Gott ist es ja, der uns für gerecht erklärt: Eine Studie zu den verschiedenen Bedeutungen und Funktionen der δικαι-Termini im Römerbrief [1 ed.] 9783666560880, 9783525560884


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Gott ist es ja, der uns für gerecht erklärt: Eine Studie zu den verschiedenen Bedeutungen und Funktionen der δικαι-Termini im Römerbrief [1 ed.]
 9783666560880, 9783525560884

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Wissenschaftliche Monographien zum Alten und Neuen Testament 167

Seo-Jun Kim

Gott ist es ja, der uns für gerecht erklärt Eine Studie zu den verschiedenen Bedeutungen und Funktionen der δικαι-Termini im Römerbrief

Wissenschaftliche Monographien zum Alten und Neuen Testament Begründet von Günther Bornkamm und Gerhard von Rad Herausgegeben von David S. du Toit, Martin Leuenberger, Johannes Schnocks und Michael Tilly

167. Band

Seo-Jun Kim

Gott ist es ja, der uns für gerecht erklärt Eine Studie zu den verschiedenen Bedeutungen und Funktionen der δικαι-Termini im Römerbrief

Vandenhoeck & Ruprecht

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar. © 2023 Vandenhoeck & Ruprecht, Robert-Bosch-Breite 10, D-37079 Göttingen, ein Imprint der Brill-Gruppe (Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA; Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland; Brill Österreich GmbH, Wien, Österreich) Koninklijke Brill NV umfasst die Imprints Brill, Brill Nijhoff, Brill Hotei, Brill Schöningh, Brill Fink, Brill mentis, Vandenhoeck & Ruprecht, Böhlau, V&R unipress und Wageningen Academic. Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Satz: le-tex publishing services, Leipzig Umschlaggestaltung: SchwabScantechnik, Göttingen

Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISSN 2567-9694 ISBN 978-3-666-56088-0

죄와 불의 가운데 고난당하는 사람들에게 (Den unter Sünde und Ungerechtigkeit Leidenden)

Vorwort

Die vorliegende Arbeit wurde im Sommersemester 2019 von der Theologischen Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin als Dissertation angenommen. Für die Drucklegung wurde sie geringfügig überarbeitet und stellenweise ergänzt. Die Fertigstellung meiner Dissertation, an der ich zwischen April 2011 und Mai 2019 gearbeitet habe, wäre nicht möglich gewesen ohne die tatkräftige, großzügige und geduldige Unterstützung einer Vielzahl von Menschen aus ganz verschiedenen Bereichen. Zunächst möchte ich meinem geschätzten Doktorvater, Herrn Prof. Dr. Cilliers Breytenbach, danken. Von ihm habe ich vieles gelernt – nicht nur bezüglich des Themas meiner Doktorarbeit. Er hat mir darüber hinaus historisches und archäologisches Wissen vermittelt, das sich für das Studium des Neuen Testaments als äußerst hilfreich erwiesen hat, und mich mit zeitgemäßen praktischen Methoden der exegetischen Forschung vertraut gemacht. Nicht zuletzt möchte ich meinem Doktorvater auch für all seine Hilfe und Unterstützung danken, die es mir ermöglichte, mich während meines Aufenthalts in Deutschland voll und ganz auf meine Forschung zu konzentrieren. Meinen besonderen Dank möchte ich Ines Löchert, Sekretärin an der Theologischen Fakultät an der Humboldt-Universität zu Berlin, aussprechen, die mich vom ersten Besuch bei meinem Doktorvater bis zu meinem Abschluss mit unerschütterlicher Freundlichkeit und Aufmerksamkeit begleitet hat. Ihren Bemühungen verdanke ich die mir wertvollen und bleibenden Erinnerungen an die sommerlichen Grillpartys, Weihnachtsfeiern und die wöchentlichen Treffen zum gemeinsamen Tee. Auf ihre Anteilnahme und ihr offenes Ohr konnte ich mich auch in für mich schwierigeren Zeiten stets verlassen. Ich danke ebenfalls Herrn Prof. Dr. Michael Wolter, dem Zweitgutachter meiner Doktorarbeit, dessen scharfsinnigen Fragen und nützlichen Ratschlägen in seinem ausführlichen Gutachten ich viele Einsichten verdanke. Sein Kommentar zum Römerbrief hat mir in vielerlei Hinsicht den Weg gewiesen und es war mir eine große Ehre, einen solch ausgewiesenen Experten für den Römerbrief als Gutachter für meine Dissertation gewinnen zu können. Seine kritischen Rückmeldungen haben mir sehr geholfen, die These meiner Arbeit zu entwickeln. Außerdem möchte ich Herrn Prof. Dr. David S. du Toit und Herrn Prof. Dr. Michael Tilly meinen aufrichtigen Dank dafür aussprechen, dass er die Veröffentlichung meiner Dissertation in den „Wissenschaftlichen Monographien zum Alten und Neuen Testament“ ermöglicht hat. Es ehrt mich, dass meine Forschung über die paulinische Gerechtigkeitsterminologie in diese bedeutende Reihe aufgenom-

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Vorwort

men worden ist, und ich hoffe, dass sie all denen, die Paulus’ Gedanken verstehen wollen, eine Hilfe sein wird. Ich möchte mich auch bei Herrn Izaak de Hulster, Frau Miriam Lux und Frau Jacqueline Eller vom Verlag Vandenhoeck & Ruprecht für die harte und akribische Arbeit am Buch bedanken. Ich werde auch die Freunde aus der Theologischen Fakultät an der HumboldtUniversität zu Berlin – Henrik Althöhn, Marcus König, Yannik Steffens, Martin Rohde, Vinzent Dirzus, Cornelius Brühn u. a. –, die mir in so vielem Rückhalt gegeben haben, nie vergessen. Sie haben mir – als ich mein Studium in einer fremden Sprache an einem fremden Ort, in Berlin, in Deutschland, aufnahm – über so manche Hürden und Zweifel hinweg geholfen und es mir leicht gemacht, mich in das theologische Klima der Humboldt-Universität einzufügen. Ich möchte meinen aufrichtigen Dank an all meine Freunde aussprechen, die mir in schwierigen Zeiten Mut und Trost gespendet haben. Außerdem möchte ich den Freunden danken, die ich im Theologischen Konvikt getroffen habe, das über acht Jahre hinweg mein Zuhause war: Patrick Hommel, Veronika Weber, Juliane Busch, Lars Städter u. a. Mit ihrer Hilfe konnte ich mich im Konvikt wirklich wie zu Hause fühlen. Durch die täglichen Gespräche und Veranstaltungen im Wohnheim habe ich die christliche Tradition und die traditionelle Kultur in Deutschland sehr tiefgründig kennen- und die ganz unterschiedlichen Freunde respektieren und lieben gelernt. Die Zahl der Menschen, die mich während meines Aufenthalts in Deutschland unterstützt und gefördert haben, ist zu groß, als dass ich sie hier alle namentlich hätte aufzählen können. Aber einige von ihnen wollte ich dennoch stellvertretend nennen. Ebenfalls möchte ich dem DAAD für seine Unterstützung danken, die meine Forschung zum Erfolg geführt hat. Es war mir eine große Ehre, als Mitglied des DAAD zu studieren, und wenn sich die Möglichkeit ergeben sollte, werde ich mit Freude einen Beitrag zum akademischen und kulturellen Austausch zwischen Korea und Deutschland leisten. Vielen Dank an den Ältesten der Kirchengemeinde Neu-Westend in Berlin, Herrn Hartmut Horstkotte, der mich in seinem Haus aufnahm, als ich dringend Unterkunft benötigte. Auch wenn er nicht mehr auf dieser Erde weilt, bleiben seine herzliche Fürsorge und Rücksichtnahme für mich als Ausländer tief in meinem Herzen. Vielen Dank auch an Herrn Wilhelm Hüffmeier. Er hat als pensionierter Pastor für mich die Rolle eines Mentors übernommen und weder Kosten noch Mühen für mich gescheut. Zudem möchte ich der ESG und der Charité meinen Dank aussprechen, die mir geholfen haben, als ich aufgrund einer dringenden Operation in finanzielle Schwierigkeiten geriet. Zu Dank verpflichtet bin ich außerdem Pastor Sung-Kyu Kim, den Ältesten und den anderen Mitgliedern der Somang-Gemeinde in Berlin. Es war eine große Freude für mich, dort Gottesdienst feiern und die Gemeinschaft mit gläubigen Menschen erleben zu dürfen.

Vorwort

Abschließend möchte ich meine tiefe Dankbarkeit für das Engagement und die Liebe meiner Familie zum Ausdruck bringen. Ich möchte meinem Vater Man-Deok Kim und meiner Mutter Kyung-Sook Lee danken, die mich mit großer Liebe und Hingabe erzogen und mir das Lernen beigebracht haben. Wenn ich irgendetwas erreicht habe, dann dank ihrer Liebe und Opferbereitschaft. Ich bin auch meinem geliebten Bruder Min-Jun Kim, seiner Frau Seo-Ha Lee und seinem Sohn Ra-On Kim dankbar – eine wertvolle Familie, die für mich gebetet und mich unterstützt hat, als ich in Deutschland war. Besonders dankbar bin ich schließlich meiner geliebten Frau Jung-Hwa Kim. Seitdem wir im April eine Familie gegründet haben, begleiten mich ihre Liebe und Hingabe. Mit ihr an meiner Seite kann ich ein besseres Leben führen. Seo-Jun Kim Daegu, im Oktober 2022

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Inhaltsverzeichnis

Vorwort ................................................................................................ I.

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Einleitung: Zu Ansatz und Fragestellung der Arbeit in forschungsgeschichtlicher Perspektive ............................................. A. Eine Skizze der neueren Forschung ............................................... 1. Die Debatte zwischen Käsemann und Bultmann ........................ 2. Die weitere Diskussion zwischen den Schülern Käsemanns und Bultmanns .................................................... 3. Jüngere und jüngste Forschung: Die Durchsetzung von Käsemanns These und geringfügige Kritik an ihr........................ 4. Fazit ..................................................................................... B. Kritische Rezeption der Forschung und Explikation der Fragestellung ........................................................................ 1. Philologisch-Semantische Probleme ......................................... 1.1 Zur Interpretation des Begriffs δικαιοσύνη und der Genitivformulierung δικαιοσύνη θεοῦ bei Paulus....... 1.2 Zur Semantik des Verbs δικαιοῦν .................................. 2. Traditionsgeschichtliche Probleme ...........................................

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II. Die Gerechtigkeitsaussagen in der paganen Gräzität......................... A. δίκη, δίκαιος, δικαιοσύνη ............................................................ 1. Die Zeit vor Platon ................................................................ 2. Platon ................................................................................... 3. Aristoteles ............................................................................. 4. Fazit ..................................................................................... B. δικαιοῦν .................................................................................... 1. Aischylos............................................................................... 2. Thukydides............................................................................ 3. Sophokles.............................................................................. 4. Herodot ................................................................................ 5. Platon ................................................................................... 6. Aristoteles ............................................................................. 7. Polybios ................................................................................ 8. Plutarch ................................................................................ 9. Fazit .....................................................................................

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Inhaltsverzeichnis

III. Die Gerechtigkeitsaussagen im Alten Testament .............................. A. ‫צדק‬-Terminologie in den masoretischen Texten.............................. B. δικαι-Terminologie im griechischen Alten Testament...................... 1. δίκαιος, δικαιοσύνη ................................................................ 1.1 In Bezug auf Gott ....................................................... 1.2 In Bezug auf Menschen ................................................ Exkurs: Die Interpretation von GenLXX 15,6 ................................... Exkurs: Merkmale des Sprachgebrauchs von δικαιοσύνη im griechischen Alten Testament .................................................. 2. Das Verb δικαιοῦν ................................................................. 2.1 In Bezug auf Gott ....................................................... 2.1.1 Aktiv ......................................................................... 2.1.2 Passiv......................................................................... 2.2 In Bezug auf Menschen ................................................ 2.2.1 Aktiv ......................................................................... 2.2.2 Passiv......................................................................... C. Fazit.......................................................................................... IV. Die Gerechtigkeitsaussagen in jüdischen und intertestamentarischen Schriften .................................................... A. Die vom griechisch-philosophischen Denken beeinflussten Schriften.................................................................................... 1. Aristeasbrief .......................................................................... 2. Das 4. Makkabäerbuch............................................................ 3. Philo..................................................................................... 4. Josephus................................................................................ 5. Weisheit Salomos ................................................................... B. Die vor israelitisch-jüdischem Hintergrund stehenden Schriften....... 1. Das äthiopische Henochbuch ................................................... 2. Tobit ..................................................................................... 3. Jesus Sirach ........................................................................... 4. Jubiläen................................................................................. 5. Das 1. Makkabäerbuch............................................................ 6. Psalmen Salomos ................................................................... 7. Das 4. Buch Esra .................................................................... 8. Testamente der zwölf Patriarchen ............................................. 9. Qumranschriften.................................................................... C. Fazit..........................................................................................

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V. Die Gerechtigkeitsaussagen im Römerbrief ...................................... A. Der im Evangelium offenbarte Heilsweg – „Gerechtigkeit aus dem Christusglauben“: Röm 1,16-17 ........................................ 1. Das Evangelium: Die Kraft Gottes zur Errettung für jeden Glaubenden (1,16) ......................................................... 2. Das Verständnis von δικαιοσύνη θεοῦ im Zusammenhang mit ἐκ πίστεως εἰς πίστιν ................................. 3. Der semantische Zusammenhang von δικαιοσύνη θεοῦ … ἐκ πίστεως εἰς πίστιν und dem Schriftzitat Hab 2,4b ............... 4. Zum Verständnis der gesamten Aussage δικαιοσύνη γὰρ θεοῦ ἐν αὐτῷ ἀποκαλύπτεται ἐκ πίστεως εἰς πίστιν .............. B. Das gerechte Gericht Gottes ohne Ansehen der Person: Röm 2,1-16 ................................................................................ 1. Das gerechte Gericht Gottes über die sündigen Juden (2,1-5)................................................................................... 2. Das Gericht Gottes ergeht über Juden und Nichtjuden gleichermaßen (2,6-11) ........................................................... 3. Das gerechte Gericht Gottes nach den Taten: Das Besitzen des Gesetzes hat keine Bedeutung (2,12-16) ........... 3.1 Sündigen ohne das Gesetz und durch das Gesetz macht keinen Unterschied (V 12) ........................ 3.2 Nicht die Hörer, sondern die Täter des Gesetzes werden als gerecht anerkannt (V 13) .............................. 3.3 Das Erfüllen der Gesetzesforderung der Nichtjuden, die die Tora nicht haben (V 14-16) ............... C. Gott ist treu, wahrhaftig und gerecht: Röm 3,1-8 ............................. 1. Die Untreue der Juden und die Treue Gottes, lügende Menschen und wahrhaftiger Gott (3,1-4)................................... 1.1 Die Untreue der Juden und die Treue Gottes (V 1-3) ....................................................................... 1.2 πίστις τοῦ θεοῦ als Bundestreue Gottes? ......................... 1.3 Lügende Menschen und wahrhaftiger Gott (V 4) ............ 2. Das Gericht Gottes über die Ungerechtigkeit des Menschen ist gerecht (3,5-8) .................................................... 2.1 Die Ungerechtigkeit des Menschen und die Gerechtigkeit Gottes (V 5-6) ......................................... 2.2 Die Bedeutung von θεοῦ δικαιοσύνη ............................. 2.3 Die weitergehende Verteidigung gegen die jüdischen Einwände (V 7-8)..........................................

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D. Kein Mensch wird aus Werken des Gesetzes gerecht: Röm 3,9-20 ............................................................................... 1. Feststellung: Juden und Griechen sind alle unter der Sünde (3,9) ............................................................................ 2. Die Begründung mit Schriftzitaten: Es gibt keinen Gerechten (3,10-18)................................................................ 3. Das Gesetz führt nicht zur Rechtfertigung, sondern zur Verdammnis (3,19-20) ........................................................... 3.1 Die Gerichtsverfallenheit aller Menschen (V 19) ............. 3.2 Zur Feststellung: Kein Mensch wird aus Werken des Gesetzes gerechtfertigt (V 20) .................................. E. Die Gerechtigkeit Gottes und seine universal gültige Rechtfertigung der Menschen: Röm 3,21-31 .................................. 1. Die Rechtfertigung aus dem Glauben und die sich darin manifestierende Gerechtigkeit Gottes (3,21-26) .......................... 1.1 Überblick über die Argumentation und die Verwendung der δικαι-Begriffe ..................................... 1.2 „Die Gerechtigkeit Gottes“ – nicht aus den Gesetzeswerken, sondern aus dem Christusglauben (3,21-22) ............................................ 1.3 Die sich in der Rechtfertigung der Sünder erweisende Gerechtigkeit Gottes (3,22c-26) .................... 1.3.1 Die universale Sündenverfallenheit aller Menschen (V 22c-23)................................................... 1.3.2 Die Rechtfertigung der Sünder und die sich darin erweisende Gerechtigkeit Gottes (V 24-26)............. 1.3.2.1 „Umsonst gerechtfertigt aufgrund von Gottes Wohlgefallen“ (V 24).................................................... 1.3.2.2 Der Tod Christi als von Gott hingestelltes ἱλαστήριον (V 25a) ...................................................... Exkurs: Die Bedeutung von ἱλαστήριον in Röm 3,25 ....................... 1.3.2.3 Der Erweis der Gerechtigkeit Gottes in seinem Heilshandeln (V 25b-26) .............................................. 2. Die universal geltende Rechtfertigung aus dem Glauben (3,27-31) ............................................................................... 2.1 Ausschluss des Selbstruhms in der Rechtfertigung aus dem Glauben (V 27) ........................ 2.2 Der einzige Gott rechtfertigt Juden wie Nichtjuden aus dem Glauben (V 28-30) .........................

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2.3

„Wir richten durch den Glauben das Gesetz auf “: Das einleitende Wort zur Auslegung der Abrahamsgeschichte (V 31) .......................................... F. Abrahams Rechtfertigung aus dem Glauben und seine Vaterschaft aller Glaubenden: Röm 4,1-25...................................... 1. Die einleitende rhetorische Frage: Ist Abraham nach dem Fleisch unser Vater geworden? (4,1)................................... 2. Gen 15,6 als Schriftbeweis für die Rechtfertigung aus dem Glauben, nicht aus Werken (4,2-5)..................................... 2.1 Die Verbindung von πίστις und δικαιοσύνη in Gen 15,6 als semantischer Schlüssel für die paulinische Rechtfertigungslehre ................................... 2.2 Zur parallelen Verwendung von λογίζεσθαι δικαιοσύνην und δικαιοῦν in V 2-5 ............................... 2.3 Die Rechtfertigung des Gottlosen, der sein Vertrauen auf Gott setzt (V 4-5) .................................... 3. Die Seligpreisung Davids in Ps 32 (31) als Schriftbeweis für die Rechtfertigung ohne Werke (4,6-8)................................. 4. Abraham als Vater aller Glaubenden, der unbeschnittenen wie der beschnittenen (4,9-12)......................... 4.1 Das Argument: Die Rechtfertigung Abrahams im Zustand der Unbeschnittenheit (V 9-10).................... 4.2 Die neue Interpretation der Beschneidung Abrahams und dessen Vaterschaft aller Glaubenden (V 11-12) ................................................. 5. Die Abrahamskindschaft und deren Erbschaft für die Glaubenden (4,13-17a) ........................................................... 5.1 Die Erbverheißung aufgrund der Glaubensgerechtigkeit (V 13) ........................................ 5.2 Die Abrahamskindschaft: Die Geltung der Verheißung für alle Glaubenden (V 14-17a).................... 6. Abrahams Glaubensgerechtigkeit als Vorbild für die Gerechtigkeit der an Jesus Christus Glaubenden (4,17b-22) ......... 6.1 Die Eigenart des Glaubens Abrahams (V 17b-18) ............ 6.2 Die Ausführung über Abrahams Glauben in seiner hoffnungslosen Realität (V 19-22) ........................ 7. Abrahams Glaubensgerechtigkeit als Vorbild für die Rechtfertigung der christlichen Gläubigen (4,23-25) ................... 7.1 Die Bedeutung der Rechtfertigung Abrahams für die christlichen Gläubigen (V 23-24)..............................

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7.2

„Wegen unserer Sünden und wegen unserer Rechtfertigung“: Die Deutung des Todes und der Auferstehung Jesu (V 25).............................................. 7.2.1 Zum Einfluss von JesLXX 53,12c auf die Formulierung in 4,25a.................................................. 7.2.2 Die Bedeutung des Substantivs δικαίωσις ...................... 7.2.3 Zum Zusammenhang der Auferstehung Jesu mit der Rechtfertigung der Glaubenden in 4,25b ................... G. Friede, Hoffnung und Ruhm der gerechtfertigten Christen in der leidvollen Gegenwart: Röm 5,1-11 ...................................... 1. Friede und Hoffnung der gerechtfertigten Glaubenden (5,1-4)................................................................................... 1.1 δικαιωθέντες als Identitätsbezeichnung für die Glaubenden ................................................................ 1.2 Das Friedensverhältnis zu Gott für die aus dem Glauben Gerechtfertigten (V 1) ..................................... 1.3 Der Gnadenstand der Glaubenden und die Hoffnung auf die kommende Herrlichkeit (V 2-4) ........... 2. Die Liebe Gottes als Grundlage für die Hoffnung auf die heilvolle Zukunft (5,5-8) ......................................................... 3. Die heilvolle Zukunft und die bereits mit Zuversicht erfüllte Gegenwart der Glaubenden (5,9-11) .............................. 3.1 Die gegenwärtige Rechtfertigung und die zukünftige Rettung der Glaubenden durch Jesus Christus (V 9) ..................................................... 3.2 Die zukünftige Rettung der Versöhnten und ihr Rühmen Gottes in der Gegenwart (V 10-11) ................... H. Die Gnade Gottes, die die Sünde und den Tod überwindet: Röm 5,12-21 .............................................................................. 1. Das durch die Sünde Adams verursachte Todesverhängnis der Menschheit (5,12-14) ................................ 2. Die vergleichenden Aussagen über die Übertretung Adams und die Rettungstat Christi (5,15-19) ............................. 2.1 Die Argumentationsweise und die sprachlichen Merkmale des Abschnitts ............................................. 2.2 Die durch Adam erfolgte Verurteilung und die durch Christus zuteilwerdende Gerechtigkeit (V 15-17) ................................................................... 2.3 Zur Bedeutung von δικαίωμα in V 16 und δικαιοσύνη in V 17 ......................................................

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2.4

I.

J.

Die Übertretung Adams und die Gerechtmachung Christi (V 18-19)................................ 3. Die die Sünde und den Tod überbietende Wirkung der Gnade Gottes (5,20-21) ........................................................... Christliche Existenz: Tot zwar für die Sünde, lebend aber für Gott: Röm 6,1-11 ................................................................... 1. Die Feststellung des Standes der Glaubenden: der Sünde gestorben (6,1-2) .................................................................... 2. Die Teilhabe der Glaubenden an Tod und Auferstehung Christi (6,3-6) ........................................................................ 3. Interpretation der Formulierung ὁ γὰρ ἀποθανὼν δεδικαίωται ἀπὸ τῆς ἁμαρτίας in V 7 ....................................... 4. Die weitere Darlegung der neuen Existenz der Glaubenden (6,8-11)............................................................... Die neue Lebenseinstellung der Christen: Leben im Dienst für Gott bzw. für die Gerechtigkeit: Röm 6,12-23 ............................ 1. Argumentationsgang und Metaphorik in 6,12-23 ....................... 2. „Stellt eure Glieder Gott zur Verfügung als Waffen der Gerechtigkeit“ (6,12-13) .......................................................... 2.1 Der Argumentationsgang von V 12-13 ........................... 2.2 Zur Verwendung von δικαιοσύνη und ihrer Bedeutung im Kontext ................................................. 3. Der Stand der christlichen Gläubigen: „Nicht unter dem Gesetz, sondern unter der Gnade“ (6,14) ................................... 4. Die neue Lebenseinstellung der Christen: Leben als „Sklaven der Gerechtigkeit“ (6,15-23)........................................ 4.1 Die einleitende rhetorische Frage in V 15 und die Argumentation in V 16 ........................................... 4.2 Der Wechsel des Dienstverhältnisses: „Ihr seid zu Sklaven der Gerechtigkeit geworden“ (V 17-18) ................................................................... 4.3 Der Dienst der Gläubigen an der Gerechtigkeit und ihre Heiligkeit und Teilhabe am ewigen Leben (V 19-23) ......................................................... 4.3.1 Die zweite Paränese: „Stellt jetzt eure Glieder in den Dienst der Gerechtigkeit“ (V 19) ............................. 4.3.2 Die vergangene und die gegenwärtige Lebensweise der Christen (V 20-22) .............................. 4.3.3 Die Folge des Dienstes für Gott bzw. für Gerechtigkeit: Das ewige Leben in Christus (6,23) ...........

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Inhaltsverzeichnis

K. Gerechtigkeit für diejenigen, die den Geist Gottes in sich haben und nach diesem Geist wandeln: Röm 8,1-11 ........................ 1. Die Erfüllung der Gerechtigkeit des Gesetzes an denjenigen, die nach dem Geist wandeln (8,4)............................ 1.1 Der weitere Kontext ..................................................... 1.2 Zur Bedeutung von τὸ δικαίωμα τοῦ νόμου .................... 2. Der Geist ist aber Leben aufgrund der Gerechtigkeit (8,10).......... 2.1 Der nähere Kontext .................................................... 2.2 Die Interpretation der Apodosis in V 10b und die Bedeutung von δικαιοσύνη ...................................... 2.3 Der Blick auf die zukünftige Auferstehung als Motivation für das gegenwärtige Leben in Gerechtigkeit (V 11) .................................................... L. Berufung, Rechtfertigung und Verherrlichung der leidenden Gläubigen: Röm 8,30 .................................................... 1. Der nähere Textzusammenhang von Röm 8,30 ........................... 2. Das eschatische Heilsgeschick der leidenden Gläubigen (8,30) ..... 2.1 Rechtfertigung und Verherrlichung der leidenden Gläubigen .................................................... 2.2 Die Bedeutung der δικαιοῦν-Aussage ............................ M. Gott ist es, der seinen Erwählten Recht verschafft: Röm 8,33 ............ 1. Der weitere Textzusammenhang und sprachliche Merkmale des Abschnittes 8,31-39............................................ 2. Das Für-uns-Sein Gottes und dessen Hingabe seines Sohnes für uns (V 31-32)......................................................... 3. Das Verständnis der Wendung δικαιοῦν in ihrem Textzusammenhang ............................................................... 3.1 Das im Text vorausgesetzte Gottesbild: Gott als höchster Richter .......................................................... 3.2 Die Bedeutung der δικαιοῦν-Aussage in 8,33 und ihre Nähe zu derjenigen in JesLXX 50,8-9 .................. 3.3 Zum Gebrauch von δικαιοῦσθαι in 1Kor 4,4 und von δικαιοσύνη in Gal 5,5 mit Blick auf die Verwendung des Verbs δικαιοῦν in Röm 8,33 ................. N. Die Heiden haben Gerechtigkeit erlangt, Israel aber nicht: Röm 9,30-33 .............................................................................. 1. Der nähere Textzusammenhang von Röm 9,30-33 ...................... 2. Die Bedeutung von δικαιοσύνη-Aussagen in V 30-31 ................. 2.1 Die Vorstellung von διώκειν δικαιοσύνην bzw. νόμον δικαιοσύνης ......................................................

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2.2

Die Gerechtigkeit der Heiden: Die Gerechtigkeit aus dem Glauben (V 30)............................................... 2.3 Das irrige Dem-Gesetz-Nachstreben der Israeliten (V 31) .......................................................... 3. Die Begründung für das verhängnisvolle Geschick des Volkes Israels (9,32-33) ........................................................... O. Das Wort des Glaubens: Die Gerechtigkeit aus dem Glauben: Röm 10,1-13 ................................................................. 1. Der Unglaube Israels gegenüber der Botschaft von der Gerechtigkeit Gottes (10,1-4) ................................................... 1.1 Das Zeugnis gegen die ungläubigen Israeliten (V 1-3) ....................................................................... 1.2 Zur Bedeutung der Genitivformulierung ἡ τοῦ θεοῦ δικαιοσύνη bzw. ἡ δικαιοσύνη τοῦ θεοῦ .................. 1.2.1 Zum Verständnis der Formulierungen

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ἀγνοοῦντες γὰρ τὴν τοῦ θεοῦ δικαιοσύνην

und τῇ δικαιοσύνῃ τοῦ θεοῦ οὐχ ὑπετάγησαν ................. Zur Gegenüberstellung von ἡ δικαιοσύνη τοῦ θεοῦ und ἡ ἰδία δικαιοσύνη und zu ihrem Zusammenhang mit den anderen δικαιοσύνη-Aussagen in 10,4f ....................................... 1.2.3 ἡ ἐκ θεοῦ δικαιοσύνη in Phil 3,9 als das komplementäre Gegenstück zu ἡ δικαιοσύνη τοῦ θεοῦ in Röm 10,3 ................................................... 2. Die Glaubensgerechtigkeit und das Wort des Glaubens (10,5-8) ................................................................................ 3. Die Erklärung des Glaubenswortes (10,9-13) ............................. 3.1 Der Glaube erzeugt Gerechtigkeit, das Bekennen die Rettung (V 9-10) ..................................... 3.2 Die universale Gültigkeit bzw. Wirkung der Heilsbotschaft für alle Glaubenden (V 11-13).................. P. Das Reich Gottes besteht in Gerechtigkeit, Frieden und Freude: Röm 14,17 ..................................................................... 1. Der argumentative Kontext von 14,17 ....................................... 2. Zur Bedeutung der Begriffe δικαιοσύνη, εἰρήνη, χαρά als Charakterisierung des Reiches Gottes .................................. 2.1 Die argumentative Funktion der Rede von Gottes Reich .............................................................. 2.2 Die Bedeutung der Tugendbegriffe: δικαιοσύνη, εἰρήνη und χαρά ........................................................

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1.2.2

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Inhaltsverzeichnis

VI. Ergebnis: Bedeutung und Funktion der Gerechtigkeitsaussagen im Römerbrief ............................................ A. Die Gerechtigkeitsaussagen in Bezug auf Gott ............................... 1. Gerechtigkeit als die wesentliche Eigenschaft Gottes und ihr Bezug auf sein Gerichtshandeln .......................................... 2. Der Erweis von Gottes Gerechtigkeit in seinem Heilshandeln ...... 3. Der rechtfertigende Gott ......................................................... B. Die Gerechtigkeitsaussagen in Bezug auf den Menschen .................. 1. Rechtfertigung aus dem Glauben an Christus: Rechtfertigung aufgrund des Todes und der Auferstehung Jesu .... 2. Die Bedeutung der Rechtfertigungsaussagen in Hinsicht auf die Heidenmission ............................................................ 3. Gerechtigkeit als umfassende Tugend für die neue Lebensführung der Christen ....................................................

441 443 443 445 446 451 451 456 458

Literaturverzeichnis .............................................................................. 463 Register ............................................................................................... 483

I.

Einleitung: Zu Ansatz und Fragestellung der Arbeit in forschungsgeschichtlicher Perspektive

Im Zentrum der paulinischen Heilsbotschaft, die Paulus in verschiedener Weise als das Evangelium Gottes (1Thess 2,2.8; Röm 1,1; 15,16) bzw. Christi (1Thess 3,2; 1Kor 9,12; 2Kor 2,12; 9,3; 10,14; Gal 1,7; Phil 1,27; Röm 15,19), sein Evangelium (Röm 2,26; 16,25), das Wort des Kreuzes (1Kor 1,18) oder das Geheimnis Gottes (1Kor 4,1) bezeichnet, steht die sogenannte Rechtfertigungslehre, nach der die Rechtfertigung des Menschen durch Gottes Gnade allein aus dem Glauben an Christus erfolgt. Obwohl Paulus auch Begriffe wie ἀπολύτρωσις (Röm 3,24), εἰρήνη bzw. καταλλαγή (Röm 5,1.10-11; 2Kor 5,18-19) oder ἐλευθερία zur Beschreibung der Heilswirkung des Todes Jesu verwenden kann, kommt den δικαι-Termini (δίκαιος, δικαιοσύνη, δικαίωμα, δικαίωσις, δικαιοῦν) dabei eine herausgehobene Stellung zu.1 Paulus verwendet sie nämlich zum einen im Zusammenhang mit der Beschreibung der Heilswirkung des Todes Jesu am häufigsten; zum anderen stehen die δικαι-Termini in einem forensischen Kontext und stellen als Bezeichnung des Heilsstandes des Menschen die entscheidende Voraussetzung für das endgültige Heil dar; zum Dritten verwendet Paulus nur sie immer dann, wenn er den Glauben an Jesus Christus als die notwendige Bedingung für das Heil beschreibt. Zu diesem paulinischen Rechtfertigungsgedanken haben sich bereits unzählige Theologen geäußert. Schon die Kirchenväter, etwa Ignatius, Polykarp von Smyrna, Origenes und Augustin, die Reformatoren, die historisch-kritisch arbeitenden Exegeten seit Bauer und Ritschl, über Barth und Bultmann bis zu den Vertretern der heutigen neutestamentlichen Exegese schenkten dieser Thematik besondere Aufmerksamkeit. Dieser Umstand kann zum Eindruck führen, dass dieser Komplex paulinischer Theologie bereits hinlänglich erforscht wäre. Aber auch wenn bereits zahlreiche Aufsätze und Exkurse in Kommentaren vorliegen, gibt es bisher dennoch nur wenige Monographien zu dieser Thematik. Zudem ist in diesen wenigen die Semantik der δικαι-Termini bei Paulus bisher nicht hinreichend genau untersucht worden und bisher wird auch kein umfassender Überblick über den paulinischen Gebrauch der δικαι-Termini geboten. Vielmehr wenden sich die vorliegenden Untersuchungen lediglich der Genitivformulierung δικαιοσύνη θεοῦ zu (so z. B. Müller, Gottes Gerechtigkeit und Gottes Volk; Stuhlmacher, Gerechtigkeit Gottes; Kertelge, Rechtfertigung bei Paulus; zuletzt Irons, The Righteousness of God),2 oder

1 Es ist daher nicht ausreichend, δικαιοσύνη lediglich als eine unter verschiedenen soteriologischen Metaphern anzusehen, derer Paulus sich zur Beschreibung der Heilswirkung des Todes Jesu bedient. 2 Zu dieser Kritik vgl. auch Prothro, Judge, 35.

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Zu Ansatz und Fragestellung der Arbeit in forschungsgeschichtlicher Perspektive

sie behandeln den paulinischen Rechtfertigungsgedanken im Zusammenhang mit einer bestimmten Thematik (etwa im Zusammenhang mit der Taufe bei Schnelle, Gerechtigkeit und Christusgegenwart) oder lediglich im Rahmen eines bestimmten Textabschnitts des Römerbriefs (vgl. Wolter, Rechtfertigung und zukünftiges Heil; zuletzt Olson, The Gospel as the Revelation of God’s Righteousness, Mininger, Uncovering the Theme of Revelation in Romans 1:16–3:26).3 Die Auslegung der δικαιοσύνη θεοῦ kann aber nicht isoliert von der Verwendung anderer Termini aus dem Stamm δικαι-, wie etwa δίκαιος, δικαιοῦν, δικαίωμα und δικαίωσις, vorgenommen werden, denn der mit der Genitivformulierung zum Ausdruck gebrachte Gedanke ist mit dem Sprachgebrauch der anderen δικαιTermini verknüpft.4 Will man zu einem angemessenen Verständnis der Bedeutung der δικαι-Termini und des damit ausgedrückten theologischen Gedankens bei Paulus gelangen, muss man daher alle δικαι-Termini und ihre je verschiedene kontextuelle Einbindung in die paulinische Theologie berücksichtigen. Gerade im Hinblick auf diese Problematik wird deutlich, dass die einschneidende sprachwissenschaftliche Wende in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, die besonders die Kontextgebundenheit der wortsemantischen Analyse sowie die Untersuchung von Argumentationsstrukturen ins Bewusstsein rückte, sowohl in der exegetischen Forschung der 60er und 70er Jahre über die δικαι-Termini bei Paulus als auch von der neueren Forschung unzureichend berücksichtigt worden ist. Diese Problematik zeigt sich besonders an der Deutung des Begriffs δικαιοσύνη mit den Deutungskategorien „Macht“ oder „Gabe“, bei der die verschiedenen Bedeutungsnuancen der Verwendung des Begriffs bei Paulus nicht erfasst werden können. So steht die neutestamentliche Wissenschaft im Blick auf die Frage nach der Bedeutung und Funktion der δικαι-Termini bei Paulus weiterhin vor der Aufgabe eines intensiven und gründlichen Studiums der entsprechenden Texte. Im Folgenden werden wichtige Positionen der neueren Forschungsgeschichte für einen Überblick über den aktuellen Stand der Debatte skizziert. Aus Platzgründen wird dabei auf die Darstellung älterer Positionen von den Kirchenvätern bis zur De-

3 Als Forschungsarbeiten, die alle Belege der δικαι-Termini bei Paulus in ihrem jeweiligen Kontext untersuchen und so einen umfassenden Überblick bieten, können lediglich der Artikel über die δικαι-Termini von Schrenk im ThWNT und die Monographie The Meaning of Righteousness in Paul: A Linguistic and Theological Enquiry von Ziesler gelten. In beiden ist die Analyse des Kontextes und der Argumentation aus unterschiedlichen Gründen allerdings nicht gründlich genug durchgeführt worden. Schrenk konnte in seinem Lexikonartikel nur wenig Platz für eine Kontextanalyse verwenden. Ziesler hingegen räumt der semantischen Analyse der hebräischen Begriffe aus dem Stamm ‫ צדק‬und der δικαι-Termini in der LXX viel Platz ein, analysiert Kontext und Argumentation im Paulusbrief aber jeweils nur sehr knapp. 4 Darauf weisen schon Güttgemanns, Gottesgerechtigkeit, 81; Lohse, Gerechtigkeit Gottes, 222 und Conzelmann, Grundriß, 241–244 hin.

Zu Ansatz und Fragestellung der Arbeit in forschungsgeschichtlicher Perspektive

batte zwischen Käsemann und Bultmann verzichtet.5 Mit der Debatte zwischen Käsemann und Bultmann bei der Rückfrage nach der Forschungsgeschichte zu beginnen, ist aus dem Grund legitim, da diese Auseinandersetzung innerhalb der neutestamentlichen Forschung zu einer Wende geführt und die Fragestellung in eine neue, bis heute bedeutsame Richtung gelenkt hat. Im Anschluss an die Darstellung der Forschungsgeschichte sollen Fragestellung und Herangehensweise der vorliegenden Arbeit näher erläutert werden.

5 Zur Forschungsgeschichte vor Käsemann und Bultmann vgl. Stuhlmacher, Gerechtigkeit Gottes, 11–73 und Irons, Righteousness, 10–41. Beide stellen die Forschungsgeschichte hauptsächlich im Blick auf die Interpretation der Genitivformulierung δικαιοσύνη θεοῦ dar. Dabei blicken beide Autoren aus verschiedenen Perspektiven auf die referierten Positionen und kommen zu divergierenden Urteilen.

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Zu Ansatz und Fragestellung der Arbeit in forschungsgeschichtlicher Perspektive

A.

Eine Skizze der neueren Forschung6

1.

Die Debatte zwischen Käsemann und Bultmann

In seinem einflussreichen Aufsatz Gottes Gerechtigkeit bei Paulus (1961), der stark auf die nachfolgenden Forschungen einwirkte, hält Ernst Käsemann der seinerzeit geläufigen Interpretation vor, sie verstehe die Formulierung δικαιοσύνη θεοῦ einseitig als von Gott verliehene Gabe und übersehe dabei ihren Machtcharakter. Seiner Ansicht nach wird vor allem aufgrund der bei Paulus häufig in Verbindung mit dem Terminus δικαιοσύνη verwendeten Ausdrücke deutlich, dass die δικαιοσύνη θεοῦ als eine göttliche Macht zu verstehen sei. Käsemann fasst seine Position in folgender Weise zusammen: Nur sollte darüber nicht übersehen werden, daß die Wendung Gottesgerechtigkeit den anderen Wendungen der Kraft, der Liebe, des Friedens, des Zornes Gottes parallel läuft, die ebenfalls personifizierend gebraucht werden und göttliche Macht bezeichnen können. So sprechen Röm 1,16 und 3,21 von ihrer Offenbarung als ihrer irdischen Epiphanie, wird sie in Röm 10,6 redend und handelnd dargestellt und erscheint sie in 1Kor 1,30 geradezu als die Manifestation des Christus, in 2Kor 5,21 als die der Gemeinde. Nicht grundlos wird in Röm 5,21 vom βασιλεύειν der Gnade durch Gerechtigkeit, in Röm 6,13 und 2Kor 6,7 von der militia, in Röm 6,19f. von der δουλεία, in 2Kor 3,9 von der διακονία der Gerechtigkeit gehandelt und all das in der charakteristischen Wendung von Röm 10,3 zusammengefaßt: ,der Gerechtigkeit gehorsam werden.‘ Darin zeigt sich, daß Paulus den mit der Formel als solcher gegebenen, durch die Parallelen bestätigten Aspekt der Gerechtigkeit als Macht festgehalten hat.7

Eine Besonderheit der Position Käsemanns ist es, dass er bei seiner Auslegung der Formulierung δικαιοσύνη θεοῦ unter dem Titel Gottes Gerechtigkeit bei Paulus nicht nur die einschlägigen Belege in Röm 1,17; 3,21; 10,3 und 2Kor 5,21 heranzieht, sondern auch diejenigen Textstellen, an denen lediglich das Wort δικαιοσύνη vorkommt (S. 370f). Dass er somit zur Interpretation der Formulierung δικαιοσύνη θεοῦ auf Belege zurückgegriffen hat, in denen nicht von Gottesgerechtigkeit die Rede ist (z. B. Röm 5,21; Röm 6,13; 2Kor 6,7; 9,9f; Phil 1,11; Gal 5,5), stellt ein Problem seiner Auslegung dar.

6 Die Monographien, die erst im Entstehungszeitraum dieser Arbeit veröffentlicht wurden, Irons, The Righteousness of God (2015), Olson, The Gospel as the Revelation of God’s Righteousness (2016), Mininger, Uncovering the Theme of Revelation in Romans 1:16–3:26 (2017) und Prothro, Both Judge and Justifier (2018), sind in der forschungsgeschichtlichen Übersicht unberücksichtigt geblieben, werden aber bei den exegetischen Arbeiten mit herangezogen. 7 Käsemann, Gottesgerechtigkeit, 370–371.

Eine Skizze der neueren Forschung

Käsemanns Verständnis der δικαιοσύνη θεοῦ bei Paulus als Macht Gottes stützt sich nicht allein auf die mit δικαιοσύνη verbundenen Ausdrucksweisen. Es ist nämlich von der Überzeugung geleitet, dass die Dialektik von Macht und Gabe als ein Kerngedanke der gesamten paulinischen Theologie auch für die Interpretation des Begriffs δικαιοσύνη θεοῦ zugrunde zu legen ist. Zur Gabe wird die Macht, wenn sie von uns Besitz ergreift und dabei gleichsam in uns eingeht. Die hier mitgeteilte Gabe ist nicht und nie von ihrem Geber ablösbar. Sie partizipiert am Charakter der Macht, sofern in ihr Gott selber auf den Plan tritt und mit ihr auf dem Plane bleibt. So ist mit ihr unablösbar auch Anspruch, Verpflichtung und Dienst verbunden. Wenn Gott auf den Plan tritt, erfahren wir selbst in seinen Gaben noch seine Herrschaft, sind gerade seine Gaben die Mittel, welche uns seiner Herrschaft einordnen und damit in Verantwortung stellen.8

In diesen Sätzen wird deutlich, worauf Käsemann mit seinem neuen Verständnis der δικαιοσύνη θεοῦ bei Paulus in Abgrenzung von der traditionellen reformatorischen Interpretation hinauswill. Er betont, dass die δικαιοσύνη als die den Glaubenden verliehene Gabe nicht von ihrem Geber, Gott, isolierbar ist, sondern als die Macht Gottes die Lebensführung der Glaubenden weiter beherrscht und bestimmt. Für Käsemann ist das traditionelle Verständnis der δικαιοσύνη θεοῦ bei Paulus allein als von Gott geschenkte Gabe problematisch, weil damit die Spannung zwischen Gabe und Dienst bzw. Verpflichtung, die er als „die paulinische Dialektik“ bezeichnet, nicht befriedigend erklärt werden kann. Bultmann hat dagegen in seinem kurzen Aufsatz ΔΙΚΑΙΟΣΥΝΗ ΘΕΟΥ von 1964 das bereits in seinem Buch Theologie des Neuen Testaments dargelegte Verständnis von δικαιοσύνη θεοῦ als eine Gottesgabe verteidigt. Dabei kritisiert er Käsemanns dafür, dass er die verschiedenen Konnotationen von δικαιοσύνη θεοῦ bei Paulus vernachlässige und ausschließlich mit der Deutungskategorie Macht operiere. Sich gegen die von ihm als petitio princ. bezeichnete Deutungsweise Käsemanns wendend zeigt Bultmann, dass Paulus in unterschiedlicher Bedeutung von der Gottesgerechtigkeit sprechen kann. Daß Paulus in verschiedenem Sinn von der Gottesgerechtigkeit redet, ist ohne weiteres daraus verständlich, daß ihm der alttestamentliche Sprachgebrauch vertraut ist. Auch im AT wird der Begriff der Gerechtigkeit Gottes in verschiedenem Sinne gebraucht. Gottes Gerechtigkeit kann sowohl seine richterliche iustitia distributiva bedeuten wie seine

8 Käsemann, Gottesgerechtigkeit, 371.

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Zu Ansatz und Fragestellung der Arbeit in forschungsgeschichtlicher Perspektive

iustitia salutifera, nämlich seine helfende, heilbringende Macht, an die das Bundesvolk ebenso wie der einzelne Fromme appellieren kann.9

Obwohl sich Bultmann demnach der verschiedenen Konnotationen von δικαιοσύνη θεοῦ bewusst ist, geht er aber davon aus, dass die primäre bzw. dominante Bedeutung dieser Formulierung die der Gabe ist, die Gott den Glaubenden schenkt. Als Belege, bei denen die δικαιοσύνη θεοῦ im Sinne der iustitia distributiva zu verstehen ist, können seiner Auffassung nach allein die beiden Stellen Röm 3,5 und 3,25 gelten.10 Die anderen Aussagen von der Gerechtigkeit Gottes in Röm 1,17; 3,21.22.26; 10,3 und 2Kor 5,21 bezeichnen dagegen alle die Gerechtigkeit, die Gott den Glaubenden verleiht (S. 13). Für diese Deutung zieht Bultmann Phil 3,9 heran, wo die Wendung ἡ διὰ πίστεως Χριστοῦ, ἡ ἐκ θεοῦ δικαιοσύνη ἐπὶ τῇ πίστει steht, und er interpretiert die δικαιοσύνη θεοῦ aufgrund dieser Belegstelle als gen. auct. Bultmann ist in seiner Kritik an Käsemann Recht zu geben, dass dieser den sachlichen Sinn von δικαιοσύνη θεοῦ und den aus dem jeweiligen Kontext heraus zu interpretierenden Sinn der Formulierung nicht unterschieden hat. Wie oben gezeigt, setzt Käsemann bei den Ausdrücken ἀποκαλύπτεται in Röm 1,17 und οὐχ ὑπετάγησαν in 10,3 an und bestimmt sie als eine göttliche Macht. Bultmann versteht diese Ausdrücke hingegen als eine rhetorische Redeweise, welche den sachlichen Sinn von δικαιοσύνη θεοῦ auf keine Weise beeinflusst. Diese Belege können somit nicht für die Begründung des Machtcharakters von δικαιοσύνη θεοῦ herangezogen werden. Im Anschluss an diese Kritik zeigt Bultmann auch, dass es unangemessen ist, von den der paulinischen Theologie zugrundeliegenden Spannungen zwischen Gabe und Dienst sowie Gegenwart und Zukunft her die Bedeutung der Genitivformulierung δικαιοσύνη θεοῦ zu bestimmen. Bultmann bestreitet zwar nicht, dass solche Spannungen bei Paulus vorhanden sind, seiner Meinung nach können sie aber nicht einfach in die Semantik des Begriffs δικαιοσύνη θεοῦ eingetragen werden (S. 14f). Am Schluss seines Aufsatzes geht Bultmann auf die These Käsemanns ein, dass es sich bei der δικαιοσύνη θεοῦ bei Paulus um „eine feste Formel (terminus technicus)“

9 Bultmann, ΔΙΚΑΙΟΣΥΝΗ, 12f. 10 Hierbei ist zu beachten, dass Bultmann denselben Ausdruck δικαιοσύνη αὐτοῦ in Röm 3,25 und 3,26 unterschiedlich versteht (vgl. ΔΙΚΑΙΟΣΥΝΗ, 13). Für ihn ist klar, dass δικαιοσύνη αὐτοῦ in V 25 die richterliche Gerechtigkeit Gottes bezeichnet und δικαιοσύνη αὐτοῦ in V 26 hingegen in Entsprechung mit δικαιοῦντα die Gabe der Gerechtigkeit an die Glaubenden. Wenn Bultmann dieselbe Formulierung in 3,25 und 3,26 je unterschiedlich auslegt, unterläuft ihm dabei ein eindeutiger Fehler. Schon von ihrer kurz aufeinanderfolgenden Stellung und ihrer Formkongruenz von δικαιοσύνη αὐτοῦ her wird deutlich, dass sie kein unterschiedliches semantisches Profil haben können. Ferner geht aus der angehängten Näherbestimmung διὰ τὴν πάρεσιν τῶν προγεγονότων ἁμαρτημάτων hervor, dass mit der δικαιοσύνη αὐτοῦ in V 25 keine richtende Gerechtigkeit Gottes gemeint ist.

Eine Skizze der neueren Forschung

handle, die ihren Ursprung in der jüdischen apokalyptischen Tradition habe. Entgegen dieser These hält Bultmann fest, dass der paulinische Ausdruck δικαιοσύνη θεοῦ keine von der jüdischen Tradition übernommene Formel ist, sondern vielmehr als „eine Neuschöpfung des Paulus“ (S. 16) zu verstehen ist. Dieses Verständnis stützt Bultmann auf die Beobachtung, dass die Rede von Gottes Gerechtigkeit in den jüdischen Schriften je nach Kontext mit unterschiedlichen Konnotationen besetzt sein kann. In der jüdischen Überlieferung findet sich außerdem kein Beleg dafür, dass die Rede von Gottes Gerechtigkeit im Sinne der von Gott verliehenen Gabe verwendet wird. Nach Bultmann handelt sich es bei der Rede von Gottes Gerechtigkeit in den jüdischen Schriften um „das richtende oder das heilschaffende Handeln Gottes, mit dem der Betende rechnet oder auf das er hofft.“ (S. 16). 2.

Die weitere Diskussion zwischen den Schülern Käsemanns und Bultmanns

Die These Käsemanns wurde in den Dissertationen seiner Schüler Christian Müller und Peter Stuhlmacher aufgenommen und weitergeführt. Beide hatten bereits unter der Betreuung Käsemanns mit ihren Promotionsprojekten über die Gerechtigkeit Gottes bei Paulus begonnen, als sich Bultmann mit seinem Aufsatz ΔΙΚΑΙΟΣΥΝΗ ΘΕΟΥ gegen Käsemann wandte. Ihre Forschungsergebnisse haben einen unverkennbaren Anklang an die Position Käsemanns. In seiner Dissertation Gottes Gerechtigkeit und Gottes Volk: Eine Untersuchung zu Römer 9–11 von 1964 geht Müller unter Anlehnung an die Alttestamentler Köhler und von Rad davon aus, dass die Gerechtigkeit Gottes im Alten Testament ein „gemeinschaftsbezogener Begriff “ sei und die „Bundestreue Gottes“ meine (S. 108f). Die Gerechtigkeit Gottes „erweist sich in der Hilfe für das Bundesvolk, und wenn dieses vom Bunde abgefallen ist, bringt sie das Gericht, das die Abtrünnigen zum Bunde zurückführt und die Gemeinschaft zwischen Gott und seinem Volk wieder herstellt.“ (S. 108). Diese Auffassung der Gerechtigkeit Gottes als Bundestreue werde zwar von Paulus übernommen, aber in eigener Weise: Paulus modifiziere den jüdischen Gedanken, indem er die Gerechtigkeit Gottes als Bundestreue über das Gottesvolk Israel hinaus auf eine universale Dimension ausweite. Somit werde der traditionelle jüdische Bundesgedanke bei Paulus „im Schöpfungsgedanken aufgehoben“ (S. 111) und die Heilsverkündigung des Paulus, in der der Glaube an Christus im Mittelpunkt steht, ebne die Besonderheit Israels als des Bundesvolkes ein und bestimme das Gottesvolk neu, indem sie die Heiden miteinschließt. Bei Paulus sei die δικαιοσύνη θεοῦ daher nicht mehr als Bundestreue, sondern als „Schöpfungstreue“ zu verstehen (S. 111). Über die Betonung des Schöpfungsgedankens und der Universalisierung der Gottestreue hinaus zieht Müller den Rechtsstreitgedanken im Alten Testament als Deutungshintergrund für die Formulierung δικαιοσύνη θεοῦ heran. Er greift dabei

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Zu Ansatz und Fragestellung der Arbeit in forschungsgeschichtlicher Perspektive

auf alttestamentliche bzw. frühjüdische Texte zurück, in denen seiner Meinung nach der Rechtsstreitgedanke vorliegt und mit der Rede von Gottes Gerechtigkeit verbunden wird, und fasst im Anschluss daran die Bedeutung der Gerechtigkeit Gottes folgendermaßen zusammen: Teile des Spätjudentums haben die ‚Gerechtigkeit‘ Gottes im Rahmen eines Rechtsstreites Gottes gegen Israel bzw. die Welt gesehen, in dem Gott als siegende Prozeßpartei auftritt. Mit der überlegenen Durchsetzung seiner ‚Gemeinschaftstreue‘ oder seines Anspruches an die Welt vollzieht Gott das Gericht an der treulosen, unterliegenden Prozeßpartei, sei es Israel, eine Sondergemeinde oder die Repräsentanten der ‚Welt‘.11

Bei der Interpretation der Belegstellen der δικαιοσύνη θεοῦ versucht Müller zu zeigen, dass sie im Römerbrief ebenso wie im Alten Testament und in den jüdischen Schriften vor dem Hintergrund des Rechtsstreitgedankens zu verstehen ist, und definiert sie als „Sieg des Anspruches Gottes an die Menschen“, und zwar als Sieg über den unterlegenen, ungerechten Kosmos in Röm 3,5 (S. 67), über den schuldverfallenen Kosmos in Röm 3,21-22 (S. 68) und über das gegen den Rechtsanspruch Gottes rebellierende Israel in Röm 10,3 (S. 69). Müller bietet damit eine durchaus konsequente Interpretation der δικαιοσύνη θεοῦ bei Paulus im Sinne des Sieges des Anspruchs Gottes. Ein Jahr nach Müllers Dissertation ist 1965 die Dissertation Stuhlmachers unter dem Titel Gerechtigkeit Gottes bei Paulus erschienen, in der er hauptsächlich die Genitivformulierung δικαιοσύνη θεοῦ im Corpus Paulinum vor ihrem alttestamentlich-jüdischen Hintergrund untersuchte. In vielerlei Hinsicht teilt Stuhlmacher die Auffassung Käsemanns und Müllers. Ebenso wie Käsemann versteht er die Genitivformulierung δικαιοσύνη θεοῦ bei Paulus als eine von der apokalyptisch-jüdischen Tradition übernommene Formel und plädiert dafür, den Ursprung ihrer Bedeutung in der jüdischen Tradition zu suchen, und versteht die Formel nicht als Gottes Gabe, sondern als heilschaffende Macht Gottes. Gegenüber Käsemann ist Stuhlmachers Position aber viel einseitiger, insofern er alle Belegstellen von δικαιοσύνη θεοῦ im Sinne der heilschaffenden Macht Gottes deutet. Käsemann dagegen lehnt die Deutung der Genitivformulierung als Gabe Gottes nicht vollständig ab.12 Bei Stuhlmacher tauchen Deutungsbegriffe wie „Schöpfungsmacht“ und „Rechtsstreit“ wieder auf, die Käsemann und Müller bei ihren Interpretationen als Leitbegriffe verwendet haben. Für Stuhlmacher bedeutet das Syntagma δικαιοσύνη

11 Müller, Gottes Volk, 64. 12 Auf diesen Unterschied zwischen den Auslegungen Stuhlmachers und Käsemanns weist auch Klein, Gottes Gerechtigkeit, 2 hin.

