdings den SED - Machthabern alarmierende Nachrichten.389 Nach der Schließung der Staatsgrenze zur Tschechoslowakei hat sich die Stimmung in der Gesellschaft in fataler Weise verschlechtert. Während die Botschaftsflüchtlinge, von der Parteipropaganda als »Erpresser« verun-
387 Erklärung der USA. In : Rheinische Post vom 6.10.1989 ( PA AA, Bo. Prag, 20682 E, unpag.). 388 AA, Vorlage von VLR an Dr. Heide - Bloech über Staatssekretär an Genscher vom 6. 10. 1989 : Betr. : Echo ausländischer Medien zur Ausreise der DDR - Flüchtlinge aus unseren Botschaften in Warschau und Prag ( PA AA, 210, 140733 E, unpag.). 389 BV Dresden des MfS an 1. Sekretär der SED - Bezirksleitung Dresden Modrow vom 6.10.1989 : Information zur Aussetzung des pass - und visafreien Reiseverkehrs zwischen der DDR und ČSSR ( BStU, ASt. Dresden, BV Dresden, Abt. XX, 9185, Bl. 13–16).
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glimpft, in die Freiheit entlassen wurden, bleibt der loyalere Teil der Bevölkerung im eigenen Land gefangen. Die große Mehrheit ist entsetzt : Die letzten durchgängigen Grenzen – die zu den sozialistischen Nachbarländern – sind jetzt hermetisch abgeriegelt. Und wir sitzen hier, im kommunistischen Käfig DDR ! Die Staatssicherheit registriert in der Bevölkerung eine sich radikalisierende Unzufriedenheit. Die Stimmung ist kritisch, sie liegt knapp unter dem Explosionspunkt. Im Schreiben der Stasi - Bezirksverwaltung an den Dresdener SED Bezirksparteichef, Hans Modrow, wird die Tatsache, dass durch die Grenzschließung die DDR für ihre Bürger zum Gefängnis wurde, eingestanden.390 Auch Rechtsanwalt Vogel, ein enger Vertrauter Honeckers, offenbart bei einem Empfang in Bonn seine Sorge, dass die Stimmung in der DDR katastrophal, ja geradezu vorrevolutionär sei.391 Es trifft zu. Die konfliktgeladene gesellschaftliche Spannung wird von Stunde zur Stunde größer. Die bisherige fundamentale gesellschaftliche Ordnung, wonach sich die einfachen Bürger aus Angst der mächtigen Diktatur unterordnen, ist jetzt umgeschlagen. Der Überdruss über das abgewirtschaftete Regime wurde bereits größer als die Furcht. Nach dem streng geheimen Stasi - Bericht sind die Aussetzung des pass - und visafreien Reiseverkehrs zwischen der DDR und ČSSR, ihre Ursachen und Folgeerscheinungen zum Hauptgesprächsstoff der Bevölkerung geworden.392 Von der überwiegenden Mehrheit wird Empörung, Wut und Protest zum Ausdruck gebracht. Die Ursachen für das Fluchtgeschehen werden primär der innenpolitischen Lage zugeschrieben. Die eingeleiteten Maßnahmen kämen einer Bestrafung all jener Bürger gleich, die bisher stets für den Staat eingestanden und ehrlich ihrer Arbeit nachgegangen seien.393 Auch unter den Studenten der TU Dresden rege sich Unmut ob der innenpolitischen Entwicklung in der DDR. Das Reisen, so der akademische Nachwuchs, gehöre doch zum Grundbedürfnis der gebildeten Bürger und müsse vom Staat garantiert werden. Die Praxis zeige jedoch, dass Reisen nicht einmal innerhalb der sozialistischen Länder möglich sei. Damit sei der Sozialismus auf einer Stufe angekommen, wo Reformen dringend geboten seien. Gleichzeitig monierten die Studenten, dass die DDR ständig versuche, die »Schuld an der gegenwärtigen Situation nur der BRD zuzuschieben«.394 Die andauernden Festreden in den Medien und die im Widerspruch dazu stehende Lage erweckten hingegen 390 Ebd. 391 Kiessler / Elbe, Ein runder Tisch mit scharfen Ecken, S. 45. 392 BV Dresden des MfS an 1. Sekretär der SED - Bezirksleitung Dresden Modrow vom 6.10.1989 : Information zur Aussetzung des pass - und visafreien Reiseverkehrs zwischen der DDR und ČSSR ( BStU, ASt. Dresden, BV Dresden, Abt. XX, 9185, Bl. 13–16). 393 Insbesondere in den Orten in der Nähe der Grenzübergangsstellen zur ČSSR wird über den Wegfall der Einkaufsmöglichkeiten in der ČSSR diskutiert und hervorgehoben, dass sich die Lebensbedingungen in den Grenzgebieten enorm verschlechtern würden ( ebd.). 394 Ebd.
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den Eindruck, dass die SED - Parteiführung lediglich versuche, vorhandene Probleme unter den Teppich zu kehren. Eine derartige Kommunikationsstrategie – von den Stasi - Mitarbeitern euphemistisch als »diplomatischer Stil der Informierung« umschrieben – erhöhe jedoch die unter den Menschen ohnehin schon vorhandene katastrophale Missstimmung nur noch mehr.395 Entsprechend würden auch die Bürger, schreibt die Bezirksverwaltung der Staatssicherheit Dresden, die sofortige Aufhebung der Grenzschließung verlangen. Die Arbeiter im VEB Zinnerz Altenberg drohten sogar mit Streik ! Viele Werktätige seien der Ansicht, dass die Entscheidung der SED - Spitze, die »Botschaftsbesetzer« in die BRD auszuweisen und gleichzeitig die Grenzen zu schließen, vor allem die Konzeptionslosigkeit der Regierung veranschauliche. In dem streng vertraulichen Schreiben gibt die Stasi die nackte Wahrheit zu : »Grundtenor der Äußerungen der Werktätigen [...] war : ›Nun stellt die DDR wieder ein Gefängnis dar.‹«396 Prag, Stadtviertel Kleinseite, Erhöhung der Polizeipräsenz
Die Aussetzung der Reisefreiheit für DDR - Bürger in die Tschechoslowakei wird von einer massiven Erhöhung der Polizeipräsenz in Prag, insbesondere rund um das Barockviertel Kleinseite, wo sich viele Botschaften befinden, begleitet.397 Dies erscheint nur auf den ersten Blick paradox. Es hat nämlich einen triftigen Grund. Denn sowohl die ostdeutschen als auch die tschechoslowakischen Kommunisten wollen jetzt unbedingt wieder »Ruhe und Ordnung« hergestellt wissen. Das heißt, man will – ganz im Sinne der in beiden Staaten nach wie vor praktizierten Einparteienherrschaft – die Situation endlich wieder voll unter eigener Kontrolle haben. Ganz so, wie man es Jahrzehnte lang gewöhnt war. Prag, Parteizeitung »Rudé Právo« : »entfesseltes Hussitengesindel«
Die KPTsch - Parteiführung versucht ebenfalls, den in den letzten Tagen verlorenen Boden durch verstärkte Parteipropaganda wieder wettzumachen. Die parteieigene Zeitung »Rudé Právo« greift in ihrer heutigen Ausgabe die Bundesrepublik Deutschland, deren aktuelle Politik und ihre Medien heftig an. In einem Hetzartikel polemisiert Karel Doudera, dass bundesdeutsche Zeitungen wieder vorsätzlich Stimmung gegen die Tschechoslowakei machen würden, wie schon im Hitlerdeutschland vor dem Weltkrieg 1937/1938. Als Vorwand dienen ihnen »einige Stöße, Püffe und der vereinzelte Einsatz von Schlagstöcken gegenüber 395 Ebd. 396 Ebd. 397 Vgl. Botschafter Huber an AA vom 6.10.1989. Betr. : Zufluchtsuchende Deutsche aus der DDR, hier : Absperrung der Botschaft ( PA AA, 214, 139918 E, unpag.).
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DDR - Bürgern«. Schon damals sei jedes Eingreifen der tschechischen Polizei gegenüber Provokateuren der Henlein - Truppe aufgebauscht und als »bestialischer antideutscher Terror« geschildert worden. »Aus jeder Wirtshausprügelei, bei der einige Anhänger des Großdeutschen Reiches von tschechischen Patrioten ein paar Ohrfeigen bekamen«, sei ein weltbewegendes Ereignis gemacht und die Tschechen als »entfesseltes Hussitengesindel« dargestellt worden.398 »Es ist offensichtlich : diejenigen, die die antitschechoslowakische Kampagne wieder anstiften wollen, haben von den alten Mustern manches abgeguckt.« Prag, Botschaft der Bundesrepublik, Polizeisperren
Auch rund um die Botschaft der Bundesrepublik sollen wieder »Ruhe und Ordnung« einkehren. Um das Palais Lobkowicz herum und entlang der Zufahrtsstraßen patroullieren zahlreiche tschechoslowakische Polizisten. Die Prager Polizei errichtet Polizeisperren, das Gelände hinter dem Botschaftskomplex wird zur Polizeizone erklärt.399 Uniformierte Sicherheitskräfte kontrollieren die Zufahrtsstraßen zur Botschaft. Polizeitrupps führen Passkontrollen bei sämtlichen Passanten in Botschaftsnähe durch.400 Deutsche aus der DDR werden zurückgewiesen. Sogar ein Bundesbürger wird am Zugang zur Botschaft mit der Begründung gehindert, dass diese geschlossen sei. Insbesondere das Waldareal hinter dem Botschaftszaun wird von uniformierter Polizei strikt überwacht. Seit die Zufluchtsuchenden das Palais Lobkowicz in der Nacht zu gestern gen Westen verlassen haben, ist es keinem einzigen Menschen mehr gelungen, sich auf diesem Wege Zutritt zur Botschaft zu verschaffen.401 Derweil gehen die Aufräumarbeiten auf dem Botschaftsgelände weiter. Von den verbliebenen Flüchtlingen nehmen 20 das frühere Angebot von Rechtsanwalt Vogel wahr und verlassen das Palais Lobkowicz in Richtung DDR.402 Der Rest will warten, bis eine direkte Ausreise über die Westgrenze der Tschechoslowakei möglich ist.403 Hoffnungen, die womöglich nicht vergeblich sind : Am Rande rüstungspolitischer Konsultationen in Prag erklärt der Abteilungsdirektor im Außenministerium der ČSSR, Milan Kadnár, gegenüber dem Beauftragten der 398 Karel Doudera, Podle starého vzoru ? In : Rudé Právo vom 6.10.1989, S. 2.9 – Dok. 52. 399 AP - Meldung vom 6.10.1989 : Auswärtiges Amt protestierte gegen Absperrungen in Prag ( BStU, MfS, ZAIG 22609, Bl. 21). 400 Vgl. AA, Vermerk, gez. Holik. Betr. : Rüstungspolitische Konsultationen in Prag vom 6.10.1989, hier : Frage der Zufluchtsuchenden ( PA AA, 513, B 85 Nr. 2347 E, unpag.). 401 Vgl. Botschafter Huber an AA vom 6.10.1989 : Betr. : Zufluchtsuchende Deutsche aus der DDR, hier : Absperrung der Botschaft ( PA AA, 214, 139918 E, unpag.). 402 Vgl. Botschafter Huber an AA vom 6.10.1989. Betr. : Zufluchtsuchende Deutsche aus der DDR, hier : Lagebericht 6.10.1989 ( PA AA, 513, B 85 Nr. 2347 E, unpag.). 403 Vgl. Mitteilung des AA, gez. Kunzmann, an Botschaft Prag vom 6. 10. 1989. Betr. : Zufluchtsuchende Deutsche aus der DDR, hier : Form der Berichterstattung ( ebd.).
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deutschen Bundesregierung für Fragen der Abrüstung und Rüstungskontrolle, Josef Holik, dass es hoffentlich bald »unauffällige Lösungen« für die letzten verbliebenen Flüchtlinge geben werde, etwa den Einsatz von Bussen. Kadnár befinde sich diesbezüglich bereits in Gesprächen mit DDR - Botschafter Helmut Ziebart.404 Bonn, Auswärtiges Amt , Proteste gegen Polizeimaßnahmen
Die Bundesregierung protestiert bei der Botschaft der ČSSR in Bonn gegen die Zugangsbeschränkungen zu ihrer Vertretung in Prag. Der Gesandte der tschechoslowakischen Botschaft, Ivan Kramár, verweist dabei auf eine angeblich getroffene Vereinbarung zwischen der Bundesregierung mit der Regierung der DDR, keinen weiteren Ausreisewilligen Zugang zur Botschaft zu gewähren. Im Gegenzug macht der Bonner Diplomat Wilhelm Höynck, der Ministerialdirektor Dieter Kastrup vertritt, deutlich, »dass es keine Einigung mit der DDR über den Zugang zu unseren Botschaften gebe und geben könne«.405 Das Palais Lobkowicz müsse aus faktischen Gründen wegen Renovierungsarbeiten noch eine kurze Zeit lang für den Publikumsverkehr geschlossen bleiben. Die humanitäre Haltung der Bundesregierung zur Frage der Zufluchtsuchenden bleibe jedoch unverändert.406 Auch in den deutsch - deutschen Beziehungen kommt es wieder einmal zu Unstimmigkeiten. So erklärt Franz Bertele vom Auswärtigen Amt in einem Gespräch mit Abteilungsleiter Karl Seidel vom Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten der DDR, dass es sich aus Sicht der Bundesregierung bei den ausgereisten Botschaftsflüchtlingen juristisch betrachtet um legale Ausreisen aus der DDR handele, mit all den Folgen, wie sie Rechtsanwalt Vogel den Zufluchtsuchenden in Prag und Warschau gegenüber vorgetragen habe. Dies will Seidel nicht bestätigen. Bertele erklärt daraufhin, »dass ein Staat, der auf amtlichem Wege vorschlage, eigene Sonderzüge einzusetzen, die über sein eigenes Territorium fahren würden, wobei Organe dieses Staates in einem abgestimmten Verfahren an Bord des Zuges kämen, um Ausweise der Reisenden einzusammeln, sich doch wohl nicht darauf berufen könne, dass dieses von ihm vorgeschlagene Verfahren illegal sei«. Seidel allerdings mag sich dieser Interpretation nicht anschließen und warnt seinerseits vor einer Belastung der deutsch - deutschen Beziehungen.407 404 Vgl. AA, Vermerk, gez. Holik. Betr. : Rüstungspolitische Konsultationen in Prag vom 6.10.1989, hier : Frage der Zufluchtsuchenden ( ebd.). 405 AA, gez. Derix, an die Botschaft Prag vom 6.10.1989. Betr. : Zugang zur Botschaft Prag ( ebd.). 406 Botschaft Prag : Vermerk vom 6.10.1989. Betr. : Zufluchtsuchende Deutsche aus der DDR, hier : Sprachregelung ( PA AA, Bo. Prag, 20682 E, unpag.). 407 Leiter der Ständigen Vertretung in Ostberlin, Bertele, an Chef des Bundeskanzleramtes Seiters vom 6.10.1989 ( BArch, B 136/20224, 22134900 De 1).
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Ústí nad Labem ( Aussig ), 400 DDR - Bürger festgenommen
Wie aus dem heutigen Tagesbericht des tschechoslowakischen Innenministeriums hervorgeht, sind in den letzten drei Tagen allein in der nordböhmischen Stadt Ústí nad Labem ( Aussig ), welche nahe der Grenze zur DDR liegt, über 400 DDR - Bürger festgenommen worden. Sie hätten offensichtlich die Absicht gehabt, auf das Botschaftsgelände der BRD in Prag zu gelangen. Sie alle seien den DDR - Behörden zwischenzeitlich übergeben worden. Die Grenze zwischen der DDR und ČSSR werde vor allem von größeren, bis zu zehnköpfigen Gruppen überquert.408 Einige DDR - Bürger nähmen auch die Dienste von sogenannten »schwarzen Taxifahrern« in Anspruch. Diese verkehrten vor allem vom Dresdner Hauptbahnhof aus in Richtung tschechoslowakische Grenze. Für die Strecke verlangen diese einen beträchtlichen Betrag von 150 D - Mark pro Person. Wie es in dem Tagesbericht des Innenministeriums weiter heißt, verhielten sich die von westlichen Medien beeinflussten DDR - Bürger den tschechoslowakischen Behörden gegenüber arrogant. Konkret beriefen sie sich darauf, dass die Behörden der ČSSR kein Recht hätten, sie festzunehmen und verlangten stattdessen, in die westdeutsche Botschaft gebracht zu werden.409 7. Oktober 1989 Ostberlin, Feierlichkeiten zum 40. Jahrestag der DDR
In der DDR werden die von der SED mit großer Sorgfalt vorbereiteten Feierlichkeiten zum 40. Jahrestag der Republik begangen. Das SED - Regime inszeniert mit Massenaufmärschen, Militärparaden und einem Festakt im Palast der Republik ein gespenstisches Schauspiel vermeintlicher Stärke.410 Der Morgen selbst beginnt in Ostberlin zunächst mit Aufräumarbeiten. Straßenkehrmaschinen beseitigen die Überreste eines gigantischen propagandistischen Fackelzuges der Freien Deutschen Jugend vom Vorabend. 100 000 Jugendliche waren am Vorabend an Staats - und Parteichef Erich Honecker vorbeigezogen. Um 10.00 Uhr beginnt auf der Karl - Marx - Allee eine große Militärparade. Am Nachmittag gibt es Volksfeste in allen Stadtbezirken.411 Der wichtigste Ehrengast, KPdSU - Generalsekretär Michail Gorbatschow, ist ausgesprochen zurückhaltend, was seine Äußerungen in der Öffentlichkeit betrifft. Sowohl in seiner Grußansprache als auch bei internen Beratungen mit dem SED - Politbüro setzt er reformorientierte Akzente. So hebt Gorbatschow die 408 409 410 411
Tagesbericht des Innenministeriums der ČSSR vom 6.10.1989 ( ABS Praha, č.j. OV - 039/ A - 89). Ebd. Vgl. Mählert, Geschichte der DDR 1949–1990, S. 86. Chronik der Wende, Wendepunkte – Samstag, der 7. Oktober 1989 ( http ://www.chronikderwende.de / wendepunkte / wendepunkte_jsp / key=wp7.10.1989.html; 22.4.2013).
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Jubel und Prügel zum 40. DDR-Jubiläum. Beim Festempfang zeigt sich der SED-Staat von seiner besten Seite, auf den Straßen Ostberlins zeigt er sein wahres Gesicht: Prügel und Verhaftungen gegen Demonstranten. Foto: Bundesarchiv, Bild 183-1989-1007-402
wachsende Vielfalt bei der Produktionsorganisation, den sozialen Strukturen und den politischen Einrichtungen als charakteristisch für die sozialistische Welt wie auch für die gesamte Zivilisation hervor. Öffentlich betont er die Souveränität der DDR : ,,Die Auswahl der Entwicklungsformen ist eine souveräne Angelegenheit eines jeden Volkes. [...] Vor allen Dingen sollten unsere westlichen Partner davon ausgehen, dass die Fragen, die die DDR betreffen, nicht in Moskau, sondern in Berlin entschieden werden.«412 In einem Vieraugengespräch der beiden Generalsekretäre prahlt Honecker mit den vermeintlichen Erfolgen der DDR, lobt insbesondere das Wohnungsbauprogramm der SED und eine angebliche Spitzenposition der DDR auf dem Gebiet der Mikroelektronik. Doch Gorbatschow zeigt sich unbeeindruckt, ist er doch über die tatsächliche, höchst angespannte politische wie wirtschaftliche Situation der DDR bestens informiert: »Ich war entsetzt. Drei Stunden unterhielt ich mich mit ihm. Und er fuhr fort, mich von den mächtigen Errungenschaften der DDR überzeugen zu wollen.«413
412 Hertle, Chronik des Mauerfalls, S. 78 f. 413 Bundeszentrale für politische Bildung, Chronik – Oktober 1989 ( http ://www.chronik - der mauer.de / index.php / de / Chronical / Detail / month / Oktober / year /1989; 15.5.2013).
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Auch im Volk will die von der SED - Führung erwünschte Begeisterung anlässlich des 40. Jahrestags der DDR nicht recht aufkommen.414 Im Gegenteil : Die Stimmungslage ist desolat. Nach dem Massenexodus der letzten Wochen, den alle mit höchst unangenehmen Gefühlen auf den Fernsehbildschirmen verfolgt hatten, wurden die Grenzen des heutigen Jubilars – der DDR – zu den sozialistischen Nachbarländern hermetisch abgesperrt. Es herrscht extreme Unzufriedenheit nicht nur wegen mangelnder Reisefreiheit. Zur weit verbreiteten Missstimmung tragen auch die fehlenden politischen Freiheiten, der Ärger über manipulierte Wahlen, die Verlogenheit der Medien, die Unmöglichkeit einer freien Meinungsäußerung, die mangelnde Versorgungslage sowie eine immer dramatischere Umweltzerstörung bei.415 Dies alles zusammen genommen löst bei den Menschen mehr und mehr Verdruss aus. Eine Gefühlslage, aus der sich schließlich die Kraft und die Entschlossenheit speist, das Heft des Handelns selber in die Hand zu nehmen. Selbst an einem so umfassend und sorgsam vorbereiteten Jubiläumstag wie dem heutigen gelingt es der SED nicht, die Proteste der Bevölkerung vollständig zu unterbinden. Gegen 17.00 Uhr finden sich zunächst einige Hundert Jugendliche auf dem Ostberliner Alexanderplatz zusammen, um »auf die Wahlen zu pfeifen«. Mit einem Konzert aus Trillerpfeifen protestieren sie gegen die Manipulation der jüngsten Kommunalwahlen. Im Gegensatz zu früheren Kundgebungen, bei denen regelmäßig Forderungen wie »Wir wollen raus !« laut wurden, heißt es diesmal trotzig : »Wir bleiben hier !« Der kleine Demonstrationszug macht sich sodann auf den Weg zum Palast der Republik, wo in diesen Stunden die Staats - und Parteiführung der SED mit ihren Gästen, darunter auch der Generalsekretär der KPdSU, das 40. Jubiläum der DDR offiziell mit großem Pomp begeht. Die inzwischen auf 2 000 bis 3 000 Personen angewachsene Menschenmenge skandiert, an den sowjetischen Ehrengast gerichtet: »Gorbi, hilf uns!« und »Wir sind das Volk !«416 Doch der Protestzug wird von der Polizei abgedrängt. Er zieht daraufhin weiter in Richtung des nördlichen Stadtbezirks Prenzlauer Berg. Als die Demonstranten an der staatlichen Nachrichtenagentur ADN vorbeikommen, rufen sie »Lügner, Lügner« und »Pressefreiheit – Meinungsfreiheit«. Dann fahren die ersten Mannschaftswagen heran. Volkspolizei sperrt die Seitenstraßen ab. Es kommt zu Handgreiflichkeiten, Verhaftungen und zum Einsatz von Gummiknüppeln. »Keine Gewalt !« rufen die Demonstranten und streben weiter vorwärts. 1 500 Protestierende erreichen schließlich die Gethsemanekirche an der Schönhauser Allee. Spezialeinheiten der Polizei und der Staatssicherheit riegeln das 414 Chronik der Wende, Wendepunkte – Samstag, der 7. Oktober 1989 ( http ://www.chronikderwende.de / wendepunkte / wendepunkte_jsp / key=wp7.10.1989.html; 22.4.2013). 415 Ebd. 416 Ebd.
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Ostberlin: Demonstration am Abend des 40. Jahrestages der DDR-Gründung. Foto: pictures alliance/ZB
Gebiet hermetisch ab. Gegen Mitternacht kommt dann der Befehl zum Losschlagen.417 In der Folge lösen die Einsatzkräfte des MfS und der Volkspolizei den Demonstrationszug gewaltsam auf. Das Vorgehen der Sicherheitskräfte, die einen massiven Grenzdurchbruch nach Westberlin befürchten, erfolgt mit enormer Brutalität.418 Eklatanter kann der Widerspruch kaum ausfallen : Während sich im Palast der Republik kommunistische Staats - und Parteiführer aus aller Welt einfinden, um die von ihnen verkörperte »Herrschaft des Volkes« zu feiern, kommt es in der Hauptstadt des Jubilars zu Knüppelorgien der Volkspolizei gegen das eben »gefeierte« Volk in Gestalt Tausender friedlicher Demonstranten.419 Auch am darauf folgenden Tag kommt es in Ostberlin noch zu drakonischen Übergriffen gegen einzelne Teilnehmer der Kundgebung.420 Auch in vielen anderen Städten wie Leipzig, Dresden, Plauen, Jena, Magdeburg, Ilmenau, Arnstadt, Karl - Marx - Stadt und Potsdam werden an diesem
417 418 419 420
Ebd. Hertle, Chronik des Mauerfalls, S. 81. Mählert, Geschichte der DDR 1949–1990, S. 86. Chronik des Mauerfalls, S. 81.
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»Feiertag« politische Massenkundgebungen zwangsweise aufgelöst.421 Überall gehen die Sicherheitsorgane mit massiver Gewalt gegen die Demonstranten vor. Insgesamt werden mehr als 1 000 Personen verhaftet.422 Nun wird auch dem Letzten klar, was die von der SED propagierte Einheit von Volk und Partei wirklich ist : eine reine Fiktion, die nur in der Parteipropaganda existiert. Der 40. Jahrestag der DDR, der, ginge es nach dem Willen der SED - Oberen, doch eigentlich pompös und begeistert gefeiert werden sollte, endet damit im Gegenteil als Trauerspiel, als ein katastrophales Fiasko für die Staats - und Parteiführung um SED - Generalsekretär Honecker. Prag, Botschaft der Bundesrepublik
Auch zwei Tage, nachdem das Gros der Botschaftsflüchtlinge die westdeutsche Vertretung in Prag verlassen hat, befindet sich das Palais Lobkowicz noch immer in einem verheerenden Zustand. Die Aufräumarbeiten, die vor allem von Rotkreuzhelfern geleistet werden, kommen nur langsam voran, was auch an den sanitären Zuständen vor Ort liegt. Ein Schreiben der DRK - Einsatzleitung in Prag an den Präsidenten des Deutschen Roten Kreuzes, Prinz Botho von Sayn - Wittgenstein, schildert die Bedingungen, denen die Rettungskräfte an Ort und Stelle ausgesetzt sind : »Überall Müll, Lebensmittelreste, verschmutztes Umfeld durch Urin und Kot und Decken und Schlafsäcke, die durch Körpergerüche und Absonderungen verschmutzt waren. Das größte Problem waren die sanitären Einrichtungen gewesen. Die Wartezeit vor den Toiletten dauerte eine halbe bis anderthalb Stunden. Waschen und Körperhygiene waren nicht möglich. Somit befand sich der Sanitärbereich trotz ständiger Desinfizierung und Reinigung in einem menschenunwürdigen Zustand. Unter den Holzrosten in den Zelten liegen übriggebliebene Essensreste, die bis heute nicht beseitigt werden konnten. Diese beginnen zu faulen und zu verwesen und ziehen Ungeziefer an. Die DRK - Einsatzkräfte können nur noch mit Mundschutz, Handschuhen und Schutzkleidung im Zeltbereich arbeiten. Der Geruch ist unerträglich.«423
421 Chronik der Wende, Wendepunkte – Samstag, der 7. Oktober 1989 ( http ://www.chronikderwende.de / wendepunkte / wendepunkte_jsp / key=wp7.10.1989.html; 22.4.2013). 422 Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, Wandel im Osten – der 40. Jahrestag ( http ://www.hdg.de / lemo / html / DieDeutscheEinheit / WandelImOsten / der40Jahrestag. html; 26.2.2014). 423 Leiterin der DRK - Einsatzleitung Prag, Waltraud Schröder, an Präsidenten des DRK, Botho Prinz zu Sayn - Wittgenstein, mit Bericht über die Lage in der Botschaft vom 7.10.1989 ( PA AA, 214, 139918 E, unpag.) – Dok. 53.
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Prag, Parteiauftrag an Medien : »die 40. DDR - Jubiläumsfeier loben«
Das Tschechoslowakische Außenministerium gibt an diesem Tag im Auftrag von KP - Politbüromitglied Lenárt ausführliche Anweisungen heraus, wie die tschechoslowakischen Massenmedien über die jüngsten Geschehnisse mit Blick auf die Ereignisse beim nördlichen Nachbarn zu berichten haben. Ihnen wird aufgetragen, den 40. Staatsgeburtstag der DDR lobend zu erwähnen; wortwörtlich selbigen »positiv zu akzentuieren«. Die Berichterstattung über die Feierlichkeiten dürfe auf keinen Fall durch eine übermäßige Fokussierung auf die Fluchtbewegung überschattet werden. Indes sollten die bestehenden Probleme auch nicht gänzlich verschwiegen werden. Es solle vielmehr sachlich und offen berichtet werden. Und vor allem : optimistisch !424 9. Oktober 1989 Leipzig, der Tag der Entscheidung
Die heutige Montagsdemonstration in Leipzig wird in die Geschichte eingehen. Die explosive Stimmungslage, die sich nach der Grenzschließung zur ČSSR und
70 000 mutige Bürger lösen die Revolutionslawine aus. Foto: GMRE (Ost & Europa Photo Jürgens, Berlin), Inv.-Nr.: F.A.24367 424 Außenministerium der ČSSR an Botschaft in Berlin vom 9.10.1989 ( AMZV Praha, Telegramy odeslané, 1989, sv. 9, pořadové číslo 3429).
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zur VR Polen vergangene Woche in den Berichten der Staatssicherheit425 bereits abgezeichnet hatte, findet nun in einer Massendemonstration von bisher nicht gekanntem Ausmaß ihren Ausdruck. Statt, wie von der Staats - und Parteiführung beabsichtigt, den ungestörten Ablauf der Feierlichkeiten zum 40. Jahrestag der DDR zu gewährleisten, haben die Durchfahrt der Flüchtlingszüge aus Prag in die Bundesrepublik und die darauf folgende Grenzschließung massenhafte, offene Proteste im SED - Staat ausgelöst.426 Am heutigen Abend in Leipzig wird sich deutlich zeigen, dass der Überdruss über die bestehenden Verhältnisse bereits größer ist als die Furcht vor dem Regime. Unter den Montagsdemonstranten in Leipzig herrscht an diesem Tag eine schier unerträgliche Anspannung. Woche für Woche war ihre Teilnehmerzahl stetig gestiegen, jetzt aber dominiert eine bange Frage die Menschen : Würde die Staatsmacht nach dem Ende der Feierlichkeiten einschreiten und gewaltsam gegen sie vorgehen ? In Schulen und Betrieben wird davor gewarnt, am Abend ins Stadtzentrum zu gehen. In Krankenhäusern wird Blutplasma bereitgestellt, Ärzte sollen sich in Bereitschaft halten. Um 17.00 Uhr schließen in der Leipziger Innenstadt die Geschäfte.427 Was die Anwendung staatlicher Gewalt betrifft, so lassen zumindest die Vorbereitungen auf die Montagsdemonstration das Schlimmste befürchten.428 Die im Vorfeld von Seiten der SED - Führung sowie von Honecker persönlich herausgegebenen Anweisungen lassen sich dahingehend zusammenfassen, dass die zuständigen Sicherheitskräfte aus den Reihen der Volkspolizei und der Staatssicherheit gegen die Demonstranten mit harter Hand vorgehen sollen.429 Den erwarteten 50 000 Teilnehmern werden mindestens 8 000 Einsatzkräfte gegenübergestellt. Beabsichtigt ist, zur Unterdrückung der Demonstration Volkspolizisten, zentrale Reserven des Ministeriums des Innern (MdI ), Kampfeinheiten des Ministeriums für Staatssicherheit ( MfS ), Betriebskampfgruppen und Hundertschaften der Nationalen Volksarmee einzusetzen. Ferner erhalten rund 5 000 »Gesellschaftliche Kräfte« ( Mitglieder bzw. Mitarbeiter der SED sowie staatlicher Organe ) den Auftrag der Partei, deren »Feinde«
425 BV Dresden des MfS an 1. Sekretär der SED - Bezirksleitung Dresden Modrow : Information die Aussetzung des pass - und visafreien Reiseverkehrs zwischen der DDR und ČSSR vom 6.10.1989 ( BStU, ASt. Dresden, BV Dresden, Abt. XX, 9185, Bl. 13–16). 426 Hertle, Chronik des Mauerfalls, S. 77. 427 Mählert, Geschichte der DDR 1949–1990, S. 86. Zu den Vorgängen in Leipzig am 9. Oktober vgl. Richter, Die Friedliche Revolution, S. 357–398. 428 Hertle, Chronik des Mauerfalls, S. 81 f. 429 Hertle, Zur Leipziger Montagsdemonstration vom 9. Oktober 1989 ( http ://www.chronik - der mauer.de / index.php / de / Media / TextPopup / id /593075/ month / Oktober / oldAction / Detail / oldModule / Chronical / year /1989; 11.12.2013); Bundeszentrale für politische Bildung, Chronik – Oktober 1989 ( http ://www.chronik - der - mauer.de / index.php / de / Chronical / Detail / month / Oktober / year /1989; 15.5.2013).
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ideologisch und agitatorisch zu überwältigen. Am Stadtrand gehen zusätzliche Militärfahrzeuge in Stellung.430 Sollte es diesem Massenaufgebot an Einsatzkräften wider Erwarten nicht gelingen, die Demonstranten abzudrängen und an der Bildung eines Demonstrationszuges zu hindern, so ist als nächste Maßnahme dessen Auflösung bzw. Aufspaltung mit anschließender Zerschlagung bzw. Einkesselung seiner Teile und der Verhaftung etwaiger »Rädelsführer« vorgesehen.431 Ziel der SED ist es, demonstrationswillige DDR - Bürger von vornherein einzuschüchtern. Ihnen wird nicht nur eine strafrechtliche Verfolgung wegen Teilnahme an einer nicht genehmigten Demonstration in Aussicht gestellt, sondern zugleich auch mit dem Einsatz von Waffengewalt gedroht. Allen vorgenannten Plänen zum Trotz greift die Staatsmacht indessen am Ende dann doch nicht ein. Der kritische Punkt für den Polizeieinsatz ist mit der Beendigung der Friedensgebete in den Leipziger Kirchen erreicht.432 Ungeachtet aller Drohgebärden kommen am heutigen Abend rund 70 000 Demonstrationsteilnehmer zusammen; mehr als alle Beteiligten – Oppositionsgruppen wie Einsatzkräfte – erwartet haben. Im Anschluss an die Gebete machen sich Zehntausende der Demonstrierenden mit Kerzen in den Händen auf, um den Leipziger Innenstadtring erstmals vollständig zu umrunden. »Wir sind das Volk!« und »Keine Gewalt !« sind die Losungen, die an diesem Abend durch die alte Messestadt hallen.433 Im Innenministerium in Ostberlin wird das Leipziger Geschehen auf Fernsehmonitoren verfolgt. Binnen einer Viertelstunde zeigen diese auf einmal Zigtausend Protestierende, die aus allen Ecken zu kommen scheinen, insgesamt über 70 000 Frauen und Männer. Es ist die unerwartete, extrem hohe Teilnehmerzahl an der heutigen Montagsdemonstration, die den Handlungswillen der bewaffneten Organe bricht. In der Zentrale reagiert man geschockt auf die Bilder der Demonstration; ab jetzt gibt es keine reale Chance mehr, die Massen vom Dittrich - Ring noch abzudrängen. Mit polizeilichen Mitteln allein kann die Demonstration ihres Ausmaßes wegen jedenfalls nicht mehr unterdrückt werden.434 Um 18.50 Uhr befiehlt der Chef der Volkspolizei den Rückzug seiner bewaffneten Einheiten. Zuvor hatten weder die Ostberliner Führung noch die örtliche SED - Spitze den Befehl zum Einsatz gewagt.435 Flankiert wird das Ganze von einem entsprechenden Befehl der im Ostberliner Innenministerium angesiedelten Einsatzleitung, statt zum Angriff auf die Demonstranten zur Eigensicherung 430 431 432 433 434 435
Ebd. Hertle, Chronik des Mauerfalls, S. 81 f. Ebd.; Richter, Die Friedliche Revolution, S. 357 f.; Pollack, Die Friedliche Revolution, S. 128 f. Mählert, Geschichte der DDR 1949–1990, S. 89. Hertle, Chronik des Mauerfalls, S. 81 f.; Mählert, Geschichte der DDR 1949–1990, S. 89.
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der Polizeikräfte überzugehen.436 Die Bilder jener namenloser Helden, die zu Zehntausenden an diesem Abend ihre Angst überwanden und sich der geballten Staatsmacht entgegenstellten, sind noch in der gleichen Nacht via »Tagesthemen« in ganz Deutschland zu sehen. Das Nachgeben der Staatsmacht, das Zurückweichen ihrer repressiven Organe markiert eine historische Situationswende und stellt einen weiteren entscheidenden Schritt hin zur Friedlichen Revolution dar. Es war der Tag der Entscheidung. Ab nun ist die Friedliche Revolution voll im Gang. 10. Oktober 1989 Prag
Inzwischen ist der Großteil der von den Flüchtlingen zurückgelassenen Fahrzeuge in die DDR abgeschleppt worden. Würde man all jene Pkws in einer Reihe aufstellen, so hätte die daraus resultierende Schlange eine Gesamtlänge von über sechs Kilometer.437 Ostberlin, Ständige Vertretung der Bundesrepublik
Franz Bertele, mittlerweile Ständiger Vertreter der Bundesrepublik in Ostberlin, erkundigt sich bei Rechtsanwalt Vogel über die Nachzugsmöglichkeiten von Familienangehörigen der bereits Ausgereisten. Vogel konstatiert, dass er in dieser Angelegenheit leider nichts unternehmen könne. Einerseits werde er in letzter Zeit infolge seines Angebotes an die Botschaftsflüchtlinge von Ausreisewilligen regelrecht »überlaufen«, andererseits sei er selbst in die »Aktion Zug« gar nicht involviert gewesen. Zuvor hatte Bertele bereits vergeblich am Rande der Feierlichkeiten zum 40. Jahrestag der DDR das Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten in gleicher Sache um Hilfe ersucht.438 Dresden, Bezirksverwaltung für Staatssicherheit – Einreiseverbot
Wie aus einem Fernschreiben der Bezirksverwaltung für Staatssicherheit Dresden vom heutigen Tag hervorgeht, wurde gegen alle Botschaftsflüchtlinge,
436 Hertle, Chronik des Mauerfalls, S. 81 f.; ders., Zur Leipziger Montagsdemonstration vom 9. Oktober 1989 ( http ://www.chronik - der - mauer.de / index.php / de / Media / TextPopup / id / 593075/ month / Oktober / oldAction / Detail / oldModule / Chronical / year /1989; 11.12.2013). 437 Information der tschechoslowakischen Staatssicherheit vom 13.10.1989 ( ABS Praha, Objektovýsvazek reg. č. 845 [»Obora«], část 9, Bl. 125–127). 438 Leiter der Ständigen Vertretung, Bertele, an AA vom 10.10.1989 über ein Gespräch mit Rechtsanwalt Wolfgang Vogel ( PA AA, 214, 139918 E, unpag.).
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die per Sonderzug in den Westen ausgereist sind, ein Einreiseverbot in die DDR verhängt.439 11. Oktober 1989 Prag, Zentralkomitee der KPTsch : solidarisch mit der SED - Parteiführung
Die tschechoslowakischen Kommunisten legen großen Wert auf die gegenseitige Zusammenarbeit und den Schulterschluss mit der Parteiführung der SED. Immerhin ist die DDR der letzte verbliebene Partner im zusehends zerfallenden Ostblock, der auch weiterhin am Modell des autoritären Kommunismus festhält. Wohl bekräftigt Parteichef Jakeš auf der heute und morgen stattfindenden 15. Tagung des ZK - Plenums der KPTsch, dass für die ČSSR auch künftig die Zusammenarbeit mit der UdSSR oberste Priorität habe. Im Bericht des Präsidiums wird indes auch die Solidarität mit dem SED - Staat in aller Deutlichkeit betont.440 Die DDR sei »zum Ziel einer dreisten Kampagne seitens der BRD und weiterer Staaten« geworden, zu der auch die Botschaft in Prag missbraucht worden sei. Die ČSSR verurteile diese Kampagne, die lediglich den Vorsatz habe, die DDR »zu diskreditieren und ihre Existenz in Zweifel zu ziehen«.441 Die KPTsch werde auch künftig die Haltung der DDR jederzeit unterstützen und »das internationalistische Zusammenwirken mit der SED stärken«.442 In Ostberlin vernimmt man solche Worte mit Genugtuung.443 Prag, zweigleisige Berichtserstattung der ČSSR - Medien
Wie Botschafter Huber dem Auswärtigen Amt meldet, berichten die Zeitungen der ČSSR über die Demonstrationen in der DDR zweigleisig. Einerseits wird die offizielle Sicht der SED - Führung wiedergegeben, andererseits aber auch Forderungen der Opposition nach Veränderungen nicht verschwiegen. Huber vermutet, dass nicht nur die tschechoslowakische Parteiführung, sondern auch die Zeitungsredakteure hochgradig verunsichert sind : »Ob es zutrifft, dass die Fluchtbewegung aus der DDR, die Sympathie der tschechischen Bevölkerung für 439 Leiter der BV Dresden des MfS, Generalmajor Böhm, an alle Kreisdienststellen vom 9.10.1989 ( BStU, ASt. Dresden, KD Riesa 13256, Bl. 8 f.). 440 ZK der SED, Abteilung Internationale Verbindungen : Information für das Politbüro des ZK. Betr. : 15. Tagung des ZK der KPTsch vom 11.–12. 10. 1989 ( BArch B, DY 30/11621, Bl. 169– 175). 441 Botschafter Huber an AA vom 12. 10. 1989. Betr. : 15. ZK - Plenum der KPTsch vom 11.– 12.10.1989 ( PA AA, 214, 139918 E, unpag.). 442 ZK der SED, Abteilung Internationale Verbindungen : Information für das Politbüro des ZK. Betr. : 15. Tagung des ZK der KPTsch vom 11.–12. 10. 1989 ( SAPMO - BArch, DY 30/11621, Bl. 169–175). 443 Ebd.
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die Zufluchtsuchenden in Prag und die jüngsten Ereignisse in der DDR [...] das KPTsch- Präsidium in Panik versetzt haben, [...] mag dahinstehen. Freilich ist die Vermutung wohlbegründet, dass die sich überschlagenden Ereignisse in den sozialistischen Nachbarstaaten der ČSSR die ohnehin vorhandene Verunsicherung der tschechoslowakischen Führung erheblich vertieft haben müssen. Dass man sich in diesem fluiden [...] Umfeld gegenwärtig auch in den Medien zumindest vorerst nicht allzu sehr exponieren will, passt jedenfalls ins Bild.«444 12. Oktober 1989 Prag, Botschaft der Bundesrepublik / Bonn, Genscher : »Ich bin stolz !«
Noch immer bietet die Prager Botschaft der Bundesrepublik zahllosen DDR Bürgern ein Ziel ihrer Fluchtversuche. Doch seit der zweiten großen Ausreisewelle Anfang Oktober hat die Zahl derer, die ihr Ziel auch erreichen, beträchtlich abgenommen – gegenwärtig halten sich nur noch 56 Zufluchtsuchende im Palais Lobkowicz auf. Davon haben sich die meisten bereits vor der Grenzabriegelung auf tschechoslowakischem Gebiet befunden, vor allem, um hier in der ČSSR Urlaub zu machen. Illegal hat es kaum einer über die hermetisch abgeriegelte Grenze geschafft. Dennoch berichtet Hermann Huber von einer ungewöhnlich hohen Polizeipräsenz in den Zufahrtsstraßen, die offenkundig dazu dient, Personenkontrollen durchzuführen. Entsprechend wird er einmal mehr beim Abteilungsdirektor im Außenministerium der Tschechoslowakei, Milan Kadnár, vorstellig, um gegen das Vorgehen der Sicherheitskräfte zu protestieren.445 Parallel dazu gehen auch die Aufräumarbeiten weiter voran, die voraussichtlich am kommenden Wochenende – das wäre der 14./15. Oktober – abgeschlossen sein sollen, zumal dann auch der Großteil der Rotkreuzhelfer abreisen will. Trotz bestehender Grenzabriegelung lässt Huber große Mengen an Lebensmitteln und Baumaterialen auf dem Botschaftsgelände einlagern. Sollte es zu einer dritten Flüchtlingswelle kommen, will er auf den Ansturm vorbereitet sein.446 Bundesaußenminister Genscher lobt Botschafter Huber in einem persönlichen Schreiben und würdigt dessen Arbeit und Durchhaltevermögen : »Nach den dramatischen Ereignissen der letzten Tage und Nächte möchte ich Ihnen und Ihren Mitarbeitern herzlich für Ihren bewundernswerten Einsatz bei der Betreuung der Zuflucht-
444 Botschafter Huber an AA vom 11. 10. 1989. Betr. : Tschechoslowakische Medien zu den Ereignissen in der DDR um den 40. Jahrestag ( BArch, B 136/33965, unpag.). 445 Botschafter Huber an AA vom 12.10.1989 : Betr. : Zufluchtsuchende aus der DDR, hier : Zugang zur Botschaft und Beantwortung tschechoslowakischen. Note (3. 10. 1989) ( PA AA, 513, B 85 Nr. 2347 E, unpag.). 446 Vgl. Botschafter Huber an AA mit Bericht zur Lage vom 12. 10. 1989 ( PA AA, 210, 140735 E, unpag.).
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suchenden Deutschen aus der DDR wie auch bei Ihren Kontakten mit der tschechoslowakischen Regierung danken. [...] Ich weiß, dass Sie alle häufig bis an die Grenze der physischen und psychischen Leistungsfähigkeit, manchmal sogar darüber hinaus, gefordert wurden. Sie alle haben in diesen Tagen beispielhaften Einsatzwillen, Tatkraft, Umsicht und vor allem menschliche Wärme und Mitgefühl für die von Ihnen Betreuten gezeigt. [...] Ich bin stolz auf diesen Auswärtigen Dienst.«447
Prag, Außenministerium der ČSSR
Im tschechoslowakischen Außenministerium kommt es einmal mehr zum Aufeinandertreffen zwischen dem westdeutschen Botschafter in Prag, Hermann Huber, und dem dortigen Abteilungsdirektor, Milan Kadnár. Streitpunkt ist wie nahezu immer die Gewährleistung des uneingeschränkten Zugangs zur Botschaft. Huber zufolge ist die völkerrechtliche Lage eindeutig : Absperrung und Polizeikontrollen seien unzulässig und müssten entsprechend aufgehoben werden, unabhängig davon, ob sie nun in unmittelbarer Nähe zur Mission oder in gehörigem Abstand erfolgten. Kadnár weist den Protest entschieden zurück und betont, dass die jüngsten Vorgänge um die Botschaft herum die Sicherheit und Ordnung im Prager Zentrum schwerwiegend belastet hätten. Maßnahmen, die dem Schutz von Ruhe und Ordnung dienten, seien doch das gute Recht und zugleich wichtigste Pflicht eines jeden Staates, was auch durch die internationale Rechtsordnung umfassend und restlos gedeckt werde. Bei der Gelegenheit verweist Kadnár zugleich auf den Umstand, dass sich die tschechoslowakische Regierung immer sehr entgegenkommend gegenüber der bundesdeutschen Seite verhalten habe. Unter den tschechoslowakischen Politikern habe es nämlich auch Stimmen gegeben, die für einen wesentlich strengeren Umgang mit der westdeutschen Vertretung plädiert hätten, was angesichts der vielen Tausend Menschen, die sich seinerzeit auf dem Botschaftsgelände aufhielten, mit Sicherheit zu erheblichen, zusätzlichen Belastungen geführt hätte. Auch diesen Aspekt möge die Bundesregierung bei ihrer Bewertung der Lage entsprechend berücksichtigen.448 Ostberlin, Politbüro der SED
Da die Herbstferien unmittelbar bevorstehen, legt Krenz Honecker eine mit den Ministern für Staatsicherheit und des Innern, Erich Mielke und Friedrich Dickel, abgestimmte Regelung für Reisen in die ČSSR vor. Diese bleibt zwar bei der
447 Vgl. Außenminister Genscher an Botschafter Huber, vom 12. 10. 1989 ( PA AA, 010, 257751 E, unpag.) – Dok. 54. 448 Botschafter Huber an AA vom 12.10.1989 : Betr. : Zufluchtsuchende aus der DDR, hier : Zugang zur Botschaft und Beantwortung tschechoslowakischen. Note (3. 10. 1989) ( PA AA, 513, B 85 Nr. 2347 E, unpag.).
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grundsätzlichen Aussetzung des Reiseverkehrs, nennt indessen viele Ausnahmen, wann Reisen doch erlaubt werden können. Die neue Regelung soll via Fernsehen und Presse unmittelbar bekanntgegeben werden.449 Prag, KPTsch - Wochenblatt »Tribuna«
Der ideologische Kampf gegen die Bundesrepublik geht derweil unverdrossen weiter. Das kommunistisch orthodoxe Wochenblatt »Tribuna« schreibt in seiner heutigen Ausgabe von einer »Renaissance des Pangermanismus, der großdeutschen Haltung, der Wiederbelebung des Gedankens der Fortdauer des Reichs in den Grenzen von 1937«. Jedoch sei nicht nur die DDR Ziel der Angriffe westlicher Medien, sondern auch die ČSSR, da sie keine Reformen nach westlichen Vorstellungen durchführe. Gemäßigter klingen dagegen die heutigen Kommentare der »Rudé Právo«.450 In den Medien macht sich der Einfluss verschiedener Parteiflügel der KPTsch bemerkbar. 13. Oktober 1989 Prag, Botschaft der Bundesrepublik – Ausweisung der Grenzgänger
Botschafter Huber gibt an, dass etwa ein Drittel der sich gegenwärtig noch im Palais Lobkowicz befindlichen DDR - Bürger auf illegalem Wege in die ČSSR gekommen sei. Während sich jene Flüchtlinge, die bereits das Botschaftsgelände erreicht haben, vergleichsweise sicher fühlen können, gilt dies nicht für diejenigen, die sich noch im Landesinneren aufhalten. Diejenigen Flüchtlinge, die in unmittelbarer Grenznähe aufgegriffen werden, werden in die DDR zurückgeschickt. Für alle illegal eingereisten DDR - Bürger bestehe die Gefahr, festgenommen und an die ostdeutschen Behörden ausgeliefert zu werden.451
449 ZK - Hausmitteilung Krenz an SED-Generalsekretär Honecker vom 12. 10. 1989. Anlage zu Regelungen des Reiseverkehrs in die ČSSR ( BArch B, DY 30/ IV /2/2039/342, Bl. 77–79). Vgl. Innenminister Dickel an Krenz vom 11.10.1989 ( ebd., Bl. 80 f.). 450 Botschafter Huber an AA vom 13. 10. 1989. Betr. : Tschechoslowakische Medien zu den Ereignissen in der DDR sowie Angriffe gegen uns im Zusammenhang mit den DDR - Flüchtlingen (PA AA, 214, 139918 E, unpag.). 451 Botschaft Prag, gez. Hiller, an AA vom 13. 10. 1989. Betr. : Zufluchtsuchende Deutsche aus der DDR, hier : Illegal in die ČSSR eingereiste DDR - Deutsche ( PA AA, 513, B 85 Nr. 2347 E, unpag.).
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Prag, Botschaft der DDR – mit Abschiebung illegal eingereister DDR - Bürger ist zu rechnen
Auch nach der Auskunft der DDR - Botschaft müssen Botschaftsflüchtlinge, selbst wenn sie ein Vogel - Papier erhalten hatten, für den Fall, dass sie illegal über die Grenze in die ČSSR eingereist waren, mit Abschiebung in die DDR durch tschechoslowakische Organe rechnen.452 16. Oktober 1989 Bonn, Botschaft der ČSSR, 1 600 zurückgelassene Pkws in Prag
Der tschechoslowakische Botschafter in Bonn, Dušan Spáčil, schreibt einen Brief an das tschechoslowakische Außenministerium in Prag. Darin berichtet er von den jüngsten Verhandlungen des Botschaftsrates Ivan Kramár mit dem Abteilungsdirektor im Bonner Auswärtigen Amt, Wilhelm Höynck. Anlass ist der Streit um die aus westdeutscher Sicht widerrechtlich abgeschleppten Fahrzeuge der Botschaftsflüchtlinge, die sie bei ihrer Ausreise in Prag zurücklassen mussten. Höynck argumentiert, dass die fraglichen Pkws das Eigentum der DDR - Übersiedler wären, welche ja von den ostdeutschen Behörden eine Ausreisebewilligung bekommen hätten und somit auch ein Recht auf ihr Eigentum besäßen, einschließlich ihrer in Prag geparkten Fahrzeuge. Daher protestiert der Bonner Abteilungsdirektor gegen die von der DDR initiierte Abschlepp - und Rückführungsaktion. Dagegen argumentiert die tschechoslowakische Seite, dass die zurückgelassenen Fahrzeuge abtransportiert werden müssten, weil es andernfalls in Prag zu einem Verkehrskollaps gekommen wäre. Beispielsweise seien am 5. Oktober im verkehrsexponierten Stadtzentrum 1 600 Pkws abgestellt gewesen. Das habe deren Abschleppung unbedingt erforderlich gemacht. Etwaige Eigentumsfragen müssten zwischen der BRD und der DDR geklärt werden. Doch Höynck besteht auf seinem Standpunkt. Die Tschechoslowakei dürfe sich ihrer Verantwortung nicht entziehen und solle die abgestellten Fahrzeuge, wenn überhaupt, dann in die Bundesrepublik überführen. Alles andere hätte einen weiteren, unnötigen Konflikt zwischen der Tschechoslowakei und der Bundesrepublik zur Folge.453
452 Botschaft Prag, gez. Krie, Vermerk über ein telefonisches Gespräch mit der DDR - Botschaft vom 12.10.1989 ( PA AA, Bo. Prag, 20682 E, unpag.). 453 Botschafter Spáčil an Außenministerium der ČSSR vom 16.10. 1989 ( AMZV Praha, Telegramy přijaté, 1989, sv. 37, čj. : 054159).
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18. Oktober 1989 Ostberlin, Zentralkomitee der SED, Rücktritt Honeckers
Im SED - Politbüro wütet ein erbitterter Machtkampf, ausgelöst durch die Krisen der letzten Tage und Wochen, das traurige Fiasko der 40 - Jahr - Feier und die explosive Stimmungslage in der Bevölkerung. Neun Tage mit immer neuen Demonstrationen im ganzen Land – in Plauen, Dresden, Karl - Marx - Stadt, Halle und in vielen kleineren Orten – mussten erst vergehen, ehe die SED - Führung sichtbare Konsequenzen zieht. Schließlich wird Erich Honecker gezwungen, im SED - Zentralkomitee seinen Rücktritt von allen Ämtern zu erklären, offiziell »aus gesundheitlichen Gründen«. Zum neuen SED - Generalsekretär wird Egon Krenz gewählt.454 Um den Segen Moskaus gebeten, hatte Gorbatschow den Ostberliner Genossen lediglich »viel Glück« gewünscht und erklärt, die Sache sei jetzt alleinige Angelegenheit der SED. In seiner ersten Fernsehansprache als Parteichef verkündet Krenz eine politische »Wende«. Dialog und Reformen sollen die SED - Herrschaft retten.455 Als politisches Credo seiner Politik der »Wende« verkündet Krenz : »Wir lassen uns von der festen Überzeugung leiten, dass alle Probleme in unserer Gesellschaft politisch lösbar sind.« Aus Krenz’ Antrittsrede wird deutlich, welch zentrale Bedeutung die Ausreiseproblematik für die SED darstellt. Verspricht doch der neue SED - Generalsekretär darin, »einen Gesetzentwurf über Reisen von DDR - Bürgern ins Ausland vorzubereiten«. Weiter heißt es, dass dieser Entwurf zunächst einer öffentlichen Aussprache unterzogen und erst dann in der Volkskammer behandelt und beschlossen werden soll. In diesem Zusammenhang könnten auch die zeitweilig getroffenen Einschränkungen im Reiseverkehr in sozialistische Bruderländer aufgehoben beziehungsweise modifiziert werden.456 19. Oktober 1989 Prag, Staatssicherheit der ČSSR / Ostberlin, Ministerium für Staatssicherheit
Die enge Zusammenarbeit zwischen dem Ministerium für Staatssicherheit ( MfS ) und der tschechoslowakischen Staatssicherheit ( Státní bezpečnost, StB ) bzw. den Grenzorganen beider Staaten wird seit Jahren in zahlreichen Verträgen und
454 Bundeszentrale für politische Bildung, Chronik – Oktober 1989 ( http ://www.chronik - der mauer.de / index.php / de / Chronical / Detail / month / Oktober / year /1989; 15.5.2013). 455 Mählert, Geschichte der DDR 1949–1990, S. 86. 456 Bundeszentrale für politische Bildung, Chronik – Oktober 1989 ( http ://www.chronik - der mauer.de / index.php / de / Chronical / Detail / month / Oktober / year /1989; 15.5.2013).
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Vereinbarungen geregelt457 und funktioniert hervorragend. Im Zusammenhang mit dem Aufenthalt der DDR - Bürger in der Prager Botschaft der Bundesrepublik wird von der tschechoslowakischen Staatssicherheit eine Reihe nachrichtendienstlicher Maßnahmen ergriffen, wie heute, am 19. Oktober, berichtet wird. Eine operative Gruppe des MfS hält sich sogar in der Tschechoslowakei dauerhaft auf. Die tschechoslowakische Staatssicherheit berichtet im Zusammenhang mit den Botschaftsflüchtlingen dem ČSSR - Innenminister über die gute Zusammenarbeit : »Es wurde eine Reihe nachrichtendienstlicher Maßnahmen ergriffen, über welche unsere Freunde vom Ministerium der Staatssicherheit der DDR regelmäßig informiert werden. Zugleich wird von uns auch auf konkrete Anfragen unserer Freunde reagiert. Der Informationsaustausch verläuft täglich, durch direkten Kontakt der Mitarbeiter des 2. Referats der II. Abteilung des tschechoslowakischen Polizeikorps und den Mitarbeitern der operativen Gruppe der Staatssicherheit der DDR in der Tschechoslowakei.«458 Die enge Zusammenarbeit der tschechoslowakischen und der DDR - Staatssicherheit zahlt sich offensichtlich aus. In einer gemeinsamen Aktion beider Sicherheitsdienste, genannt »Drozd / Drossel«, gelingt es, einen Mitarbeiter der DDR - Vertretung in der ČSSR dingfest zu machen, der in zwei Fällen geheime Unterlagen an die Prager Botschaft der Bundesrepublik weitergereicht hatte. Im Anschluss hatten die Mitarbeiter der Prager BRD - Botschaft versucht, seine Flucht in die Bundesrepublik zu organisieren. Doch die Sicherheitsdienste erfahren davon und nehmen die betreffende Person fest. Im Bericht der tschechoslowakischen Staatssicherheit dazu heißt es wörtlich : »Aufgrund der Erkenntnisse und der operativen Dokumentation, die an unsere Freunde übermittelt wurden, 457 Protokoll der Beratungen zwischen den Delegationen des MfS der DDR und dem Ministerium des Innern der ČSSR vom 3.7.1971; Vertrag zwischen der DDR und der ČSSR über die Zusammenarbeit an der gemeinsame Staatsgrenze und die gegenseitige Hilfe in Grenzangelegenheiten vom 8.6.1976 ( liegt nicht vor ); Vereinbarung zwischen dem MfNV der DDR und dem Föderativen Ministerium des Innern der ČSSR zur Durchführung des Vertrages zwischen der DDR und der ČSSR über die Zusammenarbeit an der gemeinsamen Staatsgrenze und die gegenseitige Hilfe in Grenzangelegenheiten vom 29. 4. 1977; Vereinbarung über die Zusammenarbeit zwischen dem Minister für Staatssicherheit der DDR und dem Minister des Innern der ČSSR über das beiderseitige Zusammenwirken und die Zusammenarbeit der Untersuchungsorgane der Staatssicherheit ( o. D.); Protokoll über das Zusammenwirken zwischen den Untersuchungsorganen des MfS der DDR und des Föderativen Ministerium des Innern der ČSSR vom 24.11.1977; Protokollvermerk zum »Protokoll über die Organisierung der Übergabe / Übernahme straffällig gewordener Bürger der DDR und der ČSSR in Zuständigkeit der Organe der Staatsicherheit« vom 24. 11. 1977 und vom 2. 12. 1982; Protokoll über die Zusammenarbeit zwischen der XIV. Verwaltung des Korps für Nationale Sicherheit der ČSSR und der Zentralen Koordinierungsgruppe, der HA VI und der Abteilung XXII des MfS der DDR für die Jahre 1984 bis 1988. Vgl. Tantzscher, Die verlängerte Mauer, S. 47 f. 458 Bericht des Innenministeriums der ČSSR vom 16.10.1989 ( ABS Praha, Objektový svazek reg. c. 845 [»Obora«], část 9, Bl. 66 f.).
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wurde das Objekt am 17. 3. 1989 auf dem DDR - Gebiet realisiert und später verurteilt. Zu seiner Tätigkeit bekannte er sich vollständig.«459 Prag, Außenministerium der ČSSR : politische Lage in der DDR katastrophal
Das tschechoslowakische Außenministerium informiert ihre Botschaften über die aktuelle politische Lage in der DDR. Die Darstellung verzichtet auf die sonst üblichen rhetorischen Floskeln und legt die im SED - Staat vorherrschenden Missstände schonungslos offen – entsprechend ist der Bericht auch nicht für die Öffentlichkeit bestimmt, sein Inhalt naturgemäß geheim zu halten. Und der hat es in sich : Die Partei - und Staatsführung der DDR sei von dem Massenexodus völlig überrumpelt worden, die Bevölkerung desorientiert ( womit die zunehmende Ablehnung des Regimes gemeint ist). »Aus der DDR sind etwa 60 000 Bürger dauerhaft ausgereist«, lautet denn auch eine der zentralen Aussagen des Berichts.460 Dabei wanderten vor allem junge Menschen aus, qualifizierte Arbeitskräfte, was sich besonders nachteilig im Gesundheitswesen auswirke, wo schon jetzt ein erheblicher Mangel an qualifiziertem Fachpersonal vorherrschend sei. Was für die kommunistischen Funktionsträger freilich noch schwerer wiegt, ist die Erkenntnis, dass die anhaltende Krise letztlich den Fortbestand des DDR Regimes selbst gefährdet : »Die Krisensituation aktiviert illegale Strukturen. Sie haben die Strategie, die oppositionellen Gruppen gegen die SED - Politik zu vereinigen.«461 Schon jetzt käme es regelmäßig zu Massenprotesten mit mehreren Tausend Beteiligten, einige davon seien bereits zu Straßenkämpfen mit der Polizei eskaliert, im Zuge derer es auch Schwerverletzte gegeben habe.462 Ostberlin, Botschaft der ČSSR
Prags Botschafter in Ostberlin, František Langer, informiert das tschechoslowakische Außenministerium über die radikalen Reformen, die im Zusammenhang mit dem Wechsel in der SED - Parteiführung zu erwarten sind. Die erste große Veränderung bestehe darin, dass die Bevölkerung künftig offen und ehrlicher über die Situation im Lande informiert werde, als dies bis dato der Fall war. Medien und offizielle Parteivertreter seien sich dahingehend einig, dass dieser Augenblick eine Wende markiere, welche Gesellschaft und Wirtschaft gleichermaßen betreffe. Zugleich hätte die neue Staats - und Parteiführung auch eine Reihe von Reformen angekündigt, welche die Modalitäten des Reisens neu regeln 459 Ebd. 460 Außenministerium der ČSSR an die Botschaften der ČSSR vom 19. 10. 1989 ( AMZV Praha, Telegramy odeslané, 1989, sv. 9, pořadové číslo 3550). 461 Ebd. 462 Ebd.
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würden. Als wesentliche Gründe für die Wende nennt Langer die Massendemonstrationen, den Druck der Kirche, die »illegale Opposition« und die sich neu formierenden Bürgerbewegungen.463 Prag, Außenministerium der ČSSR, Ausreise direkt in die Bundesrepublik
Zu den ersten, die von der angekündigten »Wende« der neuen Staats - und Parteiführung profitieren, gehören all jene DDR - Bürger, die noch immer in der westdeutschen Vertretung in Prag festsitzen. So berichtet der tschechoslowakische Botschafter in Bonn, Dušan Spáčil, von einem Treffen zwischen dem stellvertretenden Außenminister der DDR, Harry Ott, und dem Abteilungsdirektor im Außenministerium der ČSSR, Milan Kadnár.464 Dabei habe Ott die tschechoslowakische Seite über eine wesentliche Änderung der administrativen Vorgehensweise seines Landes bei der Abfertigung der Ausreisewilligen in Prag informiert. Bürger, die sich auf dem Botschaftsgelände der Bundesrepublik aufhalten, könnten bei der DDR - Vertretung in Prag ab jetzt und auch in Zukunft die direkte Ausreise aus der Tschechoslowakei in die Bundesrepublik beantragen. Man habe sich mit den von bundesrepublikanischer Seite gemachten Vorschlägen nunmehr einverstanden erklärt. Mit der gleichen Information wendet sich auch der DDR Botschafter in Prag, Helmut Ziebart, an den tschechoslowakischen Vizeaußenminister Sadovský. Sein Anliegen : Die Behörden der ČSSR, deren Zustimmung zur Realisierung des vereinfachten Ausreiseverfahrens benötigt wird, mögen die Zustimmung doch bitte so bald wie möglich erteilen, damit die Ausreise der Botschaftsflüchtlinge schnellstmöglich beginnen könne.465 Ostberlin, Ministerrat der DDR / Prag, Regierung der ČSSR
Das Bonner Verhandlungsergebnis bezüglich des weiteren Umgangs mit den Prager Botschaftsflüchtlingen wird daraufhin von den Regierungen in Ostberlin und Prag bestätigt. Gemeinsam besiegeln sie eine eher unauffällige Maßnahme, die in Wirklichkeit jedoch eine entscheidende Wende darstellt. So schlägt die DDR - Regierung vor, ihre noch verbliebenen 56 Staatsbürger dieses Mal direkt und ohne Umweg aus Prag in die Bundesrepublik ausreisen zu lassen. Die tschechoslowakische Regierung diskutiert den Ostberliner Vorschlag und stimmt anschließend zu. Ebenso ist man mit dem vorgeschlagenen Verfahren einverstanden. Die DDR - Bürger sollen mit Bussen, die von der Bundesrepublik zur Verfü463 Botschafter Langer an Außenministerium der ČSSR vom 19.10.1989 ( AMZV Praha, Telegramy přijaté, 1989, sv. 28, čj. : 054530). 464 Botschafter Spáčil an Außenministerium der ČSSR vom 23.10.1989 ( AMZV Praha, Telegramy přijaté, 1989, sv. 38, čj. : 054510). 465 Ebd.
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gung gestellt werden, aus der ČSSR direkt in die Bundesrepublik überführt werden. Gegen 15.15 Uhr kontaktiert der stellvertretende tschechoslowakische Außenminister Sadovský DDR - Botschafter Ziebart, damit dieser seine Regierung über die Zustimmung des Prager Kabinetts informiere. Ziebart sagt sofortige Weiterleitung zu und kabelt schon um 15.20 Uhr die Zustimmung der tschechoslowakischen Stellen über den »heißen Draht« ( WTsch ) an die zuständigen Mitarbeiter im Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten ( MfAA ) der DDR weiter. Auch die sich gerade in der Prager DDR - Botschaft aufhaltenden Angehörigen der Staatssicherheit und des Innenministeriums (»Genossen des MfS bzw. MdI«) werden sofort informiert.466 23. Oktober 1989 Prag, Zentralkomitee der KPTsch
Der DDR - Botschafter in Prag, Ziebart, informiert den neuen Staatsratsvorsitzenden der DDR, Egon Krenz, am heutigen Tag über die Reaktionen der Prager Parteiführung auf dessen Reformkurs, den auch die tschechoslowakischen Genossen genauestens verfolgen. KPTsch - Generalsekretär Jakeš lässt sich sogar täglich durch Politbüromitglied Lenárt über die neuesten Entwicklungen in der DDR informieren. In Prag hoffe man aufrichtig, dass es Krenz gelingen möge, durch seinen eingeleiteten Kurswechsel die Krisenlage zu meistern, damit »die DDR als stabiler sozialistischer Staat erhalten bleibt und der Spielraum gegnerischer Kräfte eingeschränkt wird«. Die tschechoslowakischen Kommunisten wünschen ihren Ostberliner Parteigenossen nur das Beste von ganzem Herzen und aus tiefster Überzeugung. Es ist in ihrem Interesse. Denn sie alle wissen, dass ihre eigene Zukunft von der politischen Entwicklung im SED - Staat maßgeblich beeinflusst wird. Fällt das Regime der DDR, dann dürften auch in Prag die Tage der kommunistischen Einparteienherrschaft gezählt sein. Nicht von ungefähr erklären denn auch führende tschechoslowakische Genossen, dass sie ihre Politik der stufenweisen Verwirklichung des eingeschlagenen Reformkurses nur dann fortsetzen können, »wenn es in der DDR nicht zu Reformen polnischen oder ungarischen Zuschnitts kommt«.467
466 Botschafter Ziebart an Außenminister Fischer vom 19.10.1989 ( BStU, ZA, ZAIG 13019, Bl. 2); Botschafter Huber an AA vom 19. 10. 1989. Betr. : Zufluchtsuchende Deutsche aus der DDR, hier: Lagebericht 19.11.1989 ( PA AA, 513, B 85 Nr. 2347 E, unpag.). 467 Botschafter Ziebart an SED - Generalsekretär Krenz vom 23. 10. 1989 ( BArch B, DY 30/11621, Bl. 163–168).
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24. Oktober 1989 Ostberlin, Politbüro der SED : Grenzöffnung ab 1. November 1989
Unter dem Druck der weit verbreiteten, tiefsten Unzufriedenheit der Bevölkerung in der DDR und anhaltender Massenproteste entschließt sich die SED Führung zu einem gewagten Manöver, um den Druck aus dem Kessel abzulassen. So beschließt das SED - Politbüro unter der Leitung von Egon Krenz, dass die zeitweilige Aussetzung des pass - und visafreien Reiseverkehrs in die ČSSR zum 1. November aufgehoben wird.468 Fortan solle dann wieder die einfache Vorlage eines gültigen Personalausweises ausreichend sein, um ins südliche Nachbarland einreisen zu dürfen – ganz so, wie es bereits vor dem 3. Oktober der Fall war. Zugleich rät die Regierung ihren Bürgern dringend davon ab, die wiedergewonnene Reisefreiheit neuerlich zu missbrauchen, um die eigene Ausreise in den Westen zu erzwingen, so wie es in der Vergangenheit, vor der Schließung der Grenze zur ČSSR, geschehen war : »Der Ministerrat der DDR beschließt, dass die Bürger der DDR, die sich möglicherweise weiterhin mit dem Gedanken tragen, das Land zu verlassen, obwohl jeder gebraucht wird, einen Antrag auf ständige Ausreise in der DDR bei den Abteilungen Innere Angelegenheiten stellen können. Diese Anträge werden kurzfristig und großzügig entschieden. Der Weg über Botschaften der BRD im Ausland, die Ausreise zu erzwingen, ist nicht notwendig und bringt für den Bürger mehr Nachteile als Vorteile.«469 Wie die SED - Spitze jedoch schon sehr bald erfahren muss, schenken die DDR - Bürger ihrer Partei und Staatsführung kein Vertrauen mehr. 25. Oktober 1989 Ostberlin, Botschaft der ČSSR
Tags darauf erreichen die Pläne für die spektakuläre – und vorerst noch streng geheime – Kehrtwende der SED - Führung in Sachen Reisefreiheit die politisch Verantwortlichen in Prag. Aus Ostberlin telegrafiert Botschafter Langer an das tschechoslowakische Außenministerium den gestrigen Politbürobeschluss über die bevorstehende Wiedereröffnung der Grenze zwischen der DDR und der ČSSR : »Gestützt auf Informationen aus vertraulichen Quellen wird erwartet, dass in den kommenden Tagen sich das DDR - Außenministerium an das Föderale Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten in Prag wendet, mit dem Vorschlag, dass die tschechoslowakische Grenze für Touristen aus der DDR wieder geöffnet wird. Die DDR geht hierbei davon aus, dass für die Tschecho468 Protokoll Nr. 45 der Sitzung des Politbüros des ZK der SED vom 18.10.1989 ( BArch B, DY 30/ J/ IV /2/2/2354, unpag.) – Dok. 55. 469 Beschluss des SED - Politbüros vom 24.10.1989 ( BArch B, DY 30/5195, Bl. 251–253).
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slowakei keine übergroßen Belastungen mit der erneut ansteigenden Zahl ausreisewilliger DDR - Bürger in der BRD - Botschaft entstehen. Die Ausreisegenehmigungen für DDR - Bürger in die Bundesrepublik sollen demnächst den Antragstellern durch die DDR - Vertretung in Prag ausgestellt werden.«470 Angesichts der zitierten Prognose, dass der »Tschechoslowakei keine übergroßen Belastungen mit der erneut ansteigenden Zahl ausreisewilliger DDR-Bürger« entstehen würden, scheint es auch der neuen SED-Spitze an Realitätssinn zu fehlen. Wien, ČSSR - Ministerpräsident Adamec auf Staatsbesuch
Während in Prag die Nachricht über eine mögliche Wiedereröffnung der deutsch- tschechoslowakischen Grenze die Runde macht, befindet sich ČSSR Ministerpräsident Ladislav Adamec auf Staatsbesuch in Wien. Im Gespräch mit Österreichs Bundeskanzler Franz Vranitzky macht der tschechoslowakische Regierungschef, der unter den KPTsch - Genossen noch zu den gemäßigten gezählt wird, unmissverständlich klar, dass die Reformbereitschaft der tschechoslowakischen Kommunisten an der Frage des Erhalts des Machtmonopols ihrer Partei ende. Einen Dialog mit unabhängigen Bürgerrechtsgruppen lehnt Adamec entschieden ab, »da diese auf die Liquidierung der KPTsch und des Sozialismus« hinarbeiteten. Stattdessen plädiert er dafür, den Blockparteien mehr Eigenständigkeit zuzugestehen.471 26. Oktober 1989 Ostberlin, Parteiorgan »Neues Deutschland«
In der SED - Zeitung »Neues Deutschland« beginnt am heutigen Tag eine Leserbriefkampagne, welche die DDR - Bürger eindringlich dazu auffordert, ihr Land nicht zu verlassen. Bonn – Ostberlin, Helmut Kohl telefoniert mit Egon Krenz
Bundeskanzler Kohl gratuliert telefonisch dem Staatsratsvorsitzenden Krenz zu seinem neuen und wichtigen Amt. Der Bundeskanzler spricht unter anderem die in der DDR angekündigte Neuregelung der Reisefreiheit an: Sie sei ein wichtiger Schritt, den die Bundesregierung begrüße. Wichtig sei auch die in Aussicht
470 Botschafter Langer an Außenministerium der ČSSR vom 25.10.1989 ( AMZV Praha, Telegramy přijaté, 1989, sv. 38). 471 Botschaft Wien, gez. Brühl, an AA vom 30. 10. 1989. Betr. : Besuch des tschechoslowakischen MP Adamec in Wien vom 24.–25.10.1989 ( BArch, B 136/33800, unpag.).
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genommene Amnestie für Menschen die wegen Grenzübertritts (»Republikflucht«) verurteilt und inhaftiert seien. Es werde eine erhebliche Wirkung haben, wenn mit einer positiven Lösung der Name des Staatsratsvorsitzenden verbunden wäre. Krenz erklärt, er verweise in diesem Zusammenhang noch einmal auf seine letzten Reden. Er wolle eine Wende herbeiführen. Aus der Sicht der DDR sei wichtig, dass die Respektierung der Staatsbürgerschaft durch die Bundesrepublik deutlicher zum Ausdruck komme. Der Bundeskanzler Kohl verweist auf die bestehenden Meinungsverschiedenheiten. Ungeachtet dieser Meinungsverschiedenheiten sollten die Möglichkeiten der Zusammenarbeit ausgeschöpft werden. Der Staatsratsvorsitzende erklärt, die Hand sei ausgestreckt.472 Prag, Botschaften der Bundesrepublik und der DDR
Zwischen beiden deutschen Staaten wird vereinbart, dass es den DDR - Bürgern, die sich in der Tschechoslowakei aufhalten, ermöglicht wird, aus der Tschechoslowakei direkt in die Bundesrepublik auszureisen. In Prag treffen sich DDR Botschafter Ziebart und Botschafter Huber, um die Modalitäten zu besprechen, unter denen die letzten der im Palais Lobkowicz verbliebenen DDR - Bürger in die Bundesrepublik ausreisen dürfen. Beide Botschaften organisieren die Ausreise bereits im Konsens – eine unter der alten SED - Führung kaum vorstellbare Konstellation. Das Ergebnis der beiderseitigen Bemühungen : Personen, die nicht in die DDR zurückkehren wollen, können in Prag einen Antrag auf Entlassung aus der DDRStaatsbürgerschaft stellen. Dieses Angebot gilt im Übrigen für alle Bürger der DDR, die sich gegenwärtig noch in der ČSSR aufhalten, also auch für jene, die nicht in die westdeutsche Vertretung geflüchtet sind. Für beide Fälle sichert die Botschaft der DDR in Prag eine schnelle Bearbeitung – innerhalb von 24 Stunden – zu. Nach einer innerhalb dieser Bearbeitungsfrist erfolgten Überprüfung der Rechtmäßigkeit des Antrags stellt die Botschaft dann eine Entlassungsurkunde aus der Staatsbürgerschaft aus, welche dem Betroffenen in der Prager Vertretung der DDR übergeben wird. Die Ausreisewilligen werden entsprechend gebeten, nach erfolgter Überprüfung in Gruppen von 15–20 Personen die Botschaft der DDR in Prag aufzusuchen, um ihre Entlassungsurkunden und Identitätsbescheinigungen in Empfang zu nehmen. Beide Gesprächspartner unterstreichen, dass sie sehr daran interessiert seien, »keine spektakuläre Aktion« durchführen zu
472 Telefongespräch des Bundeskanzlers Kohl mit dem Staatsratsvorsitzenden Krenz am 26. Oktober 1989. In : Deutsche Einheit. Sonderedition aus den Akten des Bundeskanzleramtes 1989/90, Nr. 68, S. 468 – Dok. 56.
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wollen. Ferner wird betont, dass vorgenannte Maßnahmen »zeitweiligen Charakter« hätten.473 Gemäß den getroffenen Absprachen zwischen der DDR - Botschaft in Prag und der tschechoslowakischen Regierung kann die Ausreise de facto über alle Grenzübergänge hinweg erfolgen, konkret über die folgenden : 1. direkt in die Bundesrepublik über den Flughafen Prag - Ruzyně per Flugzeug, 2. über den Grenzübergang Rozvadov - Waidhaus per Pkw oder Bus sowie 3. über den Eisenbahn - Grenzübergang Eger - Schirnding per Zug. 4. Via Österreich über den Eisenbahn - Grenzübergang Horní Dvořiště per Zug sowie 5. über den Grenzübergang Dolní Dvořiště per Pkw.474 Die meisten der Ausreisewilligen fahren, nachdem sie formal korrekt aus der DDR - Staatsbürgerschaft entlassen worden sind, mit bundesdeutschen Bussen über Pilsen nach Waidhaus. Botschafter Huber begleitet sie bis zur Grenze.475 Rechtsanwalt Vogel, der in Ausreisesachen in der Vergangenheit immer vermittelt hatte, setzt Huber davon in Kenntnis, dass sein Angebot einer legalen Ausreise aus der DDR auch unter der neuen Konstellation weiterhin Bestand habe.476 27. Oktober 1989 Prag, Botschaft der Bundesrepublik
Wie Legationsrat Detlev Rünger von der westdeutschen Botschaft in Prag das Auswärtige Amt informiert, sind heute Morgen um 8.30 Uhr insgesamt 141 ausreisewillige DDR - Bürger mit Hilfe zweier in der Bundesrepublik angemieteter Reisebusse sowie zweier von der Botschaft bereitgestellter Pkws von Prag aus nach Weiden ( Oberpfalz ) aufgebrochen. Die Busse wurden von Botschafter Huber sowie zwei Beamten des Höheren Dienstes begleitet. Um 12.45 Uhr trafen die Fahrzeuge wohlbehalten am Grenzübergang Waidhaus ein.477 Zuständig für die Aufnahme und Weiterleitung der Flüchtlinge in die Bundesländer ist der am 29. August gebildete Sonderstab des Grenzschutzkommandos ( GSK ) Süd. Der lässt bei der Gelegenheit denn auch gleich darum bitten, dass die Prager Bot-
473 Botschafter Huber an AA vom 26. 10. 1989. Betr. : Zufluchtsuchende Deutsche aus der DDR, hier: Geplante unmittelbare Ausreise in die Bundesrepublik Deutschland am 27. 10. 1989 (PA AA, Bo. Prag, 20682 E, unpag.). 474 Ebd. 475 Ebd. 476 Vermerk des Botschafters Huber vom 25.10.1989. Betr. : Ausreisen von Deutschen aus der DDR ( PA AA, Bo. Prag, 20682 E, unpag.). 477 Botschaft Prag, gez. Rünger, an AA vom 27.10.1989. Betr : Zufluchtsuchende Deutsche aus der DDR, hier : unmittelbare Ausreise in die Bundesrepublik Deutschland am 27.10.1989 ( PA AA, 513, B 85 Nr. 2347 E, unpag.).
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schaft ihn doch rechtzeitig über die Ankunft weiterer DDR - Flüchtlinge informieren möge, damit neben dem Erstaufnahmelager Weiden ggf. weitere Aufnahmelager gebildet werden können.478 Um 14.00 Uhr halten sich noch 48 Zufluchtsuchende in der Botschaft auf. Davon haben 27 im Laufe des heutigen Vormittags in der hiesigen DDR - Botschaft ihre Entlassungsurkunden aus der DDR - Staatsbürgerschaft sowie Identifikationspapiere in Empfang genommen. Diese 27 würden noch heute abgefertigt und mit einem in der Bundesrepublik angemieteten Reisebus sowie dreier privater Autos die Tschechoslowakei in Richtung Westen verlassen.479 Zufrieden lässt Legationsrat Rünger die zurückliegende Operation Revue passieren : »Die Ausreiseaktion konnte hier ohne Störungen abgewickelt werden. Die Zusammenarbeit mit der hiesigen DDR - Botschaft war, wie schon in der Vergangenheit, sachlich und geschäftsmäßig gut.«480 28. Oktober 1989 Prag, Wenzelsplatz
Der heutige 28. Oktober ist der Gründungstag der Tschechoslowakei (1918). Zur Jubiläumsfeier findet auf dem Prager Wenzelsplatz, mitten im Stadtzentrum, eine öffentliche Vereidigung von 1 500 Soldaten statt. Sie kommt einer Demonstration der Macht gleich. Zuvor ist an gleicher Stelle eine Bürgerdemonstration von etwa 15 000 Personen gegen das Regime gewaltsam beendet worden.481 Dies alles erinnert fatal an die Situation in Ostberlin vom 7. Oktober. Zu einer ähnlichen Entwicklung wird es hier bald auch kommen.
478 AA an die Botschaft Prag vom 2.11.1989 ( PA AA, Bo. Prag, 20682 E, unpag.). 479 Botschaft Prag, gez. Rünger, an AA vom 27.10.1989. Betr : Zufluchtsuchende Deutsche aus der DDR, hier : unmittelbare Ausreise in die Bundesrepublik Deutschland am 27.10.1989 ( PA AA, 513, B 85 Nr. 2347 E, unpag.). 480 Ebd. 481 Vgl. Brüggemann, Als Militärattaché aktiver Zeitzeuge in Prag 1989, S. 834.
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4.3 November : Mauerfall und »Samtene Revolution« 1. November 1989 Prag, Botschaft der Bundesrepublik, gewaltige Flüchtlingswelle
Vier Wochen lang, vom 4. bis zum 31. Oktober, war die Grenze zwischen der DDR und der Tschechoslowakei hermetisch abgeriegelt gewesen. Erst das auf mehreren Positionen umbesetzte Politbüro um Honeckers Nachfolger Egon Krenz sah sich unter dem Druck der Massendemonstrationen genötigt, den vormals üblichen pass - und visafreien Reiseverkehr zwischen beiden Staaten wieder einzuführen, um die angespannte Lage zumindest ein wenig zu entschärfen. Heute ist es nun soweit. Ab sofort dürfen DDR - Bürger wieder in die Tschechoslowakei reisen; die Vorlage eines Personalausweises genügt. So will es der Beschluss der neuen SED - Parteiführung, welche die Grenzöffnung als Teil ihrer angestrebten »Wende« - Politik begreift. Womit sie wahrscheinlich nicht gerechnet hat : Im Nu erhebt sich eine mächtige Flüchtlingswelle; ganz so, als hätten unzählige Menschen nur darauf gewartet, bei nächster Gelegenheit der DDR endgültig den Rücken kehren zu können. Der nun einsetzende Massenexodus stößt rasch in Dimensionen vor, die alles vorher Dagewesene in den Schatten stellen.
Kommen wir rein? Foto: Antonín Nový
November : Mauerfall und »Samtene Revolution«
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Nach nur zwei Tagen haben sich bereits wieder mehr als 4 000 DDR - Bürger auf dem Botschaftsgelände der Bundesrepublik eingefunden; rund 8 000 weitere befinden sich inzwischen auf tschechoslowakischem Gebiet, unterwegs in Richtung Botschaft. Botschafter Hubers Stellvertreter in Prag, Armin Hiller, schlägt Alarm. Die Wiedereinführung des visafreien Reiseverkehrs zwischen der DDR in der ČSSR habe direkt zu einem abrupten Wiederanstieg des Flüchtlingsstromes geführt.482 Die Zahl der Zufluchtsuchenden nimmt so rasant zu, dass sich die Lage in der Botschaft kaum mehr kontrollieren lässt.483 Der Bonner Militärattaché in Prag, Adolf Brüggemann, erinnert sich : »Beurteilung der Lage und Entschluss erwiesen sich als richtig. Am Morgen des 1. November um 6.00 Uhr befanden sich bereits wieder 315 Zufluchtsuchende Deutsche aus der DDR auf dem Gelände der Botschaft; um 16.30 Uhr waren es ca. 1 400, und im Laufe des Abends war die Zahl auf über 2 000 angewachsen. An diesem Abend dampften aber auch bereits wieder die Feldküchen, die ersten Zelte waren wieder aufgebaut, und die kurzfristig, aber entschlossen vorbereitete Versorgung lief auf vollen Touren und wurde sogar in der Nacht und den ganzen folgenden Tag hindurch durch weitere Versorgungstransporte mit Etagenbetten, Matratzen, Decken und Bekleidung verstärkt, die zwischenzeitlich im Bundeswehr - Standort Weiden eingelagert worden waren. Das DRK schaffte innerhalb von etwa 60 Stunden über 30 große Zelte aus Hannover heran. Durch umfangreiche Verpflegungslieferungen von Seiten der Bundeswehr, des DRK und durch Einkauf von Frischverpflegung in Prag war die Ernährung der Flüchtlinge zu jeder Zeit und auf Tage hinaus sichergestellt. Dies war auch dringend notwendig, denn am Nachmittag des 3. November war die Zahl der Zufluchtsuchenden auf dem Botschaftsgelände auf ca. 5 000 angewachsen.«484
Zwar werden unermüdlich Gruppen von DDR - Bürgern per Bus oder Pkw in die Bundesrepublik gebracht, jedoch wird der Abfertigungsprozess durch die erforderlichen Formalitäten im Prager Konsulat der DDR, wo die Ausreisewilligen die vorgeschriebene Entlassung aus dem Staatsverband der DDR beantragen müssen, wesentlich ausgebremst. Denn pro Tag können hier nur maximal 70 Ausreiseanträge bearbeitet werden. Schon bildet sich im Palais Lobkowicz ein heftig wachsender Rückstau an DDR - Bürgern, und nicht von ungefähr fürchtet das Botschaftspersonal, dass, sollte es so weitergehen wie bisher, sehr bald schon wieder auf dem Botschaftsgelände Verhältnisse wie Anfang Oktober vorherrschen werden. Entsprechend wird von der Bonner Vertretung beabsichtigt, zunächst der KPTsch - Führung das Einverständnis abzuringen, die wartenden Ausreisewilligen in Gebäuden nahe dem Botschaftsgelände unterzubringen. Erst
482 Stellv. Botschafter Hiller an AA zur Lage in der Botschaft vom 3. 11. 1989 ( PA AA 513, B 85 Nr. 2347 E, unpag.) – Dok. 59. 483 Huber, DDR - Flüchtlinge in der Botschaft 1989 ( http ://www.prag.diplo.de / contentblob / 1796820/ Daten /141437/ erinnerungen_botschafterhuber_1989_d.pdf; 2.12.2009). 484 Brüggemann, Als Militärattaché aktiver Zeitzeuge, S. 834 f.
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wenn dies geschafft sei, könne man nach Möglichkeiten suchen, das umständliche Ausreiseverfahren selbst zu beschleunigen.485 Moskau, SED - Generalsekretär Krenz auf Staatsbesuch
Sein erster Staatsbesuch führt den neuen Generalsekretär der SED, Egon Krenz, nach Moskau. Dabei spielt wider Erwarten das Flüchtlingsdrama nur eine untergeordnete Rolle; es ist vorläufig hinter andere innenpolitische Probleme zurückgetreten. Während seines Antrittsbesuchs unterrichtet Krenz seinen sowjetischen Amtskollegen Gorbatschow ausführlich über die prekäre ökonomische Situation der DDR.486 Der KPdSU - Generalsekretär gibt in dieser Hinsicht freundlich aber bestimmt zu verstehen, dass sich die Sowjetunion zu jedweder wirtschaftlichen Unterstützung der DDR derzeit außerstande sehe.487 Im Hinblick auf die zukünftige Gestaltung der deutsch - deutschen Beziehungen stellt Gorbatschow lediglich knapp fest, dass die deutsche Frage gegenwärtig nicht auf der Tagesordnung der KPdSU stehe. Ihre Lösung sei keine Frage der aktuellen Politik. Ebenso wenig könne die Sowjetunion zur innenpolitischen Entspannung in der DDR beitragen – der dazu entscheidende Impuls müsse vom SED - Politbüro selbst kommen.488 Auf der anschließenden internationalen Pressekonferenz, die Krenz vor seiner Rückreise aus Moskau in Abwesenheit von Gorbatschow abhält, schließt der SED- Generalsekretär eine deutsche Wiedervereinigung aufgrund der »immanenten Widersprüche von Kapitalismus und Kommunismus« kategorisch aus.489 2. November 1989 Ostberlin, Parteiorgan »Neues Deutschland«
Auch am SED - Zentralorgan »Neues Deutschland« geht die von der Parteispitze proklamierte »Wende« nicht spurlos vorüber. So berichtet die Zeitung in ihrer heutigen Ausgabe ganz tatsachengetreu von den Geschehnissen entlang der wiedereröffneten Grenze zur Tschechoslowakei : »Tausende Bürger der DDR haben am Mittwoch die Grenzübergänge zur ČSSR passiert. Ab Mitternacht war die zeitweilige Aussetzung des pass - und visafreien Verkehrs aufgehoben. Schon bis in die Nachmittagsstunden reisten rund 8 000 Bürger in das Nachbarland.«490 485 Vgl. Stellv. Botschafter Hiller an AA zur Lage in der Botschaft vom 1. 11. 1989 ( PA AA, 214, 139918 E, unpag.) – Dok. 57. 486 Vgl. Stephan / Küchenmeister ( Hg.), »Vorwärts immer, rückwärts nimmer !«, S. 202–206. 487 Vgl. Galkin / Tschernjajew ( Hg.), Michail Gorbatschow und die deutsche Frage, S. 217–220. 488 Vgl. Hertle, Fall der Mauer, S. 149–154. 489 Vgl. RIAS - Bericht über die Pressekonferenz von Egon Krenz in Moskau vom 1.11.1989 ( http:// www.chronik - der - mauer.de / index.php / de / Media / VideoPopup / field / audio_video / id /14763/ month / November / oldAction / Detail / oldModule / Chronical / year /1989; 23.2.2014). 490 »Touristen wieder in die ČSSR«. In : Neues Deutschland vom 2.11.1989.
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Prag, Botschaft der Bundesrepublik, Kapazitäten reichen nicht aus
Bis zum Nachmittag haben sich erneut 1 400 Flüchtlinge in der westdeutschen Vertretung in Prag eingefunden. Das Botschaftspersonal rechnet nach der Medienberichterstattung vom Wochenende mit weiterem Zulauf. Zum Glück ist es für die Jahreszeit relativ warm und sonnig, doch muss im November jederzeit mit einem Wetterumschwung gerechnet werden.491 Regelmäßig fahren Busse mit DDR - Bürgern, die eine Ausreisegenehmigung erhalten haben, über die bundesrepublikanisch tschechoslowakische Grenze in die Oberpfalz. Doch ist deren Anzahl im Vergleich zu den Neuankömmlingen verschwindend gering. Der langsame Die Traurigkeit hinter dem Zaun. Foto: Antonín Nový Abfluss der Zufluchtsuchenden stellt auch das größte Problem dar. Das von der Prager DDR - Botschaft angewandte bürokratische Verfahren ist zu langsam und lässt einen rapide wachsenden Rückstau entstehen. Die Bearbeitungszeit je nach Fall beträgt – anders als ursprünglich veranschlagt – mehr als 24 Stunden. Ferner besteht die DDR Vertretung darauf, dass die Aushändigung von Entlassungsurkunden und Ausreisedokumenten nur in Gruppen zu je maximal 20 Personen erfolgen darf.492 So bleibt den Mitarbeitern der westdeutschen Vertretung nichts anderes übrig, als im Auswärtigen Amt in Bonn um eine neuerliche Personalaufstockung für die verschiedensten Bereiche zu bitten, und das möglichst schon innerhalb von 24 Stunden. Auch die Rotkreuzhelfer, die gerade erst abgezogen worden waren, werden wieder um 20 Personen aufgestockt, des Weiteren sollen noch zwei mobile Feldküchen folgen.493
491 Stellv. Botschafter Hiller an AA zur Lage in der Botschaft vom 2. 11. 1989 ( PA AA, 513, B 85 Nr. 2347 E, unpag.) – Dok. 58. 492 Ebd. 493 Stellv. Botschafter Hiller an AA vom 2.11.1989. Betr. : Zufluchtsuchende Deutsche aus der DDR, hier : Personalverstärkung ( ebd.).
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Die Meilensteine auf dem Weg zur Freiheit
3. November 1989 Prag, Botschaft der Bundesrepublik, Lage immer dramatischer, DRK bittet verzweifelt um Hilfe
Warten auf Einlass. Foto: pictures alliance / ZB
Die von Vizebotschafter Hiller am gestrigen Tag geäußerte Befürchtung, dass mit einem weiteren Zustrom an Flüchtlingen zu rechnen sei, bewahrheitet sich in eklatanter Weise. Mehrere tausend Flüchtlinge drängen sich jetzt im Palais Lobkowicz zusammen. Durch die katastrophalen hygienischen Verhältnisse ist die Gesundheit Tausender akut gefährdet, darunter auch viele Frauen und Kinder. Der Präsident des Deutschen Roten Kreuzes, Botho Prinz zu Sayn - Wittgenstein, richtet einen verzweifelten Appell an die Verantwortlichen : »Die Lage in der Botschaft in Prag hat sich durch den erneuten Zustrom von über 4 000 DDR Flüchtlingen in den letzten Stunden dramatisch zugespitzt. Aus der Erfahrung der letzten Wochen weise ich mit Nachdruck darauf hin, dass wir eine menschenwürdige Versorgung von mehr als 2 000–3 000 Menschen auf dem Gelände der Botschaft für nicht mehr möglich halten ! Die hygienischen Verhältnisse, die sanitären Einrichtungen und die gegenwärtige Witterung gefährden ernsthaft die Gesundheit der Flüchtlinge, insbesondere der vielen Frauen und Kinder! Natürlich hat das Deutsche Rote Kreuz, auch auf Bitte des Auswärtigen Amtes, sofort auf die akute Notsituation reagiert und über 40 Helfer, Gerät und Verpflegung nach Prag gesandt. Wir tragen keine politische Verantwortung für diese Lage, aber wir empfinden eine starke menschliche Verantwortung für die schier ausweglose Situation der Flüchtlinge in der Botschaft. Deshalb appelliere ich eindringlich an die Regierungen der DDR, der Tschechoslowakei und die Bundesregierung, aus humanitären Gründen die sofortige Ausreise aus Prag in einer Sonder-
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aktion zu ermöglichen ! Unabhängig davon sollten sofort geeignete Ausweichquartiere von den Behörden in Prag bereitgestellt werden ! Das Rote Kreuz ist seinerseits bereit, alles Menschenmögliche zur Versorgung der Zufluchtsuchenden zu tun !«494
Vizebotschafter Hiller unterstützt Sayn - Wittgensteins Worte mit Nachdruck und appelliert gleichfalls an die drei involvierten Regierungen, die sofortige Ausreise der Flüchtlinge aus Prag in einer Sonderaktion zu ermöglichen.495 Bonn, Bundeskanzleramt, 11.30 Uhr, Drängen auf rasche Lösung
Im Bundeskanzleramt empfängt dessen Chef und Bundesminister für besondere Aufgaben, Rudolf Seiters, um 11.30 Uhr den Ständigen Vertreter der DDR, Horst Neubauer, und bringt das Interesse der Bundesregierung an einer raschen Lösung des Prager Flüchtlingsdramas zum Ausdruck. Mit Nachdruck bittet er um eine Beschleunigung des bürokratischen Verfahrens zur Abfertigung der ausreisewilligen DDR - Bürger.496 Bonn, Auswärtiges Amt, 11.36 Uhr, fieberhafte Konsultationen
In der tschechoslowakischen Botschaft in Bonn geht ein Anruf vom Auswärtigen Amt ein, worin Staatssekretär Jürgen Sudhoff auf eine rasche Problemlösung in Hinblick auf die stetig steigende Zahl ausreisewilliger DDR - Bürger in der Prager Vertretung der BRD drängt. Erneut appelliert er an die ČSSR, den neu eingetroffenen DDR - Bürgern doch zumindest eine zeitweilige Unterkunft außerhalb des Botschaftsgeländes zur Verfügung zu stellen. Diese in der Vergangenheit bereits mehrmals gestellte Aufforderung wird allerdings mit frischen Argumenten untermauert : »Die Situation hat sich doch grundlegend dadurch geändert, dass die DDR in ihrer Botschaft in Prag die Ausreiseanträge in die BRD über die Tschechoslowakei genehmigt und somit eigentlich mit der Durchfahrt der Ausreisewilligen einverstanden ist. Dies sollte zur Kenntnis genommen werden.«497 Darüber hinaus erklärt sich die Bundesrepublik dazu bereit, die Kosten der auswärtigen Unterkunft für die DDR - Ausreisewilligen selbst zu tragen. Bei der Gelegenheit verweist Sudhoff auch auf den Umstand, dass sich bereits jetzt mehr als 3 000 DDR - Bürger auf dem Botschaftsgelände aufhielten und dass deren Zahl über das Wochenende ganz sicher noch dramatisch steigen werde. 494 Erklärung des Präsidenten des Deutschen Roten Kreuzes, Prinz zu Sayn - Wittgenstein, zur Situation in Prag vom 3.11.1989 ( DRK, 3166, unpag.) – Dok. 60. 495 Stellv. Botschafter Hiller an AA zur Lage in der Botschaft vom 3. 11. 1989 ( PA AA, 513, B 85 Nr. 2347 E, unpag.) – Dok. 59. 496 Information des Leiters des Referats 513 des AA, Kunzmann, für Außenminister Genscher zur Situation in der Botschaft in Prag vom 3.11.1989 ( PA AA, 513, B 85 Nr. 2347 E, unpag.). 497 Botschafter Spáčil an Außenministerium der ČSSR vom 3. 11. 1989 ( AMZV Praha, Telegramy přijaté, 1989, sv. 39., čj. : 055146).