Eine Skizze der neueren Forschung

θεοῦ in Röm 1,17 im Gegensatz zur ὀργὴ θεοῦ „das rechtschaffende, heilbringende Verhalten desselben Gottes, das der Angeklagte im Eschatologischen Prozeß erfahren darf.“ (S. 80). Das ist auch „Gottes eigene, im Evangelium durch die Welt ziehende Schöpfermacht“ in dem Sinne, dass sie „Glauben-stiftend die neue Welt Gottes heraufführt.“ (S. 83f). Die δικαιοσύνη θεοῦ in Röm 3,21 bezeichne „die sich schenkende, weltumspannende Heilsmacht Gottes“ (S. 87) und in 10,3 stehe sie für „die sich als eschatologische Schöpfergewalt betätigende, die Geschichte und Geschicke lenkende Gottesmacht, also Gottes eigenes Verhalten.“ (S. 93). Methodisch setzt Stuhlmacher mit einer Annahme ein, die auch der von ihm begründeten Biblischen Theologie zugrunde liegt, nämlich dass sich die im Alten Testament und in jüdischen Schriften anzutreffenden Gerechtigkeitsvorstellungen fast bruchlos auf Paulus übertragen lassen. Durch diesen methodischen Ansatz gelingt Stuhlmacher zwar eine konsistente Auslegung des Begriffs der δικαιοσύνη θεοῦ, doch gerade in einer solchen Auslegung besteht das Problem, dass die verschiedenen Bedeutungen von Gottes Gerechtigkeit in der jüdischen Tradition sowie in den Paulusbriefen außer Acht gelassen werden. Bultmanns Einwände, die er gegen Käsemann vorgebracht hat, lassen sich daher auch gegen die Interpretation Stuhlmachers wenden.13 So wie die Position Käsemanns von seinen Schülern Stuhlmacher und Müller unterstützt wurde, fand auch die von Bultmann geübte Kritik ihre Nachfolger. Unter diesen sind vor allem Günter Klein14 , Hans Conzelmann15 , Erhardt Güttgemanns16 und Günter Bornkamm17 zu nennen. In kurzer zeitlicher Folge haben diese wie Bultmann das traditionelle Verständnis der δικαιοσύνη θεοῦ als die von Gott geschenkte Gabe verteidigt und gezeigt, dass die Auffassung der Formulierung allein im Sinne der heilschaffenden Macht Gottes im Hinblick auf die Verwendungskontexte problematisch ist. Da sich diese Positionen sehr ähneln, soll hier nur beispielhaft die Position von Klein, die das Problem der Interpretation von Käsemann und seinen Schülern deutlich macht, vorgestellt werden. In seinem Aufsatz Gottes Gerechtigkeit als Thema der neuesten Paulus-Forschung von 1967 stellt Klein im Anschluss an Bultmann die These Käsemanns in Frage, dass

13 Bultmann hat seinen Aufsatz ΔΙΚΑΙΟΣΥΝΗ ΘΕΟΥ fertiggestellt, bevor die Dissertation von Stuhlmacher veröffentlicht wurde. Er bezieht sich aber explizit auf dessen Position (vgl. ΔΙΚΑΙΟΣΥΝΗ, 12). 14 Vgl. G. Klein, Gottes Gerechtigkeit als Thema der neuesten Paulus-Forschung, VF 12/2 (1966), 1–11. 15 Vgl. H. Conzelmann, Grundriß der Theologie des Neuen Testaments (UTB 1446), 5. Aufl., Tübingen 1992, 237–244; Die Rechtfertigungslehre des Paulus: Theologie oder Anthropologie?, EvTh 28/8 (1968), 389–404. 16 Vgl. E. Güttgemanns, „Gottesgerechtigkeit“ und strukturale Semantik. Linguistische Analyse zu δικαιοσύνη θεοῦ, in: Ders., Studia Linguistica Neotestamentica. Gesammelte Aufsätze zur linguistischen Grundlage einer Neutestamentlichen Theologie (BEvTh 60), München 1973, 59–98. 17 Vgl. G. Bornkamm, Paulus, Stuttgart 1993, 146–149.

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Zu Ansatz und Fragestellung der Arbeit in forschungsgeschichtlicher Perspektive

die paulinische Dialektik zwischen dem schon erfolgten Heil und der sich daraus ergebenden verpflichtenden Ethik auf die δικαιοσύνη θεοῦ-Aussagen zurückzuführen ist. Das Verständnis der δικαιοσύνη θεοῦ als Gabe Gottes bedeute nicht sogleich die Trennung zwischen Gabe und Dienst. „[D]ie Gefahr der Isolierbarkeit der Gabe“ trete erst dort auf, „wo man Macht und Gabe zuvor terminologisch gegeneinander exponiert.“ (S. 11). Klein überprüft die einzelnen Ergebnisse Käsemanns und seiner Schüler sorgfältig und kann dabei zeigen, dass ihre exegetischen Ausführungen den paulinischen Textzusammenhängen nicht gerecht werden. Mit Nachdruck unterstreicht er, dass die Forschungen Käsemanns und seiner Schüler auf einem verkehrten methodischen Ansatz beruhen, und betont, dass sich „kein begriffsgeschichtliches Gefälle … mit Naturgewalt Bahn bricht, sondern im jeweiligen Akt von Sprachaneignung als Ganzes auf dem Spiele steht.“ (S. 3). Für Klein steht fest, dass bei der Auslegung eines Begriffs nicht die Begriffsgeschichte entscheidend ist, sondern dessen Stellung im jeweiligen Kontext. Klein vermag auf der Grundlage seiner Analyse von Röm 1,17 unter Berücksichtigung des Kontextes zu zeigen, dass die Deutung der δικαιοσύνη θεοῦ als heilschaffende Macht Gottes an dieser zentralen Stelle nicht kontextgemäß ist. Der Begriff δύναμις in V 16 bestimme nicht die Formulierung δικαιοσύνη θεοῦ näher, sondern den Ausdruck τὸ εὐαγγέλιον in V 16. In 1,17 werde vor allem durch das Schriftzitat Hab 2,4 bestätigt, dass die δικαιοσύνη θεοῦ als von Gott geschenkte Gabe zu verstehen sei. „Das Schriftzitat V 17b kann die Aussage über die δικαιοσύνη θεοῦ dann fundieren, wenn der hier erwähnte δίκαιος eben derjenige ist, dem die δικαιοσύνη θεοῦ als Gabe zuteilwurde.“ (S. 7). Bei der Interpretation der δικαιοσύνη θεοῦ in Röm 3,21 durch Stuhlmacher werde dem semantischen Zusammenhang zwischen der Genitivverbindung und der zweifachen Verwendung von δικαιοῦσθαι, in die sie eingeschlossen ist (V 19.24), zu wenig Beachtung geschenkt (S. 8). Gleiches gelte für den unauflöslichen Zusammenhang zwischen der Genitivverbindung und der mit ihr verbundenen πίστις-Aussage. Auch Stuhlmachers Auslegung von Röm 10,3, nach der die Formulierung δικαιοσύνη θεοῦ nicht als das von Gott Geschenkte, sondern als die lebenschaffende Macht Gottes aufzufassen sei, ist nach Kleins Überzeugung „mittels einer nicht überzeugenden Kontextexegese“ zustande gekommen (S. 8). Diese Kritikpunkte Kleins an der Position Stuhlmachers sind meines Erachtens in weiten Teilen angebracht. Allerdings ist auch diese Kritik noch nicht ganz ausgereift. Denn Klein entwickelt – statt sich um die Klärung der verschiedenen Bedeutungen der Formulierung δικαιοσύνη θεοῦ im jeweiligen Kontext zu bemühen – ebenso wie Stuhlmacher einen Deutungsansatz, der die Formulierung δικαιοσύνη θεοῦ auf eine einzige, theologisch vorgeprägte Bedeutung eingeschränkt interpretiert, nämlich dem der Gabe Gottes.

Eine Skizze der neueren Forschung

3.

Jüngere und jüngste Forschung: Die Durchsetzung von Käsemanns These und geringfügige Kritik an ihr

Trotz der dargestellten Kritik hat die Position Käsemanns und seiner Schüler die nachfolgende Diskussion nachhaltig dominiert. Dies zeigt sich besonders eindrücklich an der Untersuchung über den Begriff der Gerechtigkeit Gottes bei Paulus, The Meaning of Righteousness in Paul: A Linguistic and Theological Enquiry, von John A. Ziesler, die kurz nach dem Höhepunkt der Debatte im Jahr 1972 erschienen ist. Wie schon am Untertitel deutlich wird, geht Ziesler von der philologischen Untersuchung des hebräischen wie des griechischen Gerechtigkeitsbegriffs im Alten Testament und in frühjüdischen Schriften aus, bei der er annähernd alle Belege berücksichtigt. Damit schlägt er grundsätzlich den richtigen methodischen Weg ein, weil er sich nicht nur den hebräischen Texten zuwendet, sondern auch die ins Griechische übersetzten Texte der LXX als Vorlage des Paulus ansieht. Bei der Betrachtung der Belegstellen für die hebräischen Wörter aus der Wurzel ‫ צדק‬einerseits und der Belegstellen für die Begriffe des δικαι-Wortfeldes andererseits kommt er unter der leitenden Fragestellung, welche hebräischen Begriffe jeweils mit δικαιοσύνη usw. übersetzt werden, zum Ergebnis, dass die hebräischen Wörter aus der Wurzel ‫ צדק‬und die griechischen Wörter aus der Wurzel δικαι semantisch grundsätzlich deckungsgleich sind und das δικαι-Wortfeld durch den Übersetzungsvorgang in seiner Semantik auf den Bundesgedanken erweitert bzw. zugespitzt worden ist: The meaning of the Greek words seems to be dominated by the Hebrew words they render; this must be seen, however, in the light of our remarks on the use, particularly of the noun, in secular Greek, and especially in Plato and Epicurus. The LXX translators seem to have perceived that ts-d-q was basically covenantal, hence their rather astonishing rendering by δικαι- of other covenant words whose dictionary meaning is widely different.18

Der δικαιοσύνη-Begriff in der LXX ist demnach als vom hebräischen ‫ צדק‬beeinflusstes „covenant word“ aufzufassen und Paulus steht mit seiner Verwendungsweise des Begriffs δικαιοσύνη in dieser Tradition. Allerdings weist auch Zieslers Ergebnis, ebenso wie Käsemanns und Stuhlmachers Untersuchungen, den methodischen Makel auf, den Kontext der jeweiligen Belegstellen nicht hinreichend genau berücksichtigt zu haben. Damit löst er sein bereits in der Einleitung benanntes Ziel, die δικαιοσύνη-Begriffe in ihrem je bestimmten Kontext zu untersuchen, nicht ein, obwohl er gerade diese methodische Schwäche Käsemanns und Stuhlmachers überwinden wollte. Daher verwundert es auch nicht, dass Ziesler bei der Untersuchung des Gerechtigkeitsbegriffs im Alten Testament und in frühjüdischen Schriften und

18 Ziesler, Meaning, 67.

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Zu Ansatz und Fragestellung der Arbeit in forschungsgeschichtlicher Perspektive

bei der Untersuchung der paulinischen Belegstellen zu einem ähnlichen Ergebnis wie Käsemann und Stuhlmacher kommt. Zur Formulierung δικαιοσύνη θεοῦ in Röm 1,17 heißt es bei Ziesler beispielsweise: Yet in the idea of righteousness by faith as already put forward, we have a framework within which these two sides fit together without paradox. God’s righteousness is his own covenant loyalty, now in Paul widened beyond a covenant with Israel and made universal. This righteousness is saving precisely in that man, whether Jew or Gentile, is now drawn into and lives in God’s righteousness. This is gospel and power. It is power, as we shall see later especially in Rom. 6 in the two senses, power or lordship under which one lives, and power by which one lives. The gospel is power exactly in that God’s righteousness is revealed in it, and that means his activity, his powerful activity. This righteousness then is both demand and gift, as in Mt. 5;1 it is the new life, the moral renewal of the believer, which yet remains always God’s righteousness.19

An diesem Zitat ist gut zu erkennen, dass Ziesler die Formulierung δικαιοσύνη θεοῦ in Röm 1,17 einerseits als Bundestreue Gottes versteht und sie gleichzeitig als die von Gott gegebene Gerechtigkeit interpretiert. Um diese Doppeldeutigkeit herauszustellen, verwendet er wie Käsemann den Begriff Macht (power) oder mächtiges Handeln und geht davon aus, dass dieses mächtige Handeln Gottes die Glaubenden in den göttlichen Herrschaftsbereich versetzt und ihnen somit eine neue Lebensweise gewährt. Diese doppelte Stoßrichtung wird auch an seiner Auslegung der Formulierung δικαιοσύνη θεοῦ in Röm 3,21f und 10,3 erkennbar.20 Im deutschsprachigen Raum zeigt sich der Einfluss der Position Käsemanns unter anderem an Wilckens Kommentar zum Römerbrief, der in der Reihe EKK im Jahr 1978 veröffentlicht wurde. In einem ausführlichen Exkurs unter dem Titel „Gerechtigkeit Gottes“ behauptet Wilckens in ähnlicher Weise wie Käsemann und seine Schüler, dass der Ausdruck δικαιοσύνη θεοῦ bei Paulus nicht einfach eine von Gott geschenkte Gabe bedeutet, sondern vielmehr als Macht bzw. Wirkung Gottes zu verstehen ist. Allerdings bemüht er sich, die beiden Deutungsvarianten von δικαιοσύνη θεοῦ in seiner Auslegung miteinander zu vermitteln, was zu einer doppelten Deutung der δικαιοσύνη θεοῦ führt.21 Die δικαιοσύνη θεοῦ-Aussagen in Röm 1,17; 3,21f und 10,3 sind nach Wilckens aufgrund der Näherbestimmung durch die πίστις-Wendungen als Glaubensgerechtigkeit, also als die aus dem Glauben kommende Gerechtigkeit zu verstehen. Doch 19 Ziesler, Meaning, 187f. 20 Vgl. Ziesler, Meaning, 190ff.205ff. 21 Von dieser Untersuchung beeinflusst, erweitert später auch Stuhlmacher, der die δικαιοσύνη θεοῦ zunächst ausschließlich als Macht Gottes verstanden hat, seine Auslegung um die Deutungsvariante Gabe und folgt damit Wilckens doppelter Interpretation. Vgl. Stuhlmacher, Römer, 30ff.

Eine Skizze der neueren Forschung

an allen drei Stellen sei „Gottesgerechtigkeit keineswegs einfach gleichbedeutend mit Glaubensgerechtigkeit.“ (S. 205). Aus der Gegenüberstellung mit der Wendung ὀργὴ θεοῦ in 1,18 schließt Wilckens, dass δικαιοσύνη θεοῦ in Röm 1,17 ebenso wie ὀργὴ θεοῦ als „Wirkung Gottes“ zu begreifen ist, die den Menschen widerfahren ist (S. 205). Dieses Verständnis gelte auch für die Wendung δικαιοσύνη θεοῦ in 3,21.22. Mit diesen Wendungen werde „nicht die Gottesgerechtigkeit als Glaubensgerechtigkeit näher bestimmt, sondern der Glaube an Gottes Heilshandeln in Christus als das Mittel (δία) der darin wirksam gewordenen Gottesgerechtigkeit selbst hervorgehoben, durch das diese das von ihr geschaffene Heil als Sühnegeschehen vom Menschen angenommen wissen will.“ (S. 205). Die Ausdrücke ἡ τοῦ θεοῦ δικαιοσύνη und ἡ δικαιοσύνη τοῦ θεοῦ in 10,3 bedeuten aus der Sicht Wilckens ebenfalls nicht die von Gott geschenkte Gerechtigkeit, sondern „die Gerechtigkeit Gottes, die den Sünder im Sühnetod Christi gerecht gemacht hat.“ (S. 207).22 Die δικαιοσύνη θεοῦ in 2Kor 5,21 interpretiert er als „die uns zuteilgewordene Gerechtigkeit Gottes“ (S. 207) und nicht einfach als die Gerechtigkeit des Glaubenden. Somit wird für Wilckens bei allen Belegen der Formulierung δικαιοσύνη θεοῦ der anthropologische Aspekt stets vom theologischen eingeholt. Eine weitere Nähe der Auslegung Wilckens zur Position Käsemanns und seiner Schüler besteht in seinem Verständnis des traditionsgeschichtlichen Zusammenhangs der paulinischen Aussagen über die Gottesgerechtigkeit. Wilckens ist nämlich der Ansicht, dass Paulus mit seinen Aussagen über die Gerechtigkeit Gottes dem alttestamentlichen Sprachgebrauch besonders nahesteht. Im Anschluss an die These von Hermann Cremer und Klaus Koch geht er grundsätzlich davon aus, dass der biblische Gerechtigkeitsbegriff keine „richterliche Norm“ beschreibe, sondern als „ein sozialer Verhältnisbegriff“ zu verstehen sei (S. 212). Ferner gelangt Wilckens bei seiner Untersuchung des Begriffs ‫צדק‬/‫ צדקה‬im Alten Testament zum Fazit, dass „Gottes Gerechtigkeit im Alten Testament seine Gemeinschaftstreue zu seinem Eigentumsvolk ist, die sich in seinen Heilstaten im Zusammenhang des heiligen Krieges auswirkt und deren die gesamte Schöpfung begründende und bestimmende Macht im Kult erfahren wurde.“ (S. 220). Für Wilckens steht die paulinische Vorstellung von Gottes Gerechtigkeit in besonderer Nähe zu den Qumran-Schriften, in denen seiner Meinung nach die Gerechtigkeit Gottes als die Heilsmacht bzw. schöpferische Gnade Gottes verstanden wird, welche die Gerechtigkeit auf Seiten des Menschen grundsätzlich und je aktuell allein begründet (S. 215). Eduard Lohse plädiert dagegen in seinem im Jahr 2002 erschienenen Römerbriefkommentar dafür, die Formulierung δικαιοσύνη θεοῦ in Röm 3,22; 10,3 und 22 Wilckens vertritt die These, dass die Formulierung ἡ τοῦ θεοῦ δικαιοσύνη bzw. ἡ δικαιοσύνη τοῦ θεοῦ in Röm 10,3 hinsichtlich ihrer Semantik vom Ausdruck ἐκ θεοῦ δικαιοσύνη in Phil 3,9 zu unterscheiden ist, obwohl im jeweiligen Kontext eine gemeinsame Argumentationsstruktur vorliegt (vgl. Römer I, 207).

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Zu Ansatz und Fragestellung der Arbeit in forschungsgeschichtlicher Perspektive

Phil 3,9 als von Gott verliehene Gabe aufzufassen. Damit scheint seine Position der Position Bultmanns nahezustehen. Diese Nähe gilt allerdings unter dem Vorbehalt, dass er nicht wie Bultmann alle Belege des Ausdrucks δικαιοσύνη θεοῦ als Gabe interpretiert. In einem Exkurs über die Gerechtigkeit Gottes heißt es bei Lohse: Der Begriff δικαιοσύνη θεοῦ ist daher nicht als eine formelhafte Wendung zu verstehen, die an allen Stellen eine einzige, gleichlautend fixierte Aussage machte. Sondern er umfasst die ganze Spannweite von der Bestimmung der Gottheit Gottes (gen. sub.: Röm 3,5.25) über die Gabe seiner Barmherzigkeit (gen. auct.: Phil 3,9; Röm 10,3) bis zu der Gerechtigkeit, die vor Gott gilt (Gen obj.: 2Kor 5,21).23

Merkwürdigerweise rechnet Lohse Röm 1,17 und 3,21-22 nicht zu denjenigen Stellen, die von der Gabe Gottes sprechen. In 1,17 versteht er den Ausdruck δικαιοσύνη θεοῦ als „[den] gnädige[n] Erweis der Barmherzigkeit Gottes“, der sich allein im Glauben erfahren lässt (S. 78). In 3,21-22 interpretiert er den Ausdruck δικαιοσύνη θεοῦ auf den Kreuzestod Christi hin als „die verwandelnde und erneuernde Kraft Gottes.“ (S. 130). Die Formulierung δικαιοσύνη θεοῦ bei Paulus ist daher aus der Sicht Lohses nicht immer als Gabe Gottes aufzufassen, sondern kann je nach Kontext auch als Barmherzigkeit Gottes oder Gottes Kraft gedeutet werden. Mit dieser Sichtweise weicht Lohse deutlich von der von ihm in seinem 1973 veröffentlichten Aufsatz Die Gerechtigkeit Gottes in der paulinischen Theologie vertretenen Position ab, dass die δικαιοσύνη θεοῦ bei Paulus als Glaubensgerechtigkeit zu verstehen sei, die „im Wort erfahrbar ist, in dem sie zugesprochen wird.“ (S. 227; vgl. auch S. 222f). Gleichzeitig lehnte er in dem Aufsatz von 1973 Stuhlmachers Verständnis der δικαιοσύνη θεοῦ bei Paulus als die Schöpfermacht ab, da es „ohne exegetisch erweisbaren Anhalt im Text [ist] und den Befund, wie er sich in den paulinischen Briefen darbietet, verfehlt.“ (S. 255f). Grundsätzlich verkenne Stuhlmacher die unlösliche paulinische Verklammerung „zwischen der Offenbarung der Gerechtigkeit Gottes und dem Glauben, der allein Gottes Gabe zu empfangen vermag.“ (S. 226). Die sich gegenüber seinem frühen Aufsatz deutlich unterscheidende Positionierung Lohses in seinem Kommentar lässt sich mit dem Versuch erklären, den bei seinen Qumran-Forschungen gewonnenen Erkenntnissen gerecht zu werden, wonach die ‫ צדקה‬Gottes in den Texten aus Qumran die Zuwendung von Barmherzigkeit und die Rettung der verlorenen Menschen bedeutet und dieses Verständnis auch bei Paulus angetroffen werden kann. Michael Wolter vertritt die Annahme wie Wilckens, Ziesler und Lohse, dass der Sprachgebrauch von ‫ צדקה‬im Alten Testament und im frühen Judentum als

23 Lohse, Römer, 81.

Eine Skizze der neueren Forschung

die Grundlage für die paulinischen Aussagen über die Gottesgerechtigkeit anzusehen ist.24 Sein Verständnis der Gerechtigkeit Gottes im Alten Testament und im frühen Judentums fasst er wie folgt zusammen: Die Rede der Gerechtigkeit Gottes „basiert auf einem Verständnis von Gerechtigkeit, deren Kriterium nicht die Übereinstimmung mit einer gesetzten Norm ist, sondern die Angemessenheit des Verhaltens innerhalb einer bestehenden Gemeinschaft.“ (S. 122). Wenn im Alten Testament und im frühen Judentum von Gottes Gerechtigkeit die Rede ist, gehe es um „Gottes heilvolles Handeln zugunsten seines Volkes oder zugunsten des einzelnen Frommen“ (S. 122) und damit immer auch um die Manifestation einer Eigenschaft Gottes. Als Belege für dieses Verständnis führt Wolter Ps 22,32; 31,2; 36,11; 51,16; 98,2; Jes 46,3; 51,5-6, 62,2; Dan 9,16 und 1QS 11,5 an. Neben dieser Vorstellung von der Gerechtigkeit Gottes „in seinem rettenden Eingreifen zugunsten seines Volkes und der Frommen“ gebe es aber noch eine andere alttestamentliche Tradition, die für das Verständnis der Rede von Gottes Gerechtigkeit bei Paulus von großer Bedeutung sei. Diese Tradition liege in der Anrechnung des Glaubens Abrahams zur Gerechtigkeit in Gen 15,6 vor. Aus der Sicht Wolters verknüpft die paulinische Vorstellung von der Gerechtigkeit Gottes diese beiden Traditionslinien miteinander, was vor allem in Röm 3,21-22.25-26 und in Röm 10,3-4 zu erkennen ist. Interessant ist dabei vor allem, wie Wolter die in ihrer Deutung umstrittene Formulierung δικαιοσύνη θεοῦ bei Paulus versteht. Wolter meint, dass diese Wendung in Röm 1,17; 3,21.22 und 2Kor 5,21 allein als Eigenschaft Gottes zu verstehen sei.25 Man kann hierbei sehen, dass die Formulierungen δικαιοσύνη θεοῦ (Röm 1,17; 3,21-22; 10,3; 2Kor 5,21) und δικαιοσύνης αὐτοῦ (Röm 3,25-26) von ihm nicht differenzierend, sondern in demselben Deutungsrahmen als Eigenschaft Gottes verstanden werden. Zu Röm 1,17 schreibt er in seinem EKK-Kommentar: Paulus versteht seine Verkündigung des Evangeliums also als eine Weise von Gottes Handeln, mit dem Gott seine Heil schaffende Gerechtigkeit manifestiert und dadurch offenbar macht. Gott benutzt die paulinische Verkündigung, um seine Gerechtigkeit in Erscheinung treten zu lassen. Dass eine Verkündigung überhaupt zu einer solchen Macht Gottes zum Heil (V 16b) werden kann – das kann nur der Glaube sagen, der ihr diesen Machtcharakter zuschreibt und für dessen Subjekt (παντὶ τῷ πιστεύοντι) sie zu dieser Macht wird. … Der Glaube fungiert hier als Erkenntnisgrund wie als Sachgrund gleichermaßen für das Ereignis-Werden der Gerechtigkeit Gottes im Evangelium.26

24 Vgl. Wolter, Römer I, 122f. 25 Die frühere Position in seiner Dissertation Rechtfertigung und Zukünftiges Heil zeigt aber, dass Wolter damals der Position Bultmanns anhing (vgl. Zukünftiges Heil, 23–34). 26 Wolter, Römer I, 125.

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Zu Ansatz und Fragestellung der Arbeit in forschungsgeschichtlicher Perspektive

Und in einem Exkurs zur δικαιοσύνη θεοῦ schreibt Wolter: Es ist aber nicht dieser Zuspruch von Gerechtigkeit, der Paulus in Röm 1,17; 3,21-22.25-25; 10,3 zur Rede von der Gerechtigkeit Gottes veranlasst hat, auch wenn er selbstverständlich der Meinung ist, dass Gott sie gegeben hat.27 Diese Abgrenzung ist kritisch gegen Martin Luthers und Rudolf Bultmanns Interpretation der paulinischen Rede von der Gerechtigkeit Gottes geltend zu machen. Beide haben nicht bedacht, dass die theologischen Konzepte Rechtfertigung aus Glauben und Gerechtigkeit Gottes ursprünglich nicht miteinander verbunden waren. Sie kommen vielmehr erst dadurch zusammen, dass Paulus das aufgrund des Christusglaubens ergehende Rechtfertigungshandeln Gottes als Ereignis-Werden der heilschaffenden Gerechtigkeit Gottes deutet. Dadurch, dass der Glaube das im Evangelium vergegenwärtigte Heilshandeln Gottes als solches wahrnimmt, tritt Gottes Gerechtigkeit gewissermaßen aus ihrer Verborgenheit in Gott heraus und wird unter den Menschen als Heilsmacht wirksam.28

An diesen Sätzen wird deutlich, dass Wolter ähnlich wie Käsemann und Stuhlmacher die Formulierung δικαιοσύνη θεοῦ als eine „Heilsmacht Gottes“ bestimmt.29 Dabei muss allerdings beachtet werden, dass er diese Formulierung dezidiert als eine Eigenschaft Gottes und damit als Gottes Gerechtsein auffasst.30 Die Offenbarung der δικαιοσύνη θεοῦ bedeutet für Wolter grundsätzlich, dass die Gerechtigkeit Gottes, sein Gerechtsein, für die Glaubenden mittels ihres Glaubens eine evidente Wirklichkeit wird. Dies zeigt sich auch in seiner Auslegung von 3,21-22: Auch in Röm 3,22a ergibt die modale Interpretation einen guten Sinn: Als prädikative Näherbestimmung von δικαιοσύνη θεοῦ (der Genitiv ist auch hier ein genitivus subjectivus) signalisiert Paulus mit ihrer Hilfe, dass es um die Gerechtigkeit Gottes geht, wie sie die πίστις Χριστοῦ versteht. Mit Hilfe dieser Formulierungen wird jedenfalls deutlich gemacht, dass es die in den Rahmenaussagen festgestellte Wirklichkeit allein für die Wirklichkeitsgewissheit des (Christus-)Glaubens gibt: Dass Gerechtigkeit Gottes so in Erscheinung getreten ist, dass sie allen, die glauben, Heil bringt (Röm 3,22a).31

27 Daran ist erkennbar, dass Wolter δικαιοσύνη θεοῦ eindeutig als Gabe Gottes versteht, obwohl er sie grundsätzlich als Eigenschaft Gottes sieht (vgl. Römer II, 106). Somit nimmt er wie Wilckens eine doppelte Deutung der Genitivformulierung δικαιοσύνη θεοῦ vor. 28 Wolter, Römer I, 124. 29 Vgl. auch Wolter, Römer I, 126. 30 Damit distanziert Wolter sich deutlich von Käsemann und Stuhlmacher, die die δικαιοσύνη θεοῦ grundsätzlich nicht als Eigenschaft Gottes verstanden haben. 31 Wolter, Römer I, 249.

Eine Skizze der neueren Forschung

In ähnlicher Weise interpretiert Wolter auch den Ausdruck δικαιοσύνη θεοῦ in 2Kor 5,21 als „eine Eigenschaft Gottes und seines Handelns.“ (S. 124). Lediglich Röm 10,4 kann aus der Sicht Wolters als ein Beleg für die Gerechtigkeit gelten, die Gott den Menschen aufgrund ihres Glaubens an Christus zuspricht (S. 124).32 4.

Fazit

In der forschungsgeschichtlichen Darstellung ist deutlich geworden, dass der Ansatz Käsemanns und seiner Anhänger, nach dem die Genitivformulierung δικαιοσύνη θεοῦ bei Paulus nicht allein als Gabe Gottes, sondern als heilschaffende Macht oder Heilshandeln Gottes zu verstehen ist, eine starke Wirkung entfalten konnte. Nachdem dieser Ansatz anfänglich auf vehemente Kritik gestoßen ist, hat er bis heute immer mehr Zustimmung gefunden. Dabei wird jedoch zu Recht die Meinung abgelehnt, dass die δικαιοσύνη θεοῦ bei Paulus eine von der jüdischen Apokalyptik übernommene Formulierung und ein die heilschaffende Macht Gottes bezeichnender terminus technicus sei. Dennoch wird heutzutage zumeist davon ausgegangen, dass das Interpretament der Gabe das Bedeutungsspektrum der δικαιοσύνη θεοῦ bei Paulus nicht ganz abdeckt. Darüber hinaus hat in der neueren Forschung die von Cremer entwickelte These an Einfluss gewonnen, dass die Rede von Gottes Gerechtigkeit bei Paulus vom Sprachgebrauch und der Bedeutung von der ‫צדק‬/‫ צדקה‬Gottes im Alten Testament her zu erklären sei. Die ‫צדק‬/‫ צדקה‬Gottes im Alten Testament wird dabei als iustitia salutifera und nicht als iustitia distributiva aufgefasst und als ein auf die Gemeinschaft bezogener Begriff verstanden, im Unterschied zum Normbegriff der δικαιοσύνη in der paganen Gräzität. Auf der Grundlage dieser Unterscheideung gehen gegenwärtig noch viele Exegeten davon aus, dass die paulinische Verwendung des Begriffs δικαιοσύνη in semantischer Kontinuität zur alttestamentlichen Auffassung von ‫צדק‬/‫ צדקה‬steht. Somit wird der paulinische Begriff ganz vor dem Hintergrund seiner (re-)konstruierten alttestamentlichen Begriffsgeschichte gelesen, ohne dass dabei ein genauer Vergleich der Kontexte bei Paulus einerseits und in den alttestamentlichen Belegen andererseits durchgeführt würde.

32 Vgl. auch Wolter, Römer II, 112f.

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Zu Ansatz und Fragestellung der Arbeit in forschungsgeschichtlicher Perspektive

B.

Kritische Rezeption der Forschung und Explikation der Fragestellung

1.

Philologisch-Semantische Probleme

1.1

Zur Interpretation des Begriffs δικαιοσύνη und der Genitivformulierung δικαιοσύνη θεοῦ bei Paulus

Wie in der Darstellung der Forschungsgeschichte gezeigt, vertreten viele Exegeten die Auffassung, dass die Verwendung der Formulierung δικαιοσύνη θεοῦ bei Paulus in traditionsgeschichtlicher Verbindung mit dem alttestamentlich-jüdischen Verständnis von ‫צדק‬/‫ צדקה‬steht und ihre Bedeutung davon geprägt ist. Diese Exegeten bedienen sich zur Klärung dieser traditionsgeschichtlichen Verbindung häufig der drei Begriffe „Verhältnis“, „Bundes-“ bzw. „Gemeinschaftstreue“ und „Heilshandeln“ als Deutungskategorien für die Interpretation von δικαιοσύνη θεοῦ bei Paulus. Meines Erachtens liegt das zentrale Problem der herkömmlichen Interpretation der Wendung δικαιοσύνη θεοῦ bei Paulus gerade in der Rezeption dieser drei Deutungsbegriffe, die in der älteren alttestamentlichen Forschung ihren Ursprung haben. Wie oben gezeigt, gehen Käsemann und seine Nachfolger unter Aufnahme eines von Cremer, Koch und von Rad gegebenen Impulses davon aus, dass das hebräische Wort ‫צדק‬/‫ צדקה‬anders als der griechische Begriff δικαιοσύνη nicht als ein richterlicher Normbegriff, sondern als ein „Verhältnisbegriff“ zu verstehen sei. Dieser Auffassung zufolge ist das soziale Leben Israels fundamental und in all seinen verschiedenen Dimensionen durch ein Verhältnis bestimmt. Das hebräische Wort ‫צדק‬/‫ צדקה‬bedeute demnach nicht Gerechtigkeit, sondern „Gemeinschaftsbzw. Bundestreue“. Die hebräischen Begriffe ‫צדק‬/‫ צדקה‬bezeichnen also nicht die Konformität mit einer gesetzten Norm, sondern ein bestimmtes Verhalten, das innerhalb einer bestehenden Gemeinschaft als angemessen gilt. Daneben wird auch häufig betont, dass ‫צדק‬/‫ צדקה‬anders als δικαιοσύνη nicht im Sinne von iustitia distributiva, sondern im Sinne von iustitia salutifera (heilschaffende Gerechtigkeit Gottes) zu verstehen sei. Die paulinische Verwendung von δικαιοσύνη und ihre Bedeutung sei wie schon in der LXX maßgeblich vom hebräischen Ausdruck ‫צדקה‬/‫ צדק‬geprägt und damit weniger vor dem Hintergrund des Koine-Griechisch zu verstehen. Methodisch ist dieser Ansatz aber insofern problematisch, als die Wendung δικαιοσύνη θεοῦ bei Paulus als eine das hebräische Konzept von ‫צדקה‬/‫ צדק‬übertragende Formulierung verstanden wird und ihre Semantik von der hebräischen Begrifflichkeit her erklärt wird. Zur Plausibilisierung dieser Annahme wird die Verwendung der Wörter vom Stamm δικαι- in der LXX häufig als eine Art Übergang zum paulinischen Gebrauch aufgefasst. In der LXX tritt die Wortfamilie des δικαι-Stamms überwiegend für hebräische Wörter vom Stamm ‫ צדק‬ein. Damit wird die Auffas-

Kritische Rezeption der Forschung und Explikation der Fragestellung

sung begründet, dass die Bedeutungen des hebräischen Ausdrucks ‫צדקה‬/‫ צדק‬auf die Semantik des in der LXX verwendeten griechischen Äquivalents δικαιοσύνη eingewirkt haben und dessen Bedeutung auf diese Weise im Sinne des hebräischen Ausdrucks erweitert worden sei.33 Diese Annahme steht jedoch auf einem wackeligen sprachwissenschaftlichen Fundament. Bereits Wilhelm von Humboldt hat als Übersetzen „die punktuelle Übertragung des Wortes zu einer anderen Auffassung der Erscheinungswelt durch eine andere Kulturgemeinschaft“ verstanden.34 Dieser sprachwissenschaftlichen Einsicht folgend, kann eine einfache semantische Übertragung vom hebräischen Begriff auf den griechischen nicht vorausgesetzt werden, da die Zielsprache Griechisch und die Ausgangssprache Hebräisch verschiedene Sprach- und Kultursysteme bilden, weshalb der Begriff δικαιοσύνη als ein griechisches Wort nicht einfach die vom spezifischen Sprach- und Kultursystem geprägten semantischen Elemente des hebräischen Terminus enthalten kann. Die vom Tübinger Alttestamentler Gese und dem Neutestamentler Stuhlmacher begründete sog. Biblische Theologie schlägt methodisch insofern einen problematischen Weg ein, als sie den Ausgangspunkt der Deutung neutestamentlicher griechischer Termini im hebräischen Konzept setzt. Die Begriffsgeschichte der verwandten analogen hebräischen Termini und die ihnen zugrunde liegenden theologischen Konzepte werden dann für die Deutung der griechischen Termini im Neuen Testament vorausgesetzt. Auf diesem Wege wird die Semantik der griechischen Termini mit derjenigen der entsprechenden hebräischen Begriffe aufgeladen, anstatt sie durch die Untersuchung ihres Sprachgebrauchs in paganen Belegen zu erschließen.35 Doch schon die Tatsache, dass Paulus seine Schriften auf

33 Wie Rydbeck und Silva betont haben, ist kaum von einem hebräischen Einfluss auf der WortSemantik-Ebene und einem dadurch beeinflussten Bedeutungswandel der griechischen Worte auszugehen, hingegen halten sie in der Satzstruktur und Ausdrucksweise einen hebräischen Einfluss für möglich (vgl. Rydbeck, Language, 366ff; Silva, Biblical Words, 53ff). 34 Von Humboldt, Über das vergleichende Sprachstudium, zitiert nach: Breytenbach, Exegese, 8. Nach Grimms’ Erklärung ist das „Übersetzen“ ein Vorgang, bei dem ein Schiff zum anderen Ufer hinüberfährt: „Was übersetzen auf sich habe, läszt sich mit demselben wort, dessen accent ich blosz zu ändern brauche, deutlich machen: übersétzen ist übersetzen, traducere navem. wer nun zur seefart aufgelegt, ein schif bemannen und mit vollem segel an das gestade jenseits führen kann, musz dennoch landen, wo anderer boden ist und andre luft streicht.“ (Zitiert nach Schumacher, Entstehung, 36). 35 Damit soll aber keineswegs gesagt werden, dass ein Einfluss alttestamentlicher Vorstellungen auf die Verwendung der δικαι-Wörter bei Paulus gänzlich ausgeschlossen ist. Im Blick auf mit dem Sprachgebrauch der δικαι-Wörter verbundene Gedanken und Motive ist ein solcher Einfluss kaum zu leugnen. Denn es gibt paulinische, einen δικαι-Terminus enthaltende Konstruktionen und damit verbundene Vorstellungen, die allein in der LXX zu belegen oder mit einem Ausdruck in der LXX vergleichbar, der Profangräzität jedoch fremd sind. Die Verwandtschaft paulinischer Vorstellungen mit der LXX wird in Teil II.B behandelt.

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Zu Ansatz und Fragestellung der Arbeit in forschungsgeschichtlicher Perspektive

Koine-Griechisch abfasste, führt zu der Notwendigkeit, dass man sich über die Semantik der δικαι-Wörter in der paganen Gräzität im Blick auf ihren einschlägigen Gesamtgebrauch Klarheit verschaffen muss, wenn man die Wortsemantik dieser griechischen Termini bei Paulus genauer bestimmen will.36 Das zweite sich in der bisherigen Forschung abzeichnende Problem betrifft die Auffassung des Begriffs δικαιοσύνη in der Profangräzität. Meistens wird dabei die Voraussetzung gemacht, dass δικαιοσύνη im hellenistischen Raum allein als ein Normbegriff im Sinne der iustitia distributiva zu verstehen sei.37 Die in der PaulusForschung häufig anzutreffende Meinung, dass die paulinische Vorstellung der δικαιοσύνη von derjenigen der paganen Literatur abweiche und in ihrer Semantik unterschieden werden müsse, geht auf dieses einseitige Verständnis des Begriffs zurück. So zeigt sich in den meisten Untersuchungen über den Begriff δικαιοσύνη, dass nicht die ganze Breite des Sprachgebrauchs in den Blick genommen wird, sondern allein die Aussagen über δικαιοσύνη in den philosophischen Werken betrachtet werden. Bei diesem Vorgehen werden in der bisherigen Forschung die Wortsemantik von δικαιοσύνη und die unterschiedliche Verwendungsweise des Begriffs nicht umfassend erhellt, sondern hauptsächlich die griechisch-philosophischen Konzepte als angenommene Grundbedeutung des Wortes in den Vordergrund gerückt. Der Überblick über den Sprachgebrauch des Begriffs zeigt eindeutig, dass das Substantiv δικαιοσύνη in philosophischen Abhandlungen ebenso wie in nichtphilosophischen Werken mit verschiedenen Bedeutungen und in unterschiedlichen Zusammenhängen verwendet wird. So bezeichnet δικαιοσύνη nicht ausschließlich eine Gerechtigkeit im forensischen Kontext (iustitia distributiva), sondern meint in einem allgemeinen Sinne die in einem Gemeinwesen durchzusetzende Gerechtigkeit sowie, bezogen auf ein Individuum, dessen Eigenschaft bzw. Handeln (zur näheren semantischen Untersuchung von δικαιοσύνη vgl. Teil II.A). Über diese Untersuchung des Sprachgebrauchs der paganen Gräzität hinaus soll die Art und Weise in den Blick genommen werden, wie die Genitivformulierung δικαιοσύνη θεοῦ von der Exegese bisher verstanden wurde. Wie bereits in der forschungsgeschichtlichen Darstellung gezeigt, haben sich viele Neutestamentler zur Formulierung δικαιοσύνη θεοῦ zu Wort gemeldet. Käsemann, Stuhlmacher

36 Dieser Forschungsansatz gilt auch für das Verständnis der hebräischen Begriffe ‫צדק‬/‫ צדקה‬im Alten Testament. Die häufig anzutreffenden Deutungen als „Verhältnisbegriff“, „Gemeinschaftstreue“ und „Heilshandeln“ sind in Hinsicht auf den gesamten Sprachgebrauch von ‫צדק‬/‫ צדקה‬im Alten Testament nicht angemessen. Der Überblick über den Sprachgebrauch von ‫צדק‬/‫ צדקה‬im Alten Testament in Teil II.B.1 wird die Problematik verdeutlichen, die drei Interpretationsbegriffe konsequent auf alle Belegstellen in den alttestamentlich-frühjüdischen Texten anzuwenden. 37 Vgl. Käsemann, Römer, 22ff; Stuhlmacher, Gottes Gerechtigkeit, 80f.113ff.145ff; Hill, Greek Words, 104ff; Wilckens, Römer I, 220ff; Ziesler, Meaning, 67f; Dunn, Romans I, 40ff; Haacker, Römer, 45f; Schumacher, Entstehung, 328ff.

Kritische Rezeption der Forschung und Explikation der Fragestellung

und ihre Anhänger haben sich dafür eingesetzt, δικαιοσύνη θεοῦ als eine eschatologische Heilsmacht Gottes zu verstehen. Dem haben Bultmann und Conzelmann samt ihren Schülern wiederum das traditionelle reformatorische Verständnis der δικαιοσύνη θεοῦ als Gabe Gottes entgegengestellt. Viele Vertreter der neueren Forschung stimmen darin überein, dass die Rede von δικαιοσύνη θεοῦ bei Paulus beide Aspekte umfasst, Macht und Gabe. Dabei muss allerdings beachtet werden, dass diese für die Deutung der δικαιοσύνη θεοῦ verwendeten Begriffe „Macht“ und „Gabe“ im eigentlichen Sinne nichts mit der Semantik von δικαιοσύνη θεοῦ zu tun haben, sondern erst von den Exegeten zur Deutung der Formulierung δικαιοσύνη θεοῦ bei Paulus an die Texte herangetragen worden sind.38 Paulus selbst verwendet weder den Begriff „Macht (δύναμις)“ noch den Begriff „Gabe (δώρημα bzw. δωρεά)“ in Verbindung mit der Formulierung δικαιοσύνη θεοῦ.39 Lediglich in Röm 5,17 verwendet er das Wort δωρεά in Verbindung mit δικαιοσύνη und bringt damit zum Ausdruck, dass die aufgrund des Christusglaubens erlangte Gerechtigkeit als ein allein aus der Gnade Gottes herkommendes Geschenk zu verstehen ist. Ausgehend von diesem Einzelbefund kann aber nicht allgemein darauf geschlossen werden, dass der Ausdruck δικαιοσύνη θεοῦ, den Paulus in Röm 1,17, 3,21-22; 10,3 und 2Kor 5,21 verwendet, im semantischen Sinne als eine von Gott verliehene Gabe zu verstehen ist. Durch den Gebrauch des Begriffs δωρεά in 5,17 betont Paulus, dass die Glaubenden ohne eigenen Verdienst Gerechtigkeit erlangt haben (vgl. auch Röm 3,24). Aus dieser Aussage kann allerdings nichts über die Wortsemantik oder die referenzielle Bedeutung des Begriffs δικαιοσύνη abgeleitet werden und auf die Bedeutung der Formulierung δικαιοσύνη θεοῦ im Allgemeinen übertragen werden. Darüber hinaus wird auch der Begriff δύναμις an keiner Stelle in Verbindung mit der Formulierung δικαιοσύνη θεοῦ verwendet. In Röm 1,16 steht δύναμις in Verbindung mit dem Ausdruck τὸ εὐαγγέλιον und bestimmt diesen näher. Der Beleg in Röm 1,16 bringt lediglich zum Ausdruck, dass die Heilsbotschaft, welche jedem Glaubenden Heil vermittelt, die rettende Kraft Gottes ist. Aufgrund dieses Befundes kommt weder der Begriff Gabe noch der Begriff Macht als angemessene Deutungskategorie für alle Belege der δικαιοσύνη θεοῦ bei Paulus in Frage. In angemessener Weise lässt sich die semantische Referenz des Begriffs δικαιοσύνη in den paulinischen Briefen dagegen mit den drei Kategorien Status bzw. Eigenschaft,

38 Über die problematischen Aspekte der Verwendung des Begriffs „Macht“ als Deutung der paulinischen Termini, „Sünde“, „Gerechtigkeit“, „Fleisch“, „Tod“, „Gesetz“ und „Gnade“ vgl. Röhser, Metaphorik, 1f. 39 Vgl. auch Williams, Righteousness, 258ff.

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Zu Ansatz und Fragestellung der Arbeit in forschungsgeschichtlicher Perspektive

Tugend sowie Tätigkeit erfassen, wie in meiner Untersuchung deutlich werden soll.40 1.2

Zur Semantik des Verbs δικαιοῦν

Insgesamt kommt das Verb δικαιοῦν 39-mal im Neuen Testament vor, davon 27-mal in den paulinischen Briefen. Bereits dieser Befund zeigt, dass dem Verb bei Paulus eine wichtige theologische Bedeutung zukommt. Besonders häufig findet δικαιοῦν im Zusammenhang mit der sogenannten Rechtfertigungslehre Verwendung, welche bei Paulus auf die soteriologische Frage hin fokussiert ist. Im Vergleich zu den zahlreichen Untersuchungen des Substantivs δικαιοσύνη war die semantische Analyse des Verbs bisher nur vereinzelt Gegenstand der Paulusforschung und wurde dort nicht in hinreichendem Umfang und in ausreichender Detailliertheit durchgeführt. Zwar bieten die Untersuchungen des Verbs δικαιοῦν von Schrenk im ThWNT und von Prothro im Aufsatz The Strange Case of Δικαιόω in the Septuagint and Paul einen guten Überblick über seine Verwendung in der paganen Gräzität, den alttestamentlichen, jüdischen sowie neutestamentlichen Texten und zeigen systematisch auf, in welcher Weise und mit welcher spezifischen Bedeutung das Verb in seinem jeweiligen Kontext verwendet wird, doch wird die Klärung des Textzusammenhangs deutlich zu knapp durchgeführt. Darüber hinaus führen die Artikel eine Reihe von Übersetzungsvorschlägen auf, doch bleibt dabei die Frage, worin nun die grundlegende Bedeutung des Verbs besteht, unbeleuchtet.41 Die genauere semantische Untersuchung des Verbs δικαιοῦν ist von entscheidender Bedeutung, andernfalls bliebe die Auslegung der paulinischen δικαιοῦν/δικαιοῦσθαι-Aussagen ohne Fundament.42 40 Im Römerbrief ist die dritte Verwendungsweise des Begriffs δικαιοσύνη zur Bezeichnung von konkreten Taten nicht belegt. Sie findet sich aber in 2Kor 9,9 und Phil 1,11, wo der Begriff auf das Almosengeben referiert. 41 In den Lexika sind die verschiedenen Bedeutungen meistens willkürlich aneinandergereiht und dabei wird nicht erklärt, wie sich diese Übersetzungsmöglichkeiten zueinander verhalten (zu dieser lexikographischen Problematik vgl. Schumacher, Entstehung, 46ff). Im Unterschied dazu versucht Olley die Semantik des Verbs δικαιοῦν durch die Untersuchung der paganen Belege zu erklären. Im Ergebnis bleibt die Frage nach der grundlegenden Semantik des Verbs aber offen, da er zwischen dem Gebrauch mit Infinitiv („deem right or appropriate“) und demjenigen mit personalem Objekt differenziert („doing what ist necessary to correct an act or state of injustice“). Vgl. auch Hill, Greek Words, 101f; letztlich auch bei Prothro, Strange Case, 51–56. 42 Die genauere semantische Untersuchung des Verbs ist nicht nur wichtig für das richtige Verständnis der paulinischen δικαιοῦν/δικαιοῦσθαι-Aussagen, sondern ebenfalls für das Verständnis der zwar seltener vorkommenden, aber nichtsdestoweniger relevanten Begriffe δικαίωμα (Röm 1,32; 2,26; 5,16.18; 8,4) und δικαίωσις (Röm 4,25; 5,18). Die Bedeutung der Substantive δικαίωμα und δικαίωσις muss von der Semantik des Verbs her erschlossen werden, da diese vom Verb δικαιοῦν abgeleitet und damit von diesem semantisch abhängig sind.

Kritische Rezeption der Forschung und Explikation der Fragestellung

Im Allgemeinen finden sich in den Bibelübersetzungen und Kommentaren für δικαιοῦν verschiedene Übersetzungen, nämlich „rechtfertigen“, „gerecht machen“

oder „gerecht sprechen“ bzw. „für gerecht erklären“, dementsprechend lauten die Bedeutungen im Passiv „gerechtfertigt werden“, „gerecht gemacht werden“, „gerecht gesprochen werden“ oder „gerecht werden“.43 Zwar wird in vielen Bibelübersetzungen und Kommentaren an den meisten Stellen konsequent eine Übersetzungsvariante verwendet, häufig finden sich aber auch verschiedene, je nach Kontext variierende Übersetzungen. Daran zeigt sich, wie schwer sich der Sinn des Verbs bei Paulus im Deutschen umschreiben lässt. Die verschiedenen Verständnisse des Verbs δικαιοῦν sind aber nicht nur ein Übersetzungsproblem, sondern mit ihnen verbindet sich auch eine theologische Debatte. Manche Exegeten kommen von den von ihnen vorausgesetzten zwei grundlegenden Übersetzungsmöglichkeiten, „gerecht sprechen“ und „gerecht machen“, zu einer von bestimmten Vorbedingungen geleiteten theologischen Diskussion. In diesem Diskurs geht es darum, ob Paulus mit dem Verb δικαιοῦν in einer forensischen und deklaratorischen Dimension lediglich den gerechten Status des Menschen meint oder im Sinne der ethischen Dimension die tatsächliche innerliche Transformation zum gerechten Menschen beschreiben möchte.44 In der jüngeren Forschung gibt es die deutliche Tendenz, diese beiden theologischen Deutungen miteinander zu synthetisieren. In der jüngsten Forschung wird die Rechtfertigung bei Paulus als eine Heilstat Gottes verstanden, durch die die Menschen in ein rechtes Verhältnis zu Gott versetzt werden. Dieser Position zufolge handelt es sich bei den Rechtfertigungsaussagen nicht um einen reinen Freispruch in dem Sinne, dass ein Mensch von Gott für unschuldig erklärt wird. Die Rechtfertigung ist vielmehr als ein Heilsakt Gottes zu verstehen, durch den die Sünder nicht allein gerecht werden, sondern in die Herrschaft Gottes, in die

43 Hinsichtlich des semantischen Gehalts des Wortes „rechtfertigen“ im Deutschen muss man darauf achten, dass sich der theologische Gebrauch des Wortes von seinem alltäglichen Gebrauch unterscheidet. Diesen alltäglichen Gebrauch des Wortes beschreibt Jüngel folgendermaßen: „Ewas zu rechtfertigen versucht man in der Regel dann, wenn es sich nicht von selbst versteht. Ein Mensch rechtfertigt z. B. sein Verhalten, sein Tun, weil es nicht plausibel oder gar ärgerlich ist. Man rechtfertigt vor allem sein Fehlverhalten, das man als irgendwie notwendiges Verhalten ent-schuldigt, um sich selbst für sein Fehlverhalten gerade nicht entschuldigen zu müssen. Man spricht sich selber, indem man sein Verhalten als notwendig ent-schuldigt, vielmehr frei.“ (Evangelium, 5). Im theologischen Verständnis bringt das Wort die göttliche Anerkennung zum Ausdruck, durch die der Sünder aufgrund seines Glaubens an Christus gerecht gesprochen wird. Wenn in der vorliegenden Arbeit das Wort „rechtfertigen“ und dessen Variationen verwendet werden, wird diese Unterscheidung vorausgesetzt und von der theologischen Bedeutung ausgegangen. 44 Vgl. Ziesler, Meaning, 9f; Cranfield, Romans I, 95; Kertelge, Rechtfertigung, 128ff; Longenecker, Romans, 174ff.