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Entsprechend drängt der Staatssekretär zur Eile; die Befürchtung sei, so Sudhoff, dass in der Botschaft sehr bald schon wieder eine ähnliche Lage entstehen könne wie in jüngster Vergangenheit.498 Doch der tschechoslowakische Botschafter bleibt unnachgiebig. Dušan Spáčil erklärt nach Rücksprache mit ČSSR Vizeaußenminister Sadovský, dass sich der Standpunkt seiner Regierung nicht verändert habe : Auf tschechoslowakischen Gebiet würden keine Flüchtlingslager für DDR - Bürger errichtet. Stattdessen empfiehlt Spáčil neue deutsch - deutsche Verhandlungen über die Aufstockung der Kapazitäten der Vertretung der DDR in Prag, damit die Ausreiseformalitäten zügiger als bisher erledigt werden können. Tatsächlich finden entsprechende Verhandlungen bereits zur gleichen Zeit im Bundeskanzleramt statt.499 Ostberlin, Staatsratsgebäude, 14.30 Uhr, Gratulationscour für Krenz
Der neue Staatsratsvorsitzende der DDR, Egon Krenz, empfängt heute im Amtssitz des Staatsrats zum ersten Mal das Diplomatische Korps.500 Noch bevor dieser die zahlreichen Glückwünsche zu seiner Wahl zum Generalsekretär der SED entgegennimmt, hat der Ständige Vertreter Bonns, Franz Bertele, die Gelegenheit, mit Krenz über das wieder aufgeflammte Flüchtlingsdrama zu sprechen. Honeckers Nachfolger im Amt, dem eine positive Entwicklung der deutsch - deutschen Beziehungen wichtig ist, hört sich Berteles Ausführungen an und verweist auf die neue Ausreiseregelung, die mit Beginn der kommenden Woche diskutiert werden soll. Konkrete Maßnahmen mit sofortiger Wirkung stellt er jedoch nicht in Aussicht. Auch das anschließende Gespräch Berteles mit dem ZK- Politbüromitglied Herbert Krolikowski über eine Flexibilisierung des Ausreiseverfahrens und etwaige Notunterkünfte in Prag endet ergebnislos.501 Es ist 15.30 Uhr,502 als der tschechoslowakische DDR - Botschafter, František Langer, mit Krenz ins Gespräch kommt und ihn über die dramatisch anschwellende Zahl von DDR - Bürgern in der Prager Vertretung der BRD informiert. Im Augenblick hielten sich bereits ca. 4 000 bis 5 000 Menschen auf dem Botschaftsgelände auf. Und ihre Zahl nehme rasant zu. Nach den Eindrücken von ČSSR Botschafter Langer war »Genosse Krenz [...] durch die hohe Anzahl [ der Flücht498 Information des Leiters des Referats 513 des AA, Kunzmann, für Außenminister Genscher zur Situation in der Botschaft in Prag vom 3.11.1989 ( PA AA, 513, B 85 Nr. 2347 E, unpag.). 499 Ebd.; Botschafter Spáčil an Außenministerium der ČSSR vom 3. 11. 1989 ( AMZV Praha, Telegramy přijaté, 1989, sv. 39., čj. : 055146). 500 Der Empfang dauerte etwa von 14.30 Uhr bis 17.00 Uhr. Vgl. Prečan, Ke svobodě přes Prahu, S. 155; Krenz, Herbst ’89, S. 209; Hertle, Chronik des Mauerfalls, S. 103–110. 501 Vgl. Staatssekretär Bertele an Chef des Bundeskanzleramtes Seiters vom 3. 11. 1989. In : Dokumentation Deutsche Einheit, Dokument Nr. 71 – Dok. 61. 502 Telegramm vom DDR - Botschafter Langer an tschechoslowakisches Außenministerium vom 3.11.1989 ( AMZV Praha, Telegramy přijaté, 1989, sv. 39., čj. : 055186) – Dok. 62.
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linge ] sichtlich überrascht. [...] Er versprach eine schnelle Lösung und bat, dies dem Genossen Jakeš mitzuteilen.«503 Langer spricht im Zuge der Veranstaltung die Flüchtlingsproblematik auch mit anderen hohen SED - Funktionären an, namentlich Herbert Krolikowski und Harry Otto. Anschließend stellt der tschechoslowakische Botschafter ernüchtert fest : »Die Reaktionen aller zeugen von Ratlosigkeit. [...] Vielleicht darf bereits morgen die Information des Innenministeriums über die Ausreisemöglichkeiten direkt aus der DDR veröffentlicht werden ( unsicher gesagt ). [...] Die befürchtete Massendemonstration am 4. 11. (heutige Schätzungen gehen von einer Millionenzahl an Teilnehmern aus ) beschäftigt offensichtlich alle insofern, als dass ohne weiteren Druck auf die Vertretung in Prag die Flüchtlingssituation kaum energisch gelöst wird.«504 Prag, Zentralkomitee der KPTsch, Generalsekretär Jakeš, 16.00 Uhr : notfalls direkte Ausreise
In Prag spitzt sich derweil die Situation rund um die westdeutsche Botschaft dramatisch zu. KPTsch - Parteichef Jakeš schlägt nach einer Krisensitzung des Politbüros SED - Chef Krenz mehrere, vom Ansatz her sehr unterschiedliche Lösungsvarianten vor. Sollte sich keiner der gemachten Vorschläge realisieren lassen, drängt er schließlich darauf, die DDR - Bürger einfach »direkt aus der ČSSR in ein beliebiges 3. Land ausreisen« zu lassen. Jakeš verlangt nachdrücklich eine »sofortige Entscheidung« Ostberlins. Es ist 16.00 Uhr, als ČSSR - Vizeaußenminister Sadovský die dringlichen Vorschläge seines Parteichefs an den Prager DDR - Botschafter Ziebart weiterleitet. Dieser telefoniert sofort über den »heißen Draht« ( WTsch )505 mit dem DDR - Außenminister Fischer in Berlin, um ihn über die aktuelle Lage und die tschechoslowakischen Lösungsvorschläge an SED - Generalsekretär Krenz zu unterrichten.506 Ostberlin, Außenministerium, 16.00 Uhr, Jakeš Vorschläge an SED - Generalsekretär Krenz
Von Botschafter Ziebart über die katastrophale Situation rund um die Prager Botschaft und die verzweifelten Bittgesuche Jakeš’ in Kenntnis gesetzt, wendet sich Außenminister Fischer umgehend via Eilschreiben an Krenz persönlich, um den SED-Generalsekretär und Staatsratsvorsitzenden der DDR über die brenz503 Ebd. 504 Ebd. 505 WTsch, russ : Bыcokaя Чacтoтa – Hochfrequenz. Interne Fernsprechanlage für geheime Regierungsverbindungen im Ostblock. 506 Außenministerium der ČSSR an die Botschaften in Berlin und Bonn vom 3. 11. 1989 ( AMZV Praha, Telegramy odeslané, 1989, sv. 10., pořadové číslo 3739) – Dok. 63.
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KPTsch-Chef Jakeš schreibt: notfalls direkte Ausreise.
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Fischer: »DDR-Bürger direkt aus der ČSSR in die BRD ausreisen lassen.«. Krenz: »Einverstanden«
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lige Entwicklung zu informieren. Einleitend rekapituliert er darin die von KPTsch - Parteichefs Jakeš vorgeschlagenen Lösungsvarianten :507 »Anruf über WTsch vom Genossen Ziebart : Genosse Jakes übermittelt folgende Botschaft an Genossen Krenz : 1. Angesichts des sprunghaften Ansteigens der Anzahl von DDR - Bürgern in der BRD Botschaft (gegenwärtig ca. 4 000, es wird mit einem täglichen Zugang von mindestens weiteren 2 000 gerechnet ) ist die Abfertigung der betreffenden Bürger so zu beschleunigen, dass eine umgehende Ausreise erfolgen kann. 2. Wenn diese Möglichkeit nicht bestehen sollte, wird eine einseitige Schließung der Grenze durch die DDR vorgeschlagen, bis in der DDR die Voraussetzung für eine direkte Ausreise in die BRD geschaffen ist. 3. Wenn beide Varianten nicht möglich sein sollten, wird die sofortige Aufnahme von Verhandlungen in Berlin mit dem Ziel vorgeschlagen, eine einseitige Suspendierung des Protokolls zum Vertrag über den visafreien Reiseverkehr durch die DDR zu vereinbaren, damit die betreffenden Bürger sofort aus der ČSSR in ein beliebiges 3. Land ausreisen können. ( Der Botschafter der ČSSR in Berlin hat dazu entsprechende Vollmachten ). Genosse Jakes bittet um möglichst sofortige Entscheidung und entsprechende Antwort.«508
Im zweiten Teil seines Schreibens kommt Fischer dann auf die neuesten – und noch schlimmeren – Hiobsbotschaften aus Prag zu sprechen. Gegenwärtig befänden sich auf dem Gelände der Prager Botschaft der BRD laut aktuellsten Informationen nicht etwa 4 000, sondern über 5 000 Personen. Weitere 8 000 DDR Bürger weilten in der ČSSR und seien bereits unterwegs zur Botschaft. Die tschechoslowakische Regierung wolle auf keinen Fall Flüchtlingslager für politische Flüchtlinge aus der DDR einrichten.509 Wie Fischer überdies an Krenz berichtet, dränge auch die Bundesregierung auf eine baldige Lösung. Wie aus Bonn der DDR - Bevollmächtigte, Horst Neubauer, gerade mitteilt, habe ihm Ministerialdirigent Duisberg vom Bundeskanzleramt eröffnet, dass sich die Situation in der Botschaft in Prag drastisch zugespitzt hätte. Es befänden sich über 5 000 Zufluchtsuchende auf dem Botschaftsgelände. Die Bundesregierung bittet die Regierung der DDR mit Nachdruck, Möglichkeiten der direkten Ausreise ihrer Bürger per Zug von Prag aus in die Bundesrepublik zu prüfen. Eine rasche Abfertigung und Ausreisemöglichkeit müsse nach Auffassung der BRD auch im Interesse der DDR liegen.510 Auf DDR - Außenminister Fischer lastet gewaltiger Druck : Sowohl von Seiten der internationalen Diplomatie angesichts der unerträglichen Lage in der Prager Botschaft der Bundesrepublik, als auch intern aufgrund der innenpolitischen 507 Außenministers Fischer an SED - Generalsekretär Krenz vom 3. 11. 1989. Mit Anlage : Information zur Situation der BRD - Botschaft in Prag ( BArch B, DY 30/ IV /2/2039/342, Bl. 155–157) – Dok. 64. 508 Ebd. 509 Ebd. 510 Ebd.
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Dauerkrise und einer für morgen erwarteten Massendemonstration in Berlin. Angesichts der Notlage und der weitgehenden Ausweglosigkeit empfiehlt Fischer SED - Generalsekretär Krenz kurzerhand die aktuell bequemste Lösung : Die DDR- Bürger sollen gemäß Jakeš Vorschlägen einfach aus der ČSSR direkt in die Bundesrepublik ausreisen dürfen : »Ich schlage vor, der ČSSR und der BRD mitzuteilen, dass wir einverstanden sind, die DDR - Bürger direkt – ohne auf Regelung der Formalitäten zur Entlassung aus der Staatsbürgerschaft der DDR zu bestehen – aus der ČSSR in die BRD ausreisen zu lassen, ohne dabei DDR Territorium zu berühren. Ich bitte um Entscheidung.«511 Ostberlin, Politbüro der SED, 17.00 Uhr, Krenz stimmt direkten Ausreisen zu
Als Krenz die Eilmeldung von Außenminister Fischer erhält, in welcher die Lage innerhalb der Prager Botschaft erdrückend dargelegt und als katastrophal bezeichnet wird, sieht er sich zu sofortigem Handeln gezwungen. Der Empfang des Diplomatischen Korps ist vorbei, als am frühen Abend, etwa um 17.00 Uhr, ein zusätzlicher, dringender Verhandlungspunkt für die heutige Sondersitzung des SED - Politbüros anberaumt wird : die Behebung des Flüchtlingsproblems.512 Krenz, der unter immensem Stress steht und weitere Massendemonstrationen fürchtet, aber auch bestrebt ist, ein Blutbad unter allen Umständen zu vermeiden,513 ist von der kritischen Gesamtsituation völlig überfordert. Ohne die Tragweite des Beschlusses wirklich zu erkennen, befürwortet er die Empfehlung Jakeš’, welche ihm auch Außenminister Fischer nahegelegt hat : Die DDR - Flüchtlinge in der Prager BRD - Botschaft sollen demnächst direkt aus der ČSSR in die Bundesrepublik ausreisen dürfen. Das SED - Politbüro stimmt dann explizit dem Vorschlag des KPTsch - Generalsekretärs zu : »Dem Vorschlag, die sich in der Prager BRD - Botschaft aufhaltenden DDR - Bürger direkt aus der ČSSR in die BRD ausreisen zu lassen, ohne dabei DDR - Territorium zu berühren, wird zugestimmt.«514 Die noch am heutigen Tag verkündete und sofort in Kraft getretene Ausreiseregelung konstituiert eine rechtlich und politisch fundamental neue Grundordnung. Wer nun die DDR verlassen will, steigt einfach in einen Zug nach Prag. Dort wird er von Botschaftspersonal in bereitstehende Züge umdirigiert, die ihn 511 Ebd. 512 Die ZK - SED - Politbürositzung dauerte von 12.00 Uhr bis 18.55 Uhr, mit Unterbrechung – für den Empfang des Diplomatischen Korps – von 14.30 Uhr bis 17.00 Uhr. Punkt 4 des Programms, die Botschaftsflüchtlinge, kam erst im Anschluss, etwa gegen 17.00 Uhr, ins Programm. Vgl. Prečan, Ke svobodě přes Prahu, S. 155; Krenz, Herbst ’89, S. 209; Hertle, Chronik des Mauerfalls, S. 103–110. 513 Krenz, Herbst ’89, S. 208. 514 Beschluss des Politbüros des ZK der SED vom 3.11.1989 ( BArch B, DY 30/5196, Bl. 16) – Dok. 65.
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unbelästigt in die Bundesrepublik bringen. Gemäß dem geflügelten Wort »Wie geht’s ? – Über Prag !« fahren nun täglich Tausende DDR - Bürger mit dem Zug in die tschechoslowakische Hauptstadt, wo sie von Botschaftsmitarbeitern noch am Bahnhof in Empfang genommen werden, die ihnen sogleich Hilfestellung zur direkten Weiterreise in die Bundesrepublik leisten.515 Mithin gibt es für DDR Bürger fortan keinen Eisernen Vorhang und keine Mauer mehr. Es gibt nur noch den Umweg über Prag.516 Hans - Dietrich Genscher bezeichnet in seinen Erinnerungen den Flüchtlingsstrom als einen politischen Urstrom, der sich »in Prag, der europäischsten aller europäischen Städte« in Bewegung setzte und sich anschließend unbehindert durch die DDR schob.517 3. November 1989 Beschluss des Politbüros des ZK der SED zur direkten Ausreise der Prager Botschaftsflüchtlinge in die Bundesrepublik »Dem Vorschlag, die sich in der Prager BRD - Botschaft aufhaltenden DDR - Bürger direkt aus der ČSSR in die BRD ausreisen zu lassen, ohne dabei DDR - Territorium zu berühren, wird zugestimmt. Genosse O. Fischer wird ermächtigt, sofort mit Vertretern der ČSSR und der BRD entsprechende Gespräche zu führen. Verantwortlich : Genosse O. Fischer«518
Die Politbüroentscheidung vom heutigen 3. November über die neue Ausreiseregelung stellt – nach der Montagsdemonstration in Leipzig am 9. Oktober – den nächsten historischen Meilenstein dar. Sie gehört in der langen Kette von dramatischen Ereignissen zu den folgenschwersten überhaupt : In dieser Minute öffnet sich für die DDR-Bürger der Eiserne Vorhang. Die kommunistische Diktatur in der DDR kann indessen ohne den Eisernen Vorhang nicht überleben. Der Kalte Krieg ist damit vorbei. Die DDR ist Geschichte. Ahnt es Krenz in diesem Moment? Prag, Botschaft der Bundesrepublik, 17.30 Uhr
Die Zahl der Zufluchtsuchenden auf dem Botschaftsgelände ist derweil tatsächlich auf ca. 5 000 angewachsen.519 DRK - Präsident zu Sayn - Wittgenstein legt 515 Http ://www.prag.diplo.de / Vertretung / prag / de /02/ Botschaftsfluechtlinge / _Botschaftsfluechtlinge.html; 2.12.2009. 516 Huber, DDR - Flüchtlinge in der Botschaft 1989 ( http ://www.prag.diplo.de / contentblob / 1796820/ Daten /141437/ erinnerungen_botschafterhuber_1989_d.pdf; 2.12.2009). 517 Genscher, Erinnerungen, S. 24. 518 Beschluss des Politbüros des ZK der SED vom 3.11.1989 ( BArch B, DY 30/5196, Bl. 16) – Dok. 65. 519 Brüggemann, Als Militärattaché aktiver Zeitzeuge, S. 834 f.
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Frieren vor der Botschaft. Foto: Antonín Nový
Bundesaußenminister Genscher seine Absicht dar, dass er die Öffentlichkeit über die katastrophalen Zustände in der Prager Botschaft informieren werde, sofern sich die Lage dort im Verlauf des heutigen Tages nicht ändere.520 Die konkrete Situation beschreibt in knappen Worten die dortige Einsatzleiterin des Roten Kreuzes : »Hoher Anteil von Kindern bis 10 Jahren. Viele alkoholisierte Personen. – Katastrophale Zustände, freie Plätze nur noch im Freien ( stehend ). – Der sanitäre Betrieb kann nur mit allergrößtem Bemühen aufrechterhalten werden. Hygienischer Zustand häufig ekelerregend. Abflüsse mit Fäkalien verstopft. Im Außenbereich (Garten, Nebengebäude ) wurde die Notdurft verrichtet. Im gesamten Außengelände eine matschige, glitschige Oberfläche. – Wetter : Im Wesentlichen trocken.«521 Dabei kommt es auch zu Konflikten zwischen DRK - Mitarbeitern, die ein striktes Alkoholverbot einhalten möchten, und DDR - Bürgern, die ihre Flucht mit Hochprozentigem feiern wollen. Schon tauschen vereinzelt Flüchtlinge über
520 Niederschrift über die gemeinsame Sitzung von Präsidium und Präsidialrat des DRK in Bonn vom 3.11.1989 ( DRK, 3166, unpag.). 521 Bericht über den DRK - Einsatz in der Botschaft der Bundesrepublik Deutschland in Prag / ČSSR in der Zeit vom 2.–16. 11. 1989 vom 19. 1. 1990, gez. Schröder, Einsatzleiterin ( DRK, 02563, unpag.).
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den Botschaftszaun hinweg etwa ihre Schlafsäcke gegen Alkohol ein, als es das Deutsche Rote Kreuz doch vorzieht, die Versorgung selbst zu übernehmen. Gegen Bezahlung besorgt es Zigaretten, Becherovka, Wodka, Whisky oder Weinbrand. 522 Ostberlin, abends, Fernsehansprache des SED - Generalsekretärs
Am Abend richtet sich Egon Krenz in einer Fernseh - und Rundfunkansprache an das Volk. Er verkündet den bevorstehenden Rücktritt der langjährigen und durchweg unbeliebten Politbüro - Gerontokraten Hermann Axen, Kurt Hager, Erich Mielke, Erich Mückenberger und Alfred Neumann.523 Dabei ruft Krenz geradezu leidenschaftlich die Ausreisewilligen auf, im Land zu bleiben : »Ich appelliere erneut an jene Bürger, die sich mit dem Gedanken der Ausreise aus der DDR plagen : Vertrauen Sie unserer Politik der Erneuerung ! Ihr Platz, liebe Mitbürger, ist hier. Wir brauchen Sie. Sollten Sie sich dennoch anders entscheiden, wenden Sie sich vertrauensvoll an die zuständigen Behörden der DDR. Es ist der kürzere und der bessere Weg.«524 Über die ganz neuen Ausreisemöglichkeiten für die DDR - Bürger, aus der Tschechoslowakei ab nun direkt in die Bundesrepublik ausreisen zu dürfen, informiert Krenz seine »lieben Mitbürger« allerdings ( verständlicherweise ) nicht. Prag, Botschaft der Bundesrepublik, 22.00 Uhr, Kunde über neue Ausreiseregelung, Jubel
Knapp 72 Stunden harren einige der Flüchtlinge im Palais Lobkowicz nun schon aus; 72 Stunden quälender Ungewissheit und des Wartens unter menschenunwürdigen Bedingungen, die auch das Botschaftspersonal und deren Helfer vom Roten Kreuz an die Grenzen ihrer Belastbarkeit geführt haben. Doch am späten Abend des 3. November hat das Botschaftspersonal, haben die DRK - Mitarbeiter, und – vor allem – haben Tausende der Zufluchtsuchenden aus der DDR in Prag einen guten, aber wirklich ausgezeichneten Grund zu riesigem Jubel. Das Botschaftspersonal wird am späten Abend telefonisch über die neue Ausreiseregelung informiert.525 Der stellvertretende Botschafter Hiller ver-
522 Heidi Blumenauer, Prag deutsche Botschaft, 2.11.1989 bis 11.11.1989 ( DRK, 04563, unpag.). 523 Hertle, Fall der Mauer, S. 158; ders., Chronik des Mauerfalls, S. 104 f.; Krenz, Herbst ’89, S. 210 f. 524 Ebd.; RIAS - Reportage über die Ansprache von Egon Krenz im DDR - Fernsehen vom 3.11.1989 ( http ://www.chronik - der - mauer.de / index.php / de / Media / VideoPopup / day /3/ field / audio_ video / id /14765/ month / November / oldAction / Detail / oldModule / Chronical / year /1989; 23.2.2014). 525 Stellv. Botschafter Hiller an AA vom 4. 11. 1989. Betr. : Zufluchtsuchende aus der DDR, hier : Unmittelbare Ausreise am 3. und 4.11.1989 ( BA AA, B 85 Nr. 2347 E, unpag.).
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mag die schier unfassbare Nachricht zunächst nicht zu glauben, dann allerdings organisiert er sofort alles Weitere. Gegen 22.00 Uhr fährt Hiller in die Botschaft der DDR, wo ihm die Möglichkeit einer direkten, legalen Ausreise in die Bundesrepublik amtlich bescheinigt wird. Hier bekommt er offiziell bestätigt, dass Deutsche aus der DDR, die sich gegenwärtig bereits in der Botschaft aufhalten oder diese erst noch aufsuchen wollen, ohne vorherige Entlassung aus der DDR Staatsbürgerschaft, lediglich auf Basis des DDR - Personalausweises, direkt in die Bundesrepublik ausreisen dürfen. Diese Regelung gelte ab sofort. Auf Hillers Nachfrage, ob es eine zeitliche Limitierung gäbe, antworten die DDR - Vertreter, dass dies nach ihrem Kenntnisstand nicht der Fall sei. Wie das DDR - Botschaftspersonal ferner betont, handele es sich bei den Vorgängen nach DDR - Recht um völlig legale Ausreisen.526 Reichlich überraschend – gleichwohl auf eine positive Art – kommt für Hiller auch der völlig neue Umgangston der Botschaftsmitarbeiter : »Das Gespräch wurde von DDR - Diplomaten auf eine offene, sympathische und kollegial entgegenkommende Art geführt. [ Legationsrat ] Rünger und ich gingen natürlich gerne auf diesen angenehmen Umgangston ein, hatten aber einige Mühe, unsere Überraschung über diesen abrupten Stimmungsumschwung zu verbergen.«527 Nachdem die Bonner Diplomaten in die bundesdeutsche Botschaft zurückgekehrt sind, informieren sie umgehend die dort wartenden Zufluchtsuchenden über deren neue Ausreisemöglichkeiten. Der Jubel ist unbeschreiblich. Anschließend leiten sie alle notwendigen organisatorischen Schritte und Vorbereitungen für den morgigen Hauptabreisetag in die Wege. Ein Teil der Flüchtlinge will indes nicht mehr länger warten und begibt sich sofort in die Prager Innenstadt, wo sie ihre Autos abgestellt hatten, um noch in der gleichen Nacht in Richtung Bundesrepublik loszufahren.528 Vize - Botschafter Hiller informiert das Auswärtige Amt in Bonn auch über die Reaktionen der tschechoslowakischen Stellen. Den meisten Gesprächspartnern im Außenministerium der Tschechoslowakei sei anzumerken gewesen, wie erleichtert sie über die gefundene Lösung seien. Das Tschechoslowakische Rote Kreuz sei ebenfalls bereit, Hilfe zu leisten. Und ganz nebenbei erfährt Hiller auch noch, wer sich von der tschechoslowakischen Seite für eine rasche Lösung der Flüchtlingsfrage eingesetzt habe : Der Mitarbeiter des Außenministeriums, Miloslav Kočárek, »sagte uns beim Herausgehen eher beiläufig, dass Generalsekretär Jakeš am Nachmittag in unserer Sache eine Botschaft an den SED - Chef Krenz gerichtet habe. Einzelheiten hierzu gab er keine.«529 Womit Hiller zugleich bestätigt, dass die bundesdeutschen Diplomaten über den Druck der tschecho526 527 528 529
Ebd. Ebd. Ebd. Ebd.
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slowakischen Entscheidungsträger auf die SED - Spitze, hinsichtlich der Botschaftsflüchtlinge sofort etwas zu unternehmen, zu der damaligen Zeit nicht informiert waren. 4. November 1989 Staatsgrenze DDR - ČSSR, Mitternacht, Staatssicherheit zieht sich zurück, »Erpresser« dürfen ausreisen
Die entlang der Grenze zur ČSSR beschäftigten Mitarbeiter der DDR - Staatssicherheit können bis auf Weiteres nach Hause fahren, sie werden aktuell nicht mehr gebraucht. Wie der Leiter der Zentralen Koordinierungsgruppe ( ZKG ) Flucht und Übersiedlung informiert, sei entsprechend einer Vereinbarung zwischen der DDR und der ČSSR ab heute, 0.00 Uhr, den sich gegenwärtig noch in der westdeutschen Botschaft in Prag aufhaltenden »Erpressern« die direkte Ausreise in die BRD gestattet. Es könnten dazu die verschiedensten Transportmittel und alle Grenzübergänge der Tschechoslowakei zur Bundesrepublik genutzt werden. Im Zusammenhang mit dieser zentralen Entscheidung sowie den Modalitäten zum Passieren der bundesrepublikanisch - tschechoslowakischen Staatsgrenze sei zu beachten, dass bis auf Widerruf grundsätzlich jeder DDR - Bürger – und unabhängig davon, ob zuvor die Bonner Vertretung in Prag aufgesucht wurde oder nicht – das Recht habe, ohne Reisepass und Visum in die BRD auszureisen. Eine namentliche Registrierung dieser DDR - Bürger an den Grenzübergangsstellen der ČSSR erfolge nicht.530 Vor einem Monat wäre eine solche Nachricht unvorstellbar gewesen. Es ist eine Revolution. Prag, Botschaft der Bundesrepublik, Ausreiseaktion für 6 486 Menschen
Zum insgesamt dritten Mal innerhalb weniger Wochen beginnt nun in Prag eine riesige Ausreiseaktion von der westdeutschen Botschaft in die Bundesrepublik. Doch anders als zuletzt verlaufen die vorbereitenden Gespräche mit dem tschechoslowakischen Vizeaußenminister Pavel Sadovský und dem ostdeutschen Botschafter Helmut Ziebart für Vizebotschafter Hiller »überraschend erfreulich«. Vor allem Ziebart zeigt sich kollegial und bekräftigt aus freien Stücken, dass die Ausreiseregelung unbegrenzt und legal sei. Jeder ausgereiste Bürger könne jederzeit wieder in die DDR einreisen.531 Die Menschen verlassen die Tschechoslowa-
530 Leiter der BV Dresden des MfS, Generalmajor Böhm, an Leiter der Struktureinheiten vom 4.11.1989 ( BStU, ASt. Dresden, BV Dresden, Stellv. Operativ 64, Bl. 26). 531 Vgl. Stellv. Botschafter Hiller an AA vom 4.11.1989. Betr. : Zufluchtsuchende Deutsche aus der DDR, hier : Unmittelbare Ausreise am 3. und 4.11.1989 ( PA AA, 513, B 85 Nr. 2347 E, unpag.).
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kei mit Zügen, Bussen oder dem eigenen Auto in Richtung Bundesrepublik, diesmal ohne einen Umweg über die DDR machen zu müssen.532 Die Zugfahrt der Ausreisewilligen von Prag nach Marktredwitz wird noch in der Nacht des 4. November in Zusammenarbeit mit der Leitstelle der Deutschen Bundesbahn in Mainz sowie der Dispatcherzentrale in Prag organisiert. Insgesamt 43 Personenwaggons kann die Bundesbahn bis in die frühen Morgenstunden hinein kurzfristig bereitstellen, um die Flüchtlinge am Prager Bahnhof in Empfang zu nehmen. Der Abtransport zum Bahnhof selbst verläuft indes zunächst nur schleppend, da immer neue DDR - Bürger hinzukommen und insgesamt zu wenig Busse zur Verfügung stehen. Alles in allem werden dann am heutigen Tag 105 Bustransporte vom Botschaftsviertel Kleinseite aus zum Bahnhof Praha Libeň, Horní nádraží durchgeführt.533 Obwohl der erste Zug erst gegen 8.30 Uhr abfahren soll, stehen viele Menschen schon um 4.30 Uhr vor dem Bahnhofstor. Viele sind in Panik und haben Angst, keinen Platz mehr im Zug zu bekommen.534
Abfahrt! Vor dem Botschaftspalais. Foto: Antonín Nový 532 Vermerk des Leiters des Referats 513 des Auswärtigen Amts, Kunzmann, vom 5.11.1989. Betr. : Ausreiseaktion für DDR - Bürger aus der Botschaft Prag mit Zügen am 4. und 5.11.1989 ( ebd.) – Dok. 66. 533 Bericht über den DRK-Einsatz in der Botschaft der Bundesrepublik Deutschland in Prag / ČSSR in der Zeit vom 2.–16.11.1989 vom 19.1.1990, gez. Schröder, Einsatzleiterin (DRK, 02563, unpag.). 534 Heidi Blumenauer, Prag deutsche Botschaft 2.11.1989 bis 11.11.1989 ( DRK, 04563, unpag.).
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Mitarbeiter des Deutschen Roten Kreuzes betreuen die Menschen direkt am Bahnhof, von wo aus in regelmäßigen Abständen Züge in die Bundesrepublik abfahren.535 Verpflegt werden die Flüchtlinge zwischendurch am Bahnhof.536 Um 9.22 Uhr, mit einer knappen Stunde Verspätung, setzt sich dann der erste Sonderzug von Prag aus in Bewegung. Der fünfte und vorerst letzte Sonderzug verlässt die tschechoslowakische Hauptstadt schließlich gegen 14.50 Uhr. Bis in den frühen Nachmittag hinein reisen so insgesamt rund 4 600 DDR - Bürger von der ČSSR in die Bundesrepublik aus, ohne dabei – wie vom SED - Politbüro veranlasst – einen Umweg über die DDR nehmen zu müssen. Bis zum Abend werden es 6 486 sein; weitere 1 000 bis 1 500 nutzen den eigenen Pkw.537 Um 14.50 Uhr sind die Botschaft sowie die umliegenden Straßen vollständig geräumt.538 Für den späten Nachmittag sowie den frühen Abend werden zwei weitere Sonderzüge in Prag erwartet. Schließlich strömen noch immer kontinuierlich ausreisewillige DDR - Bürger zur westdeutschen Botschaft. Von hier aus werden sie unmittelbar in die bereits wartenden Busse geleitet und zum Bahnhof Praha Libeň, Horní nádraží, gebracht. Die Botschaft selbst bleibt weiter rund um die Uhr besetzt und in unmittelbarem Kontakt zum Bereitschaftsdienst des Auswärtigen Amtes sowie mit der Leitstelle der Deutschen Bundesbahn in Mainz verbunden, um je nach Bedarf weitere Züge anfordern zu können. Transportmöglichkeiten von der Botschaft zum Bahnhof stehen auch die ganze Nacht hindurch zur Verfügung.539 Ostberlin, Alexanderplatz, Massendemonstration
Wohl hat die SED-Parteispitze dank ihrer Zustimmung zur Ausreiseaktion aus der Tschechoslowakei die Lage um die Prager Botschaft beruhigt, doch im Lande selbst hat der jüngste Politbürobeschluss zu keiner Entspannung geführt. Innenpolitisch lastet weiter ein immenser Druck auf der Partei. Jene Entwicklung, die später einmal als Friedliche Revolution bezeichnet werden wird, wurde durch die Grenzschließung am 3. Oktober 1989 und die darauffolgende Reaktion der Massen in Form der Leipziger Montagsdemonstration vom 9. Oktober 1989 bereits angestoßen. Nun rollt sie unaufhörlich weiter. Auf der nach einigen Autoren größ535 Vgl. Stellv. Botschafter Hiller an AA vom 6.11.1989 : Betr. : Zufluchtsuchende Deutsche aus der DDR, hier : Lagebericht 6.11.1989 ( PA AA, 513, B 85 Nr. 2347 E, unpag.). 536 Stellv. Botschafter Hiller an AA vom 5. 11. 1989. Betr. : Zufluchtsuchende aus der DDR, hier : Lagebericht 4.–5.11.1989 ( ebd.). 537 Vermerk des Leiters des Referats 513 des Auswärtigen Amts, Kunzmann, vom 5.11.1989. Betr. : Ausreiseaktion für DDR - Bürger aus der Botschaft Prag mit Zügen am 4. und 5.11.1989 ( ebd.) – Dok. 66. 538 Vgl. Stellv. Botschafter Hiller an AA vom 4.11.1989. Betr. : Zufluchtsuchende Deutsche aus der DDR, hier : Unmittelbare Ausreise am 3. und 4.11.1989 ( ebd.). 539 Ebd.
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500 000 auf dem Berliner Alexanderplatz. Foto: pictures alliance/ZB
ten Massendemonstration in der Geschichte der DDR, auf dem Berliner Alexanderplatz, demonstrieren vom Morgen bis in den Nachmittag hinein mehrere Hunderttausend Bürgerinnen und Bürger für Meinungs-, Presse- und Versammlungsfreiheit sowie für freie Wahlen.540 Mit Teilen der Volkspolizei ist eine Sicherheitspartnerschaft vereinbart worden, so dass sich diese im Hintergrund hält und die Protestler agieren lässt. Von der breiten Masse unbemerkt, sammeln sich am Brandenburger Tor jedoch massive Kräfte der Nationalen Volksarmee, um einen eventuellen Durchbruch der Berliner Mauer mit Waffengewalt zu verhindern. Aus den Fenstern des Zentralkomitee - Gebäudes am Werderschen Markt müssen Mitglieder und Mitarbeiter des Politbüros und des ZKs der SED den Vorbeimarsch der Demonstranten wie aus einem Versteck heraus beobachten. Entgegen ihren sonstigen Gewohnheiten können sie den defilierenden Massen von keiner Ehrentribüne aus zuwinken.541 Zwar gelingt es der SED - Spitze, mit Günter Schabowski ein am gesamtgesellschaftlichen Dialog interessiertes Mitglied des Politbüros auf die Rednerliste der Abschlusskundgebung zu setzen. Doch auch dieser wird mit der verhassten Regierung identifiziert und gnadenlos ausgepfiffen.542 540 Mählert, Kleine Geschichte der DDR, S. 166; Hertle, Chronik des Mauerfalls, S. 103–108; Kowalczuk ( Endspiel, S. 451 f.) gibt eine niedrigere Zahl der Demonstranten an. 541 Hertle, Chronik des Mauerfalls, S. 103 f. 542 Ebd., S. 103–108; RIAS - TV, Reaktionen der Kundgebungsteilnehmer am Berliner Alexanderplatz während der Rede von Günter Schabowski vom 4. 11. 1989 ( http ://www.chronik - der mauer.de / index.php / de / Media / VideoPopup / day /4/ field / audio_video / id /71000/ month / November / oldAction / Detail / oldModule / Chronical / year /1989; 23.2.2014).
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5. November 1989 Grenzübergangsstelle Pomezí / Schirnding, riesige Ausreisewelle
Die Nachricht von der Öffnung der Grenze zwischen der Tschechoslowakei und der Bundesrepublik für DDR - Bürger verbreitet sich wie ein Lauffeuer. Binnen weniger Stunden entwickelt sich eine gigantische Ausreisewelle. Jeden Tag verlassen mehrere Tausend Abwanderer ihre Heimat. Obwohl die DDR - Flüchtlinge von der Tschechoslowakei aus direkt in die Bundesrepublik ausreisen dürfen, suchen Hunderte von ihnen die westdeutsche Botschaft in Prag auf und fordern ihre Aufnahme. Sie können den Meldungen einfach nicht glauben, dass der Weg in die Freiheit so einfach geworden sein soll. Am Grenzübergang Pomezí - Schirnding bildet sich ein kilometerlanger Rückstau voll beladener DDR - Pkws; die geschätzte Wartezeit bis zur Grenzabfertigung beträgt etwa 24 Stunden.543 Die
Seit Mitternacht dem 4. November 1989 können Menschen aus der DDR ohne besondere Formalitäten von der Tschechoslowakei in die Bundesrepublik direkt ausreisen. Am Grenzübergang Schirnding in Bayern stauen sich kilometerweit Trabant- und Wartburg-Schlangen. Binnen zwei Tagen flüchten auf diesem Weg rund 23 200 Menschen. Ebenso hält der Flüchtlingsstrom über Ungarn an. Als die Mauer am 9. November fällt, sind insgesamt mehr als 200 000 Übersiedler aus der DDR in der Bundesrepublik angekommen. Foto: Antonín Nový
543 DPA - Meldung vom 5.11.1989, 21.55 Uhr : Der Strom der DDR - Flüchtlinge, die die Möglichkeit nutzen, über die ČSSR mit ihrem Personalausweis in die Bundesrepublik zu gelangen, nimmt nicht ab ( PA AA, Bo. Prag, 20683 E, unpag.).
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tschechoslowakischen Tankstellen in Grenznähe sind allesamt dicht umlagert, da die Menschen noch einmal billig – nämlich für Ostwährung – tanken wollen.544 Allein im Zeitraum vom 5. bis 9. November, also in fünf Tagen, werden nach Berichten des tschechoslowakischen Innenministeriums über 62 500 DDR Bürger via ČSSR in die Bundesrepublik übersiedeln;545 das sind im Durchschnitt 12 500 Personen pro Tag, also fast die Einwohnerzahl einer Kleinstadt. Bis zum 12. November werden es 81 477 Menschen sein.546 Die exorbitante Ausreisewelle über die ČSSR, die Proteste der tschechoslowakischen Genossen dagegen und schließlich die vergeblichen Maßnahmen der SED - Parteiführung, welche den Massenexodus doch noch irgendwie zu bremsen versuchen, werden in wenigen Tagen zum Mauerfall führen. Prag, Bahnhof Libeň, Horní nádraží, 9 000 Übersiedler binnen zweier Tage
Der Leiter des Referats 513 im Auswärtigen Amt, Karl - Heinz Kunzmann, wird gebeten, die Durchführung der Ausreiseaktion mit der Bahn zu übernehmen. Dies scheint aufgrund der bereits getroffenen Vorbereitung zunächst unproblematisch. Dann jedoch zeigt sich, dass die Deutsche Bahn zu ihren Kollegen in der ČSSR keinen Arbeitskontakt unterhält. Niemand weiß, wer in Prag der richtige Ansprechpartner ist, auch nicht der dafür zuständige Vorstand der DB. Erst zu nächtlicher Stunde, gegen 1.00 Uhr in der Früh des 4. November, kommt aufgrund der Bemühungen der Prager Botschaft der Arbeitskontakt zwischen beiden Bahnen doch noch zustande.547 Am ersten Tag der neuen Ausreiseaktion, am 4. November, sind so insgesamt 6 486 Frauen, Männer und Kinder per Zug in die Bundesrepublik gebracht worden; der letzte der sechs Züge verlässt Prag um 18.15 Uhr. Doch schon in der Nacht vom 4. auf den 5. November befinden sich bereits wieder mehr als 1 500 Menschen in der Botschaft.548 Entsprechend fahren auch heute wieder mehrere Sonderzüge mit Flüchtlingen an Bord von Prag aus in Richtung Bundesrepublik. Der insgesamt siebte Zug verlässt die tschechoslowakische Hauptstadt um 10.38 Uhr, der achte um 13.30 Uhr. Allein diese beiden Züge befördern 1 730 Menschen in die Freiheit. Der neunte Zug fährt um 22.30 Uhr ab; eine halbe Stunde zuvor hatten sich bereits wieder über 500 Menschen auf dem Prager Bahnhof eingefunden. Noch bis 3.00 Uhr 544 Ebd. 545 Mitteilung des Innenministeriums der ČSSR an Presseagentur ČTK vom 10. 11. 1989 ( Sdělení FMV k cestování občanů NDR z ČSSR, Praha 10. Listopadu, ČTK ). 546 MfS, Lagefilm vom 1.11.–13.11.1989 ( BStU, ZA, HA VII 2684, Bl. 3). 547 Vermerk des Leiters des Referats 513 des Auswärtigen Amts, Kunzmann, vom 5.11.1989. Betr. : Ausreiseaktion für DDR - Bürger aus der Botschaft Prag mit Zügen am 4. und 5. 11. 1989 ( PA AA 513, B 85 Nr. 2347 E, unpag.) – Dok. 66. 548 Ebd.
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nachts hält die tschechoslowakische Bahn einen Sonderzug bereit, der bis zu 800 Personen transportieren kann. Auch die DB könnte mit einem weiteren Zug aushelfen, je nach dem, wie sich die weiteren Flüchtlingszahlen entfalten. Die Entwicklung der Neuzugänge bleibt abzuwarten. Insgesamt sind so innerhalb von nur zwei Tagen, seitdem die neue Ausreiseregelung Bestand hat, rund 9 000 Personen mit neun Zügen aus der tschechoslowakischen Hauptstadt in die Bundesrepublik ausgefahren worden.549 6. November 1989 Prag, Bahnhof Libeň, Horní nádraží
Das Palais Lobkowicz muss fortan nicht mehr länger als Auffangbecken für neue Ausreisewillige aus der DDR genutzt werden. Mitarbeiter des Deutschen Roten Kreuzes betreuen die Menschen direkt am Prager Bahnhof Praha Libeň, Horní nádraží, wo in regelmäßigen Abständen Züge in die Bundesrepublik fahren.550 Die Massenausreise erlangt rasch große internationale Aufmerksamkeit. Es gibt zahlreiche Bereitschaftserklärungen aus verschiedenen Ländern, Deutsche aus der DDR bei sich aufzunehmen.551 Ostberlin, Entwurf des Reisegesetzes stößt auf Ablehnung
Die SED - Führung veröffentlicht den Entwurf ihres angekündigten Reisegesetzes. Darin ist die Gesamtdauer für Reisen auf dreißig Tage pro Jahr beschränkt. Der Gesetzentwurf enthält Versagungsgründe, die nicht eindeutig und nachprüfbar definiert sind und der Behördenwillkür dementsprechend großen Spielraum lassen. Die Finanzierung der Reisen bleibt ungelöst. Noch vor Weihnachten soll das Gesetz unter Berücksichtigung der Veränderungsvorschläge der Bürger von der Volkskammer verabschiedet werden.552 Selbst SED - Generalsekretär Krenz bewertet den Entwurf in seinem Tagesbericht insgeheim kritisch : »Der Gesetzentwurf sieht vor : ›Die Bürger der Deutschen Demokratischen Republik haben das Recht, in das Ausland zu reisen.‹ Das ist für mich der entscheidende Satz. Hätten wir dieses Recht früher garantieren können, geht mir durch den Kopf, wären uns viele politische Probleme
549 Ebd. 550 Vgl. Stellv. Botschafter Hiller an AA vom 6.11.1989. Betr. : Zufluchtsuchende Deutsche aus der DDR, hier : Lagebericht 6.11.1989 ( PA AA, 214, 139918 E, unpag.). 551 Vgl. Generalkonsulat New York, gez. Fischer - Dieskau, an AA vom 6. 11. 1989. Betr. : Interesse der Greater Ridgewood Restoration Corporation an Übernahme von Übersiedlern aus der DDR ( PA AA, 513, B 85 Nr. 1993 E, unpag.). 552 Vgl. Entwurf des Gesetzes über Reisen von DDR - Bürgern ins Ausland vom 6. 11. 1989 (http://www.chronik - der - mauer.de / index.php / de / Media / TextPopup / day /6/ id /1259537/ month / November / oldAction / Detail / oldModule / Chronical / year /1989htp; 23.2.2014).
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erspart geblieben : illegale Grenzübertritte, Botschaftsflüchtlinge, die Bilder von der ungarisch österreichischen Grenze und aus der bundesrepublikanischen Botschaft in Prag. Freies Reisen ist ein entscheidender Punkt unseres Erneuerungsprogramms. Rechtsanwalt Gysi hat am Sonnabend gewarnt, den vorliegenden Entwurf des Reisegesetzes zu veröffentlichen. Er enthalte zu viele bürokratische Hindernisse und Reiseeinschränkungen. Sie müssten verschwinden. Erst dann könne das Gesetz veröffentlicht werden. Schon die ersten Umfragen im Rundfunk zeigen, dass viele Menschen wie Gysi denken. Sie wollen niemanden mehr fragen, ob sie reisen dürfen. Sie wollen reisen, nicht als Geschenk oder Gnadenakt des Staates, sondern als verwirklichtes Bürgerrecht. Als ich im Laufe des Tages die Informationsberichte der Bezirksleitungen und die eingehenden Fernschreiben und Telegramme von Bürgern lese, halten sich zustimmende und ablehnende Äußerungen zum Gesetzentwurf die Waage. Je älter der Tag wird, umso mehr nehmen die Ablehnungen zu.«553
Wie richtig Krenz mit seinen Befürchtungen und Einschätzungen liegt, wird sich schon sehr bald zeigen. Bei den abendlichen Montagsdemonstrationen und Protestmärschen der folgenden Tage rückt das Thema Reisen mehr und mehr in den Vordergrund. Ein Demonstrant nennt das geplante Reisegesetz unter starkem Beifall : »Verdummung schwarz auf weiß«, ein anderer kommentiert es mit den Worten : »Nun sollen dieselben, die uns immer gedemütigt haben, wieder über unser Schicksal entscheiden.« Höhnisch wird skandiert : »In dreißig Tagen um die Welt – ohne Geld«, und fordernd heißt es : »Wir brauchen keine Gesetze, die Mauer muss weg.« Sogar aus den eigenen Reihen erntet die Parteiführung massive Kritik am Gesetzentwurf. Den ganzen Tag über lassen Protestanrufe von Mitgliedern und Funktionären die Telefone im Apparat des Zentralkomitees nicht zur Ruhe kommen.554 Ostberlin, sowjetische Botschaft, 72. Jahrestag der Oktoberrevolution
Am Abend findet in der Botschaft der UdSSR ein Empfang zum 72. Jahrestag der Oktoberrevolution statt. Festtagsstimmung, wie sonst an diesem historischen Tag, will bei Krenz jedoch nicht aufkommen. Er unterhält sich mit dem sowjetischen Botschafter fast ausschließlich über das Reisegesetz und erzählt ihm, wie negativ der Entwurf aufgenommen worden sei. Auf der morgigen Sitzung des Politbüros wolle er vorschlagen, wesentliche Punkte des Gesetzes durch eine Verordnung des Ministerrates vorwegzunehmen. Eine solche Regelung hätte dann den Vorteil, dass sie sofort in Kraft treten könne.555 Auf dem Empfang ist auch der sowjetische Armeegeneral Boris Snetkow anwesend; er hält eine kurze Ansprache : »Die Westgruppe der sowjetischen 553 6. November 1989. DDR – Krenz Tagesbericht ( http ://www.2plus4.de / chronik.php3 ?date_ value=06.11.89 &sort=008–001; 23.2.2014). 554 Vgl. Hertle, Chronik des Mauerfalls, S. 108 f. 555 6. November 1989. DDR – Krenz Tagesbericht ( http ://www.2plus4.de / chronik.php3 ?date_ value=06.11.89&sort=008–001; 23.2.2014).
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Streitkräfte«, verkündet er, »wird unter allen Bedingungen ihre internationalistischen Aufgaben in der DDR erfüllen.« Krenz freut sich zwar über die Verbundenheit der sowjetischen Genossen mit der DDR, hofft jedoch insgeheim, dass ein militärischer Einsatz weder von der sowjetischen Armee noch seitens der DDR in den kommenden Tagen und Wochen erforderlich sein wird.556 Bonn, keine neuen Kredite für die DDR
In Bonn unterbreitet SED - Devisenbeschaffer Alexander Schalck - Golodkowski den Bundesministern für besondere Aufgaben und des Innern, Rudolf Seiters und Wolfgang Schäuble, ein Angebot. Für neue Kredite mit einem Gesamtvolumen von 12 bis 13 Milliarden DM und eine erweiterte wirtschaftliche Kooperation sei die SED - Führung bereit, die Mauer sukzessive zu öffnen. Schalck - Golodkowskis dringlichste Bitte ist jedoch, dass sich die Bundesregierung kurzfristig an der Finanzierung der infolge des Reisegesetzes zu erwartenden Zunahme des Tourismus der DDR - Bürger beteiligen möge, wobei es sich hierbei zusätzlich um eine Summe in Höhe von 3,8 Milliarden DM handeln würde. Wohl zeigen sich die beiden Bundesminister gesprächsbereit, allerdings ziehen sie es vor, vorerst nicht auf das Ostberliner Angebot einzugehen und spielen auf Zeit. Schalck - Golodkowski erkennt, dass ihm dieses Mal keinerlei Spielraum für Verhandlungen bleibt.557 7. November 1989 Prag, Botschaft der Bundesrepublik
Von den Aufräumarbeiten abgesehen, ist im Palais Lobkowicz der Normalzustand wieder eingekehrt. Flüchtlinge müssen normalerweise nur noch für eine einmalige Übernachtung oder im Falle einer notwendigen ärztlichen Versorgung aufgenommen werden, bevor sie zum Bahnhof Praha Libeň, Horní nádraží, weiterfahren und von dort aus in die Bundesrepublik ausreisen.558 Heute verlagert das DRK seinen Einsatzschwerpunkt zum Prager Hauptbahnhof, wo auch bis zu acht Helferinnen des Tschechoslowakischen Roten Kreuzes zum Einsatz kommen. Eine weitere Betreuungsstelle wird im Bahnhof Holešovice ( Hollewitz ) eingerichtet.559 556 Ebd. 557 Vgl. Hertle, Fall der Mauer, S. 159. 558 Vgl. Bericht von Christine Lettang vom DRK - Generalsekretariat Bonn über die Lage in der Botschaft vom 7.11.1989 ( DRK, 04041, unpag.) – Dok. 68. 559 Bericht über den DRK - Einsatz in der Botschaft der Bundesrepublik Deutschland in Prag / ČSSR in der Zeit vom 2.–16. 11. 1989 vom 19. 1. 1990, gez. Schröder, Einsatzleiterin ( DRK, 02563, unpag.).
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8. November 1989 Prag, Hauptbahnhof, »Wie geht’s ? Über Prag !«, täglich 4 000 Übersiedler
Der Ausreisestrom aus der DDR über die ČSSR hält auch den fünften Tag in Folge unvermindert an. Täglich reisen mit der Bahn über Prag mehr als 4 000 DDR - Bürger in die Bundesrepublik Deutschland ein. Das DRK betreibt zusammen mit den Kollegen vom Tschechoslowakischen Roten Kreuz einen Informations - und Versorgungsstand auf dem Prager Hauptbahnhof. Fünf Einsatzkräfte des DRK, ein Sanitäter sowie drei bis vier Mitarbeiter ihres tschechoslowakischen Pendants sind hier im Drei - Schicht - Betrieb rund um die Uhr im Einsatz. Alle zusammen genommen, umfasst das Prager Team des DRK derzeit 45 Personen. Und ginge es nach dem momentanen Stand der Planungen, so würden die deutschen Rotkreuzhelfer auch noch während der kommenden Woche in Prag im Einsatz bleiben.560 Tatkräftige Unterstützung kommt dabei von der Botschaft der Bundesrepublik. Sie ist zeitweilig zu einem Reisebüro sui generis für ausreisewillige DDR Bürger geworden. Jeweils ein Mitarbeiter des gehobenen oder höheren Dienstes befindet sich durchgehend von 6.30 Uhr bis 23.00 Uhr am Hauptbahnhof. Er berät und unterstützt die Flüchtlinge, leistet ihnen konsularische Hilfe ( Geld, Fahrkarten etc.), hält Kontakt zur Verwaltung des Bahnhofs und unterrichtet die Botschaft regelmäßig über die aktuelle Entwicklung sowie die Belegung der Züge, welche gerade aus der DDR in die ČSSR eingefahren sind.561 Heute Morgen um 6.00 Uhr verlässt der mittlerweile 13. Sonderzug mit ca. 1 000 Ausreisenden an Bord die tschechoslowakische Hauptstadt. An die regulären 7.45- Uhr - und 11.45- Uhr - Züge ab Prag werden vier bzw. sechs Sonderwagen angehängt. Der 14. Sonderzug wird dann im Laufe des Abends, zwischen 19.00 Uhr und 20.00 Uhr, in Richtung Bundesrepublik abfahren. Anderthalb Stunden zuvor, gegen 17.30 Uhr, warten schon wieder rund 600 Ausreisewillige am Prager Hauptbahnhof. Die Zusammenarbeit mit der Verwaltung der tschechoslowakischen Staatsbahnen funktioniert mittlerweile ausgezeichnet. Die Botschaft hat mit telefonischer Ermächtigung durch das Referat 513 des Auswärtigen Amtes heute mehrere Zimmer im Hotel »Moran« im Prager Stadtzentrum für die eventuelle Unterbringung von DDR - Bürgern angemietet.562 In der Botschaft selbst halten sich zurzeit nur noch 40 Deutsche aus der DDR auf. 17 von ihnen warten kurzfristig auf entsprechende Zusagen gemäß der »Vogel - Lösung«. Die restlichen 23 haben keine Personalpapiere. Hier bemüht
560 Stellv. Botschafter Hiller an AA vom 8.11.1989. Betr. : Zufluchtsuchende Deutsche aus der DDR, hier : Lagebericht 8.11.1989 ( PA AA, 513, B 85 Nr. 2347 E, unpag.) – Dok. 70. 561 Ebd. 562 Ebd.
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sich die bundesdeutsche Botschaft um Ausstellung von Ersatzdokumenten durch die hiesige DDR - Vertretung. 563 Prag, Sympathie der Bevölkerung für die Ausreisenden
Die internationale Presse hat sich der jüngsten Ausreisewelle über die ČSSR intensiv und ausführlich gewidmet und sie so einer breiten Öffentlichkeit bekannt gemacht. Unter den tschechoslowakischen Pressestimmen äußern sich die meisten positiv zu den Geschehnissen. Nicht nur innerhalb der Bevölkerung, sondern auch bei einigen Medienvertretern werde immer öfter spürbar, so der Pressereferent der Prager Botschaft, Michael Steiner, dass man sich irgendwie schäme, ausgerechnet von den Ostdeutschen, die den Tschechen und Slowaken immer als sehr diszipliniert und regimetreu erschienen sind, politisch überholt worden zu sein. Oppositionelle und Dissidenten seien sehr dankbar dafür, dass die bundesdeutsche Botschaft die Hilfe zu würdigen wusste, welche die tschechische Bevölkerung durch die Abgabe von Lebensmitteln und Kleidung an die Zufluchtsuchenden aus der DDR geleistet hat.564 Wie Pressereferent Steiner weiter zu berichten weiß, habe sich in den letzten Wochen die Stimmung nicht nur in der Bevölkerung gewandelt, sondern auch in den hiesigen Medien. Außer den Prager Einwohnern und der internationalen Presse nähmen inzwischen auch die tschechoslowakischen Medien intensiv Anteil am Schicksal der flüchtigen DDR - Bürger. Hauptinformationsquelle war dabei der Botschaftssprecher, der in den letzten Tagen in sämtlichen nationalen Medien, einschließlich der amtlichen Nachrichtenagentur ČTK, laufend, und zwar durchweg korrekt, zitiert worden sei. Ein Vorgang, der so noch vor wenigen Wochen in der ČSSR undenkbar gewesen wäre.565 Ostberlin, 10. Sitzung des Zentralkomitees der SED, Rücktritt der Gerontokraten
Mittels einer insgesamt dreitägigen Sitzung des Zentralkomitees, das von heute an bis zum 10. November tagen soll, beabsichtigt die SED, den Bürgern der DDR ihre Reformbereitschaft und Erneuerungsfähigkeit zu signalisieren. Die Sitzung beginnt mit einem geschlossenen Rücktritt altgedienter Spitzenfunktionäre : der Politbüromitglieder Hermann Axen, Kurt Hager, Herbert Krolikowski, Erich Mielke, Erich Mückenberger, Alfred Neumann, Horst Sindermann, Willi Stoph und Harry Tisch. Der von den tschechoslowakischen Genossen ausgehende 563 Ebd. 564 Vgl. Pressereferent Steiner der Botschaft Prag an AA über tschechoslowakische Reaktionen auf die Entwicklung in der DDR vom 8.11.1989 ( PA AA, 513, B 85 Nr. 2347 E, unpag.) – Dok. 69. 565 Ebd.
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Druck, etwas gegen den schier endlosen Ausreisestrom zu unternehmen, der gegenwärtig über die ČSSR hinweggeht, soll dadurch abgemildert werden, dass man erwägt, die neuen Ausreiseregelungen noch vor der Annahme des neuen Reisegesetzes in der Volkskammer als Regierungsmaßnahme zu beschließen. Zur innenpolitischen Beruhigung soll – neben der Neubesetzung des Politbüros – ferner die Anerkennung des Neuen Forums beitragen.566 Auch in allen weiteren Sachfragen einigt sich die Sitzungsrunde auf den kleinsten gemeinsamen Nenner und hofft, dass dieses Vorgehen schon die lang ersehnte Ruhe bringen würde. Doch dies ist eine fatale Fehleinschätzung. Der – gemessen an der Stimmungslage in der Bevölkerung – bescheidene Inhalt der ZK - Sitzung wirkt eher wie ein Spiegelbild der landesweiten Zerfallserscheinungen der Einheitspartei.567 Bonn, Bundestag
In der Debatte des Bundestages zur Lage der Nation macht Bundeskanzler Kohl seinen am Tag zuvor bereits von Kanzleramtschef Seiters an die SED - Spitze übermittelten Forderungskatalog öffentlich : Wenn die SED auf ihr Machtmonopol verzichte, unabhängige Parteien zulasse und freie Wahlen verbindlich zusichere, sei er bereit, »über eine völlig neue Dimension unserer wirtschaftlichen Hilfe zu sprechen«.568 Ostberlin, Fernsehsendung »Aktuelle Kamera«
Allen Differenzen zum Trotz besteht zumindest in einer Hinsicht Einigkeit zwischen der Staats - und Parteiführung auf der einen und den unabhängigen Bürgerinitiativen auf der anderen Seite, nämlich dahingehend, dass die Menschen die DDR nach Möglichkeit nicht verlassen sollten. Entsprechend richtet auch die Schriftstellerin Christa Wolf im Namen prominenter Kollegen und der unabhängigen Bürgerbewegungen in der abendlichen Nachrichtensendung »Aktuelle Kamera« einen Appell an alle Ausreisewilligen, ihr Vorhaben doch noch einmal zu überdenken : »Wir bitten Sie, bleiben Sie doch in Ihrer Heimat, bleiben Sie bei uns ! Was können wir Ihnen versprechen ? Kein leichtes, aber ein nützliches und interessantes Leben. Keinen schnellen Wohlstand, aber Mitwirkung an großen Veränderungen. Wir wollen einstehen für Demokratisierung, freie Wahlen, Rechtssicherheit und Freizügigkeit. Unübersehbar ist : Jahrzehnte alte 566 »Innenministerium bestätigte Anmeldung des Neuen Forums«. In : Neues Deutschland vom 9.11.1989. 567 Vgl. Hertle, Chronik des Mauerfalls, S. 114 f. 568 Vgl. Bundeszentrale für politische Bildung, Chronik – 8. November 1989 ( Mittwoch ) (http:// www.chronik - der - mauer.de / index.php / de / Chronical / Detail / day /8/ month / November / year /1989; 23.2.2014).
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Die Meilensteine auf dem Weg zur Freiheit
Verkrustungen sind in Wochen aufgebrochen worden. Wir stehen erst am Anfang des grundlegenden Wandels in unserem Land. Helfen Sie uns, eine wahrhaft demokratische Gesellschaft zu gestalten, die auch die Vision eines demokratischen Sozialismus bewahrt. Kein Traum, wenn Sie mit uns verhindern, dass er wieder im Keim erstickt wird. Fassen Sie zu sich und zu uns, die wir hier bleiben wollen, Vertrauen.«569
Prag, Zentralkomitee der KPTsch : Ostberlin soll Massenexodus über die ČSSR stoppen
Derweil wird der Druck aus der ČSSR auf Ostberlin immer größer. Inzwischen hat die KPTsch damit begonnen, alle verfügbaren Verbindungen zur Parteispitze der SED zu mobilisieren, um gegen die Massenausreise von DDR - Bürgern über tschechoslowakisches Territorium in die Bundesrepublik zu protestieren. Die hiesigen Genossen befürchten wohl zu Recht, dass der gewaltige Exodus aus der DDR auch in der Tschechoslowakei Massendemonstrationen und Proteste gegen das kommunistische Regime auslösen könnte; wird doch hier Tag für Tag der tschechoslowakischen Bevölkerung hautnah das Scheitern einer Politik vor Augen geführt, die in der ČSSR bislang noch nicht aufgegeben wurde. Sollte die DDR also nicht in der Lage sein, den Ausreisestrom umgehend zu stoppen, so würde die KPTsch die Grenzkontrollen ihrerseits rigoros verschärfen müssen und in letzter Konsequenz selbst vor einer einseitigen Grenzschließung zur DDR nicht zurückschrecken.570 Am heutigen Tag nun nimmt der Druck der KPTsch auf ihre ostdeutschen Genossen noch dringendere, fast ultimative Formen an. DDR - Botschafter Ziebart wird in Prag zur Entgegennahme einer diplomatischen Note ins tschechoslowakische Außenministerium einbestellt. Bei der Regierung der ČSSR und im Zentralkomitee der KPTsch, so hält ihm der stellvertretende Außenminister Sadovský vor, stapelten sich Anfragen und Eingaben der Bevölkerung aus den grenznahen Regionen Nord - und Westböhmens, in denen sie ihr Unverständnis darüber zum Ausdruck brächte, dass die Ausreise von DDR - Bürgern in die Bundesrepublik seit dem 3. November über das Territorium der ČSSR abgewickelt werde. Die tschechoslowakische Partei - und Staatsführung fordere deshalb, dass die DDR die direkte Ausreise ihrer Bürger in die BRD – und eben nicht nur als Umweg über das Territorium der ČSSR – ermögliche. Ziebart telegrafiert unverzüglich nach Berlin : »Ausgehend von diesem Druck [...] bittet Genosse Sadovský im Auftrag der Regierung der Tschechoslowakei und der Abteilung Internationale Politik des ZK, das Ersuchen zu übermitteln, die Ausreise von DDR Bürgern in die BRD direkt und nicht über das Territorium der ČSSR abzuwi569 Hertle, Chronik des Mauerfalls, S. 117. 570 Vgl. Pressereferent Steiner der Botschaft Prag an AA über tschechoslowakische Reaktionen auf die Entwicklung in der DDR vom 8.11.1989 ( PA AA, 513, B 85 Nr. 2347 E, unpag.) – Dok. 69.
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ckeln.«571 Der Hinweis Ziebarts, dass in der DDR bereits erwogen werde, neue Ausreiseregelungen noch vor Annahme des zugehörigen Reisegesetzes zu treffen, genügt den tschechoslowakischen Diplomaten nicht. Das Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten der DDR leitet diese zwar diplomatisch formulierte, im Unterton jedoch unmissverständlich scharfe Aufforderung unverzüglich an die mit der Ausarbeitung der neuen Ausreiseregelung befassten Stellen weiter.572 9. November 1989 Prag, »Botschafts - Außenstelle Hauptbahnhof«, zügige Abfertigung, 3 000 Menschen pro Tag
Mit der SED - Politbüro - Entscheidung vom 3. November haben sich Lage und Aufgaben der Prager Botschaft der Bundesrepublik erheblich gewandelt. Seither befinden sich in der Vertretung selbst, von einer kleinen Gruppe problematischer Einzelfälle abgesehen, keine Ausreisewilligen mehr. Die meisten Übersiedler aus der DDR reisen jetzt direkt mit der Eisenbahn über die Tschechoslowakei in die Bundesrepublik aus. Für die überwiegende Mehrheit ist Prag daher nur noch Durchgangsstation und Umsteigeplatz auf ihrem Weg in die Freiheit. Die Botschaft hat sich der veränderten Sachlage angepasst und die entsprechenden organisatorischen Maßnahmen getroffen. Die stündlich neu eintreffenden Bürger aus der DDR werden hier für ihre Weiterreise in die Bundesrepublik gleichermaßen sowohl auf reguläre Züge mit zusätzlich angehängten Waggons als auch auf extra bereitgestellte Sonderzüge verteilt. Dies geschieht in enger und weitgehend problemloser Zusammenarbeit mit der tschechoslowakischen Eisenbahnverwaltung, die von ihren Grenzbahnhöfen zur DDR über die zu erwartenden Flüchtlingszahlen informiert und dann für Prag die entsprechenden Vorbereitungen trifft, worüber die Botschaft wiederum laufend unterrichtet wird.573 All dies hat zu neuen, vorübergehend stark gewandelten Arbeitsschwerpunkten unter den Botschaftsmitarbeitern geführt, welche über deren reguläre Tätigkeiten weit hinausgehen. Vorrangige Aufgabe ist es nunmehr, die große Zahl der über Prag in die Bundesrepublik ausreisenden DDR - Bürger – der Tagesdurchsatz bewegt sich in Größenordnungen von etwa 3 000 Menschen – so reibungslos und mit so wenig Belastungen für das Gastland wie möglich weiterzuleiten.574 Da nicht abzusehen ist, wie lange der über Prag laufende Ausreisestrom noch anhalten wird, stellt sich die Botschaft darauf ein, die konsularische Betreuung 571 Botschafter Ziebart an Außenminister Fischer vom 8. 11. 1989 ( BStU, ZA, Arbeitsbereich Neiber, 553, Bl. 2); Hertle, Chronik des Mauerfalls, S. 113 f. – Dok. 71. 572 Ebd. 573 Stellv. Botschafter Hiller an AA vom 8.11.1989 : Betr. : Zufluchtsuchende Deutsche aus der DDR, hier Lagebericht 8.11.1989 ( PA AA, 513, B 85 Nr. 2347 E, unpag.) – Dok. 70. 574 Ebd.
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Prag Hauptbahnhof, 3 000 Übersiedler pro Tag. Foto: Antonín Nový
der Ausreisewilligen am Bahnhof über einen längeren Zeitraum hinweg aufrecht zu erhalten. So hat die westdeutsche Vertretung jeweils einen, in der Spitze bis zu zwei Bedienstete im Schichtbetrieb zum Prager Bahnhof abgestellt, die dort vor Ort anfallende »konsularische Betreuungsfunktionen« übernehmen. Hierbei handelt es sich vor allem um Aufgaben, die das DRK nur teilweise oder gar nicht übernehmen kann, so z. B. die Beratung über Ausreisemodalitäten – auch und gerade in besonderen Fällen –, die Gewährung finanzieller Hilfen, die Beschaffung von Fahrkarten etc. Heute meldet sich beispielsweise ein sechszehnjähriger Junge, dessen Eltern bereits in die Bundesrepublik Deutschland ausgereist sind und der allein zurückgeblieben ist, weil ihm die Papiere gestohlen wurden. Die Angelegenheit wird auf dem üblichen Wege in Ordnung gebracht, schon kurze Zeit später sitzt der Nachzügler in einem Zug gen Westen. Darüber hinaus sollen die Beamten darauf hinwirken, dass »Ordnungsstörungen«, die von Einzelnen oder von Gruppen der Durchreisenden verursacht werden, unterbunden werden können.575 Auch das Deutsche Rote Kreuz hat zunächst auf dem Bahnhof Libeň und jetzt auch auf dem Hauptbahnhof einen Betreuungs - und Versorgungsstand einge575 Ebd.
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richtet. Der ist rund um die Uhr besetzt, was nicht zuletzt Dank der Unterstützung tschechoslowakischer Rotkreuzhelfer möglich ist, die sich an Betreuungsaufgaben beteiligen. Wie die Botschaft, so richtet sich auch das DRK auf einen längeren Einsatz ein und wird am kommenden Wochenende, also am 11. und 12. November, einen Personalaustausch vornehmen, so dass bis auf Weiteres etwa 25 DRK - Helfer zur Verfügung stehen werden.576 Trotz des hohen Flüchtlingsaufkommens stellt sich die Lage am Prager Hauptbahnhof den Umständen entsprechend weitgehend normal und unproblematisch dar. Bisher fiel die Resonanz der Bevölkerung auf die dortige Anwesenheit des Botschaftspersonals und die hohen Zahlen der Übersiedler aus der DDR durchweg positiv aus. Vizebotschafter Hiller ist bemüht, dass die bisherige »gute Presse« sowie auch die durchgängig positiven Reaktionen und Hilfsbereitschaft der Bevölkerung ( u. a. Mitwirkung vom Tschechoslowakischen Roten Kreuz ) erhalten bleiben und will versuchen, alles zu tun, dass dies auch weiterhin so fortbesteht.577 Ostberlin, Sitzung des Zentralkomitees der SED, zeitweilige Übergangsregelungen für Reisen
Angesichts der gewaltigen, in der Tendenz zunehmenden Ausreisewelle über die ČSSR und der damit verbundenen Klagen, Beschwerden und Proteste der tschechoslowakischen Parteiführung sieht sich Krenz, erneut zum Handeln gezwungen. Am Nachmittag des zweiten Tages, gegen 16.00 Uhr, unterbricht er die 10. Sitzung des Zentralkomitees der SED durch eine außerplanmäßige Rede : »Genossinnen und Genossen ! Bevor Günther [ Jahn ] das Wort nimmt, muss ich noch mal von der Tagesordnung abweichen – Euch ist ja bekannt, dass es ein Problem gibt, das uns alle belastet : die Frage der Ausreisen. Die tschechoslowakischen Genossen empfinden das allmählich für sich als eine Belastung, wie ja früher auch die ungarischen. Und : Was wir auch machen in dieser Situation, wir machen den falschen Schritt.«578 In Anbetracht dieser, für die SED - Oberen immer brenzligeren Lage verkündet Krenz sein Vorhaben, das bestehende Reisegesetz durch zeitweilige Übergangsregelungen für Reisen zu ersetzen. Diese entstammen der Feder von Willi Stoph, welcher trotz seines Rücktritts aus dem Politbüro noch immer Vorsitzender des Ministerrates der DDR ist. Vom Politbüro waren die Übergangsregelungen bereits bestätigt worden. Krenz spricht sie vor dem Zentralkomitee an, um dieses Vorhaben vom ZK der SED bestätigen zu lassen. Die Regelungen sehen
576 Ebd. 577 Ebd. 578 Küchenmeister / Nakath / Stephan ( Hg.), »... sofort, unverzüglich«, S. 9.
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vor, dass Ausreiseanträge nicht mehr länger an bestimmte Voraussetzungen gebunden sind. Visa sollen von den zuständigen Behörden künftig unverzüglich erteilt werden und jeder DDR - Bürger dann das Recht bekommen, über alle Grenzübergangsstellen der DDR hinweg in den Westen aus- und hernach auch wieder einzureisen.579 Abgesehen von einigen formellen Berichtigungen, erhebt kein einziges ZK - Mitglied Einwände gegen den Entwurf. Ostberlin, Pressezentrum, legendäre Pressekonferenz mit Schabowski
Um 18.00 Uhr beginnt im Ostberliner Pressezentrum in der Mohrenstraße eine Medienveranstaltung, welche binnen kürzester Zeit zur wohl berühmtesten Pressekonferenz der Welt avancieren wird. Unfreiwillig im Mittelpunkt des Weltinteresses an diesem Abend : der erst jüngst zum Sekretär des ZK der SED für Informationswesen berufene Günter Schabowski, ein enger Vertrauter Krenz’. Das DDR - Fernsehen überträgt die Veranstaltung sogar live – selbst das »Sandmännchen« muss der Pressekonferenz weichen und wird ins Zweite Programm verschoben. Fast eine Stunde lang werden die Günter Schabowski. Foto: Archiv Bundesstiftung anwesenden Journalisten mit Aufarbeitung, Fotobestand Klaus Mehner, wenig interessanten DarstelBild 89_1109_POL-IPZ_02 lungen gelangweilt, ehe sich die Ereignisse überschlagen. Die Medienleute wollen schon aufbrechen, als um 18.53 Uhr ein italienischer Journalist das Saalmikrofon gereicht bekommt und eine, wie es zunächst scheint, banale Frage zum unlängst veröffentlichten Entwurf des geplanten Reisegesetzes stellt : »Ich heiße Riccardo Ehrman, ich vertrete die italienische Nachrichtenagentur Ansa. Herr Schabowski, Sie haben von Fehlern gesprochen. Glauben Sie 579 Ebd., S. 10.
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nicht, dass es ein großer Fehler war, dieser Reisegesetzentwurf, den Sie vor wenigen Tagen vorgestellt haben ?«580 Umständlich und weit ausschweifend, mit verschachtelten Sätzen verweist Schabowski in seiner Antwort auf die heute vom ZK der SED verabschiedeten Übergangsregelungen für Reisende, durch welche unter anderem auch die Massenabwanderung der DDR - Bürger über die Tschechoslowakei gebremst werden soll : »Es ist eine Empfehlung des Politbüros aufgegriffen worden, dass man [...] den Passus [...] in Kraft treten lässt, der [...] die ständige Ausreise regelt, also das Verlassen der Republik. Weil wir es für einen unmöglichen Zustand halten, dass sich diese Bewegung vollzieht über einen befreundeten Staat, was ja auch für diesen Staat nicht ganz einfach ist. Und deshalb haben wir uns dazu entschlossen, heute eine Regelung zu treffen, die es jedem Bürger der DDR möglich macht, über Grenzübergangspunkte der DDR auszureisen.«581 Bei der Nachfrage des Journalisten Peter Brinkmann – »Ab sofort ?« – beginnt Schabowski, die nachfolgenden Sätze sehr schnell vom Blatt abzulesen : »Privatreisen nach dem Ausland können ohne Vorliegen von Voraussetzungen – Reiseanlässe und Verwandtschaftsverhältnisse – beantragt werden. Die Genehmigungen werden kurzfristig erteilt. Die zuständigen Abteilungen Pass - und Meldewesen der VPKÄ – der Volkspolizeikreisämter – in der DDR sind angewiesen, Visa zur ständigen Ausreise unverzüglich zu erteilen, ohne dass dabei noch geltende Voraussetzungen für eine ständige Ausreise vorliegen müssen.«582 Auf die neuerliche Rückfrage, wann genau diese Übergangsregelung in Kraft treten solle, antwortet Schabowski mit den legendären Worten : »Das tritt nach meiner Kenntnis ... ist das sofort, unverzüglich.«583 Wie auch bei anderen Grundsatzentscheidungen des SED - Politbüros aus diesen Tagen, bei denen sich dessen Mitglieder oftmals nicht der Tragweite ihrer Beschlüsse und Äußerungen vollständig bewusst zu sein scheinen, so hinterlässt auch Schabowski am heutigen Abend einen eher unbedarften Eindruck. Dass seine Auskünfte den Stein zur Auflösung der DDR ins Rollen bringen würden, liegt an diesem Abend wohl außerhalb Schabowskis Vorstellungskraft.584
580 SpiegelOnline, Zeitsprung – 9. November 1989. Sofort bedeutet sofort ( http ://www.spiegel.de / panorama / zeitgeschichte / zeitsprung - 9–november - 1989–sofort - bedeutet - sofort - a - 326124. html; 10.11.2013). 581 Hertle, Chronik des Mauerfalls, S. 141 f. 582 Ebd., S. 144. 583 Ebd., S. 142 f. 584 Vgl. ebd., S. 142 f.; Günter Schabowski, Der Absturz, S. 307 f.
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Hamburg, Fernsehsendung »Tagesschau«
Um 20.00 Uhr ruft die Erkennungsmelodie der Nachrichtensendung »Tagesschau« wie immer Millionen von Frauen und Männern in beiden deutschen Staaten vor die Bildschirme. Top - Meldung des Abends : Die DDR öffnet ihre Grenze. Der nur wenige Minuten lange Beitrag zeigt Politbüromitglied Günter Schabowski, wie dieser auf einer Pressekonferenz die neue Reiseregelung verkündet, nach der Westreisen künftig angeblich »ohne Vorliegen von Voraussetzungen« erlaubt seien. Und zwar »ab sofort«. Die »Mauer wird über Nacht durchlässig werden« kommentiert dazu treffend ein Reporter der »Tagesschau«. Die für viele DDR - Bürger schier unglaubliche, geradezu fantastische Nachricht verbreitet sich blitzschnell.585 Überall in Ostberlin stehen die Menschen von ihren Stühlen auf und eilen zum nächstgelegenen Grenzübergang, um sich vom Wahrheitsgehalt der Nachrichtenmeldung zu überzeugen. Ostberlin, Grenzübergangsstelle Bornholmer Straße, die Mauer fällt
Am Prenzlauer Berg, dem Berliner Szeneviertel, in dem die Staatssicherheit seit jeher konterrevolutionäre und dekadente Elemente hatte registrieren können, kulminiert der durch die Meldung der Übergangsregelung entstandene Aufruhr. Bis 20.30 Uhr haben sich am dortigen Grenzübergang nach Westberlin bereits Hunderte Menschen versammelt. Die Passkontrolleure verlieren bereits den Überblick. Da sämtliche Grenzübergangsstellen in die Kompetenz sowohl der Grenztruppen, der Staatssicherheit als auch des Zolls fallen, stellen diese hochkomplexe Gebilde dar. Trotz klarer Aufgabenverteilung sind alle anwesenden Sicherheitskräfte mit der Situation überfordert. Der für den Grenzübergang Bornholmer Straße zuständige Generalmajor Manfred Sens fordert seine wachhabenden Grenzposten dazu auf, Mauerdurchbrüche auf jeden Fall zu verhindern. Gleichzeitig zeigt sich der Offizier empört über Schabowskis Pressekonferenz – von einer neuen Übergangsregelung für Westreisende hat ihm niemand etwas gesagt.586 Noch immer nimmt die Menschenmenge vor dem Grenzübergang beständig zu. Allmählich entsteht eine aufrührerische Stimmung. Der Oberstleutnant der Passkontrolleinheit Harald Jäger versucht, mit dem MfS Kontakt aufzunehmen und um Instruktionen für das weitere Vorgehen zu bitten. Nach kurzer Wartezeit erhält er einen Rückruf von MfS - Oberst Rudolf Ziegenhorn : »Wir verfahren folgendermaßen : Die am aufsässigsten sind und provokativ in Erscheinung treten, die lass raus. Denen macht ihr im Ausweis einen Stempel halb über das Lichtbild – und die kommen nicht wieder rein.« Diese unwissentliche Ausbürgerung eini585 Mählert, Kleine Geschichte der DDR, S. 168. 586 Vgl. Hertle, Chronik des Mauerfalls, S. 156 f.
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Die Mauer ist gefallen. Foto: Archiv Bundesstiftung Aufarbeitung, Fotobestand Uwe Gerig, Bild 5093
ger DDR - Bürger ist als »Ventillösung« angedacht und wird von den Verantwortlichen auch so bezeichnet. Doch die Passkontrolleure merken schnell, dass diese Variante ein äußerst unkluger Schachzug ist. Denn die umstehenden Menschen sehen jetzt, dass einige ihrer Leute ausreisen dürfen, andere jedoch nicht. Schon nach kurzer Zeit kommen die ersten wieder zurück, dürfen aber zu ihrer Entrüstung nicht mehr einreisen. So erhöht sich der Druck auf die Sicherheitskräfte von beiden Seiten der Mauer.587 Gegen 23.00 Uhr stauen sich am Grenzübergang Bornholmer Straße bereits fast 20 000 DDR - Bürger. Angesichts eines solchen Menschenauflaufs ist die Situation nicht mehr allzu lange unter Kontrolle zu halten. »Tor auf ! Tor auf !« und »Wir kommen wieder, wir kommen wieder !«, skandiert die Menge. Eine halbe Stunde später geben die Grenzkontrolleure dem Druck der Massen nach und kapitulieren.588 Als die Stimmung umzuschlagen droht und Jäger um die körperliche Unversehrtheit seiner Mitarbeiter bangen muss, öffnen er und Sens eigenmächtig das Tor. Das Ministerium für Staatssicherheit wird über den Vorgang zwar noch informiert, aber nicht mehr um Erlaubnis gebeten. Die Grenzübergänge in der Sonnenallee und am Checkpoint Charlie werden kurze Zeit 587 Vgl. ebd. 588 Mählert, Kleine Geschichte der DDR, S. 168.
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Die Meilensteine auf dem Weg zur Freiheit
später ebenfalls geöffnet. Tausende Ostberliner strömen jetzt im Freudentaumel nach Westberlin. Bis in die frühen Morgenstunden hinein findet auf dem Kurfürstendamm eine riesige Party statt. Zurück bleiben die mit der Grenzsicherung beauftragten Sicherheitskräfte, von denen sich kein einziger in dieser Nacht traut, auf Grenzdurchbrüche mit Waffengewalt zu reagieren.589 Warschau, Bundeskanzler Kohl auf Staatsbesuch
Bundeskanzler Helmut Kohl erfährt auf einem Staatsbankett in der polnischen Hauptstadt Warschau von der Öffnung der Mauer und fühlt sich verständlicherweise am falschen Ort. Für den Rest des Abends überlegt er, wie er schnellstmöglich nach Bonn zurück und von dort weiter nach Ostberlin kommen könnte.590 Washington, D.C., US - Präsident Bush begrüßt Grenzöffnung
Um 15.00 Uhr Ortszeit halten US - Präsident George Bush und sein Außenminister James Baker eine gemeinsame Pressekonferenz ab. Über Agenturmeldungen und nachstehenden Drahtbericht des State Departments haben sie von den Ereignissen in Berlin erfahren : »The East German Government has just announced that it is fully opening its borders to the West. The implication from the announcement is full freedom of travel via current East German / West German links between borders.«591 Bush ist laut eigener Aussage »zutiefst von dieser Neuigkeit bewegt«, im weiteren Verlauf der Pressekonferenz jedoch um Zurückhaltung bemüht. In dieser kritischen Situation will er gegenüber Generalsekretär Gorbatschow »nicht schadenfroh erscheinen und hämisch auf Ostberlin als dessen wunden Punkt zeigen«.592 London, 10 Downing Street, Freude und Skepsis bei Premierministerin Thatcher
Die britische Premierministerin Margaret Thatcher erfährt von der Maueröffnung in ihrem Büro in der Downing Street aus den Fernsehnachrichten – nicht von ungefähr, arbeiteten ihrer und der Einschätzung ihres politischen Beraters Charles Powell zufolge doch die eigenen Botschaften »zu langsam«.593 In London
589 Küchenmeister / Nakath / Stephan ( Hg.), »... sofort, unverzüglich«, S. 89–96. 590 Vgl. Hertle, Chronik des Mauerfalls, S. 243 f. 591 Vgl. Notiz für US - Außenminister James Baker – Die DDR öffnet ihre Grenzen vom 9.11.1989 (http ://www.chronik - der - mauer.de / index.php / de / Media / TextPopup / day /9/ id /1259545/ month / November / oldAction / Detail / oldModule / Chronical / year /1989; 23.2.2014). 592 Vgl. Hertle, Chronik des Mauerfalls, S. 242 f. 593 Cineimpuls Film & Video KG, Sir Charles Powell, politischer Berater der britischen Premierministerin, über die Reaktion von Lady Margaret Thatcher ( http ://www.chronik - der - mauer.de/
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nimmt man die Neuigkeiten über das sich abzeichnende Ende des Kalten Krieges sowohl mit Begeisterung als auch mit großer Sorge zur Kenntnis. Sieht doch Thatcher eine ihrer wichtigsten außenpolitischen Aufgaben in der Schaffung einer reformwilligen und gemäßigten Sowjetunion. Sollten die Ereignisse in Berlin eskalieren, hätte dies Gorbatschows Position und mit ihm auch die Reformbestrebungen im Ostblock womöglich entscheidend geschwächt. So mischt sich in die Freude über den Mauerfall auch eine gehörige Portion Skepsis, weshalb die britische Premierministerin zunächst, darin dem amerikanischen Präsidenten nicht unähnlich, um Zurückhaltung bemüht ist.594 Paris, Präsident Mitterand gibt sich gelassen
Frankreichs Staatspräsident François Mitterand zeigt sich angesichts der Geschehnisse in Ostberlin weitaus weniger beeindruckt als seine beiden Amtskollegen. Laut Einschätzung seines politischen Beraters Hubert Védrine habe Mitterand schon zwei Jahre zuvor erkannt, dass Gorbatschow die sich anbahnenden Systemtransformationen nicht widerrufen würde. So sei die Öffnung der Mauer für den französischen Präsidenten nur die logische Konsequenz der von Gorbatschows angestrebten Reformen im Ostblock gewesen.595 10. November 1989 Ostberlin, Sitzung des Zentralkomitees der SED, Krenz : »Der Druck nimmt weiter zu«
Der Mauerdurchbruch der vergangenen Nacht ist auch unter den Mitgliedern des Zentralkomitees das alles beherrschende Thema im Vorfeld des dritten und letzten Tages ihrer Sitzung. Doch als SED - Generalsekretär Krenz die Tagung wiedereröffnet, verliert er kein einziges Wort über die Grenzöffnung und geht stattdessen einfach direkt zur Geschäftsordnung über. Fürs Erste gelingt seine Strategie des Totschweigens wohl, doch die offiziell zur Debatte stehenden Themen verwandeln die ohnehin bereits bedrückte Grundstimmung unter den Sitzungsteilnehmern in eine Mischung aus Wut und Depression. So sorgt nicht nur die erneut zu diskutierende Kaderfrage für Verdruss, da die neuen Politbüromit-
index.php / de / Media / VideoPopup / day /9/ field / audio_video / id /53442/ month / November / oldAction / Detail / oldModule / Chronical / year /1989; 23.2.2014). 594 Vgl. ebd. 595 Vgl. Cineimpuls Film & Video KG, Hubert Védrine, Berater des französischen Staatspräsidenten, über die Reaktion von Francois Mitterrand ( http ://www.chronik - der - mauer.de / index.php/ de / Media / VideoPopup / day /9/ field / audio_video / id /53444/ month / November / oldAction / Detail / oldModule / Chronical / year /1989; 23.2.2014).
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glieder von der Basis keinerlei Akzeptanz erfahren.596 Auch der Vorsitzende der Staatlichen Plankommission, Gerhard Schürer, entsetzt das Plenum mit seiner Analyse, in der er eine vernichtende Bilanz der Wirtschafts - und Sozialpolitik der DDR zieht. In Folge der desaströsen und niemals reformierten Planwirtschaft stehe das Land unmittelbar vor dem Staatsbankrott : »Mit dem sozialpolitischen Programm 1971, das – so muss ich sagen – so große und positive Wirkungen hatte, wurde die Weiche, wenn damals, wenn damals auch nur um Zentimeter, in die falsche Richtung gestellt. Von da an fuhr der Zug von den Realitäten weg und zwar immer schneller.«597 Ganze Industriezweige seien verrottet, während die Summe der Subventionen und Schulden astronomische Höhen erreicht habe. Auf die Frage, warum die verantwortlichen Mitglieder des Politbüros niemals auf die so zwingend erforderlichen Veränderungen gedrängt hätten, antwortet der im ZK der SED für die Bereiche Handel und Versorgung Verantwortliche, Werner Jarowinsky, zaghaft : »Es war die Angst und die Furcht vor solch rigorosen Eingriffen, die, wie in Polen, eine solche Lage hätten schaffen können des Absinkens des Lebensstandards, und die Angst, vor dem Volk diese Konsequenzen offen darzulegen und das Volk um Mithilfe zu bitten.«598 Während daraufhin ein heftiger Streit im Plenum ausbricht, erfährt Krenz, dass der sowjetische Botschafter bereits drei Mal versucht habe, ihn telefonisch zu erreichen. Wjatscheslaw Kotschemassow, der die Ereignisse der letzten Nacht verschlafen hat, zeigt sich empört über die eigenmächtig beschlossene Grenzöffnung und fordert den SED - Generalsekretär auf, sich dafür unverzüglich vor Moskau zu rechtfertigen.599 Als hätte die Sitzung nicht schon schlimm genug begonnen, sieht sich Krenz nun unter sowjetischem Druck dazu gezwungen, vor dem Zentralkomitee der SED auch zu den Vorfällen der letzten Nacht Stellung zu nehmen :600 »Genossen, ich bitte um Verständnis. Ich weiß nicht, ob viele den Ernst der Lage erkannt haben. Der Druck, der bis gestern auf die tschechoslowakische Grenze gerichtet war, ist seit heute Nacht auf unsere Grenze gerichtet. [...] Der Druck war nicht zu halten, es hätte nur eine militärische Lösung gegeben. Genossen, damit wir uns einig sind, durch das besonnene Verhalten unserer
596 597 598 599
Vgl. Hertle, Fall der Mauer, S. 242 f. Hertle, Chronik des Mauerfalls, S. 204–209. Hertle, Fall der Mauer, S. 242. Vgl. Cineimpuls Film & Video KG, Egon Krenz, SED - Generalsekretär, über den Anruf von Botschafter Kotschemassow, 10. 11. 1989, ( http ://www.chronik - der - mauer.de / index.php / de / Media / VideoPopup / day /10/ field / audio_video / id /53465/ month / November / oldAction / Detail/ oldModule / Chronical / year /1989; 23.2.2014). 600 Als Krenz in der vorherigen Nacht von der Grenzöffnung erfuhr, entschied er kurzerhand, den »Dingen einfach freien Lauf zu lassen« und keinerlei Gegenmaßnahmen einzuleiten.
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Grenzsoldaten [...] ist die Sache mit großer Ruhe bewältigt worden [...]. Aber der Druck nimmt weiter zu.«601 Wie von Kotschemassow verlangt, teilt Krenz in einem Telegramm an Michail Gorbatschow mit, dass größere Menschenansammlungen die Ereignisse der letzten Nacht erzwungen hätten. Doch seit den frühen Morgenstunden sei, wie er wahrheitswidrig hinzufügt, die Kontrolle wiederhergestellt.602 Tatsächlich werden die Meldestellen der Volkspolizei in Ostberlin von Ausreisewilligen jedoch regelrecht überrannt. Hier werden sich auch viele DDR - Bürger erst der wirtschaftlichen Misere ihres Landes so richtig bewusst. Denn der Umtauschkurs der DDR - Mark in ( westliche ) D - Mark liegt bei zehn zu eins; ihr im eigenen Land im Prinzip auskömmliches Monatseinkommen in Höhe von rund 1 000 Ost - Mark schmilzt, in den Westberliner Wechselstuben umgetauscht, auf den bescheidenen Betrag von 100 D - Mark zusammen.603 Moskau, Gorbatschow um Deeskalation bemüht, sowjetische Soldaten bleiben in Kasernen
Gorbatschow, der am Morgen bereits vom aufgebrachten sowjetischen DDR Botschafter Kotschemassow über die Vorgänge in Berlin informiert worden ist, nimmt sowohl die Neuigkeiten seines Ostberliner Botschafters als auch das Telegramm von Krenz gelassen auf. Nach Einschätzung des Generalsekretärs der KPdSU hätten die ostdeutschen Sicherheitskräfte mit der Öffnung der Mauer »richtig gehandelt«.604 Diese Überzeugung Gorbatschows bekräftigt der sowjetische Außenminister Schewardnadse nochmals auf einer internationalen Pressekonferenz am späten Nachmittag.605 In mündlichen Botschaften an Helmut Kohl606 und Willy Brandt,
601 Hertle, Chronik des Mauerfalls, S. 208. 602 Vgl. SED - Generalsekretär Krenz an KPdSU - Generalsekretär Gorbatschow vom 10. 11. 1989 (BArch B, DY 30/ IV /2/1/704, Bl. 83–84). 603 Vgl. RIAS - TV, Filmreportage über die Auszahlung des Begrüßungsgeldes an DDR - Bürger in West - Berlin vom 10. 11. 1989 ( http ://www.chronik - der - mauer.de / index.php / de / Media / VideoPopup / day /10/ field / audio_video / id /70994/ month / November / oldAction / Detail / oldModule / Chronical / year /1989; 23.2.2014). 604 Cineimpuls Film & Video KG, Michail Gorbatschow, sowjetischer Partei - und Staatschef, über seine Reaktion auf den Mauerfall am 10. November 1989 ( http ://www.chronik - der - mauer.de / index.php / de / Media / VideoPopup / day /10/ field / audio_video / id /53579/ month / November / oldAction / Detail / oldModule / Chronical / year /1989; 23.2.2014). 605 Vgl. Bundeszentrale für politische Bildung, Chronik – 10. November 1989 ( Freitag ) (http://www.chronik - der - mauer.de / index.php / de / Chronical / Detail / day /10/ month / November / year /1989; 23.2.2014). 606 Vgl. Mündliche Botschaft von KPdSU - Generalsekretär Gorbatschow an Bundeskanzler Kohl vom 10.11.1989 ( BArch B, DY 30/ IV /2/2039/319, Bl. 15–16).
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George Bush, François Mitterrand und Margaret Thatcher607 ersucht Gorbatschow die führenden Repräsentanten der Bundesrepublik und der Westmächte, eine Destabilisierung der Situation nicht zuzulassen und gemeinsam darauf hinzuwirken, »dass die Ereignisse nicht einen Verlauf nehmen, der nicht wünschenswert wäre«. Damit ist die Furcht des Ostblocks vor einer Infragestellung der 1945 gezogenen Grenzen in Europa gemeint. Ferner wünscht der KPdSU Generalsekretär ausdrücklich, von einem militärischen Eingreifen in jedem Fall abzusehen. Gemäß dieser Weisung lässt Armeegeneral Boris Snetkow, der Oberkommandierende von insgesamt 350 000 sowjetischen Soldaten in der DDR, seine Truppen in den Kasernen. Diese Gesprächs - und Kompromissbereitschaft Gorbatschows ist zweifelsohne ein wichtiges Element dafür, dass die Friedliche Revolution vom Herbst 1989, welche schließlich im Mauerfall vom 9. November kulminierte, auch tatsächlich in ihrer Gesamtheit friedlich verlaufen konnte. Den Anteil Gorbatschows an dieser Entwicklung hebt auch dessen Berater in außenpolitischen Angelegenheiten, Anatolij Tschernjajew, in seinem Tagebuch hervor, wenn er die Implikationen der Politik von Glasnost und Perestroika als historische Zäsur bewertet, zu welcher auch die Akzeptanz der bestehenden weltpolitischen Neuordnung gehörte : »Die Berliner Mauer ist gefallen. Eine ganze Epoche in der Geschichte des ›sozialistischen Systems‹ ist zu Ende gegangen. Heute kam die Nachricht vom ›Rücktritt‹ Deng Xiaopings und Todor Schiwkows. Geblieben sind unsere ›besten Freunde‹ : Castro, Ceaușescu und Kim Il Sung, die uns leidenschaftlich hassen. Aber die DDR, die Berliner Mauer, das ist die Hauptsache. Denn hier geht es schon nicht mehr um den ›Sozialismus‹, sondern um eine Veränderung des Kräfteverhältnisses in der Welt; hier ist das Ende von Jalta, das Finale für das Stalin’sche Erbe und für die Zerschlagung von Hitler - Deutschland. Das ist, was Gorbatschow angerichtet hat. Er hat sich als wahrhaft groß erwiesen, weil er den Gang der Geschichte gespürt und ihr geholfen hat, einen ›natürlichen‹ Lauf zu nehmen.«608
Westberlin, Schöneberger Rathaus
Am Abend tritt Bundeskanzler Kohl in einer gemeinsamen Kundgebung mit Westberlins Regierendem Bürgermeister Walter Momper, Außenminister Hans Dietrich Genscher sowie dem SPD - Ehrenvorsitzenden ( und früherem Westberliner Bürgermeister ) Willy Brandt vor dem Schöneberger Rathaus vor zehntausenden Zuhörern als Redner auf. Kohl betont dabei die Einheit der deutschen Nation, erteilt im gleichen Atemzug jedoch radikalen Parolen und Stimmen eine deutliche Absage. Stattdessen fordert er seine Landsleute dazu auf, »besonnen zu 607 Vgl. Mündliche Botschaft von KPdSU - Generalsekretär Gorbatschow an Präsident Mitterrand, Premierministerin Thatcher und Präsident Bush vom 10.11.1989 ( ebd., Bl. 20–21). 608 Galkin / Tschernjajew ( Hg.), Michail Gorbatschow und die deutsche Frage, S. 228.
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bleiben und klug zu handeln«. Kohl äußert in diesem Zusammenhang den eindringlichen Wunsch, dass sich die Geschehnisse vom 17. Juni 1953 nicht wiederholen mögen. Später am Abend informiert er seine Amtskollegen Thatcher und Bush telefonisch über die neuesten Ereignisse in Berlin.609 Ostberlin, Lustgarten
Im Ostberliner Lustgarten findet am Abend zum ersten Mal seit den Feierlichkeiten zum 40. Jahrestag der DDR wieder eine SED - Massenveranstaltung statt, in der das neue und verjüngte Politbüro sowie das am Mittag beschlossene Aktionsprogramm vorgestellt werden. In einer Rede bezeichnet Krenz die Reiseverordnung als Ausdruck, dass es die Parteispitze »mit der Politik der Erneuerung ernst meint und allen die Hand gibt, die gemeinsam mitgehen wollen«. Nicht zur Sprache kommt dagegen die desaströse Wirtschaftslage. Bis auf gegenseitige Schuldzuweisungen hat die SED diesbezüglich noch überhaupt nichts zustande gebracht. Doch angesichts offener Grenzen kann die zentral gelenkte Staatswirtschaft der DDR erst recht nicht mit der hoch effizienten Marktwirtschaft der Bundesrepublik konkurrieren – und wird sich schon bald als nicht überlebensfähig erweisen.610 Die binnen weniger als einem Jahr vollzogene Selbstauflösung der nun überflüssig gewordenen DDR ist dann nur noch die logische Konsequenz. 17. November 1989 Prag, Národní třída, Studentendemonstration brutal niedergeschlagen
Heute findet in Prag eine offizielle Gedenkfeier in Erinnerung an die blutige Niederschlagung einer antifaschistischen Studentendemonstration in Prag am 17. November 1939, also auf den Tag genau vor 50 Jahren, statt. Dabei wird an die Hinrichtung von neun Prager Studenten und an die Schließung aller tschechischen Hochschulen durch die deutsche Besatzungsmacht erinnert. Die Gedenkveranstaltung wird in diesem Jahr nicht nur durch den offiziellen, kommunistisch dominierten Studentenverband organisiert, sondern auch unter Beteiligung des inoffiziellen Vereins der Unabhängigen Studenten ( Svaz nezávislého studentstva). Schließlich will die KPTsch - Parteiführung im Zeichen von Glasnost und Perestroika künftig liberaler handeln als bisher; in der Einbeziehung auch nichtkommunistischer Studenten findet dieses Vorhaben erstmals seinen Ausdruck. Allerdings ist die Stimmung in der Bevölkerung im Herbst 1989 – nach den Ereignissen rund um die Prager Botschaft der Bundesrepublik und nach dem 609 Hertle, Chronik des Mauerfalls, S. 246. 610 Ebd., S. 247–249.