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Zu Ansatz und Fragestellung der Arbeit in forschungsgeschichtlicher Perspektive

Wirkung seiner Gerechtigkeit und in einen neuen Dienst für Gott gestellt werden. Dieser Ansatz wird im Umfeld der Paulusforschung mit der Interpretation verbunden, die die Formulierung δικαιοσύνη θεοῦ bei Paulus nicht nur als eine von Gott gegebene Gabe, sondern als eine heilsetzende Macht Gottes versteht. Wie aus der Forschungsgeschichte bekannt, wird diese Ansicht repräsentativ von Käsemann, seinem Schüler Stuhlmacher und vom katholischen Neutestamentler Kertelge vertreten sowie von den von ihnen geprägten Exegeten. So übersetzt beispielsweise Käsemann das Verb δικαιοῦν nicht einfach konsequent mit „gerecht machen“ oder mit „gerecht sprechen“, sondern er betont unter Berufung auf beide Bedeutungsaspekte gerade die Spannung bei Paulus zwischen Rechtfertigung und Heiligung oder Sakrament und Ethik: Es ging mir zunächst nur darum, an die mit der paulinischen Rechtfertigungslehre verbundenen Spannungen und an die sich in ihr bekundende theologische Dialektik zu erinnern. Mit Recht wird man solche Dialektik von da aus erklären, daß der Apostel in der Doppelfront gegen Nomismus und Enthusiasmus steht und sich jeweils des einen Gegners mit der Terminologie und Motivation des andern erwehrt. Unser Problem ist jedoch, aus welcher einheitlichen Mitte heraus er präsentische und futurische Eschatologie, „gerecht erklären“ und „gerecht machen“, Gabe und Dienst, Freiheit und Gehorsam, forensische, sakramentale und ethische Betrachtungsweise miteinander verbinden könnte.45

Weiter unten heißt es dann: Eschatologisch erhält er jedoch die Möglichkeit, zwischen regnum Christi und regnum Satanae zu wählen, und die Anfechtung stellt den Christen ebenso wie der Ruf der Predigt immer neu vor diese Wahl, so daß Christenleben zutreffend als ständiger reditus ad baptismum gesehen werden mag. Von da aus löst sich nun die Spannung in dem Verhältnis von ‚gerecht sprechen‘ und ‚gerecht machen‘. Erblickt man in der Gottesgerechtigkeit nur eine isolierbare Gabe, muß es so aussehen, als spräche Gott uns prinzipiell etwas zu, das wir erst selber zu verwirklichen hätten, oder als verwandelte er unser Dasein naturhaft. Beide Male bleibt die paulinische Dialektik unbegriffen.46

45 Käsemann, Gottesgerechtigkeit, 369f. 46 Käsemann, Gottesgerechtigkeit, 373. Auch Dunn vertritt eine ähnliche Auffassung des Gebrauchs von δικαιοῦν bei Paulus: „The other dispute, as already noted, was whether the verb dikaioo means ‘make righteous’ or ‘reckon as righteous’. But once again the basic idea assumed by Paul was of a relationship in which God acts on behalf of his human partner, first in calling Israel into and then in sustaining Israel in its covenant with him. So once again the answer is not one or the other but both. The covenant God counts the covenant partner as still in partnership, despite the latter’s continued failure. But the covenant partner could hardly fail to be transformed by a living relationship with the life-giving God.“ (Theology, 344).

Kritische Rezeption der Forschung und Explikation der Fragestellung

Mit anderen Worten behauptet Käsemann, dass bei Paulus das Verb in zwei Konnotationen, nämlich „gerecht machen“ und „gerecht sprechen“, angewendet wird, sodass die zwei Übersetzungsvarianten die dialektische Relation zwischen der gegenwärtig geschehenen Gerechtsprechung und der zu vollendenden Gerechtmachung zum Ausdruck bringen.47 Fraglich ist allerdings, ob Paulus tatsächlich bei der Verwendung des Verbs δικαιοῦν so sorgfältig und konsequent über diese theologische Spannung nachgedacht hat. Natürlich findet sich bei Paulus die Spannung zwischen Gerechtigkeit als schon erlangter Gabe und Gerechtigkeit als weiterhin verpflichtender ethischer Lebensordnung. Aber diese Spannung hat nichts mit angeblich zwei theologisch unterscheidbaren Übersetzungsvarianten des Verbs δικαιοῦν zu tun. Zunächst lässt sich die Spannung nämlich darauf zurückführen, dass Paulus in zwei verschiedenen zeitlichen Hinsichten von der Rechtfertigung sprechen kann, in gegenwärtiger Hinsicht einerseits und in zukünftiger andererseits. Darüber hinaus kann die Spannung auch damit erklärt werden, dass Paulus den Begriff δικαιοσύνη zum einen in Bezug auf den neu gewonnenen Status der Glaubenden verwendet (z. B. Röm 4,11.13; 5,17; 9,30; 10,4) und zum anderen im Sinne einer ethischen Kategorie (z. B. Röm 6,13.18-20; 8,10; 14,17). So stehen bei Paulus im Zusammenhang mit dem Begriff δικαιοσύνη häufig indikativische und imperativische Rede nebeneinander; die Glaubenden sind der Sünde abgestorben und dadurch bereits gerecht geworden, andererseits fordert der Aufruf zur Gerechtigkeit aber gerade eine noch zu vollziehende Handlungs- und Lebensweise.48 In den Artikeln zum Verb δικαιοῦν in altgriechischen Lexika wird ein weiteres Problem deutlich. Allgemeine Lexika zur griechischen Sprache (W. Pape, GriechischDeutsches Handwörterbuch und F. Passow, Handwörterbuch der griechischen Sprache) unterteilen die Semantik von δικαιοῦν grob in zwei Deutungskategorien: „für recht oder billig halten“ bzw. „als recht erkennen oder erachten“ und „bestrafen“ bzw. „richten“. Dabei berücksichtigen sie aber nur einige wenige repräsentative Belege für beide Bedeutungen und informieren darüber, dass δικαιοῦν häufig wie ἀξιοῦν in der Verbindung mit einem Infinitiv verwendet wird und in diesen Fällen „für recht und billig halten“, „für recht und billig erachten“ oder „wollen“ meint49 und in Verbindung mit einem personalen Objekt als „richten“ bzw. „bestrafen“ wiederzugeben ist. Ferner zeigen LSJ und ThWNT, dass das Verb in der paganen, hellenistischen und kaiserzeitlichen Literatur in Verbindung mit einem personalen Objekt nicht wie bei Paulus „rechtfertigen“ bzw. „gerecht sprechen“ meint, sondern überwiegend mit einer negativen Konnotation im Sinne von „bestrafen“ bzw. 47 Käsemann erklärt aber nicht, an welcher Stelle das Verb δικαιοῦν „gerecht sprechen“ und an welcher es „gerecht machen“ bedeutet. 48 Vgl. dazu die exegetische Untersuchung von Röm 6 und Röm 8,1-11 in dieser Arbeit. 49 Diese in der paganen Gräzität am häufigsten vorkommende Verwendungsweise ist in BAA nicht erwähnt.

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Zu Ansatz und Fragestellung der Arbeit in forschungsgeschichtlicher Perspektive

„richten“ gebraucht wird. Nach den Belegen in LSJ und ThWNT sind nur die LXX und das Neue Testament Textcorpora, in denen das Verb in Verbindung mit einem personalen Objekt stets positiv als „gerecht sprechen“ oder „für gerecht erklären“ verwendet wird.50 Aufgrund dieses Befunds gehen viele Exegeten davon aus, dass die paulinische Verwendung des Verbs mit der positiven Konnotation „rechtfertigen“ bzw. „gerecht sprechen“ ein speziell vom griechischen Alten Testament beeinflusster biblischer Sprachgebrauch ist.51 Infolge dieser Annahme wird der Gebrauch und die Bedeutung des Verbs δικαιοῦν in der griechischen Bibel mit dem Einfluss des Gebrauchs des hebräischen Verbs ‫ צדק‬erklärt, das im Hiphil stets im positiven Sinne von „Recht geben“ oder „rechtfertigen“ bzw. „für gerecht erklären“ verwendet wird. Auf diese Weise wird schließlich eine sich vom allgemeinen griechischen Gebrauch unterscheidende Verwendungsweise des Verbs δικαιοῦν in den griechischen biblischen Texten und damit auch bei Paulus angenommen.52 Dass sich die Bedeutung des Verbs δικαιοῦν bei Paulus und in den anderen griechischen biblischen Texten so fundamental von derjenigen in den paganen griechischen Texten unterscheidet und das Verb in nahezu gegensätzlicher Bedeutung in den biblischen Texten und von den damaligen grieschischsprachigen Zeitgenossen verwendet wurde, ist aber höchst unwahrscheinlich. Wenn die Zeitgenossen des Paulus, griechisch sprechende Juden und Griechen, das Verb anders als Paulus, nämlich ausschließlich im negativen Sinne von „bestrafen“ bzw. „verurteilen“ verwendet hätten, dann wäre auch zu fragen, wie sie die paulinische Heilsbotschaft, die auf der Verwendung des Verbs im positiven Sinne aufbaut, hätten verstehen, geschweige denn annehmen können. Aus den vorausgehenden Überlegungen muss der Schluss gezogen werden, dass die gewöhnlich vorgeschlagenen Interpretationen, wonach das Verb δικαιοῦν in biblischen Texten im positiven Sinne „rechtfertigen“, „gerecht sprechen“ und in paganen griechischen Texten im negativen Sinne „richten“ bedeutet, die tatsächliche, grundlegende Semantik des Verbs noch nicht erfasst haben. Deshalb ist es notwendig, den Sprachgebrauch des Verbs δικαιοῦν semantisch nochmals zu untersuchen. Dabei sollte das Ziel vor allem darin liegen, aus der Analyse des gesamten Verwendungsspektrums der Belege in ihrem jeweiligen Kontext die Wortsemantik des Verbs noch einmal neu zu ermitteln.

50 Vgl. auch Dodd, Greeks, 52; Olley, Righteousness, 42; Hill, Greek Words, 101–102; VanLandingham, Judgement, 254ff. 51 Vgl. Hill, Greek Words, 160; Prothro, Strange Case, 64–66; ders, Judge, 4f. 52 Vgl. Cranfield, Romans I, 94f.

Kritische Rezeption der Forschung und Explikation der Fragestellung

2.

Traditionsgeschichtliche Probleme

In der vorliegenden Arbeit sollen auch die traditionsgeschichtlichen Zusammenhänge der paulinischen Verwendung der Begriffe des δικαι-Stamms untersucht werden. Dabei geht es um die Frage, in welcher Tradition der paulinische Sprachgebrauch verwurzelt ist und mit welchen konkreten Vorstellungen und Motiven er zusammenhängt. Ausgehend von dieser Frage soll jedoch auch gefragt werden, ob und inwiefern der Begriff durch die paulinische Verwendung eine Neubestimmung erfährt und worin das Spezifische der paulinischen Verwendung liegt. Wie in der forschungsgeschichtlichen Untersuchung deutlich geworden ist, stimmen die meisten Neutestamentler darin überein, dass die Verwendung der δικαι-Begriffe bei Paulus vor allem auf die alttestamentlich-jüdische Tradition zurückgeht und insbesondere mit frühjüdischen apokalyptischen Vorstellungen in Verbindung steht. Meines Erachtens haben jedoch die bisherigen Untersuchungen, welche sich mit diesem alttestamentlich-jüdischen Traditionshintergrund befasst haben, den Einfluss der alttestamentlichen und jüdischen Tradition auf den Sprachgebrauch der δικαι-Termini und die damit verbundenen Vorstellungen bei Paulus noch nicht angemessen und hinreichend geklärt. Zunächst fällt die Unzulänglichkeit der genaueren semantischen Untersuchungen und Analysen des Gedanken- und Argumentationsgangs der von Paulus zitierten und der seiner Gerechtigkeitsvorstellung zugrunde liegenden Belege aus dem Alten Testament und den frühjüdischen Schriften ins Auge. Vornehmlich Käsemann und Stuhlmacher behaupten, dass die paulinische Verwendung der δικαιοσύνη θεοῦ mit der Bedeutung der heilschaffenden Macht Gottes auf der alttestamentlichen bzw. jüdischen Tradition beruhe und die Formulierung δικαιοσύνη θεοῦ ein von der jüdischen apokalyptischen Tradition übernommener terminus technicus sei. Allerdings weisen die von ihnen angeführten alttestamentlichen bzw. jüdischen Texte (Dtn 33,21, Ri 5,11; Ps 98,2; T. Dan 6,10 und 1QS 11,12) keine semantische oder gedankliche Verbindung mit der paulinischen Genitivformulierung δικαιοσύνη θεοῦ auf. ‫ צדקת יהוה‬in Dtn 33,21 verstehen Käsemann und Stuhlmacher etwa als Gottes Heilshandeln. Dabei kann sich dieser Ausdruck aber in Verbindung mit dem Prädikat ‫עשׂה‬, welches „vollstrecken“ oder „tun“ bedeutet, und in Verbindung mit dem Stamm Gad als Subjekt gar nicht auf Gottes Handeln beziehen, sondern er beschreibt vielmehr das, was dem Willen Gottes entspricht und vom Menschen zu tun ist.53 In T. Dan 6,10 ist im Hinblick auf den

53 Hinsichtlich der traditionsgeschichtlichen Frage ist zu beachten, dass sich Paulus bei der Erwähnung der δικαιοσύνη θεοῦ niemals auf Dtn 33,21 beruft.

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Zu Ansatz und Fragestellung der Arbeit in forschungsgeschichtlicher Perspektive

Kontext ebenfalls nicht von der Gerechtigkeit Gottes die Rede, sondern die Formulierung ἡ δικαιοσύνη τοῦ νόμου τοῦ θεοῦ bringt auf ähnliche Weise wie ‫צדקת‬ ‫ יהוה‬in Dtn 33,21 zusammenfassend zum Ausdruck, was die göttlichen Weisungen fordern. In 1QS 11,12 ist mit ‫ צדקת אל‬ebenfalls nicht von der von Gott zugesprochenen Gerechtigkeit die Rede, sondern die Formulierung beschreibt vielmehr die Eigenschaft Gottes, nach der er im Gegensatz zur Ungerechtigkeit der Menschen gerecht handelt.54 In seiner Gerechtigkeit züchtigt Gott den Sünder und reinigt ihn von seinen Sünden. Zur Erhellung des sprachlichen und inhaltlichen Hintergrunds des paulinischen Sprachgebrauchs ist es außerdem notwendig, auch die nicht zitierten Texte im Alten Testament, auf welche die Gerechtigkeitsvorstellung bei Paulus Bezug nimmt, zu untersuchen, um intertextuelle Zusammenhänge zwischen dem Alten Testament und Paulus verständlicher zu machen. Das Problem ist allerdings, dass sich Käsemann und seine Schüler bei der Analyse der vielen von Paulus nicht zitierten alttestamentlichen Stellen als die traditionsgeschichtliche Voraussetzung für das Verständnis der Formulierung δικαιοσύνη θεοῦ bei Paulus von der ihrerzeit verbreiteten Auffassung von ‫צדקה‬/‫ צדק‬als „Bundestreue“ bzw. „Heilstat“ haben leiten lassen. Durch die Übernahme dieses theologisch vorbestimmten Verständnisses zur Klärung des traditionsgeschichtlichen Hintergrunds der paulinischen Formulierung δικαιοσύνη θεοῦ sind Fehler in ihrer Interpretation schon vorprogrammiert. Ferner tragen solche auf die Rede von Gottes Gerechtigkeit beschränkten Forschungsergebnisse wenig zur Klärung der Frage nach dem traditionsgeschichtlichen Hintergrund der paulinischen Verwendung der δικαι-Begriffe bei. Deutlich ist nämlich, dass der Sprachgebrauch der δικαι-Termini bei Paulus um Einiges vielseitiger ist, insofern Paulus nicht nur von Gottes Gerechtigkeit, sondern auch von der Gerechtigkeit des Menschen sprechen und diese beiden Dimensionen zudem in verschiedenen Bedeutungsnuancen entfalten kann. Paulus verwendet außerdem nicht allein die Genitivformulierung δικαιοσύνη θεοῦ, sondern auch das Substantiv δικαιοσύνη ohne Genitivbezug und andere δικαι-Termini wie etwa das Adjektiv δίκαιος, das Verb δικαιοῦν und die hiervon abgeleiteten Begriffe δικαίωμα, δικαίωσις. Daher müssen nicht nur die Texte, in denen die Genitivformulierung δικαιοσύνη θεοῦ explizit erwähnt wird, in Betracht gezogen werden, sondern auch diejenigen Texte, in denen unter Verwendung eines δικαι-Ausdrucks entweder von der Gerechtigkeit Gottes oder der des Menschen die Rede ist, müssen daraufhin untersucht werden, mit welchen alttestamentlichen und jüdischen Texten diese in einer traditionsgeschichtlichen Verbindung stehen. Aus diesem Grund sollen in dieser Arbeit die einzelnen Belege aus den alttestamentlichen bzw. jüdischen Schriften, in denen einer dieser δικαι-Begriffe vorkommt, unter Berücksichtigung

54 Zum näheren s. S. 156 dieser Arbeit.

Kritische Rezeption der Forschung und Explikation der Fragestellung

ihres jeweiligen Kontextes untersucht werden, um deutlich zu machen, welche alttestamentlichen bzw. jüdischen Texte im Hintergrund bestimmter Ausdrücke und Gedanken und je bestimmter Textzusammenhänge im Corpus Paulinum stehen.

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II.

Die Gerechtigkeitsaussagen in der paganen Gräzität

Wenn man sich über den Aussagegehalt des paulinischen Gebrauchs der δικαιTermini im Klaren werden will, muss man zunächst die Semantik der einzelnen δικαι-Aussagen sorgfältig untersuchen. In diesem Sinne soll sich zunächst den Belegen in der hellenistischen und römischen Literatur zugewandt werden. Paulus verwendet in seinen Briefen Koine-Griechisch. Seine Adressaten waren nicht nur griechischsprachige Juden, sondern auch griechischsprachige Nichtjuden und wie Paulus selbst aussagt, sind viele aus nichtjüdischen Völkern aufgrund ihres Glaubens in die Heilsgemeinschaft eingetreten. Wenn man diese Bestimmung des Adressatenkreises berücksichtigt, ist es wichtig zu erhellen, wie die die δικαιTermini, welche bei der Verkündigung der Heilsbotschaft des Paulus eine zentrale Rolle spielen, in den Ohren der damaligen Hörer geklungen haben mögen. Wie im forschungsgeschichtlichen Überblick dargelegt, sind die bisher innerhalb der exegetischen Forschung durchgeführten semantischen Untersuchungen des Gerechtigkeitsbegriffs im paganen griechischen Schrifttum zu unzureichenden Ergebnissen gelangt, da sie den Begriff δικαιοσύνη auf ein Verständnis als Normbegriff bzw. im Sinne der iustitia distributiva eingeengt haben.1 Der Grund dieser Engführung liegt darin, dass sie ausschließlich die Gerechtigkeitsvorstellungen von Platon und Aristoteles wiedergeben, die δικαιοσύνη als eine ethische und politische Tugend verstehen, und keine weiteren Verwendungsweisen innerhalb des paganen griechischen Schrifttums (d. h. die semantischen Referenzen) untersuchen. Will man hingegen verschiedene semantische Referenzen berücksichtigen, so empfiehlt es sich, auf einen Geschichtsschreiber zurückzugreifen, da innerhalb der Geschichtsschreibung δικαιοσύνη mit unterschiedlichen Referenzen und Konnotationen verwendet werden kann. Auf dieser Grundlage soll im Folgenden beispielhaft auf die Historien von Herodot zurückgegriffen werden. Ein weiteres Problem in Bezug auf den bisherigen Umgang mit den paganen Belegen liegt, wie im ersten Kapitel bereits erwähnt worden ist, darin, dass die semantische Untersuchung des Verbs δικαιοῦν, dem innerhalb der paulinischen Rechtfertigungslehre große Bedeutung zukommt, vernachlässigt worden ist. Aus diesem Grund ist die Semantik des Verbs δικαιοῦν noch nicht hinreichend geklärt. Zwar zeigen die meisten zeitgenössischen Lexika Übersetzungsmöglichkeiten „richten“, „für richtig halten“, „gerecht sprechen oder gerecht machen“ an, doch

1 Vgl. zu dieser Problematik auch Teil II.A dieser Arbeit.

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Die Gerechtigkeitsaussagen in der paganen Gräzität

bleibt unklar, was das Verb in seiner grundlegenden Semantik bedeutet.2 Diese soll im Folgenden unter Berücksichtigung der Belege in der griechischen Literatur der hellenistischen und römischen Kaiserzeit eruiert werden.

2 Vgl. Pape, s.v.; Passow, s.v.; Schrenk, s.v. (ThWNT); Spicq, s.v.; LSJ, s.v.

δίκη, δίκαιος, δικαιοσύνη

A.

δίκη, δίκαιος, δικαιοσύνη

1.

Die Zeit vor Platon

In der griechischen Antike findet sich von den Begriffen der Gerechtigkeit das Substantiv δίκη schon sehr früh mehrfach bei Homer und Hesiod.3 Das bedeutet im Allgemeinen Recht bzw. Gerechtigkeit, dabei ist von dem die Rede, was dem Recht oder Rechtsgefühl entsprechend ist (Homer, Od. 4,691; 18,275; 19,43; 24,255; Il. 16,388; 19,180; Hesiod, Op. 219; 279; 283). Vor allem ist im Sprachgebrauch von δίκη in der Antike auffällig, dass δίκη oftmals in religiös-mystischer Weise als Göttin der Justiz oder Tochter Zeus, personifiziert vorkommt, die über die sozialsittliche Ordnung wacht und Übeltäter vor ihren Vater zur Strafe ruft (Hesiod, Theog. 902; Op. 220; 256; 273; Orph. 42.61; vgl. auch Solon, Frag. 1,8; 3,14ff; Platon, Lg. 872).4 Im rechtlichen Gebiet bezieht sich δίκη auch konkret auf Rechtssache, Gerichtsverfahren bzw. Prozess (Hesiod, Op. 221; 225; 249; Homer, Il. 16,542; 18,508; Od. 11,570) und im negativen Kontext auch auf Strafe bzw. Rache (Hesiod, Op. 712; Sophocles, El. 34).5 Das Adjektiv δίκαιος schließt sich an das Stammwort δίκη an.6 δίκαιος wird mit dem neutralen Artikel τό in Form τὸ δίκαιον als umfassende Tugend wie der Begriff δικαιοσύνη verwendet und beschreibt das, was der δίκη angemessen ist, also was dem Recht oder Rechtsgefühl gemäß richtig bzw. gerecht ist (Herodot, 1,96.100; 2,160; 6,86; Xenophon, Mem 4,4,13 u. ö.).7 Der Begriff erhält „eine Be-

3 Hinsichtlich der Etymologie ist lange gedacht worden, dass die Wortgruppe sich aus dem Stamm δικαι- aus δείκνυμι (zeigen, weisen) entwickelt hat (vgl. Schrenk, s.v. (ThWNT); Spicq, s.v.; Hill, Greek Words, 99; Grünwaldt, s.v. (ThBNT)). Diese These ist im Hinblick auf semantische und linguistische Aspekte nicht überzeugend, da zwischen δείκνυμι und den δικαι-Termini kaum Verbindungen auszumachen sind. Wahrscheinlich hat sich die Wortgruppe (δίκη, δίκαιος, δικαιοσύνη) als eigener Wortstamm von Anfang an entwickelt. 4 Vgl. Dihle, Gerechtigkeit, 238; Spicq, s.v; Hill, Greek Words, 99. Neben dem Gebrauch der δίκη als Gerichtsverfahren bzw. Prozess im Rechtsbereich tritt die Beschreibung als rächende Göttin über früh hellenistische bis zur spät klassischen kaiserlichen Zeit immer weiter vor sowohl in paganen griechischen Literaturen als auch im hellenistischen Judentum (Heraklit, B22; B23; B28; DK; Parmen, B8; B14; DK; Sophokles, El. 528; Platon, Lg. 872e; Stobaios, Ecl. 1,62,21f; Plutarch, Moral. 565b; 4Makk 4,13; 9,9; 12,12; 18,22; Philo, Mut. Hom. 194; Conf. 118; Decal. 95; Josephus, Ant. 6,305; 14,28.538; Bell. 1,84; 7,34). 5 Der Gebrauch der δίκη im Sinne von „Strafgerechtigkeit“ bzw. „Strafe“ ist besonders in der LXX und im Neuen Testament prädominant (ExLXX 21,20; LevLXX 26,25; DtnLXX 32,41.43; Am 7,4; 2Makk 8,11.13; 4Makk 6,28; SapSal 14,31; Apg 28,4; 2Thess 1,9). Vgl. Schrenk, s.v. (ThWNT); Spicq, s.v. 6 Vgl. Schrenk, s.v. (ThWNT). 7 So tauchen beide Begriffe τὸ δίκαιον und δικαιοσύνη bei der Gerechtigkeitsspekulation bei Platon und Aristoteles und in anderen philosophischen Werken häufig nebeneinander auf.

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Die Gerechtigkeitsaussagen in der paganen Gräzität

deutung, die das ganze Leben umspannt, weil das soziale Leben eine Fülle von Tugenden fordert.“8 δίκαιος wird auch in diesem Sinne neben σώφρων, ἀγαθός, εὐσεβής als wichtige Tugend erwähnt (Aeschylus, Sept. c. Theb. 610).9 Kennzeichnend ist innerhalb der antiken griechischen Philosophie die Unterscheidung von δίκαιος und εὐσεβής. δίκαιος bezeichnet ein gesetzesgemäßes Verhalten gegenüber den Mitmenschen, während die religiöse Pflichterfüllung mit εὐσεβής bezeichnet wird (Xenophon, Mem. 4,8,11; Sophokles, Philokt. 1050f; Aischylos, Sept. c. Theb. 610).10 Darüber hinaus bezieht sich δίκαιος als Attribut oftmals auf denjenigen, der Recht bzw. Gesetz beachtet und sich demgemäß verhält (Hesiod, Op. 271; Homer, Od. 6,119ff; Theognis, Eleg. 147; Herodot, 1,96; 3,21.142.148; 2,129; 4,26.93.114 u. a.). In Bezug auf nichtmenschliche Dinge wird δίκαιος sehr häufig als Attribut im Sinne von „richtig“, „recht“ bzw. „gerecht“ verwendet, es charakterisiert eine Eigenschaft in verschiedenen Zusammenhängen. δικαιοσύνη ist das von δίκαιος abgeleitete Substantiv und umfasst ein semantisches Feld, das das Adjektiv δίκαιος beschreibt. In Hinblick auf die Wortbildung ist δικαιοσύνη wie andere Substantiva mit -σύνη-Endung (z. B. ἀγαθωσύνη, ἁγιωσύνη, ἐλεημοσύνη, σωφροσύνη) ein nomen abstractum, welches für gewöhnlich eine Eigenschaft bezeichnet.11 Nach dem von den Späteren immer neu zitierten Spruch von Theognis ist δικαιοσύνη die Tugend, welche allen anderen Tugenden übergeordnet ist: „ἐν δὲ δικαιοσύνηι συλλήβδην πᾶσ’ ἀρετή ’στι.“ (Eleg. 147). δικαιοσύνη bezeichnet hierbei die gesetzlich vorgeschriebene Gerechtigkeit, die die Politiker im Gemeinwesen durchsetzen sollen. Nach dieser Verwendung bei Theognis lässt sich δικαιοσύνη nach Recherche mit der TLG bis Isokrates und Xenophon sehr selten belegen. Das hat seinen Grund darin, dass sich die Idee über Staat und Rechtsdenken und die philosophischen Untersuchungen darüber erst in den hellenistischen philosophischen Werken im nachepischen Zeitalter stark entwickelten. Einer der zehn bekannten attischen Redner, Isokrates, spricht sehr häufig von δικαιοσύνη und stellt δικαιοσύνη als die Haupttugend dar, welche den gesamten Bereich der Beziehungen zwischen Mensch und Mitmensch umgreift. Offensichtlich ersetzt der Begriff δικαιοσύνη die sonst im Einzelnen detailliert ausgeführten und nuancierten Tugenden im Raum menschlichen Miteinanders (Nicocl. 31–34). Aus

8 Schrenk, s.v. (ThWNT). 9 Vgl. Epiktet, Diss. 1,22,1; 2,17,6. 10 Der Doppelausdruck δίκαιος und εὐσεβής ist als Bezeichnung menschlicher Vollkommenheit vom frühen griechischen Schrifttum im 6. Jh. v. Chr. bis in die Kaiserzeit verbreitet. Vgl. Dihle, Kanon, 9–15. 11 Vgl. Burk, Verbal Genitives, 351ff. Im konkreten Sprachgebrauch kann aber die semantische Referenz von δικαιοσύνη je nach Kontext in drei Kategorien unterteilt werden: Der Begriff kann eine Eigenschaft des Menschen bzw. Gottes bezeichnen, aber auch eine umfassende ethische Kategorie, z. B. als soziale Tugend oder eine konkrete Tat, die als gerecht wahrgenommen wird.

δίκη, δίκαιος, δικαιοσύνη

der großen Zahl der Einzeltugenden, die Isokrates nennt, hebt er neben σωφροσύνη immer wieder δικαιοσύνη hervor (Nicocl. 29; 43; Helen. 31; Soph. 21; Panath. 72; 138; Antides. 274). Die beiden hält Isokrates für die wichtigsten Tugenden und begründet die Überlegenheit beider Tugenden ausdrücklich mit dem Hinweis auf den Nutzen für das gemeinschaftliche Leben der Menschen. Ein entscheidendes Merkmal der Beschreibung der tugendhaften Lebensweise ist die Zweiteilung und Nebeneinanderstellung von δικαιοσύνη und εὐσέβεια. In Panath. 124 spricht Isokrates vom vorbildlichen Zusammenleben der Altvorderen und auch von ihrer Staatsverfassung: So gewissenhaft und so gut nämlich besorgten sie die Angelegenheiten der Polis und ihre eigenen, wie die Nachkommen von Göttern dies tun müssen – sie, die als erste eine Polis gegründet, Gesetze eingeführt und während der ganzen Zeit gegenüber den Göttern Frömmigkeit (εὐσέβεια) an den Tag gelegt, den Menschen gegenüber Gerechtigkeit (δικαιοσύνη) praktiziert haben.12

Sehr ähnlich werden die beiden Tugenden δικαιοσύνη und εὐσεβεία in Panath. 204 inhaltlich erklärt: „Jedermann nämlich wird der Frömmigkeit (εὐσέβεια) gegenüber den Göttern, der Gerechtigkeit (δικαιοσύνη) gegenüber den Menschen und dem vernünftigen Denken bei allem sonstigen Tun den Vorrang geben unter den verschiedenen Möglichkeiten sein Leben zu führen.“ Diese außerordentliche Zweiteilung bei der Beschreibung aller menschlichen Tugenden und Pflichten erläutert zugleich das inhaltliche Verständnis des Begriffs δικαιοσύνη: Diese Tugend bedeutet in summa die Erfüllung aller mitmenschlichen Verpflichtungen. In Memorabilia beschreibt Xenophon die Antwort des Sokrates auf die Frage, was dieser für τὸ δἰκαιον hält: „[D]er Wille, kein Unrecht tun zu wollen (τὸ μὴ θέλειν ἀδικεῖν) sei ein ausreichender Beweis für die Gerechtigkeit (δικαιοσύνη).“ (Mem. 4,4,12). Sokrates verkündigte τὸ δίκαιον durch sein Tun und in durchaus rechtschaffener Weise leistete er Gehorsam dem, was die Gesetze anordnen (ἃ οἱ νόμοι προστάττοιεν), und er zog es vor lieber im Gehorsam gegen die Gesetze zu sterben, als entgegen den Gesetzen zu leben (Mem. 4,4,1-4). Bei Werken von Xenophon kann man wie bei Isokrates die ausdrückliche Unterscheidung zwischen εὐσεβής und δίκαιος und den Gegensatz zu ἀσεβές und ἄδικος sehen (Mem. 4,6,4; 4,8,11, Cyr. 8,8,7; HG. 2,3,53; Ap. 22).13 In Mem. 4,6,4-6 definiert er ὁ εὐσεβής und ὁ δίκαιος als Folgendes:

12 Übers. jeweils nach Ley-Hutton, Sämtliche Werke. 13 Vgl. Olley, Righteousness, 37.

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… wer im Hinblick auf die Götter weiß, was den Gesetzen entspricht, von uns richtig als fromm bestimmt sein … wenn wir den Gerechten bestimmen als jemanden, der weiß, was im Hinblick auf die Menschen den Gesetzen entspricht (ὁ ἄρα τὰ περὶ τοὺς θεοὺς νόμιμα εἰδὼς ὁρθῶς ἂν ἡμῖν εὐσεβὴς ὡρισμένος εἴη … ὀρθῶς ἄν ποτε ἄρα ὁριζοίμεθα ὁριζόμενοι δικαίους εἶναι τοὺς εἰδότας τὰ περὶ ἀνθρώπους νόμιμα).

In Cyr. 8,8,7. findet sich auch die Unterscheidung zwischen ἀσέβεια und ἀδικία: „weil sie es an Frömmigkeit gegenüber den Göttern und an Gerechtigkeit gegenüber den Menschen fehlen lassen (ὅπως ἂν βούλωνται διὰ τὴν ἐκείνων περὶ μὲν θεοὺς ἀσέβειαν, περὶ δὲ ἀνθρώπους ἀδικίαν).“ Die zweigliedrige Beschreibung von εὐσεβής und δίκαιος bei Xenophon meint aber nicht die Trennung zwischen religiösem und sittlichem Bereich, sondern diese Parallele zeigt einen engen Zusammenhang zwischen dem gesetzmäßigen Verhalten gegenüber Gott und den Menschen.14 Es gibt universale Gesetze, also ungeschriebene Gesetze, die in jedem Land in derselben Weise gültig sind und von den Göttern gegeben werden. Bei allen Menschen gilt es als oberstes Gesetz, die Götter zu verehren (θεοὺς σέβειν) (Mem. 4,4,19-20). Die Götter zu verehren ist jedoch nicht nur mit εὐσεβής genannt, sondern auch im Rahmen von δίκαιος beschrieben. δίκαιος und εὐσεβής sind bei Xenophon sehr eng miteinander verbunden. In diesem Sinne lässt es sich verstehen, warum die Anklage gegen Sokrates so lautet: „ἀδικεῖ Σωκράτης οὓς μὲν ἡ πόλις νομίζει θεοὺς οὐ νομίζων“ (Mem. 1,1,1). Am Schluß in Memorabilia erweist es sich dagegen, dass „er ein Frommer (εὐσεβής) war, dass er nichts ohne die Zustimmung der Götter tat, und so δίκαιος war, dass er niemanden auch nur im Geringsten schädigte … und andere Leute zur Tugend und sittlichen Tüchtigkeit (ἐπ᾽ ἀρετὴν καὶ καλοκαγαθίαν) hinlenkte.“ (Mem. 4,8,11). Bevor die Vorstellung von δικαιοσύνη bei Platon betrachtet wird, soll als exemplarischer Text aus der Geschichtsschreibung die Historien Herodots herangezogen werden. Die Belege für δικαιοσύνη in diesem nichtphilosophischen Werk sind näher zu betrachten, weil sie im Unterschied zu den philosophischen Texten den allgemeinen Alltagsgebrauch des Terminus δικαιοσύνη zu erhellen vermögen. In den Historien begegnet der Begriff δικαιοσύνη insgesamt achtmal. Das erste Mal kommt der Terminus in 1,96 vor, wo Herodot vom König Deiokes in Medien berichtet: „[E]r war schon vorher ein angesehener Mann und bemühte sich jetzt noch mehr und eifriger um Recht und Gerechtigkeit (δικαιοσύνη), indem er sich ganz beidem widmete.“15 Hierbei bezeichnet δικαιοσύνη die Gerechtigkeit, die Deiokes in seinem richterlichen Handeln aufrichten wollte gegen die in seiner Zeit in Medien vorherrschende Ungerechtigkeit (1,96). δικαιοσύνη als solch eine

14 Mit Olley, Righteousness, 37–38. 15 Übers. jeweils nach Feix, Historien.

δίκη, δίκαιος, δικαιοσύνη

charakterliche Tugend begegnet auch in 2,151, wo es um zwölf Könige in Ägypten geht. Dabei ist davon die Rede, dass diese in Ägypten in Gerechtigkeit (δικαιοσύνη) regierten. Ihre Gerechtigkeit besteht inhaltlich gewiss in Rechtlichkeit und Rechtmäßigkeit (vgl. 2,147). Drei Belege in 6,86 dienen dazu, die Eigenschaft des Glaukos zu beschreiben: „Dieser Mann war, so behaupten wir, in allen Dingen überragend; besonders stand er in dem Ruf, der redlichste Mann (ἄριστα δικαιοσύνης) seiner Zeit in Lakedaimon zu sein.“ Nach dieser Einleitung wird davon erzählt, dass ein Mann aus Milet zu Glaukos kam und aus welchem Grunde er dies tat: „Ich bin aus Milet und komme, weil ich mir deine Gerechtigkeit (δικαιοσύνη) zunutze machen will, Glaukos. Weil in ganz Griechenland und auch in Ionien so viel von deiner Gerechtigkeit (δικαιοσύνη) geredet wird.“ Die Verwendung von δικαιοσύνη in 7,52 und 7,164 bezieht sich auch auf die Beschaffenheit eines Menschen; in 7,52 auf die Gerechtigkeit der Ionier und in 7,164 auf diejenige des Kadmos, der die Herrschaft in Kos übernommen hatte, aber sie bald aufgrund seiner Gerechtigkeit in die Hand der Koer zurückgab. Insgesamt dient der Begriff δικαιοσύνη in den Historien Herodots dazu, eine Handlungsweise eines Menschen einerseits oder dessen Eigenschaft andererseits zu charakterisieren. 2.

Platon

In seinem Werk Der Staat (Πολιτεία), dem schon in der Antike der Untertitel „Über das Gerechte“ gegeben wurde,16 versucht Platon, die wörtliche Bedeutung und den moralischen Wert der δικαιοσύνη zu definieren. Dabei setzt er sich vor allem mit sophistischen Vorstellungen auseinander. Zu Beginn des Werkes werden in einem Gespräch zwischen Sokrates und einigen aufeinander folgenden Gesprächspartnern verschiedene damals verbreitete Konzepte der δικαιοσύνη benannt (Resp. 327a-354c). Anhand dieses Dialogs wird deutlich, in welchen Kontexten der Begriff δικαιοσύνη in der Zeit Platons üblicherweise verwendet wurde und welche Bedeutungen er annehmen konnte. Zuerst wird δικαιοσύνη durch Kephalos als das Aussprechen der Wahrheit und das gerechte Verhalten gegenüber Menschen und Gott bestimmt. Seiner Meinung nach bedeutet δικαιοσύνη, „niemanden zu betrügen oder zu belügen, und weder einem Gott ein Opfer noch einem Menschen Geld schuldig zu bleiben (τὸ γὰρ μηδὲ ἄκοντά τινα ἐξαπατῆσαι ἢ ψεύσασθαι, μηδ᾽ αὖ ὀφείλοντα ἢ θεῷ θυσίας τινὰς ἢ ἀνθρώπῳ χρήματα)“17 (Resp. 331b). Diese Ansicht wird von Polemarchos mit

einem Zitat von Simonides unterstützt, nach dem „jedem seine Schuld zu bezahlen gerecht ist (τὸ τὰ ὀφειλόμενα ἑκάστῳ ἀποδιδόναι δίκαιόν ἐστι.)“ (Resp. 331e).

16 Vgl. Horn, Müller/Söder, Platon Handbuch, 276. 17 Übers. jeweils nach Apelt, Der Staat.

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Polemarchos versteht δικαιοσύνη nach diesem Zitat jedoch nicht in einem moralischen Sinne, nach dem man den Menschen oder Gott nichts schuldig bleiben dürfe, sondern in dem Sinne, dass jedem zu geben sei, was ihm gebühre, nämlich „den Freunden zu nutzen und den Feinden zu schaden (τὸ τοὺς φίλους ἄρα εὖ ποιεῖν καὶ τοὺς ἐχθροὺς κακῶς).“ (Resp. 332d). δικαιοσύνη meint demnach gerechten und ungerechten Handlungen entsprechendes Verhalten im Sinne von Belohnung und Vergeltung. Der letzte Gesprächspartner, Thrasymachos, vertritt einen sophistischen Standpunkt. „Das Gerechte (τὸ δίκαιον) sei nichts anderes als das dem Stärkeren Zuträgliche (τι ἢ τὸ τοῦ κρείττονος συμφέρον).“ (Resp. 338c). Demnach setzen die Regierenden das Gesetz zu ihrem Nutzen ein und bestrafen denjenigen, der dem Gesetz nicht gehorcht, indem sie ihn als „Gesetzwidrigen“ (παρανομοῦντα) und „Ungerechten“ (ἀδικοῦντα) behandeln (338e). Die Sophisten betrachten somit das gewöhnliche Verständnis des Wesens und Zwecks der δικαιοσύνη in der Gesellschaft sehr kritisch. Dabei muss aber beachtet werden, dass die Bestimmung „das dem Stärkeren Zuträgliche“ keine semantische Bestimmung des Begriffs δικαιοσύνη ist. Die Bedeutung von δικαιοσύνη, die bei der kritischen Beurteilung des Thrasymachos vorausgesetzt ist, ist, dem Gesetz gemäß zu handeln. Die Sophisten verstehen aber diese δικαιοσύνη, als zu gesetzmäßigem Handeln aufzufordern, als Nutzen für die Starken, Machthabenden und Mehrbesitzenden. Der Zusammenhang zwischen δικαιοσύνη und dem gesetzmäßigen Handeln findet sich auch in der Rede Glaukons, in der er erklärt, was das Wesen von δικαιοσύνη ist und woraus sie entspringt: Von Natur nämlich, sagen sie, sei das Unrechttun gut, das Unrechtleiden aber übel. Das Übel aber beim Unrechtleiden wiege schwerer als das Gute beim Unrechttun. Wenn die Menschen also wechselseitig Unrecht tun und Unrecht leiden und beides zu kosten bekommen, so erscheine es denen, die nicht in der Lage sind, dem letzteren zu entfliehen und das erstere zu wählen, vorteilhafter sich mit einander dahin zu vertragen, daß man weder Unrecht tue noch Unrecht leide. Und damit hätten sie denn den Anfang gemacht zur Gesetzgebung und zu Verträgen untereinander und das vom Gesetze Angeordnete hätten sie als Gesetzliches und Gerechtes bezeichnet. Dies sei denn der Ursprung (γένεσις) und das Wesen (οὐσία) der Gerechtigkeit (δικαιοσύνη), die ein Mittleres sei zwischen dem Besten, nämlich dem straflosen Unrechttun, und dem Schlimmsten, nämlich der Unfähigkeit sich zu rächen, wenn man Unrecht leide. (Resp. 358e-359a).

Weiterhin beschreibt Glaukon, dass δικαιοσύνη nicht als etwas Gutes an sich angesehen werden könne, sondern als eine Handlung aus Mangel an Kraft zum Unrechttun betrachtet werden müsse (Resp. 359b). Seinen Beobachtungen nach ist ἀδικία vergnüglicher und nützlicher als δικαιοσύνη (Resp. 364a) und δικαιοσύνη

δίκη, δίκαιος, δικαιοσύνη

wird nicht an sich für wertvoll gehalten, sondern aufgrund des aus ihr entstehenden Rufs und Lohns (Resp. 366e-367d). Im nachfolgenden Teil stellt Platon gegenüber diesem konventionellen, kritischen Verständnis dar, inwiefern δικαιοσύνη an sich absolut gut ist. In der Diskussion wird δικαιοσύνη als eine Tugend (ἀρετή) beschrieben, die im Gemeinwesen zusammen mit σωφροσύνη (Besonnenheit), ἀνδρεία (Tapferkeit) und φρόνησις (Vernünftigkeit) notwendig ist, um einen vollkommenen Staat zu konstituieren (Resp. 433b).18 Nach einer langen Auseinandersetzung wird δικαιοσύνη folgendermaßen bestimmt: „das Seinige zu tun (τὸ τὰ αὑτοῦ πράττειν) und sich nicht in vielerlei einzumischen (μὴ πολυπραγμονεῖν).“ (Resp. 433a-d). Wenn jede der drei Schichten im Staat (Geschäftsmänner (χρηματιστικός), Gehilfen (ἐπικουρικός) und Wächter (φυλακικός)) das Ihre tut und ihre Aufgabe erfüllt, herrsche δικαιοσύνη und der Staat sei δίκαιος (Resp. 434c). Ausgehend von der Untersuchung des Modells der δικαιοσύνη im Staat beschreibt Platon die Bedeutung von δικαιοσύνη auf der Ebene der Seele des Menschen. In Bezug auf die menschliche Seele ist δικαιοσύνη als der harmonische Zusammenhalt der drei Seelenteile Vernunft (λογισμός), Begierde (ἐπιθυμία) und Eifer (θυμός) zu verstehen (Resp. 441c-442e). So kommt er letztlich zum Schluss: In Wahrheit aber war die Gerechtigkeit (δικαιοσύνη), wie nun ersichtlich, zwar etwas dieser Art, aber nicht in Bezug auf das äußere Wirken dessen, was einer in sich hat, sondern in Bezug auf seine innere Tätigkeit, die ja doch sein wahres Selbst und wahrhaft das Seinige ist; ein solcher duldet nämlich nicht, daß irgend ein Teil seines Inneren Fremdartiges verrichte, noch daß die Vermögen der Seele sich eines in des anderen Geschäft mische, sondern er hat sein Haus im wahren Sinne wohlbestellt, hat die Herrschaft über sich selbst gewonnen, hat in sich Ordnung geschaffen, sich mit sich selbst innig befreundet und jene drei Seelenvermögen in Einklang gebracht, gerade so, als wären es die Haupttöne eines Zusammenklangs, der höchsten, der untersten und der mittleren Saite. (Resp. 443d-444e).

Platon entfaltet über die bis dahin erläuterten, in der sozialen Umwelt aufgespürten Verständnisse hinaus die Definition der δικαιοσύνη in seiner Ideenlehre. Er bestimmt δικαιοσύνη als einen harmonischen Zustand des Verhältnisses der drei Teile der Seele, in dem Menschen gerechte Handlungen vollbringen können (Resp. 443c-444a). Den Zustand hingegen, in dem dieser harmonische und gerechte Zustand der Seele aufgehoben ist, bezeichnet er als ἀδικία (Resp. 444b). Im Fol-

18 Platon übernimmt die Kardinaltugenden und deren kanonische Vierzahl, doch δικαιοσύνη nimmt für ihn einen besonderen Rang ein. Seiner Meinung nach ermöglicht δικαιοσύνη es, dass alle Seelenteile und alle Teile der Gesellschaft in gleicher Weise und Einheit alle Tugenden einhalten (vgl. Resp. 433b; 443d-e).

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genden beschreibt er den Zusammenhang vom gerechten, guten Zustand der Seele und dem menschlichen Handeln. Bemerkenswert ist, dass Platon nicht nur den gerechten Menschen durch gerechte Handlungen bzw. gerechtes Tun charakterisiert denkt, sondern auch meint, dass das Gerechte tun (δίκαια πράττειν) δικαιοσύνη bewirke, genauso wie das Gesunde Gesundheit hervorbringt.19 Wie die δικαιοσύνη hat bei Platon im Gegensatz zur Vorstellung der Sophisten auch das Gesetz (νόμος) eine „uneingeschränkte, durch nichts zu relativierende Geltung“20 aufgrund seines göttlichen Ursprungs und Stellenwerts. Dem Gesetz zu dienen heißt zugleich, den Göttern zu dienen (vgl. Kri. 50cf; Leg. 715c-d.762e.885b.890d; Ep. 8,354e). Das Gesetz ist nicht nur als soziale oder konventionelle Norm aufzufassen, sondern als eine innere Ordnung für die Seele, nach der die Seele selbst eine dem Recht entsprechende Form erhält. Eben darin bestehen δικαιοσύνη und σωφροσύνη (Gorg. 504d). Aufgrund dieser Geltung und wesentlichen Bedeutung des Gesetzes ist das Einhalten des Gesetzes als δίκαιος anzusehen. Das gilt auch, wenn das Gesetz von Menschen falsch angewandt wird, wie im Falle Sokrates’, der dem ungerechterweise über ihn verhängten Todesurteil gehorchte (Kri. 50a-54e). Die Vorstellung von der absoluten Gutheit und Priorität der δικαιοσύνη bei Platon steht in einem engen Zusammenhang mit seinen Gedanken über die immaterielle Seele und die Belohnung des Gerechten im postmortalen Gericht. δικαιοσύνη ist für die Seele das Beste (Resp. 612b), und dem Gerechten wird alles im Leben und nach dem Tod zum Guten gereichen (Resp. 613a). Der, der sich ehrlich bemüht, δίκαιος zu werden und Gott zu ähneln und so die Tugend übt, wird von den Göttern nicht vernachlässigt (Resp. 613b). Nach dem Tod bekommen die Gerechten den Lohn, den sie sich durch Wohltaten wie Frömmigkeit (εὐσεβεία) gegenüber Göttern sowie Eltern verdient haben (Resp. 615b). Derjenige aber, der Unrecht getan hat wie etwa Blutschuld, Verrat an Städten oder Heeren und dem Mitverschulden von Elend, wird aufgrund dieser Taten bestraft werden (Resp. 615a-b). 3.

Aristoteles

Aristoteles behandelt das Thema der δικαιοσύνη intensiv im fünften Buch der Nikomachischen Ethik. Am Anfang des Buches beschreibt er das zeitgenössische Verständnis von δικαιοσύνη und ἀδικία:

19 Dabei werden konkrete Beispiele für „das Tun des Gerechten“ nicht angegeben, wohl aber Gegenbeispiele für das „ungerechte Tun“: „Tempelraub und Diebstahl und Verräterei sowohl gegenüber besonderen Freunden als auch gegen das Gemeinwesen … Ehebruch oder Gleichgültigkeit gegen die Eltern oder Vernachlässigung der Götter.“ (442e-443a). 20 Dihle, Gerechtigkeit, 255.

δίκη, δίκαιος, δικαιοσύνη

Nun sehen wir, dass alle mit Gerechtigkeit (δικαιοσύνη) diejenige Disposition meinen, die Menschen so beschaffen macht, dass sie das Gerechte tun, das heißt auf gerechte Weise handeln und Gerechtes wünschen. Auf dieselbe Weise versteht man unter Ungerechtigkeit (ἀδικία) diejenige Disposition, die Menschen Unrecht tun und Ungerechtes wünschen lässt. Das soll daher auch für uns als grob umrissener Ausgangspunkt zugrunde gelegt werden (EN. 5,1129a 6-10).21

Nach dieser Fassung kann δικαιοσύνη/ἀδικία als eine Disposition (ἕξις) des Menschen verstanden werden, die ihn dazu befähigt, das Gerechte bzw. das Ungerechte zu tun und es zu wollen. δικαιοσύνη ist hier nicht im Sinne eines momenthaften gerechten Verhaltens zu verstehen, sondern als eine „stabile Verhaltensdisposition“ zum Gerechten.22 Anschließend ergründet Aristoteles die Bedeutung von δικαιοσύνη anhand der vielen Bedeutungen von ὁ ἄδικος, die seiner Meinung nach die Bedeutung des Gegenbegriffs ὁ δίκαιος erhellen.23 Unter ὁ ἄδικος ist demnach eine Person zu verstehen, die „das Gesetz verletzt (παράνομος) und mehr haben will (πλεονέκτης), also eine Einstellung der Ungleichheit (ἄνισος) hat.“ (EN. 5,1129a 32-33). Demgegenüber wird ὁ δίκαιος als derjenige bestimmt, der „die Gesetze beachtet (νόμιμος) und eine Einstellung der Gleichheit hat (ἴσος).“ (EN. 5,1129a 33-34). Daraus zieht Aristoteles folgenden Schluss: τὸ μὲν δίκαιον ἄρα τὸ νόμιμον καὶ τὸ ἴσον, τὸ δ᾽ ἄδικον τὸ παράνομον καὶ τὸ ἄνισον (EN. 5,1129a 33-34). Auf Basis dieser grundsätzlichen Überlegung unterscheidet Aristoteles weiterhin einen allgemeinen und einen speziellen Sinn von δικαιοσύνη. Im Allgemeinen bezieht sich δικαιοσύνη auf den ersten Teil der oben wiedergegebenen Definition und damit auf das Gesetzmäßige, das dem Gesetz entspricht. Für Aristoteles gilt derjenige, der die Gesetze (νόμιμος) und alles, was den Gesetzen entspricht (πάντα

21 Übers. jeweils nach U. Wolf, Nikomachische Ethik. 22 Gordon kommentiert dazu: „Mit Habitus meint Aristoteles nicht die momentane Verfaßtheit eines Menschen, sondern eine stabile Verhaltensdisposition, die sich auf Grund ständiger Wiederholungen von entsprechenden Handlungen eingestellt hat. Aus dieser Verhaltensdisposition heraus pflegt man, sich auf eine bestimmte Weise zu verhalten.“ (Über Gerechtigkeit, 31). 23 Aristoteles untersucht zuerst den Gegensatzbegriff von δίκαιος, um die Bedeutungsbreite der δικαιοσύνη zu begreifen. Seiner Ansicht nach ist diese Methode zur semantischen Untersuchung der δικαιοσύνη aus dem folgenden Grund legitim: „Häufig wird nun die eine von zwei entgegengesetzten Dispositionen aber auch aus ihren entgegengesetzten kenntlich; häufig aus ihren Trägern (πολλάκις μὲν οὖν γνωρίζεται ἡ ἐναντία ἕξις ἀπὸ τῆς ἐναντίας, πολλάκις δὲ αἱ ἕξεις ἀπὸ τῶν ὑποκειμένων) … Denn wenn offensichtlich ist, was ein guter Gesundheitszustand ist, dann wird auch deutlich, was ein schlechter Gesundheitszustand ist, und der gute Gesundheitszustand ist an dem zu erkennen, was ihn konstituiert, und umgekehrt das, was den guten Gesundheitszustand konstituiert, ist daran zu erkennen, was der gute Gesundheitszustand ist.“ (EN. 5,1129a 17-26).

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τὰ νόμιμα), beachtet, als gerecht (EN. 5,1129b 11-12). Das, was von der Gesetzge-

bung (νομοθετικῆς) festgelegt wird, ist in einem gewissen Sinne gesetzlich, und jede einzelne gesetzliche Bestimmung ist gerecht (EN. 5,1129b 12-14). Die Gesetze sichern das gemeinsame Gut und zielen auf den Nutzen aller in der Gemeinschaft.24 Aristoteles definiert diese δικαιοσύνη im allgemeinen Sinne als eine vollkommene Tugend (ἀρετὴ τελεία) (EN. 5,1129b 26). δικαιοσύνη ist die einzige Tugend, die auf ein Gut für andere Menschen bezogen ist und herbeiführt, was dem anderen nützt (EN. 5,1129b 27-1130a 5). δικαιοσύνη wird daher häufig als die wichtigste der Tugenden angesehen und so verstanden, dass darin jede Tugend enthalten ist (EN. 5,1129b 25-1130a 8). In diesem allgemeinen Sinne wird δικαιοσύνη auch die ganze Tugend (ὅλη ἀρετή) genannt (EN. 5,1130a 8-9). Danach behandelt Aristoteles δικαιοσύνη im speziellen Sinn als einen Teil der Tugend (ἐν μέρει ἀρετῆς). δικαιοσύνη im speziellen Sinn bezieht sich auf die Gleichheit (ἴσος) im Verteilen und Ausgleichen. δικαιοσύνη betrifft in diesem Sinne also einerseits die Verteilung (διανομή) von Ehre, Geld oder anderen Gütern und andererseits den Ausgleich (διόρθωμα) in vertraglichen Verhältnissen zwischen Menschen (EN. 5,1130b 30-35). Diese Verhältnisse können auf zwei Weisen zustande kommen, zum einen gewollt (z. B. Kauf, Verkauf, Darlehen, Bürgschaft, usw.), zum anderen ungewollt (z. B. Diebstahl, Ehebruch, Giftmischerei, usw.) (EN. 5,1131a 1-9). Bei der Verteilung meint δικαιοσύνη aber nicht einfach ein Teilen der Dinge nach gleichem Maß, sondern das Verteilen auf der Basis der Proportionalität zwischen vier Elementen, zwei Personen und zwei Dingen. Aristoteles bezeichnet diese Proportionalität als „Gleichheit der Verhältnisse (ἰσότης λόγων)“ zwischen Personen und Dingen (EN. 5,1131a 29-32). δικαιοσύνη im Ausgleich folgt jedoch nicht der proportionalen, sondern der arithmetischen Weise (ἀλλ’ οὐ κατὰ τὴν ἀναλογίαν ἐκείνην ἀλλὰ κατὰ τὴν ἀριθμητικήν) (EN. 5,1132a 2). Bei der ausgleichenden δικαιοσύνη geht es um ein Gleiches (ἴσος), also das Mittlere (τὸ μέσος) zwischen dem Zuviel und dem Zuwenig, zwischen Verlust und Gewinn im zwischenmenschlichen Austausch (EN. 5,1132a 1-1132b 20). Diese Form der δικαιοσύνη kommt dadurch zustande, dass die ungerechte Verletzung und der ungerechte Verlust aufgehoben werden und die Gleichheit wiederhergestellt wird. Aristoteles geht weiterhin auf den Zusammenhang zwischen δικαιοσύνη und ἐπιεικεία ein. Das Billige (ἐπιεικεία) ist zwar ein Gerechtes, aber nicht das Gerechte gemäß dem Gesetz, sondern das Gerechte im Sinne der Berechtigung des gesetzlichen Gerechten (ἐπανόρθωμα νομίμου δικαίου) (EN. 5,1137b 11-13). Aristoteles führt das darauf zurück, dass „jedes Gesetz allgemein ist, aber auf manche Dinge 24 Aristoteles führt dafür folgende Beispiele an: „die Taten des Tapferen (z. B. im Kampf seinen Posten nicht aufzugeben, nicht zu fliehen, nicht die Waffen wegzuwerfen), des Mäßigen (z. B. keinen Ehebruch zu begehen oder Gewalttaten zu verüben) und des Sanftmütigen (z. B. andere nicht zu schlagen oder zu beleidigen)“ (EN. 5,1129b 20-23).

δίκη, δίκαιος, δικαιοσύνη

nicht richtig allgemein angewendet werden kann (ὁ μὲν νόμος καθόλου πᾶς, περὶ ἐνίων δ᾽ οὐχ οἷόν τε ὀρθῶς εἰπεῖν καθόλου).“ (EN. 5,1137b 14). Das Billige ist daher nicht besser als das allgemein Gerechte (τοῦ ἁπλῶς), aber besser als „der Mangel, der aufgrund der allgemeinen Formulierung des Gesetzes entsteht (βέλτιον … τοῦ διὰ τὸ ἁπλῶς ἁμαρτήματος)“ und damit besser als eine bestimmte Art des Gerechten (τινος δικαίου) (EN. 5,1137b 23-25). Für den als billig zu Schätzenden nennt Aristoteles ein Beispiel: Wer „dazu neigt, weniger zu beanspruchen, obwohl er das Gesetz auf seiner Seite hat.“ (EN. 5,1137b 35-1138a 2). Die Disposition eines solchen Menschen muss als Billigkeit bezeichnet werden, die eine Art von δικαιοσύνη ist. δικαιοσύνη ist bei Aristoteles daher nicht nur in dem Sinne dessen zu verstehen, was dem Gesetz entspricht, sondern auch im Sinne einer grundlegenden, ursprünglich guten Richtigkeit. 4.

Fazit

In der paganen griechischen Literatur findet sich die Wortgruppe aus dem Stamm δίκ- (δίκη, δίκαιος, δικαιοσύνη) bereits ab dem 8 Jh. v. Chr. und ist in der hellenistischen und der römischen Zeit zahlreich belegt. Bei Hesiod und Solon wird δίκη als ein göttliches Wesen beschrieben, das über die sozial-sittliche Ordnung wacht und Übeltäter bestraft (Hesiod, Theog. 902; Op. 220; 256; 273; Orph. 42.61; vgl. auch Solon, Frag. 1,8; 3,14ff). Ihre Bedeutung entwickelte sich immer aufgrund der Vergeltungsvorstellung mit der Konnotation von Justiz oder Strafe (vgl. Apg 28,4; 2Thess 1,9). Das Adjektiv δίκαιος beschreibt das, was der δίκη angemessen ist, also was dem Recht oder Rechtsgefühl gemäß richtig bzw. gerecht ist. δικαιοσύνη ist das von δίκαιος abgeleitete Substantiv und umfasst das semantische Feld, das das Adjektiv δίκαιος beschreibt. Das Substantiv δικαιοσύνη ist schon sehr früh bei Theognis nachzuweisen, doch bis in das 5. Jh. v. Chr. hinein gibt es insgesamt nur sehr wenige Belege. Erst in den philosophischen Werken im nachepischen Zeitalter, während sich die Theorien über Staat und Recht und deren philosophische Untersuchung stark entwickelten, kommt δικαιοσύνη sehr häufig vor. Die häufig wiederkehrende Vorstellung über δικαιοσύνη bei frühen griechischen Philosophen lautet, dass das dem Gesetz Entsprechende gerecht ist und der Gerechte derjenige ist, der dem Gesetz gemäß handelt. Auch bei Platon und Aristoteles ist diese allgemeine Vorstellung der δικαιοσύνη wiederzufinden (Resp. 331b; 336c-e; 358e-359a; EN. 5,1129a-1130a). Von dieser frühen philosophischen Tradition wird δικαιοσύνη als die vollkommene, bedeutendste Tugend verstanden, die alle anderen Tugenden, etwa σωφροσύνη, ἀνδρεία und φρόνησις einschließt (EN. 5,1129b 25ff). Ihre Überlegenheit ist in ihrem Nutzen für die Gemeinschaft und in ihrem göttlichen Ursprung begründet. In dieser griechischen philosophischen Tradition finden sich verschiedene Vorstellungen und Definitionen der δικαιοσύνη, die sich auf je verschiedene Bereiche des menschlichen Lebens im politischen, wirtschaftlichen,

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ethischen oder juristischen Kontext beziehen: z. B. jedem das zu geben, was ihm gebührt, nämlich, den Freunden zu nutzen und den Feinden zu schaden (Resp. 332d); das Seinige zu tun und sich nicht in vielerlei Dinge einzumischen (Resp. 433a-d); das harmonische Zusammenwirken der drei Teile der Seele (Resp. 443c-444a). Dabei muss aber darauf geachtet werden, dass diese philosophischen Beschreibungen und Interpretationen des Begriffs δικαιοσύνη nichts mit der Wortsemantik des Begriffs zu tun haben. Bei ihnen handelt es sich eher um philosophische Beschreibungen, was die verschiedenen Philosophen sich unter δικαιοσύνη vorgestellt haben, wobei sich unterschiedliche Gerechtigkeitsvorstellungen zeigen. In Anbetracht der verschiedenen mit dem Begriff δικαιοσύνη verbundenen Vorstellungen im Denken der griechisch-hellenistischen Philosophie wird deutlich, dass die Semantik des Begriffs nicht auf den Sinn der iustitia distributiva begrenzt ist, wie in den bisherigen Forschungen zur Gerechtigkeit Gottes bei Paulus zumeist angenommen wird. Die δικαιοσύνη-Termini haben vielmehr eine große semantische Breite, die die Rechtschaffenheit nach dem Gesetz bzw. die Gesetzmäßigkeit (EN. 5,1129b 11-14), die Gerechtigkeit in der staatlichen Gemeinschaft (EN. 5,1129b 25-1130a 14), die Gerechtigkeit bei der Verteilung von Gütern (EN. 5,1130b-1132b) und grundsätzlich auch die Richtigkeit bzw. Billigkeit dessen, was aufgrund des natürlichen Rechtsgefühls in Ordnung ist, umfassen kann (EN. 5,1137b-1138a).25 Ferner muss bei der Verwendung des Begriffs immer die verschiedene Referenz im jeweiligen Kontext beachtet werden. Bei den Überlegungen zur Gerechtigkeit bei Platon und Aristoteles ist deutlich, dass der Begriff zumeist im Sinne einer Tugend sowohl im individuellen als auch im politischen bzw. rechtlichen Rahmen gebraucht wird. Der Begriff kann aber auch eine Eigenschaft des Gerechten, der die Gesetze beachtet, und damit dessen Gerechtsein bezeichnen. Diese verschiedenen Verwendungsweisen und Bedeutungsnuancen des Begriffs lassen sich besonders deutlich in den Geschichtswerken erkennen, wie z. B. in den oben näher untersuchten Historien von Herodot. Die Untersuchung zeigt damit, dass sich entgegen der üblichen Annahme in der Forschung die Semantik des Begriffs δικαιοσύνη bei Paulus einerseits und in den paganen Texten andererseits nicht konsequent voneinander unterscheiden oder gar grundlegend trennen lassen. Vielmehr sind eine gemeinsame Semantik

25 Haacker stellt eine Frage, die für unser weiteres Vorgehen noch erwägenswert ist, nämlich ob der deutsche Begriff „Gerechtigkeit“ zur Wiedergabe des paulinischen δικαιοσύνη-Begriffs überhaupt angemessen ist. Er weist zu Recht auf die Problematik der spezifischen Semantik des deutschen Gerechtigkeitsbegriffs hin, die grundsätzlich die Verwendung von δικαιοσύνη in der Profangräzität spiegelt und sich für gewöhnlich auf zwischenmenschliche Verhältnisse und juristische Regelungen bezieht und damit kaum mit dem Gedanken an Rettung oder Heil in Verbindung gebracht werden kann (vgl. Römer, 43).

δίκη, δίκαιος, δικαιοσύνη

und übereinstimmende, mit dem Begriff verbundene Vorstellungen zu identifizieren. Zunächst kann der Gedanke erwähnt werden, dass der Gerechte derjenige ist, der das Gesetz achtet und sich gegenüber seinen Mitmenschen gerecht verhält. Eine weitere Gemeinsamkeit besteht im Tun-Ergehen-Zusammenhang, dass der Gerechte von der Gottheit belohnt und der Böse bestraft wird. Außerdem ist δικαιοσύνη sowohl für Paulus als auch die pagane Literatur die zentrale Tugend, die die Menschen in ihrem Lebenswandel in Bezug auf ihre Mitmenschen ausüben sollen. Aufgrund dieser gemeinsamen semantischen und gedanklichen Basis lässt sich festhalten, dass deshalb nicht nur Juden, sondern auch die griechisch geprägten, nichtjüdischen Hörer des Paulus seine Verkündigung inhaltlich nachvollziehen konnten, die aussagt, dass im Gericht Gottes die Böses oder Ungerechtigkeit machenden Gottlosen untergehen und die in Verehrung Gottes Gutes tuenden Gerechten gerettet werden (vgl. Röm 2,1-16). Hinzu kommt, dass auch die von ihm formulierten ethischen Forderungen zum gerechten Lebenswandel von nichtjüdischen Hörern aus ihrer paganen philosophischen oder auch alltäglichen Bildung sprachlich gut verstanden werden konnte.

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Die Gerechtigkeitsaussagen in der paganen Gräzität

B.

δικαιοῦν

1.

Aischylos

Bei Aischylos taucht das Verb δικαιοῦν nur einmal in Ag. 393 auf. In Ag. 355-403 dankt der Chor Zeus mit Gesang, dass er Paris wegen seiner Sünde, die Gattin des Menelaos, Helena, entführt zu haben, richtete und Troja durch das Heer der Griechen besiegen ließ. In diesem Lied des Chores wird das Schicksal von Paris metaphorisch beschrieben als ein schlechtes Bronzegefäß, welches zwar am Anfang äußerlich glänzt, aber bereits nach kurzer Zeit durch Beschädigung seinen ursprünglich schlechten Zustand, die schwarze Färbung, offenbart. Wie der versteckte Schaden und der schlechte Zustand des Bronzegefäßes vorhergegangen sind, so war auch Paris erst reich und wohlhabend, bis sich endlich seine Schuld offenbarte und er aufgrund dieser in den Abgrund gestürzt wurde (Ag. 367-386). Hier gebe ich die vollständige Strophe wieder, um den Sinn des Verbs δικαιοῦν im Kontext besser betrachten zu können: βιᾶται δ᾽ ἁ τάλαινα πειθώ, προβούλου παῖς ἄφερτος ἄτας. ἄκος δὲ πᾶν μάταιον. οὐκ ἐκρύφθη, πρέπει δέ φῶς αἰνολαμπές, σίνος: κακοῦ δὲ χαλκοῦ τρόπον τρίβῳ τε καὶ προσβολαῖς μελαμπαγὴς πέλει δικαιωθείς, ἐπεὶ διώκει παῖς ποτανὸν ὄρνιν, πόλει πρόστριμμα θείς ἄφερτον. λιτᾶν δ᾽ ἀκούει μὲν οὔτις θεῶν, τὸν δ᾽ ἐπίστροφον τῶν φῶτ᾽ ἄδικον καθαιρεῖ.

οἷος καὶ Πάρις ἐλθὼν ἐις δόμον τὸν Ἀτρειδᾶν ᾔσχυνε ξενίαν τράπεζαν κλοπαῖσι γυναικός.

δικαιοῦν

Die meisten Übersetzungen nehmen an, dass das hier gebrauchte Verb im Part. Pass. δικαιωθείς im Sinne von „geprüft“ bzw. „erprobt“, verbunden mit dem schlechten Bronzegefäß als Subjekt, verwendet wird.26 Das Verständnis, dass ein schlechtes Bronzegefäß geprüft wird, ist aber dem Kontext nicht angemessen, bei dem es darum geht, dass das Bronzegefäß am Anfang mit Glanz hervorstrahlt, aber mit der Zeit durch Reibung und Stoß sich immer weiter schwarz verfärbt. Indem dies beschrieben wird, ist offenbar nicht von einer Prüfung eines Metalls die Rede.27 Vielmehr soll es eine zeitlich sich vollziehende Veränderung zeigen, nämlich dass der ursprünglich schlechte Charakter bzw. Zustand des Gefäßes dem guten/edlen vorausgeht. Die andere Übersetzungsvariante des Partizipialausdrucks δικαιωθείς, die bei Interpreten beliebt ist, lautet „bestraft“, „vor Gericht gebracht“ und „mit Gerechtigkeit behandelt“.28 Der repräsentative Vertreter dieser Ansicht, Fraenkel, zeigt, dass die Interpretation von δικαιωθείς an dieser Stelle als „geprüft“ bzw. „erprobt“ eine weitergehende Konsequenz von Stanleys falscher Übersetzung ist, indem er „Sünder, Paris“ als Subjekt des Partizips versteht.29 Es ist aber wenig sinnvoll zu

26 Dazu gebe ich hier einige deutsche Übersetzungen für den Satz, der mit οὐκ ἐκρύφθη anfängt, als Beispiel, um das Problem deutlich zu erfassen: „Nie verglimmt sie,/ In Flammen bricht durch die Schuld grausig hell!/ Gleich schlechter Goldmünze nützt/ Gebrauch und Zeit prüfend ab/ Den Goldschein, falsch gemünzt!“ (Werner, Agamemnon, 168); „Das Unheil bleibt nicht verborgen; unverhohlen/ Bricht Bahn – ein Glanz arger Glut – sich die Schuld./ Dem schlechten Erz gleich an Art,/ Durch Reiben wird, Schlag und Stoß/ Sie schwarz, starr, stumpf, verfällt.“ (Werner, Agamemnon, 31); „Nicht versteckt bleibt,/ es glänzt, ein grauenvoll umstrahltes Licht, die Schuld./ Verfälschtem Ehrgeiz gleich, erzeigt/ bei Stoß und Angriffe sich,/ erprobt, schwarzfarbig.“ (Humboldt, Agamemnon, 29); „Und nicht verborgen bleibt’s;/ In hellem Licht, schrecklich glänzend, steht die Schuld./ Wie schlechte Münze, die durch Griff/ Hin und her und durch Schlag/ Sich schwarz färbt, so hält/ Auch er keiner Probe stand.“ (Wolde, Agamemnon, 17). 27 Vgl. Olley, Righteousness, 33. 28 In diese Richtung gehen auch folgende Beispiele von Übersetzungen: „Das Unheil/ bleibt nicht verborgen; ein Licht mit schrecklichem/ Glanz, strahlt es hervor. Wie schlechtes Erz/ durch Reibung und Stoß, so wird der Bösewicht schwarz,/ ereilt ihn das Recht.“ (Ebener, Agamemnon, 168). Folgende Beispiele auf Englisch: „the lesion is not concealed but conspicuous, a lurid-shining light. Like bad bronze subjected to wear and knocking, he turns indelibly black when he is brought to justice.“ (Sommerstein, Agamemnon, 47); „Not hidden is the harm: it shows forth plainly as a terrible bright light; and like base bronz, when rubbed and battered, so he (i. e. the guilty man) becomes indelibly black when brought to justice.“ (Fraenkel, Agamemnon, 115). Interessanterweise hat LSJ den Beleg von Aischylos vielmals neu interpretiert, also zunächst unter die erste Stelle als Übersetzung „proved, test“ eingeordnet, aber nachher hat LSJ Sup korrigiert zu „brought to justice“ und nochmal LSJ Sup zu „punish, or sentence“, wie Frankel feststellt. 29 Im Text ist das Partizip δικαιωθείς im Passiv, Nominativ, Maskulin verwendet und in der Verbindung mit der instrumentalen Adverbialbestimmung τρίβῳ τε καὶ προσβολαῖς (durch Reibung und Stoß) mit dem Primärprädikat πέλει verbunden. Daran ist auch zu erkennen, dass das sinngemäße Subjekt

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behaupten, dass ein schlechtes Bronzegefäß bestraft wird, wie auch, dass das implizierte Subjekt, Sünder, sich nach der Bestrafung schwarz färbt. Wie Denniston und Page richtig kommentieren, kann der „schwarze“ Zustand nicht die Folge der Strafe sein, sondern das Schlechte, Schwarze, das den sündigen Charakter von Paris metaphorisch beschreibt, ist die Ursache der Strafe.30 An dieser Stelle ist es vor dem Hintergrund der bisherigen Beobachtungen sehr unwahrscheinlich anzunehmen, dass δικαιοῦν im Sinne von „prüfen“ oder „bestrafen“ verwendet wird, wenn wir den näheren Kontext und die Satzstruktur genau betrachten. δικαιωθείς bedeutet hier vielmehr „in den originalen bzw. rechten Zustand zurückversetzt“. Also lässt sich der Satz wie folgt verstehen: Dass das Bronzegefäß schlecht ist, zeigt sich durch Reibung und Stoß, es wird damit wieder in den rechten (bzw. ursprünglichen) Zustand „schwarzfarbig“ zurückversetzt. Daher ist der Gebrauch des Verbs δικαιοῦν in Ag. 393 nicht als ein besonderer Fall im Sinne von „prüfen“ oder „bestrafen“ zu verstehen, wie LSJ und andere Übersetzungen es tun. Um die Bedeutung von δικαιωθείς in Ag. 393 recht zu erfassen, empfiehlt es sich, die Semantik von δικαιοῦν unter Berücksichtigung der griechischen Wortbildungslehre zu beachten. So besitzen die Verben mit dem Suffix -όω wie etwa δουλοῦν, ἐλευθεροῦν, ὀρθοῦν, στεφανοῦν faktitiven (zu etwas machen) oder instrumentalen Sinn (mit etwas versehen) und bringen in der Regel eine die Änderung eines Zustands bzw. Status bewirkende Tat oder eine mit Wert, Zustand versehende Tat zum Ausdruck; δουλοῦν beispielsweise heißt „zum Sklaven machen“ oder „versklaven“ und ἐλευθεροῦν bedeutet „frei machen“ oder „befreien“. In Bezug auf die Wendung δικαιωθείς in Ag. 393 muss man die semantische Charakteristik von Verben auf -όω beachten, bevor man vorschnell auf die gängige Übersetzung mit „bestrafen“ oder „richten“ zurückgreift. Dies berücksichtigend besteht die Semantik von δικαιοῦν meines Erachtens darin, jemanden oder etwas mit Gerechtigkeit

des Partizips δικαιωθείς das im Genitiv maskulin stehende schlechte Bronzegefäß (κακός χαλκός) ist. 30 Dennistons und Pages Kommentar lautet: „The expression ‘he has a black stain fixed in him, after he has been punished, or sentenced’ makes no sense. If the metaphor is legal, ‘the black stain’ the baseness of his metal, may be the cause of his arrest, or something which becomes apparent during examination: it cannot possibly be something which becomes apparent during examination: it cannot possibly be something which makes no appearance until after sentence has been passed or executed. Moreover the phrase to which δικαιωθείς is attached is not simply but τρίβῳ τε καὶ προσβολαῖς μ. π.: ‚through rubbing and battering he is indelibly black‘, - now add ‚after sentence has been passed on him‘, and the incoherence is at once manifest.“ (Denniston/Page, Agamemnon, 105). Aber leider verstehen die beiden die Bedeutung des Verbs noch als „the justice done to him“ und rücken damit eigentlich von der Interpretation von Fraenkel nicht ab.

δικαιοῦν

zu versehen oder jemanden oder etwas in den gerechten Zustand zu versetzen.31 Die Wendung δικαιωθείς in Ag. 393 beschreibt die Änderung des Zustandes des Bronzegefäßes und dient als metaphorischer Ausdruck, um das Schicksals des Paris zu beschreiben. 2.

Thukydides

In den Werken des Thukydides findet sich das Verb δικαιοῦν 15-mal.32 An 14 Stellen lässt sich ohne Schwierigkeiten erfassen, dass es im Sinne von „für gerecht halten“ bzw. „als gerecht erachten“ verwendet wird (1,140; 2,41; 2,61; 2,67; 2,71; 3,82; 4,64; 4,86; 4,122; 5,17; 5,26; 5,105; 6,89; 7,68). Die Verwendung des Verbs δικαιοῦν in 3.40 wird von den meisten Interpreten anders als an den übrigen 14 Stellen, nämlich im Sinne von „verurteilen“, „das Urteil sprechen“, verstanden.33 Aber dieses Verständnis ist nicht ohne weiteres zu akzeptieren, weil es dem Kontext nicht angemessen ist wie auch dem üblichen Gebrauch und der Bedeutung des Verbs δικαιοῦν nicht entspricht. An dieser Stelle hält Kleon die Athener an, Mytilene anzugreifen und dadurch das in der Vergangenheit erfahrene Leid zu vergelten. Laut Kleon ist Mytilene über Athen ohne rechten Grund hergefallen (μὴ ξὺν προφάσει); dies war eindeutig eine ungerechte Handlung. Nun soll Mytilene seinem Vergehen gemäß gleicherweise bestraft werden (vgl. κολασθέντων δὲ καὶ νῦν ἀξίως τῆς ἀδικίας (3,39,6); κολάσατε δὲ ἀξίως τούτους (3,40,8)), indem die Athener Gleiches mit Gleichem vergelten (τῇ τε αὐτῇ ζημίᾳ ἀξιώσατε ἀμύνασθαι). Dies ist gerechtes Handeln (τὰ δίκαια) gegenüber Mytilene und zugleich vorteilhaft (τὰ ξύμφορα) für die Athener. In diesem Kontext ist der Satz „πειθόμενοι μὲν ἐμοὶ τά τε δίκαια ἐς Μυτιληναίους καὶ τὰ ξύμφορα 31 Im Fall des Verbs δικαιοῦν sind die bisherige Unterteilung der Verben auf -οῦν in solche mit faktitiver Bedeutung (zu etwas machen) und solche mit instrumentaler Bedeutung (mit etwas versehen) in der Wortbildungslehre der griechischen Grammatik (z. B. Debrunner, Wortbildungslehre, 99; Moulton, Grammar, 397) und die Auffassung, dass sich δικαιοῦν lediglich der Kategorie der faktitiven Bedeutung unterordnet und als ein Ableger sein Sinn einfach mit „für gerecht halten“ wiedergegeben wird, nicht hilfreich. Denn durch ein solches Verständnis kann der Sprachgebrauch des Verbs in der negativen Konnotation von „einen Übertäter bestrafen oder verurteilen“ nicht erklärt werden. 32 Olley zählt es insgesamt 12-mal, aber nach der Recherche mit TLG findet man es 15-mal. 33 Es gibt zwar kleine Unterschiede, aber alle bisherigen Interpreten verstehen 3,40,4 folgendermaßen: „Wenn ihr euch jedoch anders entschließt, verdient ihr euch nicht ihren Dank, sondern sprecht über euch selber das Urteil.“ (Horneffer, Der Peloponnesische Krieg, 231). Vgl. auch die folgenden anderen Übersetzungen: „Entscheidet ihr anders, so macht ihr euch dort nicht beliebt, verurteilt aber euch selbst.“ (Landmann, Geschichte I, 391); „Ändert ihr aber euren Beschluss, so verpflichtet ihr euch jenen nicht zu Dank, euch selbst aber sprecht ihr das Urteil.“ (Vretska/Rinner, Der Peloponnesische Krieg, 223). Auch in englischer Übersetzung: „But if you decide otherwise, you will not win their gratitude but will rather bring a just condemnation upon yourselves.“ (Smith, The Peloponnesian War, 69; Olley, Righteousness, 36).

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Die Gerechtigkeitsaussagen in der paganen Gräzität

ἅμα ποιήσετε, ἄλλως δὲ γνόντες τοῖς μὲν οὐ χαριεῖσθε, ὑμᾶς δὲ αὐτοὺς μᾶλλον δικαιώσεσθε“ in 3.40.4 wie folgt zu übersetzen: „Wenn ihr mir folgt, sollt ihr das

Gerechte gegenüber Mytilene und zugleich das Vorteilhafte tun und außerdem sollt ihr ihnen bewusst nicht Gunst erweisen, sondern vielmehr euch selbst in die Gerechtigkeit versetzen (oder Gerechtigkeit verschaffen).“ Bei den bisherigen Übersetzungen scheint der entscheidende Fehler vor allem der zu sein, dass ἄλλως δὲ γνόντες als „ihr entschließt anders“ bzw. „ihr entscheidet anders“ verstanden wird. Doch ist ἄλλως δέ nicht mit „anders“ wiederzugeben, sondern mit „außerdem“. Daneben kann γνόντες als Partizip nicht unabhängiges Prädikat sein, sondern ist anschließend an das Prädikat χαριεῖσθε als ein Adverbial aufzufassen. Außerdem ist es angemessener, χαριεῖσθε nicht im Sinne von „ihr verdient euch nicht ihren Dank“, sondern im auffordernden Sinne als „ihr sollt ihnen nicht Gunst erweisen“ zu verstehen. Darüber hinaus ist „ὑμᾶς δὲ αὐτοὺς μᾶλλον δικαιώσεσθε“ als „ihr sollt euch selbst in gerechten Zustand versetzen“ bzw. „ihr sollt euch die Gerechtigkeit verschaffen“ aufzufassen. Wie im oben beschriebenen Kontext wurde Athen von Mytilene ohne rechten Grund wissentlich überfallen, d. h. Athen wurde von Mytilene ein Unrecht angetan. In diesem Sinne bedeutet eine Wiederherstellung der Gerechtigkeit für Athen, es Mytilene zu vergelten und es zu vernichten, indem die Athener gegenüber Mytilene Gleiches mit Gleichem vergelten und es mit dem strafen, was es verdient (vgl. 3,40,7f). 3.

Sophokles

In den Werken des Sophokles kommt das Verb δικαιοῦν neunmal vor und wird in der Verbindung mit einem nicht-personalen Objekt, mit dem Infinitiv, verwendet. Es ist offensichtlich, dass das Verb δικαιοῦν an diesen Stellen im Sinne von „eine Handlung oder eine Sache für gerecht bzw. recht halten oder anerkennen“ gebraucht wird. In Ph. 781 findet sich das Verb δικαιοῦν das einzige Mal in der paganen Gräzität mit Gott als Subjekt. Neoptolemos bittet die Götter, dass er glücklich dorthin gelangen möge, wohin es der Gott für recht hält: ὦ θεοί, γένοιτο ταῦτα νῷν: γένοιτο δὲ πλοῦς οὔριός τε κεὐσταλὴς ὅποι ποτὲ θεὸς δικαιοῖ χὠ στόλος πορσύνεται.

An dieser Stelle wird das Verb δικαιοῦν mit dem Subjekt Gott in Verbindung mit einer Infinitivform verwendet. Der Sinn von δικαιοῦν geht dabei nicht über „etwas für recht, gerecht, halten“ hinaus. Es bedeutet hier also nicht „einen Menschen gerecht sprechen“.

δικαιοῦν

In allen weiteren Belegen bei Sophokles ist δικαιοῦν verbunden mit dem eine Handlung oder ein Verhalten beschreibenden Infinitiv und wird im Sinne von „etwas für recht bzw. gerecht oder richtig bzw. billig halten“ verwendet: καίτοι κακοῦ πρὸς ἀνδρὸς ὄντα δημότην μηδὲν δικαιοῦν τῶν ἐφεστώτων κλύειν.

(Ai. 1072) οὐ γὰρ δικαιοῖς τοῦ φυτεύσαντος κλύειν. (Tr. 1244) ἁγὼ δικαιῶν μὴ παρ᾽ ἀγγέλων, τέκνα, ἄλλων ἀκούειν αὐτὸς ὧδ᾽ ἐλήλυθα, ὁ πᾶσι κλεινὸς Οἰδίπους καλούμενος. (KO. 6) εἰ μὲν λέγει τάδ᾽, αὐτὸς οἶσθ᾽: ἐγὼ δὲ σοῦ μαθεῖν δικαιῶ ταὔθ᾽ ἅπερ Kim κἀμοῦ σὺ νῦν.

(KO. 575) ὅμαιμε, δεινά μ᾽ Οἰδίπους ὁ σὸς πόσις δρᾶσαι δικαιοῖ δυοῖν ἀποκρίνας κακοῖν ἢ γῆς ἀπῶσαι πατρίδος ἢ κτεῖναι λαβών. (KO. 640) ἀλλ᾽ εἰ μέν, ἄνδρες, τῆσδε δημοῦχοι χθονός μὴ ’τύγχαν᾽ αὐτὸν δεῦρο προσπέμψας ἐμοὶ Θησεύς, δικαιῶν ὥστ᾽ ἐμοῦ κλύειν λόγους, οὔ τἄν ποτ᾽ ὀμφῆς τῆς ἐμῆς ἐπῄσθετο: νῦν δ᾽ ἀξιωθεὶς εἶσι κἀκούσας γ᾽ ἐμοῦ τοιαῦθ᾽ ἃ τὸν τοῦδ᾽ οὔ ποτ᾽ εὐφρανεῖ βίον. (OK. 1350) ὦ παῖδε, τλάσας χρὴ τὸ γενναῖον φρενὶ χωρεῖν τόπων ἐκ τῶνδε, μηδ᾽ ἃ μὴ θέμις λεύσσειν δικαιοῦν μηδὲ φωνούντων κλύειν, ἀλλ᾽ ἕρπεθ᾽ ὡς τάχιστα. (OK. 1642) Ἐτεοκλέα μέν, ὡς λέγουσι, σὺν δίκῃ χρῆσθαι δικαιῶν καὶ νόμῳ, κατὰ χθονὸς ἔκρυψε τοῖς ἔνερθεν ἔντιμον νεκροῖς. (An. 24)

Bemerkenswert ist, dass δικαιοῦν an sich nicht unbedingt eine Anerkennung der ethisch oder konventionell als gerecht angesehenen Handlungen bezeichnet, sondern sich auf eine beurteilende Handlung bezieht, in der etwas als gerecht bzw. recht anerkannt wird. Gleiches gilt für die Belege Ai. 1072, Tr. 1244 und OK. 1642. Die Belege KO. 6,575 und OK. 1350 machen ebenso deutlich, dass das Verb δικαιοῦν unabhängig von einem moralischen bzw. juristischen Kontext gebraucht werden kann und im allgemeinen Sinn „für recht, gerecht halten“ bedeutet.34 Diese in der

34 Olley erfasst aber, indem er die Verwendung des Verbs δικαιοῦν sinngemäß mit dem Gedanken des „right behaviour“ als besonders mit dem Gesetz oder sozialem Brauch verbunden darstellt, den Sinn dieses Verbs nicht richtig. Er kommentiert einige Belege bei Sophokles so: „… when the subject is human, there is generally present in the context the idea of some ‘right’ behaviour for

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Die Gerechtigkeitsaussagen in der paganen Gräzität

paganen Gräzität häufig anzutreffende Verwendungsweise des Verbs δικαιοῦν mit dem Infinitiv kann aufgrund der oben durchgeführten Herleitung der Semantik aus der Wortbildungslehre erklärt werden. Hinter dieser konkreten Verwendung steht die grundlegende Bedeutung des Verbs δικαιοῦν, nämlich „eine Handlung bzw. ein Verhalten (ausgedrückt durch Inf.) mit Gerechtigkeit versehen“ oder „als das Gerechte bzw. das Richtige hinstellen“. 4.

Herodot

In den Werken des Herodot kommt δικαιοῦν 31-mal vor. Davon wird das Verb 28-mal in Verbindung mit einem Infinitiv verwendet und drückt aus, dass die im Infinitiv ausgesagte Handlung für gerecht bzw. recht gehalten oder anerkannt wird. Es gibt jedoch drei Stellen (2,172; 3,118; 6,86) in diesen 28 Belegen, die bei Schrenk und LSJ anders, nämlich als „bewilligen“, „erlauben“ verstanden werden.35 Diese drei Fälle von δικαιοῦν können aber auch mit „für recht, gerecht halten“ wiedergegeben werden.36 In 2,172 wird beschrieben, wie der verachtete neue König Amasis die Ägypter durch eine metaphorische Aktion auffordert, ihm Ehre und Achtung zu erweisen. Er machte aus einem goldenen Fußbecken das Bild einer Gottheit und ließ das Standbild an einer besonders belebten Stelle der Stadt aufrichten. Die Ägypter brachten dem Bild große Verehrung entgegen, woraufhin Amasis den Ägyptern erklärte, dass das Standbild, das sie nun verehren, zuvor ein Waschbecken gewesen sei, in dem man sich die Füße wusch. In gleicher Weise sei auch er einst ein unwichtiger Mann des Volkes gewesen, jetzt aber ihr König. Dadurch erreichte er, dass die Ägypter es fortan für gerecht hielten, ihm zu dienen (δικαιοῦν δουλεύειν).37 3,118 beschreibt, wie Intaphrenes sich anmaßend gegenüber dem König verhielt. Er wollte wie andere Verschwörer ohne Audienz zum König gehen und hielt es nicht für gerecht, sich anzumelden (ἐδικαίου οὐδένα οἱ

those circumstances which leads to a willingness or unwillingness to act (e. g., Aj. 1072, Tr. 1244) … The ‘right’ behaviour may be linked with law (Aj. 1072) or custom (θέμις; OC. 1642), or maybe that expected by the gods (Tr. 1244).“ (Righteousness, 34). Natürlich kann das Verb δικαιοῦν in einem solchen Kontext, in dem es um gesetzliche oder konventionelle Handlungen geht, verwendet werden, aber inhaltlich ist es kaum zu erfassen, dass das Verb δικαιοῦν an sich immer mit dem Sinn vom gerechten oder gesetzlichen Handeln zusammenhängt. 35 Schrenk, s.v. (ThWNT); LSJ, s.v. 36 Olley, Righteousness, 35. 37 Vgl. auch die Übersetzung von Feix: „So gewann er die Ägypter für sich, so daß sie es als recht erkannten, ihm willig zu dienen.“ (Historien I, 353). Die Übersetzung von Marg hingegen ist nicht zutreffend: „Auf diese Art gewann er die Ägypter, so daß sie ihm gern und willig dienten.“ (Geschichten I, 217).

δικαιοῦν

ἐσαγγεῖλαι).38 In 6.86 geht es darum, dass Leotychidas nach Athen kam und die

Freilassung der Geiseln aus Aigina verlangte. Die Athener aber wollten die Männer aus Aigina als Geiseln behalten und sagten, dass zwei Könige ihnen die Geiseln zur Verwahrung überlassen hätten und sie es nicht für gerecht hielten, dem einen, nicht aber dem anderen die Geiseln zurückzugeben (φάντες δύο σφέας ἐόντας βασιλέας παραθέσθαι καὶ οὐ δικαιοῦν τῷ ἑτέρῳ ἄνευ τοῦ ἑτέρου ἀποδιδόναι).39 Wie bei diesen drei Fällen beobachtet, handelt es sich bei der Bedeutung des Verbs im jeweiligen Kontext nicht um eine Frage der Willigkeit, sondern um eine Frage der Angemessenheit oder Gerechtigkeit der Handlungen.40 Für die drei übrigen Beispiele (1,100; 3,29; 5,92) vertreten die meisten Übersetzer und Interpreten die Auffassung, dass das Verb δικαιοῦν in der Bedeutung von „Gesetzesbrecher oder Übeltäter bestrafen bzw. verurteilen“ verwendet wird.41 In 1,100 wird dargestellt, wie der König der Meder, Deioces, seine unerbittliche Herrschaft in seinem Reich errichtet hat. Wenn er von einer Gewalttat hörte, strafte er sie streng nach dem Maß des Vergehens: ταῦτα μὲν κατὰ τὰς δίκας ἐποίεε, τάδε δὲ ἄλλα ἐκεκοσμέατὸ οἱ: εἴ τινα πυνθάνοιτο ὑβρίζοντα, τοῦτον ὅκως μεταπέμψαιτο κατ᾽ ἀξίην ἑκάστου ἀδικήματος ἐδικαίευ42 , καὶ οἱ κατάσκοποί τε καὶ κατήκοοι ἦσαν ἀνὰ πᾶσαν τὴν χώρην τῆς ἦρχε.

Der Beleg 3,29 beschreibt, dass Kambyses den ägyptischen Gott Apis und die diesem Gott dienenden Priester, die ihn mit falschen Aussagen täuschen wollten, vernichtete und die Verehrung dieses Gottes beendete: ὁρτὴ μὲν δὴ διελέλυτο Αἰγυπτίοισι, οἱ δὲ ἱρέες ἐδικαιεῦντο43 , ὁ δὲ Ἆπις πεπληγμένος τὸν μηρὸν ἔφθινε ἐν τῷ ἱρῷ κατακείμενος. καὶ τὸν μὲν τελευτήσαντα ἐκ τοῦ τρώματος ἔθαψαν οἱ ἱρέες λάθρῃ Καμβύσεω.

38 Vgl. auch die folgenden Übersetzungen: „Intaphrenes also hielt es nicht für angebracht, daß jemand ihn anmelde.“ (Marg, Geschichten I, 287); „Also hielt es auch Intaphrenes nicht für nötig, beim König angemeldet zu werden.“ (Feix, Historien I, 465). 39 Vgl. auch die folgenden Übersetzungen: „Sie hielten es nicht für rechtens, sie nur dem einen auszuliefern, wenn der andere fehle.“ (Marg, Geschichten II, 107); „Es sei nicht recht, sie jetzt dem einen ohne den anderen zurückzugeben.“ (Feix, Historien II, 819). 40 Vgl. Olley, Righteousness, 35. 41 Vgl. Schrenk, s.v. (ThWNT); LSJ, s.v.; Powell, Lexicon, 91; Olley, Righteousness, 35. 42 Vgl. die folgenden Übersetzungen: „… so ließ er ihn kommen und strafte ihn streng nach dem Maß des Vergehens.“ (Marg, Geschichten I, 59); „… bestellte er den Täter und bestrafte ihn nach der Höhe seiner Schuld.“ (Feix, Historien I, 99). 43 Vgl. die folgenden Übersetzungen: „Da hatte nun das Fest der Ägypter ein Ende, und die Priester erlitten ihre Strafe.“ (Marg, Geschichten I, 239); „Damit war das Fest für die Ägypter zu Ende. Die Priester wurden bestraft.“ (Feix, Historien I, 387).

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Die Gerechtigkeitsaussagen in der paganen Gräzität

Die letzte Stelle, in der das Verb δικαιοῦν von den meisten Interpreten als „bestrafen“ bzw. „verurteilen“ verstanden worden ist, ist 5,92. Dort steht, dass ein Orakel, Labda, der Frau von Eetion zusagt, dass sie ein Kind gebären wird, das die Stadt Korinth, die seine Eltern ungerecht behandelte, bestrafen wird: Ἠετίων, οὔτις σε τίει πολύτιτον ἐόντα. Λάβδα κύει, τέξει δ᾽ ὀλοοίτροχον: ἐν δὲ πεσεῖται ἀνδράσι μουνάρχοισι, δικαιώσει δὲ Κόρινθον44 .

Es ist vom Kontext her offensichtlich, dass das Verb δικαιοῦν bei diesen drei Belegen nicht wie an den übrigen Belegstellen mit „etwas für recht, gerecht halten“, wiedergegeben werden kann. Im jeweiligen Kontext dieser drei Stellen handelt es sich darum, dass jemand einen Übeltäter oder einen Feind richten oder vernichten will. Diese Verwendungsweise des Verbs scheint sehr weit vom oben analysierten Gebrauch im Sinne von „etwas für recht, gerecht halten“ abzuweichen. In diesem Fall aber stellt sich die Frage, was das Verb δικαιοῦν genau bedeutet. Man darf jedenfalls beide Konnotationen des Verbs, negativ im Sinne von „bestrafen“ und positiv oder neutral im Sinne von „für recht, gerecht halten“ nicht als voneinander gänzlich unabhängige Gebrauchsfälle betrachten. Es ist unwahrscheinlich, dass ein Verb bei einem Autor gleichzeitig mit so unterschiedlichen Bedeutungen verwendet wird. Mir scheinen beide Gebrauchsfälle des Verbs δικαιοῦν, einerseits mit dem Infinitiv und andererseits mit dem personalen Objekt, denen je unterschiedliche Konnotationen zugeordnet werden, auf einer gemeinsamen, grundlegenden Bedeutung des Verbs δικαιοῦν zu basieren und daraus erklärt werden zu können. Wie oben bereits gezeigt, kann die Semantik des Verbs δικαιοῦν ausgehend von den Wortbildungsregeln der Verben mit -όω-Endung als „etwas oder jemanden in den Zustand der Gerechtigkeit bzw. des Rechts versetzen“ bzw. „etwas oder jemanden zum gerechten bzw. richtigen Zustand bringen“ aufgefasst werden. Obwohl das Verb δικαιοῦν nicht immer im jeweiligen Kontext genauso zu übersetzen ist, stimmt diese Auffassung von der Semantik des Verbs mit dem zugrunde liegenden semantischen Charakter eines Verbs mit -όω-Endung besser überein. Von dieser grundlegenden Bedeutung her ist es nicht schwer zu erklären, wie δικαιοῦν zumeist in Verbindung mit dem Infinitiv im Sinne von „eine Sache oder eine Handlung für recht, gerecht halten“ verwendet wird.

44 Vgl. die folgenden Übersetzungen: „Labda ist schwanger, gebiert einen Rollstein, der dann daher stürzt Auf eure Herren der Stadt, und Korinth wird es sein, das er züchtigt.“ (Marg, Geschichten II, 50); „… sie wird dir gebären den rollenden Felsblock, Der auf die Herrschenden stürzt und Recht spricht über Korinthos.“ (Feix, Historien I, 729).

δικαιοῦν

Nun ist auch die Verwendungsweise des Verbs δικαιοῦν an den drei Stellen 1,100; 3,29 und 5,92 bei Herodot auf der Grundlage von dessen allgemeiner Bedeutung „jemanden in den Zustand der Gerechtigkeit versetzen“ bzw. „jemanden zum gerechten Zustand bringen“ erneut zu verstehen. Im Kontext dieser drei Belege findet sich als gemeinsames Element, dass jemandem etwas Ungerechtes passiert oder er ungerecht behandelt wird und deswegen die Täter des Unrechts oder Übels bestraft werden sollen oder an ihnen Vergeltung geübt werden soll. Dass die Übeltäter ohne entsprechende Strafe bleiben, ist ungerecht45 ; deshalb soll demjenigen, dem dieses Unrecht widerfahren ist, durch die gebührende Strafe oder Vergeltungshandlung wieder Gerechtigkeit verschafft werden. In diesem Sinne bedeutet δικαιοῦν mit dem Objekt Übeltäter oder Verbrecher nicht „bestrafen“ bzw. „verurteilen“, sondern eine ausgleichende, also Gerechtigkeit wiederherstellende Handlung.46 5.

Platon

In den Werken Platons findet sich das Verb δικαιοῦν nur dreimal, während das Verb ἀδικεῖν in beiden genera verbi, Aktiv und Passiv, 388-mal vorkommt. Bemerkenswert ist, dass sich in den meisten Fällen, in denen ἀδικεῖν verwendet wird, deutlich zeigt, dass das Verb im Sinne von „im Unrecht sein“ bzw. „sich vergehen“ (intransitiv) oder „an jemandem Unrecht tun“ bzw. „jemanden ungerecht behandeln“ (transitiv) verwendet wird. An den drei Belegen für δικαιοῦν kann man deutlich sehen, dass das Verb δικαιοῦν nicht im Sinne eines Gegensatzbegriffs zu ἀδικεῖν als „gerecht sein“ oder „an jemandem Gerechtes tun“ zu verstehen ist.47 Bei zwei der insgesamt drei Belege kommt δικαιοῦν im Zitat von Pindar Fr. 169a 3 vor. In Gorg. 484b ist es vollständig wiedergegeben: „νόμος ὁ πάντων βασιλεὺς θνατῶν τε καὶ ἀθανάτων·οὗτος δὲ δή, φησίν, ἄγει δικαιῶν τὸ βιαιότατον ὑπερτάτᾳ χειρί· τεκμαίρομαι ἔργοισιν Ἡρακλέος, ἐπεὶ ἀπριάτας.“ In Lg. 715a ist das Zitat freilich anders und kürzer formuliert: „καὶ ἔφαμέν που κατὰ φύσιν τὸν

45 Dazu beweist Passow den Gebrach von ἀδικεῖν bei Resp. 344c im Sinne, dass der Übeltäter die Strafe noch nicht erlitten hat (vgl. Handwörterbuch, 33). 46 Dabei ist ein Stützbeleg bei Aristoteles zu finden. In EN. 5,1135a 8-13 unterscheidet Aristoteles gewissermaßen zwischen δικαίωμα und δικαιοπράγημα. Die gerechte Handlung nennt man δικαιοπράγημα, mit δικαίωμα bezeichnet man die Wiedergutmachung der ungerechten Handlung (τὸ ἐπανόρθωμα τοῦ ἀδικήματος). Von daher lässt sich nochmals bestätigen, dass das Verb δικαιοῦν eine Gerechtigkeit oder einen gerechten Zustand bewirkende Bedeutung hat (s. u.). 47 Der Gegenstand von ἀδικεῖν wird generell in der Form μή (οὐ) ἀδικεῖν gebraucht (z. B. Resp. 351d; 500c; Gorg. 469b; Lg. 759a; 829a; Smp. 188a, 196b; Ap. 37b; Conv. 196b; Menex. 249a; Ion. 542a). Dazu ist bemerkenswert, dass Aristoteles als Gegensatz des Verbs ἀδικεῖν nicht δικαιοῦν, sondern δικαιοπραγεῖν verwendet (EN. 5,1135a 16-18; 1135b 4-8; 1136a 1-5).

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Πίνδαρον ἄγειν δικαιοῦντα τὸ βιαιότατον, ὡς φάναι.“48 Die beiden Zitationen

stehen im Kontext, in welchem der sophistische Gedanke über das Recht bzw. das Gesetz dargestellt wird, dass der Bessere bzw. Edlere aufgrund des Rechts der Natur (κατὰ νόμον γε τὸν τῆς φύσεως), also des Gesetzes, mehr hat als der Schlechtere bzw. Gemeinere und über die Schlechteren gewalttätig herrscht (Gorg. 483a-491d; Lg. 714b-715e). Den Sophisten zufolge ist das Gesetz gegründet auf dem Recht der Natur und spielt eine Rolle dabei, dass Oberschichten die Erhaltung ihrer Herrschaft und Interessen rechtfertigen. In diesem Kontext ist jenes Pindar-Zitat in Gorg. 484b und Lg. 715a folgendermaßen wiederzugeben: „Das Gesetz führt die Gewalttat mit machtvoller Hand (sie) für gerecht haltend bzw. führt rechtfertigend die Gewalttat mit machtvoller Hand.“ (Gorg. 484b). „Naturgemäß hält Pindar die größte Gewalt für gerecht bzw. setzt die größte Gewalt ins Recht.“ (Lg. 715a). Der Vers von Pindar versteht nämlich die gewaltsame Herrschaft des Stärkeren als der Natur gemäß (κατὰ φύσιν) (vgl. „Gesetz der Natur“: Gorg. 483e), und damit als gerecht.49 Die letzte Stelle, wo δικαιοῦν vorkommt, ist Lg. 934b; dort liegt δικαιοῦν in Gestalt des Passivs mit einem personalen Subjekt vor. An dieser Stelle ist der Zweck der Strafe dargestellt. Nach Platon zielt die Strafe nicht lediglich auf die Bestrafung für die begangene Übeltat an sich, sondern vielmehr darauf, dass in der Folgezeit die Täter selbst und diejenigen, die sehen, wie die Verbrecher gerichtet werden, die Ungerechtigkeit als Ganzes ablehnen oder sich zu einem großen Teil davon distanzieren. Die passivische Partizipialkonstruktion αὐτὸν δικαιούμενον wird bisher meistens als „dass er bestraft wird“ übersetzt50 , aber wie bei den Stellen von Herodot (1,100; 3,29; 5,92) und Thukydides (3,40,4) bereits gesehen, ist dies nicht das richtige Verständnis der Bedeutung des Verbs. Denn bei dem Verb δικαιοῦν geht es sinngemäß nicht einfach um Bestrafung des Ungerechten bzw. Verbrechers, sondern darum, dass man den, der Ungerechtes oder Übel getan hat, durch Strafen wieder in einen gerechten Zustand versetzt, also darum, seinen ungerechten Zustand zum gerechten Zustand zu korrigieren. Auch der Kontext stützt diese Ansicht.

48 Vgl. die folgenden Übersetzungen: „Wir behaupten, glaube ich, daß Pindar unter Berufung auf die Natur die größte Gewalttat durchsetzt und für recht erklärt, wie er sagt.“ (Schleiermacher, Gesetze, 253); „Wir behaupteten doch etwa, daß Pindar die größte Gewalt für naturgemäß erkläre und zum Recht mache.“ (Dalfen, Nomoi, 22). 49 Über die Bedeutung von Pindars ursprünglichem Text gibt es eine Kontroverse, ob Pindars eigene Aussageabsicht von der des Platon abweiche und nicht „das Gesetz hielt die Gewalttat für gerecht“, sondern „das Gesetz bestraft die Gewalttat“ gemeint gewesen sei (vgl. Pavese, Heracles, 57–59; 69–71). Wenn man den Kontext von Pindars Text Fr. 169,3 betrachtet, lässt sich leicht erkennen, dass das Zitat sagen will, das Gesetz habe, unter dem Gesichtspunkt eines übergeordneten Rechts, das gewalttätige Handeln des Herakles zu rechtfertigen (vgl. Dalfen, Nomoi, 196). 50 Vgl. Schleiermacher, Gesetze, 413; Apelt, Gesetze, 471; Eyth, Gesetze, 617. Aber Dalfen gibt sie angemessen mit „ihm Gerechtigkeit widerfährt“ wieder.

δικαιοῦν

Der Zweck der Strafe liegt der Beschreibung des Platon zufolge nicht darin, dass der Sünder nur seiner Sünde gebührend bestraft werden soll, sondern vielmehr darin, dass seine schlechten Taten durch eine Bestrafung berichtigt und folglich geheilt werden müssen.51 6.

Aristoteles

In den Werken des Aristoteles kommt das Verb δικαιοῦν siebenmal vor, davon allein schon sechsmal in EN. 5,1136a 10-31, fünfmal in der passiven oder medialen Infinitivform als δικαιοῦσθαι und einmal als Indikativ Passiv 3. Person (δικαιοῦνται). In EN. 5,1136a 10-31 behandelt Aristoteles die Frage, ob man durch eigenen Willen oder unwillentlich in den ungerechten Zustand versetzt werden könne (πότερον γὰρ ὡς ἀληθῶς ἔστιν ἑκόντα ἀδικεῖσθαι, ἢ οὒ ἀλλ᾽ ἀκούσιον ἅπαν). In dieser Diskussion wird konsequent δικαιοῦσθαι als Gegensatz zu ἀδικεῖσθαι verwendet. Die meisten Übersetzungen und Interpretationen geben ἀδικεῖσθαι als „ungerecht leiden“ bzw. „Unrecht erleiden“ an; seine Aktivform „ἀδικεῖν“ ist als „Unrecht tun“ wiedergegeben und ihre einschlägigen Gegensätze δικαιοῦν und δικαιοῦσθαι jeweils als „gerecht handeln“ und „gerecht behandelt werden“ bzw. „Recht erleiden“.52 Betrachtet man die Verwendung des Verbs ἀδικεῖν bei dieser Diskussion, kann man aber vor allem erkennen, dass Aristoteles mit dem Verb ἀδικεῖν nicht einfach „Unrecht tun“ meint. Denn er unterscheidet deutlich zwischen ἄδικα πράττειν und ἀδικεῖν, ebenfalls auch zwischen ἄδικα πάσχειν und ἀδικεῖσθαι: ἔπειτα καὶ τόδε διαπορήσειεν ἄν τις, πότερον ὁ τὸ ἄδικον πεπονθὼς ἀδικεῖται πᾶς, ἢ ὥσπερ καὶ ἐπὶ τοῦ πράττειν, καὶ ἐπὶ τοῦ πάσχειν ἐστίν: κατὰ συμβεβηκὸς γὰρ ἐνδέχεται ἐπ᾽ ἀμφοτέρων μεταλαμβάνειν τῶν δικαίων: ὁμοίως δὲ δῆλον ὅτι καὶ ἐπὶ τῶν ἀδίκων: οὐ γὰρ ταὐτὸν τὸ τἄδικα πράττειν τῷ ἀδικεῖν οὐδὲ τὸ ἄδικα πάσχειν τῷ ἀδικεῖσθαι: ὁμοίως δὲ καὶ ἐπὶ τοῦ δικαιοπραγεῖν καὶ δικαιοῦσθαι: ἀδύνατον γὰρ ἀδικεῖσθαι μὴ ἀδικοῦντος ἢ δικαιοῦσθαι μὴ δικαιοπραγοῦντο. (EN. 5,1136a 23-32).