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Fall der Berliner Mauer – eine andere. Zur großen Überraschung der Organisatoren kommen fast 20 000 Teilnehmer zu der Gedenkfeier zusammen. Der offizielle Teil beginnt zunächst mit den Festreden der akademischen Würdenträger. Bald jedoch schon wandelt sich die Veranstaltung mehr und mehr zu einer politischen Demonstration gegen das bestehende kommunistische Regime. Ein Zeitzeuge aus dem Jahre 1939 ruft bei seiner Festrede den entscheidenden Satz : »Für die Freiheit muss man kämpfen ! Die Knechtschaft ist schlimmer als Tod !«611 Von den umstehenden Zuhörern wird die Aussage mit stürmischem Applaus quittiert. Auch nach Beendigung der Gedenkfeier ist das Publikum nur wenig geneigt, schon jetzt auseinander zu gehen. Der Aufruf, dass für die Freiheit gekämpft werden müsse – eine geradezu zeitlos gültige Aussage, die 1989 genauso aktuell ist wie vor 50 Jahren –, hat unter den Besuchern ungeahnte Resonanz gefunden. So findet sich rasch ein Demonstrationszug zusammen, welcher sich in Richtung Stadtmitte in Bewegung setzt. Ziel ist das im Stadtzentrum gelegene Denkmal des böhmischen Heiligen Sankt Wenzel auf dem Wenzelsplatz. Die Studenten skandieren unterwegs verschiedene, gegen das kommunistische Regime gerichtete Parolen, darunter auch den eingängigen, weil sich so schön reimende Slogan »Jakeše do koše« ( zu dt. : »[ Generalsekretär ] Jakeš in den Mülleimer«). Es herrscht eine fröhliche, ausgelassene Stimmung. Dem Demonstrationszug schließen sich spontan weitere Passanten an. In der Folge wächst die Zahl der Protestierenden rasch auf beträchtliche 50 000 Teilnehmer heran. Die Polizei begleitet den Zug zunächst aus sicherer Entfernung. Doch nachdem die Demonstranten im eigentlichen Stadtzentrum angekommen sind, greift sie mit höchster Brutalität an. In der Prager Nationalstraße ( Národní třída ) trennen die Sicherheitskräfte zunächst die Spitze des Zuges von den übrigen Demonstrationsteilnehmern ab. Der Rest wird zerstreut oder verhaftet. Diejenigen aber, die in der Nationalstraße eingekesselt sind, werden hier für mehrere Stunden von den Sicherheitskräften festgehalten; aus dem Kessel gibt es kein Entkommen. Dabei werden auch Sondereinheiten für Terrorbekämpfung, die sogenannten »Roten Barette«, eingesetzt. Zum Arsenal der Sicherheitskräfte gehören Sperrfahrzeuge, Polizeiketten, Schäferhunde und die üblichen Mittel der Terrorbekämpfung. Mit ihren Sperrfahrzeugen drängt die Polizei die Demonstranten, obgleich sich diese völlig ruhig verhalten, zunächst immer stärker zusammen. Dann, ohne jeden ersichtlichen Anlass, fangen die Sicherheitskräfte plötzlich an, auf die zusammengedrängte Menschenmenge brutal einzuschlagen, sie zusammenzutreten und niederzuknüppeln.612 Ein Demonstrationsteilnehmer berichtet :
611 Holubec, Kronika sametové revoluce, S. 2. 612 Ebd., S. 3.
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»Tausende Studenten warten nicht mehr und begeben sich in Richtung Stadtmitte, zum Wenzelsplatz, wo die Statue des Heiligen Wenzel, des Patrons Böhmens, steht. Plötzlich werden wir gestoppt. In der Národní - Straße steht unserem Demonstrationszug auf einmal die Polizei gegenüber. Vier Reihen von Polizisten mit weißen Helmen, großen Schutzschilden und Schlagstöcken. Wir rufen : ›Vom Wenzelsplatz gehen wir nach Hause‹, um den Bewaffneten gegenüber unsere friedlichen Absichten zu verdeutlichen. ›Keine Gewalt !‹ rufen wir, und ›Wir haben leere Hände !‹ und zeigen unsere leeren Hände. Dann singen wir die Nationalhymne. Die Antwort auf die Nationalhymne ist ein strikter Aufruf : ›Gehen Sie sofort auseinander !‹ Das geht jedoch nicht, weil wir eingekesselt sind. Der schrecklichste Moment ist dann die Stille, die auf einmal herrscht, in welcher aus der Ferne die Polizeibefehle zu hören sind und der Klang der Nagelschuhe der sich nähernden Polizeitruppen. Die vorderste Reihe des Demonstrationszuges zündet Kerzen an. Die Mädchen stecken den Polizisten Blumen an die Helme, wir wollen friedfertig bleiben. Die Polizei wird doch bestimmt nicht gegen die Studenten eingreifen. Es ist doch der 17. November [...] Dann passiert es. Die Sicherheitskräfte fangen an, die Demonstranten von beiden Seiten der Straße immer enger zusammenzupferchen. Wir können nicht der Aufforderung Folge leisten, auseinander zu gehen, weil wir von allen Seiten in die Zange genommen werden und zusammengepfercht sind. Auf einmal erscheinen die ›Roten Barette‹, die Sondereinheiten der Polizei für Terrorismusbekämpfung, die mit außergewöhnlicher Brutalität vorgehen. Sie zwingen uns aus der Deckung der Häuser auf die offene Straße. Jemand fällt zu Boden. Die Menschen schreien vor Angst. Ich
Geballte Staatsmacht: In voller Kampfmontur stehen Sicherheitskräfte bereit, um eine friedliche Studentenkundgebung zu zerschlagen. Foto: Antonín Nový
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sehe Männer in Uniform, die mit roten Wangen und großen Schlagstöcken allen, die sie zu fassen kriegen, wahllos auf die Köpfe einschlagen. Auch junge Mädchen und kaum fünfzehnjährige Kinder werden brutal niedergeknüppelt. Ich kann es nicht glauben. Ist heute der 17. November ? Dann bekomme auch ich einen Schlag auf den Kopf. Aus der Ohnmacht werde ich erst auf dem Bürgersteig wach. Ich suche instinktiv nach meiner Brille; kann nicht aufstehen. Jemand hilft mir aufzustehen, zieht mich an der Jacke hoch. Der Kopf tut mir weh, die Beine sind weich, mir ist schwindlig.«613
Die gewalttätigen Übergriffe von Polizei und Sicherheitskräften rütteln die Bevölkerung auf. Noch in derselben Nacht und am nächsten Morgen kommen die Studenten wieder zusammen und beschließen, sich nicht einschüchtern zu lassen. Es werden Protestschreiben verfasst, welche den brutalen Polizeieinsatz anprangern und Forderungen an die Regierung stellen. Die Betroffenen werden bei verschiedenen Zeitungsredaktionen vorstellig, um ihre Erlebnisse zu erzählen. Einige Redakteure erklären sich daraufhin bereit, die ungeschönte Wahrheit über das völlig ungerechtfertigte, brutale Vorgehen der Polizei an die Öffentlichkeit zu bringen.614 Blitzschnell verbreitet sich die Kunde ob der blutigen Ereignisse vom gestrigen Abend in der gesamten Tschechoslowakei; vor allem die Nachricht von einem getöteten Studenten macht die Runde. Die Berichte sind voller schrecklicher Einzelheiten, sie erzählen von allerlei Gewalttätigkeiten, auch gegen Kinder und Alte, von extrem hohen Verletztenzahlen. Einige der Zusammengeschlagenen sind in der Nacht in ihren Blutlachen auf der Straße liegen geblieben, so dass Augenzeugen überzeugt davon sind, es habe sich um Tote gehandelt. Gerüchte über etwaige Todesopfer werden auch durch ausländische Korrespondenten verbreitet, die sich ebenfalls unter den Eingekesselten befanden. Die Meldungen verbreiten sich am nächsten Tag über westliche Medien. Es fällt der Name des Studenten Šmíd, der angeblich getötet worden sein soll. Der Umstand, dass die Parteiführung der KPTsch einen friedlichen Protestmarsch, der überwiegend aus Studenten und Schülern bestand, gewaltsam niederschlagen ließ, führt in der tschechoslowakischen Bevölkerung, insbesondere bei den Pragern selbst, in deren Stadt sich das blutige Geschehen zugetragen hat, zu Entrüstung und Wut. Und noch ein Aspekt schürt den Zorn der Öffentlichkeit: Der reichlich absurd anmutende Umstand, dass die tschechoslowakischen Sicherheitskräfte hier, an diesem historischen Gedenktag, kaum weniger grausam vorgegangen sind, als einst die nationalsozialistische Besatzungsmacht an dem gleichen Ort vor genau 50 Jahren.
613 Ebd., S. 3. 614 Vgl. ebd.
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18. November 1989 Prag, Streikaufrufe der Künstler und Studenten
Mächtig ist die Empörung in der tschechoslowakischen Öffentlichkeit ob der brutalen Niederschlagung der Studentendemonstration am gestrigen Tag. Doch anders als in all den Jahren zuvor ist die Gesellschaft nicht mehr länger bereit, stillschweigend die Hände in den Schoß zu legen. Heute Vormittag entsteht an der Prager Akademie der Musischen Künste das erste Hochschul - Streikkomitee. Im Laufe des Tages schließt sich das Realistische Theater dem Streik an. Auch die Direktoren der Prager Theater treffen sich und vereinbaren, dass ihre Einrichtungen heute Abend ebenfalls streiken werden. In diesem Zusammenhang wird auch gleich eine Erklärung verabschiedet, die zum Proteststreik und zum öffentlichen Dialog in den Zuschauerräumen der Theater aufruft. Am Nachmittag, um 16.30 Uhr, verkündet der Student Martin Mejtřík an der Statue des Heiligen Wenzels die Entscheidung der Schauspieler und Studenten der Theaterakademie, in den Streik zu treten. Am Abend verbreiten westliche Nachrichtenagenturen dann die Meldung, dass bei der brutalen Niederschlagung der Studentendemonstration am Vortag durch die tschechoslowakische Polizei der Student der Mathematik und Physik an der Prager Karls - Universität, Martin Šmíd, getötet worden sei.615 19. November 1989 Prag, Presseagenturen, getöteter Student
Rasend schnell verbreitet sich die Nachricht vom Tod des Studenten Martin Šmíd nicht nur in Prag, sondern in der gesamten Tschechoslowakei. Einige ausländische Medienagenturen sprechen sogar von mehreren Todesfällen. Die Prager selbst halten während des gesamten heutigen Sonntags hindurch an verschiedenen Orten der Hauptstadt immer wieder kleinere Zeremonien ab, in welchen sie der brutalen Niederschlagung der Studentendemonstration und der Tötung Martin Šmíds gedenken. In der Nationalstraße und auf dem Wenzelsplatz entzünden sie Tausende von Kerzen. Losungen werden skandiert, welche die Gewalt der Sicherheitsorgane scharf verurteilen. Kritisiert werden aber auch die Regierung, die kommunistische Partei und vor allem deren führende Repräsentanten. Staatssicherheit und Polizei greifen diesmal nicht ein. Aber sie bleiben in höchster Bereitschaft. Die Zugänge zur Kleinseite und zum Hradschin werden abgeriegelt.616 615 Ebd., S. 5. Nach mehreren Tagen wird sich herausstellen, dass die Nachricht vom getöteten Studenten eine Falschmeldung war. 616 Ebd., S. 5–7.
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Die Meilensteine auf dem Weg zur Freiheit
Prag, Theater »Činoherní klub«, Gründung des Bürgerforums
Im Prager Theater »Činoherní klub«, das für normales Publikum heute geschlossen bleibt, wird durch unabhängige Initiativen, durch Studentenvertreter und die Vertreter weiterer Bürgergruppen das Bürgerforum ( Občanské fórum ) gegründet. Dabei handelt es sich um eine lose Vereinigung von Menschen, die kritisch zu den politischen Verhältnissen im Lande stehen und mit dazu beitragen möchten, dass die Tschechoslowakei ein freier und demokratischer Staat wird. Das Bürgerforum betrachtet sich als Vertreter einer breiten tschechoslowakischen Öffentlichkeit. In seiner Gründungserklärung heißt es dazu, dass das Bürgerforum in jeder Stadt der Republik entstehen könne, Voraussetzung hierfür sei lediglich, dass sich die Menschen mit seinen Zielen identifizierten und ihre Organisationen zum Bürgerforum erklärten.617 Prag, Fernsehansprache des Ministerpräsidenten
Die Lage in der ČSSR wird immer angespannter. Am Abend wird das reguläre Programm des staatlichen tschechoslowakischen Fernsehens für eine Ansprache des Ministerpräsidenten der tschechischen Teilrepublik und ZK - Politbüromitglied, František Pitra, unterbrochen. Darin stellt der Regierungschef dar, dass auch in der ČSSR gegenwärtig eine Form der Perestroika ( russ. Umgestaltung ) ablaufe. Die begonnene Demokratisierung sei indes ein Dorn im Auge feindlicher Kräfte, sowohl im In - als auch im Ausland. Jede nur erdenkliche Situation werde von diesen dazu genutzt, die Lage im Land zu destabilisieren, um die geplanten Reformanstrengungen in der Tschechoslowakei zunichte zu machen. Dieselben Kräfte seien auch bei der vorgestrigen Gedenkfeier in Prag am Werke gewesen, sie hätten die versammelten Studenten für ihre Zwecke missbraucht. Pitra betont, dass beim anschließend notwendig gewordenen Eingreifen der Polizei keine anderen Sicherheitskräfte als reguläre Polizeieinheiten eingesetzt worden seien. Die Erklärungen des führenden ZK - KPTsch - Politbüromitglieds wirken auf die Öffentlichkeit jedoch alles andere als beruhigend. Im Gegenteil.618 Prag, Streik der Theaterangestellten
Die Prager Theaterszene engagiert sich intensiv im Kampf um die Demokratie. Am heutigen Abend spielt in der tschechoslowakischen Hauptstadt kein einziges Theater. Stattdessen organisieren die Schauspieler, gemeinsam mit dem übrigen Theaterpersonal, in den Zuschauerräumen Diskussionsrunden, in denen frei über Politik diskutiert wird. Noch in der Nacht zum 20. November gründet sich 617 Ebd., S. 5–7. 618 Ebd.
November : Mauerfall und »Samtene Revolution«
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das Streikkomitee der Studenten der Prager Hochschulen. Ähnliche Streikausschüsse entstehen wenig später auch an anderen Orten in der Tschechoslowakei.619 Prag, Sozialistischer Jugendverband wird regimekritisch
In Prag kommt der Vorstand der lokalen Organisation des Sozialistischen Jugendverbands und des offiziellen Hochschulrates zusammen. In Anwesenheit des ZK - KPtsch - Mitglieds und Vorsitzenden des Sozialistischen Jugendverbandes, Vasil Mohorita, werden wichtige Erklärungen verabschiedet. Darin wird das Vorgehen der Polizei gegen die Studentendemonstration vom 17. November scharf verurteilt und die Schaffung einer parlamentarischen Kommission gefordert, die das Geschehen untersuchen soll. Die regimekritischen Erklärungen des bis vor kurzem kommunistisch dominierten Jugendverbands werden von der offiziellen tschechoslowakischen Presseagentur ČTK nicht publiziert. Dafür druckt die verbandseigene Zeitung, »Mladá Fronta«, die vorgenannte Erklärung, die im Prinzip gegen die Parteiführung der KPTsch gerichtet ist, ab. Ein Vorgang, der so noch vor einem Monat kaum möglich gewesen wäre.620 20. November 1989 Prag, Tschechischer Nationalrat
Das Parlament der Tschechischen Teilrepublik, der Tschechische Nationalrat (Česká národní rada, ČNR ), verabschiedet eine Grundsatzerklärung zu den Ereignissen vom 17. November. Darin heißt es : »Hinter diesen Veranstaltungen stehen Erzfeinde des sozialistischen Systems und ausländische antikommunistische Zentren, die vor allem auf junge Menschen abzielen. Die Gegner des Sozialismus versuchen, die Unzufriedenheit und kritische Einstellungen der jungen Menschen, die in diesem Alter ganz natürlich sind, gegen den Sozialismus zu mobilisieren. Erlauben sie den Provokateuren nicht, sich unter den demagogischen Parolen in Streiks und Demos hineinziehen zu lassen.«621 Prag, Streik der Studenten
An sämtlichen Fakultäten der Hochschulen kommen die akademischen Vertreter der Universitäten mit den Studenten zusammen, um einen Dialog über die innenpolitische Situation zu führen. Dabei wird insbesondere das Eingreifen der 619 Ebd. 620 Ebd. 621 Ebd., S. 8.
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Die Meilensteine auf dem Weg zur Freiheit
Sicherheitskräfte bei der Studentendemonstration vom 17. November thematisiert. Sowohl die Hochschulvertreter als auch die Studenten stufen das Vorgehen der Staatsmacht als extrem brutal ein und verurteilen es eindeutig. Um ihren kritischen Standpunkt zu unterstreichen, treten die Studenten in einen einwöchigen Streik. Ihre Forderungen beinhalten eine eingehende Untersuchung der Ereignisse vom 17. November, einen demokratischen Dialog mit allen unabhängigen Gruppen und Meinungsströmungen innerhalb der Gesellschaft sowie eine offene und ehrliche Information der Öffentlichkeit. Zu ähnlichen Konstellationen – zu Streikaufrufen der Studentenschaft unter Beteiligung der Hochschulleitungen – kommt es auch in anderen Universitätsstädten der Tschechoslowakei.622 Prag, Wenzelsplatz, Massendemonstration gegen das Regime
Ähnlich, wie die Leipziger Montagsdemonstration am 9. Oktober der Auslöser der Revolutionslawine in der DDR gewesen ist, so bringt auch erst die mächtige Demonstration auf dem Prager Wenzelsplatz am 20. November die »Samtene Revolution« ins Rollen. Heute ist jener Tag, von dem an es kein Zurück mehr gibt. Am ersten Werktag seit der Niederschlagung der Studentenproteste vom 17. November kommen nach und nach etliche Tausend Menschen – am Ende werden es rund 150 000 sein – zur bis dato größten Massendemonstration auf dem Prager Wenzelsplatz zusammen, um ihrem Unmut über die politische Gesamtsituation Ausdruck zu verleihen. Bereits in den frühen Morgenstunden versammelt sich eine Gruppe junger Leute, die vor allem aus Studierenden besteht. Sie zünden Kerzen an und hängen tschechoslowakische Fahnen aus, ebenso auch Banner, mittels derer sie vorbeilaufende Fußgänger auf die »Proklamation der Prager Hochschulen«623 aufmerksam machen. Auch unterlassen sie es nicht, die Passanten über die für heute geplanten Diskussionsrunden in den städtischen Theatern zu informieren sowie auf die laufenden Diskurse in den Prager Hochschulgebäuden zu verweisen. Nach und nach finden sich so immer mehr Menschen auf dem Wenzelsplatz ein. Gegen 16.00 Uhr, also nach Ende der ortsüblichen Arbeitszeit, ist dieser bereits prall gefüllt. Die Proteste gewinnen an Dynamik. Geschätzte 150 000 Demonstrationsteilnehmer sind sehr darauf bedacht, dass auf dem Wenzelsplatz die öffentliche Ordnung beibehalten wird. Etwaige Versuche der Ordnungsstörung, etwa seitens der von der Staatssicherheit eingeschleusten Unruhestifter, werden von den anwesenden Demonstranten unterbunden. Auf den Plakaten und Standarten der Protestierenden werden vor allem politischer Pluralismus, freie Wahlen, Rücktritt der am meisten kompromittierten Politiker sowie endlich eine 622 Ebd. 623 Provolání pražských vysokoškoláků. Vgl. Holubec, Kronika Sametové revoluce, S. 8.
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wahrheitsgetreue Berichterstattung für die Öffentlichkeit gefordert. Weitere Eckpunkte betreffen die starke Umweltbelastung sowie das desolate Gesundheitssystem.624 Prag, abends, Verband der tschechoslowakisch - sowjetischen Freundschaft
Wie vor ihm bereits Honecker, so erkennt auch KPTsch - Generalsekretär Jakeš nicht, dass es an der Zeit ist abzutreten. Heute Abend referiert er vor den Spitzenfunktionären des Zentralkomitees des Verbandes der tschechoslowakisch - sowjetischen Freundschaft.625 Dabei verteidigt er die unter der Aufsicht seiner Partei laufenden halbherzigen Reformen in der ČSSR : »Die Grundvoraussetzung für unseren Erfolg ist, die wirtschaftliche, gesellschaftliche und politische Stabilität aufrechtzuerhalten. Alle Versuche, die Stabilität zu beeinträchtigen, Chaos und Anarchie hervorzurufen, so wie es die feindlichen Kräfte versuchen, die sich in diesen Tagen bemühen, unsere Kulturfront und unsere Jugend zu manipulieren, können die Verwirklichung der erforderlichen Reformen nur ernsthaft gefährden und die Gesellschaft in eine Krise mit unvorhersehbaren Folgen stürzen. Die gegenwärtige Lage erfordert vor allem eine echte staatsbürgerliche Verantwortung, Vernunft und Besonnenheit.«626 Doch die Zeiten haben sich geändert. Einem Demonstrationszug gelingt es, bis vor das Gebäude des Zentralkomitees des Verbandes der tschechoslowakischsowjetischen Freundschaft vorzudringen. Dabei werden antikommunistische Parolen gerufen. Der bis vor kurzem noch mächtigste Mann im Staat, KPTsch Generalsekretär Miloš Jakeš, flüchtet durch eine Hintertür aus dem Gebäude.627 Und diese Flucht hat durchaus Symbolcharakter. Denn Jakeš’ Tage als Generalsekretär seiner Partei sind gezählt. Bald schon wird er das Amt des mächtigen Parteichefs räumen müssen. 21. November 1989 Prag, Wenzelsplatz, Havel spricht vor 200 000 Demonstranten
Der Streik tschechoslowakischer Studenten breitet sich immer weiter aus. Praktisch alle Hochschulen des Landes nehmen mittlerweile daran teil, wobei sich den Streikenden auch schon erste Mittelschulen angeschlossen haben. Gleiches gilt für die übrigen Protestkundgebungen und Demonstrationen. Auf der heutigen Massenkundgebung auf dem Prager Wenzelsplatz kommen beträchtliche 624 625 626 627
Ebd. ÚV Svazu československo - sovětského přátelství. Vgl. ebd., S. 8. Ebd., S. 8. Ebd.
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Die Meilensteine auf dem Weg zur Freiheit
Václav Havel spricht zu den Demonstranten auf dem Wenzelsplatz. Foto: Antonín Nový
200 000 Teilnehmer zusammen. Der Platz ist brechend voll, sein Fassungsvermögen nahezu ausgeschöpft. Vier Tage nach der blutigen Niederschlagung der Studentenproteste vom 17. November halten sich die Sicherheitskräfte für heute zurück und lassen die Protestierenden gewähren. Dabei wird die Demonstration erstmals durch das Bürgerforum organisiert. Vom Balkon des Verlages Melantrich aus, unmittelbar am Wenzelsplatz gelegen, spricht zum ersten Mal der Oppositionsführer und Vorsitzende des Bürgerforums, Václav Havel, zu den Protestierenden. »Die Wahrheit und die Liebe werden die Lüge und den Hass besiegen«, erklingt hier zum ersten Mal das Motto der »Samtenen Revolution«.628 Am Ende der Kundgebung klingeln die Demonstrationsteilnehmer mit ihren Wohnungsschlüsseln. Dem Regime werden sprichwörtlich die Totenglocken geläutet (režimu je odzvoněno ).629
628 Ebd., S. 12; Suk, Labyrintem revoluce, S. 42. – »Pravda a láska zvítězí nad lží a nenávistí«. Zit. nach http ://www.city - of - prague.eu / cs / history - of - melantrich; 2.2.2014. 629 Tomáš Vlček, Sametová revoluce, Praha 1989, úterý 21. listopadu 1989 ( http ://www.totalita. cz/1989/1989_1121.php; 2.1.20104).
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Prag, Verteidigungsministerium der ČSSR
Im tschechoslowakischen Verteidigungsministerium findet eine Krisensitzung des Generalstabes statt. Es ergeht der Befehl, die Einsatzbereitschaft der Streitkräfte für den Fall zu prüfen, dass der Ausnahmezustand verhängt werden muss. Ein Vorgang, den Verteidigungsminister Milan Václavík wie folgt begründet : »Wir sind zu dem Zwecke da, dass wir maximal dazu beitragen, unsere sozialistische Gesellschaftsordnung zu bewahren.« Die Armee wird dann schlussendlich doch nicht eingesetzt. Dies nicht zuletzt auch deshalb, weil sich die Armeeführung der Loyalität ihrer Soldaten nicht restlos sicher sein kann; selbst ein Bürgerkrieg kann nicht mit letzter Sicherheit ausgeschlossen werden. So werden am Ende nur die sogenannten Volksmilizen, die paramilitärischen Truppen der kommunistischen Partei, eingesetzt. Insgesamt 4 000 Milizionäre lässt die KPTsch- Führung in der heutigen Nacht, vom 21. auf den 22. November, nach Prag verlegen.630 22. November 1989 Prag, Stimmung immer revolutionärer
Die Demonstration auf dem Prager Wenzelsplatz wird kontinuierlich fortgesetzt, vor allem die Studenten halten ununterbrochen Wache. An der Statue des Heiligen Wenzels hängen tschechoslowakische Flaggen, das Denkmal ist mit Plakaten beklebt, auf denen politische Forderungen prangen, davor brennen Hunderte von Kerzen. In unmittelbarer Nähe zur Statue hält sich stets eine Gruppe von Bürgern und Studenten auf, um über die politische Lage zu diskutieren. Derweil sind rund 4 000 Milizionäre aus der Provinz mit Bussen in der tschechoslowakischen Hauptstadt eingetroffen, sie greifen jedoch nicht ein.631 In dieser Situation ergreifen Prags Theaterschauspieler und Studenten die Initiative. Sie fahren in die gesamte ČSSR hinaus, wo sie auch die entlegeneren Staatsbetriebe in der Absicht besuchen, die Arbeiter darüber zu informieren, was in der tschechoslowakischen Hauptstadt in Wirklichkeit gerade los ist. Eine objektive Berichterstattung der staatlichen Massenmedien gibt es nämlich nach wie vor nicht; ein Umstand, von dem gerade auch die regionalen Medien betroffen sind. Dabei kommen die Studenten jedoch oft nicht weiter als bis vor die Tore der staatlichen Firmen. Den Zugang verwehrt man ihnen in der Regel. Insbesondere werden sie daran gehindert, in die Werkstätten und Produktionsbetriebe zu gelangen, wo sie Kontakt mit der Belegschaft aufnehmen könnten. Nur wenigen
630 Ebd. 631 Holubec, Kronika sametové revoluce, S. 12; Vlček, Sametová revoluce 1989, středa 22. listopadu 1989 ( http ://www.totalita.cz /1989/1989_1122.php; 2.1.2014).
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Die Meilensteine auf dem Weg zur Freiheit
gelingt es, auf öffentlichen Versammlungen eine Rede zu halten. Andererseits gibt es Videoaufnahmen der Ereignisse vom 17. November, welche bei denen, die sie zu Gesicht bekommen, Verbitterung und Zorn auslösen.632 Während in Prag die Stimmung völlig umgeschlagen ist, hält das kommunistische Regime in den Regionen und in der Provinz die Zügel der Macht noch fest in den Händen. Hier können die Volksmilizen noch weitgehend unwidersprochen harte Maßnahmen gegen die Prager »Unruhestifter« fordern. Die regionalen Zeitungen stehen weiterhin fest an der Seite der kommunistischen Machthaber. Und dennoch brodelt es, vor allem in den Großstädten, hier wird die Stimmung immer revolutionärer.633 23. November 1989 Prag, Wenzelsplatz, Großdemonstration mit knapp 300 000 Teilnehmern
Die Zahl der Demonstranten auf dem Prager Wenzelsplatz wird von Tag zu Tag größer. Am Donnerstag dem 23.11. nehmen bereits fast 300 000 tschechoslowakische Bürger an den Protesten teil. Zu den Studenten, Schauspielern und Intellektuellen gesellen sich jetzt auch die Arbeiter. Allein 10 000 Personen sind aus dem großen, volkseigenen Maschinenbaubetrieb ČKD gekommen. Alle, die sich hier und heute auf dem Wenzelsplatz eingefunden haben, unterstützen gemeinsam die Forderungen des Bürgerforums nach einem radikalen Umbruch. Insbesondere fordern die Demonstranten die Abschaffung des Verfassungsartikels über die führende Rolle der Kommunistischen Partei in der Gesellschaft sowie den Rücktritt der am stärksten kompromittierten Regierungs - und Parteimitglieder. Darüber hinaus wird eine eingehende Untersuchung des Vorgehens der Sicherheitskräfte am 17. November verlangt, ebenso wie freie Wahlen. Zur Durchsetzung dieser Forderungen rufen praktisch sämtliche Redner die versammelten Prager Bürger leidenschaftlich dazu auf, am geplanten Generalstreik teilzunehmen, welcher für den Montag, den 27. November, angesetzt ist.634
632 Holubec, Kronika sametové revoluce, S. 12; Suk, Labyrintem revoluce, S. 42. 633 Vlček, Sametová revoluce 1989, středa 22. listopadu 1989 ( http ://www.totalita. cz /1989/1989_ 1122.php; 2.1.2014). 634 Suk, Labyrintem revoluce, S. 42; Holubec, Kronika sametové revoluce, S. 13.
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Die »Samtene Revolution« hat die tschechoslowakische Hauptstadt fest im Griff: Fast 300 000 Demonstranten finden sich auf dem Wenzelsplatz zusammen, um gegen das kommunistische Regime zu protestieren. Foto: Antonín Nový
Bratislava ( Preßburg )
Auch in der Hauptstadt der slowakischen Teilrepublik kommt heute eine große Demonstration zusammen. Hier, in Bratislava, tritt mit Alexander Dubček eine der großen symbolischen Figuren des Prager Frühlings von 1968 auf. Er wird von der Preßburger Öffentlichkeit mit großen Ovationen begrüßt.635 Prag, Verteidigungsministerium der ČSSR
Die Führung der tschechoslowakischen Armee veröffentlicht eine Erklärung, der zufolge sie die laufenden Demonstrationen mit großer Sorge betrachte : »Wir weigern uns, mit dem Schicksal und Leben der Menschen zu spielen. Wir lehnen die Anarchie, die sowohl von externen als auch von internen antisozialistischen Kräften verbreitet wird, entschieden ab.« Zugleich gibt die Armeeführung jedoch ausdrücklich zu verstehen, dass sie ihre Soldaten nicht gegen das eigene Volk einsetzen werde. Die eindeutige Absage an eine militärische Niederschlagung der Proteste fällt im Rahmen einer heutigen Fernsehansprache des Verteidigungsministers Milan Václavík.636 635 Ebd., S. 13. 636 Ebd., S. 13.
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24. November 1989 Prag, Olof - Palme - Preis für Oppositionsführer Havel
Trotz der angespannten Lage ist Schwedens Außenminister Stan Andersson heute in der tschechoslowakischen Hauptstadt zu Besuch. Hier überreicht er Oppositionsführer Václav Havel den Olof - Palme - Preis, in Anerkennung für dessen außergewöhnlich mutigen und beharrlichen Kampf für Wahrheit, Demokratie und Menschenrechte. Die schwedische Politik und das schwedische Staatsmodell genießen in der Tschechoslowakei große Anerkennung und Respekt. Die Auszeichnung Havels durch den schwedischen Außenminister stellt somit eine wichtige Unterstützung und Stärkung sowohl Havels Person als auch des Bürgerforums als der anerkannten Spitze der Oppositionsbewegung dar. Prag, Zentralkomitee der KPTsch, Generalsekretär Jakeš tritt nach Krisensitzung zurück
Die Stimmung auf den Straßen und an den Arbeitsplätzen spiegelt die zunehmende Spannung in der Bevölkerung wider. Schon seit Stunden warten die Demonstranten auf eine angekündigte Erklärung des Politbüros der Kommunistischen Partei, tagt doch das ZK der KPTsch bereits seit 10.00 Uhr heute Morgen. Je näher der Abend rückt, desto ungeduldiger werden die Menschen. Noch immer ist die aktuell verlaufende ZK - Sitzung nicht zu Ende, und es dringen keine Nachrichten nach außen. Nicht völlig unbegründet ist dabei die Sorge vieler Menschen, dass der konservative Parteiflügel rund um den jetzigen Generalsekretär Jakeš an der Macht bleibt. Im Zentralkomitee selbst findet derweil ein erbitterter Machtkampf zwischen den Parteiflügeln statt. Das Ergebnis der hitzigen Diskussion wird erst kurz nach 19.00 Uhr verkündet. Der bisherige KPTsch Generalsekretär Jakeš gibt bekannt, dass er von allen Ämtern zurücktreten werde. Gleiches gilt für eine Reihe weiterer prominenter Politbüromitglieder. Die Funktionäre stellen ihre Ämter zur Verfügung, damit eine neue Parteiführung gewählt werden kann.637 Ein Zeitzeuge der damaligen Ereignisse, der Journalist Jaroslav Brynda, erinnert sich : »Jetzt habe ich für die Jungs eine gute Nachricht. Ich renne mit einem anderen Kollegen aus der Redaktion, ich winke mit der neuesten Nachricht und die Menschen bilden für uns eine Gasse. Als ob sie wüssten, was kommt. Plötzlich stehe ich vielen Gesichtern gegenüber. Ein Student hält das Mikrofon direkt vor mir. Ich bin noch völlig außer Atem, doch ich lese die Nachricht trotzdem vor : ›Bei der außerordentlichen Sitzung des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei ergriff Milouš Jakeš das Wort und erklärte, dass er und andere Mitglieder des Präsidiums und des Sekretariats des ZK der KPTsch ihre Ämter zur Verfügung stellen.‹ 637 Ebd., S. 13; Suk, Labyrintem revoluce, S. 42.
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Dann höre ich einen ohrenbetäubenden Jubel. Menschen umarmen sich und uns. Ein kleiner Mann springt auf und gibt meinem Kollegen einen Kuss. Dann bekomme auch ich einen Kuss, von einem wunderschönen Mädchen. Alle strahlen vor Glück ! Es ist mir zum ersten Mal im Leben passiert, aber ich wünsche jedem, einmal ein solches Gefühl erleben zu dürfen. Eine so große Freude so vielen Menschen auf einmal machen zu dürfen.«638
25. November 1989 Prag, St. Veith - Kathedrale, Heiligsprechung der Agnes von Böhmen
In der St. Veith - Kathedrale zu Prag wird heute Agnes von Böhmen, eine Klostergründerin aus dem 13. Jahrhundert, heilig gesprochen. Den feierlichen Gottesdienst zelebriert der Erzbischof von Prag, Kardinal František Tomášek. An der Zeremonie in der Kathedrale und in deren näherer Umgebung beteiligen sich Zehntausende von Pilgern aus der ganzen Tschechoslowakei. Die meisten nehmen daraufhin an der Großkundgebung auf dem Letná Platz teil.639 Prag, Letná - Platz, größte Kundgebung in der Geschichte des Landes
Prag, ¾ Millionen Teilnehmer – die größte Kundgebung in der Geschichte. Foto: Antonín Nový 638 Ebd., S. 13. 639 Ebd., S. 15.
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Die Meilensteine auf dem Weg zur Freiheit
Spätestens am heutigen Tag wird auch dem letzten Genossen bewusst, welch eindeutige und nachhaltige Unterstützung die Oppositionsgruppen mittlerweile aus der Bevölkerung erfahren. Das Bürgerforum hat zu einer Demonstration auf dem Letná - Platz gerufen und eine schier unglaubliche Zahl von fast 750 000 Menschen ist dem Aufruf gefolgt. Es ist wohl die größte Massendemonstration in der Geschichte des Landes. Von der Tribüne aus spricht Oppositionsführer Václav Havel. Er betont, dass man trotz des personellen Wechsels an der Spitze der KPTsch tief besorgt sei und fordert die Bürger neuerlich dazu auf, am geplanten Generalstreik am kommenden Montag teilzunehmen. Der Generalstreik solle zu einem Referendum über die führende Rolle der Kommunistischen Partei werden. Auch Alexander Dubček tritt auf. Er unterstreicht, dass die Partei - und Staatsführung damit beginnen müsse, die Forderungen der Öffentlichkeit endlich ernst zu nehmen.640 26. November 1989 Prag, Letná - Platz, erneut eine Massenkundgebung
Es ist Sonntag. Erneut wird der Letná - Platz zum Veranstaltungsort einer Massenkundgebung. Enthusiastisch begrüßen rund 500 000 Demonstranten die Nachricht, dass die Vertreter des Bürgerforums mit den Unterhändlern der Regierung am Runden Tisch verhandeln. Václav Havel erläutert, was seine Oppositionsbewegung in den Gesprächen erreichen will : »Das Bürgerforum zielt darauf ab, eine Brücke von der Diktatur zur echten Demokratie und zum Pluralismus zu bauen. Das zentrale Vorhaben ist, freie Wahlen zu veranstalten. Wir wollen für Wahrheit, Menschlichkeit und Freiheit sorgen. Ab diesem Zeitpunkt nehmen wir alle an der Führung dieses Landes teil und wir alle tragen deshalb auch Verantwortung für unser Schicksal.«641 Wie ernst es dem Bürgerforum mit seiner Forderung nach Demokratie und Meinungsfreiheit ist, kommt allein schon dadurch zum Ausdruck, dass auch der kommunistische Ministerpräsident Adamec von der Tribüne aus zu den Demonstranten sprechen darf. Er wird jedoch bereits nach kurzer Zeit von den Zuhörern ausgepfiffen.642
640 Ebd., S. 15; Suk, Labyrintem revoluce, S. 42. 641 Ebd., S. 16 f. 642 Ebd.; Suk, Labyrintem revoluce, S. 42.
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Prag, Zentralkomitee der KPTsch, umfassende personelle Neuerungen an der Parteispitze
Das ZK der KPTsch tagt die ganze Nacht hindurch. Der Morgen graut schon, als die Sitzung endlich zu Ende geht. Dieses Mal nimmt das Zentralkomitee noch umfassendere Personalveränderungen vor. Von den ursprünglichen 26 Mitgliedern des Politbüros und des Sekretariats verbleiben nur noch neun in ihren Ämtern. Darunter ist kein einziger KP - Funktionär mehr, der noch vom Volk ausdrücklich unerwünscht wäre. Damit ist die erste Forderung des Bürgerforums erfüllt.643 27. November 1989 ČSSR, Generalstreik : »Schluss mit der Einparteienherrschaft«
Nach den beiden Massenkundgebungen auf dem Prager Letná - Platz vom zurückliegenden Wochenende erreichen die Proteste gegen das kommunistische Regime heute ihren nächsten Höhepunkt, als die unzufriedene Bevölkerung zum wohl stärksten ihr zur Verfügung stehenden Druckmittel greift : Zwischen 12.00 Uhr und 14.00 Uhr findet auf dem gesamten Gebiet der Tschechoslowakei ein Generalstreik unter dem Motto »Schluss mit der Einparteienherrschaft« statt,
Generalstreik am 27. November 1989 im mährischen Kroměříž/Krems. Foto: Josef Sčotka
643 Holubec, Kronika sametové revoluce, S. 16 f.; Suk, Labyrintem revoluce, S. 42.
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der vom Bürgerforum und anderen unabhängigen Initiativen organisiert wird. An dem Streik nehmen fast 75 Prozent der Bürger der Tschechoslowakei teil; damit ist das Land de facto lahmgelegt. Nahezu sämtliche Unternehmen, Fabriken und Institutionen stehen still.644 Seine Wirkung entfaltet der Generalstreik vor allem dadurch, dass er nicht nur die Prager Bürger hinter sich vereint, wie es bei den Protestkundgebungen der zurückliegenden Tage überwiegend der Fall gewesen ist, sondern auch von den Arbeitern in den Provinzstädten und auf dem Land vorgenommen wird. So finden am Nachmittag in den meisten Städten der ČSSR Massenkundgebungen statt. Praktisch geschlossen gehen Tschechen und Slowaken für ihre Freiheit auf die Straße. Es sind Momente wie dieser, die kein Mensch, der dabei war, je wieder in seinem Leben vergessen wird. Das tschechoslowakische Volk erlebt Situationen, die in seine Geschichte eingehen werden und niemand wird sie vergessen. Und was noch wichtiger ist : Niemand mehr wird ihnen hinterher das Gefühl nehmen können, das sich in die Köpfe und Herzen der Menschen eingebrannt hat – dass sie es sind, und niemand sonst, die nach 40 Jahren der kommunistischen Diktatur über das Schicksal ihres Landes entscheiden. Es ist die Stunde der Wahrheit. Symbolisch läuten die Demonstranten mit Glocken und Schlüsseln den angestrebten Abschied der Kommunistischen Partei von der Alleinherrschaft ein. Das Volk, durch die Studenten und unabhängigen Initiativen aus seiner zwanzigjährigen Unterjochung und Lethargie wach gerüttelt, wird sich nun der gewaltigen Kraft seiner Einheit bewusst. Von jetzt an wird es sich engagiert für Fortschritt, Freiheit und Demokratie einsetzen.645 29. November 1989 Prag, Bundesversammlung, Verfassungsartikel über die Führungsrolle der KPTsch aufgehoben
Heute hebt das tschechoslowakische Parlament die beiden Verfassungsartikel über die führende Rolle der Kommunistischen Partei in der Gesellschaft sowie über die Monopolstellung des Marxismus - Leninismus in Bildung und Erziehung auf. Die Abgeordneten, die in der Bundesversammlung sitzen, sind es gewohnt, alles abzuwinken, was ihnen die Parteiführung vorgibt. Und so stimmen auch bei dieser Parlamentssitzung alle Abgeordneten für die Vorschläge des Parlamentpräsidiums. Dabei stellt die Aufhebung jenes Artikels über die Führungsrolle der Partei aus der Verfassung eine fundamentale, institutionelle Weichenstellung dar, die gerade auch die Zukunft der Parlamentarier selbst berührt. Und 644 Holubec, Kronika sametové revoluce, S. 18 f.; Suk, Labyrintem revoluce, S. 42; Radim Kapavík, Sametová revoluce ’89 ( http ://www.revoluce89.wz.cz / hlavni.htm; 24.1.2014). 645 Ebd.
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noch ein bemerkenswerter Beschluss erhält heute die Unterstützung des tschechoslowakischen Parlaments : Eine Untersuchungskommission wird ins Leben gerufen, die sich mit der brutalen Niederschlagung der Studentendemonstration vom 17. November befassen soll. Zu den Kommissionsmitgliedern gehören auch Vertreter der Studentenschaft, die vom Streikausschuss der Studenten entsandt werden.646 10. Dezember 1989 Prager Burg, nichtkommunistische Regierung ernannt
Keine zwei Wochen, nachdem das tschechoslowakische Parlament das Ende der kommunistischen Alleinherrschaft beschlossen hat, werden die Konsequenzen der Verfassungsänderung offen sichtbar. Am heutigen Tag ernennt der kommunistische Staatspräsident Gustáv Husák unter dem Druck der Massenkundgebungen die erste Regierung der Tschechoslowakei seit 1948, in welcher die Kommunistische Partei über keine Mehrheit mehr verfügt. Die insgesamt 21köpfige, neue Föderale Regierung der Tschechoslowakei setzt sich aus elf nichtkommunistischen Regierungsmitgliedern ( sieben Parteilose, zwei von der Sozialistischen Partei, zwei von der Volkspartei ) und 10 kommunistischen Regierungsmitgliedern zusammen. Die neue Föderalregierung wird als »Regierung der nationalen Verständigung« ( Vláda národního porozumění ) bezeichnet. Ihre wichtigste Aufgabe wird es sein, den Prozess der Entkommunisierung – der Verringerung der Macht und des Einflusses der Kommunistischen Partei im Staatsapparat, in der Wirtschaft und Gesellschaft – weiter voranzutreiben und die ersten freien Parlamentswahlen vorzubereiten. Unmittelbar nach der Ernennung der mehrheitlich nichtkommunistischen Regierung reicht Staatspräsident Husák seinen Rücktritt ein.647 Mit dem heutigen Tag wird die Grenze zu Österreich geöffnet und ab morgen soll dann auch der Abbau des »Eisernen Vorhangs« an der Grenze zur Bundesrepublik beginnen. Und auch die Staatssicherheit bereitet sich auf den Regimewechsel vor. In einem verlassenen Steinbruch in der Nähe von Pilsen werden brisante Dokumente vernichtet.648
646 Holubec, Kronika sametové revoluce, S. 29; Kapavík, Sametová revoluce ’89 ( http ://www.revoluce89.wz.cz / hlavni.htm; 24.1.2014). 647 Petr Duchoslav, Vláda národního porozumění přivedla republiku ke svobodným volbám (http://www.vasevec.cz / vip - blogy / vlada - narodniho - porozumeni - privedla - republiku - ke - svobodnym - volbam; 24.2.2014); Holubec, Kronika sametové revoluce, S. 21 f.; Kapavík, Sametová revoluce ’89 ( http ://www. revoluce89.wz.cz / hlavni.htm; 24.1.2014). 648 Holubec, Kronika sametové revoluce, S. 21 f.
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Die Meilensteine auf dem Weg zur Freiheit
29. Dezember 1989 Prag, Bundesversammlung, Havel einstimmig zum Präsidenten der ČSSR gewählt
Heute wird der langjährige Hauptvertreter der antikommunistischen Oppositionsbewegung Charta 77 und seit November 1989 auch Vorsitzende des Bürgerforums, Václav Havel, von der Tschechoslowakischen Bundesversammlung (Federální shromáždění Československé republiky) zum Staatspräsidenten der ČSSR gewählt. Einen Tag zuvor wurde Alexander Dubček, eine Symbolfigur des Prager Frühlings von 1968, zum Präsidenten der Föderalversammlung gekürt.649 Es wirkt beinahe wie ein Wunder : Noch am 16. November hatte die tschechoslowakische Bevölkerungsmehrheit keine Ahnung, wer Václav Havel ist. Und nur einen guten Monat später, am 29. Dezember, wird er vom kommunistischen Parlament einstimmig zum Staatsoberhaupt gewählt. Die revolutionären Geschehnisse vom Herbst 1989 sind damit im Großen und Ganzen abgeschlossen. Es endet einer der spektakulärsten Abschnitte der tschechoslowakischen Geschichte, für welchen sich der Name »Samtene Revolution« eingeprägt hat. Der Neuanfang wird durch die ersten freien Wahlen nach 40 Jahren kommunistischer Alleinherrschaft eingeleitet, die für den Juni 1990 angesetzt sind. Die Idee, dass Oppositionsführer Václav Havel, der auch international eine anerkannte Autorität darstellt, neuer Staatspräsident der Tschechoslowakei werden sollte, hatte sich unter den »Samtenen Revolutionären« bereits Ende November 1989 durchgesetzt. Die Hochschulstudenten stellen die Wahl Havels zum Staatspräsidenten sogar als Bedingung für die Beendigung ihres Streiks. Hat es doch nach dem Rücktritt des letzten kommunistischen Staatspräsidenten Husák am 10. Dezember noch zwei weitere Kandidaten gegeben. Die Kommunistische Partei hatte den bisherigen Ministerpräsidenten Adamec vorgeschlagen, während die Slowakische Nationale Front Dubček favorisierte. Adamec zog indessen seine Kandidatur bald wieder zurück, nachdem die Kommunisten realisiert hatten, dass sie die Wahl eines eigenen Kandidaten nicht durchsetzen konnten. So bleiben nur noch Havel oder Dubček als heiße Kandidaten. Beide sind in der Öffentlichkeit hoch angesehen. Am Ende sprechen sich jedoch praktisch alle nichtkommunistischen politischen Kräfte für Havel aus; neben den Studentenorganisationen sind hier vor allem das Bürgerforum und die slowakische Bürgervereinigung »Öffentlichkeit gegen Gewalt« zu nennen, ebenso wie eine Reihe weiterer nichtkommunistischer Parteien und gesellschaftlicher Organisationen. 649 Vodička, Wir sind moralisch krank geworden, S. 248 ff.; Holubec, Kronika sametové revoluce, S. 24 f.; Kapavík, Sametová revoluce ’89 ( http ://www.revoluce89.wz.cz / hlavni.htm; 24.1.2014); Krystyna Wanatowiczová, Musíte zvolit Havla ! tlačil na komunisty Čalfa ( http ://zpravy. idnes.cz / musite - zvolit - havla - tlacil - na - komunisty - calfa - f4c - / domaci.aspx ?c=A071115_ 103110_domaci_itu; 24.2.2014).
November : Mauerfall und »Samtene Revolution«
247
Der neue Ministerpräsident Marián Čalfa, selbst Mitglied der KPTsch, bedrängt die kommunistischen Abgeordneten im Parlament, für Havel zu stimmen. Die vielfache Unterstützung trägt Früchte – zu guter Letzt wird Havel sogar einstimmig vom Parlament gewählt !650 Damit erhält der neue Staatspräsident auch die Stimmen all jener Parlamentarier, die erst vor wenigen Monaten, im Frühjahr 1989, noch ein Sondergesetz verabschiedet hatten, infolgedessen zahlreiche Regimekritiker verhaftet worden waren, unter ihnen nämlich auch Havel; er verbrachte die Zeit von Januar bis Mai 1989 im Gefängnis.651 Wie paradox ! Die Wahl Václav Havels zum Staatspräsidenten der ČSSR trägt wesentlich zur Stärkung des internationalen Ansehens der postkommunistischen Tschechoslowakei bei, wie auch später der Tschechischen Republik, die sich ab 1993 als ein selbständiger Staat etablieren wird. Während die Zusammensetzung von Regierung und Parlament im ersten Jahrzehnt der Freiheit raschen Veränderungen unterworfen ist – ein Schicksal, dass die neue Tschechoslowakei mit anderen postkommunistischen Ländern teilt –, bleibt Václav Havel als Staatspräsident eine international geachtete Persönlichkeit. Seine moralische Autorität und sein Ruf als Staatsoberhaupt werden der jungen Tschechischen Republik viele Sympathien im Ausland einbringen. Für die Tschechische Republik beginnt die schwierige Ära des Transformationsprozesses hin zu einer funktionierenden Demokratie und Marktwirtschaft. Es wird zunächst das Tal der Tränen durchschritten werden müssen. Der Weg nach oben wird mühsam und gefährlich sein. Nicht nur für die ostdeutschen Bundesländer und für Tschechien : für alle postkommunistischen Länder wird es Generationen dauern, bis die Gesellschaften die historische Lasten der kommunistischen Diktatur abschütteln und bis sich die politischen sowie wirtschaftlichen Systeme auf dem Niveau der etablierten westlichen Demokratien konsolidieren.
650 Ebd. 651 Kapavík,Sametová revoluce ’89 ( http ://www.revoluce89.wz.cz / hlavni, 24.1.2014).
5. Schlussfolgerungen. Der Flüchtlingsstrom als Urstrom der Geschichte
Politische Lage vor der Implosion der Regime in der DDR und ČSSR Die Veränderungen in der Sowjetunion in den 1980er Jahren hatten gravierende Auswirkungen auf die kommunistischen Satellitenstaaten im scheinbar so fest gefügten Ostblock. Hatte das einheitliche, von der Sowjetunion aufgezwungene kommunistische System nationale Unterschiede bislang nivelliert, so konnte sich in den 1980er Jahren eine neue nationale Vielfalt entwickeln. Auf die neuen Rahmenbedingungen und Handlungsspielräume reagierten die kommunistischen Führungen in den einzelnen Ländern Ostmitteleuropas jedoch höchst unterschiedlich.1 Dabei eröffnete ihnen die Perestroika in der UdSSR ganz neue, bislang ungeahnte Möglichkeiten. So konnten sie ihre politischen Angelegenheiten, sogar ihre politischen Strukturen, nach eigenen Vorstellungen umgestalten. Die Polen, die seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs immer wieder gegen das kommunistischen Regime opponiert hatten, nutzten die Gelegenheit im Jahre 1989 für zunächst halbfreie Wahlen zum Sejm und dann sogar für völlig freie Wahlen zum Senat. Desgleichen haben die Ungarn Liberalisierungsmaßnahmen ergriffen, ein Mehrparteiensystem schrittweise zugelassen und den Eisernen Vorhang an der Grenze zu Österreich geöffnet. Die kommunistischen Regime in der DDR und der Tschechoslowakei reagierten in anderer Weise auf die von der Sowjetunion im Zuge der Perestroika gewährten Gestaltungsfreiheiten, denn beide Regime konnten nur als kommunistisch - orthodoxe Regime überdauern. In der DDR deshalb, weil es ohne einen Systemunterschied zur Bundesrepublik keine Berechtigung für eine selbständige Deutsche Demokratische Republik gegeben hätte. Ähnlich verhielt es sich bei der tschechoslowakischen Partei - und Staatsführung. Die KPTsch - Spitzenfunktionäre des Jahres 1989 waren zwanzig Jahre zuvor, im Jahre 1969, von den Sowjets als Statthalter des orthodoxen Kommunismus in Führungspositionen in Partei 1
Vgl. als Überblick Dalos, Der Vorhang geht auf; Vollnhals ( Hg ), Jahre des Umbruchs.
250
Schlussfolgerungen
und Staat eingesetzt worden, um die Reformen und die Liberalisierungsmaßnahmen des »Prager Frühlings« rückgängig zu machen. Doch zwei Jahrzehnte später kam die sowjetische Perestroika. Und die hatte im Wesentlichen die gleichen Formen und Ansätze, wie sie der »Prager Frühling« bereits Ende der 1960er ausgebildet hatte. Die führenden KPTsch - Funktionäre konnten sich jedoch nicht einfach für die gleichen Reformen begeistern, welche sie 20 Jahre zuvor erstickt hatten. Die Unterdrückung des Prager Frühlings stellte nämlich den Kern ihrer Legitimität dar. Aus diesen Gründen sind beide mitteleuropäischen Ostblockländer, die DDR und die Tschechoslowakei, bei dem strengen Einparteiensystem und bei der zentral gelenkten Staatswirtschaft, mit all ihren Nachteilen, geblieben. Und sie mussten zusammenhalten. Denn den Spitzenfunktionären beider Staaten war klar, dass sie alleine nicht durchhalten konnten. Entscheidend für das im Herbst 1989 immer stärker werdende Protestpotential in der DDR waren nicht primär die politischen Aktivitäten der Oppositionsgruppen, sondern die individuellen Entscheidungen Tausender von DDR - Bürgern, die sich damals dazu entschlossen, über die Botschaften in Prag, Budapest und Warschau ihre Heimat zu verlassen, um für sich einen persönlichen Ausweg aus der unbefriedigenden Lage in der DDR zu suchen. Die Abwanderung Tausender DDR - Bürger, vor allem junger und gut ausgebildeter Personen, machte für alle im Lande deutlich, dass es so nicht weitergehen konnte. Die Massenauswanderung rüttelte die DDR - Bevölkerung auf. Sie zeigte deutlich, in welch tiefer Krise sich die DDR befand. Wer im Lande blieb und den privaten Ausweg in Form von Flucht ablehnte, sah sich daher gezwungen, politische und wirtschaftliche Reformen zu verlangen. So wurde aus der Losung »Wir wollen raus !« der Ruf »Wir bleiben hier !«.2 Auch in der Tschechoslowakei steigerten die Ereignisse um die DDR - Flüchtlinge in der Prager Botschaft der Bundesrepublik und auf deren exterritorialem Gelände, sowie die gewaltigen Ausreisewellen, das Protestpotential und die Demonstrationsbereitschaft. Die tschechoslowakische Öffentlichkeit konnte unmittelbar in der eigenen Hauptstadt beobachten, wie nach dem polnischen und dem ungarischen jetzt auch das scheinbar intakte SED - Regime im Nachbarland DDR unübersehbare Auflösungserscheinungen zeigte. Zunehmend setzte sich daher auch in der tschechischen und slowakischen Gesellschaft die Einschätzung durch, dass auch das Regime der KPTsch kaum noch länger existieren würde.
2
Pollack, Die Friedliche Revolution. In : Vollnhals ( Hg ), Jahre des Umbruchs, S. 129 f.; Jesse, Systemwechsel in Deutschland, S. 114 f.
Motivationen für die Flucht
251
Wirtschaftliche und ökologische Konstellation Beide Länder, sowohl die Tschechoslowakei als auch die DDR, gehörten im Ostblock zu den wirtschaftlich besser gestellten Staaten. In den 1970er und vor allem 1980er Jahren wurde jedoch ihr wirtschaftlicher Rückstand – im Vergleich zu den westlichen Industrienationen – immer größer. Das Versagen der staatlichen Planwirtschaft in den realsozialistischen Ländern wurde insbesondere von ihrem strukturellen Unvermögen verursacht, sich der modernen globalen Entwicklung, die ab den 1960er Jahren sukzessive eingesetzt hatte, anzupassen und aus der Sackgasse des extensiven Wirtschaftswachstums zu einem intensiven Wachstumsmodell überzugehen. Der systemimmanente Mangel an Motivation spielte hierbei eine zentrale Rolle, denn ohne ein wirksames Anreizsystem konnte dieser Übergang nicht gelingen. Die seit den 1970er Jahren bereits chronische ökonomische Gesamtkrise erwuchs daher zu einer schleichenden Erosion »des realen Sozialismus«.3 Mit dem zunehmenden wirtschaftlichen Rückstand hing auch die immer größere Umweltzerstörung zusammen. Um bei der gegebenen, niedrigen wirtschaftlichen Effizienz die Versorgung der Bevölkerung zumindest mit den notwendigsten Gütern zu bewerkstelligen, wurde mit der Umwelt sehr rücksichtslos umgegangen. Die Unzufriedenheit der Bevölkerung, verursacht durch die rezessive wirtschaftliche und ökologische Lage, wurde nur noch vergrößert mit der partiellen Öffnung beider Länder in den 1980er Jahren, die mit dem KSZE - Prozess zusammenhing. Mit der größeren Zahl der Westreisenden stiegen auch die Vergleichsmöglichkeiten und damit das Bewusstsein für den inzwischen enorm gewordenen Abstand im Lebensstandard zwischen Ost - und West. Die partielle Westöffnung trug damit ganz erheblich zum immer größer werdenden Unmut über den wirtschaftlichen Rückstand sowohl in der DDR4 als auch in der Tschechoslowakei bei.
Motivationen für die Flucht Ein Zeitzeuge, ein Journalist der Untergrundzeitung »Lidové noviny«, hat die Lage der Prager Botschaftsflüchtlinge damals so beschrieben : »Ein massenhafter Exodus von Menschen, die sich, aus welchem Grund auch immer, entwurzeln, sich von Heimat, Eigentum, Freunden und Vergangenheit endgültig trennen, ist 3 4
Vodicka / Heydemann, Postkommunistischer EU - Raum : Konsolidierungsstand und Perspektiven. In : dies. ( Hg.), Vom Ostblock zur EU, S. 344 f. Pollack, Die Friedliche Revolution. In : Vollnhals ( Hg.), Jahre des Umbruchs, S. 124.
252
Schlussfolgerungen
immer eine tragische Geschichte. Die Augen der Flüchtlinge hinter den Gittern des Zaunes der westdeutschen Botschaft – besorgt, verzweifelt, bittend – lassen darüber niemanden zweifeln, der den Willen und den Mut hatte, hinzusehen.«5 Die Motivation für die Flucht musste sehr stark sein, sonst hätten sich die Menschen nicht dazu entschlossen. Die Bürger der DDR konnten sich durch die verstärkte Reisetätigkeit und durch die Berichterstattung der westlichen Medien ein relativ zutreffendes Bild von der politischen und wirtschaftlichen Lage in ihrem Land machen. Der Mehrheit war bereits klar geworden, dass die DDR im Wettstreit der Systeme mit der Bundesrepublik sowohl auf politischem als auch auf wirtschaftlichem Feld komplett verloren hatte. Nur noch die Lügenpropaganda in den staatlich gelenkten Massenmedien behauptete das Gegenteil. Und die Menschen haben gespürt, wie allgegenwärtig die Staatssicherheit war, die jederzeit die intimsten Ecken ihres Lebens ausspähen konnte. Die Bürger konnten niemandem vertrauen, im schlimmsten Fall nicht einmal ihren engsten Familienmitgliedern. Auf Dauer war das permanente Misstrauen gegeneinander ein unerträglicher Zustand sowohl für die Gesellschaft als auch für den Einzelnen. Selbst vor den Kindern machte das System nicht halt: sie mussten in der Schule Lügen lernen, wenn es um Politik und Geschichte ging. Zur weit verbreiteten Missstimmung aufgrund mangelnder Reisefreiheit trugen auch die fehlenden politischen Freiheiten, der Ärger über manipulierte Wahlen, die Verlogenheit der Medien, die Unmöglichkeit der freien Meinungsäußerung, die ungute Versorgungslage sowie eine immer dramatischere Umweltzerstörung bei. Dies alles zusammen genommen löste bei den Menschen mehr und mehr Verdruss aus. Eine Gefühlslage, aus der sich schließlich die Kraft und die Entschlossenheit speisten, das Heft des Handelns selber in die Hand zu nehmen. Diejenigen, die sich zur Flucht entschlossen und die im Herbst 1989 allein oder mit ihren Familien in den Botschaften der Bundesrepublik Zuflucht suchten, waren zumeist junge Leute. Menschen, die nicht länger mit ansehen wollten, wie ihre Kinder in der Schule Lügen lernten. Die nicht weiter in Angst vor den Spitzeln und Spähern der Stasi leben wollten, die ihren Kindern solide berufliche und gesellschaftliche Entfaltungsmöglichkeiten offerieren wollten, ohne ideologische Einschränkungen und über die Landesgrenzen der DDR hinaus. Die Flucht bedeutete für sie alle einen tiefen Einschnitt in ihrem Leben. Die Zufluchtsuchenden, die alles – Eltern, Verwandte, Freunde, Wohnung, Heimat, Eigentum, Kontakte –, einfach alles zurücklassen mussten, kletterten nur mit dem, was sie am Leib trugen, über den Botschaftszaun in eine ungewisse Zukunft.
5
Karel Čermák ( Pseudonym ), Jací jsme ? In : Lidové noviny, 10/1989, S. 4.
Die Meilensteine auf dem Weg zur Freiheit
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Die Meilensteine auf dem Weg zur Freiheit September. Dammbruch
Es war die erste mächtige Ausreisewelle vom 30. September 1989, die den eigentlichen Dammbruch verursachte, welcher in der Folgezeit nicht mehr gestopft werden konnte und schließlich zum Mauerfall führte. Zum ersten Mal in der Geschichte der DDR sahen sich die Machthaber gezwungen, offiziell einer Ausreise von mehreren Tausend DDR - Bürgern in die Bundesrepublik zuzustimmen. Das bisherige Tabu wurde gebrochen. Nach diesem Beschluss gab es kein Zurück mehr. Fortan konnte es der SED - Parteiführung nicht mehr gelingen, den gewaltigen Ausreisedruck der DDR - Bürger in die Bundesrepublik wirklich und dauerhaft zu stoppen. Zwar versuchten die SED - Oberen noch verzweifelt, die Bruchstelle per Grenzschließung zu kitten. Es ist ihnen jedoch nicht mehr gelungen, den Ausreisestrom dauerhaft zum Stillstand zu bringen, solange nicht, bis die Mauer gefallen war. Zu dem geschichtsträchtigen Beschluss vom 29. September 1989, die in der Parteiterminologie als »Botschaftsbesetzer« bezeichneten, flüchtigen DDR Bürger aus der Prager Botschaft in den Westen zu entlassen, gelangten Honecker und die SED - Parteispitze unter extremem Druck von allen Seiten. Lief man doch Gefahr, dass das anstehende Jubiläum zum 40. Gründungstag der DDR durch das in den Medien von Tag zu Tag immer präsentere Drama der Botschaftsflüchtlinge komplett verdorben worden wäre. Und die prekäre Lage in der Prager Botschaft der Bundesrepublik, wo sich am 29. September 1989 etwa 3 500 Kinder, Frauen und Männer6 aufhielten, hätte schnell eskalieren können : ein Selbstmord, eine Epidemie oder ein Flammenmeer mit mehreren Toten hätten im Nu eine intensive Medienkampagne gegen die DDR gerade in der Zeit ihrer 40. Jubiläumsfeier zur Folge gehabt – und das weltweit ! Die Forderungen seitens der internationalen Diplomatie wurden immer eindringlicher. Überdies schlossen sich neuerdings sogar die mächtigen Sowjets den Appellen an, endlich etwas in der Angelegenheit zu tun. Aus New York berichtete DDR - Außenminister Fischer von den Verhandlungen mit dem sowjetischen Außenminister Schewardnadse, bei welchen dieser die DDR - Führung dazu aufforderte, etwas zu unternehmen, »um einen Skandal zu verhindern«.7 Und auch aus Prag meldete der DDR - Botschafter in der Tschechoslowakei, Helmut Ziebart, dass sich die sowjetische Diplomatie, entsprechend den Bitten von Bundesaußen-
6 7
Botschafter Huber an AA vom 29.9.1989. Betr. : Zufluchtsuchende Deutsche aus der DDR, hier Lagebericht 29.9.1989 ( PA AA, 513, B 85 Nr. 2346 E, unpag.). Außenminister Fischer an SED - Generalsekretär Honecker vom 29. 9. 1989 ( http ://www.chronik- der - mauer.de / index.php / de / Media / TextPopup / id /1261505/ month / September/ oldAction/ Detail / oldModule / Chronical / year /1989; 31.5.2013).
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Schlussfolgerungen
minister Genscher, für die Prager Botschaftsflüchtlinge engagierte.8 In diesem Augenblick wurde SED - Generalsekretär Honecker klar, dass er sich in dieser Sache nicht auf die Unterstützung der Sowjetunion verlassen konnte, dass er auf sich allein gestellt war. Und das war noch nicht alles. Schließlich kamen zu dem ohnehin schon immensen Druck der internationalen Diplomatie auch noch die nachdrücklichen Aufforderungen der letzten echten Verbündeten der SED – der tschechoslowakischen Genossen – hinzu. Der zuständige KPTsch - Sekretär Lenárt teilte DDR Botschafter Ziebart am Nachmittag des 29. September mit, dass die Lage um die Botschaft definitiv unerträglich geworden sei. Die katastrophalen Zustände, insbesondere die Überbelegung, der tägliche Neuzugang von mehreren Hundert Zufluchtsuchenden und die abscheulichen hygienischen Zustände mit akuter Epidemiegefahr zwängen »zu Überlegungen, welche weiteren Schritte unternommen werden könnten«.9 Damit teilte Lenárt zwar noch diplomatisch, aber dennoch unmissverständlich mit, dass die Tschechoslowakei auf eigene Faust Maßnahmen ergreifen würde, falls die DDR nicht in kürzester Zeit eigene Lösungsvorschläge unterbreite.10 Die tschechoslowakische Führung forderte nun ultimativ eine »drastische Verringerung der gegenwärtigen Anzahl von DDR - Bürgern [ in der Botschaft ] durch Ausreise per Bus über das Territorium der DDR in die BRD«.11 Die Ausreise könne mit einer allgemeinen Amnestie zum 40. Jahrestag der DDR überzeugend begründet und öffentlichkeitswirksam präsentiert werden. Mit dem vorgeschlagenen Bau einer Mauer um die Prager Botschaft der Bundesrepublik waren die KPTsch - Genossen freilich nicht einverstanden : »Die in Berlin geäußerte Idee, eine Mauer um die Botschaft zu bauen, sei für Prag nicht akzeptabel.«12 Der tschechoslowakische Vorschlag, die Botschaftsflüchtlinge über DDR Gebiet ausreisen zu lassen, ging zwar von einer völlig anderen Interessenslage und einer fast gegensätzlichen Rechtsauffassung zur Bundesrepublik aus, war indes praktisch identisch mit einem der Vorschläge, die der Bundesaußenminister Genscher dem DDR - Außenminister Fischer in New York am 27. September 1989 anbot : »Die Sonderzüge fahren von Prag aus über DDR - Gebiet in die Bundesrepublik Deutschland. Dann können Formalitäten unterwegs erledigt werden.«13
8 9 10 11 12 13
Botschafter Ziebart an SED - Politbüro vom 29.9.1989 ( BStU, MfS, HA II, 32922, Bl. 5–7). Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Genscher, Erinnerungen, S. 18 f.
Die Meilensteine auf dem Weg zur Freiheit
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Für das KPTsch - Politbüro war von immenser Bedeutung, dass nicht nur der internationale Druck, sondern auch das Drängen nach einer Lösung seitens unabhängiger Kreise, insbesondere seitens der Kirche und der Oppositionsgruppen, deutlich zunahmen. Die prekäre Situation der DDR - Bürger in der bundesdeutschen Botschaft und eine Reihe damit zusammenhängender Folgeerscheinungen wie eine erhöhte Medienpräsenz, die mögliche Initiierung von Demonstrationen und ähnlichem, wurden »mehr und mehr zu einem Problem der öffentlichen Ordnung in Prag«.14 Die tschechoslowakischen Genossen fürchteten – wohl zu Recht – um die Stabilität des kommunistischen Regimes im eigenen Land; eine Besorgnis, für welche die DDR - Machthaber durchaus Verständnis hatten. Die Stunde der Entscheidung schlug am 29. September 1989, am Nachmittag. Der DDR - Botschafter in Prag, Ziebart, informierte per Blitztelegramm um 16.35 Uhr ranghöchste SED - Politbürofunktionäre über die Krisensituation um die bundesdeutsche Botschaft und die tschechoslowakischen Lösungsvorschläge.15 Daraufhin rief Honecker um 17.00 Uhr eine außerordentliche Krisensitzung des SED - Politbüros im Apollo - Saal der Ostberliner Staatsoper zusammen. Die epochemachende Sitzung des Politbüros dauerte lediglich zwanzig Minuten. Bereits gegen 17. 20 Uhr stimmten dessen Mitglieder einstimmig zu, die Forderungen der tschechoslowakischen Genossen zu erfüllen und die in den Botschaften der Bundesrepublik befindlichen DDR - Bürger über das DDR - Gebiet in die Bundesrepublik zu bringen.16 »Es bleibt uns nichts anderes übrig, wenn wir es bis zum 7. 10. vom Tisch haben wollen«, begründete der SED - Chef seinen Entschluss.17 Honecker selbst schilderte im Nachhinein die entscheidenden Motive für seine geschichtsträchtige – und für die DDR verhängnisvolle – Kehrtwende folgendermaßen : »Seitens der Regierung der ČSSR wurden wir gebeten, das Problem der Botschaftsbesetzungen in dieser oder jener Form zu lösen, da es sonst zu Störungen von Ruhe und Ordnung in Prag kommen würde. Wir waren natürlich überhaupt nicht daran interessiert, dass die Ruhe und Ordnung in Prag gestört wurde. Wir besprachen diese Frage in einer kurz anberaumten Sitzung im Apollosaal der Staatsoper und kamen dann einmütig im Politbüro zu dem Beschluss, der Bitte der tschechoslowakischen Genossen zu entsprechen.«18
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Botschafter Ziebart an SED - Politbüro vom 29.9.1989 ( BStU, MfS, HA II, 32922, Bl. 5–7). Ebd. Vgl. Protokoll Nr. 39 der Sitzung des Politbüros des ZK der SED vom 29. 9. 1989 ( SAPMO BArch, DY 30/ J / IV /2/2/2348, unpag.). Schabowski, Politbüro, S. 68 f.; ders., Absturz, S. 235. Vgl. Andert / Herzberg, Honecker im Kreuzverhör, S. 90 f.
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Schlussfolgerungen
Oktober. Grenzschließung – Startschuss zur Revolution
Schon unmittelbar nach der ersten Ausreisewelle vom 30. September 1989 wurde die bundesdeutsche Botschaft in Prag erneut von Flüchtlingen regelrecht überrannt. Entscheidend war der 3. Oktober 1989. Schon hielten sich wieder 4 500 Ausreisewillige in der Botschaft auf, weitere 2 000 harrten davor auf Einlass. Die Situation war unerträglich : Kinder, Frauen und Männer drängten sich auf engstem Raum zusammen. Allen Beteiligten war klar, dass innerhalb der nächsten Stunden eine Lösung gefunden werden musste. Diese Erkenntnis hatte fieberhafte Verhandlungen zwischen den Vertretern der Tschechoslowakei, der DDR und der Bundesrepublik zur Folge. Das KPTsch - Politbüro verlangte schließlich von der SED - Führung, dass die »Aktion Zug« wiederholt werde. Jakeš’ Drängen auf eine rasche Lösung verfehlte seine Wirkung nicht. Um 12.30 Uhr war die Forderung des KPTsch - Generalsekretärs dem Prager DDR - Botschafter Ziebart übermittelt worden. Und weniger als eine Stunde später, um 13.15 Uhr, war die Angelegenheit bereits beschlossene Sache. Die »Botschaftsbesetzer« sollten noch ein weiteres Mal in den Westen entlassen werden. Parallel dazu wurde allerdings die Grenze zur Tschechoslowakei geschlossen. Dieser einschneidende und fundamentale Beschluss wurde im engsten Führungskreis der SED getroffen; die formal reguläre Politbürositzung fand erst am nächsten Tag statt. Der extrem brisante Beschluss, die Grenze zur ČSSR für DDR - Bürger hermetisch abzuriegeln, gehörte zu den schicksalhaftesten Entscheidungen Honeckers. Er veränderte binnen Stunden entscheidend die innenpolitische Lage in der DDR. Die Nachricht von der Schließung der Grenze zur Tschechoslowakei verbreitete sich wie ein Lauffeuer. Die Stimmung in der Gesellschaft verschlechterte sich abrupt und für die SED - Führung in fataler Weise.19 Während die Botschaftsflüchtlinge, von der Parteipropaganda als »Erpresser« verunglimpft, in die Freiheit entlassen wurden, blieb der loyalere Teil der Bevölkerung im eigenen Land gefangen. Die Bevölkerung war entsetzt. Die letzten durchgängigen Grenzen – die zu den sozialistischen Nachbarländern – waren jetzt hermetisch abgeriegelt. In einem streng vertraulichen Lagebericht gab die Stasi die nackte Wahrheit zu : »Grundtenor der Äußerungen der Werktätigen [...] war : ›Nun stellt die DDR wieder ein Gefängnis dar‹.«20 Die Wut in der Bevölkerung lag jetzt nur noch knapp unter dem Siedepunkt.21 Auch der in der Sache der Botschaftsflüchtlinge immer wieder vermittelnde Rechtsanwalt Vogel, ein Vertrauter Honeckers, offenbarte bei einem Empfang in Bonn seine Sorge, dass die Stimmung in der DDR kata-
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BV Dresden des MfS an 1. Sekretär der SED - Bezirksleitung Dresden vom 6.10.1989 : Information über die Aussetzung des pass - und visafreien Reiseverkehrs zwischen der DDR und ČSSR vom 6.10.1989 ( BStU, ASt. Dresden, BV Dresden, Abt. XX, 9185, Bl. 13–16). Ebd. Ebd.
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strophal, ja geradezu vorrevolutionär sei.22 Und Gorbatschow merkte bei seinem Staatsbesuch der DDR am 7. Oktober 1989, »dass das Land einem brodelnden Kessel mit dicht verschlossenem Deckel glich«.23 Die alarmierenden Stimmungsberichte trafen zu. Die Gefühlslage innerhalb der Bevölkerung sollte sich bald schon als mächtiger Katalysator der näher rückenden Friedlichen Revolution erweisen. Die bisherige Essenz der gesellschaftlichen und politischen Ordnung, wonach sich die Bürger aus Angst der mächtigen Diktatur unterordneten, schlug durch den radikalen Stimmungswandel um. Die Wut der Bevölkerung und der Überdruss über das verhasste kommunistische Regime wurden jetzt größer als die Furcht vor ihm. Damit gab die Grenzschließung den eigentlichen Startschuss für die Friedliche Revolution. Sie gab den mächtigen Massenkundgebungen im Oktober 1989 einen starken Impuls. Die erste Leipziger Montagsdemonstration nach der Grenzschließung, am 9. Oktober 1989, wurde durch die immense Zahl von 70 000 mutigen Frauen und Männern zum Tag der Entscheidung. Weitere Demonstrationen in anderen Städten folgten. November. Mauerfall
Das neu aufgestellte SED - Politbüro unter der Führung von Egon Krenz gab dem Druck der Demonstrationen schließlich nach. Seit dem 1. November 1989 durften DDR - Bürger wieder in die Tschechoslowakei reisen. Die Vorlage eines Personalausweises genügte. Die Wiedereinführung des visafreien Reiseverkehrs zwischen der DDR und der ČSSR führte indessen direkt zu einem abrupten Wiederanstieg des Flüchtlingsstromes. In Kürze erhob sich eine neue mächtige Flüchtlingswelle, als hätten unzählige Menschen nur darauf gewartet, bei nächster Gelegenheit der DDR endgültig den Rücken kehren zu können. Der nun einsetzende Massenexodus nahm rasant Dimensionen an, die alles vorher Dagewesene in den Schatten stellten. Nach nur zwei Tagen (3. 11.) hatten sich bereits wieder mehr als 4 000 DDR - Bürger auf dem Botschaftsgelände der Bundesrepublik eingefunden. Rund 8 000 weitere befanden sich schon auf tschechoslowakischem Gebiet, unterwegs in Richtung westdeutsche Botschaft.24 Die sich von Stunde zu Stunde zuspitzende Situation um die bundesdeutsche Botschaft zwang die tschechoslowakische Führung zum raschen Handeln. KPTsch - Generalsekretär Jakeš schlug nach einer Krisensitzung des Politbüros dem neuen SED - Chef Krenz als Notlösung vor, die DDR - Bürger einfach direkt aus der ČSSR in ein beliebiges Drittland ausreisen zu lassen. Viel Zeit zum Nach22 23 24
Kiessler / Elbe, Ein runder Tisch mit scharfen Ecken, S. 45. Gorbatschow, Erinnerungen, S. 711. Ständiger Vertreter des Botschafters Hiller an AA vom 3. 11. 1989. Betr. Zufluchtsuchende Deutsche aus der DDR, hier Lagebericht ( PA AA 513, B 85 Nr. 2347 E, unpag.).
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Schlussfolgerungen
denken blieb den Ostberliner Genossen nicht; Jakeš verlangte eine sofortige Entscheidung.25 Es oblag dem DDR - Außenminister Fischer, seinen Parteichef über die katastrophale Situation rund um die bundesdeutsche Botschaft und die verzweifelten Bittgesuche Jakeš’ zu informieren.26 Selbst unter gewaltigem Druck der internationalen Diplomatie stehend, empfahl Fischer Krenz kurzerhand die in dieser Situation – von Ostberlin aus gesehen – wohl bequemste Lösung : Die DDR Bürger sollten gemäß Jakeš’ Vorschlägen einfach aus der ČSSR direkt in die Bundesrepublik ausreisen dürfen.27 Nachdem Krenz die Eilmeldung von Außenminister Fischer erhielt, in welcher die Situation innerhalb der Prager Botschaft als katastrophal bezeichnet wurde, sah er sich zu sofortigem Handeln gezwungen. Er fügte etwa um 17.00 Uhr einen weiteren dringenden Verhandlungspunkt in die an diesem Tag (3. 11.) bereits laufende Sondersitzung des Politbüros ein : die Behebung des Flüchtlingsproblems.28 Krenz hatte allerdings dabei vor allem die für den nächsten Tag (4. 11.) angesagte Großdemonstration in Ostberlin vor Augen und war intensiv mit der Vorbereitung seiner Fernsehansprache beschäftigt, die für den heutigen Abend angesagt wurde. Er fürchtete weitere Massendemonstrationen und war bestrebt, ein Blutbad zu vermeiden.29 In dieser Situation stellte für ihn die kritische Situation um die Prager Botschaft eine zusätzliche Komplikation dar, die es galt, auf schnellstem Wege aus der Welt zu schaffen. Von der kritischen Gesamtsituation überfordert und offensichtlich ohne die Tragweite des Beschlusses wirklich zu erkennen, befürwortete er die Empfehlung Jakeš’, welche ihm auch sein Außenminister Fischer nahegelegt hatte : Die sich in der Prager Botschaft der Bundesrepublik aufhaltenden DDR - Bürger sollten demnächst direkt aus der ČSSR nach Westdeutschland ausreisen dürfen, ohne dabei das DDR - Territorium zu berühren. Das Politbüro stimmte dem Vorschlag zu.30
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Tschechoslowakisches Außenministerium an die Botschaften in Berlin und Bonn vom 3.11.1989 ( AMZV Praha, Telegramy odeslané, 1989, sv. 10., pořadové číslo 3739.); Außenminister Fischer an SED - Generalsekretär Krenz vom 3.11.1989 ( SAPMO - BArch, DY 30/ IV /2/2039/ 342, Bl. 155–157). Außenminister Fischer an SED - Generalsekretär Krenz vom 3. 11. 1989 ( SAPMO - BArch, DY 30/ IV /2/2039/342, Bl. 155–157). Ebd. Die Sitzung des SED - Politbüros dauerte von 12.00 bis 18.55 Uhr, mit Unterbrechung – für den Empfang des Diplomatischen Korps – von 14.30 Uhr bis 17.00 Uhr. Punkt 4 des Programms, die Botschaftsflüchtlinge, kam erst im Anschluss, etwa gegen 17.00 Uhr, ins Programm. Vgl. Prečan, Ke svobodě přes Prahu, S. 155; Krenz, Herbst ’89, S. 209; Hertle, Chronik des Mauerfalls, S. 103–110. Krenz, Herbst ’89, S. 208 f. Beschluss des SED - Politbüros zur direkten Ausreise der Prager Botschaftsflüchtlinge in die Bundesrepublik vom 3.11.1989 ( SAPMO - BArch, DY 30/5196, Bl. 16).
Die Meilensteine auf dem Weg zur Freiheit
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Die neue Ausreiseregelung konstituierte allerdings eine politisch und rechtlich fundamental neue Grundordnung. Mit dieser folgenschweren SED - Politbüroentscheidung gab es für die DDR - Bürger fortan keinen Eisernen Vorhang und keine Mauer mehr. Es gab nur noch den nicht besonders mühsamen Umweg über die Tschechoslowakei. Die gemeinsame Grenze von DDR und ČSSR stand seit dem 1. November offen und nun kam die Öffnung der bundesrepublikanisch- tschechoslowakischen Grenze am 3. November hinzu. Die Folgen traten binnen weniger Stunden ein : Es entwickelte sich eine gigantische Ausreisewelle. Jeden Tag verließen mehrere Tausend Übersiedler ihre Heimat, Tendenz steigend. Wer die DDR verlassen wollte, konnte einfach mit einem Schnellzug nach Prag und von dort bequem in die Bundesrepublik reisen. Gemäß dem geflügelten Wort »Wie geht’s ? – Über Prag !« stiegen in der Folge täglich Tausende in die Züge und reisten in die tschechoslowakische Hauptstadt, wo sie von Botschaftsmitarbeitern und Helfern des Deutschen Roten Kreuzes am Prager Hauptbahnhof in Empfang genommen wurden, die ihnen sogleich Hilfestellung zur direkten Weiterreise in die Bundesrepublik leisteten. Nur mit den Zügen verließen so jeden Tag mehr als 4 000 DDR - Bürger ihr Land. Am Prager Hauptbahnhof wurden sie von Helfern des DRK - Teams im Drei - Schicht - Betrieb rund um die Uhr betreut.31 Tatkräftige Unterstützung kam dabei auch von der bundesdeutschen Botschaft. Sie wurde zeitweilig zu einem Reisebüro sui generis für ausreisewillige DDR - Bürger. Die Botschaftsmitarbeiter leisteten direkt im Bahnhof Praha Hlavní nádraží für die Ausreisenden rund um die Uhr konsularische Hilfe. Auch der Trabi - und Wartburgstrom war mächtig, endlos. Am Grenzübergang Pomezí - Schirnding bildete sich ein kilometerlanger Rückstau voll beladener Pkw mit DDR - Kennzeichen; die Wartezeit bis zur Grenzabfertigung betrug rund 24 Stunden.32 Innerhalb von nur fünf Tagen, vom 5. bis 9. November 1989, siedelten so nach Berichten des tschechoslowakischen Innenministeriums rund 62 500 DDR - Bürger via ČSSR in die Bundesrepublik über,33 das sind 12 500, praktisch eine Kleinstadt, pro Tag. Bis zum 12. November 1989 waren es schon 81 477.34
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Ständiger Vertreter des Botschafters Hiller an AA vom 9.11.1989. Betr. Ausreisewelle von Deutschen aus der DDR, hier Organisation und Betreuung durch Botschaft ( PA AA, 513, B 85 Nr. 2347 E, unpag.). DPA - Meldung vom 5.11.1989, 21.55 Uhr : Der Strom der DDR - Flüchtlinge, die die Möglichkeit nutzen, über die ČSSR mit ihrem Personalausweis in die Bundesrepublik zu gelangen, nimmt nicht ab ( PA AA, Bo. Prag. 20683 E, unpag.). Mitteilung des Innenministeriums an Presseagentur ČTK vom 10.11.1989 ( Sdělení FMV k cestování občanů NDR z ČSSR, Praha 10. Listopadu, ČTK ). Zit. nach Prečan, Ke svobodě přes Prahu, S. 181 f. MfS : Lagefilm vom 1.11.–13.11.1989 ( BStU, ZA, HA VII 2684, Bl. 3).
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Schlussfolgerungen
Der 3. November 1989 ist demnach der tatsächliche, der schlechthin entscheidende Tag, an dem der Eiserne Vorhang für die DDR - Bürger fiel. Es ist der wahre Tag des Mauerfalls. So betrachtet, war der berühmte und gefeierte Mauerfall am 9. November 1989 in Berlin in Wirklichkeit nur eine »kleinere Baumaßnahme«. Hans - Dietrich Genscher bezeichnet in seinen Erinnerungen treffend den Flüchtlingsstrom als einen politischen Urstrom, der sich in Prag, der europäischsten aller europäischen Städte, in Bewegung setzte und sich anschließend unbehindert durch die DDR schob.35 Wohl wahr : Zunächst die exorbitante Ausreisewelle über die ČSSR nach dem 3. November 1989, danach die sich daran entzündenden Proteste der tschechoslowakischen Genossen und schließlich die vergeblichen Maßnahmen der SED - Parteiführung, dem Massenexodus doch noch irgendwie Einhalt zu gebieten und die Lage unter Kontrolle zu bringen – all dies sollte binnen weniger Tage zum Berliner Mauerfall selbst führen. Die Politbüroentscheidung vom 3. November über die neue Ausreiseregelung stellte – nach der Montagsdemonstration in Leipzig am 9. Oktober – den nächsten historischen Meilenstein dar. Sie gehörte in der langen Kette von dramatischen Ereignissen zu den folgenschwersten überhaupt : In dieser Minute öffnete sich für die DDR - Bürger der Eiserne Vorhang. Der Mauerfall in Berlin selbst war nur noch die Frage der Zeit. Die kommunistische Diktatur in der DDR konnte allerdings ohne den Eisernen Vorhang nicht überleben. Der Kalte Krieg war damit vorbei. Die DDR Geschichte. November. »Samtene Revolution«
Die Ereignisse rund um die Prager Botschaft der Bundesrepublik, der Massenexodus der Deutschen aus der DDR über die Tschechoslowakei in den Westen sowie die langen Reihen von abgestellten Trabis in den Prager Straßen, alles zusammen führte den Tschechen und Slowaken eindrücklich vor Augen, dass das kommunistische Regime in der DDR sich seinem Ende näherte. Dabei stellte die massenhafte Ausreise der DDR - Deutschen über Prag nicht nur ein großes Ereignis für die Prager Bürger, sondern für die gesamte Tschechoslowakei dar. Es wirkte auf viele Tschechen und Slowaken geradezu beschämend. Die Ostdeutschen waren ihnen immer als besonders regimetreue, disziplinierte Staatsbürger erschienen. Und jetzt waren sie es, die ihrer kommunistischen Staats- und Parteiführung den Rücken kehrten. Ein tschechischer Journalist schrieb in jenen Tagen in der Untergrundzeitung Lidové Noviny : »Die Trabi Fahrer sind ins Mercedes - Land weitergezogen. Wir Tschechen blieben allein zurück. Wir dachten uns : Bei den Polen, bei den Ungarn – und nun sogar bei den
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Genscher, Erinnerungen, S. 24.
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Fazit
disziplinierten Ostdeutschen – ging’s schon los. Jetzt sind wir dran.«36 Auch die Fernsehbilder von den Großdemonstrationen in der DDR und schließlich vom Mauerfall selbst stellten wichtige Motive für die Prager Massenkundgebungen dar; sie haben wie ein Zündfunke gewirkt. Der Massenexodus, der sich im Prager Stadtzentrum vor den Augen aller abspielte, hatte das Potential, die sozialpsychologische Lage der tschechischen und der slowakischen Gesellschaft nachhaltig zu beeinflussen.37 Die Reihen von verlassenen Trabis und Wartburgs in den Straßen der Hauptstadt symbolisierten unmissverständlich das Versagen des SED - Regimes. Sie waren das Zeugnis einer spontanen, mutigen Handlung der DDR - Bürger, die alles riskierten, um in die Freiheit zu gelangen. Es wurde für alle offensichtlich, dass hier etwas Bedeutsames vor sich ging. Der tschechoslowakischen Öffentlichkeit wurde praktisch aus nächster Nähe vor Augen geführt, dass das Regime in der DDR unmittelbar vor dem Zusammenbruch stand bzw. nachdem sie die Bilder vom Mauerfall gesehen hatte, dass die kommunistische Diktatur in der DDR implodiert war.38
Fazit Die mächtigen Flüchtlingswellen der DDR - Bürger über die Tschechoslowakei in die Bundesrepublik trugen essentiell zum Stimmungswandel in der tschechischen und slowakischen Gesellschaft bei.39 Die durch den dramatischen und hoch emotionalen Exodus geprägte Stimmungslage in der Bevölkerung wurde zum wichtigen Katalysator der »Samtenen Revolution«. Tschechen und Slowaken hatten sich innig gewünscht, dass – nachdem nicht nur in Polen und Ungarn, sondern selbst in der DDR das kommunistische Regime zusammengebrochen war – jetzt auch das Einparteiensystem in ihrem Land endlich eingerissen wird.40 Die unabhängigen Bürgerinitiativen und die interessierten Bürger, insbesondere die Studentenschaft, engagierten sich im Herbst 1989 gesellschaftlich und politisch deutlich stärker als zuvor. Und die brutale Niederschlagung der friedlichen Studentendemonstration am 17. November 1989, mit dem Bericht von einem getöteten Studenten, mobilisierte dann auch die bis dahin noch unentschlossenen und inaktiven Bürger.
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Lidové noviny, 4/1989, S. 3. Holzer, Die Transformation in der Tschechoslowakei. In : Vollnhals ( Hg.), Jahre des Umbruchs, S. 99; Balík, Eliten und Massen im Transitionsprozess in der ČSSR. In : ebd., S. 189. Vgl. Tůma, 9 :00, Praha - Libeň, horní nádraží. In : Soudobé dějiny, 3 (1996) 2–3, S. 163 f. Holzer, Die Transformation in der Tschechoslowakei. In : Vollnhals ( Hg.), Jahre des Umbruchs, S. 99. Balík, Eliten und Massen im Transitionsprozess in der ČSSR. In : ebd., S. 189; Tůma, 9 :00, PrahaLibeň, horní nádraží. In : Soudobé dějiny, 3 (1996) 2–3, S. 162 f.
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Schlussfolgerungen
Zunächst von Prag ausgehend, verbreitete sich die Bewegung rasch über die gesamte Tschechoslowakei und kulminierte schließlich in einem landesweiten Generalstreik am 27. November 1989. Der vom Bürgerforum organisierte Generalstreik fand unter dem Motto »Schluss mit der Einparteienherrschaft !« statt. An der landesweiten Arbeitsniederlegung nahmen fast 75 Prozent der Bevölkerung teil. Am 29. Dezember 1989 wurde dann der Oppositionsführer Václav Havel zum Staatspräsidenten der Tschechoslowakischen Republik gewählt. Der lange und beschwerliche Weg zu einer echten parlamentarischen Demokratie und zu einer funktionierenden Marktwirtschaft stand von nun an sowohl den Bürgern der DDR als auch den Tschechen und Slowaken offen. Die kommunistischen Regime in der DDR und der Tschechoslowakei fielen nicht nur zur ( unter historischer Perspektive ) gleichen Zeit zusammen. Ihr Schicksal wurde auch durch gegenseitige Interdependenzen der Ereignisse und Einflüsse miteinander verbunden. Die gesellschaftlichen und politischen Entwicklungen in beiden Ländern waren wesentlich von Synergieeffekten beeinflusst. Die dringenden tschechoslowakischen Forderungen, im Zusammenhang mit der prekär gewordenen Lage der Zufluchtsuchenden in der Prager Botschaft der Bundesrepublik, mit der exorbitanten Auswanderungswelle der DDR - Bürger über die Tschechoslowakei und mit den damit zusammenhängenden Befürchtungen der KPTsch - Führung vor der innenpolitischen Destabilisierung wirkten sich auf die Entwicklung in der DDR aus und trugen zum Untergang des dortigen kommunistischen Regimes bei. Und der Massenexodus von DDR - Bürgern in mehreren Wellen über die ČSSR, der den bevorstehenden Regimezusammenbruch in der DDR signalisierte, die Massenproteste in der DDR nach der Grenzschließung am 3. Oktober 1989 und schließlich der Fall der Berliner Mauer wirkten gleichermaßen als Initialzündung der »Samtenen Revolution« von Prag. Die friedliche Revolution in Prag brach nur eine Woche nach dem Mauerfall in Berlin los und brachte das verfaulte Lügengebäude der kommunistischen Diktatur – wie ein Orkan – binnen weniger Tage zum Einsturz. Der Flüchtlingsstrom wurde zum Urstrom der Geschichte. Sowohl in der DDR als auch in der Tschechoslowakei.
6. Imponderabilien mit Gewicht. Reflexionen eines Prager Oppositionellen* Petr Pithart
Deutsche aus der Deutschen Demokratischen Republik waren für die Tschechoslowaken vor November 1989 entweder »Enderonen« oder »Dederonen«.1 Die erste Bezeichnung war neutral, die Bezeichnung »Dederonen« war es jedoch nicht. Im Tschechischen hatte diese Bezeichnung einen abschätzigen oder gar missachtenden Unterton, der ein Gefühl einer zweifelhaften Überlegenheit gegenüber den etwas auftreibenden, pragmatischen, disziplinierten und ordentlichen Deutschen zum Ausdruck brachte. »Dederonen« waren nämlich diejenigen, die in unseren Grenzstädten billigere tschechische Waren oder Produkte von höherer Qualität aufkauften. Das war der Grund, warum sie bei unseren Landsleuten nicht besonders beliebt waren. Diese taten nämlich dasselbe in der sächsischen Grenzregion. Als dann die »Dederonen« in den Straßen von Prag einen riskanten Freiheitswillen bewiesen, war dies für die Prager eine ziemlich triste, beschämende Erfahrung : Also auch die schon ... ! Und was ist mit uns ? Werden wir sie von den Gehwegen aus anschauen ? Wir sind doch schon die Letzten ... Damals, ein paar Wochen vor dem Regimezusammenbruch, sind aus den »Enderonen« und vor allem aus den »Dederonen« innerhalb einiger Tage – zumindest für die Prager – Deutsche geworden. Die Bedeutung des Oktober - Exodus von DDR - Bürgern nach Westdeutschland über die Prager Botschaft der Bundesrepublik Deutschland lässt sich nicht hoch genug schätzen, ohne dass ich die Landesatmosphäre in einer Zeit zu charakterisieren versuche, welche diesem Ereignis unmittelbar vorausgegangen war. Die Beziehungen zwischen Macht, Öffentlichkeit und den oppositionellen Grup* 1
Übersetzung aus dem Tschechischen: Štěpán Vodička Es handelt sich hierbei um ( ironische ) Bezeichnungen der Ostdeutschen ( ähnlich wie »Ossis« ), welche durch wortspielerische Buchstabierungen der Abkürzungen NDR (tschechische Übersetzung von DDR ) »eNDeRáci« und DDR »DeDeRóni«, entstanden sind. Außerdem war dederón ein Kunststoff, in der DDR hergestellt, von welchem Hemden hergestellt wurden, welche von den Dederonen oft getragen wurden.
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pen charakterisierten nämlich eine sich steigernde Spannung und Nervosität, gleichzeitig aber ein Zögern, Unsicherheit und eine Art Verharren – und dies auf beiden Seiten. Es schien so, als ob die dramatischen Ereignisse in den umliegenden Ländern die Tschechoslowakei gar nicht betreffen würden. Es gab nur wenige Anzeichen dafür, dass es bereits im November zu radikalen Änderungen kommen würde. Ich würde eher sagen, dass es eigentlich keine Anzeichen dafür gab. Anfang Herbst 1989 haben die Charta 77 und die ihr angegliederten unabhängigen Initiativen eine Demonstration für den Tag der Menschenrechte am 10. Dezember auf dem Prager Altstädter Ring bei der Jan Hus - Statue geplant. Es wurde angenommen, dass dort vielleicht einige Tausend Menschen eintreffen könnten.
* Das Jahr 1989 wird bereits fast ein Vierteljahrhundert lang in den Klischeearsenalen von Journalisten und Publizisten als ein »Jahr der Wunder« – annus mirabilis – bezeichnet. Dabei fängt der Prozess des Zusammenbruchs aller kommunistischer Regime bereits vor Jahren an ( insbesondere in Polen, aber auch in Ungarn ), und es ist vor allem kein Wunder, sondern Ergebnis zielgerichteter Bemühungen ( das gilt erneut für Polen und Ungarn ). Selbstverständlich liegt es auch an den Veränderungen in Moskau. Natürlich waren dies eher »unbewusste Ziele« : Gorbatschow wünschte sich ganz bestimmt nicht das Ende des Sozialismus, die Zerrüttung des riesigen Landesreichtums und erst recht nicht den Zerfall der UdSSR. Unerwartet und vielleicht nur in diesem Sinne, sagen wir mal »wie durch ein Wunder«, kam es zu Veränderungen in der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik, in der Tschechoslowakei und in Rumänien. In zuletzt genanntem Land ging es um eine ganz andere Geschichte : in Rumänien endete Ende 1989 die offene Diktatur blutig. Die Bulgaren haben sich mehr oder weniger unauffällig den Polen und Ungarn angeschlossen. Mitte 1989 schreibt und spricht man deswegen in der Welt über Moskau und von dem völlig den Veränderungen Widerstand leistenden »Dreier - Block«, der von Prag, Berlin und Bukarest gebildet wird. Die tschechoslowakischen Medien ignorierten pflichtgemäß, was im Geiste der »Perestroika« und »Glasnost« über die Sowjetunion geschrieben wurde : etwas wurde zensiert, etwas geheim gehalten, etwas gekürzt oder desinterpretiert.
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Imponderabilien mit Gewicht
* Für die Polen ist das Jahr 1989 ein Jahr des Sieges, keineswegs der Wunder. Die Polen kämpften gegen den Kommunismus gleich seit dem Kriegsende, jedoch spätestens seit dem Jahre 1980 steuerte die Entwicklung im Baltikum auf eine Konfrontation zu, die wahrhaftig verschiedenste Formen annehmen konnte. Im Winter 1988 fingen die Gespräche am Runden Tisch an, im Juni des folgenden Jahres fanden die ersten ( teilweise ) freien Wahlen statt – frei, wenn es um Prozent von »freien« Sitzen im Sejm geht, ganz frei, wenn es um den wiedererrichteten Senat geht. Die Solidarnosc erlangte in diesen Wahlen fast alles, was erlangt werden konnte. Und so wurde am 14. August 1989 der erste, nicht - kommunistische Premier ins Amt eingeführt, der aus freien Wahlen hervorging : Tadeusz Mazowiecki. Ein katholischer Intellektueller, Mitbegründer des KOR ( Ausschuss für den Arbeiterschutz ), ein Mann, der oft an der Seite des Gewerkschaftsvorsitzenden von Solidarnosc, des Elektrikers Lech Walesa, gesehen wurde. In Ungarn rangen vor allem radikale und moderate Reformer ( und sicher auch Dogmatiker ) jahrelang um die Dominanz in der Partei und auch im Staat. Die führende Partei, die sich nicht einmal kommunistisch nannte, spaltete sich im Innern weiter und weiter in Fraktionen – die zukünftigen politischen Parteien. Es ging um einen kontinuierlichen, evolutionären Prozess. Dem Sieg der ungarischen Reformatoren fehlte also ein deutlicher Schnittpunkt, ein Wendepunkt, was – aus dem Public Relations - Aspekt des neuen Regimes gesehen – ein ernsthafter Mangel war. Dieser Wendepunkt wurde deshalb die »Zerreißung des Eisernen Vorhangs«. Dies geschah durch die symbolische Zerschneidung des Stacheldrahts ( des sogenannten »technischen Signalsystems«) an der ungarisch österreichischen Grenze durch den österreichischen Kanzler Alois Mock und den ungarischen Außenminister Gyula Horn am 27. Juni 1989. Vor vier Jahren war ich Gast des Präsidenten der Ungarischen Republik bei den großen Feierlichkeiten ( auch mit historischer Kavallerie ) anlässlich des Jubiläums dieses Tages in Budapest, ebenso wie viele andere Staatsmänner. In Wirklichkeit war die ungarisch - österreichische Grenze – und das bestimmt nicht nur für Flüchtlinge aus der DDR – de facto schon längere Zeit passierbar (wenn auch »illegal«, dank dessen, dass die Wächter ein Auge zudrückten ). Mit der Entfernung der technischen Einrichtung an den Grenzen wurde bereits am 2. Mai 1989 begonnen. Für den Zweck der symbolischen Zerschneidung des Stacheldrahts durch den ungarischen Außenminister und den österreichischen Kanzler mussten die Drähte an eine zugängliche und zudem für Fernsehaufnahmen geeignete Stelle erneut angebracht, also arrangiert werden. Der ungarische »Wendepunkt« ist so mehr als alles andere eine mediale Erschaffung, wenn er
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auch nicht unwahr ist. Es sind an ihm Zehntausende Flüchtlinge aus der DDR beteiligt, die die Löcher in dem verrosteten Blechvorhang schon zuvor nutzten. Diese flüchteten über das ungarische Gebiet nicht nur über die »grüne« Grenze, sondern auch über die Botschaften der Bundesrepublik in Prag und in Warschau bereits ab Anfang des Sommers 1989. Auch dies ist auf eigene Art und Weise ein kontinuierlicher, sich steigernder Prozess. Auf dem Gebiet der DDR eskaliert die Konfrontation zwischen der Öffentlichkeit und der Macht mit der größten Demonstration gegen das Regime in Leipzig am 9. Oktober 1989, wo über 70 000 Menschen das berühmte »Wir sind das Volk!« gerufen haben. 70 000 Menschen ist aus einem bestimmten Aspekt eine kritische Menge ( d. h. aus dem Aspekt der Möglichkeit bzw. Unmöglichkeit, so viele Leute ohne Schießereien auseinanderzujagen ) : bei einer solchen Anzahl melden Befehlshaber ihren höchsten Parteigeneralsekretären, dass man »damit« nichts mehr machen kann. In Leipzig wurden an diesem Tag den Polizeieinheiten einfach keine Befehle erteilt und dadurch haben die Demonstranten gewonnen. Allein durch ihre Anzahl haben sie den repressiven Apparat paralysiert. Das Auseinandernehmen der Berliner Mauer am 9. November mit Sekt und Tanz war aus dieser Sicht bloß nur noch ein symbolischer Punkt nach dem Ende des Regimes : die Mauer ist in Wirklichkeit bereits damals in Leipzig gefallen. Es war eine Zeit, als in den drei »letzten« Ländern des kommunistischen Blocks noch nichts sicher war. Noch kurz zuvor hatte Egon Krenz bei dem Staatsbesuch in China das Massaker in Peking gutgeheißen. Falls damals irgendwo ein »Wunder« geschehen ist, war dies in der Tschechoslowakei. Ein Wunder in dem Sinne, dass die Änderung plötzlich kam, unerwartet und man deswegen auch unvorbereitet war. Bereits am dritten Tag nach der massakrierten Manifestation von Studenten ( welche offiziell erlaubt war) am 17. November, füllt sich der Wenzelsplatz ( der größte Platz im Land ) mit einigen Hunderttausend Demonstranten – noch ehe das Bürgerforum gegründet wird. Das Regime begann umgehend, resigniert die Macht in die Hände des Bürgerforums zu übergeben. Es ging im November 1989 eher um eine Implosion ( ein Einsturz nach Innen ) als um eine »revolutionäre« Explosion. Eine Implosion, die durch einen inneren Überdruck an Unzufriedenheit auch schon derer entstand, die die nominale Macht in ihren Händen hielten und Einfluss hatten. Das System brach zusammen, da es auch seinen Vertretern offenbar am Willen fehlte, die Macht weiter aufrechtzuerhalten und um sie zu kämpfen. Diejenigen, die erfolgreich an der »Wirtschaft des Mangels« ( Jánosz Kornai ) schmarotzten, lechzten nach solchen Veränderungen, die ihren zusammengeklauten Reichtum, der dank der grauen Wirtschaft und kriminellen Aktivitäten angehäuft wurde, endlich legalisieren würden. Bildlich dargestellt : damit es möglich wäre, sich nicht nur eine Villa, sondern ein paar Villen auch für die Kinder und Enkel, zu bauen. Es war nicht
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möglich, den Reichtum ohne Sorgen zu genießen, nota bene zu kapitalisieren und das begann schon einige erfolgreiche »Unternehmer« stark zu stören.