Er liefert geradezu eine Definition von ἀδικεῖν ἀδικεῖν als „jemandem mit Willen Schaden zufügen (τὸ ἀδικεῖν τὸ βλάπτειν ἑκόντα τινά“, EN. 5,1136a 31; 1136b 28). Nach Aristoteles ist ἀδικεῖν von ἄδικα πράττειν insofern zu unterscheiden (EN. 5,1136a 28), als ἀδικεῖν ein Unrechtsverfahren bzw. Unrechtshandeln aus

51 Vgl. Dalfen, Nomoi, 511. In seinem Kommentar weist Dalfen auf eine andere Aussage (Lg. 728c 5; 862c; 957e; Gorg. 525b; Resp. 380a-c) von Platon hin, in der Platon den Strafzweck als Heilung (oder Besserung) des Verbrechers darstellt. 52 Vgl. Dirlmeier, Nikomachische Ethik, 114–118; Wolf, Nikomachische Ethik, 183–186; Gordon, Gerechtigkeit, 369–370.

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Die Gerechtigkeitsaussagen in der paganen Gräzität

Vorsatz (ἐκ προαιρέσεως) bezeichnet – also nach vorherigem Nachdenken (προβουλεῖν) „an jemandem Ungerechtes tun“, infolge dessen jemandem Schaden geschieht –, während ἄδικα πράττειν einen fehlenden Vorsatz oder eine nicht erfolgte Überlegung, etwas Ungerechtes zu tun, meint (EN. 5,1136a 1; 1136b 30f). Dazu kommt, dass ἀδικεῖν mit einem Vorsatz sich nicht nur auf die Tat selber, sondern vielmehr auf einen ungerechten Charakter oder ein ungerechtes Sein des Täters bezieht. Derjenige also, der aus Vorsatz, mit vorheriger Überlegung, ungerecht verfährt, ist der Ungerechte und Schlechte (EN. 5,1135b 25; 1136a 1-3). Derjenige, der ohne vorherige Überlegung zufällige Schädigungen, z. B. Fehler (ἁμάρτημα), Unglück (ἀτύχημα) und nicht überlegte Unrechtshandlungen (ἀδίκημα), getan hat, ist dies aber eben nicht (EN. 5,1135b 20f). Daher ist das Verb ἀδικεῖν bei Aristoteles nicht bloß als einmalige und zufällige „ungerechte Handlung“ zu verstehen, sondern bezieht sich auf eine Handlungsweise oder einen menschlichen Charakterzug des „Ungerecht-Seins“, „Ungerecht-Verfahrens“ oder „Sich-ungerecht-Verhaltens“. Bemerkenswert ist, dass Aristoteles als Gegensatz zum Verb ἀδικεῖν nicht das Verb δικαιοῦν, sondern mit großer Regelmäßigkeit das Verb δικαιοπραγεῖν verwendet (EN. 5,1135a 16-18; 1135b 4-8; 1136a 1-5) und dass er zwischen δικαίωμα und δικαιοπράγημα unterscheidet: διαφέρει δὲ τὸ ἀδίκημα καὶ τὸ ἄδικον καὶ τὸ δικαίωμα καὶ τὸ δίκαιον· ἄδικον μὲν γάρ ἐστι τῇ φύσει ἢ τάξει· αὐτὸ δὲ τοῦτο, ὅταν πραχθῇ, ἀδίκημά ἐστι, πρὶν δὲ πραχθῆναι, οὔπω, ἀλλ’ ἄδικον. ὁμοίως δὲ καὶ δικαίωμα· καλεῖται δὲ μᾶλλον δικαιοπράγημα τὸ κοινόν, δικαίωμα δὲ τὸ ἐπανόρθωμα τοῦ ἀδικήματος. (EN. 5,1135a 8-13).

Aristoteles‘ Erklärung zufolge meint δικαίωμα „die Korrektur der ungerechten Handlung“, also „Wiedergutmachung der ungerechten Handlung (τὸ ἐπανόρθωμα τοῦ ἀδικήματος)“, während mit δικαιοπράγημα „gerechte Handlung“ gemeint ist. Dabei lässt sich nochmals die Tatsache bestätigen, dass das Verb δικαιοῦν die Handlung bezeichnet, „etwas jemanden wieder zum gerechten Zustand machen“ bzw. „wieder in den gerechten Zustand versetzen“. Folglich muss man nun über die Bedeutung der Passivform δικαιοῦσθαι nachdenken. Wie bereits oben beschrieben, verwendet Aristoteles δικαιοῦσθαι als Gegenteil von ἀδικεῖσθαι, aber wenn man bedenkt, dass δικαιοῦν und ἀδικεῖν semantisch keine direkten Gegenstücke sind, ergibt sich die Frage, wie denn δικαιοῦσθαι als Gegenteil von ἀδικεῖσθαι verwendet werden kann. Um diese Verwendungsweise der beiden Verben zu verstehen, muss man zuerst die Semantik von ἀδικεῖσθαι genauer beschreiben. Wie oben schon gesagt, unterscheidet Aristoteles zwischen ἀδικεῖσθαι und ἄδικα πάσχειν (EN. 5,1136a 24). Für Aristoteles ist ἄδικα πάσχειν als einmalige und zufällige „Erfahrung des Ungerechten“ gemeint – Schwerpunkt ist also das Erleiden der ungerechten Handlung an sich. ἀδικεῖσθαι hingegen meint,

δικαιοῦν

dass „jemandem etwas Ungerechtes widerfährt und dadurch diesem Schaden zugefügt wird“ bzw. „jemand ungerecht behandelt wird und sich daher in einem ungerechten Zustand befindet“. Die Betonung liegt also auf einem ungerechten Zustand, durch den eine Person Schaden nimmt und somit unter etwas Ungerechtem leidet (EN. 5,1136b 5-6).53 Von diesem Umstand her ist es nicht schwer zu verstehen, dass δικαιοῦσθαι in EN. 5,1136a 10-32 als Gegensatz von ἀδικεῖσθαι konsequent gebraucht wird. Zudem wird deutlich, dass die bisherigen Übersetzungen von ἀδικεῖσθαι als „Unrecht erleiden“ und δικαιοῦσθαι als „Recht erfahren“ oder „gerecht behandelt werden“ nicht angemessen sind. Denn mit dieser Übersetzung werden die Termini fälschlicherweise von „ἄδικα πάσχειν“ und „δίκαιος πάσχειν“ nicht klar unterschieden und die Bedeutung des In-einen-Zustand-Versetzens nicht hinreichend deutlich ausgedrückt. Die Wendungen δικαιοῦσθαι und ἀδικεῖσθαι bringen vielmehr zum Ausdruck, dass jemand durch eine gerechte oder ungerechte Tat in einen gerechten oder ungerechten Zustand versetzt ist und sich daher in einer solchen Lage befindet. Die Verwendungsweise des Verbs δικαιοῦν in der Passivform bei Aristoteles unterscheidet sich somit nicht wesentlich von den anderen Gebrauchsweisen bei den oben untersuchten Autoren. 7.

Polybios

Bei Polybios wird das Verb δικαιοῦν nur einmal an der Stelle 3,31,9 verwendet. Hier gibt er eine Antwort auf die Frage, wozu das Wissen der Geschichte und Vergangenheit notwendig ist und welche Vorteile es hat. Nach Polybios können die Kenntnisse der Vergangenheit ein Prüfstein (δοκιμασία) sein, sodass man weiß, von wem Dank, Wohltat und Hilfe zu erwarten ist und von wem das Gegenteil (παρ᾽ οἷς μὲν χάριν, εὐεργεσίαν, βοήθειαν ἡμῖν ὑπάρχουσαν, παρ᾽ οἷς δὲ τἀναντία τούτων). Man kann auch aus der alten Geschichte entnehmen, „wer Mitleid (τὸν ἐλεήσοντα) mit uns empfinden, unseren Zorn (τὸν συνοργιούμενον) teilen und uns ins Recht (τὸν δικαιώσοντα) setzen (bzw. uns wieder in den gerechten Zustand versetzen 53 Dies verhält sich genauso wie der oben betrachtete Unterschied zwischen ἀδικεῖν und ἄδικα πράττειν. In EN. 5,1136b 29-33 wird die Tatsache wieder bestätigt, dass ἄδικα πράττειν ein ohne eigenen Willen oder eigene Überlegung nur zufällig und einmalig geschehenes „ungerechtes Tun“ bezeichnet, aber ἀδικεῖν sich vielmehr auf eine Handlung bezieht, mit der jdm. aus eigenem Willen Ungerechtes getan und er damit in eine ungerechte Lage versetzt wird: „ἔτι ἐπεὶ πολλαχῶς τὸ ποιεῖν λέγεται, καὶ ἔστιν ὡς τὰ ἄψυχα κτείνει καὶ ἡ χεὶρ καὶ ὁ οἰκέτης ἐπιτάξαντος, οὐκ ἀδικεῖ μέν, ποιεῖ δὲ τὰ ἄδικα“. Betrachtet man die Entstehung der Verben auf -εω im Altgriechischen und ihre Bedeutung bzw. ihren Sinncharakter, kann man das Verb ἀδικεῖν nicht einfach mit „im Unrecht sein“ bzw. „sich ungerecht vergehen“ (intransitiv) oder „an jdm. Unrecht tun“ bestimmen, vielmehr dürfte es wahrscheinlich den faktitiven Sinn „jdm. Schaden zufügen bzw. anrichten, somit in ungerechten Zustand setzen“ einschließen.

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oder zum gerechten Zustand bringen) wird und daher ist dies eine große Hilfe für das menschliche Leben sowohl im privaten als auch im öffentlichen Bereich.“ Um die Bedeutung des Partizips δικαιώσοντα besser zu begreifen, muss man den Kontext sorgfältig betrachten. In 3,31,5 geht es um den Umstand, dass jemandem selbst oder seinem Heimatland Unrecht geschieht, also er oder es durch einen ungerechten Angriff eines feindlich gesinnten Landes in einen ungerechten Zustand versetzt wird (αὐτὸς ἀδικούμενός τις ἢ τῆς πατρίδος ἀδικουμένης). Dieser möchte nun andere zum Beistand für seine Unternehmungen bewegen, wenn er Eroberungen zu machen plant und einen Angriffskrieg zu beginnen wünscht. Von diesem Kontext her ist δικαιώσοντα als eine Handlung zu verstehen, die durch einen Angriff die gebrochene Gerechtigkeit wieder verschafft.54 Der Sprachgebrauch und die Bedeutung des Verbs δικαιοῦν bei Polybios ähneln in diesem Sinne besonders der Verwendung in Thukydides 3,40,4, wo das Verb ein Racheakt bezeichnet, die erlittenen Ungerechtigkeiten zurückzuzahlen und die Gerechtigkeit wiederherzustellen. Zudem weicht dieser Fall vom anderen Gebrauch des Verbs mit einem personalen Objekt bei Herodot (1,100; 3,29; 5,92b) sowie Platon (Gorg. 484b; Lg. 715a; Lg. 934b) nicht ab, in dem das Verb ebenfalls im Sinne von „jemanden in den gerechten Zustand versetzen oder zum gerechten Zustand bringen“ verwendet wird. 8.

Plutarch

In den Werken des Plutarch kommt das Verb δικαιοῦν 15-mal vor. Davon wird es 14-mal wie an den üblichen Stellen anderer klassischer hellenistischer Autoren in Verbindung mit einem nicht-personalen Objekt, gelegentlich mit einem Infinitiv, gebraucht und bezeichnet eine Handlung oder ein Verhalten, in der bzw. in dem etwas „für gerecht, recht halten“ oder „als gerecht, recht anerkannt bzw. erachtet wird“.55

54 Es ist unangemessen, das Verb δικαιοῦν einseitig im positiven Sinne von „rechtfertigen“ zu verstehen (so aber Prothro, Strange Case, 53). Mit Recht erfasst hingegen Olley die Bedeutung des Verbs als „righting an injustice“. (Righteousness, 38). Seifrid vertritt entsprechend, dass das Verb δικαιοῦν „executing vengeance“ bedeutet. (Righteousness Language, 51, Anm. 42). Dabei sind allerdings die Auffassungen „avenge“ und „executing vengeance“ problematisch, da sie die Bedeutung des Verbs nur mit einer negativen Konnotation der rächenden Handlung verstehen. 55 Von diesen Belegen von δικαιοῦν versteht Schrenk denjenigen in Cato Maior 21,4 ganz falsch als „Vollzug der Todesstrafe“ (vgl. Schrenk, s.v. (ThWNT)). Wenn man die Stelle in ihrem Kontext genauer betrachtet, enthält δικαιοῦν nicht selbst die Bedeutung des „Vollzugs der Todesstrafe“, da δικαιοῦν von sich selbst aus in der Verbindung mit dem Infinitiv „ἀποθνῄσκειν“ nur ein Urteil bedeutet, das es als gerecht oder recht erachtet, diejenigen, die ein todeswürdiges Verbrechen begangen haben, zu töten.

δικαιοῦν

In Moralia 565b wird δικαιοῦν dagegen in Verbindung mit einem personalen Objekt verwendet. Wie bei Herodot (1,00; 3,29; 5,92), Thukydides (3,40,4), Platon (Lg. 934b) und Polybios (3,31,9) wird die Bedeutung des Verbs von den meisten Interpreten als „bestrafen“ verstanden. Doch bei der Verwendung des Verbs geht es nicht nur darum, jemanden zu bestrafen, sondern vielmehr darum, durch Bestrafung jemanden (meistens einen Übeltäter oder Verbrecher) in einen gerechten Zustand zu versetzen bzw. wieder zum gerechten Zustand zu bringen. An der genannten Stelle beschreibt Plutarch, wie die Seele des schlechten Menschen nach seinem Tod von der Gottheit bestraft wird und zu leiden hat: ὃς δ᾽ ἂν ἐκεῖθεν ἀκόλαστος ἐνταῦθα καὶ ἀκάθαρτος ἐξίκηται, τοῦτον ἡ Δίκη διαλαβοῦσα τῇ ψυχῇ καταφανῆ γυμνόν γυμνόν, εἰς οὐδὲν ἔχοντα καταδῦναι καὶ ἀποκρύψασθαι καὶ περιστεῖλαι τὴν μοχθηρίαν ἀλλὰ πανταχόθεν καὶ ὑπὸ πάντων καὶ πάντα καθορώμενον, ἔδειξε πρῶτον ἀγαθοῖς γονεῦσιν, ἄνπερ ὦσιν, ἢ προγόνοις αὐτοῦ πρόσπτυστον ὄντα καὶ ἀνάξιον ἐὰν δὲ φαῦλοι, κολαζομένους ἐπιδὼν ἐκείνους καὶ ὀφθεὶς δικαιοῦται πολὺν χρόνον ἐξαιρούμενος ἕκαστον τῶν παθῶν ἀλγηδόσι καὶ πόνοις, οἳ τοσούτῳ μεγέθει καὶ σφοδρότητι τοὺς διὰ σαρκὸς ὑπερβάλλουσιν, ὅσῳ τὸ ὕπαρ ἂν εἴη τοῦ ὀνείρατος ἐναργέστερον. οὐλαὶ δὲ καὶ μώλωπες ἐπὶ τῶν παθῶν ἑκάστου τοῖς μὲν μᾶλλον ἐμμένουσι τοῖς δ᾽ ἧσσον.

Die Gottheit (Δίκη) empfängt die unzüchtige und unreine Seele und führt sie vor ihre Eltern und Großeltern. So muss ein schlechter Mensch zuschauen, wie seine Seele gepeinigt und für eine lange Zeit gerichtet wird. Unter Qualen und Schmerzen wird bei jedem einzelnen Leiden der Übeltäter von der Gottheit bestraft und dadurch Übel und Leidenschaft von der Seele entfernt. Anhand dieser Stelle lässt sich nochmals bestätigen, dass das Verb δικαιοῦν nicht einfach „bestrafen“ meint. Im Kontext geht es, ähnlich wie bei den Stellen von Herodot und Platon, wiederum nicht lediglich um den Vollzug der Strafe, sondern um die durch die heftige Bestrafung erfolgende Reinigung von den Leidenschaften der schlechten Seele. So stellt Plutarch, ähnlich wie Platon (vgl. Lg. 728c 5; 862c; 934b; 957e; Gorg. 525b; Resp. 380a-c), das Ziel der Strafe dar: „Die reinigenden Strafen haben ihr Ziel erreicht, wenn die Seele völlig geglättet und ausgeglichen ist, so dass sie eine gleichmäßig leuchtende Tönung annimmt (ἐνταῦθα δὲ καθαρμοῦ καὶ κολάσεως πέρας ἐστί, τούτων ἐκλεανθέντων, παντάπασι τὴν ψυχὴν αὐγοειδῆ καὶ σύγχρουν γενέσθαι).“ (De Sera sera num. 565c).

9.

Fazit

Aus der Untersuchung der Bedeutung des Verbs δικαιοῦν in der paganen griechischen Literatur aus der hellenistisch-römischen Zeit lässt sich erkennen, dass

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dieses Verb überwiegend in Verbindung mit dem Infinitiv im Sinne von „etwas für recht bzw. gerecht halten oder erachten“ verwendet wird.56 Dabei ist allerdings zu beachten, dass mit dieser Wiedergabe nicht die eigentliche Semantik des Verbs δικαιοῦν getroffen ist. Hinter dieser konkreten Verwendung steht vielmehr die allgemeine Bedeutung „eine Handlung bzw. ein Verhalten (ausgedrückt durch Inf.) mit Gerechtigkeit versehen“ oder „als das Gerechte bzw. das Richtige hinstellen“. δικαιοῦν in Verbindung mit einem Infinitiv beschreibt somit ein Denken oder Urteilen, in dem etwas als gerecht bzw. richtig anerkannt wird. Wenn das Verb im Aktiv mit einem personalen Objekt oder im Passiv mit einem personalen Subjekt verwendet wird, bedeutet es „jemanden in den gerechten Zustand versetzen“ bzw. „jemanden zum gerechten Zustand bringen“. Hierbei gibt es grundlegend zwar zwei verschiedene Akzentuierungen im Gebrauch des Verbs; zum einen im Sinne, dass ein Übeltäter oder Sünder, der ein Unrecht begangen hat, dafür aber noch nicht bestraft worden ist, durch eine vergeltende Handlung wieder in den Zustand der Gerechtigkeit versetzt wird (Herodot, 1,100; 3,29; 5,92b; Platon, Gorg. 484b; Lg. 715a; Lg. 934b); zweitens im Sinne, dass ein ungerecht behandelter Mensch oder ein zu Unrecht angegriffenes Land sich selbst durch die rächende bzw. vergeltende Handlung wieder in den gerechten Zustand versetzt (Thukydides, 3,40,4; Polybius, 3,31,9).57 Auf jeden Fall ist die bisher gängige Ansicht, nach der das Verb δικαιοῦν mit einem personalen Objekt an eben genannten Stellen lediglich in einem ausschließlich negativen Sinne als „bestrafen“ bzw. „richten“ zu verstehen ist, unangemessen. Vor allem verweisen die Belege bei Aristoteles darauf, dass das Verb δικαιοῦν im Passiv mit einem personalen Subjekt überhaupt nicht das negative Deutungsfeld der Bestrafung umfasst (EN. 5,1136a 10-31). Besonders hinzuweisen ist auf EN. 5,1135a 8-13, wo Aristoteles die Bedeutung des Wortes δικαίωμα in semantischer Gegenüberstellung zu δικαιοπράγημα erklärt. Dieser Erklärung zufolge meint δικαίωμα eine Wiedergutmachung der ungerechten Handlung (τὸ ἐπανόρ-

56 Diese Verwendungsweise des Verbs ist neben den in meiner Untersuchung analysierten Stellen für den Zeitraum von 1. bis zum 3. Jh. in der jüdischen und paganen Literatur u. a. belegt bei Philo, Abr. 142; 171; Migr. Abr. 73; Vit. Mos. 1,44; 2,130; Cher. 33; Ebr. 95; Somn. 1,214; 2,114.132; Spec. Leg. 1,180.215.298; Josephus, Ant. 9,187; 12,124; 19,178.305; Appian, Bell. Civil. 3,8,54; Hist. Rom. 8,3,17; Cassius Dio, 37,21,1; 37,35,2; 48,46,4; 54,24,7; P. Giss 1,47.16; PSI V, 481,11; VII, 768,9; P. Oxy. III, 653; Philostratos, Vit. Apo. 6,11; Diodor, 25,5,1; Lukian, Tyr. 12,13 u. ö.). Vgl. Schrenk, s.v. (ThWNT); Prothro, Strange Case, 51. 57 Ein solcher Sprachgebrauch lässt sich sowohl in der paganen Gräzität als auch im jüdischen Schrifttum vielfach nachweisen: vgl. Aelian, Var. Hist. 5,18; 12,7; 14,7; 15,11; Dio Cassius, 4,17,14; 7,35,2; 8,36,1; 15,57,46a; 37,12,2; 37,41,2; 38,11,3; 40,54,1; 41,28,4; 41,35,5; 43,24,4; 49,12,5; 51,8,3; 52,26,8; 53,4,1; 53,13,6; 54,15,4; 54,19,2; 55,14,3; 56,4,5; 56,40,7; 58,5,6; 58,11,5; 72,8,3; 75,8,3; 80,2,4; Josephus, Ant. 17,206; 18,178. Vgl. Prothro, Strange Case, 55f.

δικαιοῦν

θωμα τοῦ ἀδικήματος).58 Aus diesen Befunden kann gefolgert werden, dass die

Semantik des Verbs in Verbindung mit einem personalen Objekt grundsätzlich darin besteht, eine Person durch eine bestrafende bzw. rächende Handlung oder Tat in den gerechten Zustand zu versetzen. Das Verb besitzt somit im Grunde eine positive Semantik. Insofern ist δικαιοῦν deutlich von den Verben δικάζειν („Recht sprechen, richten“), κρίνειν („beurteilen, verurteilen“) und κολάζειν („bestrafen“) zu unterscheiden. Diese Befunde erhärten, dass die Verwendungsweise des Verbs im eher positiven Sinne „rechtfertigen“ bzw. „Recht schaffen“ in der LXX und bei Paulus nicht in Opposition zum Sprachgebrauch in der paganen Gräzität zu verstehen ist. Die alttestamentliche bzw. paulinische Verwendungsweise steht vielmehr in einem engen semantischen Zusammenhang mit derjenigen in der paganen Gräzität und lässt sich ebenfalls auf die allgemeine Bedeutung „jemanden in einen gerechten Zustand versetzen“ zurückführen. Außerdem ist deutlich geworden, dass die bisher verbreitete Unterscheidung des Sprachgebrauchs des Verbs je nach Verbindung mit entweder einem personalen Objekt oder einem nicht-personalen Objekt, nämlich entweder im Sinne von „bestrafen“ oder im Sinne von „für gerecht halten“ bzw. „als gerecht erachten“, nicht der eigentlichen Semantik entsprechen, sondern vielmehr auf unser heutiges deutsches Sprachsystem zurückzuführen sind, das die Bedeutung des Verbs nicht mit einer für beide Verwendungsweisen passenden Übertragung umschreiben kann. Festzuhalten ist also, dass die Griechen der hellenistischen und römischen Zeit das Verb in seiner Semantik nicht je nach der Art des Objekts im Sinne von entweder „bestrafen“ oder „für gerecht halten oder erachten“ differenziert hätten. Sie legten vielmehr für beide Verwendungsweisen, unabhängig davon, ob es mit einem personalen Objekt oder mit einem nicht-personalen Objekt verwendet wurde, das eine semantische Feld „etwas oder jemanden in den gerechten Zustand oder in das Gerechte, Richtige versetzen“ zugrunde. Diese Auffassung wird auch von der Stelle Aischylos Ag. 393 gestützt, in der das Verb δικαιοῦν weder „eine Handlung oder eine Sache für gerecht halten“ noch „eine Person bestrafen“ meint, sondern eine Versetzung bzw. Veränderung eines schlechten Gefäßes in den ursprünglichen gerechten Zustand bedeutet. Bemerkenswert ist hierbei, dass das Verb δικαιοῦν nicht nur auf den forensischen Bereich beschränkt verwendet wird. Aus seiner Verwendung unter Berücksichtigung der Vielfalt der Belege ist zu erschließen, dass das Verb allgemein einerseits das Urteil oder die Haltung, eine Sache oder eine Handlung als gerecht anzuerkennen und andererseits die Handlung, jemanden wieder in den gerechten Zustand zu versetzen, bezeichnet.

58 Außer EN. 5,1136a lassen sich folgende Belege für die Verwendung des Verbs δικαιοῦν in einem nicht negativen Sinne finden: Corp. Herm. 13,9 und Dio Cassius, 48,46,4. Vgl. Schrenk, s.v. (ThWNT); Prothro, Strange Case, 53).

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Die Gerechtigkeitsaussagen in der paganen Gräzität

Im Vergleich zum paulinischen Gebrauch ist jedoch auffällig, dass in der außerbiblischen, hellenistischen und kaiserzeitlichen Literatur keine Belege dafür zu finden sind, dass δικαιοῦν im forensischen Sinne das einen Menschen rechtfertigende Handeln Gottes bezeichnet. Diese mehrfach vorkommende paulinische Gebrauchsweise, dass Gott als Richter die Glaubenden für gerecht erklärt, lässt sich plausibel vom Gebrauch des Verbs in der LXX herleiten, da es dort häufig mit dem Subjekt Gott verwendet wird und sich auf Gottes Handeln, in dem er einen Menschen als gerecht anerkennt, bezieht (vgl. ExLXX 23,7; 1KönLXX 8,32; 2ChrLXX  6,23; JesLXX 45,25; 50,8; vgl. GenLXX 15,6; PsLXX 35,11; 105,31; 142,2; JobLXX  9,2). Doch folgt aus dieser Tatsache nicht, dass auch das semantische Profil des Verbs sich von diesem besonderen Kontextbezug innerhalb der LXX her gewandelt hat. Wenn sich tatsächlich solch eine semantische Verschiebung vollzogen hätte, wie hätten dann die griechischsprachigen Leser der LXX und der paulinischen Briefe die positive Verwendungsweise des Verbs im Sinne von „rechtfertigen“ verstehen können? Es besteht kein Zweifel daran, dass die Leser der LXX und der paulinischen Briefe von ihrem eigenen semantischen Verständnis des Verbs her dessen positiven Sinn als „rechtfertigen“ bzw. „als gerecht anerkennen“ zu erfassen imstande waren.

III.

Die Gerechtigkeitsaussagen im Alten Testament

Die Untersuchung der δικαι-Termini in der paganen griechischen Literatur im Teil A hat gezeigt, dass sich die paulinische Verwendung der δικαι-Termini auf der semantischen Ebene vom griechischen Sprachgebrauch her erklären lässt. Dieses Ergebnis steht im Gegensatz zu der These, dass die Wortsemantik der δικαι-Termini bei Paulus anders als diejenige im Koine-Griechisch von Semitismen bestimmt sei. Dieser Ansicht zufolge weiche die paulinische Verwendung des Begriffs δικαιοσύνη vom üblichen Sprachgebrauch in der paganen Gräzität ab, in dem der Begriff im Sinne der iustitia distributiva verwendet wird, und stehe der Bedeutung der Begriffe ‫צדקה‬/‫ צדק‬im Alten Testament näher, die das Heil oder die Bundestreue Gottes bezeichnen.1 Wie in der oben durchgeführten Untersuchung deutlich wurde, kann die Semantik des Begriffs δικαιοσύνη schon innerhalb der paganen Gräzität nicht auf die iustitia distributiva beschränkt werden. Vielmehr umfasst der Begriff ein sehr viel breiteres semantisches Spektrum und kann sich über einen forensischen Kontext hinaus ganz allgemein auf eine Eigenschaft eines Menschen (Gerechtsein) oder im ökonomischen und politischen Kontext auf eine ethische Tugend beziehen. Dieser Befund lässt darauf schließen, dass die paulinische Verwendung der δικαιTermini auf semantischer Ebene nicht vom paganen Sprachgebrauch zu trennen ist. Andererseits macht aber die Untersuchung der δικαι-Termini in der paganen Gräzität deutlich, dass kaum gedankliche Entsprechungen zwischen Paulus und der paganen Gräzität bestehen. Auffällig ist dabei vor allem, dass die zentrale Frage des Paulus danach, wie ein Mensch vor Gott als gerecht bestehen kann, in den paganen Texten kaum eine Rolle spielt. Zentral ist in ihnen dagegen die Frage, wie Gerechtigkeit im ethischen und politischen Sinne innerhalb des Gemeinwesens hergestellt werden kann. Auch die Vorstellung Gottes als eines gerechten Richters, die bei Paulus mehrfach belegt ist, findet sich in der paganen Gräzität, wenn überhaupt, nur am Rande. Ferner finden sich beim Vergleich des Sprachgebrauchs weitere Auffälligkeiten. In den paganen Texten finden sich keinerlei Belege für die Verwendung des Verbs δικαιοῦν mit dem Subjekt Gott bezogen auf die Rechtfertigung des Menschen. Auch Belege für die Verbindung einer Form aus dem Stamm δικαι- mit dem πίστις-Begriff, welche den Kerninhalt der paulinischen Rechtfertigungslehre zum Ausdruck bringt, sowie die bei Paulus typische Genitivformulierung δικαιοσύνη

1 So etwa Käsemann, Römer, 22ff; Stuhlmacher, Gottes Gerechtigkeit, 80f.113ff.145ff; Hill, Greek Words, 104ff; Wilckens, Römer I, 220ff; Ziesler, Meaning, 67f; Dunn, Romans I, 40ff; Haacker, Römer, 45f; Schumacher, Entstehung, 328ff.

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Die Gerechtigkeitsaussagen im Alten Testament

θεοῦ sucht man in den paganen Texten vergeblich. Aufgrund dieser Beobachtungen

lässt sich schon an dieser Stelle vermuten, dass die Verwendungsweise der δικαιTermini bei Paulus und ihr theologischer Gehalt im Alten Testament verwurzelt ist. Im Folgenden soll daher gezeigt werden, welche Texte des Alten Testaments mit der Verwendungsweise der δικαι-Termini bei Paulus in Verbindung stehen und seine Vorstellung von der Gerechtigkeit Gottes bzw. des Menschen beeinflusst haben. Bevor auf die sprachliche und traditionsgeschichtliche Untersuchung der δικαιTermini im griechischen Alten Testament eingegangen werden kann, muss aber überprüft werden, ob die Auffassung der ‫צדק‬-Terminologie als ein „Verhältnisbegriff” und ihre von vielen Exegeten in ihrer Paulus-Auslegung unhinterfragt übernommene Wiedergabe mit „Gemeinschaftstreue” bzw. „Bundestreue” oder „Heil” bzw. „Heilshandeln“ dem tatsächlichen Befund gerecht werden. Mir scheinen diese ausschließlich auf den Bund zwischen Gott und Israel bzw. auf das Heilshandeln Gottes an Israel fokussierten Begriffsbestimmungen nicht alle Bedeutungsfelder der ‫צדק‬-Terminologie zu erfassen. Sie scheinen eher von theologischen Prämissen geleitet als aus konkreten Textbeobachtungen der Belege in ihrem Kontext geschlossen worden zu sein. In den folgenden Abschnitten soll daher gezeigt werden, inwiefern die drei am häufigsten als Bedeutung oder Grundbegriff von ‫צדקה‬/‫ צדק‬angeführten Bestimmungen, „Verhältnisbegriff“, „Gemeinschaftstreue“ bzw. „Bundestreue“ und „Heil“ bzw. „Heilshandeln“, die sprachliche Auffassung der ‫צדק‬-Terminologie vereinseitigen und so das Verständnis der Gerechtigkeitstermini bei Paulus auf eine falsche Fährte führen.

‫צדק‬-Terminologie in den masoretischen Texten

A.

‫צדק‬-Terminologie in den masoretischen Texten

In der alttestamentlichen Forschung herrscht bis in die Gegenwart das Verständnis der ‫צדק‬-Terminologie als „Verhältnisbegriffs“ vor. Zurückführen lässt sich dieses Verständnis auf eine die spätere Forschung nachhaltig prägende Untersuchung Cremers, der gegen Ritschl zu zeigen versucht hat, dass die Vorstellung von /‫צדק‬ ‫ צדקה‬im Alten Testament vom hellenistischen Rechtsdenken zu unterscheiden ist. Demnach sei ‫צדקה‬/‫ צדק‬eine ganz auf der Basis des Verhältnisses des Menschen zu Gott oder zu den Mitmenschen zu bestimmende Terminologie, die sich mit der Idee einer Normgemäßheit nicht verbinden lässt: Denn‫ צדק‬ist durchaus Verhältnisbegriff, sich auf ein wirkliches Verhältnis zwischen zweien, zwischen Objekt und Subjekt beziehend, zwischen einem Subjekt, welches Ansprüche macht und hat, und einem Objekt, welches sie erfüllt, oder zwischen einem Subjekt, welches recht hat, und einem Objekt, welches demselben gerecht wird, nicht aber auf das Verhältnis eines Objektes, das der Beurteilung unterzogen wird, zu einer Idee oder zu seiner Idee.2

Wenn man nur einzelne Textstellen, in denen die ‫צדק‬-Terminologie hauptsächlich im Kontext des speziellen Verhältnisses zwischen Gott und Israel bzw. Einzelnen erscheint, betrachtet, kann man Cremers Deutung von ‫צדקה‬/‫ צדק‬für plausibel halten. Es lässt sich kaum leugnen, dass das Verhältnis zwischen Gott und Mensch sowie der Menschen untereinander in der Gemeinschaft ein grundlegender Kontext ist, in dem die ‫צדק‬-Terminologie im Alten Testament gewöhnlich gebraucht wird.3 Doch fraglich ist, ob die ‫צדק‬-Termini im Alten Testament ohne Weiteres ausschließlich als ein Verhältnisbegriff bestimmt werden können. Es lassen sich nämlich viele Belege dafür finden, dass die ‫צדק‬-Termini häufig ohne Bezugnahme auf ein Verhältnis zwischen Gott und Israel bzw. einer Einzelperson verwendet werden. So stehen sie auch in Bezug auf unbelebte Gegenstände als Attribut und bestimmen so deren Eigenschaft bzw. Beschaffenheit (z. B. gerechte Waage, gerechte Gewichtssteine, rechtes bzw. richtiges Opfer, gerechte Verordnungen, gerechtes Gericht, gerechtes Reden usw.).4 Außerdem werden sie zur Beschreibung der Eigenschaft Gottes verwendet, zur Charakterisierung seines Wesens und Wirkens als Weltherrscher bzw. Weltrichter.5 In diesem Fall werden sie im absoluten Sinne verwendet, 2 Cremer, Rechtfertigungslehre, 34. 3 Vgl. Witte, Gerechtigkeit, 39. 4 In diesem Fall wird meistens ‫ צדק‬in einer Cstr.-Verbindung oder ‫ צדיק‬in der Verbindung mit einem Nomen verwendet. Vgl. Lev 19,36; Dtn 4,8; 25,15; 33,19; Jes 26,2; 58,2 u. ö. 5 Etwa Jes 45,24; 46,13; 51,6.8; Jer 11,20; Ps 7,18; 9,5.9; 35,24.28; 40,11; 48,10; 50,6; 85,14; 88,13; 89,15; 96,13; 97,2; 98,2.9; 103,17; 143,1.

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Die Gerechtigkeitsaussagen im Alten Testament

unabhängig vom Verhältnis zwischen Gott und den Menschen. In Bezug auf den Menschen wird ‫צדקה‬/‫ צדק‬in vielen Fällen auch als eine Tugend verstanden, die von einem König, Richter oder vom einzelnen Menschen in seinem Lebenswandel eingefordert wird.6 Schließlich finden sich auch viele Belege für ‫צדקה‬/‫ צדק‬mit verschiedenen sprachlichen Bildern als eine feste Größe und damit als ein verselbständigtes Wesen.7 In diesen Fällen spielt das Verhältnis zu Gott oder zu den Menschen bei der semantischen Rekonstruktion des Terminus ‫צדקה‬/‫ צדק‬keine Rolle. Der Begriff „Verhältnis“ trifft nicht die Wortsemantik von ‫צדקה‬/‫צדק‬, er ist eher als Kontext anzusehen, der der Verwendung von ‫צדקה‬/‫ צדק‬zugrunde liegt, aber nur wenn ‫צדקה‬/‫ צדק‬in einem solchen Verhältniskontext verwendet wird.8 Darüber hinaus ist zu fragen, ob die von Cremer vorausgesetzte und von vielen Exegeten übernommene Unterscheidung zwischen dem hebräischen ‫צדק‬-Begriff als einem Verhältnisbegriff und dem griechischen δικαιοσύνη-Begriff als einem Normbegriff überhaupt angemessen ist. Erinnert man sich daran, dass in der griechischen Literatur, zumal in den philosophischen Werken, die Bedeutung von δικαιοσύνη fast ausschließlich in Bezug auf das Verhältnis zu Mitmenschen und im Sinne des gesellschaftlichen Kontextes diskutiert wird, erscheint es als völlig unangebracht, durch die konzeptionelle Einschiebung des Verhältnisbegriffs die Semantik von ‫צדקה‬/‫ צדק‬künstlich von derjenigen von δικαιοσύνη zu unterscheiden. Eine solche Zuordnung des ‫צדק‬-Begriffs und des δικαιοσύνη-Begriffs zu gegensätzlichen Denkschemata erscheint hinsichtlich der konkreten Verwendung der beiden Begriffe in ihrem Kontext als zu einfach. Ferner referiert nicht nur δικαιοσύνη, sondern auch ‫צדקה‬/‫ צדק‬an vielen verwendeten Stellen auf ein Verhalten, das konform ist mit der Norm (Tora), und es bezieht sich wie δικαιοσύνη auf die Eigenschaft eines Menschen, der den Geboten und Anforderungen im Gesetz entsprechend handelt und bei seinem Handeln den Nächsten Gutes tut. Dabei ist der Maßstab dieser als ‫צדקה‬/‫ צדק‬bezeichneten Grundlage nicht eine abstrakte Bestimmung des dem Verhältnis zu Gott entsprechenden Handelns, sondern die Einhaltung bestimmter Normen, wie sie sich in der Tora als der von Gott gegebenen Lebensordnung finden. Von daher wird deutlich, dass „Normgemäßheit“ bzw. „Rechtschaffenheit“ als eine

6 Etwa Gen 18,19; Lev 19,15; Dtn 16,18.20; 2Sam 8,15; 1Kön 10,9; Jes 9,6; 11,4-5; 16,5; 32,1; 58,2; 59,4 u. ö. 7 Etwa Jes 1,26; 11,5; 45,8; 58,8; 60,17; 61,3.11; 62,1; 64,5; Jer 50,7; 59,17; Hos 10,12; Am 5,24 u. ö. 8 Wenn man ohne semantische Berücksichtigung des Begriffs einfach aus dem verhältnisbezogenen Charakter von ‫צדקה‬/‫ צדק‬diesen als „Verhältnisbegriff“ bestimmen würde, dann könnte man in gleicher Weise nahezu alle auf ein Verhältnis bezogenen Begriffe wie ‫משׁפת‬, ‫אמת‬, ‫ חסד‬als „Verhältnisbegriff“ bestimmen. Daher ist der verhältnisbezogene Charakter nicht das Spezifikum des Begriffs, sondern er verweist nur auf eine Eigenschaft der ‫צדק‬-Terminologie. Daher erscheint es als wenig sinnvoll, den Verhältnisaspekt als grundlegend für die Bedeutung der ‫צדקה‬/‫ צדק‬anzunehmen. Vgl. Jepsen, ‫ צדק‬und ‫צדקה‬, 81ff.

‫צדק‬-Terminologie in den masoretischen Texten

grundlegende Bedeutung von ‫צדקה‬/‫ צדק‬hinsichtlich des Gebrauchskontextes kaum zu bestreiten ist (s. u.).9 Neben der Interpretation als Verhältnisbegriff ist von einigen Neutestamentlern im Hinblick auf die Traditionsgeschichte der paulinischen Vorstellung von der Gerechtigkeit Gottes das Verständnis von ‫צדקה‬/‫ צדק‬als „Gemeinschaftstreue“ bzw. „Bundestreue“ aufgenommen worden. Die Deutung als „Gemeinschaftstreue“ hat zuerst Koch vorgetragen.10 Dabei knüpft er an die These Cremers an, dass ‫צדקה‬/‫ צדק‬nicht ein auf ein ideales sittliches Normdenken bezogener Begriff ist, und meint ebenfalls, dass die Terminologie „die Befriedigung der Ansprüche“ bezeichne, „welche sich aus dem Verhältnis ergeben und bei welcher allein das Verhältnis bestehen kann“.11 Koch sieht allerdings, dass die Ansprüche aus diesem Verhältnis ihre Wurzeln in der Gemeinschaftsvorstellung haben. Die Rechtsausübung im antiken Israel sei nicht aufgrund von „abstrakten Rechtsgrundsätzen“12 , sondern „unter dem Gesichtspunkt gemeinschaftsgemäßen Verhaltens zu begreifen“13 . Gottes Gebote forderten gerade, wie man sich im Interesse des Fortbestands der Gemeinschaft dem Leben dieser Gemeinschaft gemäß verhalten sollte. Daraus zieht Koch den Schluss, dass ‫צדקה‬/‫ צדק‬mit „Gemeinschaftstreue“ und nicht mit „Gerechtigkeit“ wiedergegeben werden muss. Auch von Rad betrachtet die Wiedergabe mit „Gerechtigkeit“ aufgrund der Gemeinschaftsbezogenheit von /‫צדק‬ ‫ צדקה‬als ungeeignet und bezeichnet Gottes ‫צדקה‬/‫ צדק‬im Alten Testament als seine „Gemeinschaftstreue“ bzw. „Bundestreue“, die sich als Heilstat für Israel in den Notlagen des Volkes zeigt und auf diese Weise „ein Gegenstand des Lobpreises und der Verkündigung im Kultus“ sei.14 Betrachtet man den Sprachgebrauch von ‫צדקה‬/‫ צדק‬im jeweiligen Textzusammenhang, erweist sich der sehr häufig als Umschreibung verwendete Begriff „Bundestreue“ allerdings als problematisch. Das hat in erster Linie damit zu tun, dass der Begriff „Bundestreue“ nicht das ganze Bedeutungsfeld des Sprachgebrauchs von ‫צדקה‬/‫ צדק‬in verschiedenen Lebensbereichen abdecken kann, sondern es auf einen durch die Idee des Bundes zwischen Gott und Israel festgelegten speziellen Bezugsrahmen einschränkt.15 Wie bei der Überprüfung der Begriffsbestimmung der ‫ צדק‬-Terminologie als „Verhältnisbegriff“ bereits deutlich geworden ist, kann auch der Begriff „Bundestreue“ nicht als die Grundbedeutung von ‫צדקה‬/‫ צדק‬angenommen werden. Denn in den hebräischen Texten taucht die ‫צדק‬-Terminologie

9 10 11 12 13 14 15

Vgl. Cranfield, Romans I, 94; Irons, Righteousness, 162f. Koch, Gemeinschaftstreue, 76ff. Koch, Gemeinschaftstreue, 73. Koch, Gemeinschaftstreue, 76. Koch, Gemeinschaftstreue, 77. V. Rad, Theologie, 385. Vgl. Seifrid, Righteousness Language, 423ff.

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Die Gerechtigkeitsaussagen im Alten Testament

sehr selten in nächster Nähe zum Begriff ‫( ברית‬Bund) auf. Zu den Stellen, an denen die ‫צדק‬-Terminologie und ‫ ברית‬eng im selben Kontext stehen, sind nur sieben Belege zu zählen: Jes 42,6; 61,8-11; Hos 2,16-20; Ps 50,1-6; 111,1-10; Dan 9,4-7 und Neh 9,32-33.16 In Anbetracht der großen Häufigkeit der beiden Wörter im Alten Testament (‫ – ברית‬283-mal; ‫צדק‬-Terminologie – 524-mal) ist schon diese geringe Zahl an Belegen überraschend. Außerdem zeigt sich bei genauerer Betrachtung, dass an allen sieben Stellen beide Begriffe auf keine Weise semantisch zusammenhängen und sich ‫צדקה‬/‫ צדק‬dabei auch nicht mit der Vorstellung des Einhaltens des Bundes oder der Treue gegenüber dem Bund verbindet. Die ‫צדק‬-Termini unterscheiden sich auf der semantischen Ebene deutlich von den ‫אמת‬-Termini und von ‫ הסד‬und ‫מחר‬. Wird die ‫צדק‬-Terminologie in Bezug auf Gott oder Menschen verwendet, referiert sie über den Bundesgedanken hinausgehend auf die gerechte bzw. rechte Eigenschaft Gottes, auf die Eigenschaft von Menschen oder auf die gerechte bzw. rechte Art ihres Handelns. Dieses semantische Profil der ‫צדק‬-Terminologie lässt sich mit Rückgriff auf ihre Gegensätze und Synonyme klar erfassen;17 sie bezeichnet etwas Entgegengesetztes zu etwas Ungerechtem (‫)עול‬, Bösem/Gottlosem (‫)רשׁע‬, einem Betrug oder etwas Falschem (‫ )שׁקר‬und Sünde (‫)חטאה‬18 und umfasst gerade damit ein Bedeutungsspektrum, das meint, nicht etwas Ungerechtes oder Böses zu tun sowie nicht zu betrügen oder zu sündigen. Die ‫צדק‬-Terminologie bezieht sich daher auf einen Zustand der Vollkommenheit des Menschen oder sein Handeln, in dem sich keine Ungerechtigkeit, Falschheit oder Sünde findet. So lassen sich viele Belege anführen, in denen Termini wie Rechtschaffenheit (‫)ישׁר‬, Geradheit (‫)מישׁור‬, Aufrichtigkeit (‫ )תמים‬und Reinheit (‫טהור‬/‫ )בר‬als Umschreibungen bzw. Synonyme parallel zu ‫צדקה‬, ‫ צדק‬oder ‫ צדיק‬stehen.19 Die dritte zu überprüfende Deutung der ‫צדק‬-Terminologie besteht wie oben erwähnt in der Auffassung, die mit Bezug auf Gott verwendeten ‫צדק‬/‫ צדקה‬Begriffe als Heil oder Heilstat Gottes zu bestimmen. Diese Ansicht ist mit dem vorher behandelten Verständnis von ‫צדק‬/‫ צדקה‬als Bundestreue Gottes eng verbunden. Zwar betonte der wichtigste Vertreter dieser Ansicht, Cremer, zu Recht, dass die ‫צדק‬-Terminologie häufig im Kontext des richtenden Handelns Gottes gegenüber Israel verwendet wird, doch bestimmte er zugleich die ‫ צדקה‬Gottes als iustitia

16 Vgl. Seifrid, Righteousness Language, 423, Anm. 40. 17 Auch Irons versucht aufgrund der „semantic domain theory” von E. A. Nida und J. P. Louw, d. h. der semantischen Untersuchung eines Wortes auf Synonyme und Gegensätze, das semantische Feld von ‫ צדקה‬darzustellen. Vgl. Irons, Righteounsess, 120ff. 18 Ex 23,6-8; Lev 19,15.35-36; 1Kön 8,32; Jes 5,23; 33,15; 64,5; Ez 18,5-27; 33,10-20; Hos 10,12-13; Am 5,10-15. 24; Ps 34,13-21; 36,11-13; 37; 45,7; 50,5; 58,2-4.11-12; 125,3-5; Hi 22,15-23; 31,6 u. ö. 19 Dtn 9,4-5; 2Sam 22,21.25; 1Kön 3,6; Jes 11,4; Ps 7,10-11; 11,5-7; 18,21-27; 32,11; 36,11; 64,11; 97,11; 125,3-4; Hi 8,6; 17,9; 22,3.19; 27,5-6.17; 31,6 u. ö.

‫צדק‬-Terminologie in den masoretischen Texten

salutifera und ordnete so unberechtigterweise die strafende Tätigkeit Gottes an Israel, welche mit der ‫צדק‬-Terminologie zur Sprache kommt, im Rahmen des Verhältnisses Gottes zu seinem Volk der auf Heil ausgerichteten „Heilswirksamkeit Gottes“ unter.20 Von Rad versteht in ähnlicher Weise die ‫ צדקה‬Gottes als „Heilstaten“ oder „Heilserweisungen“ Gottes an Israel.21 Doch wird dabei ebenso wie bei der Begriffsbestimmung durch den Verhältnisbegriff und die Gemeinschafts- bzw. Bundestreue deutlich, dass „Heil“ oder „Heilstat“ als allgemeine Begrifflichkeit zur Wiedergabe von ‫צדקה‬/‫ צדק‬kaum zutreffend ist, denn eine Konnotation im Sinne des Heilsschaffens tritt im Zusammenhang der Beziehung Gottes zu Israel oder zu Einzelnen nur sehr selten auf. Bei den bereits behandelten Begriffsbestimmungen Verhältnis und Gemeinschafts- bzw. Bundestreue wurde schon hinreichend auf das Problem verwiesen, dass die Begrifflichkeit der ‫צדק‬-Terminologie in unangemessener Weise auf die spezifische Beziehung zwischen Gott und Israel fokussiert und dadurch die Bedeutung oft einseitig oder sogar falsch verstanden wurde. In den Fällen, in denen die ‫צדק‬-Terminologie in Bezug auf Gott verwendet wird, bezeichnet sie meistens die Eigenschaft Gottes oder seines Handelns und bezieht sich auf die Vorstellung Gottes als Weltkönig und Richter, der über die Welt und sein Volk herrscht und Gericht hält.22 Die Gerechtigkeit Gottes drückt in diesem Zusammenhang aus, dass Gott im Gericht ohne Ansehen von sozialem und wirtschaftlichem Status Urteile fällt und vor allem zugunsten von Armen, Elenden und Unterdrückten in Gerechtigkeit Recht spricht. Die Gerechten appellieren an Gottes Gerechtigkeit und erflehen die Rettung vor den Frevlern.23 Auf der kollektiven Ebene geht es häufig darum, dass Gott Israel rettet, indem er die es unterdrückenden feindlichen Länder bestraft.24 In der Heilsgeschichte oder Heilsrede JHWHs, wo die Termini ‫צדקה‬/‫ צדק‬auf das Handeln Gottes als Herrscher bzw. Richter bezogen verwendet werden, ist üblicherweise nicht allein der heilstiftende, sondern auch der bestrafende bzw. züchtigende Aspekt erfassbar.

20 21 22 23 24

Vgl. Cremer, Rechtfertigungslehre, 31ff. Vgl. Von Rad, Theologie, 384.389. Zu den einschlägigen Belegen vgl. Fußnote 5. Ps 7,18; 9,5.9; 35,24.28; 40,11; 48,10; 50,6; 88,13; 89,15; 143,1; Jer 11,20. Jes 45,24; 46,13; 51,6.8; Ps 89,15; 96,13; 97,2; 98,2.9.

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Die Gerechtigkeitsaussagen im Alten Testament

B.

δικαι-Terminologie im griechischen Alten Testament

Im griechischen Alten Testament werden die δικαι-Termini meistens zur Wiedergabe der ‫צדק‬-Termini in den hebräischen Texten verwendet. Natürlich lässt sich kaum annehmen, dass die hebräischen und die griechischen Wörter ein genau übereinstimmendes semantisches Feld umfassen, aber vom wortstatistischen Befund her kann vermutet werden, dass die Übersetzer der LXX angesichts der begrifflichen Äquivalenz beider Wortstämme die Wörter des Stammes δικαι- als passende Übersetzung für die ‫צדק‬-Termini empfunden haben.25 Trotz des hohen Maßes an begrifflicher Äquivalenz kommt es aber nicht zur semantischen Erweiterung oder Verschiebung der δικαι-Termini in der LXX. Diese Termini im griechischen Alten Testament sind daher nicht abgesondert vom sonstigen Griechisch als ein „biblisches Griechisch“ zu verstehen, das von hebräischen Bedeutungen geprägt ist. Bei der Untersuchung der δικαι-Termini im Alten Testament fällt auf, dass sie vorwiegend zur Beschreibung einer Eigenschaft und des Handelns des Menschen oder Gottes verwendet werden. Häufig kommen sie im Kontext der Beziehungsgeschichte zwischen Gott und seinem Volk Israel bzw. einem einzelnen Menschen, besonders in Bezug auf ein Gerichtshandeln Gottes an Menschen oder einen Rechtsstreit zwischen Gott und Menschen vor. Oft steht dabei die Frage im Hintergrund, wie das Gottesvolk Israel bzw. einzelne als gerecht vor Gott bestehen können, oder umgekehrt, wie sich Gottes Gerechtigkeit vor ihnen in der Geschichte und in der Beziehung mit ihnen erweist. Im Hinblick auf den traditionsgeschichtlichen Zusammenhang mit den paulinischen Aussagen über die Gerechtigkeit müssen diese beiden mit den δικαι-Termini verbundenen Thesen unbedingt beachtet werden, denn Paulus verwendet die δικαι-Termini ebenfalls zum Aufweis der Gerechtigkeit Gottes (vgl. Röm 3,25-26) und der Rechtfertigung des Menschen (vgl. Röm 1,17; 3,20.24f; 4,2f; 5,1.9.; 6,7; 8,30.33 u. a.). Geklärt werden muss nun, in welchen Punkten und in welchem Maße die Verwendung der δικαι-Termini bei Paulus mit derjenigen im Alten Testament sprachlich und gedanklich übereinstimmt und wo sich Unterschiede ausmachen lassen. Um diesen Zusammenhang im Hinblick auf die Verwendung der δικαι-Termini bei Paulus je nach Gebrauchsweise strukturell genauer zu untersuchen, werden bei der folgenden Untersuchung die Verwendungen der δικαι-Termini jeweils in Bezug auf Gott und die Menschen berücksichtigt.

25 Nach der Untersuchung Zieslers kommen die ‫צדק‬-Termini insgesamt 481-mal vor. Davon werden sie nur 32-mal nicht mit δικαι-Wörtern, sondern mit anderen Wörtern wiedergegeben. Umgekehrt werden etwa einhundert der Belege der δικαι-Wörter für andere hebräische Wörter außerhalb der ‫צדק‬-Termini verwendet (vgl. Ziesler, Meaning, 59).

δικαι-Terminologie im griechischen Alten Testament

1.

δίκαιος, δικαιοσύνη

1.1

In Bezug auf Gott

Im Alten Testament wird das Adjektiv δίκαιος häufig in Bezug auf Gott als Attribut verwendet, um sein Wesen und Wirken als König26 bzw. Richter27 zu beschreiben. Im griechischen Alten Testament wird Gott häufig als der im Himmel thronende König bzw. Richter dargestellt, der über die von ihm geschaffene Welt herrscht und über die in ihr wohnenden Völker und Menschen urteilt (vgl. PsLXX 7,8-9; 9,5-9; 10,4-7; 44,7; 46,8-10; 92,1-2; 102,19; vgl. auch JesLXX 6,1f; 66,1). δικαιοσύνη und κρίμα sind zwei fundamentale Wirkweisen im Richteramt Gottes. Den Psalmen zufolge sind δικαιοσύνη und κρίμα die Stützen seines Thrones (PsLXX 88,15; 96,2; vgl. auch PsLXX 9,5; 10,4). In den meisten Fällen werden bei der Beschreibung der Königsherrschaft Gottes im Alten Testament sein königlich-herrschendes und sein richtendes Amt nicht klar unterschieden, sondern die Funktion als Richter wird als ein Bestandteil der Königsfunktion beschrieben. Es muss aber deutlich festgehalten werden, dass im antiken Israel Gottes Richten über die Menschen als ein wichtiger Teil seines Amts angesehen wird (vgl. DtnLXX 1,17). So besagt PsLXX  7,12, dass Gott ein gerechter Richter (κριτὴς δίκαιος) ist28 , welcher Gottlose richtet und Gerechte bewahrt und rettet. Im Gerichtsverfahren sieht Gott die Person nicht an und nimmt kein Bestechungsgeschenk an (DtnLXX 10,17; 2ChrLXX 19,7; vgl. auch 1SamLXX 16,7)29 , woran sich die Erwartung knüpft, dass seine Urteile immer gerecht und unparteiisch sind. In einem Loblied oder einem Gebet von jemandem, der Gottes Gerechtigkeit erfahren hat oder Gottes gerechtes Gerichtshandeln erwartet, findet sich häufig das Bekenntnis oder der Lobpreis, dass Gott δίκαιος ist: ExLXX  9,27; DtnLXX  32,4; 1SamLXX  2,2; 2ChrLXX  12,6 EsraLXX  9,15; NehLXX  9,8.33; PsLXX  10,7; 114,5; 128,4; 144,17; HiLXX  34,17; ZefLXX  3,5; JesLXX  45,21; JerLXX  12,1; KlageLXX  1,18; DanLXX  9,14. Je nach Kontext der einzelnen Belege ist der Bedeutungsakzent der Gerechtigkeit Gottes aber unterschiedlich. Zunächst ist sie allgemein als

26 Zur Vorstellung von Gott als βασιλεύς vgl. 1SamLXX 8,4-9; DtnLXX 9,26; PsLXX 28,10; 94,3; 97,6; ZephLXX 3,15; SachLXX 14,9; 14,16-17; MalLXX 1,14; JesLXX 6,5; 33,22; JerLXX 28,57; DanLXX 4,37. Auch als ἄρχων in 1ChrLXX 29,12; JesLXX 33,22. 27 Zur Vorstellung von Gott als κριτής vgl. 1SamLXX 24,16; PsLXX 49,6; 67,6; 74,8; JesLXX 30,18; 33,22; 63,7. Außerdem finden sich zahlreiche Belege, in denen Gott als Subjekt von κρίνειν auftritt. 28 PsLXX 7,12: „ὁ θεὸς κριτὴς δίκαιος καὶ ἰσχυρὸς καὶ μακρόθυμος μὴ ὀργὴν ἐπάγων καθ᾿ ἑκάστην ἡμέραν.“ Vgl. auch JerLXX 11,20: „κύριε κρίνων δίκαια δοκιμάζων νεφροὺς καὶ καρδίας.“ 29 Diese Gottesvorstellung ist in frühjüdischen Schriften (Sir 35,13; PsSal 2,18; TestHiob 4,8; 43,13; Jub 5,15-16; 21,4; 33,18 u. a.) und neutestamentlichen Texten (Apg 10,34; Röm 2,11; Gal 2,6; Kol 3,25; Eph 6,9; 1Petr 1,17) rezipiert worden.

93

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Die Gerechtigkeitsaussagen im Alten Testament

Gegensatz zur menschlichen Ungerechtigkeit und Gottlosigkeit zu verstehen (vgl. ExLXX  9,27; DtnLXX  32,4). Die Gerechtigkeit Gottes wird aber auch mit Bezug auf das richterliche Handeln Gottes ausgesagt (PsLXX  118,137; JesLXX  45,21; JerLXX  12,1) und wird besonders häufig im Zusammenhang mit dem vergeltenden Vorgehen Gottes gegen Frevler oder Feinde Israels genannt (1SamLXX  2,2; PsLXX  10,7; 114,5; 128,4; 144,17; HiLXX  34,17; 2ChrLXX  12,6; EsraLXX  9,15; NehLXX  9,33; ZefLXX  3,5; DanLXX  9,14). In Bezug auf Gott verweist das Substantiv δικαιοσύνη im Alten Testament überwiegend auf die Eigenschaft Gottes, die in oben genannten Belegen durch das Adjektiv δίκαιος ausgedrückt wird, und steht häufig in einem Bezug zu seiner richtenden Tätigkeit. Oft geht es um die vergeltende Gerechtigkeit, die die Frevler bestraft und die von den Frevlern Unterdrückten rettet. Das Substantiv δικαιοσύνη ist dabei entweder auf das Wesen Gottes oder auf sein Heilshandeln bezogen. Im Hinblick auf den Sprachgebrauch ist kennzeichnend, dass die auf Gott bezogene δικαιοσύνη häufig in einer Genitivverbindung auftritt: „δικαιοσύνη μου“ (JesLXX 46,13; 51,5.6.8; 57,12; 62,1); „δικαιοσύνη σου“ (GenLXX 19,19; ExLXX 15,13; PsLXX 5,9; 30,2; 34,24.28; 35,7.11; 50,16; 68,28; 70,2.15.16.18.24; 71,1; 87,13; 88,17; 118,7.40.62.106.123.142.160.164; 142,1.11; 144,7; JesLXX 38,19; DanLXX 9,13.16); „δικαιοσύνη αὐτοῦ“ (GenLXX 24,27; PsLXX 7,18; 21,32; 49,6; 96,6; 97,2; MiLXX 7,9; JesLXX 63,7). Außer diesen Verbindungen mit einem Personalpronomen als Genitivattribut findet sich die Genitivverbindung ἡ δικαιοσύνη κυρίου, die die hebräische Wendung ‫ צדקות יהוה‬wiedergibt: 1SamLXX 12,7; MiLXX 6,5 (δικαιοσύνη τοῦ κυρίου). Besonders bemerkenswert ist aber, dass im griechischen Alten Testament die Formulierung δικαιοσύνη θεοῦ, die bei Paulus häufig formelhaft vorkommt, an keiner Stelle belegt ist. Zunächst soll auf die Stellen 1SamLXX 12,7 und MiLXX 6,5 näher eingegangen werden, in denen sich die Formulierung ἡ δικαιοσύνη κυρίου findet. Dabei ist zu überprüfen, ob es eine inhaltliche und gedankliche Verbindung zwischen der Genitivformulierung an diesen Stellen und der paulinischen Formulierung δικαιοσύνη θεοῦ gibt. In 1SamLXX 12 steht die letzte Rede Samuels an Israel im Anschluss an die Salbung Sauls als des ersten Königs Israels. Samuel erinnert die Israeliten darin an die gerechte Amtsführung JHWHs gegenüber Israel vom Auszug aus Ägypten bis in die Zeit Samuels und ermahnt die Israeliten, Gott weiterhin treu zu dienen. Die Szene der Rede ist eindrucksvoll wie ein Gerichtsprozess gestaltet, an der die drei Parteien Samuel, Israel und JHWH beteiligt sind. In V 7 tritt Samuel als der Ankläger der Israeliten auf: „καὶ νῦν κατάστητε, καὶ δικάσω ὑμᾶς ἐνώπιον κυρίου καὶ ἀπαγγελῶ ὑμῖν τὴν πᾶσαν δικαιοσύνην κυρίου, ἃ ἐποίησεν ἐν ὑμῖν καὶ ἐν τοῖς πατράσιν ὑμῶν.“ Angesichts der Verfehlungen Israels verweist Samuel auf alle

gerechten Taten Gottes, die Gott an Israel vollzogen hat. Die Wendung ἡ πᾶσα δικαιοσύνη (als verbum collectivum) ist dabei nicht als eine abstrakte Eigenschaft

δικαι-Terminologie im griechischen Alten Testament

Gottes aufzufassen, sondern bezieht sich in umfassender Weise auf die konkreten gerechten Taten Gottes. Im hebräischen Text steht der Plural ‫כל־צדקות יהוה‬. Aus dem angeführten Geschichtsrückblick (V 8-11) geht nun eindeutig hervor, dass ἡ πᾶσα δικαιοσύνη nicht nur die rettende Tätigkeit Gottes an Israel bezeichnet, sondern auch die bestrafende Tätigkeit miteinschließt. ἡ δικαιοσύνη τοῦ κυρίου in MiLXX 6,5 bezieht sich ebenfalls auf die gerechten Taten JHWHs, die er in der Vergangenheit an Israel getan hat. Im hebräischen Text steht auch an dieser Stelle der Plural ‫צדקות יהוה‬. Interessant ist nun, dass den Kontext ebenfalls ein Rechtsstreit zwischen JHWH und Israel bildet. Anders als in 1SamLXX 12,7 tritt hier jedoch nicht der Prophet als ein Ankläger auf, der anstelle Gottes den Rechtsprozess führt, sondern Gott selbst tritt als Ankläger gegen Israel auf.30 Er fordert Israel auf, sich an sein Eingreifen zu erinnern, mit dem er den Fluch Balaams über Israel in einen Segensspruch umgewandelt hat, und an die Ereignisse auf dem Zug von Sittim bis Gilgal, in denen er seine Gerechtigkeit unter Beweis gestellt hat. Auf welche Taten sich die Wendung ἡ δικαιοσύνη τοῦ κυρίου konkret bezieht, wird hier allerdings nicht im Detail ausgeführt. Daher liegt die Vermutung nahe, dass mit dem Begriff δικαιοσύνη hier nicht nur Heilstaten oder Strafen gemeint sind, sondern im allgemeinen Sinne ausgesagt werden soll, dass Gott in seinem Verhältnis zu Israel immer gerecht gehandelt hat.31 Im Folgenden sollen die anderen Genitivformulierungen ἡ δικαιοσύνη μου, ἡ δικαιοσύνη σου und ἡ δικαιοσύνη αὐτοῦ näher betrachtet werden. Wegen der großen Anzahl können allerdings nicht alle Belegstellen untersucht werden, sondern nur diejenigen, die hinsichtlich ihres Sprachgebrauchs exemplarischen Charakter haben und inhaltlich für unsere Fragestellung von Bedeutung sind, nämlich PsLXX  70,2.15.16.18.24; 71,1; Ps 97,2; JesLXX 46,13 und MiLXX 7,9. In einer Reihe von Psalmen ist die Vorstellung der Gerechtigkeit Gottes eng auf die Rettung des Gottvertrauenden bzw. Gerechten bezogen (PsLXX 30,2; 34,24.28; 35,7; 70,2.15.16.18.24; 87,13; 142,1.11). Im Gebetslied PsLXX 70, in dem ein von Feinden bedrängter und äußerster Todesgefahr ausgesetzter Psalmist die Rettungshilfe Gott erfleht, ist diese Tatsache gut zu ersehen. Die auf Gottes Gerechtigkeit bezogene Formulierung ἡ δικαιοσύνη σου wird fünfmal verwendet (V 2.15.16.18.24). Der Beter bittet Gott um Rettung vor den tödlichen Gefahren: „ἐν τῇ δικαιοσύνῃ σου ῥῦσαί με καὶ ἐξελοῦ με.“ Die Formel ἐν τῇ δικαιοσύνῃ σου bedeutet dabei nicht etwa „in einem Heilsbereich“, sondern sie besagt, dass Gott seine Gerechtigkeit dadurch durchsetzt, dass er den Frevler richtet und den um Hilfe bittenden Gottvertrauenden vor ihm rettet. Bei den übrigen Belegen von ἡ δικαιοσύνη σου in

30 Vgl. Prothro, Judge, 65ff. 31 So auch Prothro, Judge, 67f.

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PsLXX  70 geht es um den Lobpreis des Beters über seine Rettung und die Gerechtigkeit Gottes, die er in seiner Notlage erfahren hat.32 Ein weiterer zu untersuchender Beleg findet sich in PsLXX 71,1. Im „für Salomo (Εἰς Σαλωμων)“ titulierten Königslied bittet der Psalmsänger Gott darum, dem Königssohn die Gerechtigkeit Gottes zu schenken, sodass er wie Gott als gerechter Richter über das Volk herrschen kann. Im alten Israel wurde der König für den Statthalter JHWHs gehalten und als der höchste Träger der Gerichtsbarkeit im Stammesverband angesehen. Deshalb wird vom König ein unbestechliches und heilsames Urteil erwartet, das besonders den recht- und hilflosen Armen und Bedürftigen zugutekommt (vgl. DtnLXX 10,17-18; PsLXX 9,39; 67,6; 145,9). ἡ δικαιοσύνη σου in V 1 darf aber nich von der machtvollen Vorstellung des Wirkens der δικαιοσύνη in V 3 her als „heilsame Macht“ oder „heilwirkende Machtsphäre“ missverstanden werden. Nur metaphorisch ist in V 3 nämlich von der Durchsetzung der Gerechtigkeit Gottes mit dem Bild von der kommenden friedlichen und heilvollen Zeit die Rede. Die auf Gottes Gerechtigkeit bezogene Genitivformulierung ἡ δικαιοσύνη μου ist nur im Jesajabuch belegt (JesLXX 46,13; 51,5.6.8; 57,12; 62,1). Die Aussage über Gottes Gerechtigkeit ist dabei aufs Engste auf das Heilshandeln Gottes bezogen. Dabei geht es jedoch nicht wie häufig in den Psalmen um einen vom Frevler bedrängten Gerechten oder Gottesfürchtigen, sondern um das unter der Zerstreuung unter den Völkern leidende Israel. In JesLXX 46,13 verheißt Gott selbst als Redner, dass er Israel bald Heil verschaffen wird und klagt über das Volk als die „Verirrten (πεπλανημένοι: V 8)“, die „im Herzen Verlorenen (ἀπολωλεκότες τὴν καρδίαν: V 12)“ und „fern von Gerechtigkeit Seienden (μακρὰν ἀπὸ τῆς δικαιοσύνης: V 12)“. Versteht man diese Stelle ausschließlich vor dem Hintergrund des dem Alten Testament zugrundeliegenden Vergeltungsdogmas, bleibt die Rettung des abtrünnigen Israels, das JHWH verlassen und Fremdgöttern gedient hat, unverständlich. Im Kontext werden aber verschiedene Gründe dafür benannt, dass Gott sein abtrünniges Volk Israel aus Babel erretten wird. Erstens, weil Israel als Gottesvolk in einem besonderen Verhältnis zu Gott steht, das auf huldvoller Liebe und Zuneigung beruht (46,3-4). Zweitens, weil Babel das Gottesvolk Israel gnadenlos und ungerecht behandelt und sich nicht dem Willen Gottes gemäß für ein Werkzeug Gottes hält, sondern sich als Großmacht für einzigartig und gottgleich wähnt (V 1-11). Drittens und vor allem aber um des Namens Gottes und seiner Ehre selbst willen (V 9-11). Die Rettung Israels kommt dadurch zustande, dass Gott seine δικαιοσύνη nahegebracht hat

32 In PsLXX 34 und 35 findet sich auch die Vorstellung von einem bedrängten Psalmisten und seiner Rettung, die sich Gottes Gerechtigkeit verdankt. Diese Vorstellung kommt derjenigen in PsLXX 70 sehr nahe.

δικαι-Terminologie im griechischen Alten Testament

(V 13). Dem Kontext nach hängt die Gegenwart der göttlichen δικαιοσύνη ganz eng mit der Gerichtsankündigung gegen Babel zusammen (V 1-2; 47,1f). Somit schließt die Wirkung und Durchsetzung der δικαιοσύνη Gottes nicht nur das Heilshandeln Gottes an seinem Volk, sondern auch Gottes richtende Tätigkeit gegen die Feinde Israels ein. Aus diesem Grund darf die Semantik von δικαιοσύνη trotz der Parallelstellung von δικαιοσύνη und σωτηρία in V 13 nicht einseitig als Heil oder heilbringende Macht aufgefasst werden. In JesLXX 51,4-8 ist ebenfalls die Rede vom Völkergericht und vom Heil des Gottesvolks Israel. Das Heil wird an dieser Stelle dem Gottesvolk deutlich zugesprochen, das das Recht kennt und das Gesetz Gottes im Herz hat. So wie es auch schon am Anfang des Abschnittes in V 1 steht: „die ihr dem Rechten nachjagt und den Herrn (JHWH) sucht.“ In welcher Lage das Gottesvolk sich befindet, wird in V 9f deutlich. Es befindet sich in Gefangenschaft und fürchtet sich vor seinen Bedrängern, die es vernichten wollen. In V 5 wird jedoch zum Ausdruck gebracht, dass es sich jetzt nicht mehr zu fürchten und in Kummer und Seufzen zu leiden braucht, weil Gottes Gerechtigkeit (ἡ δικαιοσύνη μου) nahe ist und seine Rettung (τὸ σωτήριόν μου) wirksam wird (V 5). In V 6.8 wiederum wird mittels eines parallel. membr. die Unverbrüchlichkeit der Gerechtigkeit Gottes und seiner Rettung nachdrücklich hervorgehoben. Die Aussage, dass Gottes Gerechtigkeit nahe und beständig ist, verbindet sich im Kontext eindeutig mit der Aussage, dass Gott sein Volk von den feindlichen Fremdvölkern befreien und im Gericht bewahren wird (V 8-16). Aber auch hier darf ἡ δικαιοσύνη μου wie an den bisher betrachteten Stellen auf semantischer Ebene nicht einfach als „Heil“ oder „Heilstat“ Gottes verstanden werden. Denn das Nahen der Gerechtigkeit Gottes impliziert zugleich den Vollzug seines gerechten Gerichts an den Völkern, welche das Gottesvolk Israel unterdrücken. Abschließend soll nun auf die Belege für die Formulierung δικαιοσύνη αὐτοῦ eingegangen werden. Bei dieser Formulierung geht es um die richterliche Gerechtigkeit, mit der Gott die Gerechten rettet und die das Volk unterdrückenden Frevler richtet (GenLXX 24,27; PsLXX 7,18; 21,32; 49,6; 96,6; 97,2; MiLXX 7,9, JesLXX 63,7). Gesondert muss auf die beiden Belege PsLXX 97,2 und MiLXX 7,9 eingegangen werden, da hier unter dem Ausdruck δικαιοσύνη αὐτοῦ die Rettungstat Gottes verstanden wird und so der Eindruck entsteht, dass diese Stellen dem paulinischen Sprachgebrauch der δικαιοσύνη Gottes besonders nahestehen. Wie in JesLXX 46,13; 51,5.6.8 wird der Ausdruck der göttlichen Gerechtigkeit in PsLXX 97,2 mit dem Heilshandeln Gottes parallelisiert. Aus V 3 geht eindeutig hervor, dass das Heil Gottes, welches an Israel ergeht und vor allen Völkern sichtbar wird, auf der Barmherzigkeit (ἔλεος) und Treue (ἀληθεία) Gottes beruht. Wenn nun in Vers 2 gesagt wird, dass Gottes Gerechtigkeit in seinem Heil offenbart wird, welche Beziehung besteht dann zwischen Gottes Gerechtigkeit und seiner Errettung? Die beiden Begriffe „Gerechtigkeit Gottes“ und „Heil Gottes“ stehen in enger

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Die Gerechtigkeitsaussagen im Alten Testament

Verbindung, sind aber auf semantischer Ebene keinesfalls deckungsgleich.33 Für das Verständnis des Begriffs δικαιοσύνη αὐτοῦ ist die Rede von der Gerechtigkeit Gottes in V 9 von großer Bedeutung, womit ein Hinweis dafür geliefert wird, in welchem Sinne der Ausdruck δικαιοσύνη αὐτοῦ in V 2 zu verstehen ist. In der Klimax des Psalms wird angekündigt, dass Gott kommen und die ganze Welt in seiner Gerechtigkeit (ἐν δικαιοσύνῃ ἐν εὐθύτητι) richten wird. Der Ausdruck δικαιοσύνη αὐτοῦ in V 2 ist also nicht getrennt von der Erwähnung der Gerechtigkeit des Gerichts Gottes in V 9 zu verstehen und somit als richterliche Gerechtigkeit aufzufassen. Durch diese Gerechtigkeit Gottes, mit der die Völker gerichtet werden, kommt das Heil Israels zustande. Dennoch bezeichnet sie nicht eine Heilstat Gottes.34 Der Ausdruck δικαιοσύνη αὐτοῦ kommt auch im ersten Abschnitt des Michaschlusses vor, wo das betende Ich auf die heilvolle Zukunft blickend sein Vertrauen auf Gott zum Ausdruck bringt. In MiLXX 7,9 ist das Schauen der δικαιοσύνη αὐτοῦ durch den Beter eindeutig mit der Aussage des Hineinführens des Beters ins Licht verbunden, was die zukünftige Rettung durch Gott zum Ausdruck bringt. Das betende Ich bekennt, dass es sich gegen Gott versündigt hat, und ist sich bewusst, dass es den Zorn Gottes rechtmäßig zu ertragen hat. Der Beter ist sich dessen gewiss, dass seine Strafe bald enden, der Herr (JHWH) zu seinen Gunsten eintreten und ihm Recht verschaffen wird. Demnach ist die Bestrafung des Beters durch Gott zeitlich begrenzt. Wenn Gott seine Gerechtigkeit offenbar werden lässt, wird die über den Fall des Beters spottende und ihn unterdrückende „Feindin“ zuschanden werden. Wird dieser Zusammenhang richtig gesehen, dann wird deutlich, dass sich der Ausdruck δικαιοσύνη αὐτοῦ auf das Eingreifen Gottes zugunsten des Beters in der Form des Gerichtes an den Feinden bezieht. Somit ist die gängige Interpretation des Ausdrucks als Rettungstat Gottes problematisch, weil sie die in diesem Kontext enthaltene Semantik nicht vollständig zum Ausdruck bringt.35 1.2

In Bezug auf Menschen

Im griechischen Alten Testament wird δίκαιος wie in der sonstigen griechischen Sprache normalerweise als Attribut verwendet und kann eine Eigenschaft bestimmter Gegenstände (wie etwa Waage, Gewichtsteine, Opfer, Verordnungen, Gericht, Reden) bezeichnen36 . Überwiegend wird das Wort aber als ein Attribut eines ethisch

33 So auch Irons, Righteousness, 186ff. 34 In PsLXX 96,2.6 ist die Rede von Gottes Gerechtigkeit ebenfalls mit seiner Rolle als Weltrichter verbunden. 35 Vgl. Glenny, Micah, 202; Irons, Righteousness, 191f. 36 Vgl. LevLXX 19,36; DtnLXX 4,8; 16,18; 25,15; JesLXX 58,2; EzLXX 45,10; PsLXX 2,12; HiLXX 31,6; SprLXX  3,9; 16,11.13.

δικαι-Terminologie im griechischen Alten Testament

vollkommenen Menschen verwendet, der sich vor Gottes Geboten bzw. Gesetz als rechtschaffen erweist (zu den einschlägigen Belegen s. u.). Die erste Erwähnung findet sich im Alten Testament in der Sintflutgeschichte, in der Noah als ein gerechter und untadeliger Mann (ἄνθρωπος δίκαιος τέλειος) dargestellt wird (GenLXX 6,9). So unterschied er sich in seinem frommen Lebenswandel von der völligen Verderbtheit seiner Zeitgenossen (GenLXX 6,1-12).37 Beachtet werden muss, dass Noahs Gerechtigkeit (vgl. GenLXX 7,1) und die Bosheit der anderen Menschen (vgl. GenLXX 6,5.11-13) dem Urteil Gottes unterzogen werden.38 Diesem Urteil zufolge bestraft Gott die Menschen und alle Lebewesen auf der Erde einerseits und erweist sich andererseits Noah und seiner Familie gegenüber als gnädig und rettet sie vor dem Gericht. So wird Gott in dieser Erzählung nicht nur als Schöpfer, sondern auch als Richter der Welt beschrieben, der über die dem Verhalten des Menschen entsprechende Rettung oder Bestrafung entscheidet. Ein weiteres wichtiges Merkmal in der Noaherzählung ist der sogenannte „Tun-Ergehen-Zusammenhang“. Die Gerechtigkeit Noahs, die er durch die Taten in seinem Lebenswandel bewiesen hat und die von Gott anerkannt wurde, ist bei seiner Rettung im Gericht Gottes vorausgesetzt.39 Der Gerechtigkeits- und Rettungszusammenhang findet sich häufig auch in anderen Geschichten im Alten Testament, meist im Kontext des Gerichts Gottes. In GenLXX 18,23-32 stellt Abraham Gott die drängende Frage nach seiner Gerechtigkeit, als dieser den Beschluss zum Strafgericht über Sodom und Gomorra gefasst hat: Finde Gott noch zehn Gerechte in der Stadt, so solle er die Stadt nicht vernichten, denn als „der Richter der ganzen Erde (ὁ κρίνων πᾶσαν τὴν γῆν)“ solle er sich ans Recht halten und den Gerechten (δίκαιος) nicht in gleicher Weise wie den Gottlosen (ἀσεβής) behandeln und ihn töten (GenLXX  18,25, auch vgl. GenLXX  20,4; 1KönLXX  8,32; 2ChrLXX  6,23). Bei dieser Strafgerichtserzählung fällt auf, dass Gott wie in der Geschichte Noahs als ein Richter der Welt im universalen Horizont dargestellt ist, der nach dem Verhalten des Menschen ein unparteiisches gerechtes Gericht durchführt. In den Psalmen, Lehrbüchern und Prophetenbüchern findet sich dieser Gedanke ebenfalls und entwickelt sich dort zum Glauben, dass der Gerechte seinem gerechten Lebenswandel entsprechend belohnt, während der Gottlose bestraft und zugrunde gerichtet wird.40 Bei den belehrenden und weisheitlichen Sprüchen in diesen biblischen Büchern fällt vor allem die häufig wiederkehrende Gegenüberstellung der Lebenshaltung und des aus ihr folgenden Ergehens von δίκαιος und ἀσεβής bzw. ἁμαρτωλός ins Auge. Stilistisch werden die einander gegensätzlichen 37 38 39 40

In EzLXX 14,14.20 wird Noah zusammen mit Daniel und Hiob als ein Gerechter dargestellt. Vgl. auch GenLXX 8,21; 1KönLXX 3,6. Vgl. EzLXX 14,14.20. Vgl. Witte, Gerechtigkeit, 53.

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Lebensführungen und das ihnen entsprechende Ergehen von δίκαιος und ἀσεβής bzw. ἁμαρτωλός im parallel. membr. oder im Chiasmus miteinander verglichen oder einander gegenübergestellt. Sprachlich ist es auffällig, dass verschiedene Synonyme und Antonyme zu δίκαιος in chiastisch strukturierten Sprüchen parallel und gegenübergestellt werden. Zu den verwendeten Synonymen zählen εὐθύς, εὐθύτης bzw. εὐθύς oder εὐθύτης τῇ καρδίᾳ41 , ἄμεμπτος42 , ἄμoμος43 , ἀκακία44 , ὅσιος45 , θεοσεβής46 und zu den Antonymen ἀσεβής47 , ἁμαρτωλός48 , παράνομος49 , ἀδίκoς50 . Durch die mit diesen Wörtern verbundenen Beschreibungen des Verhaltens und der Eigenschaft lässt sich verstehen, welchen semantischen Horizont die Bezeichnung δίκαιος grundsätzlich umfasst. Als δίκαιος ist demnach ein Mensch zu verstehen, der sich an göttliche Anordnungen hält, ein untadeliges und frommes Leben führt und sich von allem Bösen fernhält. Im Ezechielbuch wird dieser δίκαιος wiederholt in einer formelhaften Wendung als derjenige beschrieben, der Gerechtigkeit und Recht übt (ὁ ποιῶν κρίμα καὶ δικαιοσύνην: EzLXX 18,5.27; 33,14.16.19; oder ποιείν δικαιοσύνην: EzLXX 18,17.19.21; vgl. auch GenLXX 18,19; SprLXX 21,3). In HabLXX 2,4, einer für die paulinische Botschaft von der Glaubensgerechtigkeit zentralen Stelle, ist der Gerechtigkeit-Leben-Zusammenhang explizit dargestellt: „ὁ δὲ δίκαιος ἐκ πίστεώς μου ζήσεται.“ Im Textzusammenhang des Habakukbuchs ist jedoch nicht klar, ob sich ζήσεται wie bei Paulus auf die eschatologische Rettung im Endgericht Gottes bezieht. Das Verb meint hier eher das Überleben des Gerechten im kommenden Gericht Gottes. Gottes zorniges Gericht ist für die Frevler bestimmt, welche als Eroberer und Unterdrücker von Völkern aufgetreten sind (vgl. 1,5-17; 2,5-17). Die auf Gott Vertrauenden werden dagegen trotz aller Schwierigkeiten und Leiden nicht zugrundegehen (vgl. 1,12). Ein anderer wichtiger Punkt bei der Interpretation von HabLXX 2,4 ist, dass die Wendung ἐκ πίστεώς μου in ihrem ursprünglichen Kontext im Habakukbuch anders als bei Paulus die Treue

PsLXX 7,11; 10,2.7; 31,11; 32,1; 36,14.37; SprLXX 2,21; vgl. auch PsLXX 35,11. HiLXX 1,1; 2,3; 4,7; 9,20; 12,4; 22,19. PsLXX 36,18; SprLXX 11,20; vgl. PsLXX 15,2; SprLXX 11,5; 20,7. Vgl. auch 1KönLXX 8,32; 2Chr 6,23. PsLXX 36,37; HiLXX 2,3; 27,5; SprLXX 2,21; vgl. PsLXX 7,9. PsLXX 17,26; 31,6; 36,28; 49,5; 51,11; 96,10; SprLXX 2,11.21; 10,29; 17,26; 18,5; 29,10. HiLXX 1,1.8; 2,3. PsLXX 1,5.6; 10,5, 36,28.35.38; 57,11; SprLXX 2,22; 3,33; 4,19; 10,3.6.7.11.15.16.20.24.25.27.28.30.32; 11,3.8.9.11.18.19.23.31 u. ö. 48 PsLXX 1,5; 7,10; 10,2.6; 31,10; 33,22; 36,12.14.16.17.20.21.32.34.40; 57,11; 74,11; 124,3; 141,5; SprLXX  11,31; 12,13; EzLXX 33,8.19. 49 PsLXX 36,38; SprLXX 2,22; 3,32; 4,14; 11,6.30; 12,2; HiLXX 17,8. 50 PsLXX 17,49; SprLXX 11,21. 41 42 43 44 45 46 47

δικαι-Terminologie im griechischen Alten Testament

Gottes als den Grund für die Bewahrung des Gerechten bezeichnet,51 weshalb πίστις im ursprünglichen Kontext nicht im paulinischen Sinne von Glauben als die Grundlage für die Rechtfertigung verstanden werden kann. Für Paulus bezeichnet der Begriff πίστις nicht die Treue Gottes, auf die der Gerechte in seiner Notlage vertrauen kann, sondern den Glauben an Jesus Christus, der an Stelle der Werke des Gesetzes allein die Rechtfertigung bewirkt (vgl. Röm 3,20f; Gal 2,16f; 3,6f). Diese Bedeutungsverschiebung erreicht Paulus durch die Auslassung des Pronomens μου. Auf jeden Fall ist es angesichts der Leitbegriffe δίκαιος, πίστις, ζᾶν in HabLXX 2,4 wohl verständlich, warum HabLXX 2,4 die besondere Aufmerksamkeit des Paulus auf sich gezogen hat. Es handelt sich nämlich um die einzige alttestamentliche Stelle, an welcher der Begriff δίκαιος mit dem Ausdruck ἐκ πίστεώς unmittelbar verbunden ist und das Leben als Resultat eines solchen Glaubens explizit verheißen ist.52 Das Substantiv δικαιοσύνη, wie auch das Adjektiv δίκαιος, wird im griechischen Alten Testament sehr häufig in Bezug auf Menschen verwendet. Um die Verwendungsweise und die Bedeutung des Nomens δικαιοσύνη im griechischen Alten Testament zu verstehen, muss jedoch beachtet werden, dass es sich um ein nomen abstractum handelt. Das heißt, dass sich für seine Verwendungsweise und semantische Referenz verschiedene Möglichkeiten ausmachen lassen. Einerseits bezeichnet δικαιοσύνη eine Eigenschaft des Menschen, der sich in seinem Lebenswandel als gerecht erweist (sc. das Gerechtsein).53 Andererseits wird δικαιοσύνη an vielen Belegstellen im Sinne einer allgemeinen Tugend und ethischen Forderung verstanden. In diesem Fall wird unter dem Begriff das zusammengefasst, was die Tora fordert. Zu diesen Belegen lassen sich unter anderem die häufig im griechischen Alten Testament vorkommende Redewendung ποιεῖν δικαιοσύνην zählen sowie die Formel ἐν δικαιοσύνῃ, welche in Verbindung mit einem Handlungsverb steht.54 Drittens kann der Begriff eine bestimmte gerechte bzw. gute Tat bezeichnen, welche dem Recht und damit der Tora entspricht.55

51 In den griechischen Handschriften gibt es drei verschiedene Lesarten, je nachdem, wo μου steht oder es ausgelassen ist. Darunter ist die Lesart „ὁ δὲ δίκαιος ἐκ πίστεως μου ζήσεται“ am weitesten verbreitet und wird in der Forschung als ursprüngliche angesehen (vgl. Koch, Hab 2,4, 73f). 52 Im Alten Testament ist das Vertrauen auf Gott als eine Grundhaltung erwähnt, welche der Mensch im Verhältnis zu Gott immer für wichtig halten soll (etwa 2ChrLXX 20,20; JesLXX 26,4). Aber an keiner Stelle davon ist der πίστις-Begriff unmittelbar mit dem Begriff δίκαιος oder ζῆν verbunden. 53 Etwa GenLXX 30,33; 2SamLXX 22,21.25; PsLXX 7,9; 36,6; JesLXX 48,18. 54 Zu den Belegen s. u. S. 105f dieser Arbeit. 55 Im griechischen Alten Testament finden sich jedoch auch einige Belege, bei denen die referenzielle Semantik von δικαιοσύνη schwer zu entscheiden ist.

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Exkurs: Die Interpretation von GenLXX 15,6 Auf das komplexe Problem der Interpretation des Begriffs δικαιοσύνη stößt man schon in GenLXX 15,6, der ersten Belegstelle im Alten Testament, an welcher das Substantiv δικαιοσύνη verwendet wird. Der griechische Text lautet: „καὶ ἐπίστευσεν Αβραμ τῷ θεῷ, καὶ ἐλογίσθη αὐτῷ εἰς δικαιοσύνην“. Αβραμ ist in der griechischen Übersetzung ausdrücklich als Subjekt des ersten Satzes genannt und sein Glaube wird mit dem Aorist ἐπίστευσεν als einmaliger Akt dargestellt. Der zweite Teilsatz ist im Passiv formuliert, die passive Verbform neben der Präposition εἰς bei δικαιοσύνη lässt erkennen, dass Gott als das logische Subjekt der Anrechnung der Gerechtigkeit gedacht werden muss. Durch diese Änderungen in der griechischen Übersetzung sind „die formalen Ambivalenzen (wer rechnet in V 6b wem was an?) und syntaktischen Schwierigkeiten (was signalisiert die Verbform we -AK in V 6a?)“ beseitigt, welche im masoretischen Text enthalten sind.56 Trotzdem stellt auch der griechische Text vor hermeneutische Probleme, die zu den beiden zentralen Fragen führen, wie das Syntagma ἐπίστευσεν τῷ θεῷ gedeutet werden kann und welche Vorstellung sich hinter der Aussage ἐλογίσθη αὐτῷ εἰς δικαιοσύνην verbirgt. Der Satz ἐπίστευσεν Αβραμ τῷ θεῷ beschreibt Abrahams Reaktion auf die vorher ihm von Gott zugesprochene Verheißung eines leiblichen Erben und zahlreicher Nachkommen. Vor diesem Kontext kann die Aussage ἐπίστευσεν Αβραμ τῷ θεῷ so verstanden werden, dass Abraham darauf vertraute, dass Gott erfüllen würde, was er ihm verheißen hat. Die Bedeutung des Vertrauens bzw. Glaubens Abrahams liegt also darin, dass er der Überzeugung war, dass Gott die Kraft habe, sein Verheißungswort zu erfüllen. Ein wichtiger Aspekt ist dabei, dass Abraham gegen allen Anschein der faktischen Wirklichkeit der Kinderlosigkeit und des hohen Alters auf Gott vertraute (vgl. die Einwände Abrahams in GenLXX 15,2-3). Dies gibt dem Vertrauen Abrahams sein besonderes Profil. In der Erzählung von Abrahams Glauben ist also weniger von einem Glauben im Sinne eines religiösen Bekenntnisses die Rede und damit von der Anerkennung des einen wahren Gottes oder von der Bekehrung zum einen wahren Gott. Wenn man auf die ganze Abrahamserzählung in Genesis blickt, zeigt sich, dass das Vertrauen Abrahams auf die göttliche Verheißung eher in der Art eines gehorsamen Akts zu verstehen ist. Das in GenLXX 15,6 ausgesprochene Vertrauen Abrahams steht in Zusammenhang mit seinen gehorsamen Taten wie der Auswanderung nach Kanaan (GenLXX 12,1-5), der Durchführung der Beschneidung (GenLXX 17) und der Bewährung in der Versuchung (GenLXX 22). In GenLXX 26,5 wird die treue Haltung Abrahams in seinem Lebenswandel, welche er durch die genannten gehorsamen Taten erwiesen hat, folgendermaßen zusammengefasst: „Abraham gehorchte meiner Stimme und hat meine Vorschriften gehalten, meine Gebote, meine Ordnungen und meine Gesetze.“ Das Vertrauen Abrahams in GenLXX  15,6 ist

56 Vgl. Köckert, Glaube und Gerechtigkeit, 439f.

δικαι-Terminologie im griechischen Alten Testament

kaum als eine den Gesetzeswerken gegenüberstehende Alternative, wie sie sich bei Paulus findet, zu verstehen. Vielmehr handelt es sich um ein gerechtes Verhalten, das die gesetzestreue Haltung Abrahams exemplarisch zeigt. Gefragt werden muss nun noch nach der Bedeutung der Wendung ἐλογίσθη αὐτῷ εἰς δικαιοσύνην. Zwar wird hier das Subjekt nicht genannt, aber mit Blick auf den Textzusammenhang mit dem ersten Halbsatz und die Syntax lässt sich unschwer erkennen, dass das Subjekt des Satzes das Vertrauen Abrahams ist. Abraham selbst kann nicht das Subjekt sein, weil er mit dem Pronomen αὐτῷ als Objekt im Dativ schon genannt ist. Deutlich ist auch, dass Gott als das logische Subjekt des Anrechnens (λογίζομαι) vorgestellt werden muss. Daher ist der Satz so zu verstehen, dass es (das Vertrauen) ihm (Abraham) von Gott zur Gerechtigkeit angerechnet wurde. Nun ist aber noch nach der Bedeutung von δικαιοσύνη und dem Sinnverhältnis von δικαιοσύνη in Bezug auf Abraham an dieser Stelle zu fragen. δικαιοσύνη kann meines Erachtens hier im Sinne als etwas Gerechtes bzw. Rechtes verstanden werden. Dann bedeutet der ganze Satz, dass das Vertrauen Abrahams ihm als etwas Gerechtes (oder konkreter als ein gerechtes Handeln) angerechnet wurde. Die Rezeption von Gen 15,6 in frühjüdischen Texten zeigt auch, dass die Anrechnung des Vertrauens Abrahams als Gerechtigkeit im oben dargestellten Sinne zu lesen ist (vgl. Sir 44,20; Jub 17,15-18; 1Makk 2,52; 4Q225 II). Das Vertrauen Abrahams wird dabei als ein Akt des Gehorsams verstanden, der seine Gesetzestreue aufzeigt. Paulus aber versteht GenLXX 15,6 nicht wie die jüdische Überlieferung im Sinne, dass Abrahams Vertrauen bzw. Glauben als gerechtes Verhalten angesehen wurde, sondern so, dass Abraham aufgrund seines Vertrauens bzw. Glaubens als gerecht anerkannt wurde (Röm 4,4-6; vgl. auch Gal 3,6-8). In der paulinischen Interpretation wird die δικαιοσύνη in GenLXX 15,6 daher nicht im Sinne eines Handelns oder einer Tugend aufgefasst, sondern vielmehr als ein Statusbegriff, der die durch Gottes Rechtsspruch erlangte Gerechtigkeit Abrahams bezeichnet. Aus sprachlichen Gründen ist aber verständlich, warum Paulus in seiner Argumentation, dass Gott den Menschen aufgrund seines Glaubens gerecht spricht, auf diese Stelle Bezug nimmt. Denn GenLXX 15,6 ist die erste Schriftstelle, in der davon die Rede ist, dass ein Mensch an Gott geglaubt hat und dieser Glaube von Gott als Gerechtigkeit angerechnet wurde.57

Bei der Verwendung von δικαιοσύνη in der LXX in Bezug auf den Menschen fällt auf, dass der Begriff häufig mit einem Pronomen im Genitiv verbunden wird: „ἡ δικαιοσύνη μου“ (GenLXX 30,33; DtnLXX  9,4.6 (Plural); 2SamLXX 22,21.25; PsLXX  7,9; 16,1; 17,21.25; 34,27); „ἡ δικαιοσύνη ἡμῶν“ (JesLXX  64,5; DanLXX  9,18)58 ; „ἡ δι-

57 So auch Wolter, Paulus, 347. 58 Die doppelte Genitivverbindung κύριε (ὁ θεὸς) τῆς δικαιοσύνης μου in PsLXX 4,2 und PsLXX 16,1 könnte man den Belegen der Gerechtigkeit Gottes zuordnen, weil die δικαιοσύνη sich im Genitiv auf Gott bezieht. Dabei ist die doppelte Genitivverbindung so zu verstehen: mein gerechter Herr (Gott), der mir zum Recht verhilft, oder mir Gerechtigkeit verschafft.

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Die Gerechtigkeitsaussagen im Alten Testament

καιοσύνη σου“ (DtnLXX  9,5; PsLXX  36,6; HiLXX  35,8; JesLXX  48,18; 62,2); „ἡ δικαιοσύνη αὐτοῦ“ (PsLXX  111,3.9). In diesen Fällen bezeichnet δικαιοσύνη entweder die

Eigenschaft oder eine gerechte Tat eines Menschen. Bei den Belegen, in denen eine Eigenschaft bezeichnet wird, lassen sich wiederum diejenigen Belegstellen, in denen der Begriff eine Eigenschaft eines Einzelnen bezeichnet (GenLXX  30,33; 2SamLXX  22,21.25; PsLXX  7,9; 16,1; 17,21.25; 34,27; 36,6; HiLXX  35,8), von denjenigen Belegstellen unterscheiden, in denen er sich auf eine Eigenschaft Israels bezieht (DtnLXX  9,4; 48,18; JesLXX  62,2). Im Folgenden soll je ein Beispiel für die Gerechtigkeit als Eigenschaft (2SamLXX  22,21.25) und für die Gerechtigkeit als konkrete Tat (PsLXX  111,3.9) näher betrachtet werden. In 2SamLXX  22,21-2559 , einem Ausschnitt aus einem David zugeschriebenen Loblied, liegt ein gutes Beispiel dafür vor, dass δικαιοσύνη im Sinne der Rechtschaffenheit eines Menschen gebraucht wird. Dabei lässt sich leicht ersehen, was unter der Genitivverbindung ἡ δικαιοσύνη μου inhaltlich präzise verstanden und zusammengefasst werden kann. Zweimal steht sie parallel zu ἡ καθαριότητα τῶν χειρῶν μου (V 21.25) und beide Ausdrücke verbinden sich weiterhin unmittelbar mit den Aussagen „Gottes Weg zu bewahren“ (V 22), „Gottes Anordnungen zu halten“ (V 23) und „sich vor der Gesetzlosigkeit zu bewahren“ (V 24), die den rechtschaffenen Lebenswandel des Psalmisten auf verschiedene Weise andeuten. Auf semantischer Ebene steht ἡ δικαιοσύνη μου besonders mit der synonymen Aussage, „untadelig (ἄμωμος) zu sein“ (V 24), in Verbindung. Der Beter betont seine Rechtschaffenheit und lobt die Rettung vor seinen Feinden, die Gott ihm nach seiner Gerechtigkeit vergolten hat. In PsLXX 7 findet sich eine ähnliche Vorstellung. Der Beter verweist auf seine δικαιοσύνη und ἀκακία (V 9; vgl. V 4-5). Interessant ist an dieser Stelle, dass hier, wie im oben betrachten Davidpsalmen, der Psalmist auch von der „Reinheit seiner Hände“ (V 4) spricht. Aufgrund dieser Rechtschaffenheit in seinem Leben bittet er JHWH um das zornige Eingreifen Gottes gegen seine Feinde, die den Psalmisten grundlos unterdrücken. Dabei ist ein weiterer wichtiger Punkt, dass Gott als der gerechte Richter dargestellt wird, der die Menschen ihrem Handeln entsprechend vergilt. In PsLXX 111 ist die Genitivverbindung ἡ δικαιοσύνη αὐτοῦ zweimal in V 3 und 9 belegt. Die erste Genitivverbindung ἡ δικαιοσύνη αὐτοῦ in V 3 scheint sich auf die Eigenschaft des gottesfürchtigen Gerechten (V 1.6) zu beziehen. ἡ δικαιοσύνη αὐτοῦ in V 9 ist jedoch offenkundig verknüpft mit der Wohltätigkeit des Gerechten, welche er für die Armen spendet. Davon ausgehend kann man allerdings nicht mit Gewissheit sagen, dass sich ἡ δικαιοσύνη αὐτοῦ ausschließlich auf die gute Tat des Gerechten bezieht. Denn aufgrund der verschiedenen Bedeutungsmöglichkeiten

59 Dieser Davidpsalm in 2SamLXX 22 wird auch in PsLXX 17 rezipiert.

δικαι-Terminologie im griechischen Alten Testament

des Begriffs δικαιοσύνη ist es auch möglich, dass er auf die Eigenschaft des Gerechten referiert. Wichtig ist jedenfalls, dass der Terminus δικαιοσύνη sich hier eindeutig auf das Almosengeben bezieht. Diese Verwendungsweise von δικαιοσύνη (bzw. ‫ )צדקה‬im Sinne der Almosen begegnet häufig in frühjüdischen Texten (Tob 4,5f; 12,9; 4Q200 2,6.8.9; 4Q424 3,9). Hierbei zeigt sich, dass das Almosengeben ein wesentlicher Bestandteil jüdischer Frömmigkeit ist, in welchem sich das Gerechtsein eines Gläubigen erweist. Vor diesem Hintergrund ist interessant, dass Paulus PsLXX 111,9 ebenfalls in 2Kor 9,9 zitiert, wo er die korinthische Gemeinde zur Kollekte für die Armen in Jerusalem auffordert. Der dortige Kontext zeigt, dass die Bedeutung dieser Forderung nicht darin liegt, dass das Almosengeben an sich gut wäre, sondern darin, dass sich im Almosengeben der gerechte Status der heidnischen Gläubigen erweist, die daraufhin von den jüdischen Gläubigen als an Gott Glaubende angesehen werden. Exkurs: Merkmale des Sprachgebrauchs von δικαιοσύνη im griechischen Alten Testament60 Im Hinblick auf den Sprachgebrauch des δικαιοσύνη-Begriffs lassen sich einige formelhaft verwendete Wendungen im griechischen Alten Testament finden. Dabei ist vor allem die häufig wiederkehrende Verbindung von δικαιοσύνη und κρίσις bzw. κρίμα61 auffällig. Die beiden Begriffe stehen entweder nebeneinander oder sie stehen im parallel. membr. einander gegenüber. Beide charakterisieren Gottes Wirken als Weltkönig bzw. -Richter, das sich gegen Unrecht und Gottlosigkeit durchsetzt (PsLXX  35,7). So werden δικαιοσύνη und κρίμα die Grundfesten des Throns Gottes genannt (PsLXX  88,15; 96,2). Häufiger aber werden die Begriffe in Bezug auf Menschen nebeneinander gebraucht und bringen zusammengefasst die Lebensweise des Menschen zum Ausdruck, die Gottes Anordnungen und Weisungen entspricht: z. B. PsLXX  36,6; 71,2; SprLXX  2,9; JesLXX  5,7; 33,5; 56,1; 58,2; 59,9.14; JerLXX  22,13. Der erste Beleg für die Redewendung ποιεῖν δικαιοσύνην καὶ κρίσιν (bzw. κρίμα)62 im menschlichen Kontext findet sich in GenLXX  18,19. Auffällig ist, dass die Aufforderung Gottes an Abraham, „Gerechtigkeit und Recht zu üben“, im Alten Testament

60 Hinsichtlich der Überlegung des traditionsgeschichtlichen Zusammenhanges der Gerechtigkeitsvorstellung wird dieser Exkurs hilfreich sein, um Einflüsse und sprachliche Übernahmen vom Alten Testament in den jüdischen Schriften und in den urchristlichen Texten, also auch bei Paulus, zu erfassen und nachzuvollziehen. 61 In den entsprechenden Stellen steht die hebräische Wortverbindung ‫ צדק משׁפט‬oder ‫צדקה משׁפט‬. Für das Wort ‫ משׁפט‬werden die beiden griechischen Wörter κρίμα und κρίσις in den griechischen Texten verwendet. 62 Bei der Verwendung wird die Position von δικαιοσύνην und κρίσιν bzw. κρίμα manchmal gewechselt. Zusätzlich gibt es auch die variierenden Formeln: „ποιεῖν δικαιοσύνην“ (JesLXX 56,1; 58,2; EzLXX  18,1); „ποιεῖν δικαιοσύνην καὶ ἔλεος“ (EzLXX  18,19.21); „ποιεῖν κρίμα ἐν δικαιοσύνῃ“ (1KönLXX  10,9); „ποιεῖν κρίσιν“ (JesLXX 5,7).

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Die Gerechtigkeitsaussagen im Alten Testament

wiederholt bei der Aufforderung zu gerechtem Verhalten an Einzelne bzw. an Israel und bei der Anklage von Sünde und Ungerechtigkeit des Einzelnen bzw. Israels formelhaft verwendet wird: DtnLXX  33,21; PsLXX  14,2; 105,3; 118,121; JesLXX  5,7; 56,1; 58,2; JerLXX  22,3.22; EzLXX  18,5.19.21.27; 33,14.16.19. Außerdem wird die Wendung ποιεῖν δικαιοσύνην καὶ κρίσιν bzw. κρίμα häufig zur Charakterisierung der idealen Ausübung des Königsamts verwendet: 1SamLXX  2,10; 2SamLXX  8,15; 1KönLXX  10,9; 1ChrLXX  18,14; 2ChrLXX  9,8; JerLXX  22,15; EzLXX  45,9. Indem er Recht und Gerechtigkeit bei seiner Herrschaft über das Gottesvolk ausübt, ist der Gesalbte Gottes, der König Israels, imitatio Dei (vgl. JerLXX  9,23). In diesem Zusammenhang steht auch die Vorstellung vom neuen davidischen König in JesLXX  9,6 (vgl. auch 11,5; 16,5) und JerLXX  23,5 (ἀνατολὴ δικαία in davidischer Linie), bei der die Redewendung „Gerechtigkeit und Recht üben“ ebenfalls zur Beschreibung des Idealkönigtums formelhaft gebraucht wird. Die zweite häufig begegnende Formel ist ἐν δικαιοσύνῃ63 . Der Ausdruck ἐν δικαιοσύνῃ bezeichnet in den meisten Fällen wie ein Adverb ein Handeln bzw. einen Lebenswandel und bringt so zum Ausdruck, wozu das Handeln gehört und in welchem Raum es durchgeführt wird. In GenLXX 20,5 verteidigt Abimelech gegenüber Gottes Todesurteil seine Unschuld mit den Worten, dass er ἐν καθαρᾷ καρδίᾳ καὶ ἐν δικαιοσύνῃ χειρῶν gehandelt habe. In JosLXX  24,14 mahnt Josua in seiner Abschiedsrede Israel, Gott ἐν εὐθύτητι καὶ ἐν δικαιοσύνῃ zu dienen. Des Weiteren kann die Formel ἐν δικαιοσύνῃ in Verbindung mit verschiedenen Lebenshandlungen des Menschen gebraucht werden, etwa zu wandeln, zu schwören und eine Opfergabe zu bringen: „διέρχομαι ἐν ἀληθείᾳ καὶ ἐν δικαιοσύνῃ καὶ ἐν εὐθύτητι καρδίας“ (1KönLXX 3,6); „πορεύομαι ἐν δικαιοσύνῃ“ (JesLXX 33,15)64 ; „ὄμνυμι ἐν κρίσει καὶ ἐν δικαιοσύνῃ“ (JerLXX 4,2); „προσάγειν θυσίαν ἐν δικαιοσύνῃ“ (MalLXX 3,3). Besonders häufig wird sie aber in Bezug auf das Amt des Königs bzw. des Richters verwendet. Der Richter soll sein Urteil ἐν δικαιοσύνῃ fällen (LevLXX 19,5) und der König Israels soll als der Statthalter Gottes wie Gott unbestechlich Gericht halten und das Volk ἐν δικαιοσύνῃ verwalten (PsLXX  71,2; SprLXX 20,28; 25,5; über den neuen davidischen König: JesLXX  9,6). Doch wird die Formel ἐν δικαιοσύνῃ im Alten Testament nicht nur bezogen auf menschliches Handeln verwendet, sondern auch zur Beschreibung des Handelns Gottes. Sie charakterisiert vor allem das richtende Handeln Gottes. Gott ist der Weltrichter, der „die Welt in Gerechtigkeit richten, über die Völkerschaften Gericht in Geradheit halten wird (κρινεῖ τὴν οἰκουμένην ἐν δικαιοσύνῃ, κρινεῖ λαοὺς ἐν εὐθύτητι: PsLXX 9,9; vgl. 95,13; 97,9; JesLXX 10,22)“. Gottes rettende Tätigkeit an Gerechten bzw. Gottesfürchtigen geschieht ἐν δικαιοσύνῃ (PsLXX 64,5), indem er die Bitte um sein helfendes Eingreifen erhört und den Beter vor Verfolgung und Bedrängnis des Frevlers ἐν δικαιοσύνῃ rettet (PsLXX 30.2; 142,1.11). In SachLXX 8,8 verheißt Gott seinem Volk die Wiederherstellung des Verhältnisses zu ihm, indem er Israel ein Gott ἐν ἀληθείᾳ καὶ ἐν δικαιοσύνῃ werde. Metaphorisch in HosLXX 2,21: „καὶ μνηστεύσομαί σε

63 Das hebräische Original lautet: ‫ בצדק‬oder ‫בצדקה‬. 64 Vgl. 1KögLXX 3,3.

δικαι-Terminologie im griechischen Alten Testament

ἐμαυτῷ εἰς τὸν αἰῶνα καὶ μνηστεύσομαί σε ἐμαυτῷ ἐν δικαιοσύνῃ καὶ ἐν κρίματι καὶ ἐν ἐλέει καὶ ἐν οἰκτιρμοῖς.“

Das dritte Merkmal der Verwendung des Begriffs δικαιοσύνη ist seine häufige Verbindung mit verschiedenen Bildsprachen und der Vergleich mit verschiedenen Dingen. Eine häufig vorkommende Metapher ist die Weg-Metapher, die meistens den Gott gefälligen Lebenswandel des Gerechten kennzeichnet: „ὁδός δικαιοσύνης“ (SprLXX 8,20; 12,28; 16,17.31; 17,23; 21,16.21); „τρίβος δικαιοσύνης“ (PsLXX 23,3; SprLXX 2,20). Auch die Wandel-Metapher, πορεύομαι ἐν δικαιοσύνῃ in JesLXX 33,15, impliziert diesen Sinn. Nicht selten ist δικαιοσύνη auch mit einer Licht- bzw. Sonnen-Metapher verbunden. In Ps 36,6LXX wird das Geschick des auf Gott fest vertrauenden Gerechten anhand des Bildes dargestellt, dass seine δικαιοσύνη wie Licht und sein κρίμα wie heller Mittag offenbar werden. Auch in MalLXX 3,20 wird das heilvolle Geschick des Gottesfürchtigen mit einer Sonnen-Metapher zum Ausdruck gebracht: „ἥλιος δικαιοσύνης καὶ ἴασις ἐν ταῖς πτέρυξιν αὐτοῦ, καὶ ἐξελεύσεσθε καὶ σκιρτήσετε ὡς μοσχάρια ἐκ δεσμῶν ἀνειμένα.“ Eine weitere Metapher, die sich häufig mit δικαιοσύνη verbindet, ist die Metapher der Bekleidung. In HiLXX 29,14 beschreibt Hiob seine gerechte bzw. unschuldige Lebenshaltung mit Hilfe der Kleid-Metapher: „δικαιοσύνην δὲ ἐνεδεδύκειν, ἠμφιασάμην δὲ κρίμα ἴσα διπλοΐδι.“ In PsLXX 131,9 bringt der Psalmist seine Sehnsucht nach dem Kult am Ort der Ruhe JHWHs auf Zion mit dem Bild zum Ausdruck, dass die Priester Gottes sich mit Gerechtigkeit bekleiden werden (οἱ ἱερεῖς σου ἐνδύσονται δικαιοσύνην). Die Bekleidungs-Metapher findet sich gelegentlich auch in den jüdischen Schriften. Paulus bedient sich auch der Bekleidungs-Metapher, um den neuen Status der Christen in Christus und den diesem Status entsprechenden Lebenswandel zu beschreiben. Er spricht dabei aber nicht vom „Bekleiden mit Gerechtigkeit“, sondern vom „Bekleiden mit Christus“ (Gal 3,27; Röm 13,14; vgl. Eph 4,22-24, Kol 3,9-10).65 Auch Pflanzen- bzw. Fruchtmetaphern werden im Alten Testament häufig zusammen mit δικαιοσύνη verwendet. Bei der Verwendung des Pflanzens zur Beschreibung des Handelns Gottes geht es vorwiegend um die Erwählung Israels und die damit verbundene Erwartung Gottes an Israel. Wie ein Bauer pflanzt Gott Israel als „fruchtbaren Weinstock“ (JesLXX 5,2; JerLXX 2,21) oder „schönen Olivenbaum“ (JerLXX 11,16) und erwartet gute Früchte. Vor diesem Hintergrund ist die das erneute Heil verheißende Rede Gottes an Zion, nach der der Herr (JHWH) Zion als γενεαὶ δικαιοσύνης und φύτευμα κυρίου εἰς δόξαν bezeichnet, verständlich und nachvollziehbar (vgl. auch JesLXX 60,21).66 In den jüdischen Schriften kommen solche Metaphern ebenfalls häufig vor. Auch Paulus spricht in 2Kor 9,10 und Phil 1,11 vom καρπὸς δικαιοσύνης67 im Sinne der guten Taten der Menschen, besonders in Bezug auf die Wohltätigkeit. Im Alten Testament werden verschiedene Bildfelder auch in Bezug auf Gott gebraucht, um sein Handeln als Weltkönig und Weltrichter zu verdeutlichen. In PsLXX 88,15 und

65 Vgl. auch 2Kor 5,3; Off 3,4.5.18; 19,8. 66 JesLXX 9,6; JerLXX 23,6. 67 Vgl. auch Heb 12,11; Jak 3,18.

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Die Gerechtigkeitsaussagen im Alten Testament

PsLXX 96,2 wird Gott als Weltkönig beschrieben, der auf dem himmlischen Thron sitzt, dessen Grundfeste δικαιοσύνη und κρίμα sind. Demnach übt Gott sein königliches Amt als Richter in Gerechtigkeit und Recht aus. In JesLXX 59,17 tritt er als Kriegskämpfer auf, der an den sein Volk Israel bedrängenden Feinden Vergeltung übt. In diesem Vergeltungskampf trägt Gott eine besondere Rüstung, nämlich den Panzer der Gerechtigkeit und den Helm des Heils (καὶ ἐνεδύσατο δικαιοσύνην ὡς θώρακα καὶ περιέθετο περικεφαλαίαν σωτηρίου ἐπὶ τῆς κεφαλῆς καὶ περιεβάλετο ἱμάτιον ἐκδικήσεως καὶ τὸ περιβόλαιον).68 Auch Paulus verwendet die Rüstungsmetapher zusammen mit dem Begriff δικαιοσύνη, aber nicht in Bezug auf Gott, sondern in Bezug auf die Diener Gottes, die das Evangelium verkündigen (vgl. 2Kor 6,7).69 Außerdem kann die Vorstellung der Gerechtigkeit Gottes mit Bildern aus der Natur verbunden oder verglichen werden. So im Lob von Gottes Gerechtigkeit und seiner gerechten Urteile durch den Psalmisten: „ἡ δικαιοσύνη σου ὡσεὶ ὄρη θεοῦ, τὰ κρίματά σου ἄβυσσος πολλή.“ Typisch ist vor allem aber die Vorstellung, dass die Himmel Gottes Gerechtigkeit verkünden (PsLXX 49,6; 96,6; vgl. auch PsLXX 18,2). In JesLXX 45,8 wird die für die heilvolle Zeit erwartete Gerechtigkeit Gottes mit einem aus Wolken strömenden Regen und den aus der Erde hervorsprießenden Pflanzen verglichen: „εὐφρανθήτω ὁ οὐρανὸς ἄνωθεν, καὶ αἱ νεφέλαι ῥανάτωσαν δικαιοσύνην· ἀνατειλάτω ἡ γῆ ἔλεος καὶ δικαιοσύνην ἀνατειλάτω ἅμα· ἐγώ εἰμι κύριος ὁ κτίσας σε.“70 Schließlich wird Gottes Gerechtigkeit auch wie eine Sache beschrieben, die von Gott gewährt (JesLXX 46,13; vgl. JesLXX 51,5) oder offenbart werden kann (PsLXX 97,2; JesLXX 56,1).