* Ich biete hier nicht nur geschichtliche und politologische Überlegungen über die Situation im letzten Jahr vor dem November 1989 im Land an, bzw. der »Wende«, wie man heute sagt, oder von der »Samtenen Revolution«, wie man es in den ersten Jahren nach dem November 1989 sagte, sondern zudem auch persönliche Erinnerungen. Ich wohnte damals auf der Kleinseite, wo die Botschaft der Bundesrepublik siedelt und kam an einigen Abenden in ihre Nähe – um zu beobachten. Die Deutschen als Flüchtlinge zu beobachten, die Polizei sowie auch die ( Nicht )Geheimpolizisten, falls ich sie erkennen konnte, die neugierigen Prager und ebenso auch mich selbst. Welche Situation gab es bei uns ? Ich habe über meine Ansicht dazu ein unverfälschtes Zeugnis : Im September 1989 wurde ich von der Gesellschaft »Opus Bonum«, deren Vorsitz der Abt des Břevnov - Klosters innehatte ( damals allerdings im Exil ) im bayerischen Franken dazu aufgefordert, für die Versammlung des gesamten tschechoslowakischen Exils eine Art »Bericht über den Stand der Union«, also über die Tschechoslowakei in den 1980er Jahren, zu schreiben. Ich habe ihn sechs Wochen vor dem November 1989 – einen Monat vor dem Exodus der Deutschen über Prag – beendet und abgeschickt. Eines geht daraus völlig klar hervor : Ich habe nicht angenommen, dass die Menschen jedwede schnelle Veränderung erwarten. Nicht einmal die Dissidenten, zu denen ich gehörte, erwarteten sie. Aus vielen Gründen schien die Situation völlig blockiert zu sein. Das Jahr 1989 war natürlich immerhin in vielerlei Hinsicht anders als die vorangegangenen Jahre, es war jedoch kein Jahr der ungeduldigen Erwartung einer Veränderung. Mitte Januar 1989, in der sogenannten »Palach - Woche« (vom 15. bis zum 22. Januar ) demonstrierten einige Hundert, überwiegend junge Menschen auf dem Platz, wo sich vor 20 Jahren Jan Palach mit Brennstoff übergoss und anzündete. Mutige Menschen kamen wiederholt zum Museum, um dort Blumen auf den Boden zu legen. Es erwarteten sie dort Prügel mit dem Knüppel, Wasserwerfer und ihre Abschleppung zu Verhören und vorläufigen Festnahmen, aber im Falle Václav Havels und anderen auch zur Inhaftierung. Es gab dort zwar mehr Menschen als sonst, allerdings immer »bloß« einige Hundert. Zum ersten Mal haben in diesem Jahr Tausende und dann Zehntausende von Menschen ihre Unterschrift gewagt : unter einem Protestaufruf für die Entlassung von Václav Havel sowie unter einem Text, der einen Dialog mit der Macht for-
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derte und einfach »Einige Sätze«2 genannt wurde. Es gab mehr als sonst von den Unterzeichnern, aber es ging immer noch nicht um eine Massenaktion. Bislang sprach nichts dafür, dass auch bei uns, wo weder gestreikt, noch reformiert wurde, es dieses Jahr zu einem grundlegenden Wechsel kommen würde. Unter Tschechen und Slowaken überwog über die 20 Jahre der »Normalisierung« – im Gegensatz zu den Polen und Ungarn – Resignation, Konformismus und Zynismus. Über Hunderttausend Menschen emigrierten in den Westen. Wenn auch im Lande die Charta 77 und andere oppositionelle Aktivitäten wirkten, brauchten wir am Ende der zweiten Dekade von diesem Marasmus, der schleichenden Auszehrung, so etwas wie eine Ermunterung, ein nachahmbares Beispiel. Wir brauchten sozusagen ein »Anschubsen«. Noch im Jahre 1989, als im Lande bereits etwa 20 nicht konforme bis oppositionelle Plattformen wirkten (unvergleichbar weniger als zum Beispiel in Polen ), warnte am 21. August (Jahrestag der Okkupation ) Václav Havel vor der Teilnahme an Demonstrationen, da er Provokationen und Brutalität der Macht befürchtete. Es gab am Ende eine kleinere Demonstration, jedoch immer noch im Rahmen leichter Unterdrückbarkeit. Offenbar brauchten wir in der Tschechoslowakei einen äußeren Impuls, eine Inspiration. Was aber hinter den Grenzen – in Polen und auch in Ungarn – stattfand, ermunterte die Öffentlichkeit jedoch keineswegs. Es überwog ein mehr oder weniger resignierendes Gefühl, dass »bei uns alles anders ist« und dass es hier Jahre dauern wird ... Im besten Szenario erwartet uns irgendeine zähe Perestroika. Ein Impuls, eine Inspiration musste, kurz gesagt, bis zu uns nach Hause kommen, damit wir sie auf eigene Augen sehen und sie selbst erleben konnten. Ich erachte dies nicht als eine diffamierende Tatsache. Im Sowjetblock trafen wir in der ganzen Nachkriegszeit auf auseinandergehende Tempi – auf zeitliche Verschiebungen der Ereignisse gegen die Regime. Als die einen oben waren und »den Himmel stürmten«, waren die anderen in einer Depression – zum Beispiel die Tschechoslowaken und Polen im Frühjahr 1968. Ich erinnere an zwei Impulse, zwei Inspirationen von außen. Ihr Einfluss, ihr Gewicht kann nicht gemessen oder gewogen werden, die Historiker werden über sie mit dem Kopf schütteln. Vielleicht ja, vielleicht nein. Die Lateiner würden sagen : Imponderabilien. Dinge, Ereignisse, die nicht abgewogen werden können, allerdings deswegen nicht ohne Bedeutung sind. Auch diese können manchmal eine sehr wichtige Rolle spielen. Oft spielen sie sich in menschlichen Köpfen, in menschlichen Herzen ab. Zeitlich gesehen der zweite Impuls, die zweite Inspiration, kam nicht nur von außen, sondern direkt von »oben«. Auf die Heiligsprechung von Anežka Česká (Agnes von Böhmen ) wartete man in unserem Land bereits ganze acht Jahr2
»Několik vět«.
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hunderte lang. Auch deshalb entstand eine Legende aus der Barockzeit, dass, wenn das Grab von Anežka einmal gefunden und sie heiliggesprochen wird, es endlich dem Land gut gehen wird. Über das Grab spricht man in der Legende deswegen, weil ohne die Auffindung des Grabes ehemals eine Heiligsprechung unmöglich war. Heute wird dies nicht mehr so streng genommen. Über die Existenz der Prinzessin aus dem 12. Jahrhundert, die es nacheinander ablehnte, zwei europäische Herrscher zu heiraten, damit sie den Bedürftigsten dienen konnte, gab es nie Zweifel. Die Feierlichkeit der Heiligsprechung wurde aus Rom vom tschechischen Fernsehen übertragen, das Regime ließ etwa 10 000 Pilger hinreisen und diese kehrten dann begeistert, feierlich strahlend, nach Hause zurück. In Prag hielt die würdevolle Messe Erzbischof Tomášek, es war wieder stundenlang das Fernsehen dabei und ich erinnere mich gut, dass diese Übertragung eine hoffnungsvolle Aufregung ins Land brachte. Die Menschen hoben ihre Köpfe, lächelten einander zu und bereiteten sich eigentlich so unbewusst auf den 17. November und die nachfolgenden Tage und Wochen vor. Der Umsturz war schon sprichwörtlich unmittelbar vor der Tür. Ohne dass wir es geahnt hätten. Die erste Hilfe kam um einiges früher, kam erneut von außen, aber spielte sich zuhause, direkt unter unseren Fenstern, vor unseren Türschwellen, ab. Es war der Massenexodus von Bürgern aus Ost - nach Westdeutschland. Massenexodus ? In den Straßen der Kleinseite sah das so aus, und um den Eindruck, um das Erlebnis für uns Prager, ging es damals. Es war ein sehr komisches Erlebnis. Sowohl etwas beschämend als auch ermunternd. Ich wohnte damals auf der Kleinseite und ging mir jeden Abend diese einzigartige Vorstellung ansehen – wie ins Kino. Mein Platz war auf dem Gehweg in der Karmelitská Straße, dort, wo in sie von oben eine Straße mündet, die Tržiště heißt, in welcher die amerikanische Botschaft ist. Noch ein Stück weiter, schon in der Vlašská Straße, ist die deutsche Botschaft im Lobkowicz Palais, mit einem von einer großen Mauer und Zaun umgebenen Garten, der sich zum Petřín Hügel ( Laurenziberg ) erhebt. Damals mündete jedoch die Karmelitská - Straße in die Tržiště - Straße : der Flüchtlingsstrom ging nur in eine Richtung, von der Karmelitská - Straße aus rauf unter den Petřín - Hügel und wurde immer dichter. Wir, die in dieses wunderbare Kino unterm heiteren Himmel gekommen sind, standen auf den Gehwegen. Wir standen dort lange Stunden, in dichten Reihen und schwiegen. Es war wahrhaftig eine faszinierende Vorstellung : ans Ende der dichter werdenden Menschenansammlung kamen jeden Augenblick schnellen Ganges oder mit dem Taxi mehr und mehr Leute : oft junge Familien mit einem schlafenden Kind in den Armen oder im Rucksack. Diese Menschen hatten eine Tasche in der Hand, einen Koffer, nicht mehr. Sie verließen den DDR - Wohlstand, um den sie alle in den »Volksdemo - Ländern« beneideten. Und dazu hinterließen sie noch ein Stück weiter ihr Auto, Trabant oder Wartburg, auf das sie lange Jahre
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gespart hatten. Ihr Auto schlossen sie schon gar nicht mehr ab, ließen es mit den Schlüsseln in der Zündung dort stehen, wo sie es gerade »reinquetschen« konnten. Danach passte kein Auto mehr irgendwohin und so hielten die Flüchtlinge überall an : auf Rasen, auf Gehwegen, unter dem Petřín - Hügel, dann sogar schon auf den steilen Berghängen selbst. Sie fuhren steil bergauf über den Rasen, zogen die Handbremse an, ließen die Tür offen und rannten zur Botschaft. Auch nach so vielen Jahren erscheinen die Gesichter dieser Leute vor mir. Es war, wie man sagt, ein Blick für die Götter. Ihre Gesichter strahlten eine Erleichterung aus, einen Stolz auf den eigenen Mut, eine Freude, dass sie es wagten, dass sie es geschafft haben. Eine Freude und dabei die maximale Sorge : »Was kommt jetzt ? Kommen wir wenigstens über die Botschaftsmauer ? Gibt uns jemand wenigstens einen warmen Tee ? Den Kindern wird es bestimmt kalt sein.« Nur selten hat man die Gelegenheit direkt auf das Gesicht von jemandem zu schauen, der gerade die Freiheit erlangte. Den Blick auf die Gestalt der berühmten Marianne mit den entblößten Brüsten, der phrygischen Mütze und der französischen Fahne in den Händen, von Delacroix, ist für unsere mitteleuropäischen Verhältnisse irgendwie zu pathetisch. Gesichter von Menschen, die die Freiheit gerade jetzt buchstäblich erreichten, außer Atem, aber glücklich, obwohl sie zuvor alles verlassen hatten, was sie in ihrem Leben durch Arbeit erlangt haben, waren unsere Gesichter. Gesichter sorgenvoller, skeptischer Mitteleuropäer. Sie gehörten zu uns. Sie kamen für die Freiheit angerannt und direkt vor uns nahmen sie diese in die eigenen Hände. Sie riskierten viel. Niemand von ihnen konnte sich sicher sein, wie es ausgeht. Sie waren doch auf dem Gebiet der ČSSR, die hiesige »Partei und Regierung« hatte nicht die geringste Sympathie für sie übrig – z. B. im Unterschied zu der freizügigeren, ungarischen Macht, die bei ihnen die Augen zudrückte. Aber nach Ungarn war es doch um ein großes Stück weiter und später war die Grenze zwischen der Tschechoslowakei und Ungarn für DDR - Deutsche ohne ungarisches Visum nicht durchgängig. Deswegen war es wichtig, diese günstige Gelegenheit zu nutzen, die sich vielleicht nicht mehr wiederholen würde. Natürlich riskierten die Flüchtlinge viel. Zumindest das, dass sie heute Nacht keinen Schlafplatz haben werden, dass es ihnen kalt sein wird, dass es für sie nirgendwo Essen geben wird; im Palais Lobkowitz, auf dessen Treppen und Fluren sich bereits Aberhunderte von Menschen drängten. Am Ende waren es Tausende, in Zelten im Garten sowie auf der Straße. Sie riskierten viel, weil es nirgendwo eine Garantie gab, dass sie nicht auf dem feindlichen Boden der ČSSR stecken bleiben. Die Exterritorialität und der Flur, der in die Freiheit mündete, waren eben erst hinter dem Zaun oder woanders hinter der hohen Mauer. Sie halfen sich gegenseitig, um über die Mauer zu kommen. Auch unsere Landsleute halfen ihnen dabei. Und überall drum herum waren Polizisten, in Uniformen oder auch in Zivilkleidung.
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Unsere Landsleute wünschten ihnen die Freiheit. Nicht nur diejenigen, die in der Nähe der Botschaft wohnten, kümmerten sich um Erfrischungen, brachten Tee und Essen. Manche hatten allerdings auch keine Skrupel, mit denen hinter dem Zaun Geschäfte zu machen. Ich sah Fotografien, die es zeigten : Hände übergeben durch den Zaun eine Flasche mit einem Getränk und gleichzeitig Geld. Insgesamt fuhren schließlich mit Sonderzügen – in drei Phasen – Zehntausende DDR - Deutsche aus Prag weg. Es war jedoch kein erster Durchbruch : bereits zuvor gingen mindestens genau so viele über die ungarische Grenze in die Bundesrepublik. Für die Prager war es allerdings ein Schlüsselerlebnis und eine existentielle Erfahrung. Die Menschen auf den Gehwegen haben aber meistens geschwiegen, weil sich jeder sagte : wie viele Stasi - Leute sind hier wohl vor Ort ? Wie viele, die warten, uns bewachen, uns, die schwiegen und von denen viele neidisch waren. Nicht, dass wir gerade jetzt aus dem Land flüchten wollten, aber wir waren neidisch auf ihren Mut, vom Gehweg auf die Fahrbahn loszugehen. Zwei, drei Schritte, ein, zwei Meter und sie waren in Freiheit. Warum sie und wir nicht ? Ich kann mir nicht vorstellen, dass niemanden von uns in den dichten Reihen auf den Gehwegen eingefallen wäre : wie es aussieht, werden auch wir runter von den Gehwegen losgehen müssen. Es reicht nicht mehr etwas zu schreiben, zu unterschreiben, mit etwas heimlich zu sympathisieren. Wir müssen uns im öffentlichen Raum zeigen, uns gegenseitig und auch ihnen zeigen, der Macht vorführen, wie viele wir sind, die etwas anderes denken als die »Partei und Regierung«. Wir haben damals eine Lektion aus unmittelbarer Nähe und völlig ohne Worte erhalten : es reichte die Situation in den zwei, drei Straßen, es reichten die Gesichtsausdrücke derer, die die Situation dadurch lösten, dass sie sie in die eigenen Hände nahmen. Es dauerte einige Tage und die Gehwege waren stets »ausverkauft«, nur der Applaus auf der offenen Szene fehlte. Aber etwas geschah in uns. Nicht in allen : es war für einige unserer Leutchen typisch, dass sie eine so große Menge an verlassenen Autos willkommen hießen. Sie mit fremden Kennzeichen zu stehlen, war nicht einfach, aber auch nicht unmöglich. Es gab mehr von unseren praktisch orientierten »Selbstzulieferern«, geschickte Typen, die mit einer ordentlichen Tasche über der Schulter – Exodus hin oder her – systematisch wertvolle ( d. h. auf dem Markt fehlende ) Teile der DDR - Wagen demontierten. Sie verbargen es in keinster Weise : »Wenn ich es nicht nehme, nimmt es ein anderer ...« Das war die Philosophie der Normalisierung : »Wer nicht stiehlt, bestiehlt die Familie.« Und den Eigentümern kann es schon egal sein, sie fahren dorthin, um sich bessere Karren zu besorgen. Wir Tschechen können uns immer alles rechtfertigen. Ist das etwa Diebstahl ? Es gehört niemandem mehr, schluss-
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folgerten wohl einige von uns und erst recht nicht denjenigen, die gerade jetzt über die Grenze abgehauen sind. Alles war, wie gewöhnlich, auch anders. Diejenigen, die mangelnde Ersatzteile anhäuften und die schon ein paar Monate später Schrottplätze und Autobasare in Bayern und in Sachsen abklappern werden, beteiligen sich wahrscheinlich bereits in einem Jahr an der kleinen und später möglicherweise auch an der großen Privatisierung. Es sind praktische Leute, sie haben einen Geschäftssinn, wer kann etwas gegen sie sagen ? Eine nach Atem ringende, aber glückliche Familie mit einem schlafenden Kind auf dem Rücken hat sie nicht interessiert und wird sie nicht interessieren. So war es immer und so wird es immer sein. Jeder hat diese Ereignisse anders erlebt. Aber auf den Gehwegen waren wir nicht wenige. Wir überlegten, wie diese Ereignisse die führenden Genossen in Prag und Berlin durchlebten. Wir kamen darauf, dass in diesen Tagen endgültig der Block auseinanderfiel, der Gorbatschows Perestroika widerstand. Ceausescu gehörte diesem Block eigentlich nie an, spielte sein eigenes, ziemlich waghalsiges Spiel und der Umstand, dass er gegen Moskau war, hörte in dieser Zeit auf, die wichtigste Charakteristik seines Regimes zu sein. Also hielten nur noch Erich Honecker und Miloš Jakeš zueinander. Jetzt musste allerdings Jakeš Honecker bitten oder ihn eher dazu drängen, dass er diese seine Deutschen über sein Gebiet in den Westen frei ließe. Oder es werden in Prag immer mehr werden, und wer weiß, was sich daraus in der Tschechoslowakei am Ende entwickelt. Und somit setzte sie die tschechische Seite nach einigen Tagen in Busse und Züge und schickte sie über das DDR - Gebiet nach Westdeutschland. Honecker konnte dafür Jakeš nicht dankbar sein. Aber er musste verstehen, dass er an seiner Stelle den gleichen Druck ausüben würde.
* Ich möchte an die unbeabsichtigte Hilfe erinnern – eine Inspiration von außen, diese Ermunterung, diese anschauliche Lektion und gleichzeitig etwas über uns sagen – darüber, in welcher revolutionären Kondition wir waren ( oder eher nicht waren ). Trotzdem haben wir bereits ein paar Tage später begonnen, den Wenzelsplatz, das Letná - Plateau und überhaupt die Hauptplätze unserer Städte zu füllen. Aus diesem Vergleich folgt nichts. Vielleicht nur das, dass die Geschichte oft aus den Arbeitsräumen, Büros und Parlamenten auf die Straßen herauskommen muss. Was man denkt und fühlt, muss man von Zeit zu Zeit vorführen. Am Montag, dem 21. November, waren auch bei uns über 100 000 Menschen auf einem Platz. Damals war es endgültig entschieden, obwohl an dem Tag noch niemand vom Balkon des Melantrich - Verlags sprach und das Bürgerforum erst am
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Entstehen war. Wenn aber irgendwohin 100 000 Menschen kommen, war damals jedes Regime in diesem Weltteil am Ende. Der Exodus der Deutschen im Oktober 1989 war so etwas wie eine kleine Generalprobe, eine Anleitung für den November 1989. Paradoxerweise probten damals die Gast - Schauspieler. Aber wir Einheimischen haben uns die Vorstellung aufmerksam angesehen und ließen uns inspirieren. Dafür gilt diesen Schauspielern auch noch heute unser Dank. Sie suchten ihre Freiheit, aber verhalfen uns auch zu der unseren, da Freiheit am Ende nie teilbar ist. Dieser plötzliche Einfall der Freiheit in die bislang starre, für 20 Jahre lang durch die Okkupation verstummte Stadt war ein unermesslicher Beitrag zur Beendigung der Verhältnisse in Mitteleuropa. Er führte offenbar zu weiteren Zusammengehörigkeitsstörungen zwischen den letzten Machtspitzen eines Blocks, der eigentlich nicht mehr ein Sowjetblock war. Und brachte die Prager dazu, ihre Köpfe zu heben. Manchmal kann gerade das nicht Messbare mehr bewirken, als die harten, beweisbaren Fakten. Aber ob und in welchem Maße sich diese Möglichkeit in den darauffolgenden Tagen und Wochen des Herbstes und Winters des Jahres 1989 tatsächlich erfüllte, werden wir nie mehr mit Sicherheit erfahren. Es bleiben nur persönliche Zeugnisse und Erlebnisse von Beteiligten. Größere Ambitionen, als solch ein persönlich voreingenommenes Zeugnis, hatte meine Stellungnahme auch gar nicht.
7. Im Rückblick: Gescheiterte Fluchtversuche an den Staatsgrenzen der ČSSR und der DDR Jan Gülzau / Karel Vodička
Zwar hatte der Druck auf die innerdeutsche Grenze schon in den Jahren 1987 und 1988 erheblich zugenommen, was sich vor allem in einer stetig steigenden Zahl von DDR - Flüchtlingen, welche die Bundesrepublik um Aufnahme ersuchten, niederschlug.1 Aber die im Laufe der Jahre immer weiter perfektionierten Grenzsicherungsanlagen, in Verbindung mit den einschlägigen Schusswaffengebrauchsbestimmungen der DDR - Grenztruppen sowie dem allgegenwärtigen Überwachungsapparat des Ministeriums für Staatssicherheit ( MfS ), hielten die Mehrzahl der Fluchtwilligen noch immer in Schach. Erst als ungarische Grenzsoldaten am 2. Mai 1989 damit begannen, den Grenzzaun entlang der österreich ungarischen Grenze zu demontieren und gleichsam ein erstes Loch in den Eisernen Vorhang schlugen, gab es für viele DDR - Bürger kein Halten mehr.2 Die Zahl derjenigen, die ihr Heil jetzt in der Flucht über die ČSSR und Ungarn nach Österreich suchten, schwoll täglich an; indes ein baldiges Ende war nicht in Sicht, zumindest solange nicht, wie die DDR ihren Bürgern keine umfassende Reisefreiheit gewährte. Zugleich warf die beständig an Eigendynamik gewinnende Fluchtbewegung über die südlichen Nachbarn der DDR schlagartig ein Licht auf ein Phänomen, welches bereits seit langem existent war, von dem in der Bundesrepublik gleichwohl über die Jahre eher wenig Notiz genommen wurde. Auch heute noch, mehr als zwei Jahrzehnte nach dem Fall der Berliner Mauer, fristet es in der gesamtdeutschen Geschichtswissenschaft eher ein Schattendasein : die oftmals vergeblichen Fluchtversuche zahlloser DDR - Bürger über andere Warschauer - Pakt - Staaten, welche in erster Linie die drei unmittelbar am Eisernen Vorhang gelegenen Staaten Tschechoslowakei, Ungarn und Bulgarien betrafen. Während die Schicksale der Berliner Mauertoten seit 2009 umfassend aufgear1 2
Nämlich von 6 196 im Jahr 1986 über 7 499 im Jahr 1987 auf 11 893 im Jahr 1988. Vgl. Wendt, Die deutsch - deutschen Wanderungen, S. 390. Zu den Hintergründen der Demontage vgl. u. a. Schmidt - Schweizer, Motive im Vorfeld der Demontage des »Eisernen Vorhangs« 1987–1989.
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beitet sind3 und auch jenen entlang der innerdeutschen Grenze gegenwärtig vergleichbare Aufmerksamkeit zuteil wird,4 besteht hinsichtlich der Fluchtbewegung über die übrigen Ostblockstaaten noch erheblicher Forschungsbedarf.
7.1 DDR - Fluchtbewegung über andere Ostblockstaaten – oftmals mit fatalem Ende Dabei war das Risiko, das die Einwohner der DDR auf sich nahmen, um in den Westen und damit in die Freiheit zu gelangen, nur vermeintlich geringer als das jener, die den Weg über die innerdeutsche Grenze und über Berlin wählten. Denn auch die Westgrenzen der erwähnten Ostblockstaaten waren als Systemgrenzen ausgebaut, streng bewacht und nicht selten mit tödlichen Grenzsicherungsanlagen in Gestalt von Minenfeldern bzw. Hochspannungszäunen bestückt. Zudem wurde an allen Grenzen auf Grenzverletzer scharf geschossen; Flüchtende riskierten also auch hier nicht weniger als ihr Leib und Leben. Wie viele DDR Bürger tatsächlich an den Außengrenzen der übrigen Warschauer - Pakt - Staaten ums Leben gekommen sind, ist bis heute unklar. Die geschätzten Zahlen variieren z. T. erheblich, rund drei Dutzend konnten bisher namentlich identifiziert werden. So geht Martin Pulec von mindestens 17 DDR - Bürgern aus, die an den Außengrenzen der Tschechoslowakei zwischen 1948 und 1989 ums Leben gekommen sind.5 Diese Zahl ist noch um mindestens zwei weitere DDR - Bürger zu ergänzen, die Pulec zwar unerwähnt lässt, deren Schicksale sich gleichwohl aus den Unterlagen der Deutschen Grenzpolizei bzw. der DDR - Grenztruppen eindeutig rekonstruieren lassen.6 Weitere 18 Todesopfer hat der Berliner Politolo-
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Hertle / Nooke, Die Todesopfer an der Berliner Mauer 1961–1989. Finanziert von Kulturstaatsminister Bernd Neumann sowie den Bundesländern Sachsen Anhalt, Niedersachen und Hessen, entsteht bis 2015 im Forschungsverbund SED - Staat der Freien Universität Berlin ein vergleichbares Projekt zu den Toten an der innerdeutschen Grenze. Vgl. http://www.fu-berlin.de / presse / informationen / fup /2012/ fup_12_219/ index.html; 1.9.2013. Vgl. Pulec, Die Bewachung der tschechoslowakischen Westgrenze zwischen 1945 und 1989, S. 147–152. Namentlich der am 22. 4. 1962 bei Bad Schandau, 200 m auf tschechoslowakischem Gebiet tot aufgefundene Heinz - Uwe Mauersberger sowie der am 9.10.1963 bei Sonneberg im Kreis Löbau erschossene Heinz Strumpf. In einem dritten Fall, dem des am 28. 2. 1950 bei Bärenstein erschossenen Ernst Tippmann, bleibt die Nationalität leider unklar. Als vierter und letzter bei Pulec unerwähnter Fall wäre noch der am 5. 10. 1948 bei Rittersgrün erschossene Werner Gerecke nachzutragen, nachdem er das Haltesignal einer Streife der Deutschen Grenzpolizei überfahren hatte. Technisch gesehen handelt es sich bei dem 20 - jährigen Einwohner der sächsischen Kleinstadt Aue zwar um keinen DDR - Bürger, da die Staatsgründung der Deutschen Demokratischen Republik erst noch bevorstand – am 7.10.1949 –, ein frühes Opfer der Grenze aber war zweifellos auch er. Vgl. Gülzau, Grenzopfer an der sächsisch - bayerischen und sächsisch - tschechischen Grenze, S. 45–47, 47–48, 51–52, 54–59.
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ge Stefan Appelius, der sich mehrere Jahre mit der Erforschung des bulgarischen Grenzregimes beschäftigt hat, an den dortigen Grenzen ausgemacht.7 Für Ungarn sind die Namen von vier DDR - Bürgern überliefert,8 und noch in Rumänien, das für die DDR - Fluchtbewegung eine eher untergeordnete Rolle spielte, kamen den Angaben Georg Herbstritts zufolge Anfang der 1970er Jahre zwei flüchtige DDR - Bürger ums Leben.9 All diese Zahlenangaben basieren auf ausgesprochen zurückhaltenden Schätzungen, dabei handelt es sich fast ausschließlich10 um solche Fälle, deren Namen und Schicksale anhand der Aktenlage einwandfrei identifiziert werden konnten. Hingegen operiert die »Arbeitsgemeinschaft 13. August« zumeist mit wesentlich höheren Zahlen,11 und auch Appelius gelangt in Bezug auf Bulgarien zu der Einschätzung, dass die tatsächliche Opferzahl wohl eher bei »etwa 100« liegen könnte.12 Generell bleibt festzuhalten, dass eine nennenswerte Fluchtbewegung über andere Warschauer - Pakt - Staaten vor dem Jahre 1961 praktisch nicht existent war.13 Kaum lohnenswert musste dem zur Übersiedlung in den Westen entschlossenen DDR - Bürger der Aufwand eines Fluchtversuchs über das sozialistische Ausland erscheinen, wo sich ihm doch in jener Zeit sehr viel näherliegende Möglichkeiten boten, namentlich in Gestalt der noch nicht systematisch ausgebauten innerdeutschen Grenze sowie vor allem im Bereich der noch offenen Sektorengrenze in Berlin. Bis zur ihrer Abriegelung am 13. August 1961 hatten über diese beiden Grenzen hinweg rund 2,6 Mio. Menschen die DDR in Richtung Bundesrepublik verlassen.14 Erst im Anschluss daran, also nach Schließung des Berliner Schlupflochs und dem zeitgleich forcierten Ausbau der innerdeutschen Grenzanlagen inklusive der Verlegung von Minenfeldern, gewannen alternative Fluchtrouten an Bedeutung. Von den rund 235 000 Menschen, die noch einmal bis Ende 1988 die DDR ohne Genehmigung verließen, flohen denn auch nur rund 40 000 sogenannte »Sperrbrecher« über die streng gesicherte Westgrenze in die Bundesrepublik. Andere kehrten, in den Stasi - Akten als »Verblei7
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Vgl. Michael Sontheimer / Barbara Supp, Der letzte Schuss. In : Der Spiegel 27/2008, S. 56–61, hier 57. 15 Todesopfer hat Stefan Appelius namentlich dokumentiert in : ders., Bulgarien. Europas ferner Osten, Bonn 2006, S. 228–253, hier 52–53. Vgl. Hildebrandt, 1613 Todesoper – keine Endbilanz, S. 26. Andreas Schmidt - Schweizer spricht von insgesamt neun Toten, ohne jedoch auf Nationalitäten einzugehen oder diese namentlich zu identifizieren. Vgl. ders., Motive im Vorfeld der Demontage des »Eisernen Vorhangs« 1987– 1989, S. 130, S. 12 f. Ausgenommen Ungarn, da die Arbeitsgemeinschaft 13. August um Alexandra Hildebrandt ihre Quellen leider nicht preisgibt. Vgl. Hildebrandt, 1613 Todesoper – keine Endbilanz, S. 25 f. Zit. nach Cathrin Kahlweit, An der Grenze des Lebens. In : Süddeutsche Zeitung vom 6.5.2008 ( http ://www.sueddeutsche.de / politik / ddr - geschichte - an - der - grenze - des - lebens - 1.220403; 1.9.2013). Vgl. hierzu und im Folgenden Tantzscher, Die verlängerte Mauer, S. 3, 69. Alle Zahlen aus Wendt, Die deutsch - deutschen Wanderungen, S. 387–388.
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ber« tituliert, von genehmigten Dienst - oder Privatreisen in den Westen nicht zurück.15 Wie viele aber flohen über das sozialistische Ausland ? Ausweislich der Unterlagen der DDR - Staatsicherheit glückte seit dem Bau der Berliner Mauer 3 531 DDR - Bürgern die Flucht in die Bundesrepublik über andere Ostblockstaaten.16 Gleichwohl schätzt Monika Tantzscher, die die zugrundeliegenden Stasi Akten ausgewertet hat, dass die tatsächliche Zahl erfolgreicher Fluchtversuche wohl eher doppelt so hoch lag : zwischen 7 000 und 8 000 Menschen sollen es gewesen sein, denen auf diesem Wege die Flucht gelang.17 Wie risikoreich indes auch die Fluchtroute über andere Ostblockstaaten war, belegt das Verhältnis der gelungenen und misslungenen Versuche von etwa 1 :10 – so standen allein zwischen 1975 und 1988 den 1 617 erfolgreichen Fluchten 17 918 verhinderte gegenüber.18 Tantzscher selbst rechnet sogar mit einer noch weitaus höheren Zahl, nämlich mit rund 25 000 gescheiterten Fluchtversuchen seit dem Jahre 1971.19 Bevorzugtes Ziel fluchtwilliger DDR - Bürger war dabei die Tschechoslowakei – vor Ungarn und Bulgarien. Jedenfalls zeigen die in den Akten der Staatssicherheit enthaltenen Angaben über verhaftete und an die DDR ausgelieferte Flüchtlinge einen eindeutigen Trend auf : So überstellte die Tschechoslowakei zwischen 1963 und 1988 insgesamt 8 495 republikflüchtige Personen, Ungarn (3 769) und Bulgarien (1654) folgen mit deutlichem Abstand.20
7.2 1972 : mehr als 80 Prozent aller Fluchtversuche über sozialistische Drittstaaten Derlei Zahlen – obgleich sie nur einen Teil der gesamten Fluchtbewegung über die übrigen Staaten des Ostblocks widerspiegeln – machen eines deutlich : Zwar floh die Masse der DDR - Bürger auch weiterhin nicht über die sozialistischen »Bruderstaaten«, sondern fand andere Mittel und Wege, ihre Fluchtvorhaben zu realisieren. Zugleich aber war die Fluchtbewegung zu einem wesentlichen Faktor geworden, den die SED nicht mehr länger ignorieren konnte. Dabei setzte die Umorientierung der Menschen keineswegs über Nacht ein. Noch 1961 gelangten immerhin 51 624 DDR - Bürger ohne Genehmigung in die Bundesrepublik,21 die 15 16 17 18 19 20 21
Eisenfeld, Die Zentrale Koordinierungsgruppe. Bekämpfung von Flucht und Übersiedlung, S. 49, Anm. 230. Tantzscher, Die verlängerte Mauer, S. 77, 79. Ebd., S. 69. Ebd., S. 77. Ebd., S. 69. Ebd., S. 76. Ebd., S. 7.
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allermeisten von ihnen auf der traditionellen Westroute; danach nahm ihre Zahl allerdings rapide ab. Denn natürlich waren sich die verantwortlichen SED - Funktionäre darüber im Klaren gewesen, dass eine Abriegelung Berlins den Druck auf die innerdeutsche Grenze geradezu zwangsläufig erhöhen musste – die aber war zu jenem Zeitpunkt noch alles andere als systematisch ausgebaut; gerade einmal 9,5 Prozent (130 km ) der 1 393 km waren mit einfachen Drahtsperren gesichert.22 So setzte nahezu zeitgleich mit dem Bau der Berliner Mauer auch an der Westgrenze der DDR eine rege Bautätigkeit ein : Grenzzäune wurden errichtet, Stacheldrahtsperren installiert und Kfz - Sperrgräben ausgehoben. Vor allem aber wurden bis Anfang 1963 auf einer Länge von knapp 800 km Anti - Personen Minen vergraben. Deren Detonationskraft war ausreichend, um einem Menschen einzelne Gliedmaßen abzutrennen – Flüchtlinge, die nach Auslösung eines solchen Sprengkörpers nicht rechtzeitig gefunden wurden, verbluteten oftmals qualvoll. All dies wurde von der DDR - Bevölkerung natürlich registriert; der von den Minenfeldern ausgehende Abschreckungseffekt war denn auch wohlweislich einkalkuliert. Es überrascht von daher kaum, wenn sich unter fluchtwilligen DDR - Bürgern alsbald die Überzeugung durchsetzte, dass die Grenzen der übrigen Warschauer Pakt - Staaten durchlässiger und insgesamt auch weniger lebensbedrohlich wären; Fluchtversuche über das sozialistische Ausland mithin also eher Erfolg versprächen als solche über die innerdeutsche Grenze bzw. über Berlin.23 Trotz aller Geheimhaltung von offizieller Seite war man über die DDR - eigenen Grenzsicherungsanlagen eben doch besser informiert als über die der Nachbarstaaten, deren Grenzregime man zumeist allenfalls vom Hörensagen kannte. Und so gehört es zur Tragik der DDR - Fluchtbewegung über die übrigen Ostblockstaaten, dass man die dortigen Maßnahmen zur Grenzsicherung gemeinhin unterschätzte. Tatsächlich entsprachen derlei Annahmen eben nur z. T. den eigentlichen Verhältnissen vor Ort. So waren die Grenzen der entlang des Eisernen Vorhangs gelegenen Warschauer - Pakt - Staaten eben nur teilweise durchlässiger und weniger lebensbedrohlich als ihre Pendants auf Seiten der DDR; auch waren die Erfolgsaussichten entsprechender Fluchtversuche allenfalls zu bestimmten Zeiten an bestimmten Grenzen höher. Und während sich die Vorstellung von der Existenz eines vermeintlich humaneren Grenzregimes jenseits der südlichen Staatsgrenze der DDR grundsätzlich auf alle am Eisernen Vorhang gelegenen Ostblockstaaten übertragen ließ,24 sprachen für die ČSSR noch eine Reihe weite22 23 24
Vgl. hierzu und im Folgenden Lapp, Gefechtsdienst im Frieden, S. 32 ff. Vgl. Tantzscher, Die verlängerte Mauer, S. 7; Trutkowski, Der geteilte Ostblock, S. 96. So ging etwa eine unter DDR - Bürgern verbreitete, der Realität gleichwohl nur unzureichend entsprechende, zeitgenössische Einschätzung des bulgarischen Grenzregimes davon aus, dass »der Bulgare [...] auf seinem Esel sitzt, [...] Raki trinkt und [...] im Zweifel nichts merkt.« Zit. nach Sontheimer / Supp, Der letzte Schuss, S. 58.
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rer Gründe, weshalb gerade sie zum Ausgangspunkt zahlloser Fluchtversuche werden sollte. Da war zunächst ihre günstige geographische Lage – außer der Tschechoslowakei grenzte nur noch die Volksrepublik Polen als einziger Ostblockstaat unmittelbar an die DDR. Polen aber fehlte, da von Warschauer - Pakt - Staaten umgeben, was die Tschechoslowakei als »Frontstaat« naturgemäß besaß : eine gemeinsame Grenze zum freien Westen. Letzteres konnten zwar auch Ungarn und Bulgarien für sich beanspruchen, doch waren beide Staaten eben auch erheblich weiter von der Bundesrepublik, dem eigentlichen Ziel der Fluchtbewegung, entfernt. Hinzu kam noch : Obwohl im Laufe der 1960er Jahre die Binnengrenzen des Ostblocks allenthalben liberalisiert wurden,25 sie mithin also wesentlich durchlässiger wurden als der Eiserne Vorhang, musste dem fluchtwilligen DDR - Bürger doch daran gelegen sein, so wenige Grenzen wie möglich zu passieren. Denn Grenzen bedeuteten Grenzkontrollen, und mit jeder zusätzlichen Überprüfung erhöhte sich die Gefahr, entdeckt zu werden. Schließlich aber bedeutete selbst die Aufdeckung etwaiger Fluchtabsichten noch nicht unbedingt das Ende : Zumindest in den 1960er Jahren konnten sich die Menschen noch berechtigte Hoffnungen darauf machen, nicht zwangsläufig an die DDR ausgeliefert zu werden. Zwar existierte seit dem 11. September 1956 ein erstes Rechtshilfeabkommen (»Vertrag über den Rechtsverkehr in Zivil - , Familien - und Strafsachen«) zwischen DDR und ČSR, welches die gegenseitige Rückführung von straffällig gewordenen Ausländern gewährleisten sollte.26 Allerdings blieb Republikflucht als Auslieferungsgrund zunächst noch unberücksichtigt; wohl auch, weil entsprechende Delikte zum Zeitpunkt des Vertragsabschlusses in Bezug auf die Tschechoslowakei noch nicht in nennenswertem Umfang auftraten. Ein konkretes Auslieferungsabkommen, welches sämtliche Modalitäten der Rückführung von DDR - Bürgern regelte, die sich des ungesetzlichen Verlassens der Republik bzw. des ungesetzlichen Eindringens in die ČSSR schuldig gemacht hatten, wurde erst am 30. Juli 1967 (Protokoll »im Interesse der Erleichterung und Beschleunigung des Verkehrs bei Rechtshilfeleistung bezüglich der inneren und äußeren Sicherheit beider Staaten«) abgeschlossen. Doch selbst danach hielten sich die Tschechoslowaken nicht immer an die getroffenen Vereinbarungen – so kam es etwa während der liberaleren Ära des »Prager Frühlings«, in der Amtszeit von Innenminister Josef Pavel, zu keiner Rückführung von DDR - Bürgern.27 Nicht von ungefähr markierte das Jahr 1968 daher auch den Beginn jener Phase, in der die Fluchtbewegung über
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Vgl. Schultz, Von der Nachkriegsordnung zur postsozialistischen Staatenwelt, S. 19–28. Vgl. hierzu und im Folgenden Tantzscher, Die verlängerte Mauer, S. 43–44, 47; Trutkowski, Der geteilte Ostblock, S. 96–99. Tantzscher, Die verlängerte Mauer, S. 7.
Gescheiterte Fluchtversuche an den Staatsgrenzen von ČSSR und DDR
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den Ostblock jene über die innerdeutsche Grenze zeitweilig überflügelte.28 Noch bis 1967 war die Mehrheit aller Fluchtversuche an der Westgrenze registriert worden. Jetzt suchte eine Mehrzahl ihr Heil in der Flucht über einen anderen Ostblockstaat. Auf dem Höhepunkt dieser Entwicklung, im Jahr 1972, entschieden sich 83 Prozent für den Umweg über ein sozialistisches Drittland. Erst Mitte der 1970er Jahre sank der Anteil derer, die über das sozialistische Ausland zu fliehen suchten, wieder unter 50 Prozent.
7.3 Grenzsicherungssysteme der ČSSR Was nun konkret die Tschechoslowakei betraf, so hatten DDR - Bürger, deren Fluchtroute über deren Staatsgebiet verlief, nicht nur ein, sondern gleich zwei Grenzsysteme zu überwinden, welche sich in ihrer Ausgestaltung doch ganz erheblich voneinander unterschieden. Erstes Hindernis, das es dabei zu überwinden galt, bildete die südliche Staatsgrenze der DDR, welche hier auf einer Länge von insgesamt 454 km an die Tschechoslowakei grenzte. Seit die Regierungen beider Staaten am 23. Juni 1950 in Prag eine gemeinsame »Deklaration über die Zusammenarbeit und gegenseitige Unterstützung« unterzeichnet und darin sämtliche Gebiets - und Grenzfragen für obsolet erklärt hatten, galt die deutsch tschechoslowakische Grenze offiziell als »Freundschaftsgrenze.« Dieses für die Öffentlichkeit bestimmte Bild machte vergleichbare Maßnahmen der Grenzsicherung, wie sie künftig entlang der Grenze zur Bundesrepublik unternommen werden sollten, unmöglich, sofern die SED nicht jedwede Glaubwürdigkeit verlieren wollte.29 Was sich alsdann auch in der offiziellen Terminologie niederschlug : Während man im Westen, zur Bundesrepublik und am Ring um Berlin »Grenzsicherung« praktizierte, dienten die eingesetzten Verbände zur Tschechoslowakei lediglich der »Grenzüberwachung«.30 Anfangs waren es gerade einmal 770 Grenzpolizisten, denen die Aufgabe oblag, die Grenze zum südlichen Nachbarn zu kontrollieren; es versteht sich von selbst, dass die Überwachung alles andere als lückenlos ausfiel. Und bei dieser Konstellation blieb es auch, so lange die DDR existierte – wenn überhaupt, dann wurde die Zahl der eingesetzten Grenzposten eher noch verringert. So standen Mitte der 1970er Jahre, als die Sicherung der DDR - Außengrenzen längst den dem Ministerium für Nationale Verteidigung ( MfNV ) unterstellten Grenztruppen übertragen worden war, zwar zwei von insgesamt sechs Grenzregimentern an den Grenzen zu Polen und zur ČSSR. Doch ein Blick auf die Mannschaftsstärke hinter diesen Regimentern rela28 29 30
Vgl. hierzu und im Folgenden ebd., S. 7–12; Trutkowski, Der geteilte Ostblock, S. 102–103, 131– 132. Vgl. Trutkowski, Der geteilte Ostblock, S. 55–56. Vgl. hierzu und im Folgenden Lapp, Gefechtsdienst im Frieden, S. 196, 199–200.
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tiviert den ersten Eindruck sogleich wieder : Während an der Grenze zur Bundesrepublik Deutschland 30 000 Soldaten sowie in und um Berlin immer noch 8 000 standen, blieben für die übrigen beiden Grenzen gerade noch 600 Mann.31 Zudem existierten zumindest DDR - seitig praktisch keinerlei Sperranlagen, ein Ausbau fand einzig auf tschechoslowakischer Seite statt.32 Doch auch die Tschechoslowakei verzichtete zumindest entlang ihrer nördlichen Grenze auf den Einsatz von Sprengfallen und Hochspannungszäunen.33 Zu guter Letzt unterlagen die wenigen verbliebenen Grenztruppen, die DDR - seitig entlang der Grenze eingesetzt wurden, zwar ebenfalls einem Schießbefehl; ein Blick in die einschlägigen Schusswaffengebrauchsbestimmungen aber zeigt, dass dieser hier seit den 1960er Jahren zunehmend restriktiver ausgelegt wurde als an den Grenzen zum »nichtsozialistischen Ausland«.34 So lagen all jene, die sich zur Flucht über die Tschechoslowakei entschlossen hatten, zumindest in Bezug auf die südliche Staatsgrenze der DDR gar nicht mal so falsch, wenn sie davon ausgingen, dass diese weniger lebensbedrohlich sei als deren westliche Pendants. Seit nämlich mit dem Bau der Berliner Mauer auch die letzte Lücke im Eisernen Vorhang dauerhaft geschlossen worden war, glaubte die SED - Führung, gleichsam zum Ausgleich eine vorsichtige Lockerung des Grenzregimes im Süden riskieren zu können.35 Gemäß der offiziellen Staatspropaganda galt es, das »Zusammengehörigkeitsgefühl zu den Völkern des sozialistischen Lagers« zu stärken; dabei hatte die Parteispitze vor allem die Förderung des Touristenverkehrs im Blick. Noch in den 1950er Jahren waren Reisen für Privatpersonen über die sogenannte »Freundschaftsgrenze« hinweg nur in absoluten Ausnahmefällen genehmigt worden und auch dann nur für maximal drei Tage am Stück.36 Künftig sollte es DDR - Bürgern immerhin möglich sein, für wenigstens ein paar Wochen im Jahr die Tschechoslowakei besuchen zu können. Obwohl Reisen zunächst nur in bestimmte, ausschließlich grenznahe Gebiete gestattet wurden, stiegen die Besucherzahlen zwischen 1960 und 1963 sprunghaft an – von 63 600 auf 132 500. Eine weitere Liberalisierung stellte dann das im Juli 1967 geschlossene Abkommen über die Einführung des visafreien Grenzverkehrs dar, welches den Besuch des Nachbarlandes nicht länger von persönlichen Einladungen und polizeilichen Genehmigungen abhängig machte.37 In diesem Zusammenhang entfielen auch die letzten noch verbliebenen Gebietsbeschränkungen. Mit der Einführung des
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Vgl. Tantzscher, Die verlängerte Mauer, S. 36. Vgl. Lapp, Gefechtsdienst im Frieden, S. 196; Trutkowski, Der geteilte Ostblock, S. 76–78, 90. Trutkowski, Der geteilte Ostblock, S. 7. Vgl. das Kapitel »Schusswaffengebrauchsbestimmungen ( Auszüge )« bei Marxen / Werle ( Hg.), Gewalttaten an der deutsch - deutschen Grenze, S. 973–1002. Vgl. hierzu und im Folgenden Trutkowski, Der geteilte Ostblock, S. 81–82. Ebd., S. 63. Vgl. Schwarz, Brüderlich entzweit, S. 285–286.
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pass - und visafreien Reiseverkehrs zum 15. Januar 1972 fand diese Einwicklung dann ihren konsequenten Abschluss.38 Millionen von DDR - Bürgern sollten künftig in der Lage sein, die Tschechoslowakei vergleichsweise unbürokratisch, nämlich nur nach Vorlage eines Personalausweises, bereisen zu können. Nicht von ungefähr markierte das Jahr 1972 auch, wie bereits erwähnt, den Höhepunkt der DDR - Fluchtbewegung über die Staaten des Warschauer Pakts. Doch angekommen im sozialistischen Ausland, stand den DDR - Flüchtlingen das eigentliche Hindernis auf ihrem Weg in die Freiheit erst noch bevor – die tschechoslowakische Westgrenze. Hier, am Eisernen Vorhang, wo auf einer Länge von insgesamt 945 km die amerikanische und sowjetische Einflusssphäre aufeinander trafen, herrschte ein anderes Grenzregime vor; eines, das sich von seinem Charakter her nur unwesentlich von jenem an der innerdeutschen Grenze unterschied. Lange bevor die ersten DDR - Bürger Anfang der 1960er Jahre in nennenswerter Zahl die dortigen Grenzanlagen zu überwinden suchten, hatte die Tschechoslowakei damit begonnen, ein eigenes, für die Staaten des Ostblocks so typisches Grenzregime zu errichten.39 Erste Veränderungen zeichneten sich bereits Anfang 1949 ab; weniger als ein Jahr, nachdem die kommunistische Partei die Macht übernommen hatte. Verstärkt versuchten Tschechoslowaken daraufhin, ihr Land in Richtung Westen zu verlassen, worauf die neuen Machthaber in Prag mit der Militarisierung ihrer Grenzsicherung im Westen reagierten. Anfangs stand die geringe Mannschaftsstärke der Grenzwache einer effektiven Unterbindung illegaler Grenzübertritte noch entgegen, doch bis 1951 war ihre Zahl im Westen gegenüber der Bundesrepublik und Österreich auf rund 20 000 Mann angewachsen – und dabei sollte es auch, mit Ausnahme einer kurzen Episode während des »Prager Frühlings«, bis zum Zusammenbruch des kommunistischen Regimes bleiben. Zur militärischen Grenzsicherung kam ab 1951 auch die technische hinzu – in Form eines Sperrzauns, der sowohl in einfacher als auch in dreifacher Ausführung gebaut wurde.40 Parallel zum Zaun verlief durchgängig ein Spurensicherungsstreifen, der je nach Bodenbeschaffenheit entweder aus Sand oder aus Schnee bestand. Seit 1952 wurde der mittlere Zaun unter Hochspannung gesetzt, wobei die verwandten 6 000 Volt mehr als ausreichend waren, um einen Menschen zu töten. Zwar stand der Zaun nicht beständig unter Strom, wohl aber des Nachts oder bei schlechten Sichtverhältnissen. Auch zu Stoßzeiten, in denen mit einem hohen Flüchtlingsaufkommen zu rechnen war, blieb der Strom einge38 39 40
Vgl. Schultz, Von der Nachkriegsordnung zur postsozialistischen Staatenwelt, S. 22; Trutkowski, Der geteilte Ostblock, S. 115. Vgl. hierzu und im Folgenden Komlosy, Die Grenzen Österreichs zu den Nachbarn im RGW, S. 54; Pulec, Die Bewachung der tschechoslowakischen Westgrenze, S. 133–136. Vgl. hierzu und im Folgenden Pulec, Die Bewachung der tschechoslowakischen Westgrenze, S. 142–144.
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schaltet. 1954 wurde der erste Zaun, also jener, der am weitesten landeinwärts stand, um Signalanlagen ergänzt. Ferner wurden zwischen 1952 und 1957 an bestimmten Grenzabschnitten Minen, sowohl oberirdisch als auch unterirdisch, ausgelegt. Wegen häufiger Fehlzündungen sowie etlichen Verletzten auch unter den Angehörigen der eigenen Grenztruppen hat man diese allerdings später wieder entfernt. Erst 1965 wurde auch der Hochspannungszaun abgeschaltet, fortan stand nur noch der Signalzaun unter Schwachstrom. Die Sperranlagen verliefen im Übrigen nicht etwa unmittelbar hinter der Grenze, sondern etliche hundert Meter bzw. mehrere Kilometer landeinwärts. Die dahinter stehende Absicht war klar : nach Alarmauslösung sollte noch genügend Zeit verbleiben, den potentiellen Flüchtling auf eigenem Territorium zu stellen. Wie in der DDR, so war auch in der Tschechoslowakei das grenznahe Gebiet in Grenz - bzw. Sperrzonen unterteilt, für deren Betreten spezielle Genehmigungen erforderlich waren.41 In der zwei Kilometer breiten Sperrzone durften sich sogar nur Angehörige der Grenztruppen aufhalten. Die komplette Entvölkerung ganzer Landstriche auf der tschechoslowakischen Seite der Grenze wurde durch den Umstand begünstigt, dass hier zuvor mehrheitlich Deutsche gewohnt hatten, die 1945 vertrieben worden waren.42 In der sich daran anschließenden, bis zu 15 km weit ins Landesinnere reichenden Grenzzone durften sich Zivilpersonen nach Anbruch der Dunkelheit wiederum nur auf bestimmten, öffentlichen Wegen aufhalten. Auch hatte man in einer Tiefe von bis zu acht Kilometer landeinwärts sämtliche Wegweiser und Richtungsschilder demontiert. Zwar hob man Mitte der 1960er Jahre die Sperrzone ganz auf und verkleinerte auch die Grenzzone bis auf wenige Kilometer; Aufklärungsstreifen und Zivilfahnder operierten nichtsdestotrotz auch weiterhin viele Kilometer landeinwärts. Auch wenn die Tschechoslowakei auf die Installation von Selbstschussanlagen verzichtete – geschossen wurde stattdessen von den Grenztruppen selber. Von den neun DDR - Bürgern, die hier zwischen 1948 und 1989 den Tod fanden, starben fünf infolge von Schussverletzungen.43 Dabei bleibt festzuhalten, dass die Zahl der toten DDR - Flüchtlinge nur einen Bruchteil jener Opfer darstellte, die das tschechoslowakische Grenzregime insgesamt forderte – mehrere hundert Menschen fanden hier im Grenzgebiet den Tod; mindestens 145 von ihnen wurden erschossen, weitere 96 starben nach Berührung der unter Starkstrom stehenden Zaunanlage.44 Unter den Toten waren neben DDR - Bürgern auch Westdeutsche, Österreicher und Polen; das Gros aber bildeten Tschechoslowaken. Wie das Grenzregime der DDR richtete sich auch das tschechoslowakische primär gegen die eigene Bevölkerung. 41 42 43 44
Vgl. ebd., S. 144 f. Komlosy, Die Grenzen Österreichs zu den Nachbarn im RGW, S. 53. Vgl. Pulec, Die Bewachung der tschechoslowakischen Westgrenze, S. 147–152. Vgl. ebd., S. 146.
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Von einem weniger lebensbedrohlichen Grenzregime konnte also zumindest entlang der tschechoslowakischen Westgrenzen keine Rede sein. Auch hier zählte das Leben eines Flüchtlings im Zweifel wenig bis gar nichts. Wie aber stand es um die Erfolgsaussichten derartiger Fluchtversuche ? Während die Fluchtroute über den Ostblock in den 1970er Jahren ganz erheblich an Attraktivität gewann – mit dem bereits erwähnten Spitzenwert von 83 Prozent im Jahre 1972 – fiel die Zahl der erfolgreichen Fluchtversuche auf gerade noch 1 026, gegenüber 7 450 in die DDR rücküberführter Flüchtlinge.45 Noch in den 1960er Jahren hatte die Erfolgsquote bei 46 Prozent gelegen.46 Anfang der 1980er Jahre attestierte das MfS speziell seinen tschechoslowakischen Kollegen sogar eine Aufklärungsquote von rund 90 Prozent.47 Der Freiheitsdrang der Menschen blieb dennoch unvermindert. Trotz der hohen Zahl misslungener Fluchtversuche wagte auch in den 1980er Jahren noch immer rund ein Drittel aller DDR - Flüchtlinge die Flucht über den Ostblock – mit dem Mute der Verzweiflung, bei gleichbleibend geringen Erfolgsaussichten.48 Es bleibt daher festzuhalten, dass Fluchtversuche über die Staaten des Warschauer Pakts nur so lange einigermaßen erfolgversprechend ausfielen, wie die zugehörige Fluchtbewegung noch keine Massenbewegung war. Nachdem sich die Route erst herumgesprochen hatte, war es eigentlich schon wieder zu spät. Wobei die übergroße Mehrheit aller Fluchtversuche von DDR - Bürgern nicht erst an den tschechoslowakischen Westgrenzen scheiterte, sondern regelmäßig schon davor, bisweilen sogar noch vor der eigentlichen Ausreise. Schon um die tschechoslowakischen Dienste nicht über Gebühr zu belasten, war die Staats - und Parteiführung der DDR darum bemüht, etwaige Republikfluchten über das sozialistische Ausland vor allem präventiv zu vereiteln.49 Ihr Ziel war es, Fluchtversuche möglichst schon im Vorfeld zu unterbinden, noch bevor der DDR - Bürger ein anderes Ostblockland überhaupt erreicht hatte. Entsprechend wurden Prävention und Fahndungsarbeit gegen die Fluchtbewegung großgeschrieben : Seit den 1960er Jahren wurde so nach und nach ein dicht gestaffeltes Kontrollsystem geschaffen, das die Überwachung der eigenen Staatsbürger auch im Ausland sicherstellen sollte. Falls es nicht schon gelang, den potentiellen Republikflüchtigen aufgrund von Erkenntnissen der Volkspolizei bzw. der Staatssicherheit vor Antritt seiner Reise festzusetzen, griff die zweite Stufe, der sogenannte Filtrierungsprozess, beim Passieren der Grenze. So hatten 45 46
47 48 49
Vgl. Tantzscher, Die verlängerte Mauer, S. 76 f. Wenngleich sich die absoluten Zahlen auf wesentlich niedrigerem Niveau bewegten. So standen im ersten Jahrzehnt nach dem Mauerbau 1 394 geglückte Fluchten 1 689 gescheiterte gegenüber, deren Teilnehmer in die DDR zurückgebracht wurden. Vgl. ebd., S. 76, 79. Vgl. ebd., S. 13. Vgl. ebd., S. 70. Vgl. hierzu und im Folgenden Tantscher, Die verlängerte Mauer, S. 5 f., 69 f.
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MfS - Kontrolleure an den Grenzübergängen unter anderem die Befugnis, DDR Bürger, die im Verdacht standen, ihre Auslandsreise zur Republikflucht nutzen zu wollen, vom pass - und visafreien Grenzverkehr auszuschließen.50 Schließlich wurde das MfS auch im Ausland aktiv : Um fluchtwilligen DDR - Bürgern, die nicht bereits im Vorfeld ihrer Reise identifiziert werden konnten, auch noch auf tschechoslowakischem Boden habhaft werden zu können, hatte sich die DDR mit ihrem Wunsch durchgesetzt, MfS - Operativgruppen auch in der ČSSR stationieren zu dürfen.51 1965 kam die erste in Prag zum Einsatz, später wurden weitere in Bratislava / Preßburg und Karlovy Vary / Karlsbad stationiert. Bald waren die Auslandsvertretungen des staatlichen Reisebüros der DDR und der Organisation Jugendtourist mit inoffiziellen Mitarbeitern ( IMs ) durchsetzt, und in der Hauptsaison dienten MfS - Mitarbeiter als Reiseleiter bzw. wurden in Reisegruppen eingesetzt. So konnte der Druck auf die tschechoslowakischen Westgrenzen allein schon präventiv entscheidend gesenkt werden.
7.4 Grenztote in der ČSSR und der DDR Zu den gravierendsten Verbrechen der kommunistischen Diktatur in der Tschechoslowakei gehört die Tötung von mehr als 300 Personen entlang der Staatsgrenze durch die tschechoslowakische Grenzwache in den Jahren 1948 bis 1989.52 Davon wurden 145 Frauen und Männer erschossen, 96 durch Stromschläge getötet, elf ertranken, derweil 16 aus Angst vor ihrer Festnahme Selbstmord begingen.53 Zu den Opfern zählen nicht nur tschechoslowakische Staatsbürger, sondern auch Staatsangehörige mittel - und osteuropäischer Staaten, aber in erster Linie natürlich Bürger der DDR, die versucht hatten, über die Tschechoslowakei in den Westen zu fliehen. Nicht zuletzt gefährdete der Schusswaffeneinsatz an der Grenze auch die Gesundheit und das Leben bundesdeutscher und österreichischer Staatsangehöriger – einige der Grenztoten waren Bürger der westlichen Anrainerstaaten. Dies stellte eine grobe Verletzung internationalen Rechts dar.54 Doch gab es auch auf Seiten der Grenzwachen zahlreiche Tote. So kamen zwischen 1948 und 1989 mindestens 584 Grenzsoldaten ums Leben.55 Davon verüb-
50 51 52 53 54 55
Vgl. Trutkowski, Der geteilte Ostblock, S. 126. Vgl. hierzu und im Folgenden Tantzscher, Die verlängerte Mauer, S. 21–22; Trutkowski, Der geteilte Ostblock, S. 134–136. Úřad dokumentace a vyšetřování zločinů komunismu, Oběti komunistického režimu ( http:// www.policie.cz / clanek / obeti - komunistickeho - rezimu.aspx; 17.6.2013). Pulec, Die Bewachung der tschechoslowakischen Westgrenze, S. 146. Lehký, Klasifikace zločinů spáchaných v letech 1948–1989 a jejich stíhání po roce 1990, S. 277. Úřad dokumentace a vyšetřování zločinů komunismu, Oběti komunistického režimu ( http :// www.policie.cz / clanek / obeti - komunistickeho - rezimu.aspx; 17.6.2013).
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ten 185 Selbstmord, 243 starben infolge verschiedener Unfälle und Zwischenfälle, darunter 39 aufgrund von Schussverletzungen.56 Damit lag die Zahl der getöteten Grenzsoldaten fast dreimal so hoch wie die der von der Grenzwache Getöteten selbst, also jener, die bei dem Versuch, die Grenze zu überqueren, erschossen wurden. Die hohe Zahl der Suizide unter den Grenzsoldaten legt nahe, dass der Dienst an der Grenze, welcher ständig den potentiellen Einsatz der Schusswaffe gegen Unschuldige in sich barg, von vielen Grenzsoldaten nur mit äußerstem Unwillen ausgeübt wurde.57 Was Existenz und Ausrichtung menschenverachtender Grenzsicherungssysteme entlang der eigenen Staatsgrenzen zum freien Westen hin betraf, waren DDR und ČSSR, wie dargestellt, durchaus miteinander vergleichbar. Trotz ähnlicher Landes - und Bevölkerungsgröße fällt eine Bilanz des DDR - Grenzregimes jedoch – zumindest, wo sich diese in absoluten Zahlen ausdrückt – noch um einiges verheerender aus. Und das hängt vor allem damit zusammen, dass der Druck, welcher auf den Außengrenzen der DDR wenigstens entlang der innerdeutschen Grenze und am Ring um Berlin lastete, um ein Vielfaches größer war als jener, wie ihn auch die tschechoslowakischen Genossen kannten. Gewiss gab es auch hier seit der Machtübernahme durch die kommunistische Partei im Jahre 1948 nicht unerhebliche Bestrebungen innerhalb der Bevölkerung, das gerade erst in den Grenzen von vor 1938 wieder erstandene Land von neuem zu verlassen – zumindest, soweit es jenen Teil betraf, der sich mit den neuen Machthabern in Prag nicht arrangieren konnte oder wollte. Doch gab es weder für Tschechen noch Slowaken einen natürlichen Fix - und Angelpunkt, auf den sich ihre Fluchtgedanken hätten konzentrieren können. Eine gänzlich andere Situation bot sich demgegenüber all jenen auswanderungswilligen DDR - Bürgern, die Bonn mit offenen Armen und bunderepublikanischer Staatsbürgerschaft empfing. Viele hatten ohnehin noch Verwandte im Westen; eine etwaige Sprachbarriere, welche die Integration in die westdeutsche Gesellschaft darüber hinaus erschwert hätte, existierte ebenfalls nicht. Entsprechend groß war ihr Exodus – allein bis zum Mauerbau im Jahre 1961 verließen so rund 2,6 Mio. Menschen die DDR gen Westen, die meisten von ihnen für immer.58 Für die SED - Führung ging es also schlichtweg ums nackte Überleben ihres Regimes – die fortwährende Existenz der DDR hing entscheidend davon ab, dass es ihnen gelang, den beständigen Aderlass einzudämmen und unter Kontrolle zu bekommen. Dieser fundamentale Unterschied schlägt sich selbstverständlich auch in den Opferzahlen nieder, zumindest dort, wo diese schon in verlässlicher Qualität vor56 57
58
Ebd. Dies entspricht auch der persönlichen Erfahrung des Zeitzeugen und Mitautors, Karel Vodička, der noch in der kommunistischen Ära in der Tschechoslowakei den Pflichtmilitärdienst ableisten musste. Wendt, Die deutsch - deutschen Wanderungen, S. 387.
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liegen. Denn bis dato wurden nur bestimmte Grenzabschnitte wissenschaftlich untersucht und aufbereitet; gerade für den so bedeutenden Bereich der innerdeutschen Grenze liegen abschließende Ergebnisse bislang noch nicht vor. Was existiert, ist eine umfassende Bilanz des Grenzregimes an der Berliner Mauer, hier hat es zwischen 1961 und 1989 nachweislich 136 Todesopfer gegeben, davon 97 infolge von Schussverletzungen.59 Der Rest verunglückte oder nahm sich in auswegloser Lage das Leben. Unter den Toten waren auch acht Grenzsoldaten, die in Ausübung ihres Dienstes bei Fluchtversuchen Dritter, zumeist fahnenflüchtiger Kameraden, getötet wurden. Die übrigen Grenzabschnitte harren, mit Ausnahme der für die Gesamtbilanz eher weniger ins Gewicht fallenden sächsisch - bayerischen und sächsisch - tschechischen Bereiche, noch der Aufarbeitung.60 In welcher Größenordnung sich die schlussendlichen Zahlen bewegen werden, lassen eine Reihe weiterer, wenngleich nicht immer mit wissenschaftlichem Hintergrund, erschienener Veröffentlichungen zumindest erahnen. So zählte die mit der juristischen Aufarbeitung der Grenztoten betraute Berliner Staatsanwaltschaft im Jahre 2000 insgesamt 270 Tote, von denen sich nur rund ein Drittel ( nämlich 109) am Berliner Ring zutrugen.61 Zahlen, die in jedem Fall zu niedrig liegen, da sie nur solche Fälle erfassen, die auch ein strafrechtlich relevantes Fremdverschulden beinhalten. Am anderen Ende des Spektrums operiert die »Arbeitsgemeinschaft 13. August« um Alexandra Hildebrandt, die 2011 von immerhin 1 613 Todesopfern ausging. Eine Zahl, die neben der innerdeutschen Grenze (671) und am Ring um Berlin (528) auch etwaige Todesfälle an der Ostseeküste (187) und den übrigen Ostblockstaaten (80) umfasst.62 Auch wenn deren Angaben mit Sicherheit zu hoch ausfallen – u. a. aufgrund fragwürdiger Grenzopfer - Definitionen und intransparenter Quellenlage – mit 400 bis 500 vom DDR - Grenzregime zu verantwortender Toter dürfte in jedem Fall zu rechen sein.63
59 60
61 62 63
Vgl. Hertle / Nooke, Die Todesopfer an der Berliner Mauer, S. 18–20. Diese Einschränkung betrifft im ersteren Fall die Länge des fraglichen Grenzabschnitts – so machte die sächsisch - bayerische Grenze lediglich 41 km der insgesamt 1 393 km langen innerdeutschen Grenze aus –, im letzteren Fall den Umstand, dass die 454 km lange sächsisch - tschechische Grenze die meiste Zeit über tatsächlich der durchlässigere, weil nicht als Systemgrenze ausgebaute Grenzabschnitt war. In der Bilanz kommt Jan Gülzau auf insgesamt 21 Todesopfer, elf entlang der sächsisch - bayerischen und zehn entlang der sächsisch - tschechischen Grenze. Vgl. Gülzau, Grenzopfer an der sächsisch - bayerischen und sächsisch - tschechischen Grenze, S. 12–14. Zit. nach Hertle, Die Todesopfer an Mauer und Grenze, S. 671. Vgl. Hildebrandt, 1613 Todesoper – keine Endbilanz, S. 5. Extrapoliert man etwa die von Hertle / Nooke ermittelten Zahlen für die Berliner Mauer (136), ausgehend von denen der Berliner Staatsanwaltschaft (86 in Berlin von 1961–1989, 270 insgesamt ), auf die übrigen Außengrenzen hoch, so wäre mit insgesamt 427 Grenztoten zu rechnen.
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Welche Zahl auch immer am Ende stehen wird,64 sie wird in jedem Fall zu niedrig sein. Denn zum einen lässt sich nicht jeder Grenztote nach z. T. über sechs Jahrzehnten zweifelsfrei in der archivalischen Überlieferung nachweisen, so er denn seinerzeit überhaupt eindeutige Spuren hinterlassen hat, zum anderen greift der Begriff Grenzopfer natürlich zu kurz, wollte man ihn allein auf die Zahl der Toten beschränken. Letztlich war jeder DDR - Bürger, der in seinem Menschenrecht auf Freizügigkeit und Auswanderung65 beschnitten wurde, im weitesten Sinne ein Opfer der Grenze. Nicht von ungefähr stand deshalb die Frage der Auslandsreisen ganz oben auf der Agenda der Demonstranten im Herbst 1989. Und nicht von ungefähr war der Untergang der DDR besiegelt, nachdem sie ihren Bürgern schließlich eingestanden hatte, wonach es diesen verlangte : Reisefreiheit.
7.5 Opferschicksale an DDR - Außengrenzen Während die Mehrzahl der getöteten DDR - Flüchtlinge, die den Weg über die Tschechoslowakei auf sich genommen hatte, an deren Westgrenzen zu Tode kam, forderte auch die »Freundschaftsgrenze« zwischen der DDR und der ČSSR ihren Tribut – auch hier kamen mindestens zehn Menschen ums Leben, die Hälfte von ihnen bereits vor 1961.66 Sie fielen einem Grenzregime zum Opfer, das sich zumindest Ende der 1940er und während der gesamten 1950er Jahre hindurch so gar nicht mit der offiziellen Propaganda einer Grenze zweier miteinander befreundeter Staaten vertrug. Das lag nicht so sehr an der DDR, die hier an ihrer Südgrenze weitaus weniger offensiv in Erscheinung trat und eher auf polizeiliche bzw. geheimdienstliche Aufklärung setzte.67 Vielmehr waren es die Tschechoslowaken, die erhebliche Anstrengungen zur Grenzsicherung auf sich nahmen, und das bereits in den ersten Nachkriegsjahren. Eine Erklärung hierfür liefert die 64
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Schon jetzt haben die mit der Untersuchung der innerdeutschen Grenze betrauten Wissenschaftler der Freien Universität Berlin in einer ersten Zwischenbilanz den Fund von insgesamt 43 bis dato unbekannten Todesfällen im Zusammenhang mit dem DDR - Grenzregime bekannt gegeben. Vgl. Albert Funk, Die unbekannten Toten an der DDR - Grenze. In : Der Tagesspiegel vom 8.11.2013 ( http ://www.tagesspiegel.de / politik / fu - forscher - ermitteln - 43–neue - faelle - die unbekannten - toten - an - der - ddr - grenze /9051116.html; 1.3.2014). »Artikel 13-1. Jeder hat das Recht, sich innerhalb eines Staates frei zu bewegen und seinen Aufenthaltsort frei zu wählen. 2. Jeder hat das Recht, jedes Land, einschließlich seines eigenen, zu verlassen und in sein Land zurückzukehren.« Zit. nach Resolution 217 A ( III ) der Generalversammlung der Vereinten Nationen vom 10. 12. 1948. Allgemeine Erklärung der Menschenrechte ( http ://www.un.org / depts / german / grunddok / ar217a3.html; 1.3.2014). Vgl. das Kapitel »Grenzopfer entlang der sächsisch - tschechischen Grenze 1947–1989« bei Gülzau, Grenzopfer an der sächsisch - bayerischen und sächsisch - tschechischen Grenze, S. 45– 61. Vgl. hierzu und im Folgenden Trutkowski, Der geteilte Ostblock, S. 75–78.
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unterschiedliche Interessenlage vor Ort : Sofern sich die politisch Verantwortlichen in der Sowjetischen Militäradministration ( SMAD ) überhaupt über eine Fluchtbewegung aus der SBZ in den Westen sorgten – gerade in der unmittelbaren Nachkriegszeit bedeutete jeder Flüchtling eine Person weniger, welche die ohnehin knappen Ressourcen belastete –, verlief diese nahezu ausnahmslos über die Demarkationslinie, nicht aber über die südliche Grenze zur ČSR. Umgekehrt hatte die Tschechoslowakei ein gesteigertes Interesse an einer Abschottung der Grenze zu ihrem nördlichen Nachbarn, um einen Rückfluss der bereits vertriebenen Sudetendeutschen zu unterbinden.68 Während mangelhafte Ausrüstung und fehlendes Personal dafür sorgte, dass auch hier die Grenzsicherung zunächst vergleichsweise lückenhaft blieb, existierte auf tschechoslowakischer Seite bereits ein strikter Schießbefehl, welcher sich zum Teil explizit gegen deutsche Staatsangehörige richtete. So hieß es in einer Bekanntmachung vom 15. Oktober 1945 : »Gegen eine Person, die die Grenze an anderen Orten [ als den ausgewiesenen Grenzübergängen ] überschreitet, und gegen Personen deutscher Nationalität, die zu Unrecht den Wald betreten, wird die Waffe wie gegen einen gefährlichen Verbrecher gebraucht, und sie werden wie ein solcher erschossen.«69 Und wo die DDR auf den Aufbau von Sperranlagen weitgehend verzichtete, begann die Tschechoslowakei ab 1951 mit der Errichtung eines mehrstufigen Grenzsicherungssystems.70 Von den DDR - Bürgern, die hier vor 1961 zu Tode kamen, trug sich denn auch kein einziger nachweislich mit Fluchtgedanken.71 Oftmals waren sie einfach nur zur falschen Zeit am falschen Ort, oder wurden Opfer einer Verwechslung. Kurzum, sie wurden zu Kollateralschäden eines Grenzregimes, das sie zwar gar nicht primär im Visier hatte, Todesfälle wie die folgenden jedoch billigend in Kauf nahm : Mutmaßlich einem Missverständnis fiel der 20 - jährige Dreher Werner Gerecke 1948 nahe der sächsischen Ortschaft Rittersgrün zum Opfer.72 Tagsüber war Gerecke geschäftlich in Oberwiesenthal gewesen; jetzt, in den Abendstunden des 5. Oktober 1948, befand er sich mit zwei Kollegen auf der Rückfahrt ins heimatliche Aue. Die Fahrtroute verlief in unmittelbarer Nähe der Grenze zur ČSR, in Höhe Rittersgrün trafen die drei auf einen Posten der deutschen Grenzpolizei. Die beiden Polizisten hatten strikten Befehl, jedes Fahrzeug, das sich ihnen näherte, anzuhalten und zu kontrollieren. Während einer der beiden mittels Signalleuchte zu verstehen gab, den Wagen zu stoppen, entsicherte der andere 68 69 70 71 72
Vgl. ebd., S. 26–29. Zit. nach ebd., S. 28. Vgl. hierzu ebd., S. 76–78, 181. Vgl. hierzu und im Folgenden die Fallbeispiele bei Gülzau, Grenzopfer an der sächsisch - bayerischen und sächsisch - tschechischen Grenze, S. 45–51. Vgl. hierzu ebd., S. 45–47.
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seinen Karabiner. Als der in gemächlichem Tempo fahrende Gerecke nur noch wenige Meter entfernt war, trat der Signalgeber beiseite, in der irrigen Annahme, dass der 20 - Jährige sein Fahrzeug schon zum Stehen bringen würde. Doch der stoppte nicht etwa, sondern setzte seine Fahrt vielmehr bei konstanter Geschwindigkeit fort. Hatte er den Wachposten übersehen, oder einfach nur dessen Beiseitetreten als Signal zur Weiterfahrt missdeutet ? Sicher ist nur, dass der absichernde Grenzpolizist daraufhin zur Waffe griff. Laut späterer Vernehmung ausdrücklich nur, um den Wagen zum Stehen zu bringen. Doch sein Schuss drang als Querschläger von der Fahrbahn in den Innenraum des Pkws ein, wo er den Fahrersitz durchschlug und Gerecke im Rücken traf. Gerade noch so konnten dessen Kollegen Gereckes Fuß vom Gaspedal nehmen und das Fahrzeug zum Stehen bringen. Für den 20 - Jährigen kam indes jede Hilfe zu spät – mit zerfetzter Herzschlagader starb er noch am Tatort. Ebenfalls nicht an Flucht dürfte der 27 - jährige Arno Martin gedacht haben, als er am Abend des 22. Juni 1950 im zwischen Bad Elster und Bad Brambach gelegenen Gürth das elterliche Haus zum Rasenmähen verließ.73 Wie praktisch alle Grundstücke der kleinen Ortschaft befand sich auch das eigene in unmittelbarer Grenznähe. Vermutlich aus einem Moment der Unachtsamkeit heraus überquerte Martin die Staatsgrenze zur Tschechoslowakei. Eine Grenzstreife der ČSR, die das ganze beobachtet hatte, nahm den 27 - Jährigen daraufhin noch am Ort des Geschehens fest. Nachdem die Soldaten Martin in einen Truppentransporter verbracht hatten, hörte dessen ebenfalls anwesende Mutter zwei Schüsse – angeblich habe sich der junge Deutsche seiner Festnahme widersetzt. Getroffen in Bauch und Oberschenkel, erlag Martin noch am selben Tag im Krankenhaus seinen Verletzungen. Vergleichbare Fälle, in denen Menschen der Grenzsicherung zum Opfer fielen, ohne die Grenze selbst übertreten zu haben oder sich überhaupt nur mit Fluchtgedanken zu tragen, gab es zwar damals auch entlang der innerdeutschen Grenze. Sie blieben aber eher die Ausnahme. Eine solche stellt der Fall Helmut Schwab dar, der am Abend des 1. August 1958 im heimatlichen Bobenneukirchen – die im sächsischen Vogtland gelegene Ortschaft lag innerhalb der 1952 neu geschaffenen 5- km - Sperrzone – von einer Filmvorführung in der lokalen Gaststätte nicht wieder zurückkehren sollte.74 Der Film selbst war wegen eines Gewitters ausgefallen, stattdessen hatte Schwab die Wartezeit mit alkoholischen Getränken überbrückt und dabei den Kontakt zur ihm flüchtig bekannten Annelies G. gesucht. Die aber hatte Schwabs Avancen nicht erwidert, im Gegenteil – auf dem gemeinsamen Nachhauseweg ließ sie ihn im wahrsten Sinne des Wortes im Regen stehen. Der 23 - Jährige, von der schroffen Abweisung mutmaßlich verär73 74
Vgl. hierzu ebd., S. 48–49. Vgl. hierzu ebd., S. 26–30.
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gert und darüber hinaus noch unter Alkoholeinfluss stehend, machte auf dem Absatz kehrt und bewegte sich in entgegengesetzter Richtung vom elterlichen Haus fort, hin zum südlichen Ortsausgang. Dort lief er einem Postenpaar der Deutschen Grenzpolizei über den Weg, welches hier an diesem Tag außerplanmäßig zur Hinterlandssicherung eingesetzt war und ihn dazu aufforderte, sich auszuweisen. Schwab hatte seine Papiere nicht dabei, die ihn zum Aufenthalt in der Sperrzone berechtigt hätten – mutmaßlich der Grund, weshalb er der Aufforderung der Polizisten zunächst nicht Folge leistete. Fluchtabsichten jedenfalls wird man ihm wohl kaum unterstellen können. Was genau sich in den nächsten Minuten abspielte, bleibt leider unklar, sicher ist nur soviel : Es fielen mindestens zwei Schüsse, und einer davon traf Schwab tödlich in den Hals. Um 21.30 Uhr starb der Getroffene noch am Unglücksort, Todesursache : Verbluten. Anders stellte sich die Situation nach 1961 dar – bei den jetzigen Toten handelte es sich i. d. R. auch um Flüchtlinge. Ein einzelner war darunter, der auf seiner Flucht selbst zum Täter wurde, bevor die Grenze ihm schließlich doch zum Verhängnis wurde : So versuchte 1963 der flüchtige NVA - Unteroffizier Dieter Sudars, sich den Weg in den Westen mit Waffengewalt freizuschießen.75 Am späten Abend des 26. August 1963 geriet er zwei Kilometer ostwärts von Unterwiesenthal in eine Personenkontrolle tschechoslowakischer Grenzsoldaten. Sudars ging wohl nicht zu Unrecht davon aus, dass die Grenzer von seiner mittlerweile mehrere Tage zurückliegenden Fahnenflucht zwischenzeitlich Kenntnis erlangt hatten – und eröffnete präventiv das Feuer. Den Gefreiten Jaroslav Soukup verletzte er dabei so schwer, dass dieser knapp zwei Monate später im Krankenhaus verstarb. Sudars selbst dürfte mit einer derartigen Entwicklung nicht unbedingt gerechnet haben; die Grenze zur Bundesrepublik war noch rund 75 km entfernt, Sudars nur zu Fuß unterwegs, und jetzt hatte er auch noch die tschechoslowakische Grenzsicherung im Nacken, die Jagd auf ihn machte. 12 Stunden lang irrte er durchs Grenzgebiet, mehrfach gelang es ihm, seine Verfolger abzuschütteln, doch um die Mittagszeit des 27. August hatten ihn die Tschechoslowaken schließlich eingekreist. Sudars Flucht kam sechs Kilometer südlich von Oberwiesenthal zu einem abrupten Ende, als ihn eine Kugel aus der Waffe seiner Verfolger tödlich traf. Eindeutige Fluchtabsichten trug auch der 19 - jährige Michael Kühnel mit sich, der laut Aktenlage letzte DDR - Bürger, welcher an der »Freundschaftsgrenze« zu Tode kam.76 In der vorweihnachtlichen Nacht vom 18. auf den 19. Dezember 1978 überquerte er gemeinsam mit einem Freund die deutsch - tschechoslowakische Grenze in einem Waldstück im Raum Neugersdorf. Ein legaler Grenzübertritt wäre den beiden jungen Männern nicht möglich gewesen; als Inhaber eines 75 76
Vgl. hierzu ebd., S. 52–54. Vgl. hierzu ebd., S. 60–61.
Gescheiterte Fluchtversuche an den Staatsgrenzen von ČSSR und DDR
293
vorläufigen Personalausweises PM 12 waren sie von Auslandsreisen ausdrücklich ausgeschlossen. Von Neugersdorf aus wollten die beiden per Motorrad die Grenze zur Bundesrepublik erreichen. Jedoch blieben sie nicht unbemerkt – entweder erwischte sie die tschechoslowakische Grenzsicherung bereits auf frischer Tat, oder aber sie zogen erst im Anschluss die Aufmerksamkeit der Polizei aufgrund ihrer zu schnellen Fahrweise auf sich; hier bleiben die wenigen erhalten gebliebenen MfS - Unterlagen leider unklar. Anstatt aufzugeben, suchten die beiden ihr Heil lieber in der Flucht – bei Litvinov / Most rasten sie frontal in eine Straßensperre der tschechoslowakischen Polizei. Kühnel verstarb noch auf dem Weg ins Krankenhaus; sein Mitfahrer erlitt mehrere Knochenbrüche. Erst zwei Monate später war er wieder transportfähig, woraufhin er an die DDR ausgeliefert wurde. Während sich die Situation an der Grenze zur Tschechoslowakei in den 1970er Jahren jedoch insgesamt merklich entspannte und mit Kühnel nur ein einziger DDR - Bürger hier ums Leben kam, ging das Sterben an der innerdeutschen Grenze unvermindert weiter. Besonders tragisch mutet dabei der Fall des Dresdner Elektroingenieurs Wolfgang Schumann an, der sich im Innern eines Öltanks einer für den Export bestimmten Spritzgussmaschine versteckte und so – letztlich vergeblich – versuchte, die DDR - Grenzkontrollen zu umgehen.77 Sein Arbeitgeber, das Plastmaschinenwerk Freital, stellte derartige Automaten her und als Mitarbeiter mit Zugang zum Betriebsgelände ergab sich für Schumann die Gelegenheit, in einem unbeobachteten Moment in eine solche Maschine einzusteigen. Als einer, der seit seinem 17. Lebensjahr in seiner Freizeit begeistert Höhlen erkundete, hatte er mit engen Räumen kein Problem. Mit reichlich Proviant für mehrere Tage versehen, ließ sich Schumann von einem Mitwisser, mutmaßlich in der Nacht vom 6. auf den 7. September 1977, im Hydrauliköltank eines derartigen Gefährts einschließen. Doch war Schumanns Plan wohl schon im Anfangsstadium zum Scheitern verurteilt, hatte er sich doch im Auslieferungstermin geirrt. Selbst wenn alles nach Plan gelaufen wäre, hätte die Maschine das Betriebsgelände frühestens am 24. September verlassen, so aber ging sie gar erst am 29. September auf Reisen. Zu diesem Zeitpunkt war Schumann lange tot, erstickt an den im Tank befindlichen Ölresten, welche noch von einem früheren Probelauf herrührten. Alle mitgenommenen Uhren blieben am 8. September 1977 stehen. Obgleich der 28 - Jährige bald als vermisst gemeldet wurde, kamen ihm die Fahnder von Polizei und Staatssicherheit – ein etwaiger Fluchthintergrund stand von Anfang an im Raum, hatte Schumann doch bereits einen abgelehnten Ausreiseantrag gestellt – zunächst nicht auf die Spur. Gefunden wurden seine sterblichen Überreste erst am 7. November 1977 im bayerischen Kaufbeuren. Angestellte der dortigen Firma Schlotter, welche den Spritzgussauto77
Vgl. hierzu ebd., S. 32–39.
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Jan Gülzau / Karel Vodička
maten geordert hatte, hatten hier zunächst vergeblich versucht, die Maschine zum Laufen zu bringen. Als sie sich schließlich gar nicht mehr anders zu helfen wussten, öffneten sie den Öltank. Die Identität des Toten war rasch geklärt – sorgfältig hatte Schumann Papiere, Zeugnisse, Arbeitsnachweise etc. in Plastikfolie eingeschweißt, damit seinem beruflichen Wiedereinstieg im Westen nichts im Wege stünde. Doch dazu kam es nicht mehr. Die Sicherungsanlagen, welche Schumann im sächsisch - bayerischen Grenzabschnitt zu Umgehen gedachte, wurden ein knappes Jahr später einem anderen DDR - Bürger zum Verhängnis. Am 22. Juli 1978 detonierten im Grenzabschnitt Heinersgrün, gegen 3.05 Uhr, insgesamt fünf Splitterminen des Typs SM - 70, gemeinhin auch als Selbstschussanlagen bezeichnet, welche am äußeren Grenzzaun angebracht waren, um dessen Überklettern zu verhindern. Ihr Opfer : Der 37 - jährige Peter Stegemann, der in dieser Nacht den vergeblichen Versuch unternahm, die hiesigen Grenzsicherungsanlagen im Dunkeln zu überwinden.78 Grenzsignalzaun, Schutz - und Kontrollstreifen über - bzw. durchquerte er noch unbemerkt, bevor ihm das letzte Sperrelement doch noch zum Verhängnis wurde. An beiden Beinen und am Gesäß von den rasiermesserscharfen Schrapnellen der Mine getroffen, blieb er ca. einen Meter vom Grenzzaun entfernt liegen. Hier fanden ihn auch die von der Detonation alarmierten Grenztruppenangehörigen nur wenige Minuten später. Bis zur Bergung des Schwerverletzten verging dennoch eine halbe Stunde, der anfänglich noch bei schwachem Bewusstsein befindliche Stegemann war zu diesem Zeitpunkt schon nicht mehr ansprechbar. Als er schließlich gegen 4.25 Uhr endlich im Kreiskrankenhaus Oelsnitz eingeliefert wurde, kam für ihn jede Hilfe zu spät.
78
Vgl. hierzu ebd., S. 39–44.
295
Gescheiterte Fluchtversuche an den Staatsgrenzen von ČSSR und DDR
7.6 Verzeichnis der an der tschechoslowakischen Staatsgrenze ums Leben gekommenen Deutschen (1948–1989)79 Zu - und Vorname, Staatsangehörigkeit Michal, Wolfgang – Dtl.
Geburts - und Sterbedatum geb.: 29.3.1927 gest.: 28.1.1948
Tatort bzw. Abschnitt der Grenzeinheit Grenzpolizeitruppe Reichenberg, Abschnitt Jiříkov Müller, Max – Dtl. geb.: 10.12.1902 Grenzpolizeitruppe gest.: 5.7.1948 Karlsbad, Abschnitt Rossbach, Einzelgehöft Wohlspohl bei der Gemeinde Trojmezí
Todesumstände
Specht, Wilhelm – geb.: 29.3.1905 Dtl. (auch 1915) gest.: 9.7.1948 Brandl, Ludvík geb.: 10.9.1914 (Ludwig) – Dtl. gest.: 12.8.1948
Erschossen durch eine Streife der Grenzpolizei.
Gerecke, Werner – geb.: 11.5.1928 Dtl. gest.: 5.10.1948
Vogl (Vogel), Josef geb.: ca. 1928 (auch Jan) – Dtl. gest.: in der Nacht vom 14.11. zum 15.11.1948 Fuchs, František geb.: 9.7.1913 (Franz) – Dtl. gest.: 3.12.1948
Grenzpolizeitruppe Karlsbad, Abschnitt Joachimsal, Bouřňák Grenzpolizeitruppe Pilsen, Abschnitt Hamry, Einzelgehöft Buchar bei Rittersgrün
Angeschossen durch eine Streife der Grenzpolizei beim Stehlen von Holz, verstorben an den Folgen der Verletzung im Krankenhaus Aš.
Erschossen durch eine Streife der Grenzpolizei.
Erschossen durch einen Posten der Deutschen Grenzpolizei, nachdem er mit seinem Pkw ein Haltesignal missachtet hatte.
Grenzpolizeitruppe Erschossen durch eine Písek, Abschnitt Streife der Grenzpolizei. Střední Fleky u Nýrska
Grenzpolizeitruppe Karlsbad, Abschnitt Eger, Straße Eger Pomezí, 3 km von der Grenze entfernt Stauber, František geb.: 22.9.1919 Grenzpolizeitruppe (auch Peter) – BRD gest.: 22.10.1949 Pilsen, Abschnitt Maxov
79
Erschossen durch eine Streife der Grenzpolizei.
Erschossen durch eine Streife der Grenzpolizei.
Erschossen durch eine Streife der Grenzpolizei.
Alle Angaben aus Pulec, Die Bewachung der tschechoslowakischen Westgrenze, S. 147–152; ders., Organizace a činnost ozbrojených pohraničních složek. Seznamy osob usmrcených na státních hranicích 1945–1989, Prag 2006; sowie ergänzend Gülzau, Grenzopfer an der sächsisch- bayerischen und sächsisch - tschechischen Grenze.
296
Jan Gülzau / Karel Vodička
Zu - und Vorname, Staatsangehörigkeit Tippmann, Ernst – unbekannt
Geburts - und Sterbedatum geb.: 12.3.1912 gest.: 28.2.1950
Punchner (auch Püchner), Ondřej (auch Andreas) – BRD
geb.: 11.7.1923 gest.: 1.3.1950
Marin (auch Martin), Arno – DDR
Tatort bzw. Abschnitt der Grenzeinheit zwischen Weipert (ČSSR) und Bärenstein (DDR) Grenzpolizeitruppe Karlsbad, Abschnitt Palič, Einzelgehöft Fuchshof bei der Gemeinde Oldřichov
Todesumstände Erschossen durch eine Streife der Grenzpolizei.
Angeschossen durch eine Streife der Grenzpolizei am 25.2.1950, verstorben an den Folgen der Verletzung im Krankenhaus. geb.: unbekannt Grenzpolizeitruppe Angeschossen durch gest.: 22.6.1950 Karlsbad, Abschnitt eine Streife der Podhradí Ruda, bei der Grenzpolizei, verstorben Gemeinde Doubrava an den Folgen der Verletzung im Krankenhaus Aš.
Linzmaier, Franz – geb.: 1.6.1918 Grenzpolizeitruppe wahrscheinlich (auch 1.7.1918) Pilsen, Abschnitt BRD gest.: 1.7.1950 Zelezna Ruda, beim Schwarzen See
Erschossen durch eine Streife der Grenzpolizei.
Bauer, Heinz Erich geb.: 3.10.1926 Grenzpolizeitruppe – DDR gest.: 30.8.1950 Karlsbad, Abschnitt Bublava, Straße Bublava - Klingenthal auf DDR - Gebiet
Erschossen durch eine Streife der Grenzpolizei bereits auf DDR - Gebiet.
Blank, Arnold – BRD
geb.: 29.2.1884 gest.: 4.5.1951
Abschnitt Eger, Gemeinde Hranice v Čechách
Erschossen durch eine Streife der Grenzpolizei.
Nirschl, Georg – BRD
geb.: 11.6.1913 gest.: 3.7.1951
Grenzpolizeitruppe Eger, Abschnitt Dubina, bei der Pfeifermühle auf BRD Gebiet
Felbiger (auch Felbinger), Max – BRD
geb.: 6.9.1909 Grenzpolizeitruppe gest.: 26.7.1953 Planá, bei Grenzstein 21
Der Zollbeamte wurde bei dem Versuch, zwei Agenten im Ausland auszusetzen, von einem Mitarbeiter der Nachrichtenabteilung der Grenzpolizei erschossen. Durch Stromschlag getötet am elektrischen Grenzzaun.
297
Gescheiterte Fluchtversuche an den Staatsgrenzen von ČSSR und DDR
Zu - und Vorname, Staatsangehörigkeit Huber, Alois – BRD
Geburts - und Sterbedatum geb.: 8.1.1915 gest.: 17.11.1953
Tatort bzw. Abschnitt der Grenzeinheit Gemeinde Untergrafenried, bei Grenzstein 19/1 auf BRD - Gebiet
Todesumstände
Pankratz (auch Pangratz), Michal (auch Michael) – BRD
geb.: 27.6.1879 (auch 16.5.1868, auch 1870) gest.: 3.6.1958
Grenzpolizeitruppe Poběžovice, Abschnitt Spálenec, bei Daberg (Bayern)
Gestorben (an Organversagen), nachdem ihm von einer Streife der Grenzpolizei Handschellen angelegt worden waren und er mitgenommen werden sollte.
Der Beamte der Bayerischen Grenzpolizei wurde von einem Soldaten im Grundwehrdienst auf BRD Gebiet erschossen, die ganze Aktion von Einheiten der Grenzpolizei abgesichert.
Leder (auch geb.: 5.2.1939 Grenzpolizeitruppe Ledeler), Ludwík gest.: 22.3.1959 Sušice, Abschnitt (auch Adolf) – BRD Alžbětín, bei Grenzstein 1 Sulzer, Alois – BRD geb.: 3.2.1934 Grenzpolizeitruppe gest.: 23.7.1960 Budweis, Abschnitt Mnichovice Jerke, Albert – BRD geb.: 5.5.1940 Grenzpolizeitruppe gest.: 4.10.1961 Eger, bei Grenzstein 6/2
Durch Stromschlag getötet am elektrischen Grenzzaun.
Bruno, Heinrich – geb.: 22.4.1935 Grenzpolizeitruppe DDR gest.: 10.7.1963 Eger, Abschnitt Hraničná Sudars (auch Sudar, geb.: 11.7.1941 Grenzpolizeitruppe Sudars, Suddars, gest.: 27.8.1963 Karlsbad, Abschnitt Suders, Saddaras, Meluzina Sandras), Dieter (auch Ditrich, Dietrich) – DDR
Durch Stromschlag getötet am elektrischen Grenzzaun. Der Deserteur aus den Reihen der NVA der DDR wurde durch Einheiten der Grenzpolizei im Zuge einer gemeinsamen Operation mit Kräften der Volkspolizei und der Armee der ČSSR erschossen.
Durch Stromschlag getötet am elektrischen Grenzzaun. Durch Stromschlag getötet am elektrischen Grenzzaun. Mauersberger, geb.: 28.10.1944 bei Schmilka, 200 m auf Bei illegalem GrenzüberHeinz - Uwe – DDR gest.: ca. Herbst ČSSR - Gebiet tritt tödlich verunglückt, 1961 am 22.4.1962 von einer Streife der Grenzpolizei tot aufgefunden.
298
Jan Gülzau / Karel Vodička
Zu - und Vorname, Staatsangehörigkeit Nusser, George (Georg) – BRD
Geburts - und Tatort bzw. Abschnitt Todesumstände Sterbedatum der Grenzeinheit geb.: 14.3.1924 Gemeinde Nové SedlištěAbgeschossen durch ein gest.: 3.10.1963 Jagdflugzeug der ČSSR, nachdem der Pilot eines Sportflugzeuges die Orientierung verloren hatte und in tschechoslowakischen Luftraum eingedrungen war.
Strumpf, Heinz – DDR
geb.: 21.8.1934 bei Sonneberg/Krs. gest.: 9.10.1963 Löbau
Kolbeck, Ludvík (Ludwig) – BRD
geb.: 10.1.1912 Grenzpolizeitruppe gest.: 26.8.1972 Domažlice
Kreim, Anton – BRD
geb.: 25.6.1935 Zollamt Furth im Wald, Der Zollbeamte wurde gest.: 14.10.1972 BRD - Gebiet von einem Angehörigen der Grenzpolizei erschossen. geb.: 28.10.1949 Grenzpolizeitruppe Angeschossen durch eine gest.: 14.8.1973 Eger, Abschnitt Pastviny Streife der Grenzpolizei am 4.8.1973, verstorben an den Folgen der Verletzung in der Universitätsklinik Pilsen.
Erschossen durch einen Posten der DDR Grenztruppen, weil er von diesem irrtümlich für einen entflohenen Strafgefangenen gehalten worden war. Schlenz, Richard – geb.: 20.1.1939 Grenzpolizeitruppe Erschossen durch eine DDR gest.: 27.8.1967 Pressburg, Abschnitt Streife der Grenzpolizei Devin, bei Flusskilobereits auf österreimeter 0,200 am Grenz- chischem Gebiet. fluss Morava auf österreichischem Gebiet
Kremer, Roland – DDR
Schmidt, Gerhard – geb.: 5.2.1939 DDR gest.: 6.8.1977
Grenzpolizeitruppe Eger, bei Grenzstein 24/9 Hoffmeister, Kurt – geb.: 28.11.1954 Grenzpolizeitruppe DDR gest.: 21.8.1977 Domažlice, Abschnitt Bernstein, bei Grenzstein 6
Erhängt aufgefunden, mutmaßlicher Suizid.
Erschossen durch eine Streife der Grenzpolizei. Erschossen durch eine Streife der Grenzpolizei.
Prziborowski, geb.: 30.6.1959 Grenzpolizeitruppe Erschossen durch eine Frank Ralf – DDR gest.: 26.10.1978 Všeruby, bei Grenzstein Streife der Grenzpolizei. 28/7
299
Gescheiterte Fluchtversuche an den Staatsgrenzen von ČSSR und DDR
Zu - und Vorname, Staatsangehörigkeit Carl, Helmut – BRD
Geburts - und Sterbedatum geb.: 29.12.1945 gest.: 15.12.1978
Tatort bzw. Abschnitt der Grenzeinheit Grenzpolizeitruppe Eger, Abschnitt Dolní Dvorec
Kühnel, Michael – geb.: 6.7.1959 bei Litvínov DDR gest.: 19.12.1978
Todesumstände Erschossen durch einen Mitarbeiter der Nachrichtenabteilung der Grenzpolizei, im Zuge einer gemeinsamen Fahndungsaktion mit Kräften der Armee, nachdem er illegal in die ČSSR eingedrungen war. Gestorben an den Folgen eines Verkehrsunfalls, als er bei dem Versuch, einer Streife der Grenzpolizei zu entkommen, in eine von der Volkspolizei errichtete Straßensperre fuhr. Hatte ursprünglich die Absicht, nach seiner illegalen Einreise in die ČSSR weiter in die BRD zu flüchten.
Dausch, Thomas – geb.: 7.10.1968 Grenzpolizeitruppe Gestorben an den Folgen BRD gest.: 31.3.1986 Eger, Abschnitt Pomezí eines Verkehrsunfalls, als er in eine Grenzsperre fuhr. Prallte angeblich in suizidaler Absicht auf die Betonwand. Tautz, Harthmut – geb.: 10.2.1968 Grenzpolizeitruppe Von einer Hundestaffel DDR gest.: 9.8.1986 Pressburg, bei der Grenzpolizei am Grenzsteinen 12/11 und 8.8.1986 angegriffen, 12/12 verstorben an den Folgen der Verletzung im Krankenhaus. Dick, Johann – geb.: 23.3.192 Grenzpolizeitruppe Erschossen durch eine BRD gest.: 18.9.1986 Eger, Abschnitt Streife der Grenzpolizei Broumov, bei auf BRD - Gebiet, nachGrenzstein 24/5 auf dem er einem polnischen BRD - Gebiet Flüchtling zur Hilfe gekommen war, welcher auf ČSSR - Gebiet zurückgeschleppt werden sollte.
300
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Zu - und Vorname, Staatsangehörigkeit Saurien, Peter – DDR
Geburts - und Tatort bzw. Abschnitt Sterbedatum der Grenzeinheit geb.: 9.8.1967 Grenzpolizeitruppe gest.: 21.4.1989 Pressburg, Abschnitt Petržalka
Strecker, Kevin – DDR
geb.: 29.12.1980 Grenzpolizeitruppe gest.: 16.5.1989 Sušice, Abschnitt Strážný
Wenda, Brigit (auch geb.: unbekannt Grenzpolizeitruppe Brigitte) – DDR gest.: 24.9.1989 Pressburg, Abschnitt Komárno, Donau Wenda, Jens – DDR geb.: unbekannt Grenzpolizeitruppe gest.: 24.9.1989 Pressburg, Abschnitt Komárno, Donau
Todesumstände Gestorben an den Folgen eines Verkehrsunfalls, als er bei dem Versuch, die Grenzkontrolle mit einem Pkw zu durchbrechen, in den Grenzbaum prallte. Gestorben an den Folgen eines Verkehrsunfalls, als seine Mutter versuchte, mit einem Pkw den Grenzbaum zu durchbrechen. Ertrunken bei dem Versuch, die Donau zu durchschwimmen. Ertrunken bei dem Versuch, die Donau zu durchschwimmen.
8. Dokumente
Verzeichnis Januar–August 1989 1
9.1.1989
Schreiben des Ministers für Staatssicherheit, Erich Mielke, an den Generalsekretär der SED, Erich Honecker (BArch B, DY 30, IV 2/2.039, 349, Bl. 45–47)
309
2
23.2.1989
Ausarbeitung des Referatsleiters im Auswärtigen Amt, Gunter Mulack zur Rolle der Botschaften bei der Beratung und Unterstützung der hilfesuchenden Deutschen aus der DDR (PA AA, Bo. Prag, 20.681 E, unpag.)
311
3
22.8.1989
Drahterlass des Staatssekretärs im Auswärtigen Amt, Jürgen Sudhoff, an die Botschaft in Prag (PA AA, 513, B 85 Nr. 2346 E, unpag.)
320
4
30.8.1989
Schreiben des Generalsekretärs der SED, Erich Honecker, an Bundeskanzler Helmut Kohl (BArch, DY 30 IV 212.039, 304, Bl. 115–117)
321
Schreiben des sowjetischen Außenministers Eduard Schewardnadse an den Außenminister der DDR, Oskar Fischer (BArch, DY 30 IV 2/2.039, 304, Bl. 118–120)
323
September 1989 5
1.9.1989
302
Dokumente
6
16.9.1989
»Podporujeme našeho přítele« (»Wir unterstützen unseren Freund«) (Rudé Právo vom 16.9.1989, S. 7)
325
7
19.9.1989
Drahterlass des Leiters der Politischen Abteilung des Auswärtigen Amts, Dieter Kastrup, an Botschafter Hermann Huber (PA AA, Bo. Prag, 20.682 E, unpag.)
327
8
20.9.1989
Fernschreiben des Botschafters in Budapest, Alexander Arnot, an das Auswärtige Amt (PA AA, 210, 140.733 E, unpag.)
328
9
20.9.1989
Telegramm des DDR - Botschafters in Prag, Helmut Ziebart, an den Außenminister der DDR, Oskar Fischer, u.a. (BStU, ZA, ZAIG, 22477, Bl. 17)
329
10 21.9.1989
Vermerk über ein Gespräch des Ministers, Gen. Oskar Fischer, mit dem Sonderbeauftragten der Regierung der CSSR, Gen. Dr. Kadnár, Abteilungsleiter im Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten der CSSR (BArch, DY 30, 11621)
330
11 25.9.1989
Fernschreiben des Botschafters in Prag, Hermann Huber, 332 an das Auswärtige Amt über den Besuch des 1. Sekretärs der SED - Bezirksleitung Berlin, Günter Schabowski, in Prag am 21. September 1989 (PA AA 210, 140.715 E, unpag.)
12 25.9.1989
Drahterlass des Leiters der Unterabteilung 21 des Auswärtigen Amts, Wilhelm Höynck, an den Botschafter Hermann Huber in Prag (PA AA 214, 139.918 E, unpag.)
334
13 25.9.1989
Vermerk Leiters des Ministerbüros im Auswärtigen Amt, Frank Elbe, über ein Gespräch von Bundesaußenminister Hans - Dietrich Genscher mit dem Außenminister der ČSSR, Jaromír Johanes, in New York (PA AA 214, 139918 E, unpag.)
335
14 28.9.1989
Fernschreiben des Botschafters in Prag, Hermann Huber, an das Auswärtige Amt (PA AA 513, B 85 Nr. 2346 E, unpag.)
337
15 28.9.1989
Fernschreiben des Botschafters in Prag, Hermann Huber, an das Auswärtige Amt (PA AA, 513,B 85 Nr. 2346 E, unpag.)
338
303
Verzeichnis
16 28.9.1989
Vermerk des Leiters des Ministerbüros im Auswärtigen Amt, Frank Elbe, über Gespräche von Bundesaußenminister Hans - Dietrich Genscher mit dem sowjetischen Außenminister Eduard Schewardnadse, dem Außenminister der ČSSR, Jaromír Johanes, dem Außenminister der DDR, Oskar Fischer, dem französischen Außenminister, Roland Dumas, und US - Außenminister James Baker in New York (PA AA 214, 135918 E, unpag.)
340
17 29.9.1989
Drahterlass des Staatssekretärs im Auswärtigen Amt, Jürgen Sudhoff, an die Delegation von Bundesaußenminister Hans - Dietrich Genscher bei der Vollversammlung der Vereinten Nationen in New York. Anlage : Schreiben von Bundeskanzler Helmut Kohl an Generalsekretär Milos Jakeš (PA AA 513, B 85 Nr. 2346 E, unpag.)
342
18 29.9.1989
Anlage zum Drahterlass des Staatssekretärs im Auswärtigen Amt, Jürgen Sudhoff, an die Delegation von Bundesaußenminister Hans - Dietrich Genscher bei der Vollversammlung der Vereinten Nationen in New York. (PA AA 513, B 85 Nr. 2346 E, unpag.)
345
19 29.9.1989
Vermerk des Leiters der Unterabteilung 21 des Auswärtigen Amts, Wilhelm Höynck (PA AA 214, 139918 E, unpag.)
346
20 29.9.1989
Vermerk von Václav Novotný über die Lagebesprechung im ČSSR - Regierungspräsidiums zur Lage in der Botschaft der Bundesrepublik. (ABS Praha. Objektový svazek reg. Č. 845 [»Obora«], čast 9, l. 177n)
347
21 29.9.1989
Telegramm des tschechoslowakischen Außenministeriums an den Außenminister Jaromirř Johanes in New York (AMZV Praha. Telegramy odeslané, 1989, sv. 9, pořadové číslo 3335)
348
22 29.9.1989
Telegramm des tschechoslowakischen Außenministeriums an den Außenminister Jaromiř Johanes (AMZV Praha, Telegramy Odeslané, 1989, sv. 9, pořadové číslo 3338)
349
304
Dokumente
23 29.9.1989
DDR - Botschafter Helmut Ziebart an SED - Politbüro (BStU Berlin, ZA, HA II, 32922, Bl. 5–7)
350
24 29.9.1989
Protokoll der Sitzung des Politbüros des ZK der SED (SAPMO BArch, DY 30, J IV 2/2A /2348, unpag.)
352
25 29.9.1989
Fernschreiben des Botschafters in Prag, Hermann Huber, an das Auswärtige Amt (PA AA 513, B 85 Nr. 2346 E)
354
26 29.9.1989
Telegramm des tschechoslowakischen Außenministeriums an den Außenminister Jaromír Johanes (AMZV Praha; Telegramy odeslané, 1989, sv. 9, pořadové číslo 3340)
355
27 30.9.1989
Fernschreiben des Leiters der Ständigen Vertretung der DDR in Bonn, Horst Neubauer, an den Staatssekretär im Außenministerium der DDR, Herbert Krolikowski (BStU, ZA, ZAIG 14395, Bl. 3–5)
356
28 1.10.1989
Bericht der Staatssicherheit über die Ausreise der Botschaftsflüchtlinge (BStU, ZA, ZAIG, 26516, Bl. 1 f.)
357
29 1.10.1989
Thesen für Ausführungen des Leiters der Zentralen Koordinierungsgruppe des MfS, Gerhard Niebling, vor Leitern der Bezirkskoordinierungsgruppe (BStU, ZA, ZAIG 26516, Bl. 3–10)
359
30 2.10.1989
Information der Bezirksverwaltung für Staatssicherheit 364 Karl - Marx - Stadt über eine Beratung zur Ausreisebewegung und zur Zuflucht in bundesdeutsche Botschaften (BStU, ASt. Chemnitz, BV Karl - Marx - Stadt, AKG 670, Bd. 2, Bl. 29–32)
31 2.10.1989
ADN - Meldungen »Humanitärer Akt« und »Sich selbst aus unserer Gesellschaft ausgegrenzt« (Neues Deutschland vom 2.10.1989, S. 2)
32 2.10.1989
Telegramm des Außenministers der DDR, Oskar Fischer, 369 an den Generalsekretär der SED, Erich Honecker (BArch B, DY 30, IV 212.039, 342, Bl. 49–51)
Oktober 1989
366
305
Verzeichnis
33 2.10.1989
Drahterlass des Vortragenden Legationsrates im Auswärtigen Amt, Christoph Derix, an die Botschaft in Prag (PA AA 513, B 85 Nr. 2347 E, unpag.)
372
34 2.10.1989
Fernschreiben des Leiters der Bezirksverwaltung für 373 Staatssicherheit Dresden, Horst Böhm, an die Leiter der Kreisdienststellen (BStU, ASt. Dresden, BV Dresden, KD Großenhain 10139, Bl. 30 f.)
35 2.10.1989
Fernschreiben des Botschafters in Prag, Hermann Huber, an das Auswärtige Amt (PA AA, Bo Prag, 20.682 E, unpag.)
374
36 3.10.1989
ZK - Hausmitteilung von Egon Krenz an Erich Honecker (BStU, ZA, Z - Archiv, RS 101, Bd.1, Bl. 1–6)
375
37 3.10.1989
Schreiben des Außenministers der DDR, Oskar Fischer, an den Generalsekretär der SED, Erich Honecker (BArch B, DY 30, IV 2/2.039, 342, Bl. 52 f.)
379
38 3.10.1989
Telegramm des tschechoslowakischen Botschafters in Bonn, František Langer, an das tschechoslowakische Außenministerium (AMZV Praha, Telegramy přijaté, 1989, sv.35)
380
39 3.10.1989
Ergebnisse einer Beratung des 1. Stellvertreters des Leiters der Bezirksverwaltung für Staatssicherheit Dresden, Hardi Anders, über Maßnahmen zur Schließung der Grenzen der DDR (BStU ASt. Dresden 1. Stellv. d. Ltr. 1, Bl. 178 f.)
381
40 3.10.1989
Telefonat von Bundeskanzler Kohl mit Ministerpräsident 382 Adamec (BArch B, B 136/21860, 222 83105 Fa 3 NA 2 Bd. 6)
41 3.10.1989
Schreiben des Außenministers der DDR, Oskar Fischer, an den Generalsekretär der SED, Erich Honecker, mit dem Entwurf einer ADN - Meldung (BArch B, DY 30, IV 2/2.039, 352, Bl. 1f.)
384
42 3.10.1989
Bericht des Leiters der Abteilung XIX der Bezirksverwaltung für Staatssicherheit Dresden, Karl - Heinz Bürger (BStU, ASt. Dresden, BV Dresden, XIX, 20232, Bl. 1 f.)
385
306
Dokumente
43 3.10.1989
Schreiben des Außenministers der DDR, Oskar Fischer, an den Generalsekretär der SED der DDR, Erich Honecker (BArch B, DY 30, IV 2/2.039, 352, Bl. 5 f.)
386
44 4.10.1989
Schreiben des Außenministers der DDR, Oskar Fischer, an den Generalsekretär der SED, Erich Honecker (BArch B, DY 30, IV 2/2.039/ 352, Bl. 3 f.)
387
45 4.10.1989
Protokoll Nr. 41 der Sitzung des Politbüros des ZK der SED vom 4.10.1989 (BArch B, DY 30 J IV 2/2, 2350, Bl. 1–6)
388
46 4.10.1989
Fernschreiben des Botschafters in Prag, Hermann Huber, 390 an das Auswärtige Amt (PA AA 513, B 85 Nr. 2346 E, unpag.)
47 4.10.1989
Argumentation der Bezirksdirektion der Volkspolizei Suhl zur Notwendigkeit der Aussetzung des pass - und visafreien Reiseverkehrs zwischen der DDR und der ČSSR (Thüringisches Staatsarchiv Meiningen, BdVP 630, unpag.)
392
48 4.10.1989
Telegramm des Leiters der Bezirksverwaltung für Staatssicherheit Dresden, Horst Böhm, an den Minister für Staatssicherheit der DDR, Erich Mielke (BStU, ASt. Dresden, BV Dresden, Abt. XX 9185, Bl. 10–12)
394
49 5.10.1989
Fernschreiben des Botschafters in Prag, Hermann Huber, 396 an das Auswärtige Amt (PA AA 513, B 85 Nr. 2347 E, unpag.)
50 5.10.1989
Telegramm des Leiters der Bezirksverwaltung für Staatssicherheit Karl - Marx - Stadt, Siegfried Gehlert, an den Stellvertreter des Ministers für Staatssicherheit, Gerhard Neiber, u.a. (BStU, ASt. Chemnitz, AKG 6 469 Bd 1, Bl. 345–350)
397
51 6.10.1989
Schreiben der Bezirksverwaltung für Staatssicherheit Dresden an den 1. Sekretär der SED - Bezirksleitung Dresden, Hans Modrow (BStU, ASt. Dresden, BV Dresden, Abt. XX 9185, Bl. 13–16)
400
52 6.10.1989
Karel Doudera, Podle starého vzoru ? [ Nach altem Vorbild ?]. In: Rudé Právo vom 6.10.1989 (BStU, ZA, ZAIG 22609)
404
307
Verzeichnis
53 7.10.1989
Schreiben der Leiterin der DRK - Einsatzleitung in Prag, Waltraud Schröder, an den Präsidenten des Deutschen Roten Kreuzes, Botho Prinz zu Sayn - Wittgenstein (PA AA 214, 139.918 E, unpag.)
405
54 12.10.1989 Schreiben von Außenminister Hans - Dietrich Genscher an den Botschafter in Prag, Hermann Huber (PA AA 010, 257.751 E, unpag.)
407
55 24.10.1989 Aufhebung der zeitweiligen Aussetzung des pass - und visafreien Reiseverkehrs in die CSSR (BArch B, DY30 JIV2/2A, 2354 unpag.)
407
56 26.10.1989 Telefonat des Bundeskanzlers Helmut Kohl mit dem Staatsratsvorsitzenden Egon Krenz (BArch B, DY 30, IV2/2 039, 328, Bl. 28–32)
409
November 1989 57 1.11.1989
Fernschreiben des Ständigen Vertreters des Botschafters in Prag, Armin Hiller, an das Auswärtige Amt (PA AA, 214, 139918 E, unpag.)
414
58 2.11.1989
Fernschreiben des Ständigen Vertreters des Botschafters in Prag, Armin Hiller, an das Auswärtige Amt (PA AA 513, B 85 Nr. 2347 E, unpag.)
416
59 3.11.1989
Fernschreiben des Ständigen Vertreters des Botschafters in Prag, Armin Hiller, an das Auswärtige Amt (PA AA 513, B 85 Nr. 2347 E, unpag.)
418
60 3.11.1989
Erklärung des Präsidenten des Deutschen Roten Kreuzes, 419 Botho Prinz zu Sayn - Wittgenstein, zur Situation in Prag (DRK 3166, unpag.)
61 3.11.1989
Fernschreiben des Ständigen Vertreters der Bundesrepublik in der DDR, Franz Bertele, an den Chef des Bundeskanzleramtes, Rudolf Seiters (BArch B, B 136/21861, 222 83105 Fa 3 NA 2 Bd. 7)
420
62 3.11.1989
Telegramm des tschechoslowakischen Botschafters in Ost - Berlin, František Langer, an das tschechoslowakische Außenministerium (AMZV Praha, Telegramy prijate, 1989, sv. 39)
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Dokumente
63 3.11.1989
Telegramm des tschechoslowakischen Außenministeriums an die Botschaften in Bonn und Berlin (AMZV Praha, Telegramy odeslané 1989, sv. 10, pořadové číslo 3739)
423
64 3.11.1989
Schreiben des Außenministers der DDR, Oskar Fischer, an den Generalsekretär der SED, Egon Krenz (BArch B, DY 30 IV 2/2.039, 342, Bl. 155–157)
424
65 3.11.1989
Beschluss des Politbüros der SED : Zustimmung zur direkten Ausreise in die Bundesrepublik (BArch B, DY 30, 5196, Bl. 16)
426
66 5.11.1989
Vermerk des Leiters des Referats 513 des Auswärtigen Amts, Karl - Heinz Kunzmann (PA AA 513, B 85 Nr. 2347 E, unpag.)
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67 5.11.1989
Telegramm des DDR - Botschafters in Prag, Helmut Ziebart, an den Außenminister der DDR, Oskar Fischer, u.a. (BStU, ZA, HA II, 32922, Bl. 22)
428
68 7.11.1989
Bericht von Christine Lettang vom DRK - Generalsekretariat Bonn (DRK 04041, unpag.)
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69 7.11.1969
Fernschreiben des Pressereferenten der Botschaft Prag, Michael Steiner, an das Auswärtige Amt (PA AA 513, B 85 Nr. 2347 E unpag.)
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70 8.11.1989
Fernschreiben des Ständigen Vertreters des Botschafters in Prag, Armin Hiller, an das Auswärtige Amt (PA AA 513, B 85 Nr. 2347 E, unpag.)
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71 8.11.1989
Telegramm des DDR - Botschafters in Prag, Helmut Ziebart, an den Außenminister der DDR, Oskar Fischer (BStU, ZA, Arbeitsbereich Neiber, 553, Bl. 2)
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72 9.11.1989
Beschlussvorlage des Vorsitzenden des Ministerrates der DDR, Willi Stoph, zur Bestätigung im Umlaufverfahren (BStU, ZA, Arbeitsbereich Neiber Nr. 553, Bl. 15–19)
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73 11.11.1989
Meldung der Presseagentur ČTK: 62 500 Bürger ausgereist (Rudé Právo vom 11.11.1989, S. 2)
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9. Januar 1989
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Editorische Vorbemerkung Bei der Wiedergabe der Dokumente wurde die alte Rechtschreibung belassen. Ebenso folgt die Schreibweise von tschechischen und slowakischen Personennamen der jeweiligen Vorlage, d. h. ohne diakritische Zeichen. Unterstreichungen oder andere Hervorhebungen wurden kursiv gesetzt. In den Dokumenten finden sich zahlreiche Abkürzungen, die im Abkürzungsverzeichnis aufgelöst sind.
9. Januar 1989 Dok. 1 Mielke an Honecker : Vier »Erpresser« in Prag – mit Kindern ! Schreiben des Ministers für Staatssicherheit, Erich Mielke, an den Generalsekretär der SED, Erich Honecker BArch B, DY 30, IV 2/2.039, 349, Bl. 45–47. – Absender : Ministerrat der Deutschen Demokratischen Republik, Ministerium für Staatssicherheit, Der Minister. – Adressat : Generalsekretär des ZK der SED und Vorsitzender des Staatsrates der DDR, Genossen Erich Honecker. – Datiert : 9.1.1989. – Vermerk : Tgb. - Nr. VMA /10/89; Kopie : Genossen Krenz.
Lieber Erich ! Gegenwärtig halten sich vier Bürger der DDR widerrechtlich in der Ständigen Vertretung der BRD in der DDR auf, um mit erpresserischem Druck ihre ständige Ausreise zu erzwingen. Mit der gleichen Zielstellung halten sich drei Bürger der DDR in der Botschaft der BRD in der CSSR auf. In Begleitung eines Bürgers befinden sich zwei minderjährige Kinder. Alle Personen sind nicht bereit, die Vertretungen der BRD zu verlassen und fordern eine verbindliche Zusage der Genehmigung für eine ständige Ausreise. Seitens der BRD werden diese erpresserischen Aktivitäten unterstützt, um ihre völkerrechtswidrigen Obhutspflichten für die DDR in demonstrativer Weise zu bekunden. Verbunden damit ist offenkundig, daß die BRD die für ständige Ausreisen getroffenen Festlegungen der DDR zu unterlaufen versucht. Nach internen Erkenntnissen geht es der BRD vor allem auch darum, unter Umgehung der Rechtsordnung der DDR, einen Mechanismus zu schaffen, ständige Ausreisen von Bürgern der DDR künftig auch auf diese Art zu erreichen. Dem dienen auch die gezielten Veröffentlichungen in den Medien der BRD. Ich halte es deshalb für dringend geboten, auf die erpresserischen Forderungen der Bürger der DDR nicht einzugehen und die anmaßenden völkerrechtswidrigen Positionen der BRD zurückzuweisen.
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Genehmigungen zur ständigen Ausreise sollten ausschließlich auf der Grundlage der Verordnung über Reisen von Bürgern der DDR nach dem Ausland vom 30.11.19881 erteilt werden. Aus diesen Gründen schlage ich vor, die betreffenden Bürger der DDR nochmals zum unverzüglichen Verlassen der Vertretungen der BRD aufzufordern und ihnen auf der Grundlage der bestehenden Rechtsvorschriften der DDR zu erklären, – bei den zuständigen staatlichen Organen der DDR einen Antrag auf ständige Ausreise zu stellen – bei einer ablehnenden Entscheidung vom Rechtsmittel der Beschwerde Gebrauch zu machen bzw. bei einer ablehnenden Beschwerdeentscheidung die gerichtliche Nachprüfung zu beantragen und sich durch einen in der DDR zugelassenen Rechtsanwalt vertreten zu lassen – im Fall einer ablehnenden Entscheidung nach Ablauf von sechs Monaten die Antragstellung zu wiederholen, soweit die Gründe, die zur Ablehnung führten, weggefallen sind bzw. Tatsachen beigebracht werden können, die für eine andere Entscheidung Bedeutung besitzen. In diesem Zusammenhang sollte die BRD - Seite nachdrücklich darauf hingewiesen werden, daß Entscheidungen über ständige Ausreisen von Bürgern der DDR ausschließlich in die Kompetenz der staatlichen Organe der DDR fallen und auf der Grundlage der entsprechenden Rechtsvorschriften der DDR getroffen werden. Jedes andere Herangehen würde die völkerrechtswidrige Position der BRD unterstützen, ihr ein Mitspracherecht bei ständigen Ausreisen von Bürgern der DDR einräumen und andere Bürger der DDR zu ähnlichen erpresserischen Handlungen inspirieren. Ich bitte um Bestätigung. Mit sozialistischem Gruß Mielke Armeegeneral
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Verordnung über Reisen von Bürgern der Deutschen Demokratischen Republik nach dem Ausland vom 30.11.1988 ( GBl. der DDR, Teil I, 1988, S. 271–274).
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23. Februar 1989 Dok. 2 Zur Rechtslage der Botschaftsflüchtlinge und zur Rolle der Botschaften Ausarbeitung des Referatsleiters im Auswärtigen Amt, Gunter Mulack zur Rolle der Botschaften bei der Beratung und Unterstützung der hilfesuchenden Deutschen aus der DDR PA AA, Bo. Prag, 20.681 E, unpag. – Vermerk : 513–542.15, Verf. : VLR Dr. Mulack, VS - Nur für dem Dienstgebrauch. – Titel : Rolle der Botschaften bei der Beratung und Unterstützung der hilfesuchenden Deutschen aus der DDR. Datiert : 23.2.1989
Vorsprachen von Deutschen aus der DDR an unseren Auslandsvertretungen in Ost - und Südosteuropa haben gerade im Jahr 1988 in großen Maße zugenommen. So ist bei der Botschaft in Prag eine Verdreifachung der Besucherzahlen festzustellen. Auch die Festsetzungen haben erheblich zugenommen. Die Botschaften haben auf dem Gebiet der Beratung und Hilfe für ausreisewillige Deutsche aus der DDR hervorragende Arbeit geleistet. Mit einer weiteren Zunahme der Beratungen und Festsetzungen muss gerechnet werden. Das Auswärtige Amt weiß, das die langwierigen und psychologisch oft schwierigen Gespräche eine starke psychische und physische Belastung der Mitarbeiter darstellen und nur mir erheblichen Überstunden und großem persönlichem Einsatz durchgeführt werden können. Die Zentrale misst diesem Arbeitsbereich große Bedeutung bei und ist zu jeder konkreten Unterstützung und Hilfe bereit. Wichtig ist dafür eine entsprechende Berichterstattung der Botschaft. Auch die Zusammenarbeit mit dem BMB - Berlin1 bei der Lösung von Festsetzungsfällen und bei der den Vorsprechenden zugesagten Förderung ihrer Ausreiseanliegen hat sich bewährt. Im Folgenden sollen einige Punkte aus diesem Arbeitsbereich die Rolle der Botschaft deutlich machen. 1. Kreis der Schutzberechtigten Nach § 1.2 KG2 sind die Konsularbeamten berufen, Deutschen nach pflichtgemäßem Ermessen Rat und Beistand zu gewähren. Der Begriff »Deutsche« bestimmt sich gem. § 27 KG nach Art. 116 Abs. 1 des Grundgesetzes.3 Der Begriff ist weiter 1 2 3
Das Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen (BMB) unterhielt eine Außenstelle in West - Berlin. Gesetz über die Konsularbeamten, ihre Aufgaben und Befugnisse (KonsularG) vom 11.9.1974 (BGBl. I, S. 2317). Art. 116 Abs. 1 GG: »Deutscher im Sinne dieses Grundgesetzes ist vorbehaltlich anderweitiger gesetzlicher Regelung, wer die deutsche Staatsangehörigkeit besitzt oder als Flüchtling oder Vertriebener deutscher Volkszugehörigkeit oder als dessen Ehegatte oder Abkömmling in dem Gebiete des Deutschen Reiches nach dem Stande vom 31. Dezember 1937 Aufnahme gefunden hat.«
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als der des »deutschen Staatsangehörigen«. Er umfasst auch Flüchtlinge und Vertriebene deutscher Volkszugehörigkeit und deren Ehegatten und Abkömmlinge soweit sie in dem Gebiet des Deutschen Reichs nach dem Stand vom 31.12.1937 Aufnahme fanden. Deutsche aus der DDR sind ohne Unterschied auch deutsche Staatsangehörige i. S. des Grundgesetzes. Das Bundesverfassungsgericht hat im Zusammenhang mit dem Vertrag über die Grundlagen der Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik vom 21.12.19724 dazu entschieden : » ... Die Bundesregierung ist nach wie vor befugt durch all ihre diplomatischen Vertretungen ihren Einfluss geltend zu machen, einzutreten für die Interessen der deutschen Nation zum Schutz der Deutschen im Sinne des Art. 16 Abs. 1 GG5 und Hilfe zu leisten auch jedem einzelnen von ihnen, der sich an eine Dienststelle der Bundesrepublik Deutschland wendet mit der Bitte um wirksame Unterstützung in der Verteidigung seiner Rechte, insbesondere seiner Grundrechte. Hier gibt es für die Bundesrepublik Deutschland auch künftig keinen rechtlichen Unterschied zwischen den Bürgern der Bundesrepublik Deutschland und ›den anderen Deutschen‹« ( BVfGE - Entscheidungen 36, 30 ff.).6 Es gibt also eine verfassungsrechtliche Obhutspflicht für die Deutschen aus der DDR. Wir drängen unseren Schutz und unsere Hilfe den Deutschen aus der DDR allerdings nicht auf, sondern erwarten von ihnen, daß sie sich entsprechend an uns wenden und sich und somit zuordnen. 2. Möglichkeit der Hilfe – Festsetzungen Der hilfesuchende Deutsche aus der DDR, der sich an eine Auslandsvertretung wendet, hat regelmäßig das Anliegen, baldmöglichst in die Bundesrepublik Deutschland überzusiedeln. Er will somit das ihm von der DDR verweigerte Grundrecht der Freizügigkeit ( Art. 11 GG, Art. 12 MRPakt )7 realisieren. Die 4
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6
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Vertrag über die Grundlagen der Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik (Bulletin des Presse - und Informationsamtes der Bundesregierung vom 8. 11. 1972). In: Texte zur Deutschlandpolitik, Bd. 11: 2. Juni 1972 – 22. Dezember 1972. Hg. vom Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen, Bonn 1973, S. 268 - 273. Art. 16, Abs. 1 GG: »Die deutsche Staatsangehörigkeit darf nicht entzogen werden. Der Verlust der Staatsangehörigkeit darf nur auf Grund eines Gesetzes und gegen den Willen des Betroffenen nur dann eintreten, wenn der Betroffene dadurch nicht staatenlos wird.« Beschluss des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts über den Antrag der Bayerischen Staatsregierung (2 BvQ 1/73 vom 4.6.1973). In: Texte zur Deutschlandpolitik, Bd. 12: 18. Januar 1973 – 20. Juni 1973. Hg. Vom Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen, Bonn 1973, S. 681 - 689. Der von den Vereinten Nationen am 16. 12. 1966 verabschiedete Internationale Pakt über bürgerliche und politische Rechte wurde 1973 von der Bundesrepublik Deutschland ratifiziert und ging damit in deutsches Recht über.
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Hilfemöglichkeiten der Auslandsvertretungen sind allerdings beschränkt. Sie finden Ihre Grenzen auch an den einzuhaltenden Gesetzen des Gastlandes und an den Regeln des internationalen Völkerrechts. Wichtig ist es, daß man hilfesuchenden Deutschen aus der DDR von Anfang an eindeutig klarmacht, was man für sie tun kann und was nicht. Man sollte keine falschen Hoffnungen oder Illusionen wecken. Grundlinie : über die Ausreise entscheidet allein die DDR und nicht die Botschaft oder das BMB. Andererseits soll in dem Gespräch mit dem Hilfesuchenden deutlich werden, daß man für sein Anliegen und seine schwierige Situation Verständnis hat und ernsthaft bemüht ist, ihm Rahmen der gegebenen Möglichkeiten zu helfen. Die Frage, wie und in welchem Maße hilfesuchenden Deutschen aus der DDR geholfen werden kann, ist in den entsprechenden Runderlassen des Auswärtigen Amts niedergelegt, die in den Vertretungen vorhanden sind sowie in dem mit dem BMB abgestimmten Procedere bei Festsetzungsfällen. Im Zweifelsfall sind die Runderlasse herbeizuziehen und bei unklaren Fragen ist Weisung einzuholen. Problematisch ist nicht so sehr die Frage der Beratung des Hilfesuchenden, sondern die Festsetzung in der Botschaft, um die Ausreise aus der DDR zu erzwingen. Im Gespräch muss klargemacht werden, daß wir für Festsetzungen der falsche Adressat sind. Denn nicht die Botschaft oder eine Behörde der Bundesrepublik Deutschland entscheidet über die Ausreise eines Petenten, sondern alleine die zuständigen Behörden der DDR. Vor allem muss dem einzelnen Hilfesuchenden unmissverständlich klargemacht werden, daß es kein Asylrecht gibt und auch keinen Weg der direkten Ausreise. A ) Asyl Die allgemeine konsularische Schutzfunktion gibt der diplomatischen Vertretung nicht das Recht, Flüchtlingen Asyl zu gewähren. Das WÜD8 hat die Frage des diplomatischen Asyls nicht erwähnt. Mit der Ausnahme eines vertraglich vereinbarten und auf lateinamerikanischen Raum begrenzten Asylrechts (Panamerikanische Asylkonvention vom 20.02.1928; Montevideo 1933, Caracas 1954) kennen das allgemeine Völkerrecht und das Wiener Übereinkommen kein generelles Asylrecht. Personen, die in einer Vertretung um Asyl bitten, müssten deshalb – streng völkerrechtlich– den Behörden des Empfangsstaates auf deren Verlangen ausgeliefert werden.
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Das Wiener Übereinkommen über diplomatische Beziehungen (WÜD) vom 18.4.1961 ist seit dem 24.4.1962 in Kraft. Es regelt den diplomatischen Verkehr einschließlich Immunitäten der Diplomaten. Text in: BGBl 1964 II 38, S. 959 ff.
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B ) Zuflucht Es hat sich die Praxis entwickelt, in Botschaften aus humanitären Gründen Personen, die z. B. vor einer gewalttätigen, von den Behörden des Empfangsstaates unkontrollierten Entwicklung um ihr Leben fliehen, solange aufzunehmen, bis die akute Gefahr vorbei ist. Ein solches Recht zur Gewährung einer ersten Zuflucht nehmen heute zahlreiche Staaten für sich in Anspruch und zwar in der Erwartung, daß der Empfangsstaat dies stillschweigend duldet. Die Gewährung der einstweiligen Zuflucht ist ein freiwilliger humanitärer Akt der Auslandsvertretung, der rechtlich in die freie Entscheidung der Auslandsvertretung gestellt ist. Es gibt außer der Billigung durch die Staatengemeinschaft keine völkerrechtliche Grundlage hierfür. In der Praxis ist allerdings aufgrund der räumlichen Immunität der Auslandsvertretung die Person bei der Gewährung einstweiliger Zuflucht dem Zugriff der staatlichen Organe des Empfangsstaates oder eines Drittstaates entzogen. C ) Festsetzung Für die Duldung der Festsetzung gibt es keine ausdrückliche Rechtsgrundlage. Nur aufgrund der räumlichen Immunität der Auslandsvertretung sind diese Personen dem Zugriff des Empfangsstaates entzogen. Die Festsetzung in einer Auslandsvertretung sollte stets der Ausnahmefall bleiben. In der Regel ist das Gespräch mit dem Hilfesuchenden so zu führen, daß er die Vertretung freiwillig wieder verlässt, um an seinen Wohnort in die DDR zurückzukehren und von dort aus die Ausreise mit Unterstützung der Bundesregierung zu betreiben. Die Praxis der letzten Jahre hat gezeigt, daß wir in einer Reihe von Fällen nicht umhin können, Deutschen aus der DDR, die ihr Recht auf Freizügigkeit nicht realisieren können und in diesem Zusammenhang einer möglichen Strafverfolgung ausgesetzt sind bzw. ein besonderes Schutzbedürfnis haben und die vor allem – und das allein ist ausschlaggebend –nicht bereit sind, die Botschaft freiwillig zu verlassen, Zuflucht zu gewähren. Es soll noch einmal ganz deutlich unterstrichen werden, daß eine gewaltsame Entfernung eines Zufluchtssuchenden aus einer Auslandsvertretung unter keinen Umständen erfolgen darf. 3. Abwicklung der Beratungen und Festsetzungen A ) Behandlung der Vorsprechenden und Zufluchtssuchenden Bei Gesprächen mit den Zufluchtssuchenden kommt es darauf an, diesen wirkliches Gehör zu schenken und ihnen ehrlich Auskunft über die tatsächlichen Möglichkeiten zu geben. Zielsetzung des Gesprächs muss es sein, die Petenten deutlich auf die begrenzten Hilfemöglichkeiten der Botschaft hinzuweisen und sie an die zuständigen Stellen der DDR zu verweisen. Es muss klargemacht werden, daß es keine Möglichkeit der direkten Ausreise aus einem Drittstaat des
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Ostblocks gibt. Eine Hilfestellung für eine illegale Ausreise darf nicht geleistet werden. Der Hilfesuchende muss auf jeden Fall in die DDR zurückkehren. Im Falle der Festsetzung, die sich auch über einen langen Zeitraum erstrecken kann, ist die Behandlung der betreffenden Person von Bedeutung. Die Kanzleigebäude und die zur Verfügung stehenden Räumlichkeiten sind in der Regel nicht für eine längere Unterbringung insbesondere einer größeren Anzahl von Menschen eingerichtet. Darauf sind die sich Festsetzenden von Anfang an hinzuweisen. Man sollte stets bemüht sein, sie menschlich korrekt zu behandeln. Die große Belastung einer Vertretung durch eine größere Anzahl von Festsitzenden wird nicht verkannt. Die Vertretung hat vor Ort rechtzeitig dafür Sorge zu tragen, daß es entsprechende Notunterkunftsmöglichkeiten gibt. Es sind z. B. in Prag entsprechende Unterkunftsmöglichkeiten geschaffen worden. Bezüglich der Verpflegung entstehen wohl allenfalls bei längerer Festsetzungsdauer einer größeren Personenzahl Probleme. Hierbei können ggf. über die Zentrale die entsprechenden Bundeswehr EPas bestellt werden. Ansonsten sind die Zufluchtsuchenden aufzufordern, in entsprechenden Räumen mit Kochgelegenheiten ihre eigenen Mahlzeiten zu zubereiten. Für die Kommunikationsmöglichkeiten der Zufluchtssuchenden untereinander und nach außen gilt der oberste Grundsatz, daß alles zu unterlassen ist, was eine Lösung der Zufluchtsfälle erschweren oder die künftige Sicherheit der Zufluchtsuchenden gefährden könnte ( s. auch § 219 StGB der DDR ).9 In Zweifelsfällen ist zu berichten. B ) Berichterstattung – Weisung In den entsprechenden Runderlassen ist die Frage der Berichterstattung und des Verteilers genau geregelt. Wichtig ist es in Festsetzungsfällen oder anderen Fällen von besonderer Dringlichkeit schnellstmöglich per Draht zu berichten und dabei auch den Verteiler entsprechend zu berücksichtigen. Im Einzelfall empfiehlt sich der direkte telefonische Kontakt mit dem BMB - Berlin. Die Vielzahl der Berichte in Festsetzungsfällen, die die Zentrale, aber insbesondere auch den BMB erreichen, macht es notwendig, daß die Berichte so knapp und straff wie möglich gefasst sind. Insbesondere müssen sie einen klaren Sachverhalt und ein Petitum enthalten, d. h. der muss entscheidungsreif vorgetragen werden. Neben dem aus Sicherheitsgründen vorzuziehenden FS - Verkehr gibt es auch die Möglichkeit des schnellen telefonischen Kontaktes in besonders eilbedürftigen Fällen.
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StGB der DDR § 219: Ungesetzliche Verbindungsaufnahme.
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C ) Arbeitsteilung in der Botschaft Bei einem plötzlichen Ansturm von rat - und zufluchtssuchenden Deutschen aus der DDR ist es den RK - Referenten und den mit diesen Fragen befassten Sachbearbeitern oft gar nicht mehr möglich, sich intensiv um die Einzelfälle zu kümmern. In diesem Fall empfiehlt es sich, wie dies bereits in Prag geschieht, andere Referenten oder Sachbearbeiter heranzuziehen, die allerdings mit den Grundsätzen dieser Materie vertraut sein müssen. Wichtig ist natürlich dabei, daß der aushelfende Kollege auch entsprechend motiviert und möglichst vorher bei entsprechenden Gesprächen dabei gewesen ist. Selbstverständlich können derartige Gespräche auch durch erfahrene Sachbearbeiter geführt werden. Bei notwendiger Personalverstärkung wird um sofortigen Bericht an Abt. 1 gebeten. D ) Arbeitserleichterung im technischen Bereich Bei einem Ansturm von Hilfesuchenden ergeben sich oftmals die unlösbaren Probleme, wie man die Vielzahl der Fälle berichtsmäßig abwickeln soll. Hierzu ist der Botschaft Prag bereits empfohlen worden, Vordrucke zu benutzen, um dadurch zu ermöglichen, daß die Hilfesuchenden die entsprechenden Daten selbst aufschreiben. Dies hat auch noch den Nebeneffekt, daß die Personaldaten nicht an unbefugte Ohren gelangen, da hinsichtlich Abhöranlagen eine größere Sicherheit besteht. 4. Sicherheitsfragen Wir müssen davon ausgehen, daß sich unter den Festsetzenden auch einmal ein agent provocateur befinden kann. Auch werden alle Festsetzenden nach der Rückkehr in die DDR vom dortigen Sicherheitsdienst ausführlich über Einzelheiten in der Botschaft gefragt. Es kommt also darauf an, den Zugang und die Kenntnisse dieses Personenkreises über Einzelheiten in der Botschaft möglichst zu beschränken. Im Zweifelsfalle sollten diese Fragen mit dem Sicherheitsbeauftragten der Vertretung abgeklärt werden. Von der Botschaft Prag ist bezüglich der Unterbringung dieser Personen die Frage einer möglichen Einschließung aufgeworfen worden. Da es den Beamten des HOD nicht möglich ist, Gäste 24 Stunden lang zu überwachen, ist die zeitweilige Einschließung oft die einzige Möglichkeit, um den Sicherheitsaspekten Rechnung zu tragen. Faktisch sollte dies der letzte Ausweg sein, auch wenn die Einschließung rechtlich zu begründen ist. Rechtlich gesehen, handelt es sich bei den Auslandsvertretungen um Gebäude der öffentlichen Hand, deren privatrechtliches Eigentum überlagert und beschränkt wird durch die öffentlich - rechtliche Zweckbestimmung. Auch dem öffentlich - rechtlichen Gebäudeeigentümer steht das privatrechtlich geregelte
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Hausrecht nach den §§ 903, 862, 1004 BGB zu.10 Er kann den Umfang der öffentlichen Gebäudenutzung bestimmen ( z. B. Sicherheitsbereich, Hausverbote, Zugangsbeschränkungen ). In Zufluchtsfällen muss und kann die Auslandsvertretung im Rahmen der Hausrechtausübung die geeigneten Maßnahmen treffen, um einen geordneten Dienstbetrieb aufrecht zu erhalten und um den Sicherheitserfordernissen gerecht zu werden. Hierbei ist jedoch die Frage der Einschränkung der Bewegungsfreiheit von Zufluchtssuchenden am Maßstab der Wahrung der Grundrechte und des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit zu beurteilen. Es darf zu keiner unnötigen Beschränkung der Bewegungsfreiheit im Rahmen der Ausübung des Hausrechts kommen. In jedem Einzelfall muss geprüft werden, ob eine andere Unterkunftsmöglichkeit innerhalb des Botschaftsgebäudes besteht, die ein Einschließen nicht notwendig macht. Im Falle des Einschließens muss dem Betreffenden die Möglichkeit gegeben sein, das Gebäude oder das Zimmer auf eigenen Wunsch zu verlassen. Er muss jederzeit mit dem HOD kommunizieren können ( durch Telefon, Sprechanlage, Klingel ). Wenn in einer Botschaft besondere Räume für Zufluchtssuchende geschaffen worden sind, so müssen diese selbstverständlich genutzt werden. Andererseits ist eine Unterbringung von Zufluchtssuchenden etwa in nahe gelegenen Pensionen oder auch Dienstwohnungen außerhalb des Missionsgebäudes nicht zulässig, da dann gegenüber der DDR nicht mehr der Tatbestand der Botschaftsbesetzung erfüllt ist. 5. Kontakte zu Presse und Außenstehenden Grundsätzlich werden nach außen keine Angaben über bestimmte Zufluchtsfälle gegeben. Bei Anfragen von Presse oder elektronischen Medien soll grundsätzlich an das Pressereferat des Auswärtigen Amtes verwiesen werden. Die Botschaften nehmen keine Stellung zu Fragen der Zuflucht. In der Praxis wurde des Öfteren festgestellt, daß sich Verwandte oder anders Außenstehende aus der Bundesrepublik Deutschland mit den Zufluchtsuchenden treffen wollen. Auch hier ist die Entscheidung schwer, ob man ein solches Treffen zulassen oder verhindern sollte. Lässt man es zu, besteht die Gefahr, daß der Zufluchtsuchende in seiner Zufluchtsabsicht bestärkt wird, verhindert man es, könnte sich der entsprechend Ausgesperrte an die Presse wenden und dem Fall eine ungewollte Publizität geben. Die Botschaft kann z. B. einen Kontakt auch dadurch verhindern, daß sie gar nicht die Anwesenheit einer bestimmten Person bestätigt. Schwierig wird es bei Fällen, in denen die Personen zusammen in die Botschaft kommen, d. h. der sich Festsetzende aus der DDR sowie die Begleitung aus der Bundesrepublik Deutschland. Aber auch dann wird man im 10
BGB § 903: Befugnisse des Eigentümers; § 862: Anspruch wegen Besitzstörung; § 1004: Beseitigungs - und Unterlassungsanspruch.
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Rahmen des Hausrechts und der öffentlich - rechtlichen Zweckbestimmung des Gebäudes verlangen können, daß die Begleitperson, die ja kein eigentliches Schutzbedürfnis hat, das Gebäude verlässt, nachdem sie ihre entsprechende Petita vorgebracht hat. Im Einzelfall kann es auch einmal taktisch nützlich sein, entsprechende Kontakte zu erlauben. Hierbei muss sehr auf den konkreten Fall abgestellt werden. 6. Passausstellung an Hilfesuchende aus der DDR Häufig verlangt ein Deutscher aus der DDR die Ausstellung eines Reisepasses der Bundesrepublik Deutschland, um damit das Gastland verlassen zu können. Am 2. Januar 1988 ist das neue Passgesetz vom 19. April 1986 in Kraft getreten.11 Maßgeblich ist der Runderlass das Auswärtigen Amts vom 25. Mai 1988 – 510–515.0112 –. Danach sind Personen, die sich durch einen Pass oder Reisepass aus der DDR ausweisen, bei Passanträgen ohne Einschränkung als deutsche Staatsangehörige zu behandeln (6.4.2. PaßVwV ).13 Einer zusätzlichen Prüfung der Staatsangehörigkeit bedarf es nicht. Für die Passangelegenheiten im Ausland, also auch für die Ausstellung von Pässen, sind die vom Auswärtigen Amt bestimmten Auslandsvertretungen zuständig ( § 19 Abs. 2 PaßG ). Die Botschaft trifft ihre Entscheidung in der Regel selbstständig. Im Klartext heißt dies, daß einem Deutschen aus der DDR auf Verlangen ein Reisepass auszustellen ist, es sei denn, daß die in den §§ 7 ff. PaßG geregelten passbeschränkenden Maßnahmen greifen. Da es aber in der Regel unmöglich ist, mit einem Pass der Bundesrepublik Deutschland ohne Einreisesichtvermerk ein Land des Warschauer Paktes zu verlassen, ist den Petenten dringend von der Besitznahme eines Passes der Bundesrepublik Deutschland abzuraten. Sie sind auf die entsprechende persönliche Gefährdung und auf die Aussichtslosigkeit ihres Vorhabens hinzuweisen. Letztlich kann ihnen aber die Ausstellung eines Reisepasses nicht verweigert werden. Durch einen Runderlass an die entsprechenden Vertretungen wurde bereits empfohlen, die Empfänger eines Reisepasses darauf hinzuweisen, daß sie sich mit der Annahme dieses Dokuments nach dem DDR - Passrecht14 strafbar machen (Freiheitsstrafe bis zu 2 Jahren ). Die entsprechende Belehrung des Empfängers sollte schriftlich festgehalten werden. 11 12
13 14
Passgesetz (PassG) vom 19.4.1986 (BGBl. I, S. 537). Dieser Runderlass (für alle diplomatischen und berufskonsularischen Auslandsvertretungen sowie die Honorarkonsuln) gab den deutschen Auslandsvertretungen Hinweise zur Anwendung der neuen allgemeinen Verwaltungsvorschriften zur Durchführung des Passgesetzes vom 19.4.1986, das am 2.1.1988 in Kraft trat (PA AA, B 82, Bd. 252.784). Allgemeine Verwaltungsvorschriften zur Durchführung des Passgesetzes (PassG) - PassVwV vom 2.1.1988 (BGBl. I S 2/ ber. S. 935). Passgesetz der Deutschen Demokratischen Republik vom 28.6.1979 (GBl. DDR I, S. 148).
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7. Ratschläge zum illegalen Grenzübergang Es versteht sich von selbst, daß ein Konsularbeamter einer Auslandsvertretung einem anfragenden Deutschen aus der DDR keine Ratschläge geben darf, wie er illegal das Gastland verlassen kann. Dabei ist stets daran zu denken, daß es sich bei dem Fragenden auch um einen agent provocateur handeln könnte. Zum anderen stellt sich die Frage der späteren Haftung für den Fall einer missglückten Flucht. Sollten sich solche Hinweise nicht umgehen lassen, müssen diese deutlich nicht - amtlicher Natur sein und sich auf allgemeine Feststellungen beschränken. Es wird eindrücklich gewarnt, hier zu aktiv zu sein und dadurch vielleicht Menschen zu einem Verhalten zu bewegen, daß letztlich mit Verhaftung oder sogar mit dem Tod enden kann. Eine illegale Hilfeleistung scheidet auf jeden Fall aus. 8. Nachbetreuung durch die Botschaften Des Öfteren ist festzustellen, daß auch nach einem Verlassen der Botschaft und der Rückkehr in die DDR weitere Kontakte zwischen der Botschaft und dem Hilfesuchenden aufrechterhalten bleiben. So verständlich dies aus humanitären Gesichtspunkten sein mag, so gefährlich kann es für den Betroffenen werden. Die weiteren Kontakte mit der Botschaft können zum einen zu strafrechtlichen Konsequenzen für ihn führen, zum anderen sollte sich die Botschaft aus der Einzelbetreuung weitestgehend raushalten. Bei eingehenden Briefen von früheren Zufluchtssuchenden sollte darüber, wie es ja auch geschieht, an den BMB Berlin und an das Auswärtige Amt berichtet werden. gez. Dr. Mulack
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22. August 1989 Dok. 3 Schließung der Botschaft Drahterlass des Staatssekretärs im Auswärtigen Amt, Jürgen Sudhoff, an die Botschaft in Prag PA AA, 513, B 85 Nr. 2346 E, unpag. – Kopf : 22.8.1989, Wild / Freund / Stellmacher, Prag, 110–330.66 TSE, VS - NfD; Einzel; Prag citissime nachts; Az. : 110–330.66 TSE VS - NfD 220830; – Schlussanmerkungen : 2) Mitzeichnung vor Abgang : Dg 21; 3) Verteiler D 2, D 5, Dg 10, Dg 21, Dg 51, 214, 513, 514, 013.
Betr. : Vorläufige Schließung der Botschaft Prag für den Publikumsverkehr Bezug : DB 1811 vom 20.08.1989 – RK 330 Roem. 1. Angesichts des Erreichens der Kapazitätsgrenze für die Aufnahme von Zufluchtsuchenden aus der DDR ist eine vorübergehende Schließung der Botschaft für den Publikumsverkehr unabwendbar geworden. Die Botschaft ist daher ab 23.08.1989 bis auf weiteres für den Publikumsverkehr zu schließen. Die Bediensteten sollen weiterhin Dienst in der Vertretung leisten. Sichtvermerke für CSSR - Staatsbürger sollen über Reisebüros bzw. für Dienstpaßinhaber und Notfälle über das CSSR - Außenministerium abgewickelt werden. Die wichtigsten Kontakte anderer Arbeitsbereiche der Botschaft ( Pol, Wi, Ku, PA usw.) sollen ebenfalls soweit möglich außerhalb der Vertretung abgewickelt werden. Die konsularische Betreuung Deutscher aus der Bundesrepublik Deutschland und anderer RK - Fälle soll, wie von dort vorgeschlagen, in Konsularsprechtagen vergleichbarer Form in einem geeigneten Hotel erfolgen. Es wird gebeten, die erforderlichen Maßnahmen einzuleiten. Roem 2. Es ist geplant, am 22. 08. 1989 um 18.00 Uhr Bonner Zeit eine Presseerklärung folgenden Inhalts gegenüber den hiesigen Medien abzugeben : »Die Aufnahmekapazität der Botschaft der Bundesrepublik Deutschland in Prag für zufluchtsuchende Deutsche ist restlos erschöpft. Die Botschaft muß daher ab morgen, Mittwoch, 23. 08. 1989 bis auf Weiteres für den Publikumsverkehr geschlossen bleiben.« Es wird gebeten sicherzustellen, daß diese Meldung dort – nicht – ( nicht ) vor dem 22. 08. 1989, 18.15 Uhr Bonner Zeit, dortigen Korrespondenten zur Kenntnis gegeben wird. Nach 18.15 Uhr sind die dortigen Medien zu unterrichten. Presseanfragen deutscher Medien sind an das Pressereferat des Auswärtigen Amts zu verweisen.
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Die Botschaft wird gebeten, am 22. 08. 1989 nach 18.00 Uhr am Eingang der Botschaft durch Anschlag oder in anderer dort geeignet erscheinender Weise, die vorübergehende Schließung bekanntzugeben. Roem 3. Die Botschaft wird gebeten, die CSSR - Regierung am 22. 08. 1989 kurz vor 18.00 Uhr von der vorläufigen Schließung der Botschaft für den Publikumsverkehr zu unterrichten. Sudhoff
30. August 1989 Dok. 4 Generalsekretär Honecker an Bundeskanzler Kohl : Für die Ausreisen ist die DDR zuständig Schreiben des Generalsekretärs der SED, Erich Honecker, an Bundeskanzler Helmut Kohl BArch,, DY 30 IV 212.039, 304, Bl. 115–117. – Absender : Generalsekretär des Zentralkomitees der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands und Vorsitzender des Staatsrates der Deutschen Demokratischen Republik. – Adressat : Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland, Herrn Dr. Helmut Kohl, Bonn. – Stempel : Persönliche Verschlußsache – Vorlagen – ZK 02 Tgb. - Nr. 506. – Datiert : 30.8.1989.
Sehr geehrter Herr Bundeskanzler ! Der Leiter der Ständigen Vertretung der Bundesrepublik Deutschland hat mir am 14. August 1989 den Text Ihres Briefes übermittelt. Ich stimme völlig mit der von Ihnen getroffenen Feststellung überein, daß die Entscheidung über die Ausreise von Bürgern der Deutschen Demokratischen Republik ausschließlich bei den dafür zuständigen Organen der Deutschen Demokratischen Republik liegt. Diesbezügliche Entscheidungen beruhen auf den für alle Bürger gleichermaßen gültigen gesetzlichen Regelungen, die – wie Sie wissen – von der Deutschen Demokratischen Republik sehr großzügig gehandhabt werden. Angesichts des derzeitigen Aufenthaltes von Bürgern der Deutschen Demokratischen Republik in der Ständigen Vertretung sowie in einigen Botschaften der Bundesrepublik Deutschland ist jedoch der Hinweis berechtigt, daß alle Versuche Einzelner, unter Umgehung der Rechtslage für sich Sonderregelungen durch die Verweigerung des Verlassens ausländischer Vertretungen zu erpressen, von der Deutschen Demokratischen Republik nicht gebilligt werden können. Offizielle Vertreter der Bundesrepublik Deutschland haben wiederholt öffentlich zum Ausdruck gebracht, daß der Weg über diplomatische Missionen der Bundesrepublik Deutschland kein Weg zur ständigen Ausreise aus der Deutschen
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Demokratischen Republik sein kann. Dem wäre nichts hinzuzufügen, wenn nicht auf der anderen Seite von den Vertretungen Ihres Landes Bürgern der Deutschen Demokratischen Republik Aufenthalt in diesen Vertretungen gewährt würde. Eine solche Praxis negiert die sich aus dem Völkerrecht ergebende Tatsache, daß die Bundesrepublik Deutschland für Bürger der Deutschen Demokratischen Republik keinerlei Zuständigkeiten wahrnehmen kann. Darüber hinaus muss sie bei den Betreffenden Erwartungen hervorrufen, die durch nichts gerechtfertigt sind. Bei einer Beibehaltung dieser Praxis sind in der Tat Belastungen unserer Beziehungen nicht auszuschließen. Die Lösung des entstandenen Problems kann deshalb nur darin bestehen, von Seiten der Bundesrepublik Deutschland dafür Sorge zu tragen, daß die Bürger der Deutschen Demokratischen Republik unverzüglich die Vertretungen der Bundesrepublik Deutschland verlassen. Aus der Tatsache des Aufenthaltes in den Missionen werden ihnen – wie schon mehrfach von Vertretern der Deutschen Demokratischen Republik zum Ausdruck gebracht – keine Nachteile entstehen. Darüber hinausgehende Zusagen sind jedoch nicht möglich. Zu Ihrer Anregung, vertrauliche Gespräche zwischen Vertretern beider Seiten zu führen, habe ich keine Einwände. Ihr Brief, Herr Bundeskanzler, veranlasst mich jedoch noch zu einer weiteren Bemerkung : Es sollte vermieden werden, der anderen Seite Vorhaltungen bezüglich ihrer Verantwortung für die Perspektiven der Entwicklung zu machen. Das kann nicht anders als eine Einmischung in souveräne Angelegenheiten eines anderen Staates betrachtet werden und ist der Gestaltung gutnachbarlicher Beziehungen zwischen beiden Staaten nicht dienlich. Abschließend bekräftige ich meinerseits, daß die Deutsche Demokratische Republik unverändert an der Entwicklung normaler und sachlicher Beziehungen zur Bundesrepublik Deutschland interessiert ist, wie es im September 1987 anlässlich meines Besuches in der Bundesrepublik Deutschland zwischen uns vereinbart wurde. Mit vorzüglicher Hochachtung E. Honecker [ m.p.]
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1. September 1989 Dok. 5 Außenminister Schewardnadse unterstützt ( noch ) die Position der DDR Schreiben des sowjetischen Außenministers Eduard Schewardnadse an den Außenminister der DDR, Oskar Fischer BArch, DY 30 IV 2/2.039, 304, Bl. 118–120. – Adressat : Mitglied der ZK der SED, Minister für Auswärtige Angelegenheiten der DDR, Genossen Oskar Fischer, Berlin. – Datiert : Moskau, 1.9.1989. – Vermerk : Übersetzung aus dem Russischen.
Verehrter Genosse Fischer ! Ich wende mich an Sie höchst vertraulich in einer Frage, die, obwohl sie nicht direkt die Beziehungen UdSSR–DDR berührt, meiner Auffassung nach dennoch von nicht geringer Bedeutung vom Standpunkt der langfristigen Interessen unserer beiden Länder und der Positionen des Sozialismus in Europa ist. Es handelt sich um die Exzesse der letzten Zeit, die durch Versuche einer nicht geringen Zahl von DDR - Bürgern, illegal in die BRD zu gelangen, hervorgerufen wurden. Unsere Einschätzungen des Charakters und der Ursachen dieser Erscheinungen stimmen mit dem überein, was darüber in der DDR gesagt und geschrieben wird. In Berlin hat man, wie wir wissen, die Aufmerksamkeit auf die entsprechenden Äußerungen des Pressesprechers des Außenministeriums der UdSSR gerichtet, in denen die Quelle der entstandenen Schwierigkeiten – die Ansprüche der BRD auf das »Obhutsrecht« für alle Deutschen – direkt genannt wird. Dem kann man hinzufügen, daß das gesamte in der BRD geltende politisch - rechtliche und soziale System darauf berechnet ist, die Immigration aus der DDR maximal zu stimulieren. Es kann zu jedem Zeitpunkt, abhängig von den politischen Interessen der Machthaber, voll in Gang gesetzt werden, erneut Spannungen und Konflikte in den zwischenstaatlichen Beziehungen zu erzeugen beginnen. Überlegt man, wie man dieses System der Kraft berauben kann und die Dinge nicht jenen überlässt, die es auch weiter für die Aushöhlung der inneren Stabilität des sozialistischen deutschen Staates ausnutzen möchten, kommt man unweigerlich zu dem Schluss, daß vieles auf die Frage der Staatsbürgerschaft der DDR und auf die Anerkennung dieser Staatsbürgerschaft seitens Bonns stößt. Wie die westdeutschen Vertreter selbst bezeugen, würden sich die Bewohner der DDR in einem solchen Falle in der Lage der üblichen Ausländer befinden, die um politisches Asyl oder Arbeit in der BRD ersuchen, und das würde sofort den Hang zum Ortswechsel bei denjenigen verringern, die darauf bedacht sind, einen hohen Wohlstand nicht durch viel Arbeit, sondern mittels der Ausreise zu erlangen. Unsere gemeinsamen langjährigen Erfahrungen des Kampfes um die Anerkennung der Staatsbürgerschaft der DDR zeigen, daß es sehr sehr schwer sein wird, die BRD von den von ihr eingenommenen Positionen abzubringen. Man sollte hier nicht auf einen schnellen Erfolg hoffen. Aber, wie es uns scheint, ist das dennoch eine nicht allzu hoffnungslose Sache. In erster Linie deshalb, weil das
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Vorgehen der BRD offenkundig anrüchig ist und der Übereinstimmung mit den allgemein anerkannten Normen des zwischenstaatlichen Verkehrs nicht standhält. Wie meinen Sie, Genosse Minister, sollten wir nicht in diesem Zusammenhang die Möglichkeit abwägen, die Aufmerksamkeit der internationalen Öffentlichkeit aktiver auf das Problem der Nichtanerkennung der Staatsbürgerschaft der DDR seitens der BRD und auf die Folgen dieser Nichtanerkennung zu lenken und vielleicht auch dieses Problem in die internationalen Foren zu tragen ? Das würde es ermöglichen zu zeigen, daß die Überläufer aus der DDR keine politischen Emigranten sind, darunter auch vom Standpunkt der eigenen Gesetzgebung der BRD, und daß ihnen gegenüber folglich die entsprechenden internationalen Konventionen und Pakete nicht Anwendung finden können. Man könnte sicher auch darauf verweisen, daß die Beschlüsse der KSZE über Freizügigkeit kaum auf die Beziehungen zwischen der DDR und der BRD anwendbar sind, da wegen der Haltung letzterer zur Staatsbürgerschaft die völkerrechtlichen Voraussetzungen für die Zusammenarbeit beider Länder in dieser Frage fehlen. Eine solche Position würde, wie es scheint, den Weg sowohl für eine Propagandakampagne als auch für administrative Maßnahmen zur Regelung von Ausreisen aus der DDR bahnen. Offenbar lohnt es auch, darüber nachzudenken, welche praktischen Schritte zum Einwirken auf die gegenwärtige Bundesregierung zweckmäßigerweise ergriffen werden sollten, unter Berücksichtigung dessen, daß ihre Lage nicht allzu unverwundbar ist. Wenn man, sagen wir dem Kanzler vertraulich mitteilen würde, daß im Falle der Fortsetzung der entfachten Anti - DDR - Kampagne und der Aufnahme von Flüchtlingen durch die Botschaften der BRD die Behörden der DDR gezwungen sein würden, die Zahl der Übersiedler in diesem und im nächsten Jahr spürbar zu verringern, würde eine solche Warnung vor den Bundestagswahlen, wie es scheint, Bonn zumindest zum Überlegen zwingen. Man könnte die Kontakte mit der BRD zur Flüchtlingsproblematik fortsetzen, ohne jedoch zu gestatten, diese auf die Erörterung der Frage zu reduzieren, wie und wann die nächste Gruppe von Personen, die das Gesetz übertreten haben, in den Westen gelassen wird, sondern, im Gegenteil, in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit das Problem der Staatsbürgerschaft zu stellen. Ich stelle mir die Sache so vor, Genosse Minister, daß das von mir berührte Problem die Führung des Außenministeriums der DDR beunruhigt und daß die Suche nach einem Ausweg aus der entstandenen Situation intensiv geführt wird. Ich wäre erfreut, wenn die in meinem Brief geäußerten Überlegungen für Sie nützlich wären. Mit kameradschaftlichem Gruß E. Schewardnadse
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16. September 1989 Kommentar der Parteizeitung »Rudé Právo«
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»Podporujeme našeho přítele«. In: Rudé Právo vom 16.9.1989, S. 7.
Übersetzung Wir unterstützen unseren Freund Der Verlauf der illegalen Ausreise der DDR - Bürger in die BRD, in dem die ungarische Regierung einseitig »die Gültigkeit des Vertrages außer Kraft setzte«, ermöglichten den DDR - Bürgern die Ausreise über Österreich in die Bundesrepublik mit den von westdeutschen Behörden ausgestellten Reisepässen. Dieser Verlauf belegt, daß es sich um eine lang geplante und vorbereitete Aktion handelt, die von den höchsten Stellen der BRD koordiniert wurde. Dies belegt auch die Organisation der Flüchtlingslager, einschließlich des Drucks von Benzinscheinen und der schriftlichen Anweisungen, die die Unterkunft in den Flüchtlingslagern regeln. Dies alles zeugt davon, daß das Hauptziel dieser Aktion ist, den ersten Arbeiter - und Bauernstaat auf deutschem Boden zu diskreditieren, diejenigen Prinzipien infrage zu stellen, in welchen nach der Niederlage des Faschismus sich die Kommunisten mit den Sozialdemokraten und weiteren fortschrittlichen, friedensstrebenden Kräften einig waren. Die DDR war der westdeutschen reaktionären Kräften stets ein Dorn im Auge, über die ganzen vierzig Jahre ihrer Existenz. Der Attacken, verborgen oder öffentlich, gab es unzählige. Und das Ergebnis ? Die DDR wurde zu einem anerkannten Akteur der internationalen Zusammenarbeit, dessen Politik stets dem Gedanken dienlich ist, einen gerechten Staat der Werktätigen aufzubauen, der sich für das friedliche Zusammenleben und für die Zusammenarbeit auf internationaler Ebene ständig einsetzt. Die Versuche der BRD, der DDR vorzuschreiben, wie sie ihre Angelegenheiten ordnen soll, hörten nie auf. Die Versuche, die sozialistische Entwicklung zu vereiteln, hörten nie auf. Und jetzt stellt die durch die westdeutschen Stellen organisierte Flucht der DDR - Bürger einen weiteren derartigen Versuch dar, und zwar ohne jede Rücksicht auf das internationale Recht, auf den Geist der Verträge, die zwischen beiden deutschen Staaten geschlossen worden sind, ohne Rücksicht auf die Schäden, die es nicht nur den Beziehungen zwischen der BRD und der DDR, sondern auch dem vielversprechenden internationalen Entspannungsprozess anrichtet. Es ist eine gefährliche Kurzsichtigkeit, wenn die BRD ihre internationale Position auf der Verletzung der Rechte des anderen Staates aufbauen will. Man muss keine juristische Bildung besitzen, um zu begreifen, daß die Ausstellung persönlicher Dokumente an Bürger eines anderen Staates, in diesem Fall des
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Reisepasses, eine gravierende Rechtsverletzung darstellt, einen Eingriff in die inneren Angelegenheiten eines anderen souveränen Staates. Dies kann weder durch die Sehnsucht nach der Einheit, noch durch die Berufung auf die westdeutsche Verfassung geschehen. Die internationale Völkergemeinschaft richtet sich nach gewissen Regeln, die es nicht zulassen, daß jeder Staat seine Gesetze oder ihre Interpretation dem anderen Staat aufzwingt. Auf dieser Sicherheit steht auch der gesamte gegenwärtige Prozess der Entspannung und der gegenseitigen Vertrauensbildung. Die DDR legte eine Reihe von konstruktiven Vorschlägen zu beiderseitig annehmbaren Problemlösungen vor, in Bezug auf die DDR - Bürger, die sich in Ungarn aufhalten, mit dem Ziel, in ein anderes Land auszureisen. Die Anwendung dieser Lösungen führte in Berlin dazu, daß die DDR - Bürger, die sich in der BRD - Vertretung in Berlin aufhielten, diese verließen. Ähnlich war es bei einem Großteil der DDR - Bürger, die sich in der BRD - Vertretung in Prag aufhielten. Die DDR - Behörden garantierten ihnen Straffreiheit und die Möglichkeit auf normalem, also legalem, und gesetzmäßigem Wege, einen Antrag auf Ausreisebewilligung zu stellen. Dies ist die Art und Weise, die unserer Zeit entspricht, die sowohl die Staatssouveränität, als auch das Recht eines Bürgers respektiert, sich zu entscheiden. Deshalb muss man die Vorgehensweise der westdeutschen Stellen entscheidend ablehnen. Diese wissen genau, daß es eine rechtlich korrekte Vorgehensweise gab und gibt, und verwerfen dennoch diese Vorgehensweise unter dem Vorwand einer angeblichen Menschlichkeit. In Wirklichkeit können sie den Hass gegen den Sozialismus nicht verbergen. Und der Hass ist bekanntlich ein denkbar schlechter Ratgeber jeglichen Handelns – und dies besonders im internationalen Zusammenhang. Man kann nicht für Gesetz und Recht schwärmen und diese zugleich mit Füßen treten, nur deshalb, weil sie augenblicklich nicht zupassekommen. Wir schätzen die DDR als einen sehr bewährten, zuverlässigen Partner, als Nachbarn und Verbündeten. Die Kampagne gegen die DDR verurteilen wir entschieden und bringen hiermit unsere volle Unterstützung dem Standpunkt unserer Freunde zum Ausdruck. Unsere Genossen in der DDR sollen wissen, daß wir unsere gegenseitige Zusammenarbeit bei der Einhaltung aller vertraglichen Pflichten weiterhin ausbauen werden.
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19. September 1989 Dok. 7 Auswärtiges Amt an Botschafter Huber : »Intervenieren Sie bei der Regierung !« Drahterlass des Leiters der Politischen Abteilung des Auswärtigen Amts, Dieter Kastrup, an Botschafter Hermann Huber PA AA, Bo. Prag, 20.682 E, unpag. – Kopf : EDV : 6334, 19.9.1989, Prag; aus : Bonn AA; Nr. 0467, an : Prag cti, citissime, VS – Nur für den Dienstgebrauch, für Botschafter, Az. : Dg 21 191315 : – Signiert : Kastrup. – Datiert : 19.9.1989, 18.03 OZ.
Betr. : Deutsche aus der DDR Sie werden gebeten, unverzüglich bei Ministerpräsident Adamec und Generalsekretär Jakes vorzusprechen und ihnen folgende Botschaft des Bundesministers vorzutragen : 1. Anknüpfend an die letzten Gespräche des BM in Prag1 und unter Hinweis auf die jahrzehntelangen unveränderten Bemühungen des BM, sich auch in schwierigen Zeiten für gute Beziehungen mit der Tschechoslowakei einzusetzen, bittet BM um nochmalige Würdigung unserer schwierigen Situation infolge der großen Zahl von Festsetzungen in unserer Botschaft. 2. Sie sollten die tatsächliche Lage der Botschaft vortragen und hervorheben, daß wir die Botschaft für den Publikumsverkehr geschlossen haben, aber nach unserem Selbstverständnis nicht mit Gewalt gegen Deutsche vorgehen können, die sich ohne unser Zutun auf das Botschaftsgrundstück begeben. 3. Wir bitten, uns einen Weg zu einer pragmatischen und humanitären Lösung aufzuzeigen, wobei wir nicht auf ein Lösungsmodell festgelegt sind. Wir möchten aber daran erinnern, daß die Einschaltung des IKRK für eine schwierige Situation im Verhältnis zwischen sozialistischen Ländern entwickelt wurde. ( Ungarische Volkszugehörige rumänischer Staatsangehörigkeit hatten sich in ungarischer Botschaft Sofia festgesetzt und werden mit Hilfe IKRK in ein neutrales Drittland verbracht ). 4. Für baldige Antwort wäre BM dankbar. Kastrup
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Genscher weilte am 12./13. 7. 1989 zu Besuch in Prag. Vgl. Fernschreiben des Botschafters Huber an AA vom 14.7.1989. Betr. : BM - Besuch in Prag vom 12./13.7.1989, hier : Gespräch mit Adamec ( PA AA, 213, 147.168, unpag.).
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20. September 1989 Strenge Kontrollen an der Grenze ČSSR / Ungarn Fernschreiben des Botschafters in Budapest, Alexander Arnot, an das Auswärtige Amt
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PA AA, 210, 140.733 E, unpag. – Kopf : Aus : Budapest, Nr. 1877 vom 20.9.1989, 12.10 OZ, an Bonn AA, citissime; Fernschreiben ( verschlüsselt ) an 513, eingegangen : 20.9.1989, 1433 OZ, VS – Nur für den Dienstgebrauch, AZ. : RK 330.66. –, Verteiler : Ex. : 1–5 : 5, 6 : StS; FM Zentrum erledigt Weiterleitung an : Prag cti, Sonderverteiler Ungarn. – Verfasser : VLR Mulack.
Betr. : Einreise von Übersiedlungswilligen Deutschen aus der DDR über die CSSR 1. Ca. 80 v. H. der Übersiedlungswilligen ( meistens junge Leute unter 26 Jahren) reisen aus der DDR über die CSSR nach Ungarn ein. Die übrigen kommen von – teils fingierten – Urlaubsreisen aus Rumänien bzw. Bulgarien, da für diese Länder noch leichter Visa zu erhalten sind als für Ungarn. Die Zahl der direkt aus der DDR auf dem Luftweg einreisenden Personen ist stark zurückgegangen. 2. Seit dem 19.09. geht die Zahl der über die CSSR Einreisenden stark zurück. Viele Personen berichten über minutiöse Kontrollen unterwegs und bei der Ausreise nach Ungarn. Hierbei wird insbesondere nach Westgeld und Dokumenten gesucht ( Zeugnisse u. ä.). Auch in den Zügen zwischen Prag und Bratislava soll es häufig Kontrollen geben. Besonders streng sollen die Kontrollen im Grenzgebiet nach Bratislava sein. Mehrere Personen berichteten über vorläufige Festnahmen und Verhöre, wobei die Organe der CSSR nicht zimperlich seien (»Die schlagen gleich zu«, »Haben uns an die Heizung angekettet«). Sehr übel sollen Deutsche aus der DDR behandelt werden, die beim illegalen Grenzübertritt gestellt werden. 3. Viele der hier eintreffenden Flüchtlinge ( auch Familien mit Kindern ) haben die Donau durchschwommen und außer nassen Sachen nichts am Leibe. Gestern Abend Eintreffende berichteten über Verstärkung der Postenketten in der CSSR (»Alle 100 m steht einer«). Die Flucht wurde meist in Gruppen unternommen (3–12 Personen ). Mehrere Gruppen haben bei Komarom die Donau durchschwommen. Aussichtsreicher ist eine Überquerung des kleinen Flusses Ipoly nordöstlich von Esztergom bzw. die Überquerung der Grünen Grenze weiter östlich. Hierbei ist allerdings die Anreise wegen starker Kontrollen unterwegs äußerst schwierig. Neben Schilderungen brutaler Behandlung durch staatliche Organe wird aber auch die Hilfsbereitschaft der oft ungarnstämmigen Bevölkerung im Grenzgebiet betont, die oft den richtigen Weg weisen. Manchmal gilt auch das Motto : Auto gegen Fluchtweg.
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4. Alle berichten darüber, daß der Ausreisedruck in der DDR stärker geworden sei, und kennen Kollegen und Freunde, die noch ausreisen wollen. Allgemein wird befürchtet, daß auch die Reisen in die CSSR erschwert werden. Über die sehr enge Zusammenarbeit zwischen Stasi und CSSR - Behörden besteht kein Zweifel. Darüber hinaus hält sich das Gerücht, Reisen in die CSSR würden bald Sichtvisum - pflichtig. Die Zahl der Neuzugänge ist am 20.09. wiederum zurückgegangen. Es werden heute 3 Busse abfahren. Arnot
20. September 1989 Dok. 9 Bericht des DDR - Botschafters in Prag. 4 500 Personen am Grenzübertritt gehindert Telegramm des DDR - Botschafters in Prag, Helmut Ziebart, an den Außenminister der DDR, Oskar Fischer, u.a. BStU, ZA, ZAIG, 22477, Bl. 17. – Absender : Ziebart. – Adressat : Gen. Oskar Fischer, Gen. Sieber - ZK - IV, Gen. Ott, Gen. Schwiesau. – Datiert : 20.9.1989. – Vermerk : Blitz; VVS - t - b 7/4–22/89; Ausf. 2 Blatt.
Zuständige CSSR-Organe haben auf der Grundlage [von] Absprachen mit DDRPartnern Reihe von Maßnahmen eingeleitet, um Versuche illegalen Grenzübertritts von DDR - Bürgern nach Ungarn zu verhindern bzw. einzudämmen. Dazu gehören Festlegung[en] über Errichtung von Schlagbäumen vor den Grenzübergangsstellen zur UVR, um verstärkt auftretende Versuche gewaltsamen Grenzdurchbruchs bereits vor dem Grenzübergang abzufangen sowie die Verstärkung der Streifentätigkeit vor der BRD - Botschaft in Prag. BRD - Botschaft hat einen Antrag auf Durchführung zusätzlicher Sicherungsmaßnahmen im Umfeld [ der ] Botschaft gestellt. Botschafter Huber hat in einem Gespräch mit dem Außenministerium festgestellt, daß er einen solchen Antrag nicht stellen dürfte. In der Botschaft z. Z. 520 DDR - Bürger. Im Grenzbereich CSSR / UVR bei 4 500 Personen Grenzübertritt verhindert. Da bisher im Grenzverkehr CSSR / UVR einseitige Grenzkontrolle erfolgte, erfolgen Abfertigung und zum Teil auch Festnahmen bereits auf ungarischem Territorium. Am Wochenende gab es Versuche, lautstark und randalierend in gruppen Grenze zu überschreiten. Zollchefinspektor CSSR wies mich darauf hin, daß Grenzsicherung im westslowakischen Raum gut ausgebaut, in Mittel – und Ostslowakei dagegen kaum. CSSR führt in West - und Ostslowakei verstärkt Kontrollen auf Ausfallstraßen zur ungarischen Grenze durch. Dabei werden leider auch eine Reihe von DDR - Touristen, die sich in der Slowakei aufhalten, einbezogen. Nach Mitteilung slowakischer Genossen verschlechtert sich das Verhältnis im Umgang mit ungarischen Gren-
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zern und Zöllnern. Zum Teil treten auch Schleusungen durch Slowaken ( vor allem durch in CSSR lebende Ungarn ) auf. Mehrzahl der im Grenzraum CSSR / UVR festgenommenen DDR - Bürger berief sich auf Mitteilung über BRD - Rundfunk und Fernsehen sowie entsprechende Flüsterpropaganda, wonach CSSR für 24 Stunden Ausreise in UVR visafrei gewähre. Problematisch weiterhin in Bratislava Unterbringung Festgenommener. Slowakische Organe lehnen Inhaftierung von Frauen mit Kleinstkindern ab, verweisen sie an Generalkonsulat, das in einigen Fällen Übernachtung gewahren musste. Gk [ Generalkonsulat ] versucht jetzt, Frauen mit Kindern in Gästewohnungen von DDR - Betrieben unterzubringen. Möglichkeiten sind beschränkt. BRD - Botschaft richtet sich auf Aufnahme von 1 000 DDR - Bürgern ein. Entsprechende Vorbereitungen werden durch MA [ Militärattaché ] Brüggemann geleitet, einschließlich Beantragung von Betten und Verpflegung bei Bundeswehr. Hier wird damit gerechnet, daß BRD Druck auf CSSR über ihre Medien in nächsten Tagen verstärken wird. Csl. Führung unterstützt weiterhin prinzipiell unsere Position. Gleichzeitig festzustellen, daß durch Hetze westlicher Medien und Druck offizieller Persönlichkeiten BRD auf CSSR Befürchtungen bei einzelnen Mitarbeitern [ des ] MfAA und Grenzorgane über negative Auswirkungen für CSSR zunehmen. Ausdruck dessen meines Erachtens auch Anruf Gen. Außenminister Johanes mit der Bitte zu prüfen, ob es Möglichkeit gäbe, durch Gespräche DDR - BRD darauf Einfluss zu nehmen, daß Situation in der BRD - Botschaft in Prag sich nicht weiter zuspitze. Dabei erneute Versicherung, daß CSSR Standpunkt DDR bezüglich Abwerbungs – und Ausreisekampagne teile und zu eingegangenen Verträgen stehe. Ziebart
21. September 1989 Dok. 10 Kadnár verhandelt mit Außenminister Fischer : Botschaftsflüchtlinge ausnahmsweise entlassen Vermerk über ein Gespräch des Ministers, Gen. Oskar Fischer, mit dem Sonderbeauftragten der Regierung der CSSR, Gen. Dr. Kadnár, Abteilungsleiter im Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten der CSSR BArch, DY 30, 11621. – Verfasser : Dr. Schwiesau. – Datiert : 21.9.1989. – Handschriftlicher Vermerk : Mitglieder u. Kandidaten des PB; Gen. G. Mittag mit Gruß, Fischer.
Gen. Kadnar erklärte im Auftrage des Generalsekretärs der KPTsch, Gen. Jakes, und der Regierung der CSSR, daβ die CSSR die Innen - und Auβenpolitik der
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DDR im vollen Umfang unterstützt und auch künftig mit der DDR gemeinsam handeln werde bei der Abwehr des Angriffs des Imperialismus auf das sozialistische System in Europa. Er erinnerte in diesem Zusammenhang an die dazu von tschechoslowakischer Seite abgegebenen Erklärungen. Gen. Kandar informierte darüber, daβ der BRD - Botschafter Huber am 19.9. darum gebeten habe, noch am selben Tag mit Gen. Jakes sowie dem Vorsitzenden der Regierung der CSSR, Gen. Adamec, sprechen zu können, um eine persönliche Botschaft Genschers zu übermitteln. Daraufhin wurde der tschechoslowakische Auβenminister beauftragt, Huber zu empfangen. Im Vorfeld dieser Begegnung sondierte der BRD - Botschafter, ob es gegebenenfalls Meinungsverschiedenheiten in der tschechoslowakischen Partei - und Staatsführung hinsichtlich der Behandlung des Problems der DDR - Bürger, die sich in der BRD Botschaft in Prag aufhalten, gibt. Er verband dies mit dem Hinweis darauf, daβ die BRD gegenüber der UVR ihren Dank schon ausgedrückt habe und diesen auch materiell zeigen werde. Dasselbe Angebot gelte auch für die CSSR. Die im Gespräch mit dem tschechoslowakischen Auβenminister übermittelte Botschaft Genschers enthielt eine sehr emotionell betonte Darstellung der Lage in der BRD - Botschaft in Prag sowie das Angebot, dieses Problem nach dem »ungarischen Modell« oder in der Weise zu lösen, wie in Sofia mit den rumänischen Bürgern ungarischer Nationalität verfahren wurde, die mit Dokumenten des Internationalen Roten Kreuzes ausreisten. Man wolle niemanden irritieren und deshalb keine BRD - Pässe für die betreffenden DDR - Bürger ausstellen. Genosse Johanes hat die uneingeschränkte Unterstützung für die DDR zum Ausdruck gebracht und betont, daβ die Haltung der BRD direkt gegen die Schluβakte der KSZE - Konferenz von Helsinki verstöβt. Im weiteren Verlaufe des Gespräches beharrte der Botschafter der BRD darauf, daβ eine »pragmatische humanitäre Lösung« gefunden werden müsse. Gen. Kadnar erklärte, er habe den Auftrag, die höfliche Bitte und Frage zu äuβern, ob zur Lösung dieses Problems nicht zu der Praxis zurückgekehrt werden könne, wie sie 1984 angewandt wurde, als sich gleichfalls ca. 500 DDR Bürger in der BRD - Botschaft in Prag aufhielten. Die tschechoslowakische Seite kennt nicht die damals abgegebenen Garantien, sondern nur die Resultate. Man müsse dabei in Betracht ziehen, daβ sich der 40. Jahrestag der DDR nähere, die UNO - Vollversammlung beginne und der Gegner die entstandene Lage zu einer breiten Kampagne nutzen würde. Es könne nicht ausgeschlossen werden, daβ auch eine Epidemie entstehe, Selbstmorde versucht werden könnten und damit die Berichterstattung der westlichen Medien sich auf »menschliche Tragödien«, von denen auch Frauen mit Kleinstkindern betroffen seien, konzentrieren wird. Die DDR werde gebeten zu überlegen, ob eine Lösung des Problems in Prag durch eine einmalige, ausdrücklich als groβe Ausnahme deklarierte Verfahrens-
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weise möglich wäre. Die tschechoslowakische Seite würde sichern, daβ eine lückenlose Bewachung der BRD - Botschaft sowie eine Erhöhung des Stahlzaunes um die Botschaft, der Eigentum der CSSR ist, vorgenommen würde. Diesbezügliche Gespräche seien bereits durch das MfAA mit verantwortlichen Mitarbeitern des Innenministeriums der CSSR geführt worden. Dr. Schwiesau
25. September 1989 Dok. 11 Politbüromitglied Schabowski in Prag : Wir halten zusammen ! Fernschreiben des Botschafters in Prag, Hermann Huber, an das Auswärtige Amt über den Besuch des 1. Sekretärs der SED - Bezirksleitung Berlin, Günter Schabowski, in Prag am 21. September 1989 PA AA 210, 140.715 E, unpag. – Kopf : Aus : Prag, Nr. 2193 vom 25. 9. 1989, 1638 OZ, an : Bonn AA cito, eingegangen : 25.9.1989, 17.45 OZ, Az. : POL 322 DDR, VS - NfD 251100. – Verteiler : Hei, Ex. : 1–5 : 5, 6 : STS, BM - Delegation cto, Ständige Vertr. cto, Moskau cto, Budapest cto. – Vermerk : VS – Nur für den Dienstgebrauch. – Verfasser : BR I Metzger.
Betr. : Beziehungen CSSR – DDR hier : Zufluchtsuchende Deutsche aus der DDR Zur Unterrichtung 1. Am 21. 09. 89 weilte PBM.ZKS Günter Schabowski zu einem »kurzen Arbeitsbesuch« ( s. CTK ) in Prag, wo er insbesondere im Beisein seines hiesigen Counterparts, des KPTsch - Sekretärs der Stadt Prag, Stepan, von GS Jakes empfangen wurde. Laut Rude Pravo vom 22.09.1 ging es bei den Prager Gesprächen Schabowskis um die Zusammenarbeit von SED und KPTsch sowie zwischen der CSSR und der DDR. Schabowskis habe auch über die aktuelle Lage in der DDR informiert und über die »gegenwärtige feindliche Kampagne« gegen die DDR gesprochen, »die aus dem Westen in der Absicht geführt« werde, »die erreichten Ergebnisse des Aufbaus des Landes am Vorabend des 40. Jahrestages der Gründung der DDR zu diskreditieren.« Was die TSL - Seite hierzu gesagt hat, wird von den Medien nicht wiedergegeben. 2. Am Tag nach dem Besuch Schabowskis trat am 22.09. das Präsidium der KPTsch zu seiner üblichen Sitzung zusammen. Wie wir unzweifelhaft aus dem tsch. AM wissen, daß uns dafür um Mitteilung von Zahlen bat, stand auf der Tagesordnung auch das Thema »Zufluchtsuchende Deutsche aus der DDR« in der Botschaft Prag. Bemerkenswerterweise fehlt hierzu allerdings jeglicher Hinweis in TSL - Medien, die seit über einem Jahr stets ausführlich über jeder KPTsch - Präsidiumssitzung berichten. 1
»Přijetí u M. Jakeše« [ Empfang bei M. Jakeš ]. In : Rudé Právo vom 22.9.1989.
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3. Es liegt nahe, Schabowskis Besuch und die Präsidiumssitzung in Zusammenhang zu bringen, zumal, da wohl auch der hiesigen DDR - Botschaft nicht entgangen sein kann, daß die tsl - Seite sich ernsthaft Gedanken darüber machte (und wohl noch macht ), ob und wie ggf. der dramatischen Überflutung der Botschaft durch zufluchtsuchende Deutsche aus der DDR Einhalt geboten werden könnte. Von entsprechenden Maßnahmen will die tsl - Seite, lt. Botschafter Kadnar, bisher vor allem Abstand genommen haben, »um nicht in internationale Abläufe« einzugreifen. 4. Wenn man Kadnars These hinzunimmt, daß die gegenwärtige Fluchtwelle vor allem die orthodoxen Reformgegner in den sozialistischen Staaten »stärkt«, weil sie argumentieren, daß der »Umbau« zur Destabilisierung führe, so mag die tsl - Zurückhaltung nicht zuletzt der Sorge entspringen, diese Kräfte könnten Prag vorwerfen, ihnen das Konzept zu verderben. So ist es ferner nicht abwegig, anzunehmen, das Schabowski GS Jakes nicht etwa zur Kompromissbereitschaft ermuntern wollte, sondern das es ihm darum ging, daß KPTsch Präsidium für weiteres »Stillhalten« zu gewinnen : ganz offenkundig glaubt man in Ost - Berlin, daß die eigene Verhandlungsposition gegenüber der Bundesrepublik Deutschland umso besser wird, je mehr Zufluchtsuchende aus der DDR die Botschaft aufsuchen und je schwieriger deren »Ent« Sorgungslage wird. 5. Über kurz oder lang dürfte die tsl - Seite gleichwohl »etwas unternehmen«, da sie weiß, daß sie sich nicht auf Dauer hinter der These zurückziehen kann, daß es sich bei den Zufluchtsuchenden um ein deutsch - deutsches Problem handele : die Problematik, ja Dramatik, spielt sich auf TSL - Boden ab, das Image Prags wird tangiert, wenn es die Zustände unhaltbar werden lässt. Ein Indiz dafür, daß man hier u. U. nicht gewillt ist, Ost - Berlin blindlings, d. h. unter Zurückstellung eigener Interessen, weiterhin Gefolgschaft zu leisten, mag z. B. darin gesehen werden, daß auf der »Sitzung der Ideologie - Sekretäre der Bruderparteien« in Ost - Berlin der Prager Chef - Ideologe Jan Fojtik auf den Solidaritätsappell Kurt Hagers nur recht verhalten eingegangen ist. Nach dem gegenwärtigen Stand der Dinge, dürfte Prag allerdings zunächst eine weiträumige, d. h. für uns nicht sofort feststellbare Absperrung des Botschaftsgeländes für Deutsche aus der DDR ins Auge fassen – evtl. mit »tröpfchenweiser Durchlässigkeit«, um uns zusätzlich zu »täuschen.« Zu einem Entgegenkommen im Sinn der von uns gewünschten humanitären und pragmatischen Schritte ist die Zeit so, AL Dr. Kadnar, vorerst noch nicht reif. Ob man in Prag über den Inhalt der Honecker - Botschaft beim Gespräch BM Seiters / RA Vogel unterrichtet ist, war bislang nicht in Erfahrung zu bringen, wenngleich es nahe liegt, daß Schabowski seine Gesprächspartner auch hierüber unterrichtet hat. Huber
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25. September 1989 Dok. 12 Anweisung zur Gesprächsführung Drahterlass des Leiters der Unterabteilung 21 des Auswärtigen Amts, Wilhelm Höynck, an den Botschafter Hermann Huber in Prag PA AA 214, 139.918 E, unpag. – Kopf : Höynck / Haupt, Plurez, Deutsche aus der DDR, Dg 21, Prag citissime nachts, Info : New York UNO citissime nachts, nachrichtlich : New York UNO für BM und D 2, Prag : für Botschafter, Az. : Dg 21 VS - NfD 250745. – Stempel : TELKO- NR. 7937, EDV - Nr./ Dat./ Par. 6007 25/9. – Schlussvermerk : Verteiler : 014, D 2, 214, Mitzeichnung vor Abgang : Durch StS auf Original erledigt, VS – Nur für den Dienstgebrauch. – Datiert : 25.9.1989.
Betr. : Deutsche aus der DDR Bezug : Telefongespräche Botschafter – Dg 21 Gespräche mit Stellvertretendem Außenminister [ Pavel Sadovsky] unter ausdrücklichem Bezug auf Weisung für dieses Gespräch durch BM bitte auf folgender Linie führen : 1. Schilderung der aktuellen Situation in der Botschaft. 2. Unsere Maßnahmen ( Aufnahme ausreisewilliger Festsitzender ) entsprechen den Bestimmungen des WAD (»Recht auf freie Ausreise«), durch die auch TSE gebunden ist. 3. Wir sind in Kontakt mit der DDR. BM Seiters hat Freitagabend (22.9.) mit RA Vogel in Bonn gesprochen. Er hat RA Vogel gesagt, er solle mit dem von ihm (Vogel ) angekündigten Angebot für die in der Botschaft Festsitzenden so schnell wie möglich nach Prag kommen, wobei er von unserer Seite in gleicher Weise begleitet werde, wie bei seinem Besuch am 12./13. September. Wir warten auf eine Antwort der DDR. Dringender Appell an die TSE - Regierung aus humanitären Gründen einer Möglichkeit zum Aufenthalt der Deutschen aus der DDR, die sich an uns wenden, außerhalb der Botschaft zuzustimmen, ohne das diese Deutschen Gefahr laufen, in die DDR abgeschoben zu werden. 4. Angesichts der immer unerträglicher werdenden Zustände in der Botschaft brauchen wir sofortige Erleichterung. Wir müssen einen Teil der Menschen in der Botschaft schnellstens anders unterbringen, z. B. unter Obhut einer humanitären Organisation oder indem Regierung uns ein weiteres Botschaftsgebäude kurzfristig zuweist. 5. Es handelt sich um Fragen von außerordentlich großem Gewicht, die Grundfragen und Substanz unserer bilateralen Beziehungen berühren. Aber nicht nur wir, auch alle anderen Staaten werden das Verhalten von TSE messen an dem, was bei vergleichbaren Situationen anderswo möglich war. Für unkon-
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trollierbare Situationen, die sich jetzt in der Botschaft ergeben können, trägt TSE vor der Weltöffentlichkeit die Verantwortung. 6. Wir bitten um erste Antwort bei Gespräch BM Genscher / AM Johanes (9.00 Uhr = 14.00 Uhr unserer Zeit ) in New York. 7. Bei möglicher Anspielung auf Frage der »Regelung« des Zugangs zur Botschaft können sie keinerlei Flexibilität erkennen lassen. Dem Eindruck, in Bonn habe man nichts gegen stärkere Bewachung des Botschaftsgrundstücks, ist ausdrücklich und entschieden zu widersprechen. 8. Bericht erbeten auch für New York UNO für BM, D2. Höynck
25. September 1989 Dok. 13 Unterredung Genschers mit Außenminister Johanes Vermerk Leiters des Ministerbüros im Auswärtigen Amt, Frank Elbe, über ein Gespräch von Bundesaußenminister Hans - Dietrich Genscher mit dem Außenminister der SSR, Jaromír Johanes, in New York PA AA 214, 139918 E, unpag. – Kopf : Leiter Ministerbüro. – Titel : Vermerk Betr. : Gespräch BM mit CSSR - AM Johanes am 25.9.1989. – Handschriftlicher Vermerk : von BM noch nicht genehmigt. – Signiert : Elbe. – Datiert : New York, 25.9.1989.
BM begann das Gespräch mit den Deutschen aus der DDR, die sich in der Botschaft Prag aufhalten. Das Schicksal dieser Menschen bewege ihn sehr. Inzwischen hielten sich auf dem Gelände der Botschaft über 800 Personen, darunter 200 Kinder, auf. Es gebe eine offenkundige Fülle von Problemen, die die Menschen unmittelbar betreffen und die auch weiterreichende Auswirkungen haben würden. Er rechne auf das Verständnis und humanitäre Handeln der CSSRRegierung. Rechtsanwalt Vogel sei am Freitag in Bonn gewesen, um mit BM Seiters zu sprechen, der für die Beziehungen zur DDR zuständig sei. An dem Gespräch habe auch Dr. Kastrup aus dem AA teilgenommen. Vogel habe weiterreichende Zusagen machen können im Hinblick auf die Zufluchtsuchenden, die sich in Prag und in Warschau aufhalten, als bei seinem letzten Besuch in Prag. Wir hätten ein Interesse daran, daß Vogel seinen Besuch in Prag so früh wie möglich wiederhole. Er habe uns am Freitag eine Antwort für Sonntag zugesagt. Diese sei nicht erfolgt. Vogel habe erst heute wieder mit der Bundesregierung Kontakt aufgenommen. Er werde morgen nach Prag gehen, um dort gemeinsam mit StS Sudhoff Gespräche mit den zufluchtsuchenden Deutschen aus der DDR zu führen. Er, BM, könne keine Reaktion der betreffenden Personen in der Botschaft Prag voraussagen. Die Erwartung sei jedoch gerechtfertigt, daß der Besuch erfolgreich sein könne, weil Vogel ein größeres Angebot unterbreiten werde, nämlich die positive Erledigung der Ausreiseanträge innerhalb von 6 Monaten
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nach Rückkehr aus der DDR. Die Bundesregierung sei an einer baldigen Lösung dieser schwerwiegenden Frage interessiert. Der AM wisse ja von dem Besuch von Herrn Kastrup, daß wir eine andere Lösung bevorzugt hätten. Wir seien jedoch bereit, jede Lösung zu unterstützen, die den Menschen helfe. AM Johanes sagte, daß die CSSR - Regierung an einer baldigen Lösung interessiert sei. Botschafter Huber habe bei seinem Vertreter vorgesprochen. Huber habe die CSSR - Regierung für die Entwicklung der Situation verantwortlich gehalten. Er möchte noch einmal betonen, daß eine Lösung nur zwischen den beiden deutschen Staaten ausgehandelt werden könne. Die gegenwärtige Situation an der Botschaft Prag behindere die Funktionsfähigkeit der Vertretung. Die Botschaft könne nicht so arbeiten, wie es dem Auftrag der Wiener Konvention über diplomatische Beziehungen entspreche. BM wies darauf hin, daß das Schlussdokument von Helsinki das Recht einräume, dorthin auszureisen, wohin man zu gehen wünsche. AM Johanes bestätigte dies, betonte aber, daß die Anwendung der Schlussakte von Helsinki in Übereinstimmung mit den Gesetzen und anderen internationalen Verpflichtungen stehen müsse. Die Bundesregierung gebe den Zufluchtsuchenden gegen den Willen der DDR die Staatsbürgerschaft der BRD. BM wies darauf hin, daß wir in keiner Weise zu Fragen der Staatsangehörigkeit Stellung nehmen. Wir suchten vielmehr pragmatische und humanitäre Lösungen. AM Johanes sagte, daß sich auch die CSSR - Seite von humanitären Erwägungen leiten ließe. Aber es gäbe doch inzwischen schon in Prag eine große Unruhe. Man stelle sich die Frage, ob man es zulassen könne, daß Personen über den Zaun stiegen. BM erwiderte hierauf, daß wir uns dadurch nicht beeinträchtigt fühlten. AM Johanes stellte dann die Frage, wie es um die Sicherheit in der Botschaft bestellt sei. Hierauf erwiderte BM, daß dies unser Problem sei. BM kam schließlich auf die Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels an Vaclav Havel zu sprechen. BM stellte fest, daß er sich stets für gute Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der CSSR eingesetzt habe – auch in sehr schlechten Zeiten, in denen andere westliche Staaten sehr zögerlich gewesen seien, ihre Beziehungen zur CSSR zu pflegen. Er möchte jetzt das deutsch - tschechoslowakische Verhältnis nicht der Kritik der Öffentlichkeit aussetzen. Er bitte daher seinem Wunsch zu entsprechen, daß Vaclav Havel die Ausreise aus der CSSR zur Entgegennahme des Friedenspreises in Frankfurt gewährt werde. AM Johanes erwiderte, daß Havels Strafe auf Bewährung ausgesetzt sei. Dies sei unter normalen Umständen ein Grund, einen Ausreissichtvermerk zu verweigern. Im Übrigen habe Havel noch keinen Antrag auf ein Ausreisevisum gestellt. Die CSSR - Seite werde – sobald ein Antrag vorliege – diesen wie alle anderen Anträge behandeln. Er, Johanes, wisse, daß BM viel für die
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deutsch - tschechoslowakischen Beziehungen getan habe. Er hoffe, daß er dies auch noch in Zukunft tun werde. Das Gespräch der beiden Außenminister berührte des Weiteren Fragen der Wiener Verhandlungen über konventionelle Stabilität und des so genannten Jakes- Planes. Elbe
28. September 1989 Dok. 14 Botschafter Huber bittet Kardinal Tomášek um Hilfe Fernschreiben des Botschafters in Prag,Hermann Huber, an das Auswärtige Amt PA AA 513, B 85 Nr. 2346 E, unpag. – Kopf : Aus : Prag. Nr. 2252 vom 28.9.1989, 1022 OZ, an : Bonn : AA, citissime nachts, eingegangen : 28.9.1989, 1116 OZ, VS – Nur für den Dienstgebrauch, Az. : RK 330. – Verteiler : Der, Sonderverteiler Deutsche aus der DDR, Ex : 1–2 : 214, 3–4 : 214, 5 : D 2, 6 : Dg 21, 7 : 210, 8 : 231, 9 : BM, 10–11 : StS, 12 : 011, 13 : 013, 14 : D 1, 15 : Dg 10, 16 : 101, 17 : 103, 18 : Dg 11, *19 : 110 (*=per Rohrpost F 15), 20 : 110–8, 21 : 111, 22 : 112, 23 : 114, 24 : 118, 25 : D 5, 26 : 502, 27 : Dg 51, 28 : 513, 29 : 514, auch für BM Delegation ctn. – Verfasser : LR I Dr. Seebode.