2.

Das Verb δικαιοῦν

Im griechischen Alten Testament wird das Verb δικαιοῦν überwiegend zur Wiedergabe des hebräischen Verbs ‫ צדק‬gebraucht: neun Mal für eine Hiphil(ExLXX  23,7; DtnLXX  25,1; 2SamLXX  15,4; 1KönLXX  8,32/4KönLXX  6,23; PsLXX  81,3; JesLXX  5,23; 50,8; 53,11), acht Mal für eine Qal- (GenLXX  38,26; PsLXX  18,9; 50,4; 142,2; JesLXX  43,9.26; 45,26; EzLXX  6,52), vier Mal für eine Piel- (JerLXX  3,11; EzLXX  16,51.52; HiLXX  33,32) und einmal für eine Hithpaelform (GenLXX 44,16). An einer Stelle steht es für das Nomen ‫( צדק‬Jes LXX  42,21) und sieben Mal wird es für andere hebräische Wörter (z. B. ‫ ריב‬,‫ )זכה‬verwendet: 1SamLXX  12,7; PsLXX  72,13; MiLXX  6,11; 7,9; JesLXX  10,17; EzLXX  21,18; 44,24. Auffällig ist, dass das Verb im griechischen Alten Testament im Unterschied zum Sprachgebrauch im profanen Griechisch nicht nur auf Menschen bezogen, sondern häufig auch in Verbindung

68 Vgl. JesLXX 11,5. 69 Vgl. Röm 13,12; Eph 6,13-17. 70 Wenn JesLXX 32,16-17 auf JesLXX 61,11 bezogen wird, kann diese Stelle auch der menschlichen Gerechtigkeit zugeordnet werden. Bei einigen Belegstellen von δικαιοσύνη im Jesajabuch lässt sich schwer entscheiden, ob sie entweder auf die Gerechtigkeit Gottes oder auf die Gerechtigkeit des Menschen verweisen.

δικαι-Terminologie im griechischen Alten Testament

mit Gott verwendet werden kann. Die Verwendung des Verbs zusammen mit einem Infinitiv im Sinne von „eine Handlung für gerecht halten“, die in der paganen griechischen Literatur häufig anzutreffen ist, ist im griechischen Alten Testament an keiner Stelle belegt. Hinsichtlich des Sprachgebrauchs des Verbs δικαιοῦν bei Paulus ist vor allem anzumerken, dass bei ihm wie im griechischen Alten Testament nicht nur Menschen, sondern auch Gott häufig als Subjekt des Verbs vorkommt (1KönLXX  8,32; 2ChrLXX 6,23; JesLXX 50,8-9; vgl. JesLXX 45,25). Diese eigenartige Verwendungsweise des Verbs lässt sich im Zusammenhang mit dem Gottesbild des Alten Testaments erklären, nach dem Gott als der Weltrichter vorgestellt wird. Gott urteilt über die Menschheit der Welt und verhilft den sozial benachteiligten Menschen wie etwa Waisenkindern, Witwen und Armen zu ihrem Recht. Doch nicht nur in Bezug auf Gott, sondern auch im menschlichen Kontext wird das Verb δικαιοῦν häufig im Gerichtskontext verwendet. Die Verwendungsweise des Verbs im menschlichen Kontext ist zudem komplexer als diejenige im göttlichen Kontext, denn dort wird das Verb nicht nur in einem forensischen, sondern auch in verschiedenen anderen Zusammenhängen gebraucht. Dies soll im Folgenden gezeigt werden. 2.1

In Bezug auf Gott

2.1.1

Aktiv

Hinsichtlich der paulinischen Verwendung des Verbs δικαιοῦν mit dem Subjekt Gott muss darauf aufmerksam gemacht werden, dass im Alten Testament, ebenso wie bei Paulus, Gott als rechtsprechender bzw. -schaffender Richter dargestellt wird. Im antiken Israel gab es Richter, welche sich um Rechtsfragen kümmerten, und den König, welcher als Gottes Statthalter die Funktion der höchsten Gerichtsbarkeit innehatte. Trotz dieser irdischen Gerichtsbarkeit wurde JHWH als Richter angesehen, der endgültig die gesamte Menschheit danach beurteilt, wer schuldig und wer unschuldig ist. Er richtet die Menschen gerecht nach ihren Taten und belohnt oder bestraft sie je nach seinem richterlichen Ermessen. Viele weisheitliche Texte weisen im Alten Testament auf den Glaubenssatz Israels hin, dass Gott der einzige immer verlässliche und zugleich gerechte Richter ist. Gott kennt dabei nicht nur das äußerliche Verhalten des Menschen, womit seine richterliche Fähigkeit begrenzt wäre wie die eines Menschen, sondern er prüft das menschliche Herz und offenbart dadurch das Verborgene.71 Deshalb vermag allein Gott völlig gerechte Urteile zu sprechen. Solcher Glaube an Gott als gerechten Richter findet sich auch im in 1KönLXX 8,32 überlieferten Gebet Salomos:

71 Vgl. PsLXX 7,10; 10,4; 16,3; 138,1-4; SprLXX 15,3;16,2; 21,2; HiLXX 13,9; 28,24; 34,21; JerLXX 11,20.

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Die Gerechtigkeitsaussagen im Alten Testament

Und dann mögest du vom Himmel her darauf hören und handeln und dein Volk Israel richten, dass ein Gesetzloser schuldig gesprochen wird, seinen Wandel auf sein Haupt zu bringen, einen Gerechten aber gerecht sprichst, ihm gemäß seiner Gerechtigkeit zu geben (τοῦ δικαιῶσαι δίκαιον δοῦναι αὐτῷ κατὰ τὴν δικαιοσύνην αὐτοῦ).72

In JesLXX 50,8-9 ist Gott ebenso im Kontext eines Gerichtsverfahrens als ein Recht schaffender Richter dargestellt. Im Hinblick auf die Ausdrucksebene und die Motivik von Röm 8,31-34 verdient die Stelle besondere Aufmerksamkeit. Wegen der Verkündigung der göttlichen Botschaft erleidet der Gottesknecht schwere Schmähungen und Anfeindungen und wird von seinen Gegnern misshandelt (V 6). Er weicht aber nicht zurück (V 5-6), weil er darauf vertraut, dass JHWH an seiner Verkündigung festhält und ihm helfen wird (V 4-7). Aufgrund dieser Zuversicht kann er auch feststellen, dass jede Anklage oder Bedrohung seiner Gegner nicht zum Ziele kommen kann: Denn der, der mich gerechtfertigt hat, nähert sich (ὅτι ἐγγίζει ὁ δικαιώσας με); wer ist es, der mit mir rechtet (τίς ὁ κρινόμενός μοι)? Soll er mir zugleich entgegentreten (ἀντιστήτω μοι ἅμα)! Und wer ist es, der mit mir rechtet (καὶ τίς ὁ κρινόμενός μοι)? Trete er heran zu mir! Siehe, der Herr hilft mir; wer wird mir Böses antun? Siehe, ihr alle werdet altern wie ein Kleid, und (es wird sein,) als ob eine Motte euch fressen wird.73

In Röm 8,31-34 bringt Paulus durch die rhetorische τίς-Frage zum Ausdruck, dass niemand den Erwählten Gottes (sc. Christen) etwas antun und gegen sie Anklage erheben oder sie verurteilen kann. Vom Kontext her ist festzuhalten, dass die Erwählten Gottes sich in einer leidvollen Situation befinden. Sie werden ihres Glaubens wegen unterdrückt und mit dem Tod bedroht (V 35-36). In dieser Lage wirbt Paulus bei seinen Adressaten für die Teilhabe am Leiden Christi, indem er sie daran erinnert, dass Gott für sie einsteht und sie trotz aller Leiden und Schwierigkeiten zum endgültigen Sieg bringen wird. Zu beachten ist, dass Paulus nicht nur vom endgültigen Sieg der leidenden Christen redet, sondern auch – wie der Jesajatext – von ihrer endgültigen Rechtfertigung. In JesLXX 54,17 wird wiederum die Unmöglichkeit erklärt, dass jemand gegen das Gottesvolk Israel (die Anrede in der 2. Person bezieht sich ab 54,1 durchgängig auf Israel) bzw. seine Knechte74 auftreten kann. Der Herr (JHWH) steht als Rechtsbeistand seinem Volk Israel, seinen Knechten, zur Seite und macht alle versuchten Angriffe oder Anklagen erfolglos (V 14-17; vgl. JesLXX 41,11-16; 50,9; 51,8). Bemerkenswert ist dabei, dass

72 Übers. nach Septuaginta Deutsch. Derselbe Text kommt auch in 2ChrLXX 6,23 vor. 73 Übers. nach Septuaginta Deutsch. 74 Vgl. JesLXX 44,21; 49,3.

δικαι-Terminologie im griechischen Alten Testament

es bei der Ankündigung der Wiederherstellung des Volks Israel im Jesajabuch nicht nur um die Errettung vor den Völkern und die Heimkehr nach Jerusalem geht, sondern der besondere Schwerpunkt liegt auf der Wiederherstellung des Status als das gerechte Gottesvolk und der Herrlichkeit, an welcher das Gottesvolk teilhaben wird (JesLXX 54,11-17). In JesLXX 53,11 wird das Verb δικαιοῦν noch einmal mit Gott als Subjekt verwendet. Anders als im MT erscheint in der LXX κύριος als Subjekt des von βούλεται abhängigen Infinitivs δικαιῶσαι. Daher ist zu übersetzen: „Der Herr will … den Gerechten rechtfertigen, der vielen gut gedient hat.“75 Die Gründe dafür, warum der Herr seinen Knecht ins Recht setzen will, werden im Kontext des Verses genannt. Der Gottesknecht nahm die Sünden derer auf sich (V 11-12), welche im Kontext mehrfach mit „wir“ bezeichnet werden (vgl. „die Gesetzlosigkeiten meines Volkes“ in V 8). Das heißt, er ist selbst nicht schuldig und bei ihm lässt sich kein Grund für eine Strafe oder ein berechtigtes Leiden finden (V 9b). Doch wurde der Knecht wie ein Gottloser betrachtet (V 12) und erlitt Unglück und Misshandlung (V 3-5.7-8). Letztendlich wurde er dem Tod ausgeliefert (V 12). Alle diese Leiden, Unglücksfälle und ungerechten Misshandlungen des Gottesknechtes, sogar sein Tod, werden als ein Dienst beschrieben (V 11), den der Gottesknecht in Demut und Schweigen für die Rettung der anderen geleistet hat (V 7). Das Leiden und der Tod des Gottesknechtes waren daher ein Dienst für „uns“ (V 4-5.6) und die Erfüllung dessen, was von Gott gewollt wurde (V 6.12).76 Gott will nun seinen Knecht, der ungerechterweise gelitten hat und misshandelt wurde und seinen Dienst geleistet hat (εὖ δουλεύοντα), ins Recht setzen. Der letzte hier zu behandelnde Beleg von δικαιοῦν im Aktiv in Verbindung mit Gott als Subjekt findet sich in MiLXX 7,9. Der Übersetzer des LXX gibt den hebräischen Ausdruck mit dem Infinitiv τοῦ δικαιῶσαι αὐτὸν τὴν δίκην μου wieder. Anders als an den übrigen Belegstellen ist das Verb an dieser Stelle aber nicht mit einem personalen Objekt, sondern mit einem nicht-personalen Objekt, nämlich δίκην, verbunden. Zu fragen ist daher, wie dieser Ausdruck zu verstehen ist. Mit Blick auf den näheren Kontext ist unverkennbar, dass die Wendung τοῦ δικαιῶσαι αὐτὸν τὴν δίκην μου in eine Leidenssituation eingebettet ist. Das betende Ich leidet unter der wegen seiner Sünde erfolgten Strafe und unter dem Spott seiner Feindin. Es ist sich aber dessen gewiss, dass diese Strafe bald enden und durch die Heilszeit abgelöst werden wird, in der Gott sich seiner Sache annehmen und ihm wieder Recht verschaffen wird. Die Übersetzung der Wendung τοῦ δικαιῶσαι

75 Das Verb δικαιοῦν kann auch als „ins Recht setzen“ wiedergegeben werden. Den Dativ πολλοῖς betrachte ich nicht als das direkte Objekt von δουλεύοντα, sondern als ein indirektes Objekt zu δικαιῶσαι, welches die Adressaten oder Zeugen der Handlung bezeichnet. 76 Breytenbach macht besonders darauf aufmerksam, dass im griechischen Text die Auslieferung des Knechts als Handlung Gottes dargestellt ist (vgl. Breytenbach, Interpretatio Graeca, 669).

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Die Gerechtigkeitsaussagen im Alten Testament

αὐτὸν τὴν δίκην μου lautet, „das verletzte Recht des Propheten wieder in einen

gerechten Zustand versetzen“, was im Gedanken zusammengefasst werden kann, dass Gott dem Propheten Recht verschafft.77 Unter Berücksichtigung des Kontextes, in dem die Sünde und die dadurch hervorgerufene Strafe erwähnt werden, kann die Ich-Rede in MiLXX 7,7-10 als repräsentative Redeweise verstanden werden, in der sich das Geschick Israels widerspiegelt. Somit geht es um die Restitution des ursprünglichen Status des Volks Israel, welches gegenwärtig wegen der Sünde leidet. Der Sprachgebrauch des Begriffs δικαιοῦν in MiLXX 7,9 liegt mit dieser Konnotation somit auf einer Linie mit JesLXX 53,11. 2.1.2

Passiv

Im griechischen Alten Testament wird das Verb δικαιοῦν mit dem Subjekt Gott zweimal auch im Passiv verwendet, in PsLXX 50,6 und JesLXX 42,21.78 Da das Verb δικαιοῦν in diesen beiden Texten keine Bedeutungsunterschiede aufweist, wird im Folgenden nur auf PsLXX 50,6 eingegangen. Bei PsLXX 50,6 handelt sich es um ein Sündenbekenntnis des Psalmbeters. Er bekennt, dass er vor Gott gesündigt hat und die über ihn ergangenen Urteilsprüche Gottes gerecht sind: „σοὶ μόνῳ ἥμαρτον καὶ τὸ πονηρὸν ἐνώπιόν σου ἐποίησα, ὅπως ἂν δικαιωθῇς ἐν τοῖς λόγοις σου καὶ νικήσῃς ἐν τῷ κρίνεσθαί σε.“ Die Verbform δικαιωθῇς (Konjunktiv Aorist) kann mit „sich als gerecht erweisen“ oder „gerecht werden“ wiedergegeben werden. Beachtet werden muss aber, dass das Passiv hier ohne Akteur verstanden werden kann. Die hier vorliegende zentrale Aussage ist die, dass sich Gott in seinen Urteilen als gerechter Richter erweist. Die zweite Verbform im Konjunktiv Aorist, νικήσῃς, bringt als Folge der zuvor beschriebenen Anerkennung der Gerechtigkeit Gottes den Sieg Gottes im Rechtsstreit mit dem sündigen Menschen zum Ausdruck. Im Prozess verliert der Mensch aufgrund seiner Schuld, Gott aber gewinnt aufgrund seiner gerechten Urteile. Die mit ὅπως ἄν (herb. ‫ )למען‬angeschlossene Vershälfte beschreibt den Zielpunkt, den der Sünder angesichts der Erkenntnis seiner Sünde erreicht hat. Dabei handelt es sich um die Tatsache, dass Gott mit seinen Rechtssprüchen Recht behält und im Rechtsstreit mit dem Menschen als Sieger hervorgeht.79

77 Utzschneider, der Übersetzer des Buches Micha in Septuaginta Deutsch, übersetzt mit „Recht sprechen“. 78 Mit einem Bezug auf Gott kommt das Verb δικαιοῦν in passivischer Form auch in PsLXX 18,10 vor. Dort ist allerdings nicht direkt Gott als Subjekt mit dem Verb verbunden, sondern die Urteile Gottes (κρίματα κυρίου). Inhaltlich besagt der Psalmvers im Wesentlichen nichts anderes als PsLXX 50,6 und JesLXX 42,21. Es geht dabei jeweils um die Anerkennung der Gerechtigkeit in göttlichen Urteilen bzw. Worten. 79 Der Übersetzer der LXX gibt ‫ בשׁפטך‬mit ἐν τῷ κρίνεσθαί σε wieder. Das Verb wird im Medium oder Passiv häufig im Kontext eines Rechtsstreits gebraucht.

δικαι-Terminologie im griechischen Alten Testament

2.2

In Bezug auf Menschen

2.2.1

Aktiv

Das Verb wird zwölf Mal im Aktiv mit Menschen als Subjekt verwendet: fünf Mal für eine Hiphil- (ExLXX 23,7; DtnLXX 25,1; 2SamLXX 15,4; PsLXX 81,3; JesLXX 5,23) und dreimal für eine Pielform (JerLXX 3,11; EzLXX 16,51.52). Für andere hebräische Bezeichnungen steht es in EsthLXX 10,12; PsLXX 72,13; JesLXX 1,17; EzLXX 44,24. In ExLXX 23,7 und DtnLXX 25,1 handelt es sich um ein Gesetz, nach dem ein Richter zwischen dem Unschuldigen und dem Schuldigen richtig unterscheiden und dementsprechend gerechte Urteile fällen soll. So steht in ExLXX 23,7 beispielsweise: „Von jeder ungerechten Sache halte dich fern. Einen Unschulidgen und Gerechten sollst du nicht töten, und du sollst den Gottlosen nicht wegen Geschenken gerecht sprechen (καὶ δίκαιον οὐκ ἀποκτενεῖς καὶ οὐ δικαιώσεις τὸν ἀσεβῆ ἕνεκεν δώρων).“80 Mit dem Weheruf in JesLXX 5,23 werden korrupte Richter in Israel wegen der Nichteinhaltung solcher Gesetze angeklagt: „οἱ δικαιοῦντες τὸν ἀσεβῆ ἕνεκεν δώρων καὶ τὸ δίκαιον τοῦ δικαίου αἴροντες.“ Die Übersetzer der Septuaginta Deutsch geben das Aktiv δικαιοῦν an dieser Stelle mit „gerecht sprechen“ oder „für gerecht erklären“ wieder, was nach dem Kontext auch gut zu passen scheint.81 Allerdings passt diese Übersetzung im Sinne eines juristischen Urteils nicht immer für das Verb δικαιοῦν, wenn es im Aktiv mit personalem Objekt verwendet wird. In PsLXX 81,3 und JesLXX 1,17 etwa wird δικαιοῦν im Aktiv jeweils in Verbindung mit ταπεινὸν καὶ πένητα und χήραν als Objekt gebraucht, womit diejenigen in der Gemeinschaft genannt werden, die in der Gefahr stehen, im Gerichtsprozess ungerecht behandelt zu werden. Vom Kontext der beiden Stellen her ist deutlich, dass die Wiedergabe des Verbs mit „gerecht sprechen“ im Sinne eines Gerichtsurteils hier unzutreffend ist. Es ist nicht nachvollziehbar, warum ein Richter die bedürftigen und elenden Menschen wie etwa Waisenkinder und Witwen ausschließlich aufgrund ihrer sozialen Schwäche in einem Gerichtsverfahren gerecht sprechen sollte. Δικαιοῦν in PsLXX 81,3 und JesLXX 1,17 muss daher eher mit „Gerechtigkeit (bzw. Recht) verschaffen“ oder „Gerechtigkeit (bzw. Recht) widerfahren lassen“ übersetzt werden. Es handelt sich um die Aufforderung, den sozial Schwachen zu ihrem Recht zu verhelfen und damit die Gerechtigkeit und das Recht im Zusammenleben der Menschen durchzusetzen. Auch an weiteren Textstellen wird das Verb im Aktiv nicht in einem forensischen Kontext verwendet. Statt mit „gerecht sprechen“ sollte es an diesen Stellen mit „als gerecht dastehen lassen“ wiedergegeben werden. In EzLXX 16,51-52 handelt es sich um eine Anklage gegen das verdorbene Jerusalem. Zur Verdeutlichung der

80 Übers. nach Septuaginta Deutsch. 81 Auch in 2SamLXX 15,4 kann das Verb δικαιοῦν in diesem Sinne verstanden werden.

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Die Gerechtigkeitsaussagen im Alten Testament

Sünde Jerusalems vergleicht der Prophet es mit Samaria und Sodom, die für ihre Verdorbenheit bekannt sind. Metaphorisch werden Samaria und Sodom dabei als die Schwestern Jerusalems bezeichnet. Samaria und Sodom stehen als die Schwestern Jerusalems sogar gerechter da als dieses, weil es durch die größere Anzahl der begangenen Sünden und Gesetzlosigkeiten noch tiefer verdorben ist. Eine Parallele für dieses Motiv findet sich in JerLXX 3,11, wobei das Verb δικαιοῦν auf ähnliche Weise wie in EzLXX 16,51-52 verwendet wird. Die anklagende Rede besagt, dass die Treulosigkeit Judas Israel umso gerechter dastehen lässt: „καὶ εἶπεν κύριος πρός με Ἐδικαίωσεν τὴν ψυχὴν αὐτοῦ Ισραηλ ἀπὸ τῆς ἀσυνθέτου Ιουδα.“ Die untersuchten Texte zeigen, dass das Verb δικαιῦν im Aktiv mit dem Menschen als Subjekt unterschiedliche Bedeutungsnuancen tragen kann. Allerdings gehen diese verschiedenen Gebrauchsweisen nicht über die grundlegende Bedeutung des Verbs hinaus, nämlich „jemandem oder etwas mit Gerechtigkeit zu versehen“ bzw. „jemanden oder etwas in den Zustand der Gerechtigkeit zu versetzen“. 2.2.2

Passiv

Hinsichtlich der Verwendung des Verbs δικαιοῦν im Passiv in Verbindung mit einem menschlichen Subjekt lassen sich ebenfalls wie beim aktivischen Gebrauch verschiedene Bedeutungsnuancen erkennen. Dieser Befund stellt vor die Aufgabe, den jeweiligen lexikalischen Sinn des Passivs an jeder Stelle unter Berücksichtigung des Kontextes zu ermitteln. Überwiegend wird das Passiv δικαιοῦσθαι als Wiedergabe einer Qalform der Wurzel ‫ צדק‬verwendet (GenLXX  38,26; PsLXX  142,2; JesLXX  43,9.26; 45,25). An einzelnen Stellen wird auch eine Hithpaelform von ‫( צדק‬GenLXX  44,16) oder Pual von ‫( בחן‬EzLXX  21,13) mit dem Passiv δικαιοῦσθαι übersetzt. Im Folgenden werden nur drei Texte GenLXX  38,26; PsLXX  142,2; JesLXX  45,25 behandelt, die für unsere Untersuchung der Semantik des Verbs relevant sind. Der erste Beleg findet sich in GenLXX 38,26. Dieser Text wurde in der Forschung häufig als Begründungstext dafür angeführt, dass die auf den δικαι-Stamm zurückgehende Wortgruppe im Alten Testament als ein auf die Gemeinschaft bezogener Begriff zu verstehen ist.82 In diesem Text geht es um das Zugeständnis Judas gegenüber seiner Schwiegertochter Thamar, dass diese gerechter als er gehandelt hat. Zunächst verurteilt Juda Thamar, die Witwe seiner ältesten Söhne Er und Onan, da sie infolge des Beischlafes schwanger geworden ist, was zunächst von Juda als ungerecht und unzüchtig empfunden wurde. Aber nachdem er erkannt hatte, dass Thamar als seine Schwiegertochter aufgrund seines eigenen ungerechten Verhal-

82 Anders als von Cremer, Rechtfertigungslehre, 54f, muss Judas Rede an Thamar so verstanden werden, dass Thamars Verhalten gemäß dem damaligen Maßstab der Leviratsehe von ihm für gerecht erklärt wird. Vgl. Irons, Righteousness, 169ff.

δικαι-Terminologie im griechischen Alten Testament

tens, sie gegen das Gebot der Leviratsehe nicht mit seinem dritten Sohn Schela zu verheiraten, so gehandelt hat, gibt Juda ihr Recht: „Thamar ist mir gegenüber im Recht (καὶ εἶπεν Δεδικαίωται Θαμαρ ἢ ἐγώ).“ Das Passiv Perfekt ist hier nicht mit „gerechtfertigt werden“ zu übersetzen, sondern mit „gerecht sein“ bzw. „als gerecht dastehen“.83 Im Hinblick auf die Wendung δικαιωθήσεται von Röm 3,20; Gal 2,16; Gal 3,21 verdient PsLXX 142,2 besondere Beachtung, der für beide Texte aufgrund der sprachlichen Formulierung als Vorlage zu gelten hat. In der vierten Bitte im Vetitiv (V 2) wendet sich der Beter an JHWH, dass dieser mit ihm nicht ins Gericht gehen soll. Der sogleich angeschlossene Grund hierfür ist, dass kein lebendiger Mensch vor Gott als gerecht bestehen kann (οὐ δικαιωθήσεται ἐνώπιόν σου πᾶς ζῶν). Hinsichtlich des semantischen Verständnisses von δικαιωθήσεται ist besonders zu beachten, dass das Passiv δικαιωθήσεται hier mit ἐνώπιον αὐτοῦ verbunden ist, so dass die gängige Wiedergabe „gerechtfertigt werden“ kaum zutreffend sein kann. Es ist angemessener, „gerecht werden“ oder „als gerecht dastehen“ als Übersetzung heranzuziehen. Eine der im Psalmtext vorliegenden Vorstellung entsprechende Niedrigkeitsaussage findet sich auch in anderen weisheitlichen Texten und damit wird betont, dass das menschliche Wesen grundsätzlich unfähig ist, seinen Lebenswandel in vollkommener Gerechtigkeit zu führen (Sir 8,5; 10,18; 17,30-32; 1QS 11,9-22; 1QH 3,23-25; 4,30-32; 7,28f u. a.). In JesLXX 45,25 wird die Rede von der Rechtfertigung Israels, die von Gott herkommt, aufgegriffen: Vom Herrn her wird gerechtfertigt werden und in Gott zu Ehren kommen die ganze Nachkommenschaft der Söhne Israels (ἀπὸ κυρίου δικαιωθήσονται καὶ ἐν τῷ θεῷ ἐνδοξασθήσονται πᾶν τὸ σπέρμα τῶν υἱῶν Ισραηλ).

In den Versen 20-25 geht es um ein Heilsorakel, das Israel eine heilvolle Zukunft verkündet. Darin ruft der Redner, JHWH, diejenigen, die Götterbilder tragen und zu ihnen beten, zu einem Prozess auf (V 21). JHWH will, dass sie den einzigen gerechten, rettenden Gott anerkennen und sich zu ihm wenden, damit sie gerettet werden (V 21-22).84 Sie müssen von den Götzen zum wahren Gott umkehren, damit sie an der eschatischen Heilszeit teilhaben werden, in der die δικαιοσύνη und δόξα von JHWH von allen Menschen bekannt wird (V 23-24). Diejenigen, die gegen den alleinigen Gott, der gerecht ist und Rettung zu verschaffen vermag (V 21), erzürnt sind, werden zuschanden (V 24), aber die Nachkommenschaft Israels (πᾶν

83 Die GenLXX 44,16 und JesLXX 43,9.26. 84 Die Vorstellung von der Einzigkeit Gottes in der JHWH-Rede (JesLXX 45,5.6.14.18.21.22; 46,9 u. ö.) scheint auf die des Paulus (1Thess 1,9; Röm 3,30) Einfluss gehabt zu haben.

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Die Gerechtigkeitsaussagen im Alten Testament

τὸ σπέρμα τῶν υἱῶν Ισραηλ) wird vom Herrn gerechtfertigt und kommt zu Ehren (V 25). Bezeichnend ist bei dieser JHWH-Rede, dass das Ziel der Heilsgeschichte nicht allein auf Gottes eigene δικαιοσύνη und δόξα gerichtet ist, sondern dass Gottes Heilsgeschichte dadurch vollendet wird, dass auch sein erwähltes Volk Israel zu δικαιοσύνη und δόξα gelangt. Hinsichtlich der kombinierten Aussage über die Rechtfertigung und die Verherrlichung der Berufenen Gottes in Röm 8,30 ist diese Kombination der Wörter δικαιοσύνη und δόξα in JesLXX 45,25 sehr bedeutsam (vgl. auch JesLXX 58,8). Darüber hinaus ist bemerkenswert, dass hier offenkundig das universale Element des Heilsanrufs JHWHs dargestellt ist, der bis zu den „heidnischen Völkern vom Ende der Erde“ (V 22) gelangt. Die universale Dimension der paulinischen Botschaft wird auf diesen Jesajatext zurückgeführt werden müssen (z. B. Röm 3,29-30).85

85 Zur näheren Erläuterung S. 264f der vorliegenden Arbeit.

Fazit

C.

Fazit

Im griechischen Alten Testament werden die δικαι-Termini (δίκαιος, δικαιοσύνη) als Wiedergabe für die hebräischen Begriffe ‫צדקה‬/‫ צדק‬und ‫ צדיק‬verwendet. Hierbei werden sie häufig in Bezug auf Gott gebraucht, da schon die entsprechenden hebräischen Termini dazu dienen, Gottes Gerechtigkeit in seinem Handeln, besonders seinem richtenden Handeln über Israel bzw. Einzelne oder die ganze Welt, zu beschreiben. In diesem Punkt unterscheidet sich der Kontext des Sprachgebrauchs der δικαι-Termini im Alten Testament von der paganen Gräzität, in der die δικαιTermini überwiegend auf das Zusammenleben der Menschen bezogen verwendet werden. Hierbei entstehen aber keine Verschiebungen in Bezug auf die Semantik im Vergleich zum paganen griechischen Sprachgebrauch. Die in der Forschung sehr verbreitete Auffassung, dass sich der Begriff δικαιοσύνη in Bezug auf Gott in der LXX in seiner Semantik unter Einfluss des hebräischen Terminus ‫צדקה‬/‫ צדק‬zur Bedeutung der Bundestreue (bzw. Gemeinschaftstreue) oder Barmherzigkeit hin verschoben habe und damit vom paganen Sprachgebrauch abweiche, ist aufgrund der oben geführten semantischen Untersuchung nicht haltbar. Im Alten Testament finden sich viele Gebets- bzw. Lobtexte, in denen Gott häufig als gerecht bekannt und gepriesen wird. Im Appell an die Gerechtigkeit Gottes bittet der Beter Gott, dass er ihn retten und die ihn unterdrückenden Frevler bestrafen möge (PsLXX 30,2; 34,24.28; 35,7; 70,2.15.16.18.24; 87; 142,1.11). Über die Grenzen menschlicher Gerichtsbarkeit und Urteilskraft hinaus vermag Gott, das Innerste der Menschen zu sehen und zu beurteilen und so ausnahmslos gerechte Urteile fällen (DtnLXX 15,9; PredLXX 12,14). Für das Verständnis der Gottesvorstellung bei Paulus ist diese Beobachtung sehr bedeutsam, weil bei Paulus ebenso Gott als ein gerechter Richter vorgestellt wird, der sein gerechtes Gericht über die Menschen bzw. die Welt hält. Wie in dieser Untersuchung festgestellt, handelt sich es bei den meisten der Aussagen über Gottes Gerechtigkeit um dessen richterliches, die Sünde der Menschen bestrafendes Handeln. Daneben gibt es jedoch nicht wenige Belegstellen, an denen die Rede von Gottes Gerechtigkeit in einem engen Zusammenhang mit seinem Heilshandeln an den Gerechten bzw. Israel steht. Dabei ist zu beachten, dass der Begriff in diesem Zusammenhang nicht einseitig im engeren Sinne einer Heilstat Gottes verstanden werden kann, da die Rettungstat Gottes an Israel immer schon in der Bestrafung von dessen Feinden eingeschlossen ist. Nach der alttestamentlichen Vorstellung wird derjenige als δίκαιος bezeichnet, der Gerechtigkeit und Recht übt und ein Willen Gottes entsprechendes, untadeliges Leben führt. Diese Bestimmung des Gerechten zeigt sich beispielsweise bei der Beschreibung der Eigenschaften Noahs (GenLXX 6,9), Abrahams (GenLXX 17,1; 18,19) und Hiobs (HiLXX 1,1.8). An vielen Belegstellen bezeichnet das Substantiv δικαιοσύνη die Beschaffenheit des Gerechten, der die Gebote der Tora achtet (z. B. GenLXX 30,33; 2SamLXX 22,21.25; PsLXX 7,9; 16,1; 17,21.25; 34,27; 36,6; HiLXX 35,8).

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Die Gerechtigkeitsaussagen im Alten Testament

Für die Untersuchung der paulinischen Texte ist es wichtig zu bemerken, dass der Begriff δικαιοσύνη im Alten Testament sowohl die Identität des gerechten, zu Gott gehörenden Menschen also auch die Identität des Gottesvolks Israel zum Ausdruck bringt. Paulus verwendet den Begriff δικαιοσύνη auch in Bezug auf die Identität des Menschen, weitet ihn aber universal auf alle Völker aus. Die Voraussetzung für das Gerechtsein ist für Paulus klar das Vertrauen auf Jesus Christus, der durch seinen stellvertretenden Tod allen Glaubenden den Zugang zum Heil eröffnet hat. Des Weiteren wird δικαιοσύνη häufig im Sinne einer allgemeinen Tugend und ethischen Forderung verstanden, die die Menschen ausüben sollen (besonders häufig in Bezug auf das Amt des Königs oder Richters). Dazu lassen sich beispielsweise die im griechischen Alten Testament oft vorkommende Redewendung ποιεῖν δικαιοσύνην zählen sowie die Formel ἐν δικαιοσύνῃ. Schließlich kann der Begriff δικαιοσύνη eine konkrete gerechte Tat bezeichnen, welche dem Recht, und damit im Fall des Alten Testaments der Tora, entspricht. Neben diesen grundsätzlichen Aussagen über den Gerechten findet sich im Alten Testament aber auch ein anderes Menschenbild, nach welchem niemand vor Gottes Urteil als gerecht bestehen kann (PsLXX 13,1-4; 129,3; vgl. PsLXX 50,7). Die Menschen sind von Geburt an von der Sünde bestimmt und ihr Wille und ihre Taten sind von Grund auf verdorben (GenLXX 6,3-7; PsLXX 39,13; 50,5.7 u. a.). Dieses negative Menschenbild existiert nicht nur auf individueller Ebene, sondern auch in Bezug auf die kollektive Größe Israel, über das gesagt wird, dass es ein vor Gott sündiges und abtrünniges Volk ist (DtnLXX  32,1-43; JesLXX  1; 3; 5; 29,1-14; PsLXX  49; 80,11-12; 94,7-11 u. a.). Mit diesen Aussagen von der Sündhaftigkeit des Menschen ist der Gedanke verbunden, dass die Rettung der Menschen bzw. Israels allein durch die Gerechtigkeit Gottes (DeutLXX  9,4-6; JesLXX  45,20-25; vgl. JerLXX  33,16) bzw. um Gottes Namens willen (PsLXX  22,3; 142,11; JesLXX  48,9-11; EzLXX  20,9.14.22.44; 36,22) zustande kommen kann. Darin zeigt sich die Souveränität Gottes in seinem Heilshandeln. Dieser Gedanke von der souveränen Rettungstat Gottes findet sich ebenso bei Paulus. In besonders emphatischer Weise betont er die Gerechtigkeit Gottes bei der Darstellung des Heilshandelns Gottes (vgl. Röm 3,24f). Hinsichtlich des Sprachgebrauchs ist von Bedeutung, dass Gott als das Subjekt des Verbs δικαιοῦν häufig mit einem personalen Objekt auftritt (Aktiv: ExLXX  23,7; 1KönLXX  8,32; 2ChrLXX  6,23; JesLXX  50,8. Passiv: PsLXX  142,2; JesLXX  45,25). Das heißt, dass im Alten Testament Gott als der Richter dargestellt wird, der den Menschen gerecht spricht bzw. die Gerechtigkeit des Menschen beurteilt. Die häufig bei Paulus anzutreffende Vorstellung, dass Gott den Menschen Gerechtigkeit zuspricht, ist traditionsgeschichtlich offenkundig von dieser alttestamentlichen Verwendung her zu erklären. Insbesondere die Textstellen PsLXX  142,2, JesLXX  45,25 und JesLXX  50,8 verdienen wegen der auffälligen Nähe zur paulinischen Vorstellung besondere Aufmerksamkeit. Die Formulierungen dieser Texte scheinen auf die paulinischen mit der Rechtfertigung verbundenen Gedanken Einfluss ausgeübt zu

Fazit

haben: PsLXX  142,2 auf den Gedanken in Röm 3,20, dass kein Mensch aufgrund der Werke des Gesetzes vor Gott als gerecht bestehen kann; JesLXX  45,25 auf die Kombination von ἐδικαίωσεν und ἐδόξασεν in Röm 8,30, mit der Paulus das zukünftige Heilsgeschick der Glaubenden zum Ausdruck bringt; JesLXX  50,8 schließlich auf Röm 8,33, wo Paulus mit der τίς-Frage die Unmöglichkeit des Anklagens der Erwählten Gottes vor Augen führt.

119

IV.

Die Gerechtigkeitsaussagen in jüdischen und intertestamentarischen Schriften

Wir sind bislang zum Ergebnis gekommen, dass die paulinische Verwendung der δικαι-Termini auf der semantischen Ebene deutlich vom ursprünglichen griechischen Sprachgebrauch her zu erklären ist, dass sie aber hinsichtlich der verwendeten Ausdrucksweisen und Motive im Alten Testament verwurzelt ist. Als solche vom Alten Testament geprägten Vorstellungen sind vor allem zu nennen: (1) Die grundlegende Vorstellung von Gott als gerechtem Richter: Gott ist die Instanz, die über die ganze Welt herrscht und ihr Urteil fällt. Gott ist ein gerechter Richter in dem Sinne, dass er unparteiisch und unbestechlich ist und sein Urteil nicht vom Ansehen der Person abhängig macht. (2) Die mit dieser Rolle Gottes als eines Richters verbundene zentrale Funktion, den Menschen zu rechtfertigen, ihm Recht zu verschaffen: Die Frage, ob ein Mensch gerecht ist oder nicht, ist immer notwendig bezogen auf dieses göttliche Urteil. (3) Das radikale Bild von der menschlichen Nichtigkeit und Sündhaftigkeit: Vor diesem Hintergrund heißt es, dass die Gerechtigkeit des Menschen ihren Grund allein in der Barmherzigkeit und Güte Gottes hat. Allerdings ist die Formulierung δικαιοσύνη θεοῦ, welche bei Paulus im Zusammenhang seines Rechtfertigungsgedankens häufig vorkommt, in der LXX nicht zu belegen. Ferner findet sich auch der Gedanke nicht, dass allein das Vertrauen auf Christus (Messias) die Rechtfertigung eines sündigen Menschen ermöglicht und somit das Tun des Gesetzes (vor allem die Befolgung der Beschneidung) hierfür keine Voraussetzung darstellt. Schließlich lässt sich für die bei Paulus häufig vorkommende Verbindung von Gnade (χάρις) Gottes und Rechtfertigung des Menschen kein Beleg in der LXX finden. Nun wird im nächsten Schritt der Sprachgebrauch der δικαι-Terminologie in frühjüdischen Schriften hinsichtlich der Frage untersucht, wie und in welchem Sinne diese Termini gebraucht werden. Besonderes Augenmerk soll hierbei auf der Frage liegen, ob es irgendwelche vergleichbaren Ausdrücke oder ähnliche Gedanken gibt, die mit dem paulinischen Sprachgebrauch in Verbindung stehen. Wie im Durchgang durch die Forschungsgeschichte deutlich geworden ist, wurde bisher bereits die Rede von der Gottesgerechtigkeit in den frühjüdischen Texten immer wieder als Interpretationsrahmen für die paulinische Formulierung δικαιοσύνη θεοῦ zugrunde gelegt. Dabei wurde in den 1960-er Jahren von Käsemann und seinen Schülern die These vertreten, dass die Genitivformulierung δικαιοσύνη θεοῦ bei Paulus ein von der jüdischen Apokalyptik übernommener terminus technicus sei, welcher als heilschaffende Macht Gottes zu verstehen sei. Diese Annahme wurde allerdings zu Recht von vielen Exegeten abgewiesen. Allerdings sind die

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Die Gerechtigkeitsaussagen in jüdischen und intertestamentarischen Schriften

Belege von Gottes Gerechtigkeit in der frühjüdischen Tradition für die Forschung über die δικαι-Termini bei Paulus von Bedeutung. Denn Paulus thematisiert die Gerechtigkeit Gottes häufig im Zusammenhang mit der Menschheitsgeschichte und deren Heil und behandelt die Frage intensiv, wie der Mensch vor Gott als gerecht bestehen und dem Willen Gottes entsprechend einen gerechten Lebenswandel führen kann. Diese Thematiken stehen auch in der frühjüdischen Tradition ganz und gar im Vordergrund. In der folgenden Untersuchung werden die stark vom griechisch-philosophischen Denken beeinflussten Schriften getrennt von denen behandelt, die eher vor einem alttestamentlichen Hintergrund stehen. Der Maßstab für die Teilung in die zwei Gruppen ist demnach, ob in Schriften die typische Liste der Kardinaltugenden vorkommt und ob der Begriff δικαιοσύνη überwiegend mit Bezug auf das zwischenmenschliche Verhältnis oder auf Gott verwendet wird. Bei dieser Untersuchung werden die verschiedenen traditionsgeschichtlichen Rezeptionsarten der δικαιοσύνη und ihres Sprachgebrauchs dargestellt, je nachdem, ob sie dem griechischen philosophischen Verständnis oder der alttestamentlich-jüdischen Tradition entsprechen.

Die vom griechisch-philosophischen Denken beeinflussten Schriften

A.

Die vom griechisch-philosophischen Denken beeinflussten Schriften

1.

Aristeasbrief

Der δικαιοσύνη-Begriff taucht im Aristeasbrief meistens im Zusammenhang mit Gesetzesauslegungen auf.1 Dabei wird δικαιοσύνη als ethische Tugend verstanden und dient dazu, den Inhalt alttestamentlicher Gesetze zusammenfassend zum Ausdruck zu bringen (43; 147). Dabei ist der griechisch-philosophische Einfluss eindeutig erkennbar. Während sich die klassischen vier Kardinaltugenden dort nicht finden, begegnet häufig die zweigliedrige Tugendformel: parallel zu ἐγκράτεια (278); neben ἀνδρεία (281; 306).2 Sie steht auch neben εὐσέβεια, wie es seit Isokrates in der griechischen philosophischen Tradition häufig der Fall ist (131; auch 24 τὸ δίκαιον parallel zu εὐσέβεια). In diesem zweigeteilten Tugendschema bezieht sich δικαιοσύνη auf das menschliche Zusammenleben: „δικαιοσύνην πρὸς πάντας ἀνθρώπους“ (168); „πρὸς δικαιοσύνην καὶ τὴν τῶν ἀνθρώπων συναναστροφὴν δικαίαν“ (169).3 Anhand der typisch stoischen Ausdrücke πᾶσιν οὖν ἀνθρώποις τὸ δίκαιον ἀπονέμειν in 24 und τὸ πρέπον ἑκάστῳ συνυποκρινόμενος in 267 kann man eindeutig den Einfluss aus der griechisch-philosophischen Verwendungsweise, welche hauptsächlich den mitmenschlichen Charakter der δικαιοσύνη meint, erkennen. Das Gerechtsein heißt im zwischenmenschlichen Leben, nichts mit Gewalt zu vollenden und nicht im Vertrauen auf die eigene Kraft andere zu unterdrücken (εἶναι δικαίους τε καὶ μηδὲν ἐπιτελεῖν βίᾳ, μηδὲ τῇ περὶ ἑαυτοὺς ἰσχύι πεποιθότας ἑτέρους καταδυναστεύειν).4 (148). Die δικαιοσύνη kommt zustande, indem „man

sich bei jeder Gelegenheit das Recht vor Augen halte und das Unrecht mit dem Verlust des eigenen Lebens gleichsetze (τὸ δίκαιον ἐπὶ παντὸς προβάλλοι συνεχῶς, καὶ νομίζοι τὴν ἀδικίαν τοῦ ζῆν στέρησιν εἶναι).“5 (212). Die δικαιοσύνη ist also die eigentliche Tugend, der es gelingt, den Menschen in der gesellschaftlichen Beziehung das Recht zuzuteilen und vor Gewalt und Unterdrückung zu bewahren. Somit ist es eindeutig ihre Zielsetzung, das gerechte Zusammenleben unter den Menschen zu fördern (vgl. 279; 281). Die griechisch-philosophische Vorstellung der δικαιοσύνη wird aber im Aristeasbrief deutlich dem jüdischen Gottesglauben untergeordnet.6 Dies liegt vor

1 2 3 4 5 6

Vgl. Fiedler, Δικαιοσύνη, 120. Vgl. auch δίκαιος neben σώφρων in 125. Vgl. Fiedler, Δικαιοσύνη, 121. Übersetzungen jeweils nach E. Hammershaimb, Aristeasbrief. Vgl. auch 232: „… μηδένα βλάπτοι, πάντας δὲ ὠφελοῖ, τῇ δικαιοσύνῃ κατακολουθῶν.“ Zu den einschlägigen Belegen vgl. Fiedler, Δικαιοσύνη, 121.

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Die Gerechtigkeitsaussagen in jüdischen und intertestamentarischen Schriften

allem daran, dass die in der Gemeinschaft und im persönlichen Leben geforderte Gerechtigkeit durchweg dem Inhalt des Glaubens an Gott zugeschrieben wird. Gott ist der die Gerechtigkeit Liebende (209)7 und auch derjenige, der den Gerechten die größten Güter schenkt (212). Bei den Auslegungen des Gesetzes sind in diesem Zusammenhang die Gesichtspunkte „Handeln in Gerechtigkeit“ und „Gottesfurcht“ eng miteinander verbunden (159; 189; 278). 2.

Das 4. Makkabäerbuch

Das 4. Makkabäerbuch, welches in der Entstehungszeit auch unter dem Titel „Über die Selbstherrschaft der Urteilskraft“ zirkulierte,8 ist verfasst im Stil der epideiktischen Rede, die formal an die griechische Rhetorik erinnert.9 Der Autor führt den Nachweis, dass „die gottesfürchtige Urteilskraft (εὐσεβὴς λογισμός) souveräne Herrscherin über die Leidenschaften ist.“ (4Makk 1,1). Im ersten Hauptteil erläutert er eine Affekten- und Tugendlehre und stellt dann im zweiten Hauptteil jüdische Märtyrer als beispielhafte Vorbilder vor, die für den Glauben an den Gott Israels und die Treue zur Tora den Tod in Kauf genommen haben. Im 4. Makkabäerbuch begegnet δικαιοσύνη vor allem in der Tugendlehre. Jeder Tugend, d. h. der δικαιοσύνη, der ἀνδρεία und der σωφροσύνη, stehen die Hindernisse der πάθη gegenüber (1,6; vgl. auch 2,6). Die δικαιοσύνη ist den anderen Kardinaltugenden untergeordnet, die zur Weisheit gehören: „τῆς δὲ σοφίας ἰδέαι καθεστήκασιν φρόνησις καὶ δικαιοσύνη καὶ ἀνδρεία καὶ σωφροσύνη.“ (1,18). In der Gesetzesapologie von Eleazar steht sie wieder neben anderen Kardinaltugenden, und zwar auffälligerweise im Zusammenhang mit εὐσέβεια:10 σωφροσύνην τε γὰρ ἡμᾶς ἐκδιδάσκει ὥστε πασῶν τῶν ἡδονῶν καὶ ἐπιθυμιῶν κρατεῖν καὶ ἀνδρείαν ἐξασκεῖ ὥστε πάντα πόνον ἑκουσίως ὑπομένειν καὶ δικαιοσύνην παιδεύει ὥστε· διὰ πάντων τῶν ἠθῶν ἰσονομεῖν καὶ εὐσέβειαν ἐκδιδάσκει ὥστε μόνον τὸν ὄντα θεὸν σέβειν μεγαλοπρεπῶς (5,22-24).

Zusammenfassend lässt sich die δικαιοσύνη im 4. Makkabäerbuch als eine der Tugenden verstehen, die die vorbildlichen Frommen, welche ihre Leidenschaft

7 8 9 10

Vgl. PsLXX 11,7. Vgl. Klauck, 4. Makkabäerbuch, 647. Vgl. Klauck, 4. Makkabäerbuch, 659. Die seit Isokrates oft zu findende Kombination von δικαιοσύνη und εὐσέβεια ist, wie oben bereits darlegt, ein repräsentatives Phänomen in der griechischen philosophischen Literatur. Dazu vgl. S. 54f dieser Arbeit.

Die vom griechisch-philosophischen Denken beeinflussten Schriften

überwunden und treu am Glauben Gottes festgehalten haben, ausgezeichnet haben.11 3.