Betr. : hier :
Zufluchtsuchende Deutsche aus der DDR Suche nach alternativen Unterbringungsmöglichkeiten
– Auf Weisung – 1. Ich habe heute Morgen um 09.00 Uhr OZ Kardinal Tomasek aufgesucht, habe ihm die Grüße von Herrn BM überbracht und ihm die durch die zufluchtsuchenden Deutschen aus der DDR in der Botschaft entstandene Problematik ausführlich geschildert, insbesondere das Problem der stetig steigenden Zahl von Menschen, für die wir dringend alternative Unterbringungsmöglichkeiten suchten. Ich bat den Kardinal zu überprüfen, ob er im kirchlichen Bereich solche Unterbringungsmöglichkeiten sehe. 2. In seiner Antwort machte Kardinal T. deutlich, daß der Kirche vom Staat alle Räumlichkeiten genommen worden seien, die sich hierfür eignen würden. Klöster und ähnliche Gebäude stünden deshalb nicht mehr zur Verfügung. Er bedauere sehr, uns hier nicht helfen zu können. Zudem werde jeder Schritt der Kirchen von den staatlichen Organen überwacht, so daß, auch wenn er uns entsprechende Räume anbieten könnte, zusätzliche Probleme entstehen würden. Er werde sich jedoch mit seinen Weihbischöfen beraten und gemeinsam mit ihnen überdenken, ob sich nicht doch eine Lösung finden ließe. 3. Das in der üblichen, sehr freundlichen Atmosphäre geführte Gespräch stand unter dem wenig günstigen Vorzeichen einer heute stattfindenden, erneuten Gesprächsrunde staatl. Kirchen, die, wie wir hören, sehr komplizierte Fragen
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behandelt. Ich werde mich morgen jedoch nach dem Ergebnis der internen Beratung der Kurie erkundigen und hierüber berichten. Huber
28. September 1989 Dok. 15 Diplomaten streiten ( Sudhoff versus Sadovský ) Fernschreiben des Botschafters in Prag, Hermann Huber, an das Auswärtige Amt PA AA, 513,B 85 Nr. 2346 E, unpag. – Kopf : Aus Prag, Nr. 2255 vom 28. 9. 1989, 1145 OZ, an: Bonn AA, citissime nachts, Fernschreiben ( verschlüsselt ) an 513, VS – Nur für den Dienstgebrauch, Az. : RK 330 VS - NfD 280900. – Verteiler : Fu, Ex. : 1–5 : 5, 6 : StS, auch für Warschau ctn, bitte sofort StS Dr. Sudhoff vorlegen. – Verfasser : BR I Metzger.
Betr. : hier :
Zufluchtsuchende Deutsche aus der DDR, Gespräch zwischen StS Dr. Sudhoff und dem 1. tsl. VAM Sadowsky vom 27.09.[1989] Bezug : Vom Bereitschaftsdienst übermittelte StS - Weisung – Auf Weisung – Auf Initiative von StS Dr. Sudhoff ( StS ), kam am 27.09. kurzfristig ein ca. 35 Minuten dauerndes Gespräch mit dem 1. VAM Sadowsky ( VAM ) zustande, das zusammengefasst folgenden Inhalt hatte : StS legte zunächst sehr offen und eindringlich die zunehmend problematische Lage an der Botschaft Prag und die Ergebnisse der »schwierigen« aber »hilfreichen« Mission von RA Vogel dar. Er unterstrich, daß und warum wir für Menschen aus der DDR eintreten. Seit den Gesprächen des BM mit AM Johanes und von Bo[ tschafter ] Huber mit ihm, Sadowsky, sei eine »andere« Lage eingetreten, da inzwischen das Vogel - Angebot ( Garantie der Ausreise innerhalb von sechs Monaten ) vorliege. Dieses sei aber nur von einem geringen Teil der Zufluchtsuchenden aufgenommen worden. Da das Problem bald nicht mehr von der Botschaft bewältigt werden könne, habe er Weisung gegeben, das DRK, dessen Präsident schon am 28.09. in Begleitung von Experten nach Prag reisen werde, einzuschalten. Im Rahmen der Bundesregierung bitte er »die Frage humanitärer Möglichkeiten der Versorgung der Menschen in der Botschaft noch einmal zu überdenken«. Er bitte insbesondere, »die Möglichkeit zu prüfen, zufluchtsuchende Deutsche aus der DDR außerhalb der Botschaft und ggf. mit Unterstützung tsl. karitativer Organisationen unterzubringen«. Die tsl. Seite könne letztlich nicht aus ihrer humanitären Verpflichtung entlassen werden. Wir müssten mit Problemen in der Botschaft rechnen, die wir ohne tsl. Hilfe nicht lösen könnten. Er müsse die tsl. Regierung in eine humanitäre Pflicht nehmen, es gäbe keine andere Wahl, »wenn wir eine Katastrophe verhindern wollen«.
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VAM bedauerte in seiner Antwort, »daß unser erstes Gespräch in diesem Ton und mit diesem Inhalt stattfindet«, und fragte sodann, wie sich das AM der Bundesrepublik Deutschland den weiteren Fortgang vorstelle. Die Belehrung über die Verantwortung des CSSR lehne er unter einer Bedingung ab : Man habe Bo[ tschafter ] Huber »wegen der Territorialität und Unantastbarkeit des Botschaftsgeländes Garantien durch entsprechende Maßnahmen angeboten, wenn wir darum gebeten werden«. Es genüge ein Wort. Der Botschafter habe das strikt abgelehnt. Solange von uns nicht darum gebeten werde, die Botschaft abzuschirmen, lehne TSE eine Mitverantwortung ab. »Das ist ein Problem zwischen der BRDeutschland und der DDR. Wir erwarten, daß zwei souveräne Staaten Lösungen finden. Wir haben diesen Stand der Dinge nicht verursacht.« Die tsl. humanitäre Position sei es, die Versorgung und die Krankenhausbehandlung der Zufluchtsuchenden zu garantieren, »wenn es aber zu Zwischenfällen und Massenepidemien kommt, sind wir die Leidtragenden«. StS erwiderte, er werde noch am 28. 09. BM Seiters Bericht erstatten. Es sei sicher, daß die Bundesregierung alles tun werde, um mit der DDR auf hoher politischer Schiene zu sprechen. Auch wenn das Problem ein deutsch - deutsches Problem sei, spiele sich dieses auf dem Boden der CSSR ab. Ein Abschirmen der Botschaft führe nicht weiter. Nach unserem politischen Verständnis sei dies nicht zu machen. »Irgendwann wird es ohne Bitte um humanitäre Aktion aus ihrem Land nicht mehr gehen.« VAM hielt dem ( erregt ) entgegen, StS versuche, die CSSR zu erpressen. »Der Bundesrepublik Deutschland ist es ganz klar, daß das eine politische Frage ist, die der Staatsbürgerschaft der DDR. Und als Unbeteiligte werden wir damit erpresst. Die CSSR ist nicht in der Lage, das ungarische Modell nachzuvollziehen.« Er habe auch nur gemeint, so StS, der sich gegen den Begriff Erpressung verwahrte, »daß diese Masse von Menschen in der Botschaft bald nicht mehr zu bewältigen sein wird, und das es dann Sache humanitärer Organisationen der CSSR sein wird, sich auch außerhalb der Botschaft, um diese Menschen zu kümmern«. Er habe in der Botschaft klar gesagt, daß es in Bezug auf die CSSR keine ungarische Lösung geben werde. Er versuche nur, ein Szenario zu entwickeln, das Schlimmeres erspare. VAM : TSE sei bereit, weiter mit uns zu sprechen, und auch unsere Experten anzuhören. StS : Uns gehe es nicht um »offene Grenzen«. Wir wollten eine Lösung unterhalb dieser Schwelle. »Wir denken an das Rote Kreuz oder vergleichbare Organisationen, an die Möglichkeit zusätzliche Deutsche aus der DDR unterzubringen, denen wir nahe legen werden, »nehmt das Vogel - Angebot an.« Wenn dann in den nächsten Monaten nicht 10, sondern 15 tausend Zufluchtsuchende auftauchen, dann, so VAM, sei das ein tsl. Problem. »Wir haben jedes Jahr mehr als 8 Millionen DDR - Touristen in der CSSR, die ohne Visum, ohne
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Pass hierher einreisen können. Was dann ?« Das Grundproblem liege in der deutschen politischen Haltung. Auch der TSE sei es keineswegs egal, was passiere, denn man wisse, daß am Ende Prag und nicht Bonn oder Ostberlin im Regen stehe. »Warum sagt ihr nicht, daß wir die Botschaft abschotten sollen, ihr lasst Räuber und Halunken rein. Ihr schafft die Probleme und uns sagt ihr, wir seien inhuman.« StS entgegnete, daß nicht wir, sondern die DDR die Fakten schaffe. »Warum laufen denn die Menschen aus der DDR fort ?« Diese hätten Angst und seien verzweifelt. VAM : Das sei weder sein Problem, noch das der CSSR. Die BR Deutschland müsse zur Lösung der Probleme »politisch beweglicher« werden. »Menschlich« sehe man das Problem so wie Bo[tschafter] Huber, aber es sei eine Frage der Politik. »Uns verantwortlich zu machen, ist unfair. Das muss ich kategorisch ablehnen.« StS sprach abschließend seine Hoffnung aus, daß trotz unterschiedlicher Sicht der Dinge, die Probleme nicht auf dem Rücken der Menschen ausgetragen würden. Die CSSR solle ihrerseits auf bessere Verhältnisse in der DDR hinwirken und mithelfen, eine Lösung »unterhalb der politischen Linie zu finden«. VAM versicherte, man werde die Gespräche mit dem DRK führen und arbeite auch – eng – mit der DDR zusammen. Er danke dem StS für seine »korrekten und sehr fairen Bemühungen« und die sehr klare Darlegung unserer Positionen. Huber
28. September 1989 Dok. 16 Diplomatische Verhandlungen, Schewardnadse unterstützt Genscher Vermerk des Leiters des Ministerbüros im Auswärtigen Amt, Frank Elbe, über Gespräche von Bundesaußenminister Hans - Dietrich Genscher mit dem sowjetischen Außenminister Eduard Schewardnadse, dem Außenminister der ČSSR, Jaromír Johanes, dem Außenminister der DDR, Oskar Fischer, dem französischen Außenminister, Roland Dumas, und US - Außenminister James Baker in New York PA AA 214, 135918 E, unpag. – Kopf : Leiter Ministerbüro. – Handschriftlicher Vermerk : Vom BM noch nicht gebilligt, Verteiler D 2. Dg 21, 214, wv Orig 10.10.1989 – Titel : Vermerk Betr. : Gespräche BM mit AM Schewardnadse, AM Johanes, Am Fischer, AM Dumas und AM Baker über die Situation der Deutschen aus der DDR in der Botschaft Prag am 28.9.1989 in New York. – Signiert : Elbe. – Datiert : 10.10.1989.
BM wies AM Schewardnadse auf die katastrophale Entwicklung in der deutschen Botschaft in Prag hin. Dort seien inzwischen 2 500 Menschen untergebracht, darunter 500 Kinder. Die Bundesregierung sei mit der Regierung der DDR wegen
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einer Lösung des Gesamtproblems im Gespräch. Er richte die eindringliche Bitte an die sowjetische Regierung, zugunsten einer Überbrückungsmöglichkeit zu intervenieren. Es sei eine völlig untragbare Situation, daß im Herzen Europas 2 500 Menschen unter menschenunwürdigen Umständen untergebracht seien. Er bäte dringend um Unterstützung bei den Bemühungen der Bundesregierung, eine menschenwürdige Unterbringung der Zufluchtsuchenden aus der DDR in Prag zu erreichen. AM Schewardnadse reagierte äußerst betroffen. Er sagte sofortige Unterstützung in dem von BM erbetenen Sinne zu. Er werde sofort entsprechende Telegramme nach Berlin, Prag und Moskau schicken. Im gleichen Sinne intervenierte BM später während unseres Empfangs im Gebäude der Vereinten Nationen bei AM Johanes. AM Johanes sagte zu, daß er die Bitte des BM nach Prag weiterleiten werde. Er wies darauf hin, daß die CSSR Regierung keine Verantwortung für die entstandene Situation trage. BM wandte ein, daß dies nicht das Problem sei. Es gehe vielmehr darum, jetzt etwas zu tun, um für menschenwürdige Unterbringung der Flüchtlinge zu sorgen. BM telefonierte um 9.00 Uhr mit DDR - AM Fischer und richtete das gleiche Anliegen an ihn. Fischer sagte – allerdings sehr zögerlich – Weiterleitung nach Berlin zu. Am Rande des Abendessens der Sieben1 richtete BM die Bitte an AM Dumas, im Namen der Zwölf2 bei AM Johanes zu intervenieren. AM Dumas sagte dies spontan zu. US - AM Baker, der Zeuge dieses Gesprächs wurde, bot von sich aus an, ebenfalls gegenüber der CSSR - Regierung zu intervenieren. BM dankte AM Baker herzlich für dieses Angebot. Elbe [ m.p.]
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G7 - Staaten : Bundesrepublik Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Italien, Japan, Spanien, USA. Mitgliedstaaten der Europäischen Union.
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29. September 1989 Dok. 17 Auswärtiges Amt an Außenminister Genscher in New York : Lage spitzt sich zu Drahterlass des Staatssekretärs im Auswärtigen Amt, Jürgen Sudhoff, an die Delegation von Bundesaußenminister Hans - Dietrich Genscher bei der Vollversammlung der Vereinten Nationen in New York. Anlage : Schreiben von Bundeskanzler Helmut Kohl an Generalsekretär Milos Jakeš PA AA 513, B 85 Nr. 2346 E, unpag. – Kopf : Bereitschaftsdienst, Notlage Prag, 110–214, 513–330.66 TSE, VS – NfD, Einzel, New York UNO, BM - Delegation citissime nachts, BM sofort vorlegen, Az. : 110–214, 513–330.66 TSE 292000. – Schlussvermerk : Verteiler 010, 011, 013, 014, D 1, Dg 11, D 2, Dg 21, 110, 214, 513. – Datiert : 29.9.1989.
Betr. :
Lage in unserer Botschaft Prag
Heute, Freitag [ den ] 29. September, abends, ist mit bereits über 3 000 und weiter zuströmenden Zufluchtsuchenden der Punkt erreicht, an dem die Situation nicht mehr beherrschbar ist. Die Fortsetzung des laufenden Zustroms ist nicht mehr verantwortbar. I. Lagebeurteilung 1. Die Feststellungen der Delegation des DRK unter Leitung von Prinz Wittgenstein kommen zu dem Schluss, daß in der Botschaft Prag nur eine maximale Aufnahmekapazität von 3 000 Personen besteht. Dabei sind bereits Versetzungen von Zelten, Aufbau neuer Zelte, Lieferung von Etagenbetten und Inanspruchnahme zusätzlicher Arbeitsräume der Botschaft berücksichtigt. 2. Es bestehen folgende objektive Gründe, die gegen ein Überschreiten der Kapazitätsgrenze sprechen : – Statik der Gebäude, insbesondere Gefährdung beim Residenzstockwerk, daß allenfalls für Lagerung einiger Möbel und Unterbringung einiger weniger Arbeitseinheiten in Betracht kommt. Nach Feststellung der Bundesbaudirektion besteht die Decke unter der Residenz aus der nicht verstärkten ursprünglichen Holzbalkendecke aus dem 18. Jahrhundert, die möglicherweise bereits Feuchtigkeitsschäden aufweisen könnte. – Sanitäre Einrichtungen : Die Anzahl der Toiletten und erst recht der Duschen ist trotz zusätzlicher Wasch - und WC - Anlagen absolut unzulänglich. Abfluss ist wegen Dimension der Kanäle nicht mehr gewährleistet. Für die Aufstellung weiterer Toiletten ist kein Platz mehr. Zwischenräume zwischen den Zelten im Garten werden bereits als Toilettenersatz genutzt. Außerdem besteht inzwischen Wassermangel.
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– Die Gesundheitslage ist trotz zurzeit ausreichender Versorgung zunehmend prekär, da erste Fälle von fieberhaften Durchfällen und damit von Seuchengefahr aufgetreten sind. – Gefährdung der Menschen und Gebäude durch Feuer nimmt zu. Auf dem Gelände wird in drangvoller Enge gekocht und geraucht. Wasser steht bei Ausbruch von Feuer nicht in ausreichender Menge zur Verfügung. Fluchtwege bestehen nicht. – Eine nicht beherrschbare Massenpanik ( vgl. Vorgänge im Heyselstadion )1 kann auch aufgrund sich anstauender Aggressionen ( mehr als 600 Kinder, Schlechtwettereinbruch, kriminelle Elemente, Alkoholkonsum, Provokation ) ausbrechen. – Auch die Raumnot für sich hat schon zu menschenunwürdigen Zuständen geführt; Betten werden von mehreren Personen in Schichten genutzt. Viele können kein Bett mehr erhalten und schlafen auf Treppen. Es gibt z. T. nicht mehr genügend Stehfläche. – Mehr Raum kann im Gebäude nicht mehr gewonnen werden, nachdem für die Flüchtlinge die letzten Räume in Anspruch genommen worden sind, die noch freigesetzt werden konnten, ohne die Botschaft funktionsunfähig zu machen. Eine minimale Arbeitsfähigkeit der Botschaft setzt den Erhalt der Fernmeldestelle, der Kabine und der Telefonzentrale sowie der dafür erforderlichen Zugangswege voraus. Die unerlässliche Arbeit wird in die verbleibenden Räume der Residenz verlagert. Elementare Funktionsfähigkeit muss wegen der Verbindung zur Zentrale und der Verhandlungsfähigkeit mit der tschechoslowakischen Regierung erhalten bleiben. Nur so kann auch die weitere Versorgung der über 3 000 Menschen ermöglicht werden. Auch für sie ist der diplomatische Schutz nach dem WÜD unerlässlich, der eine minimale Präsenz und Aufgabenerfüllung voraussetzt. Diese Einschätzung beruht auch auf den persönlichen Eindrücken von D 1, der soeben aus Prag zurückgekehrt ist. 4. Ab morgen wird das DRK die gesamte Versorgung und Betreuung der mehr als 3 000 Menschen übernehmen. Das erforderliche zusätzliche DRK - Personal reist spätestens morgen früh um sieben Uhr aus : drei Einsatzkräfte Verpflegungsdienst, zwei Schwesternhelferinnen, ein Einsatzführer, ein DRK - Arzt, eine exam. Krankenschwester, sechs Einsatzkräfte Betreuungsdienst. Botschaft Prag bittet dringend, mit Ärzten und medizinischem Personal die Empfehlungen des DRK nicht zu überschreiten. Das weitere angeforderte Hilfsmaterial wird ab 14.00 Uhr auf den Weg gebracht. Die Verpflegung ist 1
Im Heysel - Stadion in Brüssel ereignete sich im Rahmen eines Fußball - Europapokalspiels am 29.5.1985 eine Katastrophe. Als Anhänger Liverpools in den neutralen Sektor stürmten, brach Panik aus und eine Wand stürzte ein. 39 Menschen wurden getötet, 454 verletzt.
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mit u. a. 15 000 Portionen Essen für die 3 Feldküchen für mehrere Tage sichergestellt. Roem 2 1. Maßnahmen in deutscher Regie a ) Sperrung des Zaunes von innen durch HOD - Kräfte Bewertung: Keine praktikable Lösung. HOD - Kräfte (20 Mann ) müssen am Zaun DDR - Bürger abwehren und haben 3 000 Zufluchtsuchende im Rücken, die sie in ihrer Tätigkeit behindern könnten. b ) Sperrung des Zaunes durch Baumaßnahmen Bewertung: Technisch ist eine Erhöhung des vorhandenen Zaunes nicht möglich. Politisch - optisch sehr schlechte Lösung. In der Kürze der Zeit nicht zu verwirklichen. 2. Maßnahmen der tsl. Seite Abschirmung des Zaunes Bewertung: Wir sehen keine andere Möglichkeit, weiteren Zuwachs zu beschränken, als diese Maßnahme zu ergreifen. Dieser Schritt – in der Situation eines auch der tsl. Seite gegenüber zu erwähnenden übergesetzlichen Notstandes – muss begleitet werden durch : a ) Beharren gegenüber der tsl. Seite, zusätzlichen Unterbringungsraum verfügbar zu machen, um die Situation in der Botschaft zu entlasten, unter gleichen Bedingungen wie in der Botschaft. b ) Hinweis auf diese Maßnahme durch öffentlichen Appell, keinen Zugang zur Botschaft mehr zu versuchen, da Lage nicht mehr verantwortbar ( Schiff ist voll ). c ) Erläuterung der Maßnahme gegenüber den Gästen in der Botschaft. 3. Modalitäten a ) zeitliche Beschränkung der Abschirmung und / oder Zusage der Aufhebung jederzeit auf deutsche Bitte. b ) Bitte um Vermeidung des Einsatzes körperlicher Gewalt gegen Personen, die versuchen sich Zugang zur Botschaft zu verschaffen, und möglichst weiträumige Sperrung des Zugangs zum Zaun. c ) Führung des Gesprächs mit der tsl. Seite am 30. 09. 1989 durch Botschafter Huber im tsl. AM Roem 3 Weitere zeitgleiches politische Schritte : Vorschlag : a ) Brief des Bundeskanzlers an GS Jakes. Entwurf liegt als Anlage bei. b ) Briefliche oder telefonische Kontaktaufnahme des Bundeskanzlers mit GS Honecker.
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Roem 4 Innenpolitische Absicherung : – Eine Entscheidung zur Absperrung des Zugangs zur Botschaft Prag bedarf der Abstützung im politischen Raum, zuerst mit dem BK. Ebenfalls sollten die Fraktionsvorsitzenden also – MdB Dregger ( CDU / ggfs. auch MdB Bötsch ( für die CSU ) – MdB Vogel ( SPD ) – MdB Mischnik ( FDP ) – MdB Lippelt / MdB Frau Vollmer ( Die Grünen ) telefonisch am besten von Ihnen persönlich unterrichtet werden Sudhoff, Lautenschläger Folgt Text Anlage An den Generalsekretär der Kommunistischen Partei der CSSR, Herrn Dr. Milos Jakes, Prag [ Dok. 17].
29. September 1989 Dok. 18 Schreiben von Bundeskanzler Kohl an Generalsekretär Jakeš Anlage zum Drahterlass des Staatssekretärs im Auswärtigen Amt, Jürgen Sudhoff, an die Delegation von Bundesaußenminister Hans - Dietrich Genscher bei der Vollversammlung der Vereinten Nationen in New York. PA AA 513, B 85 Nr. 2346 E, unpag. – Kopf : Bereitschaftsdienst, Notlage Prag, 110–214, 513–330.66 TSE, VS – NfD, Einzel, New York UNO, BM - Delegation citissime nachts, BM sofort vorlegen, Az. : 110–214, 513–330.66 TSE 292000. – Schlussvermerk : Verteiler 010, 011, 013, 014, D 1, Dg 11, D 2, Dg 21, 110, 214, 513. – Datiert : 29.9.1989.
Sehr geehrter Herr Generalsekretär, die Lage in der Botschaft der Bundesrepublik Deutschland in Prag, in der mehr als 3 000 Bürger der DDR Zuflucht gesucht haben, wird immer besorgniserregender. Herr Außenminister Genscher hat wegen dieser Frage mit Herrn Außenminister Johanes zwei Gespräche in New York geführt. Ich wende mich an Sie mit der dringenden Bitte, einer Regelung zu zustimmen, die es ermöglicht, die betroffenen Menschen vorübergehend außerhalb des Botschaftsgeländes unterzubringen. Der Präsident des Deutschen Roten Kreuzes, Botho Prinz zu Sayn - Wittgenstein, hat über solche Möglichkeiten am 29.09.1989 mit dem amtierenden Präsidenten des Tschechoslowakischen Roten Kreuzes, Herrn Novotny, gesprochen. Die Menschen, die sich in unserer Botschaft aufhalten, haben sich entschieden, in die Bundesrepublik Deutschland auszureisen. Sie möchten deshalb sicher sein, bei vorübergehender Unterkunft außerhalb der Botschaft nicht gegen ihren Willen in die Heimat zurückgeführt zu werden. Für
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eine entsprechende Zusicherung wäre ich Ihnen ebenfalls dankbar. Ich appelliere an Sie, im humanitären Geiste und im Einklang mit den Prinzipien der KSZE Schlussakte von Helsinki zu handeln. Mit dem Ausdruck meiner vorzüglichen Hochachtung, gez. Helmut Kohl
29. September 1989 Dok. 19 Aufnahmefähigkeit restlos erschöpft Vermerk des Leiters der Unterabteilung 21 des Auswärtigen Amts, Wilhelm Höynck PA AA 214, 139918 E, unpag. – Kopf : Dg 21. – Vermerk : HR : 2924. – Datiert : 29.9.1989.
Betr. : hier :
Deutsche aus der DDR; Botschaft Prag.
I. Wir können die Situation nicht mehr ausschließen – in der die Aufnahmefähigkeit der Botschaft restlos erschöpft ist, – die Menschen in der Botschaft objektiv vor weiterem Zustrom geschützt werden müssen und Schutz vor weiteren Zulauf fordern, – eine anderweitige Unterbringung nicht möglich ist. II. Handlungsmöglichkeiten, die einzeln oder kombiniert realisiert werden können : 1. Dringender Appell ( innerhalb der Botschaft und öffentlich ) an die Zufluchtsuchenden in Prag, die Zusage RA Vogels haben, die Botschaft zu verlassen, um innerhalb der Botschaft erträgliche Zustände zu ermöglichen. 2. Politischer Appell an die Deutschen in der DDR nicht mehr zu versuchen, in unsere Botschaft in Prag einzudringen. »Das Boot ist voll.« Wir haben alle Möglichkeiten ausgeschöpft – es geht nicht mehr. »Sie gefährden unsere Landsleute in unserer Botschaft !« 3. Mit dem BMI / Bundesbaudirektion ein Konzept entwickeln, wie wir die Menschen in der Botschaft davor schützen können, durch weiteren Zulauf erdrückt zu werden. Vorbereitungen von Veränderungen am Zaun kombiniert mit Schutz durch HOD von innen ? 4. Erneuter politischer Appell, nicht in die Botschaft einzudringen und Warnung vor unabsehbaren Konsequenzen, falls versucht wird, mit Gewalt in die Botschaft einzudringen. Gleichzeitig: Realisierung der vorbereiteten Maßnahmen. Vorher: Demarche im AM in Prag mit der dringenden Bitte – in unsere Abwehrmaßnahmen nicht einzugreifen;
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– keine Maßnahmen gegen Deutsche aus der DDR zu ergreifen, die wir abwehren müssen.
29. September 1989 Dok. 20 Regierungspräsidium der ČSSR : Vorschlag – Ausreisen lassen Vermerk von Václav Novotný über die Lagebesprechung im ČSSR - Regierungspräsidiums zur Lage in der Botschaft der Bundesrepublik ABS Praha. Objektový svazek reg. Č. 845 (»Obora«), čast 9, l. 177n. – Verfasser: Kpt. Václav Novotný. – Datiert: 29.9.1989. – Titel: Niederschrift der Lagebesprechung – Information.
Übersetzung Am 29.9.1989 nahm ich an der Sitzung im Regierungspräsidium der ČSSR beim Abteilungsleiter Genosse Soukup, teil. An der Besprechung nahmen auch der Leiter der Presseabteilung des Regierungspräsidiums der ČSSR, Genosse Pavel, und der Abteilungsleiter der 4. Territorialabteilung des Föderalen Außenministeriums, Genosse Kadnár, teil. Genosse Kadnár führte an, daß er noch vor dieser Besprechung persönlich mit den Genossen Lenárt, Fojtík, Štefaňák beraten hatte, mit dem Ziel, die gegenwärtige Lage in der BRD - Vertretung in Prag zu beurteilen und Maßnahmen vorzuschlagen, die zu einer radikalen Änderung der Situation in der Vertretung führen würden. Es wurde vorläufig Folgendes festgelegt : Es sollen Voraussetzungen dafür geschaffen werden, daß der DDR - Botschafter Genosse Ziebart offiziell das tschechoslowakische Bundesministerium für Auswärtiges um Hilfe bittet, damit der weitere Zulauf der DDR - Bürger in der BRD - Vertretung verhindert werden kann. Diese Forderung sollte noch durch eine diplomatische Note des Außenministeriums der DDR an das Föderale Außenministerium der Tschechoslowakei bekräftigt werden. Durch die Konsularabteilung der DDR - Vertretung sollen Voraussetzungen geschafft werden, daß seitens der DDR den Bürgern, die sich auf dem Gelände der westdeutschen Botschaft aufhalten, eine Genehmigung der Ausreise über das DDR - Gebiet in die BRD erteilt wird ( dies kann z. B. durch die Amnestie zum 40. Jahrestag der Entstehung der DDR begründet werden ). Mit Hilfe der Polizei soll ein undurchdringbarer Kordon geschaffen werden, damit eine weitere Durchdringung der DDR - Bürger auf die BRD - Vertretung verhindert wird, einschließlich der Zaunerhöhung und anderer technischer Hindernisse ( sollte diese Entscheidung seitens der Bundesrepublik belangt werden, wird das Föderale Ministerium für Auswärtiges die Maßnahmen durch die
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Wiener Konvention aus dem Jahre 1961 begründen, daß eine ausländische Vertretung zur Asylgewährung nicht missbraucht werden darf ). Es wurde weder das »ungarische« noch das »polnische« Modell angenommen, sondern es wird das »Berliner - Prager - Modell« angewandt, so wie oben dargelegt. Genosse Kadnár nimmt an, daß die vorgeschlagenen Varianten bei der heutigen Präsidiumssitzung des ZK - KPTsch beraten und angenommen werden. Novotný
29. September 1989 Krisensitzung im Zentralkomitee der KPTsch : Ja zur Ausreise Telegramm des tschechoslowakischen Außenministeriums an den Außenminister Jaromir Johanes in New York
Dok. 21
AMZV Praha. Telegramy odeslané, 1989, sv. 9, pořadové číslo 3335. – Absender: Vizeaußenminister Sadovský. – Adressat: Außenminister Johanes in New York. – Datiert: 29.9.1989, – Vermerk: Blitz, sofort übergeben.
Übersetzung Nach der Rückkehr von Lenárt von einer Sitzung in Varna, gab es heute Morgen, den 29. September, eine Arbeitssitzung im ZK zu den Problemen der DDR Bürger in der BRD - Vertretung ( heute Vormittag bereits 2 700 Menschen ). Nach der Beratung ( Lenárt, Štěfaňák, Sadovský, Kadnár ) wurde Langer in Berlin empfohlen, sofort Axen oder den ZK - SED - Abteilungsleiter für Internationales, Sieber, zu besuchen und diesen über die tsl. Vorschläge zu informieren : 1. Die DDR muss aktiver im Interesse der Entspannung der gesamten Problematik handeln; die tsl. Seite erwartet, daß ein Beauftragter der DDR offiziell die tsl. Behörden um die Verstärkung der Sicherheitsvorkehrungen um die BRD Botschaft beantragt, damit den DDR Bürgern der Einstieg über den Garten verwehrt wird. 2. Die DDR könnte anlässlich des 40. Jahrestages eine Amnestie verkünden. 3. Im Rahmen der Amnestie folgende Anweisung geben : Die Konsulate der DDR - Botschaft sollen den DDR - Bürgern Pässe und Ausreisegenehmigungen für die BRD ausstellen und die BRD - Konsulate würden in den DDR - Pässen die Einreisebewilligung in die BRD bestätigen ( dies ermöglicht der DDR Seite eine Selektion ). 4. Die DDR stellt Busse zur BRD - Vertretung zur Verfügung und überführt ihre Bürger über das DDR - Staatsgebiet in die BRD, wo sie entlassen werden. Nach letzter Information unserer Berlin - Vertretung besuchte Langer Sieber und trug die Vorschläge vor. Wir erwarten eine Rückmeldung seitens der DDR.
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Zusätzlich wurden RP und ČTK vom FMZV1 angewiesen, einen scharfen Kommentar gegen die BRD - Politik vorzubereiten ( Pangermanismus, Neorevanchismus und territorialer Revanchismus, Störung des Entspannungsprozesses, usw.). Die Verhandlung mit dem Roten Kreuz der BRD fand erst am 29.9. statt, nach einer vorhergehenden Sondierung durch die BRD - Vertretung. Wurde seitens der BRD höflich geführt, im Gegensatz zum Verhalten Sudhoffs. Die tsl. Seite wurde um eine Lösung der technisch - humanitären Probleme gebeten, wegen eines Lagerraums für medizinisches Material, Unterbringung des Personals des Roten Kreuzes der BRD außerhalb der Vertretung usw. Dem wird stattgegeben. Das ungarische Modell lehnen wir kategorisch ab. Genauso lehnen wir eine Überlassung eines weiteren Gebäudes für die BRD - Vertretung mit sogenannten exterritorialen Rechten ab. Über die o.g. tsl. Vorschläge für die DDR wurde GS Jakeš informiert. Über weitere Entwicklungen wirst Du informiert. Zu deinem [ Telegramm ] 0212.2 In der gegebenen Sache habe ich dir bereits Informationen, unter den Nr. 0721.856; 071.859; 071.861; 071.879, zugesandt. Sadovský
29. September 1989 Dok. 22 Unterredung des sowjetischen Botschafters Andrei W. Lomakin mit Generalsekretär Miloš Jakeš : Sowjetische Vorschläge abgelehnt Telegramm des tschechoslowakischen Außenministeriums an den Außenminister Jaromir Johanes. AMZV Praha, Telegramy Odeslané, 1989, sv. 9, pořadové číslo 3338. – Absender: 4. Territoriale Abteilung des Außenministeriums der ČSSR. – Adressat: Außenminister Johanes und UN-Vertretung der ČSSR. – Datiert: 29.9.1989. – Vermerk: Geheim; Blitz – sofort übergeben.
Übersetzung Am 29.09.89 besuchte Lomakin Jakeš und Lenárt. Er übergab den Text der Aufnahme des Gespräches zwischen Schewardnadse und Genscher vom 28. 09. 89 zur Problematik der DDR - Bürger in der BRD - Botschaft in Prag.
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RP : KP - Parteizeitung »Rudé Právo«; ČTK : Tschechoslowakische Presseagentur; FMZV : Das föderale Ministerium für Auswärtiges. Dokument mit Informationen über die Aktivitäten der Ausschüsse bei der UN - Vollversammlung, die mit den Zufluchtsuchenden in der bundesdeutschen Botschaft zu tun haben.
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Lenárt antwortete Lomakin: Wir haben der DDR weitere Möglichkeiten vorgeschlagen, um die zunehmend schwierige Lage zu entspannen ( Verweis auf die schriftlichen Vorschläge, die der DDR - Seite überreicht worden sind ); wir erwarten von der DDR eine Antwort. Wir werden weder ein Gebäude noch andere Räumlichkeiten auf der Basis der Exterritorialität für die DDR - Emigranten zur Verfügung stellen. Wir haben nicht vor, auf dem tschechoslowakischen Gebiet Flüchtlingslager einzurichten. Wir sind bei dieser Angelegenheit an eine Reihe von internationalen Verträgen mit der DDR gebunden und wir werden diese Verträge einhalten. Eine Verletzung der gültigen Verträge erachten wir im Einklang mit der tschechoslowakischen historischen Erfahrungen für »Appeasement - Politik nach Münchner Art« (»mnichovanství«) Anmerkung: In den Abendstunden informierte Spáčil telefonisch, daß er zu Sudhoff vorgeladen worden ist, der ihn in scharfem und arrogantem Ton informierte, daß Genscher durch das Gespräch mit Johanes sehr enttäuscht war. Sudhoff fordert im Auftrag Genschers Spáčil auf, sich an die tschechoslowakische Regierung zu wenden und eine schnelle Lösung für die Ersatzunterkünfte für die DDR - Bürger in der Botschaft zu finden, weil eine nicht mehr zu bewältigende Entwicklung droht. Er warnt die ČSSR, daß falls der Bitte nicht entsprochen wird, dies »tiefgreifende Folgen« für die bilateralen Beziehungen mit der Bundesrepublik und weitere Ländern haben könnte. Spáčil lehnte diese tiefgreifende Erpressung ab. Lenárt, Kincl wurden informiert. Der tschechoslowakische Standpunkt bleibt unverändert. Sadovský
29. September 1989 Dok. 23 DDR - Botschafter Helmut Ziebart an SED - Politbüro : KPTsch fordert Ausreisebewilligung BStU Berlin, ZA, HA II, 32922, Bl. 5–7. – Absender : Ziebart – Adressat : Gen. Günter Mittag; Gen. Hermann Axen; Gen. Sieber, ZK - IV; Gen. H. Krolikowski – Datiert : 29.9.1989, 16.35 Uhr. – Vermerk : Blitz - n; gvs - t - b 7/4–27/89; Ausf. 3 Blatt.
Genosse Lenart teilte mir während der Unterredung auf dem chinesischen Empfang mit, daß das Präsidium am 29. September den Bericht vom Genossen Sadovsky über die Situation in der hiesigen BRD - Botschaft entgegennahm und empfahl, die darin enthaltenen Vorschläge für eine Lösung der gegenwärtigen Situation dem ZK der SED als Anregung zu übermitteln. Botschafter Frantisek Langer erhielt den Auftrag, sie dem Genossen Sieber oder dem Genossen Axen
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vorzutragen. Die große Anzahl der sich in der BRD Botschaft befindlichen DDRBürger und die damit verbundenen Auswirkungen auf die CSSR ( täglicher Neuzugang von DDR - Bürgern, Verstopfung von Prager Straßen durch abgestellte Pkw, unmögliche hygienische Zustände auf dem Gelände der Botschaft, die die Gefahr einer Epidemie zu befürchten lassen ), so fuhr Genosse Lennart fort, zwingen zu Überlegungen, welche weiteren Schritte unternommen werden könnten. Als Möglichkeiten, die im Präsidium erwogen wurden, nannte er 1. eine drastische Verringerung der gegenwärtigen Anzahl von DDR - Bürgern durch eine »Ausreise per Bus über Territorium der DDR in die BRD«. Auf dem Territorium der DDR könnten die erforderlichen Formalitäten zur Ausreise vorgenommen werden. Dabei könnte die DDR unter Umständen selektiv vorgehen, d. h. Personen, die strafrechtlich wegen bestimmter Delikte zur Verantwortung zu ziehen sind, in diese Aktion nicht einzubeziehen. 2. Regelung der Ausreise für die in den Bonner Botschaften sich befindlichen DDR - Bürger im Rahmen einer allgemeinen Amnestie zum 40. Jahrestag der DDR. Genosse Lennart stellte fest, daß die CSSR der Forderung, einen Gebäudekomplex für die DDR - Bürger exterritorial zur Verfügung zu stellen, nicht nachkommen wird, dabei spiele auch die Tatsache eine Rolle, daß die CSSR über etwas »angemessenes in dieser Richtung nicht verfüge«. Genosse Sadovsky, der bei diesem Gespräch zugegen war, teilte mir, nachdem ich mich von Genosse Lennart verabschiedet hatte, noch folgende Gedanken aus seinem Bericht an das Präsidium mit : – Die CSSR ist in eine schwierige Lage geraten, da Vogels Vorschlag nicht »massenwirksam« aufgegriffen wurde und die BRD alle Angebote auf Absicherung des Botschaftsgeländes ablehnt. – Die DDR hat nach Aufenthalt von Rechtsanwalt Vogel in der BRD Vertretung keine neuen Vorschläge zur Lösung des Problems auf staatlicher Ebene unterbreitet. Die in Berlin geäußerte Idee, eine Mauer um die Botschaft zu bauen, sei für Prag nicht akzeptabel. – Offiziell habe die DDR keinen Antrag auf die Durchführung von Sicherheitsmaßnahmen gestellt, um das Eindringen von DDR - Bürgern in die BRD Botschaft zu verhindern. – Die internationalen Belastungen und das Drängen aus bestimmten CSSR Kreisen ( Kirche, Oppositionsgruppen ) nach einer Lösung nehmen zu. Ich erwiderte dem Genossen Sadovsky, daß die DDR, wie in der Vergangenheit, auch weiterhin alle Vorschläge zur gemeinsamen Lösung und unter Berücksichtigung gemeinsamer Interessen sorgfältig prüfen wird. Ich verwies darauf, daß die DDR mit dem jüngsten Vogel-Angebot einen sehr weitgehenden Vorschlag aus humanitären Erwägungen unterbreitet hat, der selbst in Bonn Überraschung auslöste. Ich bemerkte, daß es bestimmten Bonner Kreisen und
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Medien [ sic !], dieser Vorschlag nicht in ihre Konzeption der fortdauernden Verleumdungskampagne gegen die DDR passt und von Bonner Stellen, soweit mir bekannt, bisher keinerlei Zusagen gemacht wurden, daß die BRD künftig ihre Vertretungen nicht als Schleusen missbrauch lässt. Auf dem gleichen Empfange sprach ich mit Genosse Jakes. Ich brachte die Freude des Genossen Erich Honeckers über seine Teilnahme an den Feierlichkeiten in Berlin zum Ausdruck und informierte ihn über das Programm zum 40. Jahrestag. Ich bemerkte danach, daß die BRD ihre Anti - DDR - Kampagne unvermindert fortsetzt. Ich schilderte ihm die Antwort von den Mitgliedern der Parteiführung auf diese Kampagne in den Reden der letzten Tage, anlässlich einzelner Veranstaltungen zum 40. Jahrestag. Genosse Jakes reagierte wie in seiner Unterredung mit Genosse Schabowski. Er verurteilte diese Attacken gegen die DDR und die CSSR und charakterisierte sie als Versuch, in beiden Ländern ähnliche Entwicklungen auszulösen, wie sie leider in Polen und Ungarn vor sich gegangen sind. Er ging mit keinem Wort auf die Lage in der BRD - Botschaft und die neuen Empfehlungen der CSSR ein. Genosse Stepan teilte mir, mit der Bitte um absolute Vertraulichkeit, mit, daß nach seiner Meinung die Gespräche Genschers mit Johanes und Schewardnadse in New York »im Hintergrund der neuen Überlegungen stehen«. Soviel er gehört habe, soll Genscher Schewardnadse gebeten haben »auf die CSSR Einfluss zu nehmen, daß sie beweglicher auf die Bonner Forderungen reagiere«. Zum anderen betonte er, daß der Aufenthalt der DDR - Bürger in der BRD - Botschaft und eine Reihe von damit zusammenhängenden Auswirkungen mehr und mehr zu einem Problem der öffentlichen Ordnung in Prag werden. Ziebart
29. September 1989 Beschluss des SED - Politbüros : Ausreise bewilligt ! Protokoll der Sitzung des Politbüros des ZK der SED
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SAPMO BArch, DY 30, J IV 2/2A /2348, unpag. – Titel : Protokoll Nr. 39 der Sitzung des Politbüros des ZK der SED vom 29.9.1989.
Protokoll der Sitzung des Politbüros des ZK der SED Anwesende Mitglieder : Honecker, Axen, Dohlus, Herrmann, Jarowinsky, Keßler. Kleiber, Krolikowski, Mielke, Mittag, Neumann, Schabowski, Stoph Anwesende Kandidaten : Schürer Entschuldigt : Böhme, Eberlein, Hager, Krenz, Lorenz, Mückenberger, Neumann, Lange, G. Müller, M. Müller, Walde, Naumann
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Beginn : 17.00 Uhr Ende : 17.20 Uhr Sitzungsleitung : Genosse E. Honecker Protokollführung:Genosse E. Schwertner Beschluss : Zu aktuellen Fragen Berichterstatter : E. Honecker 1. Dem Vorschlag, die in den Botschaften der BRD in Prag und Warschau befindlichen DDR - Bürger mit Zügen der Deutschen Reichsbahn von Prag bzw. Warschau über das Territorium der DDR in die BRD zu transportieren, wird zugestimmt. Der Minister für Auswärtige Angelegenheiten der DDR wird beauftragt, zur entsprechenden Zeit eine Mitteilung zu veröffentlichen. 2. Der BRD - Regierung wird anheim gestellt, sich dafür einzusetzen, daß die weitere Aufnahme von DDR - Bürgern in BRD - Botschaften im Ausland nicht gestattet wird. 3. Genosse Oskar Fischer ist über diese Entscheidung sofort zu informieren. Verantwortlich : Genosse H. Axen 4. Es ist zu sichern, daß über die Botschaften der DDR in Prag und Warschau sofort die Genossen Jakes und Jaruzelski informiert werden. Genosse H. Neubauer, Leiter der Ständigen Vertretung der DDR in der BRD, wird beauftragt, die Regierung der BRD über die Entscheidung zu informieren und der Regierung der BRD anheim zustellen, diese Maßnahme zu unterstützen. Verantwortlich : Genosse H. Axen, Genosse H. Krolikowski 5. Über diesen humanitären Akt der Regierung der DDR ist ein Kommentar in der Presse, im Rundfunk und im Fernsehen zu veröffentlichen. Verantwortlich : Genosse J. Herrmann
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29. September 1989 Dok. 25 Bericht des Botschafters Huber : Lage ist katastrophal ! Fernschreiben des Botschafters in Prag, Hermann Huber, an das Auswärtige Amt PA AA 513, B 85 Nr. 2346 E. – Vermerk : Aus Prag, Nr. 2284 vom 29.9.1989, 20.00 OZ, an : Bonn AA, citissime nachts, Fernschreiben ( verschlüsselt ) an 513, eingegangen : 29.9.1989, 22.08 OZ, VS – Nur für den Dienstgebrauch, Az. : RK 330 VS - NfD. – Verteiler : Sonderverteiler – Amtsleitung – Deutsche aus der DDR, Ex. : 1–2 : BM, 3–4 : StS, 5 : D 1, 6 : D 2, 7 : D 5, auch für BM - Delegation BM, D 2 cti, BMB - Bonn Büro StS cti, BMB - Berlin z. H. Herrn MR Plewa ovia cti. – Verfasser : LR I Rünger.
Betr. : Zufluchtsuchende Deutsche aus der DDR Hier : Lagebericht 29.09.1989 Bezug : DB 2271 vom 28.09.1989 – RK 330 VS – NfD – Zur Unterrichtung – 1. Derzeit, 29.09.1989 – 21.00 Uhr, halten sich ca. 3 500 zufluchtsuchende Deutsche aus der DDR in der Vertretung auf. Seit gestern, 19.00 Uhr, haben damit ca. 1 000 weitere Personen den Botschaftszaun überklettert und hier Zuflucht gesucht. Die oben genannten Zahlen sind Schätzzahlen. Die Mitarbeiter der Vertretung sind nicht mehr in der Lage, den Ansturm der Zufluchtsuchenden zu erfassen. Die Lage im Botschaftsgelände ist zudem so unübersichtlich geworden, daß präzise Erhebungen nicht mehr durchzuführen sind. 2. Der Gesundheitszustand und die psychische Verfassung der Zufluchtsuchenden sind weiterhin den Umständen entsprechend gut. Bei mehreren Kindern traten zum Teil fiebrige Durchfallerkrankungen auf. Für medizinische Betreuung ist gesorgt. 3. Die katastrophale räumliche Enge in der Vertretung hat zu einem Zustand geführt, wo es nur noch eines auslösenden Faktors ( z. B. einige Zeit schlechtes Wetter, eingeschmuggelter Alkohol, eskalierende Ehekonflikte etc.) bedarf, um die Stimmung unter den Zufluchtsuchenden umschlagen zu lassen. Dieses wird nach aller Erfahrung kurzfristig geschehen und ist unter den gegebenen Verhältnissen eine zwangsläufig auf uns zukommende Entwicklung. Herr Dr. Platiel hat diesen Bericht hinsichtlich der Ziff. 2 + 3 mitgezeichnet. 4. Nur noch der aktuelle Bedarf an Lebensmitteln und Kleidung kann gedeckt werden. Völlig unklar ist, wo die ständig weiter eintreffenden Zufluchtsuchenden untergebracht werden sollen. In der kommenden Nacht werden Hunderte unter freiem Himmel übernachten müssen. Wenn die noch verbliebenen Büroräume geräumt werden, fallen in der Botschaft Arbeitseinheiten weg, die unmittelbar zur Betreuung der Zufluchtsuchenden benötigt werden ( RK,
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Fernschreibzentrale, Verwaltung ) oder den Kernbestand der Botschaft berühren. Heute wurden die Büros des Presse - und des Kulturreferats sowie des Sprachdienstes geräumt. Die Betroffenen werden z. T. zu Haus arbeiten, z. T. in den verbliebenen Büroräumen bei anderen Mitarbeitern. Die geleerten Räume wurden sofort vollständig mit neu eingetroffenen Zufluchtsuchenden belegt. 5. Hier wurde festgestellt, daß die maximale Kapazität der Kanalisationsabflussrohre nunmehr erreicht ist. Weitere Toilettencontainer können nicht mehr angeschlossen werden. Die Botschaft hat unverzüglich über das tsl. AM um kurzfristige Bereitstellung von Toilettenwagen, die unmittelbar vor der Botschaft aufgestellt werden könnten, gebeten. 6. Zwei große Lastzüge des DRK mit Material, eine weitere Feldküche sowie Hilfs - und Betreuungspersonal des DRK trafen ein. Insgesamt ist die Botschaft damit nunmehr um 11 Helfer des DRK verstärkt. Huber
29. September 1989 Dok. 26 SED - Generalsekretär Honecker reagiert positiv auf tschechoslowakische Vorschläge Telegramm des tschechoslowakischen Außenministeriums an den Außenminister Jaromír Johanes AMZV Praha; Telegramy odeslané, 1989, sv. 9, pořadové číslo 3340. – Absender: Vizeaußenminister Sadovský. – Adressat: Außenminister Jaromír Johanes in New York – Datiert: 29.9.1989. – Vermerk: Geheim, Blitz, sofort übergeben.
Übersetzung Nur zu Deiner Information : In den gestrigen späten Abendstunden am 29.9. informierte der DDR - Botschafter auf direkte Weisung von E. Honecker darüber, daß die DDR auf die tsl. Vorschläge positiv reagiert – siehe mein Telegramm 071.893.1 Die DDR ist bereit, spezielle Züge für die DDR - Bürger, die sich in der BRD Vertretung aufhalten, zu stellen. Die DDR überführt die Züge über Dresden zur Grenze der BRD. Während der Fahrt werden allen die für die Ausreise benötigten Unterlagen ausgehändigt. Die DDR wird in den Zügen keine Kontrollen durchführen. 1. Die DDR wird die BRD direkt informieren, wann und über welche Grenzübergänge die Menschen den BRD - Organen übergeben werden. 1
Siehe Dok. 21.
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2. Die DDR wird bei der BRD anfordern, daß sie in Bezug auf Prag dieselben Maßnahmen trifft, wie vor kurzem in Berlin, d. h. nach dem Weggehen der Leute solche Bedingungen zu schaffen, daß keiner sich widerrechtlich Zugang zur BRD- Vertretung verschaffen kann. 3. Die DDR wird die BRD auffordern, daß die ganze Aktion unter Bedingungen der vollen Diskretion durchgeführt wird, d. h. ohne HSP des Westens und ohne Propaganda. 4. Die DDR schlägt vor die Aktion am Sonntag, den 1.10.1989 durchzuführen. 5. Die DDR bittet Genosse Jakeš um Zustimmung zur Durchführung der Aktion. Über angegebenen Vorschlag wurden Lenárt, Jakeš informiert. Mit der Durchführung der Aktion wurde das Einverständnis von Genosse Jakeš ausgesprochen und an Honecker in Berlin mitgeteilt. Im Laufe des Samstages, 30.9. erwarten wir Rückmeldung von Seiten der DDR und BRD. Die zuständigen tsl. Organe wurden informiert. Über die Entwicklung der Aktion wirst du auf dem Laufenden gehalten. Sadovský
30. September 1989 Dok. 27 Bericht des Leiters der Ständigen Vertretung der DDR in Bonn, Horst Neubauer, über Verhandlungen mit Außenminister Genscher und Minister Seiters Fernschreiben des Leiters der Ständigen Vertretung der DDR in Bonn, Horst Neubauer, an den Staatssekretär im Außenministerium der DDR, Herbert Krolikowski BStU, ZA, ZAIG 14395, Bl. 3–5. – Kopf : FS aus –Bonn - 339–73, 30.9.1989, 13.25 Uhr, Blitz, ct 125/89. – MfS - Stempel : HVA - Lagezentrum, Eingang : 30.9.1989. – MfS - Verteiler : Gen. Minister, Generaloberst Mittig, Generalleutnant Großmann, Generalleutnant Neiber, Generalleutnant Schwanitz, Generalmajor Vogel, Oberst Devaux, HA II, ZAIG, ZOS.
Genosse Krolikowski Auftragsgemäß Inhalt ct 45/89 Minister Seiters dargelegt. Weitere Teilnehmer : AM Genscher, Kastrup, Duisberg, Spech1 ( Mitarbeiter Seiters ). Nahmen Vorschlag zur Kenntnis. Nach Rücksprache mit Kohl Vorschlag prinzipiell akzeptiert. Folgende Bemerkungen durch Genscher : BRD - Seite an Realisierung in der Nacht vom 30.9. zum 1.10. interessiert. In Abhängigkeit von Information durch DDR, wann Züge in Prag und Warschau abfahrbereit, fliegen Genscher und Seiters in Begleitung Priesnitz, Kastrup, 1
Gemeint ist Manfred Speck.
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Duisberg, Elbe und Jansen ( Büro Genscher ) nach Prag, um mit allen Botschaftsbesetzern ( nicht nur mit Gruppenvertretern ) zu sprechen. Dazu etwa fünf Std. erforderlich. Wenn zu 0.00 Uhr abfahrbereit, müsste Transport mit Bussen zum Bahnhof ab ca. 22.00 Uhr beginnen. Sonst entsprechend später. Genannte Personen – einschließlich Genscher und Seiters – würden Züge begleiten. Gehen davon aus, daß DDR Busse bereitstellt. Sudhoff wird nach Warschau fliegen und analog auftreten. Genscher schätzt Erfolgschancen in Prag hoch ein. Erwartungen für Warschau anders. Sudhoff wird jedoch dringend anraten, sich des vorgeschlagenen Verfahrens zu bedienen. Vertraulichkeit durch Offizielle wird gewährt, d. h. keinerlei Erklärungen. Jedoch nicht zu vermeiden, daß Medien Besuch Genscher und Seiters in Botschaft wahrnehmen. Nicht zu verhindern, daß Besetzer durch Zaun Medien in Kenntnis setzen. Seiters und Genscher bitten um Antwort auf folgende Fragen : 1. Kann DDR [ den ] Beginn [ der ] Aktion zum erwähnten Zeitpunkt sichern, wann stehen Züge bereit ? 2. Erklärt sich DDR mit Begleitung in Zügen einverstanden ? ( alle hätten keine Sichtvermerke ) 3. Sichert DDR Transport mit Bussen zum Bahnhof ? 4. Wie und wo erfolgt Abgabe Personaldokumente und Ausgabe Ausreisepapiere? 5. Was bedeutet Berliner Modell der Ständigen Vertretung der BRD ? Sie verstehen darunter Beibehaltung Schließung bis zur Wiederherstellung der Ordnung in Botschaften. Wann das sein wird, ist noch unklar. 6. Wann erfolgt Übergabe Züge an Bundesbahn an genannter GÜST ? Erfolgt direkte Kontaktaufnahme Deutsche Reichsbahn – Bundesbahn ? Erwarte dringend Antwort wegen Festlegung Zeitpunkt Abflug Genscher und Seiters und Einleitung notwendiger Vorbereitungsmaßnahmen. Neubauer
1. Oktober 1989 Dok. 28 Bericht der Staatssicherheit über die Ausreise der Botschaftsflüchtlinge BStU, ZA, ZAIG, 26516, Bl. 1 f. – Datiert : 1.10.1989.
Information über die Durchsetzung einer zentralen Entscheidung zur Ausreise der Botschaftsbesetzer von Prag und Warschau 1. Gemäß der getroffenen Festlegungen kamen für die CSSR sechs Sonderzüge zum Einsatz. Sie wurden auf dem Bahnhof Prag - Liben ( am Stadtrand ) plan-
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mäßig zur Beförderung der Botschaftsbesetzer bereitgestellt. 21.00 Uhr, 0. 20 Uhr, 01.40 Uhr, 02.15. Uhr und 04.15 Uhr verließen die Sonderzüge Prag in Richtung DDR / BRD. Insgesamt verließen ca. 4 300 Personen, die sich in der BRD - Botschaft aufgehalten hatten, die CSSR - Hauptstadt zur Ausreise über die DDR in die BRD. In Prag befindet sich ein weiterer Sonderzug, der als Abschlusstransport für die wahrscheinlich letzten Personen mit der angestrebten Abfahrtszeit von 08.30 Uhr eingesetzt werden soll. In der BRD - Botschaft befindet sich noch eine Gruppe von DDR - Bürgern – der BRD - Konsul sprach von 72 Personen –, die mit dem Hinweiszettel von Rechtsanwalt Prof. Vogel in die DDR zurückkehren will, um ein ordnungsgemäßes Ausreiseverfahren abzuwickeln. Die Hinweiszettel wurden ausgegeben, die betreffenden Personen werden die Botschaft verlassen und mit insgesamt 36 Pkw über die Güst Zinnwald in die DDR zurückkehren. Ca. 390 Personen werden mit dem letzten Sonderzug aus Prag über die DDR in die BRD ausreisen. Damit haben 03.02 Uhr alle Besetzer die BRD - Botschaft verlassen. ( Das teilte ein Mitarbeiter der Botschaft dem DDR - Konsul mit.) Die Einrichtung bleibt vorerst geschlossen. Die tschechoslowakischen Sicherheitsorgane haben eine verstärkte Sicherung vor allem der Hinterfront des Botschaftsgebäudes eingeleitet. Der hintere Zaun wurde abgeriegelt, so daß zurzeit kein Zulauf möglich ist. Es gab erneut eine ausgezeichnete Zusammenarbeit mit dem FMdI der CSSR. Es wurden 14 Busse des FMdI und drei Busse des MfS eingesetzt. Die Ausfahrt der Sonderzüge über die Güst Gutenfürst in die BRD erfolgte 05.57 Uhr und wird laut Fahrplan erfolgen 00.13 Uhr, 10.22 Uhr, 11.00 Uhr und 13.14 Uhr. Der Fahrplan für den 6. Sonderzug liegt noch nicht vor. Die Abnahme der Personal - und Reisedokumente der DDR auf dem dafür eingerichteten Haltepunkt ( bisher zwei Züge ) Bahnhof Reichenbach / Vogtland erfolgte zügig und ohne Vorkommnisse durch Einsatzkräfte der BV Karl - Marx - Stadt und Kräfte des Bereiches Innere Angelegenheiten. Die Behandlung der Ausreisenden in den folgenden Zügen ist analog. Bei einem technischen Halt auf dem Bahnhof Dresden sprangen drei unbekannte DDR - Bürger auf den Zug auf. Ausgehend davon wurde vom Stellvertreter des Ministers des Inneren eine weitere Verstärkung der Streckensicherung, vor allem von Bahnhöfen und Haltepunkten, angewiesen. Der Haltepunkt Reichenbach wird durch Kräfte der BV Karl - Marx - Stadt und der VP / Transportpolizei gesichert. Die Transporte wurden begleitet von den BRD - Vertretern Kastrupp ( AA ), Dr. Duisberg ( BKA ), Jansen / Elbe( AA ),
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Prießnitz ( BMB ) und weiteren Mitarbeitern der BRD - Botschaft. Genscher und Seiters kehrten auf dem Luftweg nach Bonn zurück. 2. Der für Warschau bestimmte Sonderzug erlitt auf der Hinfahrt aus verkehrstechnischen Gründen Verspätung, wurde 0. 20 Uhr bereitgestellt, bis 01.50 Uhr mit ca. 820 Personen besetzt. Er verließ 02.50 Uhr Warschau, wird 11.25 Uhr Frankfurt / Oder erreichen und gegen 17.10 Uhr über die Güst Marienborn zur Ausreise gelangen. Das polnische MfAA hatte in Warschau den Transport der Botschaftsbesetzer übernommen. Er verlief unauffällig und ruhig. Am Bahnhof wurden durch ein Fernsehteam ( vermutlich ZDF ) Interviews durchgeführt. Zurzeit befinden sich keine DDR - Bürger in der BRD - Botschaft. Transportbegleiter der BRD war Sudhoff ( AA ) und drei Mitarbeiter der Botschaft. Auf dem Haltepunkt Eilsleben werden die Personal - und Reisedokumente der Personen von Einsatzkräften der BV Magdeburg im Zusammenwirken mit Kräften des Bereiches Innere Angelegenheiten eingezogen. 3. Im bisherigen Verlauf der Aktion zeigte sich eine enge Zusammenarbeit der beteiligten Diensteinheiten des MfS und ein kameradschaftliches Zusammenwirken mit dem MdI ( Inneres, VP, Trapo ) sowie mit den DDR - Botschaften in Prag und Warschau.
1. Oktober 1989 Dok. 29 Staatssicherheit schlägt Alarm Thesen für Ausführungen des Leiters der Zentralen Koordinierungsgruppe des MfS, Gerhard Niebling, vor Leitern der Bezirkskoordinierungsgruppe BStU, ZA, ZAIG 26516, Bl. 3–10. – Titel : Thesen für die Ausführungen des Leiters der ZKG vor BKG - Leitern auf einer außerordentlichen Beratung am 1.10.1989.
Im Gefolge der verstärkten Medienkampagne des Gegners und seiner völkerrechtswidrigen Praktiken und Aktionen ( besonders in der UVR ) spitzte sich die Situation um die Botschaften der BRD in Prag und Warschau weiter zu. Die mehrfachen Vorschläge der DDR und durchgeführte Maßnahmen ( Einsatz von RA ) brachten wegen den verhärteten Positionen der Erpresser und wegen doppelbödigen Verhaltens der BRD - Seite nur Teilerfolge, die durch starken Zulauf neuer Erpresser nicht ins Gewicht fielen. Damit gingen einher – das anhaltende Ausschleusen von DDR - Bürgern ( täglich 400) von der UVR mit Bussen und Kfz. über Österreich in die BRD; – der verstärkte Druck an der Staatsgrenze der CSSR zur UVR;
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– starker Druck auf die Staatsgrenze zur VRP – um nach illegalem Grenzübertritt in die BRD - Botschaft Warschau zu gelangen; – verstärkte Angriffe auf die Staatsgrenze zur BRD und WB; – hohe Zahl des Reisemissbrauchs zum ungesetzlichen Verlassen; – Erpressungsversuche auch in Botschaften anderer kapitalistischer Staaten in der DDR bzw. der UVR in der DDR und auch der BRD - Botschaft in Sofia – und schließlich eine starke Zunahme der Antragstellung auf ständige Ausreise ( wöchentlich über 4 000 = Anstieg um das Dreifache ). Die Lösung der Probleme um die ca. 3 700 Erpresser in der Botschaft in Prag, darunter erkrankte Kinder, und über 600 Erpresser in Warschau entwickelte sich zu einem schwierigen, uns politisch stark belastenden Fakt, der insbesondere in Vorbereitung des 40. Jahrestages der DDR um so zwingender wurde. Die Entwicklung um die Botschaft in Prag brachte auch für die CSSR Probleme mit sich, die bis an die Grenzen der Zumutbarkeit gingen und schließlich die latente Gefahr einer möglichen »ungarischen Lösung« in der VRP ( hier gab es nur einen Aufschub ). In realer Einschätzung der Lage und möglicher Entwicklungen sowie zur Abwendung besonders politischen Schadens in Vorbereitung unseres Jahrestages gab es keinen anderen Weg zur Klärung dieser gegenwärtigen Probleme als die nachfolgenden Festlegungen : – Mitteilung an das BKA ( Selters ) am 30.9.1989, daß die DDR bereit ist, den in Botschaften in Prag und Warschau aufhältigen Bürgern der DDR die sofortige Ausreise über die DDR in die BRD zu gestatten. – Es wurden Sonderzüge in Prag und Warschau noch am 30.9. bereitgestellt, die die Betreffenden auf den Relationen Prag - Dresden - Gutenfürst bzw. Warschau - Marienborn in die BRD transportierten. – Bei einem kurzen Halt ( Reichenbach und Eilsleben ) wurden die Personalausweise bzw. Reisepässe eingezogen. ( Hier hatten diese Personen noch einmal die Möglichkeit, evtl. von einer ständigen Ausreise Abstand zu nehmen.) Danach wurden die Erpresser ohne Identitätsbescheinigung und Entlassungsurkunde aus der Staatsbürgerschaft der DDR in die BRD abgeschoben. – Erpresser, die ihre in der CSSR oder VRP befindlichen PKW selbst zurückführen wollten, erhielten dazu die Erlaubnis und können sich unverzüglich an die zuständigen Abteilungen Inneres wenden, um das Ausreiseverfahren abwickeln zu lassen. – Bekanntlich erfolgte zum Vorgehen der DDR eine ADN - Mitteilung, in der wir besonders den humanitären Aspekt in den Vordergrund rückten.1
1
Die ADN - Information erschien am 2.10.1989 unter dem Titel »Humanitärer Akt« im »Neuen Deutschland«. Vgl. Dok. 30.
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Natürlich war die BRD - Seite bestrebt, diese Lösungsvariante zur Demonstration ihrer Stärke zu nutzen und wollte die Züge durch die DDR durch hochrangige Politiker und Vertreter der BRD - Regierung begleiten, was verhindert wurde. Alle diesbezüglichen bisherigen und künftigen Maßnahmen tragen die operative Bezeichnung »ZUG«. Aufgaben : 1. Im Zusammenhang mit den Maßnahmen der letzten 24 Stunden werden eine Reihe Fragen aufgeworfen, worüber noch zu befinden bzw. zentral zu entscheiden ist. Das betrifft z. B. – Fragen der Staatsbürgerschaft dieser Personen; – Abwendung oder Eindämmung von Schäden, besonders im Hinblick auf Angehörige bewaffneter Organe / IM / Geheimnisträger oder andere zwingende Versagungsgründe – die keine Berücksichtigung finden konnten; – Vermögensfragen, Schulden, Verbindlichkeiten bzw. Ansprüche von Gläubigern; – Wohnungsfragen und Haushaltauflösungen; – Fälle, in denen nur ein Familienmitglied in der Botschaft aufhältig war und jetzt ausgereist ist – die restlichen Familienangehörigen noch in der DDR sind und in den folgenden Tagen und Wochen zur ständigen Ausreise kommen müssen ( keine Familientrennung ). – Erpresser, die mit ihren Fahrzeugen und den bekannten Zetteln des Rechtsanwaltes aus den genannten Botschaften ab 1. 10. 1989 zurückkehren ( ca. 70 Personen ). Bei diesen ist sofort das Genehmigungsverfahren einzuleiten, der Laufzettel auszuhändigen und zu gewährleisten, daß unverzüglich die Ausreise erfolgt. – Aber es wird auch Probleme geben mit Rechtsanwälten, die wir aktiv bei vorangegangenen Erpresserfällen zur anwaltlichen Begleitung einbezogen haben, die sich jetzt »verschaukelt« vorkommen – oder mit Mitarbeitern besonders der Bereiche Inneres, die nach der letzten Entscheidung fassungslos sind und nicht mehr mitkommen ( diesbezüglich bereits bei Vorsitzenden des Kollegiums der Rechtsanwälte bei Inneres entsprechend Veranlassung ). Es ist erforderlich, alle diesbezüglichen Probleme, Fragen und Entscheidungen sorgfältig zu beachten, diese ohne Verzug der Zentrale zu signalisieren, um richtige und abgestimmte Entscheidungen, Maßnahmen etc. zentral herbeizuführen. 2. Keine Illusionen, daß damit künftig Erpressungsversuche ausgeschlossen würden – im Gegenteil es wird eine Sog - Wirkung geben, der zu begegnen ist. ( Äußerung BRD - Seite, daß Botschaft geschlossen und renoviert wird, ist doppelbödig und gibt keine Garantie.)
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Besonders müssen die Maßnahmen auf nachfolgende Personen konzentriert werden, die sich »betrogen« fühlen. Das sind vorrangig solche Personen, – die die Botschaft nur mit der Zusage der Straffreiheit verlassen haben; – die die Botschaften nur mit der Zusicherung der anwaltlichen Begleitung bzw. Betreuung bei der Lösung der Probleme verlassen haben; – die die diplomatischen Einrichtungen der BRD in Prag und Warschau verließen, mit der Inaussichtstellung der Bearbeitung ihrer Anträge im Zeitraum von 6 Monaten, gerechnet ab Rückkehr zu ihren Wohnorten; – die aus den Botschaften in die DDR zurückkehrten und denen eine »positive Tendenz« der Bearbeitung zugesichert wurde sowie – von denen Gefahren für die staatliche Sicherheit der DDR ausgehen, darin eingeschlossen die Bürger der DDR, zu denen im Rahmen der Aktion »Visa« ( VVS 61/89) die Einleitung des Ausreiseverfahrens beabsichtigt ist. 3. Die Maßnahmen – im Rahmen des Komplexes »ZUG« – zur ständigen Ausreise der unter Punkt 2 genannten Erpresser werden, das zeichnet sich bereits ab, auch zur Aktivierung der anderen Antragsteller führen, die sich gleichfalls – weil sie sich ruhig und gesetzeskonform verhielten – »betrogen« fühlen. Damit spitzt sich die Gesamtlage weiter zu, genannt sei z. B. – zunehmendes ungesetzliches Verlassen der DDR, insbesondere bei Reisen und über die UVR sowie die Versuche, besonders CSSR und VRP; – Versuche, in Botschaften in der DDR und in anderen sozialistischen Staaten zu gelangen; – die steigende Antragstellung auf ständige Ausreise; – Zusammenrottungen und öffentlichkeitswirksame, demonstrative Handlungen, wie letzten Montag in Leipzig, aber auch diesbezügliche Androhungen zum 40. Jahrestag. Das geht einher mit der weiteren Eskalation der Medienkampagne des Gegners. Erforderlich ist deshalb, ein noch differenzierteres und flexibleres Vorgehen und eine noch zügigere Herbeiführung von Entscheidungen zu Anträgen auf ständige Ausreise und deren rasche Abwicklung. Das wird zweifellos zu noch mehr Genehmigungen ständiger Ausreisen führen. Das ist aber abhängig von der konkreten Lage im Verantwortungsbereich, der Lageentwicklung insgesamt und muss dazu beitragen, den Zulauf zu diplomatischen Einrichtungen bzw. die Begehung feindlich - negativer Handlungen sichtbar abzubauen.
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4. – Zur Gewährleistung einer rationelleren Arbeit sind die Vorschläge gemäß der DA Nr. 2/882 kürzer abzufassen. Benötigt werden die bisherigen Angaben zur Person bzw. Personen und Hinweise zu Versagungsgründen bzw. zu anderen zu beachtenden Momenten. Stark zu kürzen sind die Begründungen des Vorschlages, weil vorausgesetzt wird, daß an der Basis verantwortungsbewusst entschieden wurde. – In den Fällen, wo evtl. weitere Personen aus dem Umfeld der zur ständigen Ausreise vorgeschlagenen Personen durch die Genehmigung zu aktiven Handlungen mobilisiert werden könnten, sind diese gleich mit zur Genehmigung der ständigen Ausreise vorzuschlagen. – Es ist eine enge Zusammenarbeit der BKG mit der ZKG zu sichern. Das betrifft einerseits, daß zentral gesteuert die kontinuierlichen Auffassungen erfolgen – aber andererseits auch von den BKG eigenverantwortlich und unkompliziert die ZKG informiert wird, zu welchen Fällen aus den verschiedensten Gründen kurzfristig Auffassungen benötigt werden. ( In diesem Zusammenhang auch PUT - und Zusammenrottungen »Neues Forum« u. a. m. sehen.) 5. Die Ablehnungspraxis ist grundsätzlich zu verändern. Ablehnungen sind nur noch solchen Antragstellern auszusprechen, zu denen – zwingende Versagungsgründe gemäß §§ 13 und 14 RVO; – gravierende Folgen für die Versorgung und Betreuung der Bürger usw. vorliegen. Auch in diesen Fällen ist unter Verweis auf in der Zukunft liegenden Veränderungen ( z. B. Ablauf der Sperrfristen, Ersatz im Beruf ) eine spätere Genehmigung nicht auszuschließen. Wir werden gemeinsam mit Inneres die künftige, von diesen Grundsätzen getragene Vorgehensweise beraten, entsprechende Orientierungen geben und durchsetzen. 6. Bei allen Aufgaben kein Nachlassen bei der vorbeugenden Verhinderung des ungesetzlichen Verlassens der DDR, insbesondere UVR – CSSR sowie VRP (Verweis auf Flugzeugfund ).
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Zurückdrängung von Antragstellungen auf ständige Ausreise.
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2. Oktober 1989 Dok. 30 Information der Bezirksverwaltung für Staatssicherheit Karl - Marx - Stadt über eine Beratung zur Ausreisebewegung und zur Zuflucht in bundesdeutsche Botschaften BStU, ASt. Chemnitz, BV Karl - Marx - Stadt, AKG 670, Bd. 2, Bl. 29–32. - Kopf : Ministerium für Staatssicherheit, Bezirksverwaltung Karl - Marx - Stadt. – Titel : Information über eine zentrale Beratung am 1.10.1989 im Zusammenhang mit der gegenwärtigen Lage auf dem Gebiet der ständigen Ausreise aus der DDR, insbesondere dem rechtswidrigen Aufenthalt von DDRBürgern in diplomatischen Vertretungen der BRD, und dabei getroffene Festlegungen. – Vermerk : Nr. 417/89, Streng vertraulich ! Nur zur persönlichen Information ! Um Rückgabe wird gebeten ! – Verteiler : 1. Sekretär der SED - Bezirksleitung Karl - Marx - Stadt / Genossen Bartl, Vorsitzender des Rates des Bezirkes Karl - Marx - Stadt. – Datiert : 2.10.1989.
Auf einer zentralen Beratung am 1. 10. 1989 wurde darüber informiert, daß die am gleichen Tag durchgeführten Maßnahmen der Ausweisung von DDR - Bürgern, die sich rechtswidrig in diplomatischen Vertretungen der BRD in Prag und Warschau aufhielten, einschließlich der sich daraus ergebenden Konsequenzen und Folgemaßnahmen, mit der Parteiführung abgestimmt waren. Die Lage in diesen BRD - Botschaften hatte sich in den letzten Tagen trotz intensiver Gespräche zwischen Vertretern der DDR, der CSSR, der VR Polen und der BRD dramatisch zugespitzt. Die Bemühungen von Rechtsanwalt Prof. Vogel zur Normalisierung der Lage blieben erfolglos, da die BRD - Regierung, unterstützt von der Regierung der Ungarischen Volksrepublik, für die Botschaften in Prag und Warschau eine analoge Lösung wie in Budapest durchsetzen wollte. Die Haltung der ungarischen Regierung hatte bei den sich rechtswidrig in den BRD - Vertretungen in Prag und Warschau aufhältigen DDR - Bürgern zu einer weiteren Verhärtung ihrer Position geführt, so daß diese auf einer sofortigen, direkten Ausreise beharrten und durch aggressive Protestreaktionen eine solche Lösung erzwingen wollten. Die Regierung der BRD unternimmt gegenwärtig verstärkte Aktivitäten, um den Druck auf die DDR zu internationalisieren und damit sowohl die DDR als auch die CSSR in der Weltöffentlichkeit zu diskreditieren. Seitens der BRD - Regierung war vorgesehen, die in den BRD - Botschaften befindlichen DDR - Bürger mittels Flugzeug nach Ungarn bzw. Schweden zu verbringen. Die Ungarische Volksrepublik ist seit 12. 6. 1989 der UNO - Flüchtlingskonvention beigetreten und handelt seit 12. 9. 1989 danach. Das sogenannte Malteser - Lager in Budapest gilt seit 1. 10. 1989 als offizielles Flüchtlingslager, wobei auch DDR - Bürger Aufnahmeanträge stellen können und durch die ungarischen Behörden der Aufnahmezeitraum über den Visa - Zeitraum der DDR -
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Bürger hinausgezögert wird. Während der Zeit des Aufnahmeverfahrens können DDR - Bürger von Ungarn aus ungehindert Drittländer bereisen. Die Regierung der CSSR wies in diesem Zusammenhang jegliche Erpressungsversuche der BRD zurück und ließ sich nicht auf ein sogenanntes ungarisches Modell ein, bat jedoch die Regierung der DDR mit Rücksicht auf ihre eigenen internationalen Interessen und Verpflichtungen um eine Lösung des Problems. Daraufhin wurde am 30. 9. 1989 durch die Regierung der DDR ein entsprechendes Angebot an die BRD unterbreitet und bis 1.10.1989 realisiert. Bezüglich der in die zentralen Maßnahmen vom 1. 10. 1989 einbezogenen DDR - Bürger ist noch keine Entscheidung über die Beibehaltung der Staatsbürgerschaft der DDR gefallen. Alle in diesem Zusammenhang bekanntwerdenden ungeklärten Probleme, wie Schulden - und Vermögensfragen, sind aufzubereiten und an die Zentrale zur Herbeiführung einer Entscheidung zu übermitteln. Bezüglich erforderlich werdender Haushalts - und Wohnungsauflösungen gibt es keine zentrale Entscheidung. In Fällen, wo sich Familienangehörige der am 1. 10. 1989 ausgewiesenen Personen noch in der DDR befinden, ist in Abstimmung mit der Zentrale eine kurzfristige Genehmigung der ständigen Ausreise zu erteilen. Analog ist bei den Personen zu verfahren, die eigenständig aus der Ständigen Vertretung der BRD oder Botschaften der BRD im sozialistischen Ausland an ihre Wohnorte zurückkehrten. Alle diese noch in der DDR befindlichen Personen werden durch die Zentrale kurzfristig aufgelassen [sic!]und sind in den Bezirken schnellstmöglich abzuarbeiten. Im Bezirk betrifft dies 31 Fälle mit 48 Personen. Durch den Minister für Justiz werden alle Vorsitzenden der Kollegien der Rechtsanwälte in den Bezirken darüber informiert, daß bei Vorsprachen ehemaliger Botschaftsbesetzer diesen mitzuteilen ist, sie könnten ebenfalls ihre Genehmigung erwarten, die zuständigen staatlichen Organe seien entsprechend angewiesen. Darüber hinaus ist sorgfältig zu prüfen, von welchen Antragstellern auf ständige Ausreise, die nicht durch derartige erpresserische Handlungen in Erscheinung traten, Gefahren für die staatliche Sicherheit und Ordnung ausgehen. Zu solchen Personen sind gleichfalls Vorschläge an die Zentrale einzureichen, um deren kurzfristige ständige Ausreise zu organisieren. Dies schließt zum Beispiel auch solche Personen ein, deren Visum für Ungarn abgelehnt wurde. 1
Verordnung über Reisen von Bürgern der Deutschen Demokratischen Republik nach dem Ausland vom 30.11. 1988 ( GBl. der DDR, 1988 Teil I, 271–274).
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Es gilt überall der Grundsatz, dort umgehend eine ständige Ausreise durch die zuständigen staatlichen Organe entsprechend der Reiseverordnung § 10, Absatz 1 bis 31 einzuleiten, wo Gefahren für die staatliche Sicherheit und Ordnung entstehen. Gleichzeitig wurde eindringlich darauf verwiesen, daß Ablehnungen von Anträgen auf ständige Ausreise zukünftig nur noch in Fällen erfolgen sollen, wo sich zwingende Gründe gemäß den §§ 13 und 14 der Reiseverordnung geben. Auch bei diesen Ablehnungen ist es im Interesse der staatlichen Sicherheit und Ordnung möglich, eine spätere ständige Ausreise, zum Beispiel in einem halben Jahr, in Aussicht zu stellen. In diesem Zusammenhang wurde darauf hingewiesen, daß zwar die Ständige Vertretung der BRD in der DDR sowie die Botschaft der BRD in Prag geschlossen sind, jedoch mit einer Sogwirkung nach den Maßnahmen vom 1.10.1989 zu rechnen ist. Nach wie vor verlassen täglich zirka 400 DDR - Bürger ihr Land ungesetzlich über die Ungarische Volksrepublik nach Österreich, was eine qualifiziertere vorbeugende Arbeit zur Verhinderung von Angriffen auf die Staatsgrenze der DDR erforderlich macht. Alle die in dieser zentralen Beratung getroffenen Festlegungen sind mit dem Leiter der Hauptabteilung Innere Angelegenheiten des MdI, Genossen Generalmajor Hubrich, abgestimmt. Seitens der Hauptabteilung Innere Angelegenheiten werden die Stellvertreter für Inneres der Räte der Bezirke informiert.
2. Oktober Dok. 31 Neues Deutschland : »Sich selbst aus unserer Gesellschaft ausgegrenzt« ADN - Meldungen »Humanitärer Akt« und »Sich selbst aus unserer Gesellschaft ausgegrenzt« im SED - Zentralorgan »Neues Deutschland« Neues Deutschland vom 2.10.1989, S. 2.
Humanitärer Akt Berlin ( ADN ). In dem Bestreben, die nicht von der DDR herbeigeführte unhaltbare Situation, in den Botschaften der BRD in Prag und Warschau zu beenden, hat die Regierung der DDR nach Konsultationen mit den Regierungen der CSSR und der VRR sowie mit der Regierung der BRD, veranlasst, daß die sich in diesen Botschaften rechtswidrig aufhaltenden Personen aus der DDR mit Zügen der Deutschen Reichsbahn über das Territorium der DDR in die BRD ausgewiesen werden. Dies erklärte der Sprecher des Außenministeriums der DDR, Botschafter
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Wolfgang Meyer, am Sonnabend gegenüber ADN. Der Vorgang vollzog sich – auf Anraten der DDR – im Verlauf der Nacht vom 30. September zum 1. Oktober. Mit diesem humanitären Akt – so der Sprecher weiter – verbindet die Regierung der DDR die Hoffnung, daß auch seitens der Regierung der BRD Schlussfolgerungen für den normalen, den internationalen Gepflogenheiten entsprechenden Betrieb in ihren Botschaften gezogen werden. Sich selbst aus unserer Gesellschaft ausgegrenzt Berlin ( ADN ). Wie der Sprecher des Ministeriums für Auswärtige Angelegenheiten mitteilte, sind die ehemaligen Bürger der DDR, die sich rechtswidrig in den Botschaften der BRD in Prag und Warschau aufhielten, über die Deutsche Demokratische Republik in Zügen der Deutschen Reichsbahn in die BRD abgeschoben worden. Die DDR sah sich dazu aus humanitären Gründen veranlasst, angesichts der in den BRD - Vertretungen entstandenen unhaltbaren Situation, die beim eventuellen Ausbruch von Seuchen auch Menschen der betreffenden Länder bedroht hätte. Daran hätte auch die Tatsache nichts geändert, daß die entstandene Situation nicht durch uns verschuldet war, sondern durch die BRD, aufgrund der Verletzung völkerrechtlicher Normen für Botschaften. Diese können in Europa kein Asyl gewähren. Hinzu kommt, daß die Bonner Regierung – wie in einer Dokumentation der DDR belegt wurde – seit Wochen die völkerrechtswidrige Anmaßung einer sogenannten Obhutspflicht für alle Deutschen, die heute in den Grenzen des Deutschen Reiches von 1937 leben, praktiziert. Davon sind besonders die Volksrepublik Polen, die Sowjetunion und die Tschechoslowakische Sozialistische Republik berührt. Die BRD ignoriert die Ergebnisse des Zweiten Weltkrieges, die in der Nachkriegsentwicklung entstandenen Realitäten und verletzt den zwischen beiden souveränen deutschen Staaten abgeschlossenen Grundlagenvertrag wie auch die im »Gemeinsamen Kommuniqué« zwischen Erich Honecker und Helmut Kohl enthaltenen Grundsätze über die Weiterentwicklung der Beziehungen zwischen der DDR und der BRD.1 Zügellos wird von Politikern und Medien der BRD eine stabsmäßig vorbereitete »Heim - ins - Reich« - Psychose geführt, um Menschen in die Irre zu führen und auf einen Weg in ein ungewisses Schicksal zu treiben. Das vorgegaukelte Bild vom Leben im Westen soll vergessen machen, was diese Menschen von der sozialistischen Gesellschaft bekommen haben und was sie nun aufgeben. Sie schaden sich selbst und der Heimat. 1
Gemeinsames Kommuniqué über den offiziellen Besuch des Generalsekretärs des Zentralkomitees der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands und Vorsitzenden des Staatsrates der Deutschen demokratischen Republik Erich Honecker in der Bundesrepublik Deutschland vom 7. bis 11. 9. 1987 ( Bulletin des Presse - und Informationsamtes der Bundesregierung vom 10.9.1987).
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Nun werden einige Bürger der DDR an uns mit Recht die Frage stellen, warum wir diese Leute über die DDR in die BRD ausreisen lassen, obwohl sie grob die Gesetze der DDR verletzen. Die Regierung der DDR ließ sich davon leiten, daß jene Menschen bei Rückkehr in die DDR, selbst wenn das möglich gewesen wäre, keinen Platz mehr im normalen gesellschaftlichen Prozess gefunden hätten. Sie haben sich selbst von ihren Arbeitsstellen und von den Menschen getrennt, mit denen sie bisher zusammenlebten und arbeiteten. Bar jeder Verantwortung handelten Eltern auch gegenüber ihren Kindern, die im sozialistischen deutschen Staat wohlbehütet aufwuchsen und denen alle Kindereinrichtungen, alle Bildungs - und Entwicklungsmöglichkeiten offenstanden. Jene Leute hätten auch Schwierigkeiten bekommen, neue Wohnungen zu erhalten, da diese natürlich für andere Bürger vorgesehen sind. Vorzugsbehandlungen konnten sie in der DDR nicht erwarten. Hinzu kommt, daß sich nach bisherigen Feststellungen unter diesen Leuten auch Asoziale befinden, die kein Verhältnis zur Arbeit und auch nicht zu normalen Wohnbedingungen haben. Sie alle haben durch ihr Verhalten moralische Werte mit Füßen getreten und sich selbst aus der Gesellschaft ausgegrenzt. Man sollte ihnen deshalb keine Träne nachweinen. Wie es ihnen drüben ergeht, zeigen jetzt schon einige Berichte der BRD. Einige wurden bereits aus Arbeitsstellen entlassen, weil sie während der Arbeit Besorgungen machen wollten. In einem Autowerk hat man eine Frau ausgelacht, weil sie für ihre Kinder Kindergartenplätze beantragte. Arbeiter haben ihr zugerufen, sie verwechsle die BRD mit der DDR. Wäre sie dort geblieben, brauchte sie sich jetzt keine Sorgen um Kindergartenplätze zu machen. Doch wie viele Schicksale bleiben im Dunkeln, wenn erst einmal die Fernsehscheinwerfer abgeschaltet sind. Die heuchlerischen Erklärungen Bonner Politiker, ihre unverhohlenen Versuche, sich in die inneren Angelegenheiten der DDR einzumischen, der großdeutsche nationalistische Rummel, den sie veranstalten – dies alles läuft nur auf Konfrontation hinaus und schadet einer vernünftigen Zusammenarbeit der beiden deutschen Staaten, was den Interessen der Menschen, ja den Interessen Europas zuwiderläuft.
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2. Oktober 1989 Dok. 32 Außenminister Fischer aus New York an Honecker : Gespräche mit Genscher und Schewardnadse Telegramm des Außenministers der DDR, Oskar Fischer, an den Generalsekretär der SED, Erich Honecker BArch B, DY 30, IV 212.039, 342, Bl. 49–51. – Kopf : New York Blitz, gvs - t - b7/83–35/89, 2. Ausf. 3 Blatt, Gen. Erich Honecker, 2.10.1989, 8.00 Uhr, auf den Tisch. – Endvermerk : k( p ). – Signiert : Oskar Fischer. – Datiert : 1.10.1989.
Genosse Schewardnadse lud mich zum Gespräch ein, »um sich gegenseitig zu informieren«. Intensive Arbeit »am Rande UNO« solle nicht dazu führen, Kontakt mit engsten Verbündeten zu vernachlässigen. Er wolle vor allem über sein Gespräch mit Genscher informieren. Genscher habe Betroffenheit über Ausführungen zum Revanchismus in UNO - Rede Genossen Schewardnadse geäußert und diese angesichts der guten Beziehungen BRD–SU für unerwartet und aufgrund strikter Beachtung der mit sozialistischen Staaten geschlossenen Verträge durch BRD - Regierung für unberechtigt erklärt. BRD stelle bestehende Grenzen nicht in Frage. Gen. Schewardnadse habe erwidert, daß Auftreten Bundeskanzler Kohls auf CDU - Parteitag völlig entgegengesetzte Schlüsse nahe legt, da Kohls Äußerungen nicht als Privatmeinung, sondern als offizielle Linie einer Regierungspartei verstanden werden müssen. Sein Aufruf zur Wiedererrichtung eines Deutschlands in den Grenzen von 1937 sei mit den von der BRD eingegangenen Verträgen und Verpflichtungen nicht vereinbar.1 Es sei der Eindruck entstanden, daß der Kanzler der BRD glaubt, daß jetzt die Zeit zum Handeln in diesem Sinne günstig sei, weil die SU wegen innerer Schwierigkeiten paralysiert sei und Ungarn sowie Polen die Blocksolidarität aufgegeben haben. Der Auftritt vor dem CDU - Parteitag beweise überdies, daß Kanzler Kohl auf eine entsprechende Resonanz in der BRD gesetzt habe. Das löse in Moskau und anderswo Beunruhigung aus und könne nicht unbeachtet bleiben. Genscher sei auch unmissverständlich gesagt worden, daß Kohl kein Recht habe, sich so gegenüber DDR zu äußern und zu verhalten. Genscher habe nicht polemisiert, sondern lediglich beteuert, es sei eine Sache, was Kohl auf einem Parteitag sagt, eine andere aber, was er als Kanzler macht. Wenn es um die »Genscher - Linie« gehe, so sei diese im Spiegel abgedruckt.2 Auf die Frage, was Kohls interne Bekundungen der Vertragstreue mit den Bru1
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Entsprechende Äußerungen Helmut Kohls auf dem 37. CDU - Bundesparteitag vom 11. bis 13.9.1989 in Bremen finden sich in den Unterlagen nicht. Vgl. »Für Deutschland. Starke Mitte – Gute Zukunft.« Rede von Helmut Kohl auf dem 37. Bundesparteitag der CDU 10.–13.9.1989. Hg. von der CDU - Bundesgeschäftsstelle Bonn. Gemeint ist wohl : »Hier ist Engagement gefordert. Bundesaußenminister Hans - Dietrich Genscher über die deutsche Frage«. In : Der Spiegel, Heft 39 vom 25.9.1989, S. 24.
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derstaaten für Wert hätten, wenn er öffentlich anderes vertrete, ging Genscher nicht ein. In einem dringenden Telefon - Gespräch habe Genscher um ein »Gespräch für 5 Minuten« gebeten. Es gehe um die Lage in der Botschaft der BRD in Prag. Sie sei schwer, da sich über 2 500 Bürger der DDR, darunter 500 Kinder, auf dem Gelände der Botschaft aufhielten. Er bitte daher Schewardnadse, mit DDR und tschechoslowakischer Seite zu sprechen. BRD wolle nichts gegen DDR tun, es gehe lediglich um normalere Bedingungen für die Menschen, bis BRD mit DDR Lösung gefunden habe. Schewardnadse habe Genscher nichts versprochen, außer die Minister Oskar Fischer und Jaromir Johanes über Genschers Bitte zu informieren. Dies sei hiermit geschehen. Gen. Schewardnadse stellte dann die Frage : »Kann man etwas tun ? Die Lage ist wirklich nicht normal.« Ich antwortete ihm, daß Genscher mir kurz vor diesem Gespräch das Gleiche gesagt habe. Und am Vortag hätte ich Genscher auf die überdimensionale Kampagne der BRD - Medien gegen DDR im Zusammenhang mit 40. Jahrestag [der ] Gründung DDR verwiesen und ihn aufgefordert, dafür zu sorgen, daß BRD vor allem »Obhutspflicht« für alle Deutschen aufgibt. Zum Revanchismus bemerkte ich, mein Gespräch mit Genscher sei in die gleiche Richtung gegangen, Medien der BRD hätten gemeldet, daß diese Frage im Gespräch Genschers mit einem Kollegen Schewardnadses ausgeräumt worden wäre. Meine morgige Rede vor der Vollversammlung werde die Positionen der BRD sachlich und prinzipiell zurückweisen. Gen. Schewardnadse erwiderte, daß dies gut sei und die Übereinstimmung Sowjetunion – DDR ausdrücke. Man dürfe revanchistische Äußerungen Kohls nicht auf die leichte Schulter nehmen ! Deshalb habe »Prawda« am 23.9. prinzipiellen Artikel dazu abgedruckt. »Im Ganzen« sei Genschers Rede vor der UNO aber nicht schlecht gewesen. Ich informierte Gen. Schewardnadse über meine Eindrücke aus Gesprächen mit anderen Außenministern : Der Westen fordere mehr oder weniger unverhüllt Reformen in der DDR als Voraussetzung für ein weiteres ersprießliches Miteinander. Vertreter der 3. Welt verhielten sich unsicher bis ängstlich. Viele fragten, was aus ihnen würde, wenn die Gemeinschaft der sozialistischen Staaten zerfalle. Es werde immer schwerer, diesen Vertretern Mut zu machen. Und die Rede sowie das Verhalten des ungarischen Außenministers in der UNO gäben vielen zu schlimmsten Befürchtungen und zur Frage Anlass, wem man nun noch glauben könne. Dies sei für uns alle ein wichtiges Problem. Gen. Schewardnadse erklärte, auch er sei über diese Entwicklung »sehr beunruhigt«. Zwar seien die Entwicklungen der ungarischen Außenpolitik im Großen und Ganzen normal, die innenpolitische Lage sei dagegen besorgniserregend.
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Die USAP drohe, in bis zu drei Teile zu zerfallen. Außenminister Horn habe ihm gesagt, daß er über die Haltung der Konservativen in der Partei und Gesellschaft beunruhigt sei. Insgesamt müsse man sagen : »Für den Sozialismus hängt alles davon ab, wie die Dinge bei uns in der Sowjetunion und bei Ihnen in der DDR gehen.« Die Umgestaltung müsse in den nächsten zwei Jahren erste Früchte bringen, es gebe keinen anderen Weg. Ich unterstrich noch einmal die Notwendigkeit, gemeinsam und geschlossen dem Großangriff des Imperialismus zu widerstehen und dabei zu beachten, daß der Gegner gegen jedes sozialistische Land mit einem spezifischen Konzept vorgeht und den Angriff gut koordiniere. Dies sei auch Hintergrund für die Kampagne gegen die DDR. Das sozialistische Bündnis müsse deshalb auf jeden Angriff einheitlich reagieren und wieder in die Offensive kommen. Ich verwies darauf, daß eine solche Offensive nur erfolgreich sein kann, wenn einer sie koordiniert und führt. Das könne nur die Sowjetunion sein. Gen. Schewardnadse antwortete, daß dies früher so war, heute aber nicht mehr gehe, denn heute habe man Demokratie. Ich erwiderte, daß Demokratie die USA in der NATO und die BRD in Westeuropa nicht am Führen hinderten. Führen habe auch nichts mit Kommandieren zu tun. Abschließend fragte Gen. Schewardnadse, wie viele Bürger der DDR wohl zu den Ausreisewilligen zu rechnen seien. Er sagte, dies sei gewiss ein sehr schwieriges Problem, aber vielleicht sollte man doch alle ausreisen lassen, selbst wenn es eine halbe Million wäre. Es wäre international wie zur Klärung und Entlastung der innenpolitischen Entwicklung »vielleicht gar nicht so schlecht«. Die Sowjetunion sehe auch, daß die BRD »unsere Deutschen« weit weniger möchte, als die aus der DDR. Anmerkung : 1. Mit der Bitte um ein Gespräch mit mir noch Freitagnacht (21.30 Uhr ) reagierte Gen. Schewardnadse offensichtlich auf einen Wunsch Genschers. Das zeigt den weiter gewachsenen Stellenwert der BRD in der sowjetischen Außenpolitik. 2. Zugleich drückte der Gesprächswunsch die Erkenntnis aus, daß zwischen den sozialistischen Staaten in der gegenwärtigen Situation solche demonstrativen Schritte notwendig sind. Das erklärt auch die Tass - Meldung über das Gespräch, die weder angekündigt, noch abgesprochen war. Oskar Fischer
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2. Oktober 1989 Dok. 33 Protest der Bundesrepublik wegen Übergriffe auf Flüchtlinge Drahterlass des Vortragenden Legationsrates im Auswärtigen Amt, Christoph Derix, an die Botschaft in Prag PA AA 513, B 85 Nr. 2347 E, unpag. – Kopf : VLR I Dr. Derix, VLR Dr. Schrömbgens, Übergriffe TSE Organe, 214–330.66 TSE, verschlüsselt, einzel, Prag cti, Az. : 214–330.66 POL 021720. – Schlussvermerk : Verteiler : 010, 013, 014, D 2, Dg 21, 110, 513. – Datiert : 2.10.1989.
Betr. : Übergriffe TSE Organe gegen Deutsche aus der DDR Bezug : 1. Telefax vom 02.10.89 2. DB 2292 ctn vom 02.10.89 StS hat am 02. 10. 89 Botschafter Spacil einbestellt und schärfsten Protest gegen die Misshandlung von Deutschen aus der DDR, die heute unsere Botschaft in Prag aufsuchen wollten, durch die TSE Organe eingelegt. Er führte aus, BM habe ihn gebeten, gegen die Gewaltmaßnahmen, denen Flüchtlinge in der Nähe unserer Botschaft ausgesetzt seien, mit aller Entschiedenheit zu protestieren. Flüchtlinge seien geschlagen und mit Fußtritten behandelt worden. In einem Falle habe sich der Betreffende bereits am Zaun unseres Botschaftsgeländes festgehalten. Das Verhalten der TSE - Organe sei unglaublich und völlig unannehmbar. Dies sei nicht der Weg, auf dem man im Interesse der bilateralen Beziehungen weitergehen könne. Wir würden eine derartige Behandlung Zufluchtsuchender nicht hinnehmen. Er, StS, erwarte, daß der Botschafter dies umgehend an seine Regierung berichte. Spacil wies den Protest zurück. Er kenne nicht die Vorfälle im Einzelnen. Er gehe aber davon aus, daß es eine Verständigung gebe, wonach die TSE Seite für die »Sicherheit der Wege zur Botschaft« und für die »Erhaltung der öffentlichen Ordnung« dort verantwortlich sei. Die Ordnungskräfte vor dem Eingang unserer Botschaft seien auf unsere Bitte abgezogen worden. Über die Vorfälle werde er sofort berichten. StS machte deutlich, daß es keine Vereinbarung über das gebe, was Botschafter Spacil »Sicherung der Wege zur Botschaft« nenne. Wir hätten niemals darum gebeten, die Wege zur Botschaft abzusperren. Die von ihm ( StS ) vorgebrachten Fälle seien auch nicht mit »Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung« zu rechtfertigen. Das gewaltsame Vorgehen gegen die Zufluchtsuchenden sei durch nichts zu entschuldigen. StS wiederholte abschließend nochmals unseren schärfsten Protest. Derix
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2. Oktober 1989 Dok. 34 Bericht der Staatsicherheit Dresden : »Der Gegner versucht die Fluchtpsychose zu eskalieren« Fernschreiben des Leiters der Bezirksverwaltung für Staatssicherheit Dresden, Horst Böhm, an die Leiter der Kreisdienststellen BStU, ASt. Dresden, BV Dresden, KD Großenhain 10139, Bl. 30 f. – Adressat : Leiter aller Kreisdienststellen. – Vermerke : cfs 108, Ausnahme, DV : Dem Leiter am 3.10.1989/ 8.00 Uhr auf dem Tisch.
Durch eine groß angelegte Medienkampagne, insbesondere durch äußerst spektakulär aufgemachte Veröffentlichungen über die am 01.10.89 erfolgte Abschiebung der Personen nach der BRD, die sich in erpresserischer Weise in den Botschaften der BRD in Prag und Warschau aufhielten, versucht der Gegner in Vorbereitung des 40. Jahrestages der DDR die seit längerer Zeit geschürte Fluchtpsychose weiter zu eskalieren. Diese Kampagne geht einher mit verstärkten völkerrechtswidrigen Praktiken des Personals der diplomatischen Einrichtungen der BRD. Besonders in der CSSR und der VRP. Noch unter der Euphorie stehend, werden Bürger der DDR regelrecht zu Erpressungsversuchen animiert und in die genannten Einrichtungen eingelassen. Es ist zu verzeichnen, daß bereits im Verlauf des 02. 10. 89 mehrere hundert Bürger der DDR erneut Erpressungsversuche in BRD - Botschaften ( besonders Prag und Warschau, aber auch in Sofia bzw. in der StäV ) unternahmen. Weiter zugenommen hat der Druck auf die Staatsgrenze der DDR insgesamt, in Richtung der CSSR und VRP im Besonderen. Vor allem Jungerwachsene versuchen verstärkt im visafreien Reiseverkehr oder durch ungesetzliche Grenzübertritte und die CSSR und die VRP zu gelangen, um sich in den BRD - Botschaften festzusetzen bzw. die Staatsgrenze der CSSR zur UVR zu durchbrechen. Davon ausgehend sind mit Konsequenz und hoher Intensität die eingeleiteten Maßnahmen zur vorbeugenden Verhinderung des ungesetzlichen Verlassens der DDR und von Erpressungsversuchen weiter fortzuführen. Der Einsatz der operativen Kräfte und Mittel und das Zusammenwirken mit der VP, der Zollverwaltung und den Grenztruppen und den anderen gesellschaftlichen Kräften zum rechtzeitigen Erkennen und zur Verhinderung derartiger Handlungen sind zu verstärken. Es ist zu gewährleisten, daß die am 01.10.89 den Leitern der BKG vermittelten Orientierungen zum weiteren Vorgehen umgesetzt und praxiswirksam werden. Durch das MdI werden in Durchsetzung der abgestimmten Maßnahmen die Bereiche Inneres, gleichlaufend orientiert. Böhm / Generalmajor BV Dresden, Leiter der BV
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2. Oktober 1989 Dok. 35 Lagebericht von Botschafter Huber Fernschreiben des Botschafters in Prag, Hermann Huber, an das Auswärtige Amt PA AA, Bo Prag, 20.682 E, unpag. – Kopf : Aus : Prag, Nr. 2294 vom 2.10.1989, 21.20 OZ, an: Bonn AA, citissime, Fernschreiben ( verschlüsselt ) an 513, VS – Nur für den Dienstgebrauch. – Verteiler : Sonderverteiler Deutsche aus der DDR, BMB - Bonn, Büro StS, BMB - Berlin, z. H. Herrn Plewa oViA, Az. : RK 330 VS - NfD. – Verfasser : LR I Rünger.
Betr. : hier :
Zufluchtsuchende Deutsche aus der DDR Lagebericht 02.10.1989
Zur Unterrichtung 1. Nach der Intervention Herrn BM am Abend des 30. 09. 1989 verließen die in der Botschaft befindlichen zufluchtsuchenden Deutschen aus der DDR am Abend und in der Nacht zum 01.10.1989 die Vertretung. Sie fuhren mit sechs Sonderzügen durch die DDR in die Bundesrepublik Deutschland. Die ersten Busse Richtung Bahnhof Prag verließen die Botschaft am 30.09. um 19.30 Uhr. Der erste Zug fuhr um 21.00 Uhr ab. Der letzte Bus verließ die Botschaft am 01. 10. 1989 um 08.00 morgens. Der letzte, sechste Sonderzug traf um 18.30 Uhr, am Sonntag, 01.10.1989 in Hof ein. Insgesamt hatten sich in den letzten Stunden des Weggangs aus der Botschaft rd. 6 000 Personen in und vor der Vertretung zusammengefunden und wurden mit den Sonderzügen in die Bundesrepublik Deutschland gebracht. Eine Restgruppe von ca. 75 Personen verließ in den frühen Morgenstunden des 01.10. die Vertretung und kehrte auf der Basis der »Vogel - Lösung« zunächst in die DDR zurück. Am Sonntag, 01. 10. 89, 08.00 befand sich kein zufluchtsuchender Deutscher aus der DDR mehr in der Botschaft. 2. Botschaftsmitarbeiter und Angehörige des Roten Kreuzes machten sich anschließend daran, das in einem chaotischen Zustand zurückgebliebene Botschaftsgelände – und gebäude aufzuräumen. Das Areal war mit Müll, Matratzen, Schlafsäcken, Bekleidung, Essensresten, Verpackungsmaterial übersät. 3. Im Laufe des Nachmittags des Sonntags, 01. 10. 89, wuchs die Zahl der Zufluchtsuchenden, die über den Botschaftszaun Zugang zum Gelände fanden auf 16 an. Gleichzeitig wuchs die sich seit dem Vormittag vor der Botschaft ansammelnde Menge von Deutschen aus der DDR auf bis 17.00 Uhr ca. 250 bis 300. Ich habe weisungsgemäß darauf hingewiesen, daß eine Wiederholung der globalen Aktion vom Vortag nicht mehr möglich sei und die Zufluchtsuchenden
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normale Ausreiseanträge stellen sollten. Im Übrigen habe ich finanzielle Überbrückungshilfe für den Bedarfsfall angeboten. Seit den Vormittagsstunden standen zwei, zeitweise auch drei uniformierte tsl. Polizeibeamte unmittelbar vor Botschaftseingang. 4. Gegen 17.00 Uhr habe ich dann weisungsgemäß die Pforte der Botschaft geöffnet und den dort wartenden Deutschen aus der DDR mitgeteilt, daß ich sie zur vorläufigen Versorgung nunmehr in das Gebäude einlassen will. Die Zufluchtsuchenden strömten unter Jubelgeschrei an mir vorbei in den Innenhof. 5. Im Lauf des heutigen Tages wurde unter tatkräftiger Mithilfe der Zufluchtsuchenden das Gelände der Vertretung notdürftig aufgeräumt und, so weit möglich, gereinigt. Weitere Desinfektionsmaßnahmen werden erfolgen. 6. Über Behinderungen durch tsl. Polizisten beim Zugang zur Vertretung wurde gesondert berichtet. 7. Bis 19.25 Uhr fanden insgesamt 1 622 Deutsche aus der DDR in der Botschaft Zuflucht. Versorgung und Unterbringung sind sichergestellt. 8. Ab 20.40 Uhr ermöglichte die tsl. Polizei Zufluchtsuchenden, die sie ab ca. 19.00 Uhr in den zur Botschaft führenden Straßen festgehalten hatte, sich zur Vertretung zu begeben. Hier werden kurzfristig rd. 600 weitere Zufluchtsuchende eintreffen. Huber
3. Oktober 1989 Dok. 36 ZK - Hausmitteilung von Egon Krenz an Erich Honecker : Lösungsansätze zum »Problem der illegalen Ausreise« BStU, ZA, Z - Archiv, RS 101, Bd.1, Bl. 1–6. – Kopf : Zentralkomitee ( der SED ), Hausmitteilung von Mitglied des Politbüros Egon Krenz an Genossen Erich Honecker. – Handschriftlicher Vermerk : E. H., 3.10.1989. – Datiert : 3.10.1989.
Lieber Genosse Erich Honecker ! In der Anlage übermittle ich Dir drei Varianten zur generellen Lösung des Problems der illegalen Ausreise. Ich habe die Vor - und Nachteile dieser Varianten deutlich gemacht. Eine Ideallösung gibt es nicht. Ich würde die zweite Variante empfehlen, verbunden mit der öffentlichen Mitteilung der Regierung der DDR, daß auf Grund der Nichteinhaltung der Zusagen der BRD - Regierung und der Fortführung der Abwerbung von DDR - Bürgern die zuständigen Organe der DDR die Entscheidung getroffen haben, in Übereinstimmung mit den Regierungen der CSSR und der Volksrepublik Polen die geltenden Reisebestimmungen für die Ausreise in die CSSR und in die VR Polen sowie in die Ungarische Volksrepublik vorübergehend außer Kraft zu setzen.
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Seitens der DDR werden entsprechende Reiseverordnungen vorbereitet, die erweiterte Reisemöglichkeiten schaffen. Gleichzeitig wird mitgeteilt, daß alle Anträge auf ständige Ausreise auf der Grundlage der Gesetze der DDR geprüft und entschieden werden. Von der zeitweiligen Unterbrechung des Reiseverkehrs sind humanitäre Angelegenheiten nicht betroffen. Ich bitte um Entscheidung. Mit sozialistischem Gruß Egon Krenz [ m.p.] Anlage : Vorschläge zur generellen Lösung des Problems der illegalen Ausreisen 1. Variante Öffentliche Forderung an die BRD - Regierung, sofort die Staatsbürgerschaft der DDR mit allen Konsequenzen anzuerkennen ( keine weitere Aufnahme von DDR- Bürgern in ihren Botschaften ) und gleichzeitige Veröffentlichung des Vorschlages, die Reisemöglichkeiten für DDR - Bürger zu erweitern, wenn die BRD die Staatsbürgerschaft der DDR anerkennt ( Angebot zur Aufnahme von Verhandlungen zwischen den Regierungen der DDR und der BRD ). Diese Variante müsste von einer breiten politisch - ideologischen Kampagne im Inneren und von einer, groß angelegten, außenpolitischen Offensive begleitet werden (vorher Abstimmung mit der Sowjetunion und anderen Bruderländern, das könnte mit den Spitzengästen zum 40. Jahrestag der DDR geschehen ). Die 1. Variante hätte vor allem propagandistischen Effekt, würde aber kaum zu einer Lösung führen. Sie birgt die Gefahr in sich, die Beziehungen zur BRD zu verhärten. 2. Variante Zeitweilige Schließung der Grenzen der DDR, verbunden mit der öffentlichen Mitteilung, daß die Regierung der DDR bis zu einem bestimmten Zeitpunkt (noch vor Weihnachten / Neujahr ) erweiterte Reisemöglichkeiten schafft und alle Anträge auf ständige Ausreise auf der Grundlage der DDR - Gesetze und der Wiener Abschlusserklärung prüft und entscheidet. Nochmalige Aufforderung der Regierung der DDR an die DDR - Bürger in den BRD - Botschaften, umgehend in die DDR zurückzukehren, wo ihre Anliegen sofort geprüft und positiv entschieden werden. Gleichzeitig wird die BRD - Regierung öffentlich aufgefordert, sofort die Staatsbürgerschaft der DDR mit allen Konsequenzen anzuerkennen. Die 2. Variante könnte die Lage im Inneren bis zur Nichtmehrbeherrschbarkeit anheizen. Außerdem müssten alle Grenzen abgeriegelt werden ( Einsatz der Landstreitkräfte und der Kampfgruppen wäre nötig, da sich der Druck auf die Grenze zur CSSR und zur VR Polen genauso verstärken würde wie auf die
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Grenze zur BRD und zu Berlin - West, die Grenzen zur CSSR und zur VR Polen aber kaum gesichert sind). 3. Variante Sofortige öffentliche Mitteilung, daß die DDR die Reisemöglichkeiten für DDR Bürger erweitern wird ( Prinzip : Jeder DDR - Bürger kann einen Reisepass erwerben und erhält ein Visum für Reisen in jedes Land, wenn damit keine weiteren Verpflichtungen für den Staat verbunden sind. Einschränkungen gelten für Geheimnisträger, noch Wehrpflichtige oder solche DDR - Bürger, gegen die ein Verfahren läuft. Einschränkungen können auch aus Gründen der nationalen Sicherheit – wie in jedem anderen Land – geltend gemacht werden). Gleichzeitige Mitteilung, daß die DDR das Recht gewährt, daß jeder DDR - Bürger sein Land verlassen und auch wieder in sein Land einreisen kann. Die 3. Variante ist die Beste, weil sie auf eine strategische, also dauerhafte Lösung zielt. Sie würde allerdings den Verlust von weiteren zehn - oder sogar hunderttausenden Bürgern bedeuten. Alle drei Varianten sollten mit dem Appell der Regierung der DDR an alle Bürger verbunden sein, im Lande zu bleiben, da der Sozialismus Platz und Perspektive für alle hat. Die Entscheidung über eine dieser 3 Varianten sollte mit der Rede zum 40. Jahrestag der DDR veröffentlicht werden. Hinweise zu den unterbreiteten Varianten (4. Oktober 1989) Es wird für zweckmäßig erachtet, mit der 1. Variante eine Lösung dieses Problems anzugehen, auch wenn die BRD nicht bereit sein wird, die Staatsbürgerschaft der DDR anzuerkennen. Deshalb sollte in Betracht gezogen werden, die Forderung gegenüber der BRD weiter zu fassen. Eventuell könnten unter diesem Gesichtspunkt auch Forderungen zur Aufgabe der »Obhutspflicht«, zur Einstellung des widerrechtlichen Aufenthaltes von DDR - Bürgern in diplomatischen Vertretungen u. a. praktische Fragen gestellt werden, ohne sie ausschließlich an die Anerkennung der Staatsbürgerschaft der DDR zu koppeln. Die gesamte Vorgehensweise müsste eventuell so angelegt werden, daß für die gegenüber der BRD zu erhebenden Forderungen eine breite Unterstützung seitens der Bevölkerung der Deutschen Demokratischen Republik gewährleistet werden könnte, um den notwendigen Druck auf die BRD zu erreichen. Desgleichen müsste das Vorgehen auf einen bestimmten Zeitgewinn ausgerichtet sein, um auch günstigere innere Bedingungen für die in Aussicht zu nehmende Erweiterung der Reisemöglichkeiten für die DDR - Bürger zu schaffen. Die Abstimmung mit der Sowjetunion und den anderen Bruderländern wird dabei als eine unerlässliche Voraussetzung betrachtet.
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In Abhängigkeit vom Verhalten der BRD müsste eventuell auch entschieden werden ( und sollten entsprechende Varianten vorbereitet werden ), wie auf destruktive Maßnahmen und Verhaltensweisen der BRD zu reagieren wäre. Es wird ebenfalls eingeschätzt, daß mit der 1. Variante keine perspektivische Lösung möglich ist. Der in der 2. Variante unterbreitete Vorschlag zur »zeitweiligen Schließung aller Grenzen der DDR« wird als kaum durchführbar betrachtet. Das bezieht sich auch auf den dabei hergestellten Zusammenhang hinsichtlich der Schaffung von Grundlagen / Bedingungen für erweiterte Reisemöglichkeiten und die Entscheidung über Anträge auf ständige Ausreise. Es wird für zweckmäßig erachtet, nur von einer zeitweiligen Aussetzung von Ausreisemodalitäten für Reisen von Bürgern der DDR aus privaten und touristischen Gründen nach anderen Staaten zu sprechen und auszugehen. Das würde sich, ausgehend von der gegenwärtigen Lage – neben der CSSR – beziehen auf den Reiseverkehr von Bürgern der DDR nach der UVR und der VR Polen. Das beträfe auch den Transitverkehr durch diese Staaten. Diese Maßnahmen müssten politisch - ideologisch, insbesondere auch durch entsprechende Informierung und Mobilisierung der Parteiorganisationen, wirksam unterstützt werden. Auch bei einem solchen Herangehen ist – falls die BRD an ihrer widerrechtlichen Praxis hinsichtlich der diplomatischen Vertretungen oder durch andere entsprechende Maßnahmen festhält – die Verstärkung der Grenzsicherung unumgänglich. Zu berücksichtigen ist, daß die Maßnahmen der »zeitweiligen Aussetzung ...« zu einer Verschärfung der innenpolitischen Situation in der DDR führen. Deshalb wären neben zusätzlichen Maßnahmen zur Gewährleistung der Sicherheit und Ordnung dringend auch Überlegungen und Entscheidungen erforderlich, mit welchen anderen Maßnahmen, zum Beispiel auf ökonomischem / sozialem Gebiet, besonders negative Auswirkungen gemildert werden könnten. Eine sofortige öffentliche Mitteilung über eine beabsichtigte Erweiterung der Reisemöglichkeiten für DDR - Bürger – wie in der 3. Variante vorgeschlagen – wird unter den gegenwärtigen Bedingungen nicht für zweckmäßig erachtet. Die Möglichkeiten und die damit verbundenen Konsequenzen, die sich aus einer Erweiterung der Reisemöglichkeiten ergeben würden, müssten vor jeder öffentlichen Mitteilung dazu erst allseitig untersucht werden. Zum Beispiel wäre die Kopplung der »Erteilung des Visums für Reisen in jedes Land, wenn damit keine weiteren Verpflichtungen für den Staat verbunden sind« ( d. h. keine Ausstattung mit Valutamitteln ) kein Hinderungsgrund für die DDR - Bürger, dennoch auf die Durchführung einer derartigen Reise zu bestehen. Die bei der Realisierung der 3. Variante angedeuteten Auswirkungen entsprechen, soweit von einer solchen Maximalvariante wie dargestellt ausgegangen
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wird, nicht den Realitäten. Die bisherige Entwicklung der Lage auf diesem Gebiet und die Situation im Innern der DDR lassen eindeutig erkennen, daß wesentlich darüber hinausgehende Größenordnungen des »Verlustes« von DDR - Bürgern zu erwarten wären. Die damit verbundenen politischen, ökonomischen und sozialen Auswirkungen könnten ein nicht mehr vertretbares Ausmaß annehmen.
3. Oktober 1989 Dok. 37 Außenminister Fischer an Honecker – Forderungen der KPTsch : dramatische Zuspitzung BArch B, DY 30, IV 2/2.039, 342, Bl. 52 f. – Absender : Ministerrat der Deutschen Demokratischen Republik, Der Minister für Auswärtige Angelegenheiten. – Adressat : Generalsekretär des Zentralkomitees der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands und Vorsitzenden des Staatsrates des DDR, Genossen Erich Honecker Berlin. – Handschriftlicher Vermerk : Gen. Krenz z. Ktn., Ablage. – Datiert : 3.10.1989.
Werter Genosse Honecker ! Als Anlage übermittle ich eine Information des Botschafters der DDR in der CSSR, Genossen Ziebart. Er wurde von dem Mitglied des Präsidiums und Sekretär des ZK der KPTsch, Genossen Lenart, über das Ergebnis einer Sitzung der Parteiführung der KPTsch zur gegenwärtigen Lage mit DDR - Bürgern in der CSSR informiert und gebeten, die Vorstellungen des Präsidiums des ZK Dir und der Parteiführung der SED mitzuteilen. Mit sozialistischem Gruß Oskar Fischer i. V. Herbert Krolikowski [ m.p.] Anlage Genosse Lenart bat im Auftrage des Generalsekretärs, Genossen Jakes, um 12.30 Uhr darum, daß Genosse Honecker und das Politbüro sofort informiert werden über die dramatische Zuspitzung der Situation in der BRD - Botschaft und vor der Botschaft durch DDR - Bürger. In der Botschaft befinden sich ca. 4 500 Menschen, vor der Botschaft weitere 1 000. Diese große Ansammlung ist nicht mehr zu beherrschen. Es wird von führenden Genossen der KPC befürchtet, daß die vor der Botschaft wartenden DDR - Bürger eine Demonstration durch Prag veranstalten, denen sich Prager Intellektuelle, Dissidenten und Jugendliche anschließen könnten. Offensichtlich ist dies das Konzept des Gegners, während der Feierlichkeiten zum 40. Jahrestag in Berlin in Prag große Gegendemonstrationen mit Beteiligung von csl. Bürgern und Besuchern Prags zu veranstalten.
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Die CSSR ist nicht in der Lage, ein entsprechendes Gebäude zur Unterbringung der DDR - Bürger zur Verfügung zu stellen. Sie hält es auch nicht für gut, zuzulassen, daß ein Teil der Leute über die CSSR nach Ungarn und über Ungarn dann weiterreist. Aus all diesen Erwägungen bittet die Führung der KPC um die Wiederholung einer Aktion, wie sie am 30. stattgefunden hat. Um die Initiative in der Hand zu behalten, schlägt sie deshalb vor, einen zweiten humanitären Akt zu vollziehen. Genosse Lenart bat darum, diese Information und diese Vorschläge sofort Genossen Honecker zu unterbreiten.
3. Oktober 1989 Dok. 38 Tschechoslowakischer DDR - Botschafter über die Grenzschließung Telegramm des tschechoslowakischen Botschafters in Bonn, František Langer, an das tschechoslowakische Außenministerium AMZV Praha, Telegramy přijaté, 1989, sv.35. – Absender: Langer. – Adressat: Föderales Ministerium des Auswärtigen. – Datiert: 3.10.1989, 17.00 Uhr. – Vermerk: Geheim, sofort übergeben.
Übersetzung Gemäß dem Telefongespräch mit Gen. Sieber wurde nach der Erörterung in der SED-Parteiführung Folgendes beschlossen: 1. Aufgrund der anhaltenden feindlichen Aktionen imperialistischer Kreise der BRD werden private Reisen der DDR-Bürger in die ČSSR mit sofortiger Wirkung gestoppt. 2. Die Situation der DDR-Bürger, die sich im Innern sowie auf dem Gebiet um die Botschaft der BRD aufhalten, wird ähnlich gelöst wie am 30. 09. und 01.10. dieses Jahres. Ihnen wird die Ausreise ermöglicht. 3. Die Einzelheiten der konkreten Vorgehensweise wird der Minister für Staatssicherheit, Genosse Mielke, mit dem tschechoslowakischen Innenminister, Genossen Kincl, besprechen. Diese Information teilte angeblich Gen. Axen um 13.15 Uhr dem Gen. Lenárt mit. Im Hinblick darauf, dass bei der Veröffentlichung angegeben werden soll, dass diese Entscheidung in Absprache mit der Führung der CSSR angenommen worden ist, soll Gen. Lenárt eine Stellungnahme binnen 30 Minuten verprochen haben. Bei dem folgenden Telefongespräch mit dem Staatssekretär Hubert Krolikowski wurde festgelegt, dass die Veröffentlichung in der DDR heute um 17.00 Uhr stattfinden soll (die westlichen Medien berichteten von der zeitweiligen Einstellung der Reisen der DDR-Bürger in die CSSR bereits um 14.30 Uhr). Langer
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3. Oktober 1989 Dok. 39 Grenzschließung, Staatsicherheit ergreift Maßnahmen Ergebnisse einer Beratung des 1. Stellvertreters des Leiters der Bezirksverwaltung für Staatssicherheit Dresden, Hardi Anders, über Maßnahmen zur Schließung der Grenzen der DDR BStU ASt. Dresden 1. Stellv. d. Ltr. 1, Bl. 178 f. – Kopf : Bezirksverwaltung für Staatssicherheit, 1. Stellvertreter des Leiters. – Datiert: 3.10.1989.
Bezogen auf die sich in Durchsetzung der erforderlichen Maßnahmen zur Verhinderung von weiteren Erpresserfällen, insbesondere in der BRD - Botschaft in Prag, ergebende Lage habe ich am heutigen Tage eine Beratung mit den verantwortlichen Leitern durchgeführt. An dieser Beratung nahm der Leiter der Abteilung VI, Genosse OSL Böhnisch, der Stellvertreter der Abteilung VI, Genosse OSL Blankenhorn, der Referatsleiter Fahndung Abteilung VI, Genosse Major Reutler, der Leiter der PKE Bad Schandau, Genosse OSL Schreiber, der stellvertretende Leiter der BKG, Genosse OSL Schierack, der Stellvertreter der Abteilung VII, Genosse Major Steidel und der Offizier für Grenzfragen der Abteilung VII, teil. Die bisherigen eingeleiteten Maßnahmen im Kontroll - und Filtrierungsprozess in den grenzüberschreitenden Zügen – Richtung CSSR – haben eine intensive Pass - und Zollkontrolle ab Dresden in Richtung Bad Schandau zum Inhalt. Ausgesetzt werden Personen, die kein konkretes Reiseziel angeben, insbesondere Jungerwachsene, Ehepaare mit schulpflichtigen Kindern und Ehepaare mit Kleinstkindern. Das Aussetzen erfolgt auf dem Bahnhof Bad Schandau. Die ausgesetzten Personen werden mit Personalien erfasst und zurückgewiesen. Dazu sind Transportmittel – Sonderzug in Richtung Dresden und Busse bereitgestellt. Zur Verhinderung von ungesetzlichen Grenzübertritten an der Staatsgrenze DDR – CSSR sind die Grenztruppen der DDR und der VP im verstärkten Einsatz. Personen, welche ungesetzlich die Staatsgrenze in Richtung CSSR zu überschreiten beabsichtigen, werden festgenommen und zum Stützpunkt VPKA, Dezernat 11, zugeführt. Alle bisherigen Maßnahmen sind aufgrund der sich entwickelnden Lage zu verstärken. Ich habe dazu festgelegt : 1. Unter Führung des Leiters der PKE Bad Schandau ist ein Kommandopunkt einzurichten, von dem aus alle operativen und polizeilichen Maßnahmen sowie Informationsbeziehungen geleitet werden.
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2. Zur Durchsetzung einer zügigen Passkontrolle während der Fahrt von Dresden nach Bad Schandau wird jeweils 1 Waggon durch einen Passkontrolleur, einen Angehörigen des Zoll sowie einem Angehörigen der Transportpolizei kontrolliert. Bei Eintreffen des Zuges in Bad Schandau werden die festgestellten verdächtigen Personen ausgesetzt. Dazu habe ich veranlasst, daß 20 operative Mitarbeiter aus dem Bestand der Bezirksverwaltung der Passkontrolle – PKE Bad Schandau – zugeordnet und entsprechend eingekleidet werden. Zum Abtransport der Ausgesetzten vom Bahnhof Bad Schandau habe ich zur Verstärkung der bisherigen Transportmittel ( Sonderzug, 1 Bus, 1 MTW ) 2 Kleintransporter B 1000 angefordert. 3. Um Ansammlungen, Proteste und Sitzstreiks u. ä. Provokationen durch die ausgesetzten Personen kurzfristig zu zerschlagen, wurde im Zusammenwirken mit der DVP eine Kompanie der Bereitschaftspolizei zum Einsatz gebracht. Mit dem Leiter des VPKA [ handschriftlich eingefügt : Dresden ] ist die Variante – Filtrierung – der VP - Bereitschaft ausgelöst worden. 4. Den Leiter der Abteilung VI habe ich angewiesen, alle Voraussetzungen dafür zu schaffen, daß zu jeder Zugabfertigung und - Kontrolle – Richtung CSSR – eine Lagemeldung an mich erarbeitet wird ( Inhalt : Zugnummer, Uhrzeit, Anzahl der Zuginsassen, Anzahl der ausgesetzten Personen, darunter Kinder sowie Vorkommnisse ). Diese Lagemeldung wird im Nachhinein präzisiert und die Zahlen exakt an mich gemeldet. 5. Durch den Leiter der Abteilung VI und dem Leiter der BKG ist zu gewährleisten, daß die zuständigen Diensteinheiten über die ausgesetzten Personen informiert und durch diese entsprechend der Lage notwendige Maßnahmen eingeleitet werden. Anders Oberst
3. Oktober 1989 Dok. 40 Telefonat von Bundeskanzler Kohl mit Ministerpräsident Adamec : Ausreise wurde bewilligt BArch B, B 136/21860, 222 83105 Fa 3 NA 2 Bd. 6. – Verfasser : Ministerialdirigent Neuer . – Datiert : 4.10.1989, Gesprächsbeginn : 17.00 Uhr.
Der Bundeskanzler begrüßt MP Adamec und erklärt, er rufe an wegen der Entwicklung im Hinblick auf die Deutschen aus der DDR, die ihm große Sorgen
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bereiteten. Er hoffe, daß in den nächsten Stunden eine befriedigende Lösung für das Problem dieser Menschen gefunden werden könne. Er bedauere es sehr, daß diese Situation entstanden sei. Sein Wunsch sei es, daß die Frage unter humanitär akzeptablen Bedingungen ablaufe. Er sei von den Vorgängen zutiefst berührt. Es liege nicht in unserem Interesse, die Dinge zu dramatisieren. Er habe schon vor einem Jahr seine Sorge zum Ausdruck gebracht und gesagt, daß wir kein Interesse an einer Destabilisierung hätten. Wenn wir weiterkommen wollten bei dem Prozeß der Abrüstung und der Entspannung in Europa, sei es wichtig, im Gespräch miteinander zu bleiben. Sein Wunsch sei es, daß die Tschechoslowakei ihren Beitrag leiste. Er hoffe, daß das Problem so gelöst werden könne, daß die Beziehungen nicht tangiert werden. MP Adamec dankt dem Bundeskanzler für den Anruf und erklärt, daß sich heute um 16.00 Uhr 6 000 DDR - Bürger in der Botschaft der Bundesrepublik aufgehalten hätten, 2 000 in der Umgebung. Außerdem seien 3 000–4 000 Bürger auf dem Weg nach Prag. Zusammen handele es sich um 10 000–11 000 Menschen. Mit der DDR sei vereinbart, daß ab 17.00 Uhr am heutigen Tage die Grenze geschlossen werde. Alle DDR - Bürger, die sich in der CSSR jetzt befinden, würden die Möglichkeit bekommen, heute Abend oder heute Nacht über die DDR in die Bundesrepublik auszureisen. Auf eine Zwischenfrage des Bundeskanzlers bemerkt MP Adamec, daß es sich insgesamt um die 10 000 oder 11 000 DDR - Bürger handele, für die eine Lösung wie am vergangenen Wochenende vorgesehen sei. Der Bundeskanzler gibt seiner großen Erleichterung Ausdruck. Er erklärt, es handele sich hier um eine überaus wichtige Angelegenheit. MP Adamec weist auf die Probleme, die in diesem Zusammenhang auf die CSSR zugekommen seien, hin. Der Bundeskanzler bemerkt, er würde es sehr begrüßen, wenn das nun begonnene Gespräch mit MP Adamec unter ruhigen Umständen fortgesetzt werden könnte. MP Adamec stimmt dem zu. Auf die Frage des Bundeskanzlers nach einer Mitteilung an die Öffentlichkeit erklärt MP Adamec, die tschechoslowakische Seite wolle dies heute abend bekanntgeben. Der Bundeskanzler bemerkt seinerseits, daß auch wir die Absicht hätten, die Presse zu unterrichten. Das Gespräch endete nach etwa 10 Minuten. Neuer
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3. Oktober 1989 Dok. 41 Außenminister Fischer entwirft die ADN - Meldung über die Grenzschließung Schreiben des Außenministers der DDR, Oskar Fischer, an den Generalsekretär der SED, Erich Honecker, mit dem Entwurf einer ADN - Meldung BArch B, DY 30, IV 2/2.039, 352, Bl. 1f. – Absender : Ministerrat der Deutschen Demokratischen Republik, Der Minister für Auswärtige Angelegenheiten. – Adressat : Generalsekretär des Zentralkomitees der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands und Vorsitzenden des Staatsrates der DDR Genossen Erich Honecker Berlin. – Handschriftlicher Vermerk von Herbert Krolikowski : Gen. Krenz z. Ktn. – Datiert : 3.10.1989.
Werter Genosse Honecker ! Als Anlage übermittle ich Ihnen den Entwurf einer ADN - Meldung im Zusammenhang mit der Ausweisung der Personen, die sich in den Botschaften der BRD befinden. Ich bitte um Zustimmung. Mit sozialistischem Gruß Oskar Fischer i. V. Herbert Krolikowski [ m.p.] Entwurf : ADN - Meldung Berlin ( ADN ) Durch Verschulden der BRD, die weiter Personen zum Verlassen der DDR ermuntert und sich nicht an getroffene Absprachen hält, ist es erneut insbesondere in der Botschaft der BRD in Prag zu einer unhaltbaren Situation gekommen. Wieder wurden von unverantwortlich handelnden Eltern Kinder und Kleinstkinder in diese üblen Machenschaften einbezogen. Die Regierung der DDR ließ sich vor allem vom Schicksal dieser Kinder leiten, die nicht für das gewissenlose Handeln ihrer Eltern verantwortlich gemacht werden können, wenn sie jetzt entschieden hat, die Personen, die sich erneut widerrechtlich in Botschaften der BRD aufhalten, über das Territorium der DDR in die BRD auszuweisen. Da die Erfahrungen zeigen, daß es nicht möglich ist, mit der BRD auf diesem Gebiet vertrauensvolle Absprachen zu treffen, sah sich die DDR veranlasst, nach Konsultation mit der CSSR vorübergehend den visafreien Reiseverkehr zwischen der DDR und der CSSR einzustellen. Es wird erwartet, daß endlich von der Regierung der BRD Maßnahmen getroffen werden, damit sich die BRD - Botschaften in ihrer Tätigkeit nach dem Völkerrecht und den internationalen Gepflogenheiten richten, so wie das alle anderen Staaten Europas handhaben. Anderweitige Praktiken sind nur geeignet, die Beziehungen zu stören. Darüber sollten sich sowohl Politiker in Bonn als
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auch diejenigen, die sich an derartigen Machenschaften beteiligen, im Klaren sein.
3. Oktober 1989 Dok. 42 Bericht eines Informanten der Staatssicherheit über die Sonderzüge von Prag nach Hof Bericht des Leiters der Abteilung XIX der Bezirksverwaltung für Staatssicherheit Dresden, Karl - Heinz Bürger BStU, ASt. Dresden, BV Dresden, XIX, 20232, Bl. 1 f. – Absender : Bezirksverwaltung für Staatssicherheit, Abteilung XIX. – Adressat : AKG. – Verteiler : 1 x AKG, 1 x Stellv. Operativ, 1 x Abt. XIX. – Datiert : 3.10.1989.
Am 03.10.1989 wurde durch ein Gespräch mit einer Kontaktperson des Mitropabezirksbetriebes Dresden XXX, XXX geb. am : XXX 1937 wohnh. : XXX besch. : Geschäftsführer, VS Neustadt nachfolgender Sachverhalt über den Abtransport der ÜE von Prag nach Hof bekannt : Der XXX gehörte zum Mitropapersonal des 3. Zuges ( Ankunft Hof am 01.10.89 gegen 13.30 Uhr ). Gesamtlänge des Zuges 10 Wagen – mit 120 % überfüllt, kein Passieren der Gänge mehr möglich. Umsatz ca. 8 000, - DM, davon ca. 12 000 Kcs. Während der Fahrt nach Bad Schandau aus waren folgende wesentliche Erscheinungen und Handlungen ehemaliger DDR - Bürger sichtbar : 1. Abbrennen von 100 und 50 M - Scheinen und Herauswerfen auf Bahnhöfen 2. Katastrophale Verunreinigung der Züge bei Verlassen in Hof ( volle Babywindeln, Nachttöpfe, zerschlagene Radios, Zurücklassen von persönlichen Sachen, Abfälle von Nahrungs - und Genussmitteln, zerrissene Geldscheine in Währung der DDR u. a.) 3. Die Reaktion der Anwohner der Reichsbahnstrecke im Raum Plauen ( Winken, Jubeln ) gegenüber Übersiedelnden wurde durch das Mitropapersonal als beschämend und erschreckend empfunden. Diese Sympathiebekundungen heizten die allgemeine Atmosphäre in den Zügen auf ( allgemeine Meinung der Übersiedelnden : »Endlich in der Freiheit. Wir sind nicht die Einzigen !«). Durch das Mitropapersonal wurde besonders kritisiert, daß diese »Lumpen« auch noch die besten Getränke ( Orangenjuice etc.) serviert bekommen. Diese
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Getränke werden im Fahrbetrieb bzw. in der Versorgung der VE’s1 nur selten angeboten. Bei Ankunft in Hof ging das ZDF durch den Zug und dokumentierte diese Zustände. Durch das BGS wurde der XXX angehalten, ebenfalls die DDR zu verraten. Durch die Beschäftigten der Mitropa wurde die Frage gestellt, »warum das ZDF dies auch nicht den DDR - Bürgern zeigt«. Nach Aussage des XXX soll diese Erscheinung für alle sechs Züge zutreffend sein. Die Züge wurden ausschließlich zur Reinigung in die DDR überführt. Leiter der Abteilung Bürger [ m.p.] Oberstleutnant
3. Oktober 1989 Dok. 43 Ministerpräsident Adamec macht Druck, 22.40 Uhr : Warum läuft die Aktion nicht? Schreiben des Außenministers der DDR, Oskar Fischer, an den Generalsekretär der SED der DDR, Erich Honecker BArch B, DY 30, IV 2/2.039, 352, Bl. 5 f. – Absender : Ministerrat der Deutschen Demokratischen Republik, Der Minister für Auswärtige Angelegenheiten. – Adressat : Generalsekretär des Zentralkomitees der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands und Vorsitzenden des Staatsrates der Deutschen Demokratischen Republik Genossen Erich Honecker. – Handschriftlicher Vermerk von Herbert Krolikowski : Gen. Krenz z. Ktn. – Datiert : 4.10.1989.
Werter Genosse Honecker ! Als Anlage übermittle ich den Vermerk über eine telefonische Durchsage des Botschafters der DDR in der CSSR Genossen Ziebart. Mit sozialistischem Gruß Oskar Fischer i. V. Herbert Krolikwoski [ m.p.] Vermerk Der Botschafter der DDR in der CSSR, Genosse Ziebart, übermittelte am 3.10.1989, 22.40 Uhr folgende Fragen, die ihm vom amtierenden Außenminister der CSSR, Sadovski, im Auftrage des Ministerpräsidenten der CSSR, Adamec, übergeben wurden : 1
Versorgungseinheiten.
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1. Genosse Adamec bittet um Information, warum die abgesprochene Aktion nicht läuft. Die CSSR geht immer noch von der Mitteilung aus, die Genosse Axen gegen Mittag des 3.10.89 Genossen Lenart übermittelte. 2. Warum wird die CSSR nicht darüber informiert, daß die Aktion nicht weitergeführt wird bzw. was los ist ? 3. Genosse Adamec bittet, Genossen Stoph und andere Genossen der Führung davon in Kenntnis zu setzen, daß sich die Lage in und um die BRD - Botschaft in Prag weiter zuspitzt. 11 000 bis 12 000 Personen aus der DDR befinden sich auf dem Gelände der Botschaft, weitere 2 000 im näheren Umfeld. Es reisen weiterhin Personen mit PKW aus der DDR in Prag ein. Davon wurden Genosse Axen, Genosse Stoph, Genosse Herbert Krolikowski informiert. Da zu diesen Fragen zu dieser Zeit keine Entscheidungen vorlagen, wurde in Abstimmung mit Genossen Stoph Botschafter Ziebart beauftragt, Genossen Sadovski mitzuteilen, daß die Antwort auf die von ihm übermittelten Fragen erst heute Vormittag gegeben werden kann.
4. Oktober 1989 Dok. 44 Generalsekretär Jakeš : Lage in Prag äußerst kritisch, macht etwas ! Schreiben des Außenministers der DDR, Oskar Fischer, an den Generalsekretär der SED, Erich Honecker BArch B, DY 30, IV 2/2.039/ 352, Bl. 3 f. – Absender : Ministerrat der Deutschen Demokratischen Republik, Der Minister für Auswärtige Angelegenheiten. – Adressat : Generalsekretär des Zentralkomitees der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands und Vorsitzenden des Staatsrates der DDR Genossen Erich Honecker. – Handschriftlicher Vermerk von Herbert Krolikowski : Gen. Krenz. – Datiert : 4.10.1989.
Werter Genosse Honecker ! Der Botschafter der DDR in der CSSR, Genosse Ziebart, übermittelt die als Anlage beiliegende Information. Mit sozialistischem Gruß Oskar Fischer i. V. Herbert Krolikowski [ m.p.] Vermerk Der Botschafter der DDR in der CSSR, Genosse Ziebart, wurde zu Genossen Lenart bestellt, der ihn im Auftrag des Generalsekretärs des ZK der KPTsch, Genossen Jakes, um die Beantwortung folgender Fragen bat :
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1. Warum wurden die am 3.10. zugesagten Vorbereitungen zur Lösung des Prager Problems gestoppt ? 2. Wann sind Lösungen seitens der DDR zu diesem Problem vorgesehen ? Wann beginnen die dringend notwendigen Maßnahmen ? 3. Genosse Jakes bittet, Genossen Honecker persönlich mitzuteilen, daß die Lage in Prag äußerst kritisch ist. Der Verkehrsminister der CSSR, Genosse František Podlena, teilte im Auftrag des Ministerpräsidenten Adamec mit, daß heute früh eine Krisenberatung stattgefunden hat, in der einheitlich festgestellt wurde, daß die Situation in Prag äußerst kritisch sei. Die Staatsbahn und andere Institutionen der CSSR hatten alle Vorbereitungen getroffen, daß in der Nacht mit der Lösung des Problems begonnen werden kann. Genosse Adamec hat erklärt, daß der CSSR sehr daran gelegen ist, dieses Problem verkehrstechnisch mit der DDR zu lösen. Wenn aber nicht bald eine Entscheidung vorliegt, sieht sich die Regierung der CSSR gezwungen, eine eigene Lösung herbeizuführen.
4. Oktober 1989 Dok. 45 SED - Politbüro beschließt Ausreise der »Botschaftsbesetzer« und Grenzschließung Protokoll der Sitzung des Politbüros des ZK der SED BArch B, DY 30 J IV 2/2, 2350, Bl. 1–6.
Protokoll Nr. 41 der Sitzung des Politbüros des ZK der SED vom 4.10.1989 Anwesende Mitglieder : Honecker, Dohlus, Hager, Hermann, Jarowinsky, Keßler, Kleiber, Krenz, Krolikowski, Mielke, Mittag, Mückenberger, Neumann, Schabowski, Sindermann, Stoph, Tisch Anwesende Kandidaten : Lange, Schürer Gäste : Naumann, Arndt, Dickel, Herger, Sieber, H. Krolikowski Entschuldigt : Axen, Böhme, Eberlein, Lorenz, G. Müller, M. Müller, Walde Beginn : Ende : Sitzungsleitung : Protokollführung :
10.10 Uhr 11.15 Uhr Genosse E. Honecker Genosse E. Schwertner
Zu aktuellen Fragen Berichterstatter : E. Honecker
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1. Entsprechend der Beratung im Politbüro am 4. 10. 1989 beginnt die Aktion der Ausreise von ehemaligen Bürgern der DDR aus Prag mit Zügen der Deutschen Reichsbahn am 4. 10. 1989 um 17.00 Uhr. Verantwortlich für die einzuleitenden Maßnahmen : Genosse E. Krenz, Genosse E. Mielke, Genosse O. Arndt, Genosse F. Dickel, Genosse H. Krolikowski 2. Genosse Jakes, Generalsekretär der ZK der KPTsch ist durch ein Schreiben des Generalsekretärs des ZK der SED, Genossen E. Honecker, über die Entscheidung zu informieren. Dabei ist ihm der Dank für seine Information zu übermitteln und zum Ausdruck zu bringen, daß die zugesagten Vorbereitungen zur Lösung des Problems erst entschieden werden konnten, nachdem das Politbüro des ZK der SED die entsprechenden Beschlüsse gefasst hat. Es ist mitzuteilen, daß zur schnellen Lösung der organisatorischen Fragen sofort der Staatssekretär im Ministerium für Verkehrswesen der DDR nach Prag entsandt wird und daß die Bonner Regierung im Laufe des Tages zu einem späteren Zeitpunkt informiert wird. Verantwortlich : Genosse H. Krolikowski 3. Genosse H. Neubauer wird beauftragt, dem Kanzleramtsminister Seiters am 4. 10. 1989 um 15.00 Uhr mitzuteilen, daß die Aktion heute beginnt. Verantwortlich : Genosse H. Krolikowski 4. Über die Aktion ist in den Medien der DDR ein Kommentar zu veröffentlichen. Verantwortlich : Genosse E. Honecker, Genosse J. Herrmann Über den Beginn der Aktion wird um 17.00 Uhr die erste Meldung veröffentlicht. 5. Die 1. Sekretäre der Bezirksleitungen der SED in Dresden und Karl - Marx Stadt werden durch ein chiffriertes Fernschreiben über die Durchfahrt der Züge in Richtung Bundesrepublik informiert. Verantwortlich : Genosse E. Honecker 6. Die Entscheidung über die zeitweilige Aussetzung des pass - und visafreien Verkehrs mit der CSSR wird ab sofort auch auf den Transitverkehr von Bürgern der DDR nach Bulgarien und Rumänien erweitert. Das betrifft sowohl den Grenzverkehr über die Straße, über die Schiene und – bezüglich Ungarn – auch durch Flugzeug. 7. Die Grenze gegenüber der CSSR und der VR Polen ist in ihrer Gesamtlänge unter Kontrolle zu nehmen. Verantwortlich : Genosse H. Keßler, Genosse E. Mielke, Genosse F. Dickel
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4. Oktober 1989 Dok. 46 Lagebericht von Botschafter Huber : Sehr kalte Nacht Fernschreiben des Botschafters in Prag, Hermann Huber, an das Auswärtige Amt PA AA 513, B 85 Nr. 2346 E, unpag. – Kopf : Aus Prag, Nr. 2311 vom 4. 10. 1989, 1324 OZ, an: Bonn AA, citissime nachts, Fernschreiben ( verschlüsselt ) an 513, eingegangen : 4.10.1989, 1421 OZ, Az. : RK 330, VS – Nur für den Dienstgebrauch. – Verteiler : Ga, Sonderverteiler Deutsche aus der DDR, Ex. 1–2 : 513, 3–4 : 214, 5 : D 2, 6 : Dg 21, 7 : 210, 8 : 231, 9 : BM, 10– 11: StS, 12 : 011, 13 : 013, 14 : D 1,15 : Dg 10, 16 : 101, 17 : 103, 18 : Dg 11, *19 : 110, 20 : 110–8, 21 : 111, 22 : 112, 23 : 114, 24 : 118, 25 : D 5, 26 : 502, 27 : Dg 51, 28 : 513, 29 : 514 (* = per Rohrpost F 15), BM - Delegation : für BM, D 2, BMB - Bonn, Büro StS, BMB - Berlin : z. H. Herrn Mr Plewa OVIA. Stempel : Auswärtiges Amt 214, 4.10.1989, AZ. : 330.66 TSE. – Verfasser : LR I Rünger.
Betr. : Zufluchtsuchende Deutsche aus der DDR Hier : Aktueller Situationsbericht der Einsatzleitung des Deutschen Roten Kreuzes, 04. Oktober 1989, 12.00 Uhr – Zur Unterrichtung – 1. Einsatzleitung des Deutschen Roten Kreuzes bittet um Unterrichtung der zuständigen Stellen der Bundesregierung über nachstehend aufgeführten Situationsbericht : 1. Temperaturen der letzten Nacht lagen kurz über dem Gefrierpunkt. Hohe Anzahl von Zufluchtsuchenden außerhalb der Botschaft haben, zum Teil unzureichend bekleidet, Nacht relativ gut – soweit bisher erkennbar – ohne signifikante Gesundheitsschäden überstanden. Frauen und Kinder, insbesondere Frauen mit Kleinkindern und Schwangere wurden auf Anraten der DRK - Einsatzleitung gegen 16.30 Uhr gestern im Einvernehmen mit Botschafter aufgefordert, die Nacht innerhalb der Botschaft in gedeckten Räumen zu verbringen. 2. Alle Zufluchtsuchenden – sowohl außerhalb als auch innerhalb der Botschaft – haben bisherige Entwicklung hinsichtlich der verzögerten Ausreise mit großer Disziplin und äußerlicher Gelassenheit auf sich genommen. 3. Zahl der Zufluchtsuchenden – sowohl außerhalb der Botschaft als auch innerhalb der Botschaft – nicht bestimmbar. Zahl außerhalb der Botschaft hatte im Verlauf der gestrigen Nacht leicht abgenommen, wächst jedoch gegenwärtig wieder. Eine Größenordnung von mindestens 2 000 Menschen außerhalb, im engeren Bereich der Umgebung der Botschaft, scheint nicht unrealistisch zu sein. Zahl der Zufluchtsuchenden innerhalb der Botschaft nicht feststellbar, angenommene Größenordnungen gehen [ von ] bis zu 5 000 Menschen aus.
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Eingehende Lagebesprechung der DRK - Einsatzleitung, Frau Schröder, unter Beteiligung des Medizinischen Dienstes, Herrn Dr. Pallaske, ergibt folgende Lagebewertung : 4.1 Sollte sich Abreise weiter verzögern, kann vonseiten des DRK die Verantwortung für Betreuung, Versorgung, insbesondere jedoch für den Bereich der Gesundheitsversorgung, der Hygiene und der sanitären Versorgung nicht mehr übernommen werden und muss in wenigen Stunden als unzumutbar und nicht weiter durchführbar angesehen bzw. abgelehnt werden. Trotz dringender Anforderung des DRK für temporäre Ausweichmöglichkeiten hinsichtlich Unterbringung in festen Unterkünften außerhalb der Botschaft bis zur Abreise an das tsl. Rote Kreuz bisher keine positive Reaktion. Die praktizierte und angebotene Hilfe des tsl. Roten Kreuzes ( die Gestellung von 17 Helfern bei der Ausgabe von Verpflegung und die Avisierung von zwei Sanitärcontainern) vermag ebenso wie bisheriger DRK - Einsatz und zusätzlich angeforderte personelle und materielle Unterstützung an der Gesamtsituation nichts ändern. 4.2 Bei Temperaturen für kommende Nacht um den Gefrierpunkt könnten erstmals gesundheitsgefährdende, gar lebensbedrohliche Ereignisse nicht ausgeschlossen werden. Besonders gefährdet sind neu hinzukommende Kleinkinder, Frauen, Schwangere und bereits erkrankte Personen. Einsetzende Niederschläge würden in wenigen Stunden für einen Großteil des gesamten Personalkreises unmittelbare Gefährdungen – einschließlich des eingesetzten DRK - Personals – auslösen. 4.3 Verbesserungen im Sanitären und Hygienebereich sind bei gegebenen räumlichen Verhältnissen nicht realisierbar. Fäkalien befinden sich bereits im Bereich der Unterkünfte. Ein Ausbruch von Epidemien erscheint nach ernsthafter ärztlicher Einschätzung jederzeit möglich. 5. Bitten dringendst, mit allen politisch zur Verfügung stehenden Mitteln innerhalb der nächsten Stunden eine Lösung herbeizuführen. 6. DRK - Einsatzleitung bittet um Weiterleitung des Berichtes über das Auswärtige Amt an das Bundeskanzleramt und gleichzeitige Unterrichtung des Präsidenten des Roten Kreuzes, Prinz zu Sayn - Wittgenstein. Die eingesetzten Rot - Kreuz - Kräfte werden weiterhin alles in ihren Kräften stehende tun, um die Lage der Ausreisewilligen erträglich zu gestalten und bis zum Ende weiterhin Schäden an Leib und Leben abzuwenden. Bernd Hoffmann Generalsekretär der DRK - Einsatzleitung z. Z. Deutsche Botschaft Prag« 2. Ich schließe mich der Einschätzung der Situation der Einsatzleitung des DRK voll inhaltlich an. Huber
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4. Oktober 1989 Dok. 47 Argumentationshilfe der Volkspolizei : »Zügellose Hetz - und Verleumdungskampagne« Argumentation der Bezirksdirektion der Volkspolizei Suhl zur Notwendigkeit der Aussetzung des pass - und visafreien Reiseverkehrs zwischen der DDR und der ČSSR Thüringisches Staatsarchiv Meiningen, BdVP 630, unpag. – Kopf : BDVP Suhl, Politische Abteilung. – Titel : Argumentation zur Notwendigkeit der Aussetzung des pass - und visafreien Reiseverkehrs zwischen der DDR und der CSSR – in Kraft seit 3.10.1989, 15.00 Uhr. – Vermerk : He / ap. – Datiert : 4.10.1989.
Im Ergebnis einer zügellosen Hetz - und Verleumdungskampagne ist es dem Gegner in Vorbereitung des 40. Jahrestages gelungen, das feindlich eingestellte, politisch labile, irregeleitete, verführte und abgeworbene Bürger der DDR unserem Staat den Rücken zu kehren. Besonders Hartnäckige besetzten die Botschaften der BRD in Prag und Warschau, um ihre Ausreise zu erzwingen. Dabei wurden und werden Sie durch diese – Botschaften einer »Heim - ins Reich - Politik« – mit offenen Armen empfangen, aber unter menschenunwürdigen Bedingungen auf engsten Raum ohne ausreichende hygienische, sanitäre und versorgungsmäßige Voraussetzungen zusammengepfercht, so daß eine reale Gefahr für die Gesundheit und das Leben sowie für den Ausbruch von Seuchen und ihrer Ausdehnung über das Gelände der Botschaften hinaus gegeben ist. Diese Menschen, die vorsätzlich gegen die Gesetze unserer Republik sowie gegen grundlegende völkerrechtliche Normen verstoßen haben, brachten bedenkenlos sich und andere Bürger unserer befreundeten Nachbarländer in Gefahr. Selbst die Gesundheit der eigenen Kinder spielte keine Rolle. Wie moralisch verkommen muss ein Mensch sein, wenn er mit der Perspektivlosigkeit, Gesundheit und dem Leben der eigenen Kinder spielt. Nach intensivsten Bemühungen, diese Menschen zur Rückkehr zu bewegen, ohne dies aber zu erreichen, entsprach es dem Charakter unserer humanistischen Gesellschaftsordnung, wenn unsere Partei - und Staatsführung entschieden hat, sie in die BRD abzuschieben. Durch diesen, einzig und allein durch die DDR entschiedenen und durchgeführten humanitären Akt, wurden die menschenunwürdigen Verhältnisse aufgehoben und die Gefahr für Leben und Gesundheit in den Botschaften abgewandt. Die von der BRD in dem Zusammenhang getätigten Zusagen – nach dem humanitären Akt zu einem normalen, den internationalen Gepflogenheiten entsprechenden Betrieb in ihren Botschaften in Prag und Warschau überzugehen und fortzusetzen – wurden nicht eingehalten.
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Dies ist ein grober Vertrauensbruch durch die BRD - Seite bei der Suche nach vernünftigen Lösungen, auch in schwierigen Fragen. Das Prinzip des gegenseitigen Vertrauens und der gegenseitigen Verlässlichkeit wurde einseitig und verantwortungslos durch die BRD verletzt. Über die westlichen Medien wurde verkündet, daß den ausreisewilligen DDR- Bürgern auch künftig die Türen der Botschaft offen stehen. Dadurch wurden weitere Bürger der DDR ermuntert, über die rechtswidrige Besetzung der Botschaften die Ausreise zu erzwingen. Dies führte wiederum zu einer unerträglichen Situation und gefährdete darüber hinaus das gesamte politische Klima. Aus diesem Grund hat die Regierung der DDR nach Konsultation mit der Regierung der CSSR sich für die zeitweise Aussetzung des visafreien Reiseverkehrs für Bürger der DDR nach der CSSR entschieden. Dies entsprach ausdrücklich der Bitte der CSSR. Im Interesse der freundschaftlichen Beziehungen zwischen unseren beiden Ländern und auch im Interesse unserer Bürger sowie der staatlichen Sicherheit machte sich diese Maßnahme erforderlich. Die durch die Regierung beider Länder zurückliegend großzügig eingeführten Reisemöglichkeiten zwischen befreundeten sozialistischen Nachbarn wurden bar jeglicher staatsbürgerlichen Verantwortung missbraucht und dabei nationale Gesetze und völkerrechtliche Regelungen gröblichst missachtet. Notwendige zwischenstaatliche Beziehungen, die getragen sein müssen von Besonnenheit, Realitätssinn, Vernunft und Dialog sowie durch die zunehmende Normalisierung und Ausprägung dieser Beziehungen werden durch das verantwortungslose Handeln von Bürgern der DDR in Frage gestellt. Somit wurde diese Entscheidung notwendig und ist unumgänglich. Die Verursacher sitzen derzeit in den Botschaften der BRD in Prag und Warschau, die Drahtzieher und Organisatoren in Bonn. Ungewollte Konsequenzen für die Bürger der DDR, die der Kampagne des Gegners nicht auf den Leim gegangen sind, waren durch die Verursacher dieser Situation von vornherein einkalkuliert und beabsichtigt, um Unzufriedenheit und Misstrauen gegenüber unserer Partei - und Staatsführung zu erzeugen. Die Schuld ist bei denen zu suchen, die sich in unverantwortlicher Weise über elementare Anstandsregeln, grundlegende staatsbürgerliche Pflichten sowie Regeln der Gastfreundschaft in unseren Nachbarländern hinweggesetzt haben. Im Zusammenhang mit der Aussetzung des pass - und visafreien Reiseverkehrs zwischen der DDR und der CSSR für Bürger der DDR ist in der politisch ideologischen Arbeit folgendes durchzusetzen bzw. zu beachten : – Die Veröffentlichung der Massenmedien der DDR sind ständig aktuell zu verfolgen.
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– Die Angehörigen und Zivilbeschäftigten sind zu befähigen, in Diskussionen mit der Bevölkerung die Politik der SED und die Rechtsmäßigkeit der getroffenen Entscheidung standhaft und offensiv zu vertreten. – Die Kräfte haben sich darauf einzustellen, daß sie mit höchster Wachsamkeit die angewiesenen Maßnahmen zur Gewährleistung einer hohen Grenzsicherheit durchzusetzen sowie auf Provokationen besonnen und entsprechend den Festlegungen reagieren.
4. Oktober 1989 Dok. 48 Lagebericht der Staatssicherheit Dresden : Konflikte eskalieren Telegramm des Leiters der Bezirksverwaltung für Staatssicherheit Dresden, Horst Böhm, an den Minister für Staatssicherheit der DDR, Erich Mielke BStU, ASt. Dresden, BV Dresden, Abt. XX 9185, Bl. 10–12. – Absender : BV Dresden, Leiter. – Empfänger : MfS Berlin Minister, Genosse Armeegeneral Mielke, Stellvertreter des Ministers, Genossen Generaloberst Mittag, Stellvertreter des Ministers, Genossen Generalleutnant Neiber, Leiter der Hauptabteilung VI, Genossen Generalmajor Fiedler, Leiter der Hauptabteilung XIX, Genossen Generalmajor Braun, [ Handschriftliche Ergänzung: Leiter ZAIG ]. – Vermerk : Dringlichkeit : Ausnahme, Fu / FS - Nr. 227. – Datiert : 4.10.1989.
Bis zur Bekanntgabe der vorläufigen Einstellung des visafreien Reiseverkehrs nach der CSSR wurden im Verlaufe des 3. 10. 1989 in der PKE Bad Schandau nach vorgegebenen Filtrierungskriterien ca. 1 400 Personen, darunter ca. 400 Kinder, ausgesetzt. Die meisten Personen bestiegen bereit gestellte Pendelzüge in Richtung Dresden, wenn auch widerwillig, und wurden vor, in und nach dem Dresdner Hbf. herausgelassen und zur Rückreise in ihre Heimatorte aufgefordert. Sich im IEx 77 in 3 Waggons befindliche ca. 150 Personen verweigerten auf dem Bahnhof Bad Schandau jegliche Kontrollhandlungen und verriegelten die Zugtüren von innen. Daraufhin wurde entschieden, diese 3 Waggons vom Zug abzukoppeln und nach Pirna zu fahren. Auf dem Bahnhof Pirna stiegen nur ca. 40 Personen mit Kindern aus. Ca. ab 23.00 Uhr fanden sich auf dem Hbf. Dresden ca. 800 Personen ein, darunter solche, die im Laufe des Tages von Bad Schandau zurückgeführt wurden, aber auch Personen, die mit anderen Zügen aus der Republik anreisten und wegen der Einstellung des visafreien Reiseverkehrs nicht weiterreisen konnten. Trotz Aufforderung der Deutschen Reichsbahn, die Bahnsteige und die Bahnhofshalle zu verlassen und sich in ihre Heimatorte zu begeben und ihre Anliegen bei den staatlichen Organen vorzutragen, verblieben diese Personen im Bahnhof. 00.30 Uhr hatten sich ca. 1 500–2 000 Personen, vor allem auf den Bahnsteigen 4 und 5, angesammelt und diese blockiert. Dabei kam es zu Sprechchören »Wir wollen raus«, teilweise wurde auch die Internationale gesun-
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gen. Durch zugeführte Kräfte, 5 Züge Bereitschaftspolizei, 2 Züge OHS »Artur Becker« und insgesamt 60 Angehörige der Transportpolizei, wurden die Bahnsteige und der Bahnhof geräumt. Die eingesetzten Angehörigen der VP wurden von einzelnen Personen mit Flaschen und Steinen beworfen. 3 bereitgestellte Sonderzüge zur Rückfahrt in die Heimatorte wurden nur von jeweils ca. 40 Personen in Anspruch genommen. Nach der Räumung des Hbf. zerstreuten sich die Personenansammlungen meist in kleinen Gruppen. Ca. 400 Personen begaben sich vom Hbf. auf dem Schienenstrang in Richtung Strehlen. Durch sofort zum Einsatz gebrachte Kräfte der VP mit Sonderausrüstung wurden diese Personen von beiden Seiten eingekeilt und vom Gelände der Deutschen Reichsbahn verwiesen. Sie kamen dem nach mehrmaligem Auffordern nach und zerstreuten sich. Ca. 200 Personen sammelten sich jedoch im Zentrum und begaben sich gegen 04.00 Uhr erneut zum Hbf. Dort hatten sich dann insgesamt ca. 400 Personen eingefunden, die durch einen weit organisierten VP - Einsatz aus dem Bahnhof abgedrängt wurden und in kleinen Grüppchen den Bahnhof verließen. Insgesamt erfolgten 33 Zuführungen. Mit Beginn des Arbeiterberufsverkehrs gegen 06.00 Uhr war die Ruhe und Ordnung im und am Bahnhof wieder hergestellt. Operative und volkspolizei[liche ] Nachsicherungsmaßnahmen sind eingeleitet. Im Laufe der Nacht wurden an der Staatsgrenze zur CSSR 111 Personen festgenommen. Gegen 01.00 Uhr erschien der operativ hinlänglich bekannte Sup. Ziemer mit weiteren 6 kirchlichen Mitarbeitern auf dem Bahnhof, um mit den dort sich aufhaltenden Personen zu diskutieren. Auf meine Veranlassung hin wurde das Auftreten Ziemers unterbunden, da nicht auszuschließen war, daß er die Personen auffordert, sich in die Kreuzkirche zu begeben. 21.30 Uhr erschien im Rat des Bezirkes der amtierende Präsident des Landeskirchenamtes Schlichter und teilte mit, daß sich im Laufe des Abends 26 Personen, darunter 11 Kinder, in die Dreikönigskirche geflüchtet und Angst vor weiterführenden Maßnahmen der VP haben. Es handelte sich um Personen, die im Laufe des Tages von der PKE Bad Schandau aus den Zügen geholt wurden. Schlichter wurde mitgeteilt, daß er diesen Personen mitteilen soll, daß sie sich in ihre Heimatorte begeben und bei den Organen Inneres ihr Anliegen vortragen. Schlichter wird heute Vormittag die Personalien beim Rat des Bezirkes mitteilen. Ca. 15 Personen haben nachts die Dreikönigskirche verlassen, die anderen Personen mit Kindern wurden durch die Kirche verpflegt und verlassen früh die Kirche. In den Nachtstunden kam es an drei Stellen in der Stadt Dresden zu angebrachten Hetzschmierereien mit Farbe, ca. 5 m lang »Wir wollen raus, Freiheit«. Böhm Generalmajor
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5. Oktober 1989 Dok. 49 Botschafter Huber : Bericht über die Ausreiseaktion Fernschreiben des Botschafters in Prag, Hermann Huber, an das Auswärtige Amt PA AA 513, B 85 Nr. 2347 E, unpag. – Kopf : Aus : Prag, Nr. 2314 vom 5. 10. 1989, 1310 OZ, an : Bonn AA, citissime, Fernschreiben ( verschlüsselt ) an 513, eingegangen : 5.10.1989, 15.42 OZ, VS – Nur für den Dienstgebrauch. – Az. : RK 330 VS - NfD – Verteiler : Fu, Sonderverteiler Deutsche aus der DDR, Ex. 1–2 : 513, 3–4 : 214, 5 : D 2, 6 : Dg 21, 7 : 210, 8 : 231, 9 : BM, 10–11 : StS, 12 : 011, 13 : 013, 14 : D 1,15 : Dg 10, 16 : 101, 17 : 103, 18 : Dg 11, *19: 110, 20 : 110–8, 21 : 111, 22 : 112, 23 : 114, 24 : 118, 25 : D 5, 26 : 502, 27 : Dg 51, 28 : 513, 29 : 514 (* = per Rohrpost F 15), BM - Delegation : für BM, D 2, BMB - Bonn, Büro StS, BMB Berlin : z. H. Herrn Mr Plewa OVIA. – Verfasser : LR I Rünger.
Betr. : hier :
Zufluchtsuchende Deutsche aus der DDR Ausreiseaktion am 04./05.[10.]1989
– Zur Unterrichtung – 1. Die zweite große Ausreiseaktion innerhalb von fünf Tagen aus der Botschaft Prag ist planmäßig und ohne das es hier zu Störungen gekommen wäre, abgeschlossen. 7 600 Deutsche aus der DDR bestiegen die Züge in die Bundesrepublik Deutschland. Die hiesigen Schätzungen – basierend auf dem optischen Eindruck der sich insbesondere vor der Botschaft und in den zur Botschaft führenden Straßen ballenden Menschenmengen, hatten bei mindestens 10 000 Personen gelegen. Insgesamt fuhren 8 Züge. Der Erste verließ Prag um 18.25 Uhr, der Letzte in der Nacht des 05.10. um 01.30 Uhr. 2. Die Räumung der Straßen um die Botschaft, des Zeltlagers sowie des Botschaftsgebäudes und der Anbauten selbst verlief planmäßig und störungsfrei. Es kam zu keinerlei Panik, gefährlichem Gedränge oder Verletzungen. Bei der Organisation und bei der Durchführung des Abtransportes mit den Bussen zum Bahnhof Prag - Liben wurde von Botschaft und eingesetzten Kräften des DRK pragmatisch mit den hiesigen Sicherheitskräften und der hiesigen DDRBotschaft zusammengearbeitet. Insgesamt wurden 118 Bustransporte zwischen Botschaft und Bahnhof durchgeführt. Die eingesetzten Züge wurden von 16 für diesen Zweck entsandten Mitarbeitern des AA sowie zwei zusätzlich eingesetzten Botschaftsmitarbeitern begleitet. 3. Während der Durchführung der Aktion hielt die Botschaft ständigen telefonischen Kontakt mit dem Lagezentrum des AA sowie – auf dessen Anfrage – gelegentlich mit dem BMI. 4. In der Endphase der Aktion wurde ständig weiteres Material und Personal des DRK zugeführt. Zum Schluss waren hier über 80 Helfer, Ärzte und Führungspersonal des DRK eingesetzt. Zusammenarbeit mit der Einsatzleitung des DRK war in jeder Phase vorzüglich.
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5. Derzeit, 12.00 Uhr, halten sich noch 202 zufluchtsuchende Deutsche aus der DDR in der Vertretung auf. 197 der o. g. beabsichtigen, auf der Basis des »Vogel - Angebots« in die DDR zurückzukehren. Die Botschaft wird diese Fälle in unmittelbarem Kontakt mit der hiesigen DDR - Botschaft, ggf. noch im Laufe des heutigen Nachmittags, abwickeln. 6. Die Wahrnehmung der sonstigen Aufgaben der Botschaft wurde durch die Vorgänge der letzten Tage naturgemäß eingeschränkt. Zentrale Funktionen, wie die Erteilung von Sichtvermerken ( derzeit rund 1 500 pro Tag ), liefen störungsfrei weiter. Huber
5. Oktober 1989 Dok. 50 Lagebericht der Staatsicherheit Karl - Marx - Stadt : »Zusammenrottungen« auf Bahnhöfen Telegramm des Leiters der Bezirksverwaltung für Staatssicherheit Karl - Marx Stadt, Siegfried Gehlert, an den Stellvertreter des Ministers für Staatssicherheit, Gerhard Neiber, u.a. BStU, ASt. Chemnitz, AKG 6 469 Bd 1, Bl. 345–350. – Form : Telegramm. – Absender : BV Karl - Marx - Stadt, Leiter. – Adressat : Stellvertreter des Ministers, Gen. Generalleutnant Neiber, Leiter der ZAIG, Gen. Generalleutnant Irmler, Leiter ZKG, Gen. Generalmajor Niebling, Leiter ZOS, Gen. Oberst Sommer. – Datiert : 5.10.1989.
Lageeinschätzung über die Situation im Bezirk Karl - Marx - Stadt im Zusammenhang mit der Durchführung zentral festgelegter Maßnahmen zur Ausweisung von Bürgern der DDR, die sich rechtswidrig in der diplomatischen Vertretung der BRD in der CSSR aufhielten. Im Zusammenhang mit der Ausweisung von Bürgern der DDR, die sich rechtswidrig in der Prager Botschaft aufhielten und deren Transport mittels Sonderzügen der Deutschen Reichsbahn unter anderem durch das Territorium des Bezirkes Karl - Marx - Stadt erfolgt, kam es im Verlaufe des Abends des 4. 10. 1989 zu Zusammenrottungen von Personen auf Bahnhöfen und in deren Umgebung sowie an einzelnen Streckenabschnitten der Deutschen Reichsbahn, die als Langsamfahrstellen gekennzeichnet sind. So rotteten sich Personen zusammen auf Bahnhöfen : Hauptbahnhof Karl - Marx - Stadt 1 000 Personen Bahnhof Plauen, Oberer Bahnhof 500 Personen Bahnhof Reichenbach 500 Personen Bahnhof Freiberg 400 Personen Bahnhof Zwickau 150 Personen Bahnhof Werdau 150 Personen
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Bahnhof Glauchau 100 Personen Bahnhof Oelsnitz / V. 70 Personen Bahnhof Flöha 50 Personen Bahnhof Öderan 50 Personen Bahnhof Adorf 30 Personen Bahnhof Bad Elster 20 Personen Zu weiteren Zusammenrottungen kam es an den Streckenabschnitten Hetzdorfer Brücke, Kreis Flöha Gleisdreieck Werdau Gölzschtalbrücke, Kreis Reichenbach Langsamfahrstelle bei Ruppertsgrün, Kreis Plauen an denen sich bis zu 150 Personen beteiligten. Die Auflösung dieser Zusammenrottung durch Einsatzkräfte erfolgte bis gegen 1.30 Uhr des 5.10.1989, wobei es zu folgenden Zuführungen kam : Hauptbahnhof Karl - Marx - Stadt 29 Personen Bahnhof Flöha, einschließlich des Bereichs Hetzdorfer Brücke 19 Personen Bahnhof Freiberg 15 Personen Bahnhof Reichenbach 15 Personen Bahnhof Werdau 3 Personen Bahnhof Zwickau 3 Personen Bahnhof Plauen 1 Person. In Glauchau wurden zwei Personen durch die Bezirksverwaltung für Staatssicherheit Karl - Marx - Stadt wegen der Verbreitung neofaschistischen Gedankengutes festgenommen. Die genannten Bahnhöfe wurden nach der Räumung durch die Einsatzkräfte gesperrt. Im Ergebnis der durchgeführten Maßnahmen wurde innerhalb des Bezirkes Karl - Marx - Stadt bisher verhindert, daß Personen auf die durchfahrenden bzw. verkehrsbedingt haltenden Sonderzüge zur Mitfahrt aufspringen konnten. Nach der Auflösung der Zusammenrottung auf und um den Hauptbahnhof Karl - Marx - Stadt bildeten sich gegen 1.30 Uhr eine Gruppe von zirka 100 Personen auf der Dresdner Straße sowie zwei weitere Gruppen von zirka 50 Personen vor dem Hotel »Moskau« und vor dem Deutrans - Gebäude, die in der Folge durch Einsatzkräfte zerstreut wurden. Der Bereich des Bahnhofes Plauen, Oberer Bahnhof, wurde durch die Einsatzkräfte bis 3.00 Uhr geräumt und gesperrt. Während der planmäßigen Abfahrt des D - Zuges Rostock – München vom Bahnhof Plauen, Oberer Bahnhof, um 1.30 [ Uhr ] grölte die dort zusammengerottete Menschenmenge Parolen, wie »Genscher, Genscher, Gorbi, Gorbi – wir wollen raus !«.
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Nach der Abfahrt dieses D - Zuges blockierten zirka 70 Personen die Gleisanlagen. In der dort zusammengerotteten Menschenmenge befanden sich viele Mütter mit Kleinkindern und Bürger aus anderen Bezirken. Durch die Einsatzkräfte wurden in allen genannten Orten Personalienfeststellungen vorgenommen. Bereits im Vorfeld wurde durch operative Kontrolle und gedeckte Maßnahmen der Zugang bekannter feindlich - negativer und oppositioneller Kräfte zu den Bahnhöfen und Fahrtstrecken vorbeugend verhindert. Nach Informationen der Reichsbahndirektion Dresden sind drei über die Grenzübergangsstelle Bad Schandau in die DDR geleitete Sonderzüge 4.34 Uhr, 5.00 Uhr und 5.40 Uhr auf dem Bahnhof Reichenbach eingetroffen und werden um 5.30 Uhr, 6.00 Uhr und 6.30 Uhr über die Grenzübergangsstelle Gutenfürst das Territorium der DDR verlassen. Die über die Grenzübergangsstelle Bad Brambach einfahrenden fünf Züge werden über die Grenzübergangsstelle Gutenfürst die DDR um 6.25 Uhr, 7.30 Uhr, 8.05 Uhr, 9.10 Uhr und 9.50 Uhr planmäßig verlassen. Nach Auskunft der Zentrale befanden sich 8270 Personen in der Botschaft in Prag. Zur Unterstützung der im Handlungsraum im und vor dem Hauptbahnhof Karl - Marx - Stadt handelnden Kräfte der 9. VP - Bereitschaft waren Kämpfer des I. KGB1 mot. im Einsatz. Dabei gelangten die Kämpfer der 1., 2. und 4. Hundertschaft zum Einsatz. Während der Einweisung der Kämpfer der 3. Hundertschaft, deren Trägerbetrieb der VEB Großdrehmaschinenbau »8. Mai« Karl - Marx - Stadt ist, lehnten 23 Kämpfer die Durchführung des Einsatzbefehls ab und 9 Kämpfer legten nach der Einweisung ihren Kampfgruppenausweis spontan und demonstrativ auf den Tisch und verließen den Einweisungsstützpunkt, so daß diese Hundertschaft nicht zum Einsatz gebracht werden konnte. Drei Kämpfer der 2. Hundertschaft, Trägerbetrieb VEB Werkzeugmaschinenkombinat »Fritz Hecker« Karl - Marx - Stadt, haben im Ergebnis der Einweisung den Einsatz abgelehnt. Alle eingeleiteten Sicherungsmaßnahmen werden fortgesetzt. Im Bezirk Karl Marx - Stadt wurden die staatliche Sicherheit und die öffentliche Ordnung wieder hergestellt. Die Bedingungen für das normale Funktionieren des gesellschaftlichen Lebens im Verantwortungsbereich sind gewährleistet.
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Kampfgruppenbataillon.
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Die Durchführung aller geplanten Veranstaltungen anlässlich des 40. Jahrestages der DDR, einschließlich der am 5. 10. 1989 stattfindenden Kranzniederlegung in Karl - Marx - Stadt, ist gesichert. Während des Einsatzes zeigten die Kräfte der Deutschen Volkspolizei, der Kampfgruppen der Arbeiterklasse und des MfS außerordentlich hohe Einsatz und Kampfbereitschaft. Zwischenzeitlich haben sechs Züge ohne Vorkommnisse und ohne daß Personen auf die Züge aufgesprungen sind, die Grenzübergangsstelle Gutenfürst in Richtung Hof passiert.
6. Oktober 1989 Dok. 51 Stimmungsbericht der Staatssicherheit Dresden : »Grundtenor – nun stellt die DDR wieder ein Gefängnis dar« Schreiben der Bezirksverwaltung für Staatssicherheit Dresden an den 1. Sekretär der SED - Bezirksleitung Dresden, Hans Modrow BStU, ASt. Dresden, BV Dresden, Abt. XX 9185, Bl. 13–16. – Absender : Ministerium für Staatssicherheit, Bezirksverwaltung Dresden. – Adressat : Genossen Modrow. – Vermerk : Streng vertraulich ! Um Rückgabe wird gebeten ! – Datiert : 6.10.1989.
Information über den weiteren Verlauf der Reaktion der Bevölkerung des Bezirkes Dresden zur zeitweiligen Aussetzung des pass - und visafreien Reiseverkehrs zwischen der DDR und CSSR für Bürger der DDR. Die Information ist bitte innerhalb von vier Wochen an den Absender zurückzusenden. Die zeitweilige Aussetzung des pass - und visafreien Reiseverkehrs zwischen der DDR und CSSR für Bürger unseres Landes, ihre Ursachen und Folgeerscheinungen sind Hauptgesprächsstoff breiter Kreise der Bevölkerung im Bezirk geworden. In teilweise heftigen Diskussionen in Arbeitskollektiven von Betrieben, Einrichtungen und Institutionen sowie in Freizeitsphären der Bürger werden dazu die unterschiedlichen Standpunkte zum Ausdruck gebracht. Dabei zeigt sich weiterhin, daß progressive und staatsbewusste Bürger, vor allem aus den staatlichen Organen und Einrichtungen, Funktionäre und Kader aus Betrieben und Hochschulen sowie Veteranen der Arbeit die Maßnahmen als einen ersten Schritt zur Schaffung von Ruhe und Ordnung ansehen. Dahingehend äußerten sich beispielsweise Pädagogen mehrerer polytechnischer Oberschulen im Kreis Freital, Angehörige des Lehrkörpers der Musikhoch-
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schule Dresden und der TH Zittau sowie Leitungskader des Post - und Fernmeldeamtes Zittau. Demgegenüber werden von der überwiegenden Mehrheit der sich äußernden Bürger, vor allem Arbeitern, Genossenschaftsbauern, Handwerkern, Studenten u. a., Bedauern, Ablehnung und zum Teil auch Empörung angesichts des einschneidenden Charakters dieser Maßnahme zum Ausdruck gebracht und die Ursachen, die dazu führten, in erster Linie in innenpolitischen Entwicklungen in der DDR gesehen. Immer wieder wird in dieser Hinsicht die Frage nach der Erziehung der Jugend aufgeworfen. Gleichzeitig werden in der Mehrzahl der Reaktionen Erwartungen nach kompetenten Stellungnahmen der Regierung der DDR geäußert. In diesem Sinne vertreten zum Beispiel Werktätige des VEB Schuhfabrik »Trumpf« Seifhennersdorf die Auffassung, daß die eingeleiteten Maßnahmen zur Stabilisierung der Lage auf dem Gebiet des ungesetzlichen Verlassens der DDR eine Bestrafung all derjenigen Bürger seien, die für den Staat bisher eingestanden haben und ehrlich ihrer Arbeit nachgehen. Analoge ablehnende Haltungen äußerte auch die Mehrzahl der Beschäftigten des VEB Frottana Großschönau. Sie erwarten zugleich, daß von der Regierung der DDR, und nicht nur in kurzen Kommentaren, dazu Stellung bezogen werde. Insbesondere in den Orten in der Nähe der Grenzübergangsstellen zur CSSR wird über den Wegfall der Einkaufsmöglichkeiten in der CSSR diskutiert und hervorgehoben, daß sich die Lebensbedingungen in den Grenzgebieten enorm verschlechtern würden. Im VEB Zinnerz Altenberg wurden durch den 1. Sekretär der SED - Kreisleitung Dippoldiswalde und durch den Generaldirektor des VEB Erz - und Hüttenkombinat Freiberg und weitere Funktionäre mit den Arbeitern zu ihrer Forderung nach Aufhebung der zeitweiligen Aussetzung des visafreien Reiseverkehrs im Betrieb Gespräche geführt. Die Arbeiter der betroffenen Schicht ( ca. 70) beharren jedoch auf ihrer Forderung mit der ultimativen Alternative, daß sie bis zur Aufhebung der Maßnahme den Plan nur mit 80 % der Norm erfüllen werden. Die Aussprachen werden fortgesetzt. Werktätige aus Großbetrieben im Kreis Riesa, aber auch Genossenschaftsbauern mehrerer LPG meinen, daß die Entscheidung, die Botschaftsbesetzer in die BRD auszuweisen und zugleich den pass - und visafreien Reiseverkehr einzustellen, verständlich sei und eine »Konzeptionslosigkeit unserer Regierung« in dieser Frage verdeutliche. Ihrer Meinung nach sei es an der Zeit, mit alten Traditionen zu brechen, »eine neue Situation erfordere neues Handeln«. Zum Teil heftige Diskussionen und Verärgerungen löste die Problematik auch unter den Arbeitern im VEB Elektromaschinenbau Dresden aus. Grundtenor der
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Äußerungen der Werktätigen im Bereich Fertigung war : »Nun stellt die DDR wieder ein Gefängnis dar.« Die Möglichkeit, unkompliziert in andere Länder zu reisen, ist nach Auffassung der Arbeiter eine normale Sache eines modernen, zivilisierten Staates. Die Lösung des Problems liege nicht in solchen Maßnahmen, sondern in der Beseitigung der Ursachen und Beweggründe für ständige Ausreisen aus der DDR. Auch von ihnen wird erwartet, daß ein »kompetenter« Vertreter der Regierung Stellung bezieht und einen Lösungsvorschlag für die entstandene Situation vorbringt. Im VEB Hochvakuum Dresden kam es im Zusammenhang mit den Maßnahmen zu heftigen und zum Teil unsachlichen Diskussionen. Dabei wurde vor allem auch Sorge um bereits geplante Urlaubsreisen in die CSSR vorgebracht. Der in diesem Betrieb tätigen Volkskammerabgeordneten Jugel, Kerstin wurde in Gesprächen vorgeworfen, wieso sie als Volksvertreter einer derartigen Entscheidung zustimmen konnte. Auch von Beschäftigten des bezirksgeleiteten Kombinats »Brillant« wird vordergründig diskutiert, daß durch die Regierung der DDR offizielle Erklärungen zur Situation gegeben und Schlussfolgerungen sowie Maßnahmen genannt werden, wie es weitergehen solle. Die bisher über die Medien gegebenen Informationen seien zu spärlich und in keinem Falle ausreichend gewesen. Hinsichtlich der Haltung von Studenten der TU Dresden wurde bekannt, daß sich in Gesprächen der Großteil skeptisch gegenüber der innenpolitischen Entwicklung in der DDR äußert. Nach ihrem Dafürhalten gehöre Reisen zum Grundbedürfnis eines gebildeten Menschen und müsse vom Staat garantiert werden. Die Praxis zeige jedoch, daß dies nicht einmal im sozialistischen Lager möglich sei. Ihrer Meinung nach sei der Sozialismus auf einer Stufe angelangt, wo Reformen dringend geboten seien. Gleichzeitig wird von ihnen Unverständnis darüber geäußert, daß die DDR versuche, die »Schuld an der gegenwärtigen Situation nur der BRD zuzuschieben«. In dem Zusammenhang wird immer wieder darauf verwiesen, daß die Aktionen der BRD in der DDR auf »fruchtbaren Boden« fallen. Unter Studenten der Musikhochschule Dresden wird in erster Linie Befremden und Unverständnis darüber zum Ausdruck gebracht, daß trotz der alle Menschen bewegenden Ereignisse in sehr geringem Maße unsere Medien auf aktuelle Tagesereignisse eingehen würden. Sie halten eine umfassendere Berichterstattung für notwendig und erforderlich. Diese könne sich nicht nur wie beispielsweise auf das Treffen des Genossen Erich Honecker mit den Veteranen erstrecken.
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Seitens des Lehrkörpers und der wissenschaftlichen Mitarbeiter der TU Dresden treten ebenfalls in zunehmendem Umfang Erwartungen dahingehend auf, daß sich nun »endlich« die Partei - und Staatsführung vor der Öffentlichkeit, im Fernsehen und anderen Medien zu der entstandenen, komplizierten Situation positioniere. Man könne sich jetzt nicht mehr mit allgemeinen ADN - Erklärungen zufrieden geben. Die ständigen Festreden und die im Widerspruch dazu stehende Lage würde[n ] den Eindruck entstehen lassen, daß man versuche, vorhandene Probleme »unter den Teppich zu kehren«. Der derzeitige diplomatische Stil der Mitteilungen und der Informierung der Bevölkerung erhöhe ihrer Auffassung nach nur noch mehr die unter den Menschen vorhandene Missstimmung. Bezüglich der am 4. 10. und 5. 10. 89 mit der Ausweisung von DDR - Bürgern verbundenen Ereignisse in und um den Dresdener Hauptbahnhof liegen erste Reaktionen vor, nach denen Beschäftigte der Deutschen Reichsbahn, darunter selbst Antragsteller auf ständige Ausreise, und Bewohner der Dresdner Innenstadt die rowdyhaften Ausschreitungen zurückweisen und für energische Maßnahmen zur Aufrechterhaltung von Ordnung und Sicherheit eintreten. Beispielsweise äußerten sich Beschäftigte des Reichsbahnausbesserungswerkes Dresden dahingehend, daß »endlich durchgegriffen« wird. In Gesprächen und Diskussionen wurde die Forderung nach umfassender und exakter Darstellung der Ereignisse in den Medien, vor allem der »Sächsischen Zeitung«, erhoben. Dabei sollte für alle mit Bildmaterial aufgezeigt werden, »wie diese Rowdys gehaust« haben. Dann würden, so die Meinung der Arbeiter, »auch alle hinter unseren Maßnahmen stehen«. Zum Beispiel wurde dem Einschreiten der Angehörigen der Deutschen Volkspolizei in den Abendstunden des 5.10.89 auf der Prager Straße aus Fenstern der Wohnzeile Beifall gespendet.
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6. Oktober 1989 Dok. 52 Parteizeitung »Rudé Právo« : »entfesseltes Hussitengesindel« Karel Doudera, Podle starého vzoru ? [ Nach altem Vorbild ?]. In Rudé Právo vom 6.10.1989 BStU, ZA, ZAIG 22609. – Kopf : ADN-Information. Nur zur Information. Interne Dienstmeldung. – Datiert : 6.10.1989.
Übersetzung Ich gehöre nicht mehr zu den Jüngsten. Ich habe viele Frühjahre und Sommer erlebt, auch die des Jahres 1938. Als in den vergangenen Tagen ein Teil der westdeutschen Presse, vorwiegend Blätter des Springer - Konzerns, begannen, gegen die Tschechoslowakei Stimmung zu machen, hat mich das stark an die alten Vorbilder erinnert. Diese Presse beschuldigt die ČSSR - Regierung der »Inhumanität« und will sie sogar »vor der ganzen Welt an den Pranger stellen«, obwohl sie gerade jetzt, in bedeutendem Maße dazu beigetragen hat, die Situation um die DDR - Bürger in Prag auf humane Weise durch deren Ausreise in die BRD zu lösen und damit zusammenhängende Probleme operativ zu klären. Als Vorwand dienten ihr einige Stöße, Püffe und der vereinzelte Einsatz von Schlagstöcken gegenüber DDR - Bürgern, die durch die Belagerung der bundesdeutschen Mission in Prag die Emigration in die BRD erzwingen wollten. Die westdeutschen Blätter verschweigen aber, daß die Sicherheitskräfte die schwierige Aufgabe hatten, in den engen Kleinseitener Gassen die komplizierte Lage unter Kontrolle zu bringen. Diese Situation war durch den Ansturm tausender junger DDR - Bürger entstanden, von denen einige absichtlich Provokationen hervorriefen und die öffentliche Ordnung störten. Im Widerspruch zur Wahrheit schreiben sie jetzt, daß »tschechische Polizisten die Deutschen wie Vieh geprügelt« hätten. Ich kann mich erinnern, und ich denke, daß es auch allen anderen so geht, die die Jahre 1937/38 erlebt haben, daß die damalige deutsche Presse über die Tschechoslowakei in ähnlicher Weise berichtete. Jedes Eingreifen der tschechischen Polizei gegenüber Provokationen der Henlein - Leute1 wurde aufgebauscht und als »bestialischer antideutscher Terror« geschildert. Aus jeder Wirtshausprügelei, bei der einige Anhänger des Großdeutschen Reiches von tschechischen Patrioten ein paar Ohrfeigen bekamen, wurde ein weltbewegendes Ereignis gemacht und unser Volk als »entfesseltes Hussitengesindel« dargestellt.
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Konrad Henlein war ein sudetendeutscher Politiker, der für den Anschluss des Sudetenlandes an das Deutsche Reich eintrat und später der NSDAP beitrat. Nach der Errichtung des »Reichsgaus Sudentenland« wurde er Reichsstatthalter und Gauleiter.
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Freilich, in dieser Art schildert uns die westdeutsche Presse noch nicht. Es erweckt aber den Anschein, daß die, die erneut eine antitschechoslowakische Kampagne entfesseln wollen, von den alten Vorbildern manches abgeschaut haben.
7. Oktober 1989 Dok. 53 Lagebericht des Roten Kreuzes Schreiben der Leiterin der DRK - Einsatzleitung in Prag, Waltraud Schröder, an den Präsidenten des Deutschen Roten Kreuzes, Botho Prinz zu Sayn - Wittgenstein PA AA 214, 139.918 E, unpag. – Kopf : Fernkopie aus : Prag an : Bonn AA, citissime, Nr. 67, Ex 1 an 513, Arbeitsvermerk an : 513, je eine Kopie an : D 1, D 2, Dg 51, Dg 10, 110, 214, 010, 014, 013, im Austausch auch für ( Ab FMZ - Bonn per Behördenaustausch ), als Fernkopie auch für ( Weiterleitung durch FMZ - Bonn ), Az. : RK 330 VS - NfD. – Datiert : 8.10.1989.
Betr. :
Zufluchtsuchende / DRK - Bericht
1) An den Präsidenten des Deutschen Roten Kreuzes Bonn [ handschriftlich :] 2) Dd. – AA – Ref. 513, citissime 8.10.89 Bericht der DRK - Einsatzleitung Prag, 07.10.89 Nachdem die Flüchtlinge am 01. 10. 89 die Botschaft verlassen hatten, blieb ein katastrophaler hygienischer Zustand zurück. Überall Müll, Lebensmittelreste, verschmutztes Umfeld durch Urin und Kot und Decken und Schlafsäcke, die durch Körpergerüche und Absonderungen verschmutzt waren. Mit den Aufräumarbeiten wurde umgehend begonnen, die jedoch durch die bereits am frühen Nachmittag eintreffenden Flüchtlinge ins Stocken kamen. Die Flüchtlinge wurden dann in die Aufräumarbeiten miteinbezogen und richteten zusammen mit unseren Einsatzkräften die Schlafplätze her. Es konnten dann im Laufe des Abends nur noch gebrauchte Decken, Schlafsäcke und Parkas ausgegeben werden, weil die Flüchtlingszahl explosionsartig anschwoll und die Reinigung und das Nachführen sauberer Materialien in der Menge und der Kürze der Zeit nicht möglich war. Dadurch konnten die hygienischen Voraussetzungen von vornherein nicht mehr erfüllt werden. Das größte Problem waren die sanitären Einrichtungen. Die Wartezeit vor den Toiletten dauerte eine halbe bis später 1 ½ Stunden. Waschen – Körperhygiene war nicht möglich.
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Der 2. Sanitärcontainer konnte wegen Platzmangels bis heute nicht aufgestellt werden. Somit befand sich der Sanitärbereich trotz ständiger Desinfizierung und Reinigung in einem menschenunwürdigen Zustand. Die Notdurft wurde im Zeltgelände und rund um die Häuser verrichtet. Fliegenplage und penetrante Gerüche gehörten in den täglichen Ablauf. Löschkalk konnte wegen der vielen Kinder nur in geringer Menge verwendet werden. Nachdem am 4./5.10. der zweite Flüchtlingsstrom die Botschaft verlassen hatte, wurde sofort mit Aufräumungsarbeiten begonnen. 7.10. : Ab heute regnet es. Fäkalien, Urin, Kot werden, bedingt durch die Hanglage, durch die Zelte geschwemmt. Unter den Holzrosten in den Zelten liegen übrig gebliebene Essensreste, die bis heute nicht beseitigt werde konnten. Diese beginnen zu faulen und verwesen und ziehen Ungeziefer an. Die Einsatzkräfte können nur noch mit Mundschutz, Handschuhen und Schutzkleidung im Zeltbereich arbeiten ( eigene Sicherheit ). Der Geruch ist unerträglich. Das Müllproblem – Müllabfuhr ist mit vielen Schwierigkeiten verbunden und bereitet große Sorge. Der Sicherheitsabstand zwischen Küche und Müllplatz wird immer geringer. Hohe Unfallgefahr besteht durch schlammigen Boden im Zeltbereich. Die Infektionsgefahr ist groß. Die Wiederinstandsetzung der Zelte wird unter den oben geschilderten Umständen deutlich mehr Zeit in Anspruch nehmen als zunächst veranschlagt. Eine Belegung der Zelte unter den geschilderten hygienischen Umständen würde für die dort untergebrachten Menschen schwere Infektionsgefahren und das Risiko auf schwerste Gesundheitsschädigung mit sich bringen. Die DRK - Einsatzgruppe wird auch unter den geschilderten, durch den einsetzenden Regen schwieriger gewordenen Bedingungen [ ihre ] Aufräumarbeiten so schnell und effizient wie möglich fortsetzen. Sehr geehrter Herr Präsident, ich möchte Sie bitten, diesen Bericht auch dem Auswärtigen Amt zukommen zu lassen. Nur durch die gute und hervorragende Unterstützung aller Mitarbeiter der Botschaft konnten wir diesen nicht leichten Auftrag bisher erfüllen. gez. Schröder DRK - Einsatzleitung Prag
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12. Oktober 1989 Dok. 54 Genscher lobt Botschafter Huber Schreiben von Außenminister Hans - Dietrich Genscher an den Botschafter in Prag, Hermann Huber PA AA 010, 257.751 E, unpag. – Absender : Der Bundesminister des Auswärtigen. – Adressat: Herrn Botschafter Hermann Huber, Botschaft Prag. – Datiert : 12.10.1989.
Lieber Herr Huber, nach den dramatischen Ereignissen der letzten Tage und Nächte möchte ich Ihnen und Ihren Mitarbeitern herzlich für Ihren bewundernswerten Einsatz bei der Betreuung der zufluchtsuchenden Deutschen aus der DDR wie auch bei Ihren Kontakten mit der tschechoslowakischen Regierung danken. In meinen Dank schließe ich besonders herzlich Ihre Frau und die Ehefrauen Ihrer Mitarbeiter ein. Ich weiß, daß Sie alle häufig bis an die Grenze der physischen und psychischen Leistungsfähigkeit, manchmal sogar darüber hinaus, gefordert wurden. Sie alle haben in diesen Tagen beispielhaften Einsatzwillen, Tatkraft, Umsicht und vor allem menschliche Wärme und Mitgefühl für die von Ihnen Betreuten gezeigt. Ich kann nur wiederholen, was ich am vergangenen Montag in der Direktorenrunde sagte : Ich bin stolz auf diesen Auswärtigen Dienst. Ich bitte Sie, meinen Dank und meine Anerkennung allen Mitarbeitern der Botschaft und Ihren Ehefrauen zu übermitteln. Mit freundlichen Grüßen Ihr Hans - Dietrich Genscher [ m.p.]
24. Oktober 1989 Dok. 55 Beschluss des Politbüros der SED zum visafreien Verkehr Aufhebung der zeitweiligen Aussetzung des pass - und visafreien Reiseverkehrs in die CSSR BArch B, DY30 JIV2/2A, 2354 unpag. – Kopf : Protokoll Nr. 45 der Sitzung des Politbüros des ZK der SED vom 24.10.1989; Beginn : 14.00 Uhr, Ende : 19.10 Uhr. – Protokollführung : Genosse E. Schwertner. – Vermerk : Vertrauliche Verschlußssache.
Protokoll Nr. 45 der Sitzung des Politbüros des ZK der SED vom 24.10.1989 [Auszug ] Anwesende Mitglieder : Axen, Böhme, Dohlus, Eberlein, Hager, Jarowinsky, Keßler, Kleiber, Krenz, Krolikowski, Lorenz, Mielke, Mückenberger, Neumann, Schabowski, Sindermann, Stoph, Tisch
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Anwesende Kandidaten : Lange, G. Müller, M. Müller, Schürer, Walde Gäste : H. Naumann, Pöschel, Geggel, Herger [...] Im Umlauf bestätigt am 27.10.1989 : [...] 19. Aufhebung der zeitweiligen Aussetzung des paβ - und visafreien Reiseverkehrs in die CSSR Die Vorlage wird bestätigt. ( Anlage Nr. 14) Anlage Nr. 14 zum Protokoll Nr. 45 vom 24.10.1989 : Betreff : Aufhebung der zeitweiligen Aussetzung des paβ - und visafreien Reiseverkehrs in die CSSR Beschluβ: 1. Dem Ministerrat wird empfohlen, die zeit weilige Aussetzung des paβ - und visafreien Reiseverkehrs für Bürger der DDR in die CSSR mit Wirkung vom 1. November 1989 aufzuheben. 2. Der Minister für Auswärtige Angelegenheiten hat die Regierung der CSSR entsprechend zu informieren. 3. Die Pressemitteilung ( Anlage ) wird bestätigt. Sie ist am 28. Oktober 1989 zu veröffentlichen. Verantwortlich : Leiter Abteilung Agitation Anlage CSSR - Reisen wieder paβ - und visafrei Mitteilung des Ministerium des Innern der DDR Berlin ( ADN ). Wie die Presseabteilung des Ministeriums des Innern mitteilt, hat der Ministerrat der Deutschen Demokratischen Republik beschlossen, daβ die zeitweilige Aussetzung des paβ - und visafreien Reiseverkehrs für Bürger der DDR nach der CSSR ab 1 . November 1989 aufgehoben wird. Der Grenzübertritt in das Nachbarland CSSR kann wie vor dem 3. Oktober 1989 mit einem gültigen Personalausweis für Bürger der DDR erfolgen. Der Ministerrat der Deutschen Demokratischen Republik geht davon aus, daβ die Bürger der DDR, die sich möglicherweise weiterhin mit dem Gedanken tragen, unser Land zu verlassen, obwohl jeder gebraucht wird, einen Antrag auf ständige Ausreise in der DDR bei den Abteilungen Innere Angelegenheiten stellen können. Diese Anträge werden kurzfristig und groβzügig entscheiden. Der Weg, über Botschaften der BRD im Ausland die Ausreise zu erzwingen, ist nicht notwendig und bringt für den Bürger mehr Nachteile als Vorteile.
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26. Oktober 1989 Dok. 56 Telefonat des Bundeskanzlers Helmut Kohl mit dem Staatsratsvorsitzenden Egon Krenz BArch B, DY 30, IV2/2 039, 328, Bl. 28–32. – Titel : Gespräch zwischen dem Generalsekretär des ZK der SED, Genossen Egon Krenz, und dem Bundeskanzler der BRD, Herrn Helmut Kohl; am 26. Oktober 1989, von 8.30 Uhr bis 8.44 Uhr.
Gen. K. : Herr K. : Gen. K. : Herr K. :
Gen. K. :
Herr K. :
Gen. K. : Herr K. : Gen. K. : Herr K. :
Gen. K.
Ja, guten Morgen, Herr Bundeskanzler. Ja, guten Morgen. Hier ist Krenz. Ich freue mich, Sie zu hören zu so früher Stunde. Das ist unser erstes Gespräch, und ich hoffe, daß diesem Gespräch viele gute Gespräche folgen werden. Das erste, was ich sagen will, Herr Staatsratsvorsitzender, ich wünsche Ihnen für diese wichtige und sehr, sehr schwierige Aufgabe – in etwa kann ich mir vorstellen, was Ihnen alles bevorsteht, was Sie zu tun haben – eine glückliche Hand und Erfolg. In unserem Interesse, im Interesse der Bundesregierung und auch vor allem in meinem Interesse ist nicht, daß sich die Entwicklung in der DDR in einer Weise darstellt, daß eine ruhige, vernünftige Entwicklung unmöglich gemacht wird. Herr Bundeskanzler, ich bin Ihnen sehr dankbar für Ihre Worte. Sie haben mir ja in Ihrem Telegramm Kraft gewünscht und jetzt eine gute Hand. Beides brauch ich im Interesse der Menschen in diesem Land. Und ich denke, wenn wir vernünftig miteinander umgehen, dann wird das auch für beide deutsche Staaten gut sein. Also, mein erster Wunsch ist, um das gleich vorweg zu sagen, daß wir schon regelmäßig miteinander telefonieren, und auf meiner Seite, das hat sich jetzt beim ersten Mal halt anders entwickelt, besteht überhaupt nicht der Wunsch, daß wir das jedes Mal publizieren. Aha. Wenn wir glauben, es sei vernünftig, zum Telefonhörer [zu] greifen und einfach miteinander reden. Das ist eine gute Idee. Da bin ich sehr aufgeschlossen. Miteinander reden ist immer besser, als übereinander reden. Es ist inzwischen so möglich, daß ich, um einmal ein Beispiel zu nennen, ganz selbstverständlich gleicherweise zum Telefonhörer greife und den Generalsekretär in Moskau anrufe oder umgekehrt. Und das wünsche ich mir auch, daß das zwischen uns in dieser Weise geschieht. Also abgemacht, Herr Bundeskanzler. Wenn Sie Probleme haben, würde ich sagen, greifen Sie zum Hörer, wenn ich Probleme habe,
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Herr K. :
Gen. K. :
Herr K. : Gen. K. : Herr K. :
Gen. K. : Herr K. : Gen. K. :
Herr K. : Gen. K. : Herr K. : Gen. K. :
Herr K. :
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greife ich zum Hörer, und wir werden dann sicherlich Wege finden, um das, was wir im Gespräch andeuten, durch unsere Beauftragten näher noch beraten zu lassen. Also, das ist das Thema Kontakte. Zu dem Punkt, glaube ich, ist es auch ganz nützlich, wenn der Bundesminister Seiters etwa gegen Ende November, zweite Novemberhälfte, einen Termin vereinbart und zu Ihnen kommt. Ja, ich wäre einverstanden. Ich nehme an, Herr Bundeskanzler, Sie haben sich informieren können über den Inhalt meiner beiden Reden, die ich gehalten habe. Ich habe von einer Wende gesprochen und meine das ernst. Auf das Thema will ich gleich nochmal kommen. Ich wollt nur noch zu dem Thema »Kontakt« sagen. Ja. Also ich wollte sagen, und das sollt[ e ] man jetzt auch noch gar nicht sagen, sondern soll’s sagen, wenn’s dann so weit ist und der Termin vereinbart ist, daß Herr Seiters rüberkommt und daß man dann – daß Sie mal mit ihm noch einmal reden können, was ja ein bissel besser ist als am Telefon. Unbedingt. Durch meinen Beauftragten wurden ja Vorschläge übermittelt, ich nehme an, Sie sind informiert Ja. Es wäre also wünschenswert, baldmöglichst dazu die Positionen der Bundesregierung zu erfahren. Und dazu könnten dann auch offizielle Verhandlungen zwischen Bundesminister Seiters und Außenminister Fischer geführt werden, und sicherlich bei der Gelegenheit auch ein Gespräch mit mir. Für mich ist vor allem wichtig das Letztere. Ja. – er die Gelegenheit hat, Sie zu treffen. Ja. Es wäre vor allem wünschenswert, Herr Bundeskanzler, möglichst bald auch Ergebnisse zu erreichen, die darauf hinweisen, daß beide Seiten bestrebt sind, die Beziehungen auf eine – ich darf das wohl so sagen – auf eine neue Stufe zu heben. Ja, ich hab da durchaus Interesse dran. Ich hab mit großem Interesse natürlich Ihre Reden gelesen und ich brauche Ihnen nicht zu sagen, daß jetzt sich viele Hoffnungen an das alles knüpfen. Ich will paar Beispiele nennen, die für uns natürlich, aus unserer Sicht besonders wichtig sind. Das ist das Thema zur Neuregelung der Reisefreiheit. Das ist natürlich ein ganz erheblicher Punkt. Das ist das Thema der in Aussicht genommenen Amnestie für Leute, die wegen illegalen
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Grenzübertritts zur Republikflucht verurteilt wurden. Das ist das Thema wegen der weiteren Verfolgung von Leuten, die bei Ausschreitungen, bei Demonstrationen festgenommen wurden. Und dann ein ganz, ganz wichtiger Punkt aus unserer Sicht – das werden Sie wohl verstehen –, daß von Ihrer Seite die Bereitschaft besteht, eine positive Lösung für die sogenannten Botschaftsflüchtlinge – die Leute brauchen ja dann ihre Urkunden, die Frage von Umzugsgut und vergleichbare Sachen, Zeugnissen. Wenn man hier, und da sage ich Ihnen ganz offen, mit Ihrem Namen einen großzügigen Schritt verbinden kann – ich sag bewußt auch mit Ihrem Namen – einen großzügigen Schritt verbinden kann, wird es eine ganz erhebliche Wirkung nicht nur hier haben, sondern ich bin sicher, auch in der DDR. Gen. K. : Hm, hm. Also, was meine Rede betrifft, die Sie genannt haben, Herr Bundeskanzler, so möchte ich sagen, daß ich mit vollem Bewußtsein die Wende angesprochen habe. Wende bedeutet aber jedoch keinen Umbruch, da hoffe ich, stimmen Sie mit mir überein, daß eine sozialistische DDR auch im Interesse der Stabilität in Europa ist. Herr K. : Also, Herr Generalsekretär, ich kann nur wiederholen, was ich Gorbatschow bei jeder Gelegenheit sage : Wir haben das deutsche Problem, aber das deutsche Problem ist ein wichtiger Teil der europäischen und der Weltprobleme. Und ich will alles tun, und ich hoffe, wir alle wollen das tun, daß jetzt die Abrüstungsverhandlungen in Wien und anderswo ein wesentliches Stück weiterkommen. Wir werden eine vernünftige Entwicklung der Abrüstung und Entspannung nur bekommen, wenn wir regionale Spannungen nicht verstärken, sondern versuchen zu minimieren. Und in diesem Sinne will ich schon sagen, daß das, was Sie angekündigt haben, von ganz großer Bedeutung ist, und daß wir auch in diesem Sinne – glaube ich – eine vernünftige Lösung finden müssen, wenn Probleme auftreten. Gen. K. : Ich bin Ihnen für diese Worte sehr dankbar, zumal ich davon ausgehe, daß wir beide Interesse daran haben, daß man alles tun sollte, daß man die gegenseitige Schuldzuweisung sozusagen abbaut, und daß man auch nicht gegenseitig sich Ratschläge erteilt, die nicht annehmbar sind. Durch meinen Beauftragten habe ich ja in dieser Beziehung auf informellem Wege die Haltung der DDR dazu deutlich gemacht, und ich glaube, es ist im Interesse der Menschen und auch der Sicherung des Friedens, alle Möglichkeiten zu finden, das in den gegenseitigen Beziehungen Erreichte nicht nur zu bewahren, sondern zielstrebig auszubauen. Dazu möchte ich meine prinzipielle Bereitschaft, die Bereitschaft auch der Führung, sowohl des Politbüros wie
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des Staatsrates, bekräftigen, und dabei gehe ich davon aus, was ich auch gestern mit Herrn Mischnick besprochen habe, unbeschadet grundsätzlicher Unterschiede in politischen Grundfragen die Zusammenarbeit auf vielen Gebieten auszubauen und auch auf den Gebieten, Herr Bundeskanzler, die Sie angesprochen haben. Wir haben schon in voller Souveränität unseres Landes die Frage der Reisefreiheit besprochen. Wir werden ein entsprechendes Gesetz ausarbeiten. Ich verhehle nicht, daß es uns nicht ganz leicht fallen wird. Wir gehen aber mit Ernsthaftigkeit und mit Intensität an diese Arbeit und wollen noch, daß vor Weihnachten dieses Gesetz in Kraft tritt. Allerdings hat die neue Regelung für die DDR erhebliche zusätzliche ökonomische Belastungen. Seitens der DDR muß nachgedacht werden, aber vielleicht kann auch seitens der BRD nachgedacht werden, ob nicht zumindest einige praktische Fragen zukünftig so gehandhabt werden, daß die Respektierung der Staatsbürgerschaft der DDR deutlicher wird. Ich formuliere absichtlich »deutlicher wird«. Denn wenn wir ein großzügiges Reisegesetz haben, gibt es ein paar praktische Maßnahmen, über die man durchaus nachdenken kann, Herr Bundeskanzler. Herr K. : Herr Staatsratsvorsitzender ! Ich will jetzt in dem Zusammenhang einfach mal wiederholen, was ich damals Ihrem Vorgänger gesagt habe, und das war, glaube ich, eine ganz wichtige Arbeitsgrundlage. Es gibt in unseren Beziehungen eine Reihe von Grundfragen, wo wir aus prinzipiellen Gründen nicht einig sind, und nie einig werden. Wir haben da zwei Möglichkeiten. Das eine, daß wir uns über diese Themen unterhalten und zu keinem Ergebnis kommen, das ist relativ fruchtlos. Oder aber – und das schätze ich sehr viel mehr, und das glaube ich, ist auch der richtige Weg –, daß man eben die gegenseitigen Ansichten respektiert und in allen Feldern, wo man vernünftig Zusammenarbeiten kann, die Zusammenarbeit zum Wohle und im Interesse der Menschen sucht. Denn, diese Grundlage muß ja wichtig sein. Es sind [ sic !] ja jetzt kein Selbstzweck, sondern was für die Menschen zu tun. Und in diesem Sinne glaube ich, ist es jetzt sehr wichtig, daß wir unseren, nach diesem Gespräch jetzt beginnenden Gesprächskontakt intensiv pflegen und aufbauen. Es sind viele Erwartungen und übrigens natürlich nicht nur in Deutschland, sondern auch bei unseren Nachbarn in West und Ost, ob wir fähig sind, eine vernünftige Linie der Zusammenarbeit fortzusetzen. Es gibt ja gute Anfänge. Gen. K. : Ja, ich bin da vollkommen Ihrer Meinung. Ich habe ja auf dem Zentralkomitee meiner Partei formuliert : »Unsere Hand ist ausgestreckt.« Ich habe das gestern wiederholt. Wir sind bereit, das Unsere
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zu tun, neue Formen, sowohl der wirtschaftlichen Zusammenarbeit zu entwickeln und zu fördern und auch sehr konstruktiv heranzugehen, an alle Gebiete der Zusammenarbeit, zum Beispiel für den Umweltschutz, für das Verkehrswesen, für das Post - und Fernmeldewesen bis hin zum Tourismus und auch die Fragen, die sie im Zusammenhang mit den Bürgern angesprochen haben, die unser Land auf diese oder jene Weise verlassen haben, werde ich die Justizorgane unseres Landes bitten, auf der Grundlage vorhandener Gesetze und auf der Grundlage neu zu schaffender Regelungen und Gesetze, entsprechende Lösung zu finden. Sie haben völlig Recht, man muß diese Dinge so regeln, daß sie im Interesse der Menschen liegen. Ja. Also Herr Generalsekretär ! Machen wir das so, wie besprochen. Ja. Und wenn irgendwas anliegt, warten wir nicht lange ab und reden miteinander. Jawohl. Und ich bitte Sie einfach, daß der Herr Seiters mit meinem Beauftragten Kontakt aufnimmt, um eventuell einen Termin zu vereinbaren, damit dann die Dinge schnell in Gang gesetzt werden können. Ja. Denn der Zeitfaktor spielt ja in der Politik immer eine große Rolle, Herr Bundeskanzler. Noch eine Schlußbemerkung. Ich denke, wir sollten beide das Gespräch heute öffentlich bestätigen. Ja. Und wir sollten zum Zweiten sagen, jetzt nicht Details, da halte ich gar nichts davon, denn da werden nur Erwartungen erweckt und ein Druck erweckt, die [ sic !] uns beiden gar nicht hilft, daß wir die Gespräche fortsetzen, daß wir ankündigen, daß in absehbarer Zeit auch die Beauftragten intensiv die Gespräche fortsetzen. Da würde ich aber keinen Zeitplan öffentlich nennen, sondern nur die allgemeine Ankündigung und daß unser gemeinsames Interesse ist, im Sinne des Dienstes an den Menschen in der DDR und in der BRD, die notwendigen Möglichkeiten auszuschöpfen, um den Menschen zu helfen. Je mehr Details wir bekanntgeben, um so mehr Druck erzeugen wir, weil wir dann jeden Tag gefragt werden, was habt ihr getan. Ja. Ich bin Ihnen dankbar dafür, Herr Bundeskanzler. Wir werden eine solche Information auch unsere Presseorgane geben. Auf Details werden wir verzichten. Und ich werde sicherlich hinzufügen, daß der erste Kontakt, den wir miteinander hatten, doch ein recht aufrichtiger war und in einer sehr angenehmen Atmosphäre verlaufen ist.
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Herr K. : Gen. K. : Herr K. : Gen. K. :
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Ja, sehr einverstanden. Ja ? Ja. Ich danke Ihnen, Herr Bundeskanzler. Ich wünsche Ihnen auch alles, alles Gute und auch bei den Problemen, die Sie zu bewältigen haben, wie Sie zu Beginn sagten, eine gute Hand, viel Kraft. Ich hoffe. Sie sind in bester Gesundheit. Ja, Gott sei Dank, ja. Und wünsche Ihnen, daß alles, alles gut verläuft. Ich meine, Sie haben ja die Operation überstanden; wenn das alles gut gelaufen ist, gute Kraft weiterhin, Herr Bundeskanzler. Ja. Danke schön. Wiedersehen. Wiedersehen. Alles Gute ! Danke schön !
1. November 1989 Dok. 57 Grenze geöffnet – Neuer Andrang in der Botschaft Fernschreiben des Ständigen Vertreters des Botschafters in Prag, Armin Hiller, an das Auswärtige Amt PA AA, 214, 139918 E, unpag. – Kopf : aus : Prag, Nr. 2561 vom 1. 11.1989, 18.46 OZ, an : Bonn AA, citissime nachts, Fernschreiben ( verschlüsselt ) an 513, eingegangen : 1.11.1989, 19.15 OZ, VS – Nur für den Dienstgebrauch, Az. : RK 330 011350. – Verteiler : Gg, Ex. : 1–5 : 5, 6 : StS, AA. auch für Dg 21, 214, 013. – Verfasser : LR I Rünger.
Betr. : Zufluchtsuchende Deutsche aus der DDR hier : Lagebericht 01.11.1989 Bezug : Telefonat Hiller / Bereitschaftsdienst AA (18.00 Uhr ) – Zur Unterrichtung – 1. Derzeit, 01. 11. 1989, 18.00 Uhr, halten sich ca. 383 zufluchtsuchende Deutsche aus der DDR in der Botschaft auf. Seit gestern Abend haben damit bereits wieder ca. 360 Personen Zuflucht gesucht ( Einzelberichterstattung mit Personaldaten folgt ). Laufend treffen neue Zufluchtsuchende ein. 2. Am Abend des 31. 10. 89, Abfahrt Prag, 17.30 Uhr, ist ein Bus mit 19 Personen aus der DDR in die Bundesrepublik Deutschland nach Weiden abgefahren. Ausreise der Betreffenden aus der CSSR erfolgte reibungslos. Heute (01. 11. 89), ca. 17. 20 Uhr, ist ein weiterer Bus und drei Pkw mit 65 Personen von hier nach Weiden abgefahren. 3. In telefonischer Absprache mit Bereitschaftsdienst AA hat die Botschaft um Entsendung ( Eintreffen hier morgen, 02. 11. 89) von zwei Gruppen Küchen-
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personal für die hier vorhandene Feldküche sowie fünf Einsatzkräften, darunter 3 Schwestern, des DRK gebeten. 4. Hier sind derzeit je rd. 600 Stapelbetten, Matratzen, Schlafsäcke, warme Oberbekleidung etc. vorhanden. Weiteres Material aus Bundeswehrbeständen ist im Standort Weiden für evtl. Zwecke der Botschaft bereitgestellt. 5. Botschaft wird kurzfristig bei einer Autovermietung in der Bundesrepublik Deutschland einen 2,8 t Kastenwagen sowie einen Kleinbus für 24 Personen anmieten. 6. Die Wiedereinführung des visafreien Reiseverkehrs von der DDR in die CSSR hat nicht unerwartet zu einem schlagartigen Wiederanschwellen des Stromes von Zufluchtsuchenden in die Botschaft geführt. Bei dieser Sachlage und insbesondere nach den heutigen Erfahrungen rechnen wir damit, daß sich diese Entwicklung fortsetzt. In diesem Zusammenhang können wir es auch nicht ausschließen, daß wir uns, was die Zahl der Zufluchtsuchenden angeht, auf eine Situation zubewegen könnten, wie sie Anfang Oktober bestand. Falls die Zahl der Zufluchtsuchenden wie oben angedeutet, weiter ansteigt, wird die Botschaft morgen früh (02.11.1989) folgende Maßnahmen ergreifen bzw. Folgendes anfordern : – Zelte, die in Weiden bereits auf Abruf bereitstehen, – zusätzliches DRK - Hilfspersonal ( über heutige Anforderung hinaus ), – Verstärkung des Botschaftspersonals. 7. Die Erfahrung der letzten Tage hat gezeigt, daß das derzeit praktizierte Verfahren der ( unmittelbaren ) Ausreise von der CSSR in die Bundesrepublik Deutschland umständlich und bürokratisch ist. Die hiesige DDR - Botschaft kann nur eine begrenzte Zahl von Antragstellern täglich verwaltungsmäßig bearbeiten ( nach den bisherigen Erfahrungen ca. 50–70 täglich ). Sollte die Zahl der neuen Zufluchtsuchenden deutlich über dieser Zahl liegen, so wird in der Botschaft kurzfristig ein Stau entstehen. 8. Es sollte deshalb erneut versucht werden, die Regierung der CSSR dazu zu bewegen, Unterkünfte außerhalb der Botschaft zur Verfügung zu stellen. Bei dieser Lösung wird jedoch zu berücksichtigen sein, daß – unter den gegebenen Umständen in der CSSR – viele Zufluchtsuchende gleichwohl auf eine Unterbringung in der Botschaft insistieren werden. Zu Ziffer 8 wird um Weisung gebeten. 9. Eine andere Möglichkeit bestünde darin, das Verfahren der »Ausreise über die Botschaft Prag« weiter zu entbürokratisieren und zu beschleunigen. 10. Nachtbereitschaftsdienst durch einen Beamten des Höheren Dienstes ist sichergestellt. Hiller
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2. November 1989 Dok. 58 Ununterbrochener Zustrom von Zufluchtsuchenden Fernschreiben des Ständigen Vertreters des Botschafters in Prag, Armin Hiller, an das Auswärtige Amt PA AA 513, B 85 Nr. 2347 E, unpag. – Kopf : aus : Prag, Nr. 2571 vom 2.11.1989, 17.14 OZ, an : Bonn AA, citissime nachts, Fernschreiben ( verschlüsselt ) an 513, eingegangen : 2.11.1989, 17.57 OZ, VS – Nur für den Dienstgebrauch, RK 330 VS - NfD. – Verteiler : Ws, Sonderverteiler Deutsche aus der DDR, Ex. 1–2 : 513, 3–4 : 214, 5 : D 2, 6 : Dg 21, 7 : 210, 8 : 231, 9 : BM, 10–11 : StS, 12 : 011, 13 : 013, 14 : D 1,15 : Dg 10, 16 : 101, 17 : 103, 18 : Dg 11, *19 : 110, 20 : 110–8, 21 : 111, 22 : 112, 23 : 114, 24 : 118, 25 : D 5, 26 : 502, 27 : Dg 51, 28 : 513, 29 : 514 (* = per Rohrpost F 15), auch für BMB - Bonn, Büro StS, BMB - Berlin, z. H. Herrn Mr. Plewa oViA. – Verfasser : LR I Rünger.
Betr. :
Zufluchtsuchende Deutsche aus der DDR
– Zur Unterrichtung – 1. Derzeit, 03. 11. 1989, 16.30 Uhr, befinden sich ca. 1 400 zufluchtsuchende Deutsche aus der DDR in der Botschaft Prag. Der Strom weiterer Zufluchtsuchender hält ununterbrochen an. Nach den hier in der Vergangenheit gemachten Erfahrungen wird er sich, in der Folge der nun verstärkt einsetzenden Medienberichterstattung sowie des kommenden Wochenendes, vermutlich noch deutlich verstärken. 2. Der Gesundheitszustand und die psychische Verfassung der Gäste ist gut. Das relativ warme, sonnige Spätherbstwetter trug dazu bei, die Verhältnisse in der Botschaft annehmbar zu gestalten. 3. Die Botschaft ist im Augenblick bemüht, personell und materiell eine Infrastruktur zu reaktivieren, die es erlaubt, eine maximale Anzahl von Zufluchtsuchenden unter annehmbaren Bedingungen aufzunehmen und zu versorgen. Das hier vorhandene Raumangebot und die vorhandenen Sanitäreinrichtungen ( ein Toilettencontainer befindet sich im Einsatz ) setzen jedoch Grenzen. Sämtliche festen Unterkünfte in der Botschaft sind bereits mit Etagenbetten belegt. Wenn nunmehr auch noch Zelte zugeführt werden, liegt eine noch zu verantwortende Maximalbelegung bei ca. 2 000 Personen. Bei Ausnutzung des letzten vorhandenen Raumes, wie vor einem Monat bereits zweimal geschehen, kann die Botschaft für einen Zeitraum, der sich dann allerdings nur noch nach Stunden bemisst, 4 000 bis 5 000 Menschen aufnehmen. Bei einer längerfristigen, nach Tagen zählenden Unterbringung einer solchen Menschenmenge, muss dann mit schweren Gesundheitsrisiken gerechnet werden. Die Situation wird im Augenblick dadurch erschwert, daß mit einer stabilen Wetterlage im Monat November nicht mehr zu rechnen ist.
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Ferner befindet sich unter den Zufluchtsuchenden eine große Anzahl von Kindern. 4. Die Botschaft hat mit gesondertem Bericht um Entsendung von Unterstützungskräften durch das DRK sowie um personelle Verstärkung durch das AA gebeten. Elf Einsatzkräfte des DRK, darunter zwei Küchenbesatzungen, sind im Laufe des Tages hier eingetroffen und haben die Arbeit aufgenommen. 5. Die für die Botschaft beim Bundeswehrstandort Weiden eingelagerten Bestände wurden abgerufen. Im Laufe des heutigen Abends wird mit dem Eintreffen von zwei LKW mit 360 Stapelbetten und Matratzen, acht großen Zelten mit Heizung, 700 Decken, 300 Schlafsäcken, 100 Feldjacken gerechnet. Mit dem Eintreffen weiterer 240 Betten und Schlafsäcke wird über die Nacht gerechnet. Ein größerer Transport mit Holzpaletten, Zeltfußböden und Befestigung von Wegen wird Samstag erwartet. Morgen werden 25 Zelte des DRK verschiedener Größen erwartet. Die Lebensmittelversorgung wird sichergestellt. Insoweit erfolgt die Beschaffung unmittelbar durch das DRK. 6. Größtes Problem ist der langsame Abfluss der Zufluchtsuchenden. Das von der hiesigen DDR - Botschaft angewandte bürokratische Verfahren ist zu langsam und lässt hier einen rapide anwachsenden Rückstau entstehen. Aus hiesiger Sicht müsste zumindest erreicht werden, daß die DDR die sich vorbehaltene Bearbeitungsfrist von 24 Stunden verkürzt. Ferner besteht die hiesige DDR - Botschaft darauf, daß die Aushändigung von Entlassungsurkunden und Ausreisedokumenten in Gruppen von maximal rund 20 Personen erfolgt. Dies erzwingt einen mühsamen Shuttle - Verkehr zwischen den beiden Botschaften. 7. Im Laufe des heutigen Abends werden zwei Busse mit voraussichtlich 60 bis 80 Deutschen aus der DDR Richtung Weiden / Oberpfalz abfahren. Hiller
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3. November 1989 Dok. 59 Hilferuf der Botschaft : 4 000 Zufluchtsuchende ! Fernschreiben des Ständigen Vertreters des Botschafters in Prag, Armin Hiller, an das Auswärtige Amt PA AA 513, B 85 Nr. 2347 E, unpag. – Kopf : aus : Prag, Nr. 2577 vom 3. 11.1989, 1735 OZ, an: Bonn AA, citissime, Fernschreiben ( verschlüsselt ) an 513, eingegangen : 3.11.1989, 1806 OZ, VS – Nur für den Dienstgebrauch, Az. : RK 330 VS - NfD. – Verteiler : Hal, Sonderverteiler Deutsche aus der DDR, Ex. 1–2 : 513, 3–4 : 214, 5 : D 2, 6 : Dg 21, 7 : 210, 8 : 231, 9 : BM, 10–11 : StS, 12 : 011, 13 : 013, 14 : D 1,15 : Dg 10, 16 : 101, 17 : 103, 18 : Dg 11, *19 : 110, 20 : 110–8, 21 : 111, 22 : 112, 23 : 114, 24 : 118, 25 : D 5, 26 : 502, 27 : Dg 51, 28 : 513, 29 : 514 (* = per Rohrpost F 15), auch für BMB - Bonn, Büro StS, BMB - Berlin, z. H. Herrn Mr. Plewa oViA. – Verfasser : LR I Rünger.
Betr. : hier :
Zufluchtsuchende Deutsche aus der DDR Lagebericht 03.11.1989
– Zur Unterrichtung – 1. Derzeit, 02. 11. 1989, 15.00 Uhr, befinden sich ca. 4 000 zufluchtsuchende Deutsche aus der DDR in der Botschaft Prag. Der Strom der Zufluchtsuchenden hat sich seit gestern weiter dramatisch verstärkt. Die Botschaft ist nicht mehr in der Lage, die Zufluchtsuchenden genau zu zählen und ihrer Personaldaten kurzfristig zu erfassen. 2. Die drangvolle Enge in den Räumen der Botschaft sowie auf dem gesamten Botschaftsgelände erschwert zunehmend die verwaltungsmäßige Abwicklung der Ausreisefälle ( an die Zufluchtsuchenden mussten Anträge verteilt werden, diese müssen ausgefüllt werden, Rückfragen müssen beantwortet werden, mehrere hier eingesetzte Berufsfotografen fertigen Passbilder, diese müssen entwickelt und vergrößert werden, dann müssen unter Tausenden von Zufluchtsuchenden die Bilder der Personen wieder zugeordnet werden, von den Betreffenden mit Namen und Geburtsdaten versehen werden, Personalpapiere müssen eingesammelt werden, die Unterlagen an die DDR - Botschaft transferiert werden usw. usf.). Je unübersichtlicher die Situation an der Botschaft wird, umso schwieriger wird die Durchführung dieses ohnehin sehr komplizierten Verfahrens. 3. Gesundheitszustand und psychische Verfassung der Gäste unter den gegebenen Umständen ist gut. Das Wetter heute war trübe, aber relativ warm. Die Nacht dürfte kalt werden. 4. In der vergangenen Nacht sowie im Laufe des Tages sind insgesamt 33 Zelte sowie große Mengen Stapelbetten, Matratzen, Schlafsäcke, Kleidung etc. eingetroffen. Die Zelte sind bereits abgebaut und belegt. Die Aufstellung geht weiter. Acht Zelte sowie 20 Zeltöfen werden im Laufe des Abends eintreffen.
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5. Das DRK hat zurzeit insgesamt 33 Kräfte hier im Einsatz. Als Einsatzleiterin trifft Frau Schröder noch heute hier ein. Mit gleichem Flugzeug wird Dr. Platiel, Gesundheitsdienst AA, erwartet. Amtierende Einsatzleitung des DRK hat 21 weitere Helfer sowie eine zusätzliche Feldküche samt Personal beim DRK erbeten. Botschaft hat insbesondere für Zufluchtsuchende, die eventuell unter freiem Himmel oder auf der Straße werden übernachten müssen, weitere 4 700 Schlafsäcke angefordert, die im Laufe der kommenden Nacht erwartet werden. 6. 20 weitere HOD - Beamte werden morgen Mittag erwartet. 7. Die Ernährung der Zufluchtsuchenden funktioniert und ist auch für die nähere Zukunft sichergestellt. 8. Im Laufe des heutigen Abends werden zwei Busse mit voraussichtlich ca. 125 Deutschen aus der DDR in Richtung Weiden / Oberpfalz abfahren. Hiller
3. November 1989 Dok. 60 Bericht des Deutschen Roten Kreuzes : »Lage in den letzten Stunden dramatisch zugespitzt« Erklärung des Präsidenten des Deutschen Roten Kreuzes, Botho Prinz zu Sayn Wittgenstein, zur Situation in Prag DRK 3166, unpag. – Datiert : 3.11.1989, 16.15 Uhr.
Die Lage in der Botschaft in Prag hat sich durch den erneuten Zustrom von über 4 000 DDR - Flüchtlingen in den letzten Stunden dramatisch zugespitzt. Aus der Erfahrung der letzten Wochen weise ich mit Nachdruck darauf hin, daß wie eine menschenwürdige Versorgung von mehr als 2 000–3 000 Menschen auf dem Gelände der Botschaft für nicht mehr möglich halten ! Die hygienischen Verhältnisse, die sanitären Einrichtungen und die gegenwärtige Witterung gefährden ernsthaft die Gesundheit der Flüchtlinge, insbesondere der vielen Frauen und Kinder ! Natürlich hat das Deutsche Rote Kreuz, auch auf Bitte des Auswärtigen Amtes, sofort auf die akute Notsituation reagiert und über 40 Helfer, Gerät und Verpflegung nach Prag gesandt. Wir tragen keine politische Verantwortung für diese Lage, aber wir empfinden eine starke menschliche Verantwortung für die schier ausweglose Situation der Flüchtlinge in der Botschaft. Deshalb appelliere ich eindringlich an die Regierungen der DDR, der Tschechoslowakei und die Bundesregierung, aus humanitären Gründen die sofortige
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Ausreise aus Prag in einer Sonderaktion zu ermöglichen ! Unabhängig davon sollten sofort geeignete Ausweichquartiere von den Behörden in Prag bereitgestellt werden ! Das Rote Kreuz ist seinerseits bereit, alles Menschenmögliche zur Versorgung der Zufluchtsuchenden zu tun ! Botho Prinz zu Sayn - Wittgenstein [ m.p.]
3. November 1989 Dok. 61 Unterredung von Staatssekretär Bertele mit SED - Generalsekretär Krenz : Lage in Prag dramatisch Fernschreiben des Ständigen Vertreters der Bundesrepublik in der DDR, Franz Bertele, an den Chef des Bundeskanzleramtes, Rudolf Seiters BArch B, B 136/21861, 222 83105 Fa 3 NA 2 Bd. 7. – Kopf : FS StäV Nr. 2461, 18.13 Uhr. VSNfD. Citissime. – Verteiler : ChBK, MDg Duisberg, Gruppe 22; BMB, St Priesnitz, AL II; Bonn AA, Ref. 210, auch für Botschaft Prag. Mit Stempel : 020400, BK - Amt, FS - Zentrale. – Datiert : 3.11.1989, 18.53 Uhr.
Betr. : hier :
Heutige Gratulationscour des diplomatischen Korps bei Egon Krenz Zufluchtsfälle in Prag
Bei der heutigen Gratulationscour habe ich Herrn Krenz zunächst persönlich gratuliert und auf die Glückwünsche des Bundespräsidenten und des Bundeskanzlers verwiesen. Er habe bei seiner ersten öffentlichen Erklärung nach der Wahl zum Generalsekretär gesagt, daß Arbeit, Arbeit, Arbeit auf ihn warte. Wir wünschten ihm im Interesse der Menschen in der DDR viel Erfolg. Ich habe dann die Hoffnung ausgedrückt, daß sehr bald ein persönliches Gespräch zwischen Krenz und einem Mitglied der Bundesregierung zustande komme. Dann habe ich Krenz auf die dramatische Lage in der Botschaft Prag angesprochen und ihn im Anschluß an die Gratulationen um ein kurzes Gespräch gebeten. Damit hatte ich meine Zeit im Verhältnis zu den anderen gratulierenden Missionschefs bereits bei weitem überzogen. Krenz ließ mich während des anschließenden Empfangs zu sich holen. Ich verwies auf die dramatische Lage in Prag mit rund 5 000 Zuflüchtigen. Dieses Problem könne nicht in der bisherigen Weise durch das Ausstellen von erforderlichen Papieren durch die DDR - Botschaft in Prag gelöst werden. Außenminister Fischer, der neben Krenz stand, schaltete sich hier in das Gespräch ein und unterrichtete Krenz, daß das Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten der DDR eine sofortige Verstärkung ihrer Botschaft in Prag beschlossen habe. Dies werde auch sofort umgesetzt. Ich habe daraufhin geantwortet, daß mit den herkömmlichen Verfahren das Problem in der jetzigen Größenordnung nicht gelöst werden könne. AM Fischer warf hier ein, daß
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Botschafter Huber ja die Botschaftstore nicht allzuweit aufmachen mußte. Ich habe darauf gesagt, daß unsere Botschaft in Prag überrollt würde. Dann habe ich Krenz darauf hingewiesen, daß die StäV nach Abschluß der erforderlichen Baumaßnahmen im Laufe der nächsten Woche wieder öffnen werde und daß die DDR sich darauf einstellen müsse, durch schnelles Entscheiden zu verhindern, daß eine vergleichbare Lage wie in Prag eintrete. Krenz fragte, ob wir für die Arbeit nicht doch noch etwas mehr Zeit benötigten. Er verwies auf die neue Ausreiseregelung, die zu Beginn der kommenden Woche zur öffentlichen Diskussion gestellt werde. Dann werde sich das Problem entschärfen. Krenz betonte dann, daß ihm an einer weiteren positiven Entwicklung der Beziehungen zur Bundesrepublik Deutschland liege. Ich hatte anschließend Gelegenheit, mit dem Stellvertreter von Außenminister Fischer, StS Krolikowski, die Problematik in Prag und auch bezüglich der StäV eingehend zu erörtern. Krolikowski plädierte für ein gemeinsames Bemühen der Bundesrepublik Deutschland und der DDR gegenüber Zuflüchtigen : Wir sollten betonen, daß der Weg über Ausreiseanträge nach der Neuregelung in Kürze für alle DDR - Bürger erfolgversprechend sei. Sie sollten daher in die DDR zurückkehren. Ich habe dazu bemerkt, daß wir dies zu gegebener Zeit gerne tun würden, falls wir die Sicherheit hätten, daß eine solche Aussage zu treffen sei. Damit werde aber das akute Problem nicht gelöst. Auf meine Frage, ob man den Prag Notstand nicht dadurch lösen könne, daß die DDR - Botschaft für alle Zuflüchtigen die Zustimmung zur Ausreise global erteile und daß wir der DDR dann später die Personalien der Ausgereisten in Listenform zur Verfügung stellten, reagierte Krolikowski abwehrend : Dann träten die gleichen Probleme ein wie bei den Sonderzügen : Viele stünden heute ohne irgendwelche Ausweise da. Das habe sich nicht bewährt. Krolikowski betonte dann, daß auch bei einer Verstärkung der DDR - Botschaft in Prag mehr als 400 Ausreisepapiere pro Tag nicht ausgestellt werden könnten. Als bei diesem Gesprächsstand der tschechoslowakische Botschafter sich zu uns gesellte, habe ich diesen dringend gebeten, zur Lösung des Problems dadurch beizutragen, daß die CSSR für die Zeit, die die DDR zur Ausstellung der Papiere benötige, Notunterkünfte zur Verfügung stellen möge. Dieser lehnte nicht rundweg ab, meinte jedoch, daß nach seiner Kenntnis auch auf unserer Seite in Prag Verzögerungen dadurch entstünden, daß wir entsprechende Antragsunterlagen und Paßbilder nicht schnell genug erstellen könnten. Ich habe daraufhin betont, daß gerade deshalb Notunterkünfte erforderlich seien, weil das Ausstellen von Einzelpapieren, auf dem die DDR bestehe, notwendigerweise zeitaufwendig sei. Der Botschafter sagte zu, sofort nach Hause zu berichten. Bertele
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3. November 1989 Dok. 62 ČSSR - Botschafter in der DDR : Krenz verspricht schnelle Lösung Telegramm des tschechoslowakischen Botschafters in Ost - Berlin, František Langer, an das tschechoslowakische Außenministerium AMZV Praha, Telegramy prijate, 1989, sv. 39. – Absender: František Langer. – Adressat: Föderales Ministerium des Auswärtigen. – Datiert: 3. 11.1989. – Vermerk: Eingang 21.30 Uhr; Blitz, sofort übergeben, geheim.
Übersetzung Bei dem heutigen Empfang des Diplomatischen Korps durch den neuen Staatsratsvorsitzenden habe ich Genossen Krenz beim Gespräch um etwa 15.30 Uhr über die Krisenlage informiert, die wieder in der BRD-Botschaft und deren Umgebung entsteht. Wie ich angeführt hatte, befinden sich dort zurzeit etwa 4–5 Tausend Menschen, die Zahl nimmt rapide zu. Genosse Krenz war durch die hohe Zahl sichtlich überrascht. Ich bat ihn im Namen der Partei- und Staatsführung um eine schnelle Lösung. Genosse Krenz versprach dies und bat, dies dem Genossen Jakeš auszurichten, zusammen mit der Mitteilung, dass er sich auf das Treffen am 17. November d. J. [in Prag] freue. Die Problematik wurde bei der Veranstaltung auch mit Herbert Krolikowski und Harry Ott erörtert. Sie äußerten sich in dem Sinne, dass die Grenze ohne Absprache mit dem Ministerium für Auswärtiges geöffnet wurde. Ich gab zum Bedenken, dass in der ČSSR niemand versteht, warum die Bürger der DDR in die BRD über die ČSSR ausreisen müssen. Es hätte doch nur eine Information in der Presse veröffentlicht werden können, dass das gleiche, wie die DDR-Vertretung in Prag, die zuständigen Behörden in der DDR erledigen können. Die heute publizierte Mitteilung des DDR-Botschafters in Prag, Ziebart, wirkt wenig überzeugend. Die Reaktionen aller zeugen von Ratlosigkeit. Sie äußerten sich in dem Sinne, es könnten doch in Prag Räumlichkeiten für vorläufige Unterkunft der Flüchtlinge gefunden werden. Eine schnellere Abfertigung sei durch die begrenzten Möglichkeiten der BRD-Botschaft limitiert. Vielleicht dürfte bereits morgen die Information des Innenministeriums über die Ausreisemöglichkeiten direkt aus der DDR veröffentlicht werden (unsicher gesagt). Die befürchtete Massendemonstration am 4.11. (heutige Schätzungen schließen eine Millionenanzahl an Teilnehmern nicht aus) beschäftigt offensichtlich alle insofern, dass ohne weiteren Druck auf die Vertretung in Prag kaum die Situation mit den Flüchtlingen energisch gelöst wird. Langer
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3. November 1989 Generalsekretär Jakeš, 16.00 Uhr : notfalls direkte Ausreise
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Dok. 63
AMZV Praha, Telegramy odeslané 1989, sv. 10, pořadové číslo 3739. – Absender: Föderales Ministerium des Auswärtigen. – Adressat: Botschaften in Berlin und Bonn. – Datiert: 3.11.1989, 18.45. – Vermerk: Geheim; Blitz – sofort zu übergeben.
Übersetzung Sadovský überreichte am 3.11. um 16:00 Uhr an Ziebart folgende Depesche von Jakeš an Krenz. 1. Jakeš bittet, die Botschaft der DDR in Prag insofern personell zu verstärken, daß die DDR-Bürger in der Botschaft der Bundesrepublik durchgehend abgefertigt werden können. Die Situation in Prag wird kompliziert, bereits jetzt halten sich 4 000 DDR-Bürger in der Botschaft der BRD auf. 2. Falls die Lösung gemäß dem Punkt 1 nicht möglich sein sollte, bitten wir, die erneute Grenzschließung für die Reisen der DDR-Bürger in die ČSSR zu erwägen. 3. Falls sowohl 1. als auch 2. nicht möglich sein sollte, beantragen wir durch das Ministerium des Auswärtigen der DDR den nicht-öffentlichen Teil des Vertrages über die Reisetätigkeit mit der DDR auszusetzen, der vorsieht, diejenigen Bürger, die einen illegalen Grenzübergang in ein drittes Land versuchen, an die Behörden im Heimatland zu übergeben. Diese Variante ist für die Tschechoslowakei inakzeptabel, sollte es jedoch keine andere Lösung zur Situationsbewältigung geben, wollen wir mit der DDR auch über diese Variante verhandeln. Genosse Sadovský informierte, dass aus Bonn ein starker Druck ausgeübt wird, Unterkunft außerhalb der Botschaft zu gewähren, mit der Argumentation, die Einstellung der DDR zur Übersiedlung hätte sich geändert. Die tschech. Seite lehnt dies ab, sollte jedoch der Übersiedlerstrom nicht mehr beherrschbar werden, müssten wir auch diese Variante erwägen. Jiříček
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3. November 1989 Krenz besiegelt das Ende der DDR Schreiben des Außenministers der DDR, Oskar Fischer, an den Generalsekretär der SED, Egon Krenz
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Dok. 64
BArch B, DY 30 IV 2/2.039, 342, Bl. 155–157. – Absender : Ministerrat der Deutschen Demokratischen Republik, Der Minister für Auswärtige Angelegenheiten. – Adressat : Generalsekretär des Zentralkomitees der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands und Vorsitzenden des Staatsrates der Deutschen Demokratischen Republik Genossen Egon Krenz. – Stempel : Beh. Protokoll Nr. 48/4 vom 3. 11.1989. – Handschriftlicher Vermerk : Einverstanden Egon Krenz. – Datiert : 3.11.1989.
Werter Genosse Krenz ! Als Anlage übermittle ich eine Information zur Situation in der BRD - Botschaft in Prag. Ich schlage vor, der ČSSR und der BRD mitzuteilen, daß wir einverstanden sind, die DDR - Bürger direkt – ohne auf Regelung der Formalitäten zur Entlassung aus der Staatsbürgerschaft der DDR zu bestehen – aus der ČSSR in die BRD ausreisen zu lassen, ohne dabei DDR - Territorium zu berühren. Ich bitte um Entscheidung. Mit sozialistischem Gruß Oskar Fischer [ m.p.] Anlage Berlin, 3. November 1989 Information 1. Anruf über WTsch1 von Genossen Ziebart : Genosse Jakes übermittelt folgende Botschaft an Genossen Krenz : 1. Angesichts des sprunghaften Ansteigens der Anzahl von DDR - Bürgern in der BRD - Botschaft ( gegenwärtig ca. 4 000, es wird mit einem täglichen Zugang von mindestens weiteren 2 000 gerechnet ) ist die Abfertigung der betreffenden Bürger so zu beschleunigen, daß eine umgehende Ausreise erfolgen kann. 2. Wenn diese Möglichkeit nicht bestehen sollte, wird eine einseitige Schließung der Grenze durch die DDR vorgeschlagen, bis in der DDR die Voraussetzung für eine direkte Ausreise in die BRD geschaffen ist.
1
WTsch ( russ : Bыcokaя Чacтoтa, BЧ): interne Fernsprechanlage für geheime Regierungsverbindungen. Sie ermöglichte den direkten und geheimen Kontakt zwischen den Führungen der Ostblock - Staaten.
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3. Wenn beide Varianten nicht möglich sein sollten, wird die sofortige Aufnahme von Verhandlungen in Berlin mit dem Ziel vorgeschlagen, eine einseitige Suspendierung des Protokolls zum Vertrag über den visafreien Reiseverkehr durch die DDR zu vereinbaren, damit die betreffenden Bürger sofort aus der CSSR in ein beliebiges 3. Land ausreisen können. ( Der Botschafter der ČSSR in Berlin hat dazu entsprechende Vollmachten ). Genosse Jakes bittet um möglichst sofortige Entscheidung und entsprechende Antwort. 2. Genosse Horst Neubauer teilt mit, daß Ministerialdirigent Duisberg vom Bundeskanzleramt der BRD ihm mitgeteilt habe, daß sich die Situation in der BRD - Botschaft in Prag drastisch zugespitzt habe. Es befänden sich über 5 000 »Zufluchtsuchende« in der Botschaft. Die Bundesregierung bittet die Regierung der DDR, Möglichkeiten der direkten Ausreise mit Zügen von Prag in die BRD zu prüfen. Eine schnelle Abfertigung und Ausreisemöglichkeit müsste nach Auffassung der BRD auch im Interesse der DDR liegen. 3. Unser Botschafter in Prag, Genosse Helmut Ziebart, teilt mit, daß das Außenministerium der ČSSR ihm gegenüber Folgendes vorgetragen habe : Am 3. 11., mittags, befanden sich 4 000 DDR - Bürger auf dem Gelände der BRD - Botschaft ( nach neuesten Informationen über 5 000). Ca. 8 000 DDR - Bürger weilen in der ČSSR. Die ČSSR werde »keine Flüchtlingslager für politische Flüchtlinge« der DDR einrichten. Die ČSSR fordere von der DDR, solche Maßnahmen einzuleiten, die entweder a ) den Zustrom an »politischen Flüchtlingen« beenden oder b ) eine solche Abfertigungspraxis vorzunehmen, daß »jeden Tag so viele ehemalige DDR - Bürger aus der ČSSR in die BRD ausreisen können, wie täglich in der BRD - Botschaft neu hinzukommen«. Genosse Ziebart hat eine Information an die zuständigen Stellen in Berlin zugesagt.
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3. November 1989 Dok. 65 Beschluss des Politbüros der SED : Zustimmung zur direkten Ausreise in die Bundesrepublik BArch B, DY 30, 5196, Bl. 16. – Kopf : Ablage - Nr. 205070, Hinweis : 80 00 10, Vertrauliche Verschlusssache ZK 02 – Politbüro – Beschlüsse – 3./692 48/89 vom 3.11.1989. – Verteiler : 1. Ex. 1 Bl. Fischer, 2. Ex. 1 Bl. Sieber, 3. Ex. 1 Bl. Ablage. – Schlussvermerk : Der Beschlussauszug ist nach Erledigung an das Büro des Politbüros zurückzugeben !
Botschaft des Genossen M. Jakes an Genossen E. Krenz Dem Vorschlag, die sich in der Prager BRD - Botschaft aufhaltenden DDR - Bürger direkt aus der CSSR in die BRD ausreisen zu lassen, ohne dabei DDR - Territorium zu berühren, wird zugestimmt. Genosse O. Fischer wird ermächtigt, sofort mit Vertretern der CSSR und der BRD entsprechende Gespräche zu führen. Verantwortlich : Genosse O. Fischer
5. November 1989 Dok. 66 Zügige Ausreise der DDR - Bürger aus der Tschechoslowakei Vermerk des Leiters des Referats 513 des Auswärtigen Amts, Karl - Heinz Kunzmann PA AA 513, B 85 Nr. 2347 E, unpag. – Vermerk : RL 513. – Schlussvermerk : Herrn Staatssekretär vorgelegt, Kopien : D 1, D 2, D 5, Dg 21, 014, 010, 013, 110, 214. – Datiert : 5.11.1989.
Betr.:
Ausreiseaktion für DDR - Bürger aus der Botschaft Prag mit Zügen am 04. Und 05.11.1989 Bezug: Weisung von Herrn D 2 Freitag, 03.11. Referat 513 hatte seit dem Nachmittag Verbindung mit BMV und der Zentralen Verkehrsleitung der Bundesbahn in Mainz, um die Bereitstellung von 5 bis 6 Zügen der DB vorzubereiten. D 2 hat mich gegen 19.45 Uhr über die politische Entscheidung unterrichtet und gebeten, die Durchführung der Ausreiseaktion zu übernehmen. Dies schien aufgrund der bereits getroffenen Vorbereitung zunächst unproblematisch. Dann zeigte sich jedoch, daß die DB zu den Bahnen der CSSR keinen Arbeitskontakt hat. Es kam zu einem ersten Anruf der Leitstelle in Mainz in Prag beim dortigen »dispatcher«. Dann war die Bahnleitung über Wien tot. Niemand wusste, wer in Prag Ansprechpartner war – auch nicht der zuständige Mann im Vorstand der
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DB. Erst gegen 01.00 Uhr am 04. kam Dank der Bemühung der Botschaft Prag der Arbeitskontakt zwischen den Bahnen zustande. Bis dahin hatte die DB in Grenznähe und in Nürnberg 5 Züge mit 54 Reisewagen bereitgestellt. Der Einsatz deutscher Züge konnte für die Durchfahrt der CSSR nicht vorgeplant werden. Deshalb ist dann als erster Zug ein Zug der CSSR eingesetzt worden. Samstag, 04.11. Um 9.22 Uhr fährt der erste von sechs Zügen ab, um 18.15 Uhr der Letzte. Zwei Züge stellt die CSSR. Der erste Zug wird vollständig mit Menschen besetzt, die nicht in der Botschaft waren, mit den fünf übrigen Zügen werden alle Personen ausgefahren, die in der Botschaft Aufnahme gefunden haben. Insgesamt sind 6 486 in sechs Zügen transportiert worden. Mit 500 Pkw sind nochmals 1 000 bis 1 500 Menschen ausgereist. In der Nacht befinden sich bereits wieder 1 500 bis 1 600 Menschen in der Botschaft. Sonntag, 05.11. Der 7. Zug verlässt Prag um 10.38 Uhr, der 8. um 13.30 Uhr ( CSSR - Wagen ). Mit diesen beiden Zügen werden 1730 Menschen befördert. Der 9. Zug geht in Prag um 22.30 Uhr ab : um 22.00 Uhr waren bereits über 500 Menschen am Bahnhof. Die Bahnen der CSSR halten bis 3.00 Uhr am Montag noch einen Zug bereit, der 800 Personen transportieren kann. Montag, 06.11. Die DB hält einen Zug in Bereitschaft. Die Entwicklung der Neuzugänge bleibt abzuwarten. Insgesamt sind an zwei Tagen rund 9 000 Personen mit 9 Zügen ausgefahren worden. Ku 5/11 [ m.p.]
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5. November 1989 Dok. 67 Ausreise von 11 500 DDR - Bürgern in die Bundesrepublik zwischen dem 3. und 5. November Telegramm des DDR - Botschafters in Prag, Helmut Ziebart, an den Außenminister der DDR, Oskar Fischer, u.a. BStU, ZA, HA II, 32922, Bl. 22. – Absender : Ziebart. – Adressat : Gen. Oskar Fischer, [Vorlage ] 6.11., 8.00 Uhr; Gen. Ott, [ Vorlage ] 6.11., 8.00 Uhr; Gen. Schwiesau; Gen. Seidel, BRD. – Vermerk : Prag Blitz, ct 140/89. – Datiert : 5.11.[1989]. – Eingangsstempel : HVA Lagezentrum mit Verteiler : Gen. Minister, Generaloberst Mittig, Generaloberst Großmann, Generalleutnant Neiber, Generalmajor Prosetzky, Oberst Devau, Abt. X, ZOS.
Zur aktuellen Situation : 1. Seit Vereinbarung DDR / CSSR über die direkte Ausreise von DDR - Bürgern in die BRD vom 3.11. sind bis 5.11., 09.00 Uhr ca. 11,5 tausend DDR - Bürger mit Personalausweis in die BRD ( mit regulären Zügen, Sonderzügen bzw. mit eigenem Pkw ) ausgereist. Zustrom aus DDR hält weiter an. Nach vorliegenden Informationen beabsichtigt die BRD - Botschaft Prag für den 5.11. noch den Einsatz von weiteren drei Sonderzügen mit einer Gesamtkapazität von 3,5 tausend Plätzen. 2. Csl. Genossen machten darauf aufmerksam, daß auch gegenwärtige Lösungsvariante Probleme schafft. U. a. wird darauf verwiesen, daß durch faktische Blockierung des am nächsten gelegenen Grenzübergangs Rozvadov / Waidhaus sowohl auf Straße, als auch auf Schiene erhebliche Probleme für vorgesehene Abwicklung [ des ] Warenverkehrs CSSR - BRD entstehen. Csl. Genossen anfragen daher zunehmend [ sic !], wann DDR - Bürgern Ausreise über Grenzübergänge DDR / BRD mit gleichen Konditionen wie z. Zt. über CSSR Territorium möglich gestattet wird. Darüber hinaus wird Frage gestellt, wie DDR reagieren würde, wenn CSSR Grenze für Einreise DDR - Bürger schließt. 3. Vereinzelt rufen DDR - Bürger, die in letzten Stunden mit Personalausweis in BRD ausgereist sind, in DDR - Botschaft in Prag an und informieren, daß CSSR - Grenzorgane ihren Wunsch ablehnen, über die CSSR in die DDR zurückzukehren. Bereitschaftsdienst [ der ] DDR - Botschaft Prag angewiesen, diese Bürger an st[ändige] V[ertretung] DDR in Bonn zu verweisen, wo Frage unverzüglicher Rückkehr in DDR problemlos geregelt wird. Ziebart
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7. November 1989 Dok. 68 Lagebericht des Deutschen Roten Kreuzes : Täglich 12 Züge mit Übersiedlern Bericht von Christine Lettang vom DRK - Generalsekretariat Bonn DRK 04041, unpag. – Titel : Lagebericht Botschaft Prag 7.11.1989, 16.20 Uhr. – Handschriftlicher Verteiler : A, AL 1, 14, 150, 160, 24, 005.
1.) Z. Zt. befinden sich nur wenige Übersiedler in der Botschaft. 2.) Am Hauptbahnhof sind z. Zt. drei Einsatzkräfte DRK und acht Helferinnen des Tschechischen Roten Kreuzes sowie ein Arzt. Die Helfer des Tschechischen Roten Kreuzes werden heute Nacht auf zwei reduziert. Sie nehmen die Ausgabe von Getränken wahr. 3.) Zusätzlich sind am Bahnhof Hollewitz zwei Posten als Einweiser und Auskunftspersonal tätig. 4.) In der Botschaft ist das DRK - Personal bei den Aufräumarbeiten herausgezogen worden, die restlichen Arbeiten werden vom Personal, das durch die Botschaft organisiert wurde, durchgeführt. Anlass für die Herausnahme waren hygienische Gründe. Es gibt allergische Reaktionen bei den Einsatzkräften, jedoch keine Erkrankungen. Herr Dr. Kienle ist am 07.11., 11.00 Uhr abgereist. Herr Emmerich ist am 07.11., 11.30 Uhr eingetroffen. 5.) Es werden heute noch fünf Züge aus der DDR erwartet, der nächste folgt morgen gegen 05.00 Uhr. Täglich erreichen 12 Züge, jeweils mit 200–400 Übersiedlern, Prag. Der letzte Zug trifft um 23.27 Uhr ein, der erste geht täglich um 04.48 Uhr ab. Dadurch bedingt werden nachts Übersiedler in der Botschaft aufgenommen. 6.) In vorgenannter Ziffer erläuterter Ablauf erfordert ggf. eine Verlängerung des Einsatzes, d. h. Austausch der Einsatzkräfte am Wochenende. Eine endgültige Abklärung soll, wie bereits mitgeteilt, am 08.11. abends erfolgen. Unabhängig von einem Austausch der Einsatzkräfte wird der Verbleib der Einsatzleitung in Prag bei weiterem Einsatz des DRK für dringend nötig gehalten. Dies schließt die Mitarbeiter des Generalsekretariates ein. 7.) Der Einsatzbericht wurde durch Herrn Stadtmüller abgegeben, mit Frau Schröder wurde kurz über allgemeine Fragen gesprochen. In den Gesprächen wurde darauf hingewiesen, daß zunehmend männliche Einzelreisende kommen, von unterster sozialer Schicht. 8.) Die Durchführung der Desinfektion der Botschaft und die entsprechende Organisation wurde inzwischen der Botschaft übertragen. Lettang [ m.p.]
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7. November 1969 Dok. 69 Berichterstattung in den tschechoslowakischen Medien Fernschreiben des Pressereferenten der Botschaft Prag, Michael Steiner, an das Auswärtige Amt PA AA 513, B 85 Nr. 2347 E unpag. – Kopf : aus : Prag, Nr. 2592 vom 7. 11.1989, 21.01 OZ, an: Bonn AA, Fernschreiben ( verschlüsselt ) an 214, eingegangen : 8.11.1989, 0737 OZ, Beteiligung erbeten : 013, 012, Az. : POL 320 071745. – Verteiler : Hei, Ex. : 1–5 : 2, 6 : 2–Z1, 7: D 3, 8 : StS, auch für Belgrad, Budapest, Bukarest, Moskau, Sofia, Warschau, London Diplo, Paris Diplo, Wien Diplo, Washington, Brüssel Nato, Ständige Vertr., BPA.
Betr. : hier :
Demonstrationen in Ost - Berlin am 04.11.1989 ts[ l.] Reaktionen
Zur Unterrichtung 1. Nicht nur die tsl. Bevölkerung und die internationale Presse, auch die tsl. Medien nahmen intensiv Anteil am Schicksal der zufluchtsuchenden Deutschen aus der DDR während der jüngsten Ausreisewelle. Hauptinformationsquelle war dabei [ der ] Botschaftssprecher, der in den letzten Tagen in sämtlichen tsl. Medien, einschließlich der amtlichen Nachrichtenagentur CTK, laufend, und zwar durchwegs korrekt, zitiert wurde – ein Vorgang, der noch vor einigen Monaten in der CSSR undenkbar gewesen wäre. 2. Sowohl das tsl. Fernsehen als auch die tsl. Tageszeitungen brachten immer wieder Bilder, die Sympathie für die Lage der Zufluchtsuchenden erweckten. Ebenso wie die dt. und intern. Medien zeigte das tsl. FS mit Aufnahmen, die keines Kommentars bedurften, die bedrängte Lage der Zufluchtsuchenden in der Botschaft am 03.11. Unsere Würdigung der Anteilnahme der tsl. Bevölkerung am Schicksal der Zufluchtsuchenden als auch der guten Zusammenarbeit des tsl. Behörden bei den Sonderzugs - und Grenzabfertigungen wurden von »Rude Pravo« bis Oppositionszeitungen genauso hervorgehoben, wie die Hilfsbereitschaft des tsl. Roten Kreuzes. 3. Kritik an unsere Adresse war in aller Regel bislang nicht zu verzeichnen. Im Gegenteil waren auch von den tsl. Medienvertretern immer wieder anerkennende Worte zu hören. Sowohl in Kreisen der Opposition, in der Bevölkerung, als auch bei einigen Medienvertretern wurde des Öfteren spürbar, daß man sich hier fast etwas »schämt« nun »ausgerechnet« von »den Deutschen« in der DDR politisch »überholt« worden zu sein, wie uns stellv. Chefredakteur von »Mlada Fronta« sagte. Umso dankbarer nahmen gerade junge Oppositionelle unsere Würdigung der tätigen Anteilnahme ( lfd. Abgabe von Nahrungsmitteln und Kleidern an der Botschaft, telefonische Hilfsangebote ) und der Sympathie der tsl. Bevölkerung auf (»das macht uns wieder etwas stolz«).
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Offiziöse Kommentare zu dem Thema sind bisher nicht zu verzeichnen. Noch der »kritischste« Bericht ist ein CTK - Korrespondentenbericht in der heutigen (07.11.) Rude Pravo, in dem freilich lediglich der Bundeskanzler, Hans Joachim Vogel, Egon Bahr, Oskar Lafontaine, Johannes Rau sowie der Vorsitzende des Arbeitergeberverbands, Klaus Murmann, kommentarlos mit Bemerkungen zitiert werden, die einen allzu massiven Zustrom Deutscher aus der DDR vorsichtig entgegenwirken sollen. Des Weiteren wird ohne eigene Wertung auf einen Bericht der New York Times hingewiesen, wonach der Zustrom auch die EG aufgrund der Freizüglichkeitsregelung vor schwere Probleme stellen werde. 4. Es wird sich zeigen, wie die hiesigen Medien bei einem auch in Zukunft anhaltendem massiven Zustrom von Übersiedlern via CSSR reagieren werden. Einmal bringt dies zweifelsohne Belastungen auch für die tsl. Bevölkerung. Zum anderen ist es für die hiesigen Hardliner sicherlich kaum annehmbar, wenn der tsl. Bevölkerung Tag für Tag hautnah das Scheitern einer Politik vor Augen geführt wird, die in der CSSR bislang noch nicht aufgegeben wurde. Gleichwohl ist es erfreulich, daß wir jedenfalls bisher auch in der CSSR zu diesem Thema eine bemerkenswert gute Presse hatten. Dabei kann die Botschaft das bis zur Stunde ausgesprochen kooperative, verständnisvolle und hilfreiche Verhalten sowohl der zahlreich angereisten intern. und dt. Medienvertretern als auch der tsl. Journalisten nur anerkennend hervorheben. Im Auftrag Steiner
8. November 1989 Dok. 70 Botschaftsbericht : Täglich 4 000 DDR - Übersiedler mit der Bahn Fernschreiben des Ständigen Vertreters des Botschafters in Prag, Armin Hiller, an das Auswärtige Amt PA AA 513, B 85 Nr. 2347 E, unpag. – Kopf : aus : Prag, Nr. 2602 vom 8.11.1989, 17.35 OZ, an : Bonn AA, citissime, Fernschreiben ( verschlüsselt ) an 513, eingegangen : 9.11.1989, 1016 OZ, VS – Nur für den Dienstgebrauch, Az. : RK 330 VS - NfD. – Verteiler : Fu, Sonderverteiler Deutsche aus der DDR, Ex. 1–2 : 513, 3–4 : 214, 5 : D 2, 6 : Dg 21, 7 : 210, 8 : 231, 9 : BM, 10– 11: StS, 12 : 011, 13 : 013, 14 : D 1,15 : Dg 10, 16 : 101, 17 : 103, 18 : Dg 11, *19 : 110, 20 : 110–8, 21 : 111, 22 : 112, 23 : 114, 24 : 118, 25 : D 5, 26 : 502, 27 : Dg 51, 28 : 513, 29 : 514 (* = per Rohrpost F 15), auch für BMB - Bonn, Büro StS, BMB - Berlin, z. H. Herrn Mr. Plewa OVIA. – Verfasser : LR I Rünger.
Betr. : Ausreisewillige Deutsche aus der DDR hier : Lagebericht 08.11.1989 Bezug : DB Nr. 2585 vom 06.11.1989 – Az. RK 330 VS NfD
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– Zur Unterrichtung – 1. Der Ausreisestrom aus der DDR über die CSSR hält unvermindert an. Täglich reisen mit der Bahn über Prag über 4 000 Deutsche aus der DDR in die Bundesrepublik Deutschland aus. 2. Das DRK unterhält zusammen mit dem tsl. Roten Kreuz einen Informations und Versorgungsstand auf dem Prager Hauptbahnhof. Fünf Einsatzkräfte des DRK, ein Sanitäter sowie drei bis vier Mitarbeiter des tsl. RK sind dort im Drei- Schicht - Betrieb rund um die Uhr im Einsatz. Jeweils ein Mitarbeiter des gehobenen oder höheren Dienstes der Botschaft ist von 06.30 Uhr bis 23.00 Uhr am Hauptbahnhof eingesetzt. Er berät, unterstützt, leistet konsularische Hilfe ( Geld, Fahrkarten etc.), hält Kontakt zur Verwaltung des Bahnhofs und unterrichtet die Botschaft regelmäßig über die aktuelle Entwicklung am Bahnhof, sowie über die Belegung der Züge, die gerade aus der DDR in die CSSR eingereist sind. 3. Das DRK wird, nach der derzeitigen Planung, auch in der nächsten Woche in Prag im Einsatz bleiben. Bis auf die Einsatzleiterin Frau Schröder, sowie erst kurzfristig hier im Einsatz befindliche Kräfte, wird das gesamte Personal ausgewechselt. Zurzeit hat das DRK hier insgesamt 45 Helferinnen und Helfer im Einsatz. 4. Heute, 08.11., 06.00 Uhr, verließ ein 13. Sonderzug mit ca. 1 000 Ausreisenden Prag. An die regulären Züge um 07.45 Uhr bzw. 11.45 Uhr ab Prag wurden vier bzw. sechs Sonderwagen angehängt. Ein 14. Sonderzug wird heute, zwischen 19.00 und 20.00 Uhr in Richtung Bundesrepublik Deutschland abfahren. Am Hauptbahnhof warten zurzeit, 17.30 Uhr, ca. 600 Ausreisewillige. 5. Die Zusammenarbeit mit der Verwaltung der Tschechoslowakischen Staatsbahnen funktioniert ausgezeichnet. 6. Die Botschaft hat gemäß telefonischer Ermächtigung durch Referat 513 heute mehrere Zimmer im Hotel »Moran« im Zentrum von Prag für die eventuelle Unterbringung von Deutschen aus der DDR angemietet. 7. In der Botschaft halten sich zurzeit noch 40 Deutsche aus der DDR auf. 17 von diesen warten kurzfristig auf entsprechende Zusagen gemäß der »Vogel Lösung«. 23 der o. G. haben keine Personalpapiere. Hier bemüht sich die Botschaft um Ausstellung von Ersatzdokumenten durch die hiesige DDR Botschaft. Hiller
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8. November 1989 Dok. 71 Tschechoslowakische Regierung : DDR - Bürger sollen ohne Umweg über die ČSSR direkt in die Bundesrepublik ausreisen können Telegramm des DDR - Botschafters in Prag, Helmut Ziebart, an den Außenminister der DDR, Oskar Fischer BStU, ZA, Arbeitsbereich Neiber, 553, Bl. .2. – Absender : Ziebart. – Adressat : Gen. Oskar Fischer, Gen. Ott, Gen. Schwiesau. – Vermerk : Prag Blitz, ct 143/89. – Datiert : 8.11.[1989]. – Eingangsstempel : HVA - Lagezentrum mit Verteiler : Gen. Minister, Generaloberst Mittig, Generaloberst Großmann, Generalleutnant Neiber, Generalmajor Prosetzky, ZAIG.
1. Gen. Sadovsky bat mich am 8.11. ins FMfAA und teilte mir mit, daß bei der Regierung der CSSR und im ZK der KPTsch viele Anfragen und Eingaben aus der Bevölkerung der Bezirke Nord - und Westböhmen eingehen, die Unverständnis darüber äußern, daß die Ausreise von DDR - Bürgern in die BRD seit dem 3.11. über CSSR - Territorium praktiziert wird. »Ausgehend von diesem Druck« in den beiden genannten, aber auch anderen Bezirken der CSSR bat Gen. Sadovsky »im Auftrag der Regierung der CSSR und der Abteilung Internationale Politik des ZK« das Ersuchen zu übermitteln, die Ausreise von DDR - Bürgern in die BRD »direkt und nicht über das Territorium der CSSR« abzuwickeln. Ich erwiderte Gen. Sadovsky, daß mit der jetzigen zeitweiligen Praxis einer Anregung des Generalsekretärs des ZK der KPTsch zur Entkrampfung der Situation am vergangen Wochenende entsprochen wurde, um die damalige Situation in der BRD - Botschaft und damit in Prag zu verändern. Des Weiteren habe ich am 7.11. Gen. Lenart darüber informiert, daß in der DDR erwogen wird, Ausreiseregelungen vor Annahme des Reisegesetzes zu treffen. Sadovsky erwiderte, man befürchte, daß das noch eine Weile dauern werde und stelle deshalb das o. g. Ersuchen. 2. Ich übergab Gen. Sadovsky eine Note der Botschaft im Auftrage der Regierung der DDR zur zeitweiligen Aussetzung des Zusatzprotokolls über den visafreien Reiseverkehr entsprechend dem Text des Telegramms ct 118 des Gen. H. Ott. Gen. Sadovsky nahm die Note entgegen und versprach ihre Weiterleitung. Er bat jedoch zu prüfen, ob man im 1. Satz nicht die Feststellung ... »auf Ersuchen der Regierung der DDR« einfügen könnte. Ich sagte eine Prüfung dieser Frage zu. Gen. Sadovsky bemerkte, daß Gen. Langer den Auftrag erhalten hat, das in Pkt. 1 dargelegte Anliegen in Berlin ebenfalls vorzutragen. Ziebart
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9. November 1989 Dok. 72 Ministerrat der DDR : Übergangsregelung für Reisen und Ausreise aus der DDR Beschlussvorlage des Vorsitzenden des Ministerrates DDR, Willi Stoph, zur Bestätigung im Umlaufverfahren BStU, ZA, Arbeitsbereich Neiber Nr. 553, Bl. 15–19; http ://www.chronik - der - mauer.de / index.php / de / Media / TextPopup / day /9/ id /1261627/ month / November / oldAction / Detail / oldModule / Chronical / year /1989. – Titel : Zeitweilige Übergangsregelung für Reisen und ständige Ausreise aus der DDR. – Absender : Vorsitzender des Ministerrates Willi Stoph. – Adressat : Mitglieder des Ministerrats. – Datiert : 9. 11.1989 – Vermerk : Vertrauliche Verschlußsache b2–937/89; 40. Ausf.
Einreicher der Vorlage : Vorsitzender des Ministerrates, gez. Willi Stoph Beschlussvorschlag Der beiliegende Beschluss zur zeitweiligen Übergangsregelung für Reisen und ständige Ausreise aus der DDR wird bestätigt. Beschlussvorschlag Zur Veränderung der Situation der ständigen Ausreise von DDR - Bürgern nach der BRD über die CSSR wird festgelegt : 1. Die Verordnung vom 30. November 1988 über Reisen von Bürgern der DDR in das Ausland ( GBl. I Nr. 25 S. 271) findet bis zur Inkraftsetzung des neuen Reisegesetzes keine Anwendung mehr. 2. Ab sofort treten folgende zeitweilige Übergangsregelungen für Reisen und ständige Ausreisen aus der DDR in das Ausland in Kraft : a ) Privatreisen nach dem Ausland können ohne Vorliegen von Voraussetzungen ( Reiseanlässe und Verwandtschaftsverhältnisse ) beantragt werden. Die Genehmigungen werden kurzfristig erteilt. Versagungsgründe werden nur in besonderen Ausnahmefällen angewandt. b ) Die zuständigen Abteilungen Pass - und Meldewesen der VPKÄ in der DDR sind angewiesen, Visa zur ständigen Ausreise unverzüglich zu erteilen, ohne daß dafür noch geltende Voraussetzungen für eine ständige Ausreise vorliegen müssen. Die Antragstellung auf ständige Ausreise ist wie bisher auch bei den Abteilungen Innere Angelegenheiten möglich. c ) Ständige Ausreisen können über alle Grenzübergangsstellen der DDR zur BRD bzw. zu Berlin ( West ) erfolgen.
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d ) Damit entfällt die vorübergehend ermöglichte Erteilung von entsprechenden Genehmigungen in Auslandsvertretungen der DDR bzw. die ständige Ausreise mit dem Personalausweis der DDR über Drittstaaten. 3. Über die zeitweiligen Übergangsregelungen ist die beigefügte Pressemitteilung am 10. November 1989 zu veröffentlichen. Verantwortlich: Regierungssprecher beim Ministerrat der DDR [ Entwurf einer ADN - Pressemeldung ] Berlin ( ADN ) Wie die Presseabteilung des Ministeriums des Innern mitteilt, hat der Ministerrat der DDR beschlossen, daß bis zum Inkrafttreten einer entsprechenden gesetzlichen Regelung durch die Volkskammer folgende zeitweilige Übergangsregelung für Reisen und ständige Ausreisen aus der DDR ins Ausland in Kraft gesetzt wird: 1. Privatreisen nach dem Ausland können ohne Vorliegen von Voraussetzungen ( Reiseanlässe und Verwandtschaftsverhältnisse ) beantragt werden. Die Genehmigungen werden kurzfristig erteilt. Versagungsgründe werden nur in besonderen Ausnahmefällen angewandt. 2. Die zuständigen Abteilungen Pass - und Meldewesen der VPKÄ in der DDR sind angewiesen, Visa zur ständigen Ausreise unverzüglich zu erteilen, ohne daß dafür noch geltende Voraussetzungen für eine ständige Ausreise vorliegen müssen. Die Antragstellung auf ständige Ausreise ist, wie bisher auch, bei den Abteilungen Innere Angelegenheiten möglich. 3. Ständige Ausreisen können über alle Grenzübergangsstellen der DDR zur BRD bzw. zu Berlin ( West ) erfolgen. 4. Damit entfällt die vorübergehend ermöglichte Erteilung von entsprechenden Genehmigungen in Auslandsvertretungen der DDR bzw. die ständige Ausreise mit dem Personalausweis der DDR über Drittstaaten.
11. November 1989 Dok. 73 Meldung der Presseagentur ČTK : 62 500 DDR - Bürger ausgereist Rudé Právo vom 11.11.1989, S. 2.
Übersetzung – Auszug : Der Pressesprecher des Innenministeriums Jiří Bělohlávek teilte heute der Presseagentur ČTK mit, daß aufgrund der Verträge zwischen den Regierungen der BRD, DDR und ĆSSR aus der Tschechoslowakei in die Bundesrepublik
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Deutschland im Zeitraum zwischen dem 4. November 1989 bis zum 10. November 1989, 12.00 Uhr insgesamt 62 500 der DDR - Bürger ausgereist sind. Die Abfertigung verläuft von der tschechoslowakischen Seite zügig, ohne längere Wartefristen. Am Grenzübergang Pomezí, wo mehr als 55 Prozent der DDR Bürger abgefertigt worden ist, bilden sich längere PKW - Schlangen. Die Mitarbeiter der Pass - und Zollbehörde versuchen nach ihren Möglichkeiten, gute Voraussetzungen für die schnelle Abfertigung der tschechoslowakischen Bürger und weiterer Reisenden zu schaffen.
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Quellenverzeichnis Archiv des Ministeriums für Auswärtige Angelegenheiten ( Archiv ministerstva zahraničních věcí ) – AMZV Praha Telegramy odeslané, 1989, sv. 8 und sv. 9 Telegramy přijaté, 1989, sv. 28, sv 34, sv 35, sv 37, sv 38, sv 39
Archiv der Sicherheitsdienste ( Archiv bezpečnostních složek ) – ABS Praha č. j. OV-039/ A-89 Objektový svazek reg. c. 845 (»Obora«)
Bundesarchiv Koblenz – BArch B 136/20224; B 136/21329; B 136/21860; B 136/21861; B 136/33800; B 136/33965
Bundesarchiv Berlin – BArch B / SAPMO-BArch DO 1, 52461; DO 1, 54024 DY 30/5195; DY 30/5196; DY 30/11621; DY 30/ IV /2/1/704; DY 30/ IV /2/2035/35; DY 30/ IV /2/2039/319; DY 30/ IV /2/2039/342; DY 30/ IV /2/2039/349; DY 30/ IV /2/2039/352; DY 30/ J / IV /2/2/2348; DY 30/ J / IV /2/2/2350; DY 30/ J / IV /2/2/2354
Archiv Bürgerbewegung Leipzig e. V. – ABL ABL, Dresden ABL, EA 891003
Der Bundesbeauftragte für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik – BStU Zentralarchiv ( ZA ) Arbeitsbereich Neiber, 553 HA II, 32922; HA II, 38061
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HA VII 2684; HA VII, 6201 Sekretariat. des Ministers, 63 ZAIG 13019; ZAIG 14395; ZAIG 22443; ZAIG 22609; ZAIG 26516 Z-Archiv, RS 101
Außenstelle ( Ast.) Chemnitz AKG 435; AKG 469; AKG 2147
Außenstelle ( ASt.) Dresden Abt. XX, 0185; Abt. XX, 9185; Abt. XX, 9220 Stellv. Operativ, 64 I. Stellv. des Leiters, 1 KD Freital 15178; KD Großenhain 1013; KD Löbau 18008; KD Meißen 38515; KD Riesa 13256; KD Riesa 13456; KD Sebnitz 4258
Deutsches Rotes Kreuz Archiv – DRK 989; 02563; 3166; 04041; 04563
Politisches Archiv des Auswärtigen Amts – PA AA 010, 257751 E 210, 140715 E; 210, 140733 E; 210, 140734 E; 210, 140735 E 214, 139918 E; 214, 140735 E 513, B 85 Nr. 1993 E; 513, B 85 Nr. 2346 E; 513, B 85 Nr. 2347 E; 513, B 85 Nr. 2348 E Bo. Prag, 20682 E; Bo. Prag, 20683 E
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Abkürzungsverzeichnis
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Abkürzungsverzeichnis AA ADN AL AM AMZV BArch BDVP BK BKA BKG BM BMB BMI BPA BRD BStU ( ASt ) CDU ČKD ČLA / ČSLA / ČVA ČSSR CSU ČTK DA DDR DPA DRK EG FDP FMdI FMfAA GBl Gk. GMRE GS GSK GÜST HOD HSP IKRK IM KDfS KOR
Auswärtiges Amt Allgemeiner Deutscher Nachrichtendienst Abteilungsleiter Außenminister ( - ium ) Archiv des tschechischen Außenministeriums Bundesarchiv Bezirksbehörde der Deutschen Volkspolizei Bundeskanzler Bundeskanzleramt Bezirkskoordinierungsgruppe (des MfS) Bundesminister ( - ium ) Innerdeutsches Ministerium ( Bundesministerium für Innerdeutsche Beziehungen ) Bundesministerium des Innern Bundespresseamt Bundesrepublik Deutschland ( Der ) Bundesbeauftragte für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehem. DDR ( Außenstelle ) Christlich Demokratische Union Českomoravská - Kolben - Daněk ( Prager Maschinenbaubetrieb ) Tschechoslowakische Volksarmee Tschechoslowakische Republik Christlich - Soziale Union Tschechoslowakische Presseagentur Dienstanweisung Deutsche Demokratische Republik Deutsche Presseagentur Deutsches Rotes Kreuz Europäische Gemeinschaft Freie Demokratische Partei Föderales Ministerium des Innern Föderales Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten Gesetzblatt Generalkonsulat Gedenkstätte Museum in der »Runden Ecke« Leipzig Generalsekretär Grenzschutzkommando Grenzübergangsstelle Hausordnungsdienst Hromadné Sdělovací Prostředky ( Massenmedien ) Internationales Komitee vom Roten Kreuz Inoffizieller Mitarbeiter (des MfS) Kreisdienststelle für Staatssicherheit Komitet Obrony Robotników (Komitee zur Verteidigung der Arbeiter)
444 KP KPČ KPdSU KPTsch KSE - Vertrag KSZE KZ m. p. MA MBFR MdB MdI MfAA MfNV MfS Mitropa MTI MP NfD NS NSDAP NVA OSL ( O )VIA PBMZKS PKE PUT RA RK RP RVO SAPMO SBZ SED SMAD SMT SPD StäV StB StS Sup. Trapo TSE UdSSR UNO unpag.
Anhang
Kommunistische Partei Kommunistische Partei der Tschechoslowakei Kommunistische Partei der Sowjetunion s. KPČ Vertrag über Konventionelle Streitkräfte in Europa Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa Konzentrationslager manu propria ( eigenhändig ) Militärattaché Mutual Balanced Force Reductions Mitglied des Bundestages Ministerium des Innern Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten Ministerium für Nationale Verteidigung Ministerium für Staatssicherheit Mitteleuropäische Schlafwagen - und Speisewagen Aktiengesellschaft Magyar Távirati Iroda ( Ungarischer Nachrichtendienst ) Ministerpräsident Nur für ( den ) Dienstgebrauch Nationalsozialismus bzw. nationalsozialistisch Nationalsozialistische Arbeiterpartei Deutschlands Nationale Volksarmee Oberstleutnant ( oder ) Vertreter im Amt Mitglied des Politbüros des ZK der SED Passkontrolleinheit Politische Untergrundtätigkeiten Rechtsanwalt Rechtskommission Rude Pravo (Parteizeitung der KPTsch) Reiseverordnung bzw. Ausreiseverordnung Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisationen der DDR Sowjetische Besatzungszone Sozialistische Einheitspartei Deutschlands Sowjetische Militäradministration Sowjetisches Militärtribunal Sozialdemokratische Partei Deutschlands Ständige Vertretung Státní Bezpečnost ( tschechoslowakischer Staatssicherheit ) Staatssekretär Superintendant Transportpolizei Vgl. ČSSR Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken United Nations Organization ( Organisation der Vereinten Nationen ) unpaginiert
Abkürzungsverzeichnis
USAP UVR ÜE v. H. VAM VE VEB VLR VP VPKA VRP VS VVS WAD WB WTsch WÜD ZAIG ZDF ZKG ZOS
Ungarische Sozialistische Arbeiterpartei Ungarische Volksrepublik Übergangsersuchende von Hundert Vertreter des Außenministers Versorgungseinheiten Volkseigener Betrieb Vortragender Legationsrat Volkspolizei Volkspolizeikreisamt Volksrepublik Polen Verschlusssache Vertrauliche Verschlusssache Wiener Abschließendes Dokument Westberlin Interne Fernsprechanlage für geheime Anrufverbindungen im ehem. Ostblock Wiener Übereinkommen über diplomatische Beziehungen Zentrale Auswertungs - und Informationsgruppe Das Zweite Deutsche Fernsehen Zentrale Koodinierungsgruppe (des MfS) Zentraler Operativstab ( des MfS )
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Personenregister
447
Personenregister Adamec, Ladislav 55, 134 f., 139, 143 f., 182, 242, 246, 327, 331, 382 f., 386–388 Adam-Schwaetzer, Irmgard 90 f., 140 Anders, Hardi 135, 381 f. Andersson, Stan 240 Appelius, Stefan 277 Arndt, Otto 146, 388 f. Arnot, Alexander 328 f. Axen, Hermann 96, 100, 102, 133, 139, 144, 200, 212, 348, 350, 352 f., 380, 387 f., 407 Bahr, Egon 431 Baker, Jim 16, 61, 89, 222, 340 f. Bartl, Klaus 364 Bauer, Heinz Erich 296 Beethoven, Ludwig van 34 Bělohlávek, Jiří 435 Bertele, Franz 71*, 161, 170, 192, 420 f. Beyens, Henri 60 Blank, Arnold 296 Blankenhorn, Claus 381 Böhm, Helmut 137, 147 Böhm, Horst 126. 373, 394 f. Böhme, Hans-Joachim 352, 388, 407 Böhnisch, Manfred 381 Bötsch, Wolfgang 345 Boucher, Richard A. 157 Brandl, Ludvik 295 Brandt, Willy 225 f. Braun, Edgar 394 Brinkmann, Peter 219 Brüggemann, Adolf 49, 51, 68*, 76, 78, 86, 146, 185, 330 Bruno, Heinrich 297 Brynda, Jaroslaw 240 Bürger, Karl-Heinz 385 f. Bush, George H. W. 78, 222, 226 f. Čalfa, Marián 247 Carl, Helmut 299 Castro, Fidel 226 Ceauşescu, Nikolae 226, 272 Česka, Anežka (Agnes von Böhmen) 268 f.
Dake, Zhang 102 Dausch, Thomas 299 Delacroix, Eugéne 270 Derix, Christoph 372 Devaux, Ralf-Peter 356 Dick, Johann 299 Dickel, Friedrich 145, 173, 388 f. Dohlus, Horst Paul 352, 388, 407 Doudera, Karel 159, 404 Dregger, Alfred 345 Dubček, Alexander 239, 242, 246 Duisberg, Claus-Jürgen 18, 20, 78, 108, 119, 125, 196, 356 f., 358, 420, 425 Dumas, Roland 16, 89, 340 f. Eberlein, Werner 352, 388, 407 Ehrman, Riccardo 218 Elbe, Frank 16, 18, 20, 88, 108, 111–113, 335, 337, 340 f., 357 f. Emmerich, Mitarbeiter des DRK 429 Felbiger, Max 296 Ferworn, Hartmut 60 Fischer, Oskar 15, 16 f., 20, 31, 62 f., 85–87, 92, 98, 104–106, 119 f., 131, 136 f., 144, 193, 195–198, 253 f., 258, 323, 329 f., 340 f., 353, 369–371, 379, 384, 386 f., 410, 420 f., 424, 426, 428, 433 Fojtik, Jan 333, 347 Fuchs, František 295 Geggel, Heinz 408 Gehlert, Siegfried 397 Geißler, Heiner 42 Genscher, Hans-Dietrich 17 f., 30, 36, 41 f., 55, 58, 61 f., 69, 73–76, 84–89, 91, 99, 102, 105–112, 114–116, 118 f., 129, 140, 157, 172, 198 f., 226, 254, 260, 327*, 331, 335, 340, 342, 345, 349 f., 352, 356 f., 359, 369–371, 398, 407, 437 Gerecke, Werner 276*, 290 f., 295 Glotz, Peter 52, 64 Gorbatschow, Michail Sergejewitsch 14, 17, 28, 30, 39, 44, 85, 89, 162–164, 176,
448 188, 222 f., 225 f., 257, 264, 272, 398, 411 Großmann, Werner 348, 428, 433 Gysi, Gregor 12, 67, 209 Hager, Kurt 200, 212, 352, 388, 407 Hassler, Frank 153 f. Havel, Václav 38, 153, 235 f., 240, 242, 246 f., 262, 267 f., 308, 336 Henlein, Konrad 160, 404 Herbstritt, Georg 277 Herger, Wolfgang 130, 380, 408 Herrmann, Joachim 344 f., 389 Hildebrandt, Alexandra 288 Hiller, Armin 185, 190 f., 200–202, 217, 414–419, 431 f. Hoffmeister, Kurt 298 Holik, Josef 161 Honecker, Erich 15, 21, 26, 31, 36, 43, 66 f., 79, 86, 98, 99, 102-105, 107, 114, 119 f., 122, 129, 131 f., 136 f., 143-145, 162 f., 166, 168, 173, 176, 235, 253–255, 256, 272, 309, 321 f., 333, 344, 352 f, 355 f., 367, 369, 375, 379 f., 384, 386–389, 402 Horn, Gyula 11, 17, 29, 39, 41, 106, 265, 371 Höynck, Wilhelm 72*, 117, 161, 175, 334 f., 346 Huber, Alois 297 Huber, Hermann 12, 19, 35 f., 44, 48, 52, 55 f., 60 f., 68 f., 71, 73,77, 80, 83, 87, 94, 108f., 117–119, 121, 124, 127, 155, 171– 174, 183 f., 327, 329, 331–334, 336–340, 344, 354 f., 374 f., 390 f., 396 f., 407, 421 Hubrich, Gotthard 366 Husák, Gustáv 245 f. Il-sung, Kim 226 Irmler, Werner 397 Jäger, Harald 220 f. Jahn, Günther 217 Jakeš, Miloš 55, 61 f., 92, 98, 99, 104 f., 131, 143, 145, 171, 180, 193, 196 f., 201, 228, 235, 240, 272, 256–258, 327, 330–333, 337, 342, 344 f., 349, 352 f., 356, 379, 387–389, 422–426
Anhang
Jansen, Michael 18, 20, 108, 357 f. Jarowinsky, Werner 224, 352, 388, 407 Jaruzelski, Wojciech 104, 353 Jerke, Albert 297 Johanes, Jaromír 16, 52, 55 f., 61, 68, 73– 76, 84, 87, 89, 91, 98, 102, 114, 330 f., 335 f., 338, 340 f., 345, 348–350, 352, 355, 370, 431 Jugel, Kerstin 402 Kadnár, Milan 62 f., 69, 76, 94 f., 108, 124, 133, 160 f., 172 f., 179, 330 f., 333, 347 f. Kastrup, Dieter 18, 55, 71*, 108, 129, 161, 327, 335 f., 356 Kessler, Franz-Josef 12 Keßler, Heinz 79, 145, 150, 352, 388 f., 407 Kienle, Karl Heinz 429 Kleiber, Günther 144, 352, 388, 407 Kočárek, Miloslav 201 Kohl, Helmut 42, 92, 106 f., 129, 134 f., 182 f., 213, 222, 226 f., 321, 343, 345 f., 356, 367, 369, 382, 409–414 Kolbeck, Ludvík 298 Kornai, Jánosz 266 Kotschemassow, Wjatscheslaw 224 f. Kramár, Ivan 161, 175 Kreim, Anton 298 Kremer, Roland 298 Krenz, Egon 51, 125, 130, 132, 176, 180– 183, 186, 188, 192 f., 196–198, 200 f., 208–210, 217 f., 223–225, 227, 257 f., 266, 315, 352, 375 f., 379, 384, 386–389, 407, 409–414, 420–424, 426 Krolikowski, Herbert 139, 144, 192 f., 212, 350, 352 f., 356, 379 f., 384, 386–389, 407, 421 f. Kühnel, Michael 292 f., 299 Kunzmann, Karl-Heinz 207, 426 Lafontaine, Oskar 423 Lange, Ingeburg 352, 388, 408 Langer, František 90, 95, 100, 128, 132 f., 144, 147, 178 f., 181, 192 f., 348, 350, 380, 422, 433 Lautenschlager, Hans-Werner 345 Leder, Ludwík 297
449
Personenregister
Lenárt, Jozef 64, 95, 99 f., 102, 131, 133, 139, 143, 167, 180, 254, 347–350, 379 f., 387, 433 Lettang, Christine 429 Linzmaier, Franz 296 Lippelt, Helmut 385 Lomakin, Andrei Wjatscheslawowoitsch 99, 349 f. Lončar, Budimir 16, 89 Lorenz, Siegfried 146, 352, 388, 407 Martin, Arno 291, 296 Mauersberger, Heinz-Uwe 276*, 297 Mazowiecki, Tadeusz 265 Mejtřík, Martin 231 Meyer, Wolfgang 367 Michal, Wolfgang 295 Mielke, Erich 36, 144, 132, 145, 149, 173, 200, 212, 309 f., 352, 380, 388 f., 394, 407 Mischnik, Wolfgang 345 Mittag, Günter 330, 350, 352, 388, 394 Mitterrand, François 226 Mittig, Rudi 79, 356, 428, 433 Mock, Alois 11, 29, 39, 265 Modrow, Hans 146, 149, 158, 400 Mohorita, Vasil 233 Mückenberger, Erich 200, 212, 352, 388, 407 Mulack, Gunter 311, 319, 328 Müller, Gerhard 352, 388, 408 Müller, Margarete 352, 388, 408 Müller, Max 295 Murmann, Klaus 431 Naumann, H. 352, 388, 408 Neiber, Gerhard 356, 394, 397, 428, 433 f., 439 Németh, Miklós 65 f. Neubauer, Horst 18 f., 104, 106–109, 119, 125, 129, 134, 145, 191, 353, 356 f., 389, 425 Neuer, Walter 382 f. Neumann, Alfred 200, 212, 352, 388, 407 Niebling, Gerhard 120, 359, 397 Niklas, Manfred 17, 105 f. Nirschl, Georg 296
Novotný, Antonín 94, 377, 347 f. Nusser, George 298 Ott, Harry 179, 329, 422, 428, 433 Palach, Jan 37–39, 267 Pankratz, Michal 297 Pallaske, Hans 391 Pavel, Josef 280, 347 Platiel, Peter 354, 419 Plewa, Klaus 354, 374, 390, 396, 416, 418, 431 Podlena, František 143 f., 388 Powell, Charles 222 Priesnitz, Walter 18, 20, 71*, 108, 356, 420 Prosetzky, Werner 428, 433 Prziborowski, Frank Ralf 298 Pulec, Martin 276 Punchner, Ondřej 296 Rau, Johannes 431 Reutler, Klaus 381 Röder, Hila 64 Rühe, Volker 42 Rünger, Detlev 184 f., 201, 354, 374, 390, 396, 414, 416, 418, 431 Sadovsky, Pavel 63, 71–74, 82–84, 87, 93, 95, 100 f., 114, 117, 133, 179 f., 192 f., 202, 214, 334, 338, 348–351, 355 f., 423, 433 Saurien, Peter 300 Sayn-Wittgenstein, Botho von 86, 93 f., 190, 198, 345, 391, 419 f. Schabowski, Günter 61, 218–220, 332 f., 352, 407 Schäfer, Horst 44 Schalck-Golodkowski, Alexander 210 Schäuble, Wolfgang 210 Schewardnadse, Eduard 11, 14, 16, 31, 58, 78 f., 85, 88 f., 98, 99, 102, 105, 119, 225, 253, 323 f., 340 f., 349, 352, 369–371 Schierack, Martin 381 Schiwkow, Todor 226 Schlenz, Richard 298 Schmidt, Gerhard 298 Schreiber, Heinz 381 Schröder, Waltraud 391, 405 f., 419, 432
450 Schrömbgens, Gerhard Enver 372 Schumann, Wolfgang 293 f. Schürer, Gerhard Paul 65f., 224, 352, 388, 408 Schwab, Helmut 291 f. Schwanitz, Wolfgang 356 Schwertner, Edwin 353, 388, 407 Schwiesau, Hermann 428, 433, 329, 332 Seebode, Christian 337 Seidel, Karl 161, 428 Seiters, Rudolf 15, 17–19, 63, 66–68, 78, 106–109, 111, 125, 134, 145, 191, 210, 213, 333–335, 339, 356 f., 359, 389, 410, 413, 420 Sens, Manfred 228 f. Sieber, Günter 96, 98*, 329, 348, 350, 380, 388, 420 Sindermann, Horst 220, 388, 407 Skubiszewski, Krzysztof 19, 84 f. Šmíd, Martin 230 f. Snetkow, Boris Wassiljewitsch 209, 226 Sommer, Manfred 397 Soukup, Jan 94, 347 Soukup, Jaroslav 292 Spácil, Dušan 89, 91, 117, 124 f., 129, 175, 179, 192, 350, 372 Specht, Wilhelm 295 Speck, Manfred 356 Stadtmüller, Mitarbeiter des DRK 429 Stauber, František 295 Štefaňák, Michal 64, 95, 347 f. Stegemann, Peter 294 Steidel, Bernd 381 Steiner, Michael 212, 430 f. Štěpán, Miroslav 61, 102, 332, 352 Stoph, Willi 139, 212, 217, 352, 387 f., 407, 434 Strecker, Kevin 300 Strumpf, Heinz 276*, 298 Sudars, Dieter 292, 297 Sudhoff, Jürgen 18, 67 f., 82–84, 91, 93, 107, 124 f., 127, 191 f., 320 f., 335, 338, 342, 355, 349 f., 357, 359 Sulzer, Alois 297
Anhang
Süssmuth, Rita 42 Tantzscher, Monika 278 Tautz, Harthmut 299 Temple-Black, Shirley 61 Thatcher, Margaret 222 f., 226 f. Tippmann, Ernst 276*, 296 Tisch, Harry 212, 388, 407 Tomášek, František 87, 241, 269, 337 Tschernjajew, Anatolij 226 Václavík, Milan 237, 239 Vedrine, Hubert 223 Větrovec, Josef 133 Vitou, (Oberst und Leiter der tschechoslowakischen Grenzabteilung) 75 Vogel, Hans-Jochen 345, 431 Vogel, Horst 385, 356 Vogel, Wolfgang 12, 35, 37, 44 f., 63 f., 66 f., 71*, 77–80, 82, 102, 115, 121, 126, 155, 158, 160 f., 170, 175, 184, 211, 256, 333-335, 338 f., 346, 351, 358, 364, 374, 397 432 Vogl, Josef 295 Vollmer, Antje 345 Vondra, Alexander 38 Vranitzky, Franz 182 Walde, Werner 352, 388, 408 Walesa, Lech 265 Weber, Carl Maria von 35 Wenda, Brigitte 71, 300 Wenda, Jens 71, 300 Wolf, Christa 213 Xiaoping, Deng 226 Ziebart, Helmut 63, 84, 99, 100–103, 105, 114, 131, 133 f., 139, 143 f., 161, 179 f., 183, 193, 196, 202, 214 f., 253–256, 329 f., 347, 350, 352, 379, 386 f., 422– 425, 428, 433 Ziegenhorn, Rudolf 220 Ziemer, Christof 395
Danksagung
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Danksagung An der vorliegenden Darstellung und Dokumentation waren neben dem Verfasser weitere Autoren und Mitarbeiter beteiligt. Insgesamt wurden mehrere tausend deutsche und tschechische Archivdokumente von Alexander Becker vom Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung e. V. an der TU Dresden, David Vodička sowie Michaela Dvořáková, Jitka Mervartová und Alena Urbanová von der Philosophischen Fakultät der Jan-Evangelista-Purkyně-Universität in Ústí nad Labem / Aussig durchgesehen und ausgewertet. Vor Beginn der Arbeiten an diesem Werk hatte Dr. Michael Richter bereits einen umfangreichen Quellenfundus deutscher Dokumente zusammengetragen. Insgesamt war es ein spannendes Unternehmen, die ostdeutschen und tschechoslowakischen Geheimdienstdokumente mit dem diplomatischen Schriftverkehr der Bundesrepublik Deutschland, der DDR und der ČSSR zusammenzuführen und die geschichtlichen Ereignisse in trilateraler Perspektive zu rekonstruieren. Jan Gülzau, Doktorand am Lehrstuhl für Neuere und Zeitgeschichte an der Universität Leipzig, hat als Mitautor wesentliche Teile des Kapitels über die Grenztoten verfasst und sich darüber hinaus gemeinsam mit Barbara Vodička und Thomas Bussemer um das Lektorat gekümmert. Tatkräftige Unterstützung habe ich auch vom Direktor des HAIT, Günther Heydemann, dessen Stellvertreter, Clemens Vollnhals, sowie von Walter Heidenreich erfahren. Die Philosophische Fakultät der Jan-Evangelista-Purkyně-Universität, namentlich ihr Dekan, Aleš Havlíček, war ein ausgezeichneter Projektpartner. Mein herzlicher Dank an alle Beteiligten! Ein besonderer Dank gebührt darüber hinaus Herrn Bundesaußenminister a. D. Hans-Dietrich Genscher, der einer der Hauptakteure der weltgeschichtlichen Ereignisse rund um die Prager Botschaft gewesen ist. Er hat seine Mitwirkung am vorliegenden Werk spontan zugesagt, ist Autor des Prologs und hat auch das Motto formuliert. In gleicher Weise ist Petr Pithart zu danken, einer Schlüsselfigur der »Samtenen Revolution« von Prag, der in einem eigenen Kapitel für dieses Buch die Rolle des Flüchtlingsgeschehens und des Mauerfalls für die Massenerhebungen in der Tschechoslowakei überzeugend dargestellt hat. Dieses Buch wurde von der Bundesstiftung Aufarbeitung, Berlin, und dem Deutsch-Tschechischen Zukunftsfonds, Prag, im Rahmen des Projekts »Die Prager Botschaftsflüchtlinge 1989. Geschichte, Bilder und Dokumente für die politische Bildungsarbeit« gefördert. Ohne die finanzielle Unterstützung beider Einrichtungen wäre das vorliegende Werk nicht zustande gekommen. Unser aufrichtiger Dank geht an beide Institutionen. Mit ihrer Hilfe konnte eine Dokumentation erstellt werden, die zeithistorische Darstellung und Analyse mit Zeitzeugenschaft verbindet. Ziel des Projekts war es durchweg, die einzelnen Phasen dieses entscheidenden Geschichtsereignisses sorgfältig auf breiter Quellenbasis zu rekonstruieren, um die Wechselwirkungen des Flüchtlingsdramas mit
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Anhang
den friedlichen Revolutionen in der DDR und der ČSSR aufzuzeigen. Nicht zuletzt soll dadurch auch ein Beitrag zur Herausbildung einer gemeinsamen deutsch-tschechischen und europäischen Erinnerungskultur geleistet werden. Karlsruhe, 13. März 2014
Karel Vodička
Autoren
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Autoren Hans-Dietrich Genscher, geb. 1927, 1974–1992 Bundesaußenminister der Bundesrepublik Deutschland, einer der maßgeblichen Akteure der weltgeschichtlichen Ereignisse um die Prager Botschaft im Herbst 1989. Jan Gülzau, geb. 1980, Doktorand am Lehrstuhl für Neuere und Zeitgeschichte, Prof. Dr. Günther Heydemann, an der Universität Leipzig. Petr Pithart, geb. 1941, Dr., eine der Schlüsselfiguren der »Samtenen Revolution« von Prag, 1977 Unterzeichner der »Charta 77«. Im Herbst 1989 Mitbegründer des »Občanské fórum« an der Seite von Václav Havel. Ministerpräsident der Tschechischen Republik a. D. und Senatspräsident a. D., Dozent an der Juristischen Fakultät der Prager Karls-Universität. Karel Vodička, geb. 1949, Dr., Jurist und Politikwissenschaftler, 1985 aus der ČSSR ins politische Exil geflüchtet, Projektmitarbeiter am Hannah-ArendtInstitut für Totalitarismusforschung an der TU Dresden sowie Lehrbeauftragter an der Philosophischen Fakultät der Jan-Evangelista-Purkyně Universität in Ústí nad Labem.