Philo

Philo verwendet die δικαιοσύνη in Bezug auf Gott nur sehr selten. Die Bemühungen von Philo, die griechische Sichtweise der δικαιοσύνη sowie die Tugendlehre überhaupt mit dem jüdischen Glauben an den einzigen Gott in Einklang zu bringen, sind nichtsdestoweniger erkennbar.12 Für Philo ist Gott φιλάρετος (Op. Mund. 81; Vit. Mos. 1,148) und auch φιλοδίκαιος (Her. 163). Ferner ist δικαιοσύνη nicht nur eine menschliche Tugend, sondern auch Gottes eigene Wesensart (Somn. 2,224). Gott schenkt Menschen δικαιοσύνη (Somn. 2,224). Ursprung und Quell der δικαιοσύνη – so wie für die anderen Tugenden auch (Leg. All. 1,63f; Post. 127f) – sind σοφία und λόγος θεοῦ. Die philosophisch-ethische Auffassung der δικαιοσύνη als Tugend findet sich vor allem in Aufzählungen der sogenannten Kardinaltugenden: φρόνησις, σωφροσύνη, ἀνδρεία und δικαιοσύνη.13 Philo hält aber nicht an diesen von Platon her geprägten Vierertugendlisten fest, sondern modifiziert und erweitert sie in verschiedener Weise. Bei Philo wird die δικαιοσύνη vor allem als die eigentliche Tugend des menschlichen Zusammenlebens verstanden, während εὐσέβεια und ὁσιότης auf die Handlungen gegenüber Gott bezogen sind: „Und es gibt sozusagen zwei Grundlehren, denen die zahllosen Einzellehren und –sätze untergeordnet sind: in Bezug auf Gott das Gebot der Gottesverehrung und Frömmigkeit, in Bezug auf Menschen das der Nächstenliebe und Gerechtigkeit (τό τε πρὸς θεὸν δι’ εὐσεβείας καὶ ὁσιότητος καὶ τὸ πρὸς ἀνθρώπους διὰ φιλανθρωπίας καὶ δικαιοσύνης).“ (Spec. Leg. 2,63, vgl. auch Abr. 208).14 Und so werden bei Philo εὐσέβεια und ὁσιότης, wie auch θεοσέβεια oftmals neben δικαιοσύνη gestellt, wenn es um eine Erläuterung bzw. Auslegung des jüdischen Gesetzes geht. Die Bezogenheit der δικαιοσύνη auf das

11 Vgl. Schröter, Gerechtigkeit, 55f. 12 Vgl. Fiedler, Δικαιοσύνη, 126f. 13 Z. B. Leg. All. 1,63; Cher. 5; Sacr. 84; Ebr. 23; Vit. Mos. 2,185; Omn. Prob. 67,159; Op. Mund. 73; Mut. Nom. 197; adjektivisch: Det. 75. 14 Übersetzungen jeweils nach Die Werke in deutscher Übersetzung. Die Zusammenstellung der δικαιοσύνη mit der εὐσέβεια ist vor allem bei Isokrates (Eiren. 34; Panath. 183) und anderen griechischen Autoren zu finden, und die mit der ὁσιότης bei Platon (Ep 11eff). Im Unterschied zum schriftlich aus Deut 6,5 und Lev 19,18 entstammenden Doppelgebot (in Mt 22,34ff; Mk 12,28ff), das als die Summe der Tora zu Philos Zeit in Palästina bekannt war (vgl. auch das Gebot der Nächstenliebe in Schabb. 31a), zeigt die Doppelstruktur der ethischen Vollkommenheitsaussage von der εὐσέβεια bzw. der ὁσιότης und der δικαιοσύνη deutlich einen griechisch-philosophischen Einfluss bei Philo.

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Die Gerechtigkeitsaussagen in jüdischen und intertestamentarischen Schriften

menschliche Zusammenleben wird auch dadurch bestätigt, dass εὐσυνθεσία und κοινωνία bei längeren Tugendlisten oft in direkter Kombination mit der δικαιοσύνη aufgestellt werden (Sacr. 27).15 Nach Philo leiten die Gesetze bzw. Vorschriften die Menschen zu „den gemeinnützigen Tugenden“ – dazu gehört auch die δικαιοσύνη (Spec. Leg. 4,134) – und sie bedienen sich „der Stützen der δικαιοσύνη in Eintracht und Gemeinschaft.“ (Decal. 14). Auf der zwischenmenschlichen Ebene ist die δικαιοσύνη vor allem auf Gerichtshöfe und Richter bezogen (Spec. Leg. 4,136), ihre Rolle ist es, „jedem nach Gebühr (das Seine) zuzuteilen“. (Leg. All. 1,87). Es ist auch nicht zu übersehen, dass sich die Vorstellung der δικαιοσύνη häufig mit dem Begriff ἰσότης verbindet.16 Die ἰσότης ist die Quelle bzw. Mutter der δικαιοσύνη (Spec. Leg. 2,204; 4,231; vgl. Leg. Gaj. 85). Außer dieser eindeutigen Erwähnung zur Beziehung der beiden Begriffe lässt sich die Bindung der δικαιοσύνη an die ἰσότης oftmals in allgemeiner Weise finden (z. B. Vit. Mos. 1,328; Sacr. 27; Her. 161f; Aet. 108). In Bezug auf die Beziehung der δικαιοσύνη zur ἰσότης tritt bei Philo auch die mathematische17 bzw. geometrische18 Auffassung der δικαιοσύνη auf, die in der pythagoreischen Philosophie üblich ist. Allerdings ist dabei bemerkenswert, dass die Erörterungen der δικαιοσύνη in den psychischen, mathematischen bzw. geometrischen Ebenen nicht eine Bedeutung an sich haben oder in Kategorien steckenbleiben, sondern immer in Bezug auf individuell sittliche Lebensführung oder menschliches Zusammenleben ausgeführt werden. Bei Philo sind die Vorväter wie Noah, Abraham und Mose geradezu „Musterbeispiele von Tugendhelden“19 , die widerstreitende Leidenschaften überwunden und gottgefällige Tugenden ausgeübt haben. Unter ihnen ist die Erzählung von Abraham besonders ins Auge zu fassen, um sie mit der paulinischen Auslegung der Abraham-Geschichte zu vergleichen. Philo erwähnt häufig Abrahams πίστις und δικαιοσύνη in Bezug auf die Schriftstelle Gen 15,6.20 Bei Philo ist πίστις überwiegend als eine Tugend dargestellt, die einer rationalen Betätigung bzw. einem menschlichen Nachdenken oder dem Vertrauen auf irgendeine irdische Sache gegenüber das feste und unerschütterliche Vertrauen auf Gott bezeichnet (vgl. Virt. 216; Mut. Nom. 218f; Abr. 262f; Praem. Poen. 29f); sie wird „die sicherste der 15 Vgl. Fiedler, Δικαιοσύνη, 126. 16 Zur Beziehung der δικαιοσύνη mit ἰσότης bei Philo vgl. Goodenough, By Light, Light, 66f. 17 Z. B. „Als älteste der Quadratzahlen gelangt die Zahl beim Rechteck, wie die geometrische Figur zeigt, zur Darstellung; der (rechte Winkel) ist aber die Veranschaulichung der rechten Vernunft, und diese ist die ewige Quelle der Tugenden. … die Gleichheit hat aber die Gerechtigkeit, die Führerin und Leiterin der Tugenden, erzeugt.“ (Plant. 122). Vgl. auch Op. Mund. 51; Congr. 109. 18 Z. B. „Die Geometrie legt in die lernbegierige Seele den Samen der Erkenntnis des Gleichmaßes und des richtigen Verhältnisses und bewirkt durch eine in beständigem Studium erworbene Gewandtheit den Eifer für die Gerechtigkeit.“ (Congr. 16). 19 Z. B. Noah: Praem. 23; Abr. 27; 33. Abraham: Abr. 208; Her. 94f. Mose: Vit. Mos. 1,154,328. 20 Abr. 262ff; Leg. All. 3,228f; Praem. 27–30; Her. 90f; Deus. 4; Mut. Nom. 177; 181f; 186; 218; Virt. 216f.

Die vom griechisch-philosophischen Denken beeinflussten Schriften

Tugenden“ (Virt. 216), „die vollendeste Tugend“ (Her. 91) oder „die Königin der Tugenden“ (Abr. 270) genannt. Für Philo ist es δίκαιος und ἀκόλουθος, sich nicht auf etwas Vergängliches wie Geld, Ruhm, Herrschaft, Freunde usw. zu verlassen, sondern auf Gott zu vertrauen, der in Wahrheit allein vertrauenswürdig ist (vgl. Her. 92f). In diesem Zusammenhang ist πίστις bei der philonischen Auslegung von Gen 15,6 einem gerechten Werk bzw. Handeln gegenüber Gott zuzuordnen (vgl. Her. 95).21 Gerade hierin besteht ein Unterschied zu Paulus, der πίστις im Zusammenhang mit der Frage der Rechtfertigung durch Gott den Werken bzw. den Werken des Gesetzes in antithetischer Weise gegenüberstellt (vgl. Röm 3,27f; 4,2f; 9,30-10,10; Gal 2,16-3,29).22 4.

Josephus

Für Gott verwendet Josephus ganz selten δικαι-Termini, während er sie in Bezug auf Menschen häufig verwendet.23 Das Adjektiv δίκαιος wird insgesamt nur dreimal als Attribut für Gott verwendet, einmal bezüglich der Beschreibung seiner Gerechtigkeit beim Gericht (Ant. 2,108) und zweimal, wo es als eine Aussage über Gott neben ἀληθινός und ἀληθής steht (Ant. 11,55; Bell 7,323). Außerdem verwendet Josephus ein einziges Mal die δικαιοσύνη für Gott in Ant. 11,267, wo von der richterlichen Vergeltung Gottes Amans, der selbst an das von ihm für Mardochai errichtete Kreuz geschlagen wird, spricht: „ὅθεν ἐπέρχεταί μοι τὸ θεῖον θαυμάζειν καὶ τὴν σοφίαν αὐτοῦ καὶ δικαιοσύνην καταμανθάνειν.“ Wie bei Philo ist die δικαιοσύνη bei Josephus überwiegend als Tugend im zwischenmenschlichen Leben beschrieben. In den Werken von Josephus ist jedoch keinerlei pythagoreische oder platonische Erörterung zu finden – wie z. B. die Beziehung mit ἰσότης oder das Verständnis der δικαιοσύνη als einer Harmonie der drei Seelenteile. Die klassischen vier Kardinaltugendlisten sind nicht zu belegen, nicht einmal in einer variierten Form. Josephus stellt nur gelegentlich σωφροσύνη und ἀνδρεία neben die δικαιοσύνη: εὐσέβεια, δικαιοσύνη, ἀνδρεία (Ant. 6.160; adjektivisch: Ant. 7,338); δικαιοσύνη, σωφροσύνη, καρτερία (Ap. 2,170); σωφροσύνη, δικαιοσύνη (Ant. 11,217). Dazu begegnen auch andere verschiedene Tugendlisten in einer unpräzisen Form, z. B. δικαιοσύνη καὶ ἡ ἄλλη ἀρετή (Ant. 4,223); χρηστότης καὶ δικαιοσύνη (Ant. 10,120); σοφία καὶ δικαιοσύνη (Ant. 11,268). Im Vergleich zu Philo, der die typischen griechisch-philosophischen Tugendlisten

21 Vgl. Ziesler, Meaning, 109. 22 Vgl. auch 1Makk 2,52; Jub 14,6. Allerdings ist es bemerkenswert, dass mit der Rezeption der Schriftstelle Gen 15,6 πίστις offensichtlich im Judentum des zweiten Tempels außerhalb der urchristlichen Texte so hoch geschätzt wird. Vgl. S. 102f dieser Arbeit. 23 In Josephus’ Werken kommt das Substantiv δικαιοσύνη 39-mal vor, und das Adjektiv δίκαιος zahlreich. Josephus verwendet sehr häufig auch τὸ δίκαιον im Sinne von δικαιοσύνη.

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verwendet, weicht bei Josephus die Art und Weise der Tugendaufzählungen davon ab. Kennzeichnend jedenfalls ist, dass er in der Regel die δικαιοσύνη (oder τὸ δίκαιον und andere Adjektiv-Formen von δίκαιος) neben einen Begriff stellt, welcher das wesentliche Gottesverhältnis geeignet umschreibt – also z. B. εὐσέβεια24 , ὁσιότης25 oder θρησκεία26 (und die zugehörigen Adjektive parallel zu δίκαιος).27 In derartigen zweigliedrigen Formeln umfasst die δικαιοσύνη, wie bei Philo und anderen griechischen Autoren, allgemein den Bereich der Verpflichtungen gegenüber anderen Menschen. In diesem Sinne ist δικαιοσύνη bei Josephus überwiegend die Tugend des menschlichen Zusammenlebens. Man muss aber beachten, dass bei Josephus die eindeutige Zuordnung von εὐσέβεια (gegenüber Gott) und δικαιοσύνη (gegenüber den Mitmenschen) nicht konsequent durchgehalten wird. εὐσέβεια ist oft als ein Verhalten zu verstehen, das beide Bereiche (den gegenüber Gott und den gegenüber den Mitmenschen) betrifft und daher der Gesamtheit der Aufforderungen Gottes in der Tora entspricht (vgl. Ap. 2,181.188).28 Bei Josephus ist sie nicht mehr lediglich eine der Tugenden, sondern schließt andere Tugenden ein (vgl. Ap. 2,170), daher nimmt sie eine zentrale Position bei der Beschreibung der Lebensordnung des Judentums ein (vgl. Ant. 1,20-21; 4,181-182). Andererseits erstreckt sich die Verwendung der δικαιοσύνη auch nicht ausschließlich auf den Bereich des Verhältnisses der Menschen zueinander, sondern manchmal auch auf den Anspruch Gottes an den Menschen im umfassenden Sinne (vgl. Ant. 10,83; 12,43; 15,375).29 Dementsprechend ist die Aussage der δικαιοσύνη häufig auf die Einhaltung der Gesetze bezogen (Ant. 8,21.120; 12,291; adjektivisch: Ant. 7,130.338.374.384; 8,295). Die δικαιοσύνη ist als Halten des Gesetzes bzw. Tun des Willens Gottes offensichtlich in Bezug auf das Verhältnis zu Gott im jüdischen Leben von zentraler Bedeutung gewesen (vgl. Ant. 1,75.99; 7,374; 8,295).30 Man kann also festhalten, dass der Ansatz zu einer Interpretation des alttestamentlichen Gesetzes auf die griechische Tugendlehre hin von Josephus nicht so sehr vertieft und weiter vorangetrieben worden ist. Vielmehr beruht Josephus‘ entscheidender Vorstoß auf einer theologischen Interpretation der δικαιοσύνη und der Zusammenfassung aller Tugenden unter dem Doppelgebot der εὐσέβεια und

24 εὐσέβεια und δικαιοσύνη: z. B. Ant. 4,265; 8,121.314; 10,50; 12,56; 14,283 (adjektivisch: z. B. Ant. 7,341.356.374; 14,315; auch gemischt, Substantiv und Adjektiv: Ant. 14,42; 15,376). δικαιοσύνη und εὐσέβεια: Ant. 9,16; 15,375; 18,117 (adjektivisch: Ant. 8,280.394; 9,260; 12,43; 15,182). 25 In adjektivischer Form: z. B. Ant. 6,87; 8,245.295; 15,138. 26 Ant. 6,18; 8,120. 27 Vgl. Fiedler, Δικαιοσύνη, 130f. 28 Vgl. Fiedler, Δικαιοσύνη, 131, Anm. 6. 29 Vgl. Fiedler, Δικαιοσύνη, 131, Anm. 6. 30 Vgl. Fiedler, Δικαιοσύνη, 133f.

Die vom griechisch-philosophischen Denken beeinflussten Schriften

δικαιοσύνη, durch die nun auch die Betätigung der δικαιοσύνη unter das Gebot

Gottes gestellt wird. Das Nebeneinander von εὐσέβεια und δικαιοσύνη ist bei Josephus, so gewiss es griechischen Vorbildern entlehnt ist, etwas Neues und Eigenes. Es ist sozusagen eine hellenistisch-jüdische Formel, die die Gesamtforderung des Gottes Israels ausdrückt, und ebenso den Gesamtzustand des Frommen vor Gott beschreibt (vgl. Ant. 7,341.374; 8,295).31 5.

Weisheit Salomos32

In Verbindung mit Gott verwendet der Verfasser der Weisheit Salomos δικαιοσύνη nur zwei Mal. In 5,17-20 schildert der Verfasser Gott als einen gerüsteten Kriegsmann, der mit der Schöpfung bewaffnet ist und damit gegen seine Feinde Vergeltung übt. Dabei wird δικαιοσύνη metaphorisch als Panzer Gottes beschrieben.33 Gott bewahrt die Gerechten (5,16f) und bestraft die drohenden und spottenden Frevler (5,1f). Die ganze Schöpfung bzw. der Kosmos dient ihm als Waffe, die Gottlosigkeit und das Übel zu vernichten (5,22f). In diesem Kontext bezieht sich die δικαιοσύνη eindeutig auf Gottes Vergeltungstätigkeit gegen den Frevler. In 12,16 kommt der Begriff δικαιοσύνη ebenso im Zusammenhang mit dem richterlichen Handeln Gottes vor. Der Verfasser hebt die Unantastbarkeit des Gerichts Gottes durch die sich steigernden rhetorischen Fragen hervor, dass kein König oder Machthaber die Gerechtigkeit Gottes bei seinen Urteilen in Frage stellen kann: Denn wer darf sagen: Was hast du getan? Wer vermag sich deinem Urteilsspruch zu widersetzen? Wer könnte dich anklagen wegen des Untergangs von Völkern, die du selbst geschaffen hast? Wer wollte gegen dich auftreten als Anwalt schuldiger Menschen? Denn es gibt keinen Gott außer dir34 , der für alles Sorge trägt; daher brauchst du nicht zu beweisen, dass du gerecht geurteilt hast. Kein König und kein Herrscher kann dich zur Rede stellen wegen der Menschen, die du gestraft hast. Gerecht, wie du bist, verwaltest du das All gerecht (δίκαιος δὲ ὢν δικαίως τὰ πάντα διέπεις), und hältst es für unvereinbar mit deiner Macht, den zu verurteilen, der keine Strafe verdient. Deine Stärke ist die Grundlage

31 Vgl. Fiedler, Δικαιοσύνη, 132f. 32 Die Frage nach der Einordnung dieser Schrift lässt sich nicht einfach beantworten und ist in der Auslegung umstritten. Obwohl sie inhaltlich stark von alttestamentlichen Gedanken beeinflusst ist, kann sie den hellenistischen Schriften zugeordnet werden, weil die δικαιοσύνη in einer Tugendliste erwähnt und zu den ethischen Tugenden gezählt wird. 33 Vgl. JesLXX 59,17. Der Verfasser bedient sich des Motivs der Rüstung des Kämpfers im Krieg wie in den Jesaja-Texten, außer dem Begriff δικαιοσύνη, formuliert aber dies erneut mit anderen Begriffen, wie κρίσις ἀνυπόκριτος, ὁσιότης und ἀπότομον ὀργή. 34 Die Aussage, „es gibt keinen Gott außer dir“, findet sich in JesLXX 44,6.8; 45,5.6.14.18.21; 46.9. In JesLXX 44–46 sind auch die Gerechtigkeit und Stärke die Leitworte, welche die Souveränität Gottes, des Schöpfers und das gerechte Verwalten Gottes ausdrücken.

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Die Gerechtigkeitsaussagen in jüdischen und intertestamentarischen Schriften

deiner Gerechtigkeit (ἡ γὰρ ἰσχύς σου δικαιοσύνης ἀρχή) und deine Herrschaft über alles lässt dich gegen alles Nachsicht üben (12,12-16).35

Die Verwendungsart der δικαιοσύνη im Sinne einer gerechten Eigenschaft im Gerichtshandeln Gottes ist traditionsgeschichtlich auf das Alte Testament zurückzuführen, in dem sich das Bekenntnis oder der Lobpreis über die Gerechtigkeit Gottes in seinem richterlichen Verhalten häufig belegen lassen. Auffällig sind vor allem die sprachlichen und inhaltlichen Ähnlichkeiten dieser Strophe mit JesLXX  50,8-9. Andererseits aber findet sich zugleich die stoische Auffassung von „das All Verwalten“ Gottes in V 16.36 In Hinsicht auf Röm 8,31-34, wo Paulus Gottes Rechtfertigung an die Auserwählten Gottes aufgrund von Gottes Liebe zu ihnen als eine beschlossene Sache herausstellt, beeindruckt vor allem der juristische Sprachstil der Perikope, der durch rhetorische Fragen (jeweils mit τίς eingeleitet) eine berechtigte Anklage gegen Gottes Urteil ausschließt. Das Thema dieses Abschnitts ist jedoch nicht die Betonung einer Rechtfertigung der Glaubenden durch Gott, wie dies bei Paulus der Fall ist, sondern die Rechtfertigung der strafenden Tätigkeit Gottes durch die Menschen. Im Buch Weisheit Salomos wird der Begriff δικαιοσύνη im menschlichen Kontext häufiger verwendet. Gleich von Beginn an fordert der Verfasser Könige bzw. Richter zur δικαιοσύνη auf37 : „Ἀγαπήσατε δικαιοσύνην, οἱ κρίνοντες τὴν γῆν, φρονήσατε περὶ τοῦ κυρίου ἐν ἀγαθότητι καὶ ἐν ἁπλότητι καρδίας ζητήσατε αὐτόν.“ Diese Aufforderung hat den verwendeten Ausdrücken zufolge ihren Ursprung im Alten Testament und zwar in 1ChrLXX 28,9 und 29,17.38 Der Verfasser kombiniert die beiden Stellen und formuliert den Satz neu im Imperativ. In 9,3 wird δικαιοσύνη nochmals als eine Tugend mit ὁσιότης erwähnt, welche die Herrscher der Welt achten sollen. Sie nimmt im Satz einen deutlichen Bezug auf die Aufrichtigkeit (εὐθύτης) im richterlichen Verhalten. Auch hier verknüpft der Verfasser in eigener Weise die Begriffe im Alten Testament, die ursprünglich in GenLXX 1,26.28; 1KönLXX 3,6.9; 9,4 stehen39 , und bringt zum Ausdruck, dass nach Gottes Willen die Herrscher der Welt Gottes Geschöpfe in Gerechtigkeit und Heiligkeit (ἐν ὁσιότητι καὶ δικαιοσύνῃ) verwalten sollen. Diese Forderung der Gerechtigkeit an die Könige bzw. Herrscher der Welt spielt von der Sprache und vom Inhalt her auf die

35 Übers. jeweils nach EÜ. 36 Vgl. Engel, Das Buch der Weisheit, 207. 37 Im ersten Abschnitt in Kapitel 1 wird die δικαιοσύνη terminologisch den Begriffen ἁμαρτία (V 4), ἀδικία (V 5) und ἀνόμημα (V 9) gegenübergestellt. Die δικαιοσύνη in 1,1 umfasst also die Lebenshaltung bzw. Tugend des Gerechten, die der Verhaltensweise des Gottlosen entgegengesetzt ist. 38 Die Redewendung von ἀγαπάειν δικαιοσύνην und ἐν ἁπλότητι καρδίας findet sich in Davids Gebet in 1ChrLXX 29,17 und ζητήσῃς αὐτόν in 1ChrLXX 28,9. Vgl. auch ἀγαπάειν κρίσιν in PsLXX  98,4. 39 Vgl. Engel, Das Buch der Weisheit,150f.

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Beschreibung des Idealkönigtums im Alten Testament an, insbesondere auf das Verhalten des in der jüdischen Tradition für einen idealen König gehaltenen Davids (vgl. 1KönLXX 3,6; 9,4). Der Ausdruck ἀγαπάειν δικαιοσύνην findet sich wieder in 8,7 unter der Aufzählung der Kardinaltugenden in der Lobrede auf die Weisheit (σοφία)40 Ist Reichtum begehrenswerter Besitz im Leben, was ist dann reicher als die Weisheit, die in allem wirkt? Wenn Klugheit wirksam ist, wer in aller Welt ist ein größerer Meister als sie? Wenn jemand Gerechtigkeit liebt, in ihren Mühen findet er die Tugenden. Denn sie lehrt Maß und Klugheit, Gerechtigkeit und Tapferkeit (σωφροσύνην γὰρ καὶ φρόνησιν ἐκδιδάσκει, δικαιοσύνην καὶ ἀνδρείαν), die Tugenden, die im Leben der Menschen nützlicher sind als alles andere. (Weis 8,5-7)

Die Erwähnung der vier Kardinaltugenden zeigt, dass der Verfasser der Weisheit Salomos mit dem damaligen verbreiteten griechisch-philosophischen Verständnis der δικαιοσύνη gut vertraut war. Eine andere griechisch klingende Aussage über δικαιοσύνη ist in 1,15 zu finden: „δικαιοσύνη γὰρ ἀθάνατός ἐστιν.“41 Allerdings stehen, so wie in 1,1 und 9,3 bereits betrachtet, in den übrigen Belegen die Aussagen über die δικαιοσύνη in Ausdrucksweise und Inhalt dem Alten Testament nah. In 5,6 wird δικαιοσύνη nicht im Sinne der Tugend, sondern in der Bedeutung des Heils verwendet: „ἄρα ἐπλανήθημεν ἀπὸ ὁδοῦ ἀληθείας, καὶ τὸ τῆς δικαιοσύνης φῶς οὐκ ἐπέλαμψεν ἡμῖν, καὶ ὁ ἥλιος οὐκ ἀνέτειλεν ἡμῖν.“ In Anlehnung an MalLXX  3,20 und PsLXX 36,6 bringt der Verfasser in einer Bildsprache von Licht und Sonne das Schicksal des Frevlers zum Ausdruck.42 In 14,7 ist ein interessanter Beleg zu finden, in dem vom Segen des Holzes die Rede ist, durch welches δικαιοσύνη gewirkt wird. Im Rahmen des Gottesglaubens bezeichnet die δικαιοσύνη dabei den guten bzw. richtigen Zweck eines Gegenstands wie Holz; ihr steht der Terminus ἀσέβεια in 14,9 gegenüber, der sich auf die menschliche Produktion von Götzenbildern und die Verehrung von Götzen bezieht. Den letzten Beleg von δικαιοσύνη in Bezug auf Menschen hat man in 15,3 vor sich, wo sie zusammenfassend definiert wird: „ὸ γὰρ ἐπίστασθαί σε ὁλόκληρος δικαιοσύνη,

40 Die Feststellung, dass alle Tugenden aus der göttlichen Weisheit entstammen, ist ein typischer Gedanke im hellenistischen Judentum, das von der griechischen Philosophie geprägt wurde. Vgl. Philo, Leg. All. 1,63f; Post. 127f; 4Makk 1,18. 41 In der LXX ist der Terminus nur an der Stelle in der Weisheit Salomos und in 4Makk 7,3; 14,6; 18,23; Sir 17,30 zu belegen. 42 Vgl. MalLXX  3,20; auch die Verbindung der δικαιοσύνη mit Lichttermini in PsLXX  36,6; HosLXX  10,12; MiLXX 7,9; JesLXX 26,9; 42,6; 51,5; 58,8; 59,9; 62,1; Bar 5,9. Die Wendung „ὁδός“ als Metapher für Lebensführung und die Verbindung der δικαιοσύνη mit der Lichtmetapher an dieser Stelle ist im Alten Testament häufig zu finden. Dazu vgl. S. 107 der vorliegenden Arbei.

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καὶ εἰδέναι σου τὸ κράτος ῥίζα ἀθανασίας.“ Hierbei kann man eine Kombination

der alttestamentlichen und griechischen Vorstellungen in der Weisheit Salomos gut erkennen (vgl. JerLXX 2,843 ).

43 Die Betonung der Erkenntnis Gottes findet sich im Alten Testament auch in SprLXX  9,10; JesLXX  11,9; JerLXX  9,24. Das Verb ἐπίσταμαι wird jedoch nur in JerLXX 2,8 verwendet, wobei es ebenfalls um Götzenverehrung geht.

Die vor israelitisch-jüdischem Hintergrund stehenden Schriften

B.

Die vor israelitisch-jüdischem Hintergrund stehenden Schriften

1.

Das äthiopische Henochbuch

Im äthiopischen Henochbuch wird der Begriff Gerechtigkeit nicht selten in Bezug auf Gott verwendet, so in 22,14; 50,4; 90,40; 101,3; 108,13. In diesen betreffenden Belegstellen bezieht sich Gottes Gerechtigkeit in deutlicher Weise auf sein richtendes Handeln gegen die Frevler im kommenden Endgericht. Gott verleiht denjenigen, die gute Taten vollbringen, Herrlichkeit und Ehre, aber er bestraft diejenigen, die Böses tun und nicht zu ihm umkehren. Von dieser vergeltenden Gerechtigkeit Gottes ist besonders anschaulich in 50,4 die Rede: „Und er ist gerecht in seinem Gericht und Herrlichkeit (ist) vor ihm, und Ungerechtigkeit besteht nicht in seinem Gericht.“44 Ein weiterer Beleg findet sich in 101,1-3 und im Hinblick auf den Textzusammenhang ist die Aussage von Gottes Gerechtigkeit eindeutig in Verbindung zu Gottes Zorn gesetzt, welchem die Frevler aufgrund ihrer Werke anheimfallen. Von Gottes Gerechtigkeit im Sinne einer heilschaffenden Macht bzw. von Gottes Heilshandeln ist hier also gar keine Rede.45 Dies gilt in gleicher Weise für alle übrigen Belegstellen. Über die genannten Belege hinaus finden sich auch noch solche, in denen der Begriff Gerechtigkeit auf den Menschensohn bezogen ist.46 Der Begriff Menschensohn wird im Henochbuch als messianischer Titel verwendet. Der Menschensohn vollzieht stellvertretend für Gott das Gericht. Nach 71,14 ist der Menschensohn „in Gerechtigkeit geboren“ und „die Gerechtigkeit des Hauptes verlässt ihn nie“.47 Er soll den Weg für die Gerechten, die ihr Leben am Willen Gottes ausrichten, ebnen und ihnen Heil schaffen (vgl. auch 48,2f). Diese Sachverhalte werden in 46,3-8 ausdrücklich erklärt: Dies ist der Menschensohn, der die Gerechtigkeit hat und bei dem die Gerechtigkeit wohnt, der alle Schätze des Verborgenen offenbart, denn der Herr der Geister hat ihn erwählt, und sein Los ist unübertrefflich durch die Gerechtigkeit vor dem Herrn der Geister in Ewigkeit. Und dieser Menschensohn, den du gesehen hast, wird die Könige

44 Übers. jeweils nach Uhlig, Das äthiopische Henochbuch. 45 So auch Irons, Righteousness, 221. Gegen Stuhlmacher, Gerechtigkeit Gottes, 168. 46 Die sich auf die Gerechtigkeit des Menschensohnes beziehenden Belege ordne ich den Belegen für Gottes Gerechtigkeit zu, da der Titel Menschensohn im Henochbuch eine messianische Richtergestalt bezeichnet und der Menschensohn die Gerichtsbarkeit Gottes ausübt. 47 Vgl. auch 62,3. In 71,14 wird Henoch selbst Menschensohn genannt, aber es ist erkennbar, dass es zwischen der Beschreibung Henochs als Menschensohn und der Beschreibung in Bezug auf die messianisch richtende Rolle des Menschensohnes an anderen Stellen keinen Unterschied gibt.

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und die Mächtigen hochreißen von ihren Ruhelagern und die Starken von ihren Thronen, er wird die Zügel der Starken lösen und die Zähne der Sünder zerschlagen.

Der Menschensohn wurde vom Herrn der Geister erwählt, um die Könige und die Mächtigen, die hochmütig Gott zuwiderhandeln, zu richten. Er verschafft den Frommen also dadurch Ruhe und Heil, dass er die sie unterdrückenden Mächte bestraft (vgl. auch 51,3f; 52,1f; 53,1f; 61,1f u. a.). Diese Darstellung des Menschensohnes im Henochbuch entspricht den Bildern des idealen Königs und des endzeitlichen Messias im Alten Testament.48 Auf der Seite des Menschen ist häufig vom Gerechten die Rede. Der Fokus liegt auf seinem vorbildlichen Verhalten und darauf, wie dieser im Gericht für seine Taten im Unterschied zum Frevler belohnt wird. Bereits anhand dieser häufig begegnenden Gegenüberstellung von Gerechtem und Frevler wird deutlich, dass sich das Henochbuch mit seiner Gerechtigkeitsvorstellung in die alttestamentlich-jüdische Traditionslinie einreiht. Der Gerechtigkeitsbegriff wird in diesem Zusammenhang als ethische Qualität des Menschen verwendet. Henoch selbst hat diese Gerechtigkeit (1,2). Der Verfasser des Henochbuchs verwendet die verschiedenen Genitivkonstruktionen wie etwa „die Pflanze der Gerechtigkeit“ (10,16; 93,2.5.10), „das Geschlecht der Gerechtigkeit“ bzw. „die Kinder der Gerechtigkeit“ (91,3; 93,2), um damit bestimmte Menschengruppen zu beschreiben, die an anderen Stellen des Buchs als Gerechte, Heilige oder Auserwählte bezeichnet werden. Diese Gerechten werden im eschatischen Gericht Herrlichkeit und Heil von Gott erlangen. Im Henochbuch bezieht sich der Gerechtigkeitsbegriff häufig auf die ethische Forderung eines gerechten Lebenswandels. Dabei begegnet sehr häufig die Wegmetapher,49 beispielweise in 99,10:50 Aber in jenen Tagen werden all die glücklich (sein), die die Weisheitsrede annehmen und sie verstehen und die Wege des Höchsten befolgen und wandeln auf dem Weg seiner Gerechtigkeit und die nicht frevelhaft werden mit denen, die frevelhaft sind, denn sie werden gerettet werden.

Von Stuhlmacher wird dieser Text als Beleg für die Rede von göttlicher Gerechtigkeit angeführt. Der Begriff Gerechtigkeit wird von ihm als „der Recht stiftende Machterweis des Schöpfers“ verstanden.51 Aus dem näheren Kontext lässt sich er48 Vgl. Fiedler, Δικαιοσύνη, 135. 49 Neben der Wegmetapher finden sich andere Genitivkonstruktionen, die den Begriff der Gerechtigkeit im Genitiv aufweisen: „Wort der Gerechtigkeit“ (13,10; 14,1); „Geheimnisse der Gerechtigkeit“ (58,5; 71,3); „Garten der Gerechtigkeit“ (32,3); „Quelle der Gerechtigkeit“ (48,1). 50 Vgl. auch 91,3-4; 18; 92,3; 94,1. 51 Vgl. Stuhlmacher, Gerechtigkeit Gottes, 169.

Die vor israelitisch-jüdischem Hintergrund stehenden Schriften

kennen, dass der Ausdruck „Weg seiner Gerechtigkeit“ offenbar nicht im Sinne eines Machterweises Gottes zu verstehen ist. Stattdessen handelt es sich wie bei den oben angeführten Aussagen über den Weg der Gerechtigkeit um eine Bezeichnung für den gerechten Lebenswandel des Menschen. Der Begriff Gerechtigkeit bezeichnet nicht die Eigenschaft Gottes, sondern die von Gott geforderte Gerechtigkeit.52 2.

Tobit53

Von der Gerechtigkeit Gottes wird in Tobit nur einmal, nämlich in 13,7, gesprochen: „καὶ θεάσασθε ἃ ποιήσει μεθ᾿ ὑμῶν, καὶ ἐξομολογήσασθε αὐτῷ ἐν ὅλῳ τῷ στόματι ὑμῶν· καὶ εὐλογήσατε τὸν κύριον τῆς δικαιοσύνης καὶ ὑψώσατε τὸν βασιλέα τῶν αἰώνων.“54 In seinem Dankgebet fordert Tobit dazu auf, Gott, der Gerechtigkeit erweist und über die Welt herrscht, zu preisen. An dieser Stelle beschreibt δικαιοσύνη als Genitivattribut die Eigenschaft Gottes, sein Gerechtsein (gen. quali.).55 Der Kontext macht deutlich, dass es um die Handlungsweise Gottes geht; um die Frage, wie Gott sich gegenüber den Menschen verhält. Gott wendet sich dem zu, der zu ihm umkehrt und Gutes tut, und erbarmt sich seiner (V 6.8). Wer sich aber von Gott abwendet und in Ungerechtigkeit handelt, den richtet er. In diesem Kontext liegt kein Anlass dafür vor, das Genitivattribut δικαιοσύνης im Sinne der Bundestreue zu deuten. Vielmehr ist δικαιοσύνη hier in einem allgemeinen Sinne als in seinem Handeln sich erweisende Wesensbestimmung Gottes zu verstehen.56 An anderen Belegstellen dient der Begriff δικαιοσύνη dazu, die gerechte Lebensführung des Menschen zu beschreiben. Im Sinne einer ethischen Kategorie umfasst der Begriff hier dasjenige, was Gottes Willen entspricht und von der Tora gefordert wird. Gleich zu Beginn, in 1,3, sagt Tobit, dass er selbst lebenslang auf den Wegen der Wahrheit und Gerechtigkeit gewandelt ist (ὁδοῖς ἀληθείας ἐπορευόμην καὶ δικαιοσύνης). Damit wird sein gerechter Lebenswandel insgesamt zusammengefasst.57 Im Folgenden wird das Almosen (ἐλεημοσύνη) als vorzügliches Beispiel für gerechten und frommen Lebenswandel angeführt. Später fordert Tobit auch sein

52 So auch Irons, Righteousness, 220f. 53 Das wahrscheinlich ursprünglich auf Hebräisch oder Aramäisch verfasste Tobitbuch ist nur in Griechisch vollständig erhalten. Nach der Göttinger Tobit-Ausgabe liegen zwei verschiedene vollständigen griechische Rezensionen vor, eine kurze GI und eine längere GII. Belege für den Begriff δικαιοσύνη finden sich in GI 11-mal und in GII 8-mal; verbindet man aber beide Varianten zu einem Text, so bleiben 13 Belege (vgl. Irons, Righteousness, 209). Diese Belege zeigen eindeutig, dass sowohl hinsichtlich der Ausdrucksweise als auch des Inhalts die Vorstellungen über δικαιοσύνη im Buch Tobit vom Alten Testament abhängig sind. 54 In GII sind die V 6-10 ausgefallen. 55 Die Formulierung ὁ κύριος τῆς δικαιοσύνης findet sich auch in PsLXX 16,1 und Ode 11,19. 56 So auch Irons, Righteousness, 210. 57 Vgl. Ziesler, Meaning, 77f.

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Kind Tobias auf, das ganze Leben hindurch Gerechtigkeit zu üben (δικαιοσύνην ποίει πάσας τὰς ἡμέρας τῆς ζωῆς σου: 4,5). Interessant ist dabei, dass das Üben der Gerechtigkeit hier nochmals mit der konkreten Tat des Almosengebens verbunden ist (4,7f; vgl. auch 12,9). Die in Tobit häufig vorkommende Formel ποιεῖν (τὴν) δικαιοσύνην erinnert uns an den alttestamentlichen Hintergrund (4,5; 12,9; 13,8; 14,8-9).58 Zusammenfassend lassen sich die Mahnrede, sich nicht von Gott abzukehren, sowie die Aufforderung, Gerechtigkeit zu üben, als die zentralen Themen des Tobitbuchs ausmachen. Für Letztere tritt die Praxis des Almosengebens als besonders anschauliches Beispiel hervor. 3.

Jesus Sirach

In Bezug auf Gott wird δικαιοσύνη nur einmal verwendet; in 16,22 findet sich die Wendung „die Werke der Gerechtigkeit Gottes verkünden“, die auch an verschiedenen Stellen im Alten Testament, besonders in den Psalmen, häufig begegnet.59 Nach dem näheren Kontext handelt es sich dabei um die Taten Gottes, der die Frevler richtet. Ein unvernünftiger Mensch denkt, dass seine frevelhaften Taten Gottes Blick entzogen sind und in keinem Zusammenhang stehen mit seinem Gericht (V 17). Mit einem Blick auf die Geschichte Israels weist der Verfasser jedoch darauf hin, dass Gottes Gericht sehr wohl immer gemäß den Taten der Menschen vollstreckt worden ist (V 5f). Ein vernünftiger Mensch zeichnet sich somit dadurch aus, dass er Gott fürchtet und seine Gebote beachtet. Aufgrund des eben beobachteten Kontextes wird deutlich, dass der Ausdruck ἔργα δικαιοσύνης in V 22 die richtenden Taten Gottes meint.60 Im Buch Jesus Sirach lässt sich der alttestamentliche Einfluss bei Sprachgebrauch und Inhalt des Begriffs δικαιοσύνη auch im Kontext des Bezugs auf den Menschen erkennen.61 Dieser alttestamentliche Einfluss wird sichtbar an der Wendung ἐπανάγων ἀπὸ δικαιοσύνης ἐπὶ ἁμαρτίαν in 26,28. Im Alten Testament kommt die Gegenüberstellung der δικαιοσύνη und ihres Gegensatzes ἁμαρτία sowie das ihnen folgende Schicksal häufig vor. Dadurch wird die gottgefällige und fromme Lebensführung gefordert.62 Die Wendung ἐπανάγων ἀπὸ δικαιοσύνης ἐπὶ ἁμαρτίαν bringt gerade das umgekehrte sündhafte Leben zum Ausdruck. Der Begriff δικαιοσύνη kann in diesem Kontext als ethische Kategorie verstanden werden, die die richtige und gottgefällige Lebensausrichtung bezeichnet. In 44,10 ist die

58 59 60 61 62

Dazu vgl. S. 105f der vorliegenden Arbeit. Vgl. PsLXX 21,32; 49,6; 50,16; 96,6; 144,4 (vgl. auch JesLXX 38,19; 45,19). So auch Irons, Righteousness, 211f. Vgl. Fiedler, Δικαιοσύνη, 134. Vgl. etwa. SprLXX 13,6; 14,34; EzLXX 3,20; 18,24; 33.14.16; DanLXX 9,13.

Die vor israelitisch-jüdischem Hintergrund stehenden Schriften

Pluralform δικαιοσύναι belegt, welche auf die guten Taten der frommen Erzväter der Israeliten verweist. In diesem Kontext kann man aber nicht klar erfassen, welche Taten damit gemeint sind. Im Folgenden wird dementsprechend Segen an Fromme und ihre Nachkommen ausgesprochen, dass die gerechten Taten nie vergessen werden und ihre Nachkommen gesegnet werden. Offenkundig ist dabei die Anspielung auf Ps 111/112. Der Verfasser des Jesus Sirach gestaltet jedoch die Sätze frei und nimmt nur zentrale Gedanken aus Ps 111/112 auf. Im letzten Beleg 45,26 geht es um die Beschreibung der Priesteramtsführung von Pinchas, der vom Verfasser als ein Vorbild für das zeitgenössische Priestertum eingeführt wird63 : „Er möge euch Weisheit in euer Herz geben, um sein Volk zu richten in Gerechtigkeit (κρίνειν τὸν λαὸν αὐτοῦ ἐν δικαιοσύνῃ), damit nicht zerstört werden ihre Güter, und (er möge geben) ihre Ehre auf (alle) ihre Nachkommen.“ Der hier verwendete Ausdruck ἐν δικαιοσύνῃ ist eine typische alttestamentliche Formel64 und bestimmt die Grundlage der Gerichtsbarkeit des Pinchas. 4.

Jubiläen65

Im Jubiläenbuch wird der Begriff Gerechtigkeit wie im Alten Testament häufig auf Gott bezogen gebraucht. Er charakterisiert Gottes Verhaltensweise, sein Wesen im Rahmen seiner Beziehung zu den Erzvätern Israels, nämlich wie sich Gott ihnen gegenüber verhält. In diesem Sinne erscheint der Begriff Gerechtigkeit erstmals in 1,25, wo das Wort Gottes an Mose ergeht: Und sie alle werden genannt werden Kinder des lebendigen Gottes. Und es werden sie kennen alle Engel und alle Geister. Und sie sollen sie kennen, dass sie meine Kinder sind und ich ihr Vater in Rechtschaffenheit und Gerechtigkeit und dass ich sie liebe.

Und auch im Segensspruch Abrahams über Jakob in 22,15 kennzeichnet der Begriff Gerechtigkeit mit dem der Wahrheit die grundlegende Eigenschaft Gottes, gemäß welcher er den Nachkommen Abrahams gegenüber gerecht handelt. In 31,25 dankt Isaak dem Gott seines Vaters Abraham, dass „er sein Erbarmen und seine Gerechtigkeit nicht aufhören ließ“. Auch im Segensspruch Rebekkas über Jakob heißt Gott

63 Vgl. Zapff, Sirach, 334. 64 Vgl. dazu S. 106 dieser Arbeit. 65 Das Jubiläenbuch ist eine jüdische Schrift, die vermutlich in vorhasmonäischer Zeit (vermutlich frühes 2. oder sogar bis ins 3. Jahrhundert v. Chr.) ursprünglich auf Hebräisch abgefasst wurde. Der ursprüngliche Titel, unter dem das Jubiläenbuch in der Damaskusschrift (CD 16,3) zitiert wird, lautet „Buch der Einteilungen der Zeiten nach ihren Jubiläen und ihren Jahrwochen“. Das Buch ist als vollständiges allein in der äthiopischen Textüberlieferung erhalten. Die folgende Untersuchung stützt sich auf die deutsche Übersetzung von Berger, Jubiläen.

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„Gott der Gerechtigkeit“ (25,21; vgl. „Herr der Gerechtigkeit“ in 25,15). Was die Gerechtigkeit Gottes konkret bedeutet, ist aber in den bisher betrachteten Stellen nicht präzise ausgesprochen, sondern nur in einem allgemeinen, breiten Sinne gefasst. Immerhin ist hier schon festzustellen, dass die Gerechtigkeit Gottes nicht einfach einseitig verengt als seine „Bundestreue“66 oder sein „Heil“67 verstanden werden kann. Außer in diesen angeführten Belegen, die von Gottes Gerechtigkeit im umfassenden Sinne sprechen, begegnet die Aussage von der Gerechtigkeit Gottes im Jubiläenbuch kennzeichnenderweise häufig im Kontext des Gerichts. Dabei wird Gott als gerechter Richter vorgestellt, der strikt unparteiisch und unbestechlich richtet: In Bezug auf alle: Er wird den Großen gemäß seiner Größe und den Kleinen gemäß seiner Kleinheit und jeden einzelnen gemäß seinem Weg richten. Und er ist nicht einer, der die Person beachtet. Und er ist nicht einer, der ein Bestechungsgeschenk annimmt,68 wenn er sagt, er werde Gericht halten über jeden einzelnen. Wenn einer alles gibt, was auf der Erde ist – er beachtet nicht die Person. Und er nimmt nichts an von ihm, denn er ist ein gerechter Richter (5,15-16).69

Hierbei bezieht sich das Gerechtsein Gottes eindeutig auf die Unparteilichkeit bzw. Richtigkeit in seinem richterlichen Handeln. Gott sieht die Person nicht an und urteilt über Menschen gerecht und bestraft Übertretungen des Menschen (vgl. 21,4). Es gibt mit 1,15 noch einen weiteren Beleg für die Rede von der Gerechtigkeit Gottes. Es ist aber offenbar schwer zu beurteilen, was genau hier mit Gerechtigkeit gemeint ist. Der Text lautet: Und danach werden sie sich zu mir wenden aus der Mitte der Völker mit ihrem ganzen Herzen und mit ihrer ganzen Seele und mit all ihrer Kraft. Und ich werde sie zurückführen aus allen Völkern. Und sie werden mich suchen, damit ich von ihnen gefunden werde, wenn sie mich suchen mit ganzem Herzen und mit ganzer Seele. Und ich werde ihnen offenbaren viel Heil in Gerechtigkeit.

Im vorliegenden Kontext ist der Begriff Gerechtigkeit unmittelbar mit dem des Heils verbunden. Davon ausgehend verstehen einige Ausleger die Rede von Gottes 66 67 68 69

Stuhlmacher, Gerechtigkeit Gottes, 166. Fiedler, Δικαιοσύνη, 136. Vgl. Dtn 10,17; 2Chr 19,7. Im näheren Kontext 5,10 wird explizit vom „Tag des großen Gerichts“ gesprochen, in dem Gott die sündigen Menschen richtet. Vgl. auch „Tag des Zornes und des Grimms“ (24,28); „Tag des Zornes des Gerichts“ (24,30).

Die vor israelitisch-jüdischem Hintergrund stehenden Schriften

Gerechtigkeit hier als Heil oder Bundestreue Gottes im ausschließlich positiven Sinne.70 Es ist jedoch nicht einsichtig, dass aus der Bindung der Gerechtigkeit an das Heil in 1,15 ein Verständnis dieser Gerechtigkeit als einer heilschaffenden Macht bzw. als eines heilschaffenden Rechts Gottes folgen muss. Für ein schlüssigeres Verständnis ist es wichtig zu beachten, dass die Umkehr Israels zu Gott als Voraussetzung des Heils mit der Rede von der Gerechtigkeit Gottes in Beziehung gesetzt ist (vgl. 1,15; 5,17-18). Hier ist also nicht von Gottes Gerechtigkeit die Rede, die voraussetzungslos den sündigen Menschen einfach Heil schafft. Vielmehr geht es um ein grundlegendes Attribut Gottes, nämlich, dass er sich gegenüber seinem Volk in Entsprechung zu seiner Gerechtigkeit verhält. Darüber hinaus ist im Auge zu behalten, auf welche Weise die Gerechtigkeit Gottes im Zusammenhang mit der Rettung Israels zur Sprache kommt. Das Heilshandeln Gottes an Israel wird vollstreckt, indem er die heidnischen Völker, die Israel gefangen genommen und unterdrückt haben, bestraft. Insgesamt handelt es sich den Belegen im Jubiläenbuch zufolge bei der Gerechtigkeit Gottes um seine Eigenschaft, die in seinem strafenden und rettenden Handeln sichtbar wird. Demnach kann der Begriff der Gerechtigkeit Gottes nicht einfach auf seine Bundestreue oder sein eschatisches Heil reduziert werden. Auch im menschlichen Kontext zeigt die Aussage über die Gerechtigkeit die alttestamentliche Prägung in Sprachgebrauch und Inhalt. Einer der typisch alttestamentlichen Ausdrücke „Gerechtigkeit tun“ kommt oftmals vor: 7,20; 22,10; 30,18.20.23; 36,16. Bei dem Ausdruck „Recht und Gerechtigkeit tun“ in 7,34; 20,2.9; 36,3 ist deutlich zu erkennen, dass hierfür der hebräische Parallelbegriff ‫עשׂה‬ ‫ צדקה‬im Hintergrund steht. Inhaltlich verbindet sich das Tun der Gerechtigkeit mit der „Bewahrung auf dem Wege Gottes“ (20,2)71 und der „Ausübung des Willens Gottes“ (22,10). Das Tun der Gerechtigkeit wird im Segen der Erzväter häufig als Befehl geäußert, den ihre Kinder bewahren sollen (vgl. 7,20.34; 20.2.9; 36,3.16). Ins Auge sticht auch die auf den hebräischen Originalausdruck ‫ בצדקה‬zurückzuführende alttestamentliche Formel „in Gerechtigkeit“, die verschiedene Handlungen des Menschen adverbial näher bestimmt; so redet der Verfasser des Jubiläenbuches von „sich bekehren in Gerechtigkeit“ (5,17); „in Gerechtigkeit wandeln“ (7,26); „in Gerechtigkeit erlassen“ (7,37); „das Wort des Herrn in Gerechtigkeit sagen und Rechtsentscheide in Gerechtigkeit richten“ (31,15); „in Gerechtigkeit dienen“ (36,6) und „in Barmherzigkeit und in Gerechtigkeit lieben“ (36,8). Mittels dieser Wendungen fordert der Verfasser seine Leser zu einem gottgefälligen Lebenswandel auf. So steht insgesamt im Jubiläenbuch der Aspekt des Begriffs Gerechtigkeit als einer ethischen Tugend sehr stark im Vordergrund.

70 Vgl. Stuhlmacher, Gerechtigkeit Gottes, 166; Fiedler, Δικαιοσύνη, 136. 71 Diese Verbindung spielt auf Gen 18,19 an.

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Der Begriff Gerechtigkeit im Jubiläenbuch bezieht sich auch auf eine bestimmte gerechte Tat. In 30,17.23 wird die vergeltende Tat gegenüber dem Missbrauch der Tochter Jakobs durch die Sichemiten als Gerechtigkeit bezeichnet und in 31,23 Isaaks Verhalten gegenüber den Kindern Jakobs. Zu beachten ist die Aussage, dass diese Rache Levis und der Söhne Jakobs an den Sichemiten zur Gerechtigkeit und zum Segen aufgeschrieben wurde. Interessant ist hier ferner, dass diese Vergeltungstat als Eifer bezeichnet wird. Dies ist für uns hinsichtlich der paulinischen Verwendung des Terminus ζῆλος von Belang, da er die Verfolgung der Christen durch ihn und weiterhin durch andere Juden als solch einen Eifer bzw. als ein Aufrichten der Gerechtigkeit bezeichnet. Nach seiner Begegnung mit Christus hält er dies jedoch nicht mehr für eine rechte, gottgefällige Form des Eifers, sondern für eine feindliche Handlung gegen Gott bzw. Christus (vgl. Röm 10,2; Gal 1,14; Phil 3,6). Im Jubiläenbuch finden sich auch verschiedene metaphorische Redewendungen, in denen der Begriff der Gerechtigkeit im Genitiv verwendet wird und die im Alten Testament ihre Wurzeln haben: „Weg der Gerechtigkeit“ (1,20; 23,26; 25,15); „Samen der Gerechtigkeit“ (22,11; vgl. auch „Nachkommenschaft der Gerechtigkeit“: 25,3); „Pflanze der Gerechtigkeit“ (1,16; 16,26; 21,24; 36,6; vgl. auch 7,34)72 . Der Ausdruck „Weg der Gerechtigkeit“ beschreibt die Lebensweise der Frommen, die die göttlichen Weisungen beachten; die anderen Wendungen „Samen der Gerechtigkeit“, „Nachkommenschaft der Gerechtigkeit“ und „Pflanze der Gerechtigkeit“ bezeichnen die frommen Menschen, die den gottgefälligen Lebenswandel führen. In Hinsicht auf den Sprachgebrauch von δικαιοσύνη bei Paulus müssen diese Ausdrucksweisen beachtet werden, obwohl sie selbst nicht bei Paulus vorkommen, da eine mit ihnen vergleichbare Verwendung der δικαιοσύνη bei Paulus durchaus zu finden ist. δικαιοσύνη ist für Paulus der zentrale Begriff, mit dem er die in Christus neu gewonnene Identität der Christen bzw. ihre Lebensweise beschreibt (vgl. Röm 6,13.18-20; 2Kor 5,24; 6,7.14). Die Bezeichnung Gerechtigkeit, welche im Jubiläenbuch in Bezug auf die Identität der jüdischen Frommen verwendet wird, gebraucht Paulus jedoch in universaler Weise für die Christen, sowohl für Juden als auch Nichtjuden. 5.

Das 1. Makkabäerbuch

Im 1. Makkabäerbuch kommt die δικαιοσύνη nur dreimal vor, und die Aussagen über δικαιοσύνη spielen eindeutig auf das Alte Testament an. Vor allem findet sich

72 Vgl. γενεαὶ δικαιοσύνης, φύτευμα κυρίου in JesLXX 61,3. Außerdem begegnet im Alten Testament häufig die metaphorische Vorstellung, dass Gott Israel als einen Baum pflanzt (wie etwa JesLXX 5,1f; JerLXX 2,21; 11,16-17; EzLXX 17,1-10.22-24).

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der typisch alttestamentliche Kombinationsausdruck δικαιοσύνη καὶ κρίμα und δικαιοσύνη καὶ πίστις jeweils in 1Makk 2,29 und 14,35. In 1Makk 2,49-68 ist das Testament beschrieben, welches der sterbende Matthatias seinen Söhnen, den Makkabäern, hinterlässt. Am Anfang des Testaments fordert er seine Söhne auf, für das Gesetz zu eifern und sich unter Einsatz des Lebens daran zu halten. Und anschließend erwähnt er die Werke jener Väter, welche an ihrer Gottestreue bzw. Gesetzestreue festhielten und dadurch von Gott gesegnet wurden und Errettung erfuhren. In dieser Aufzählung der Werke der Väter kommt die Bewährung Abrahams in der Versuchung in Gen 22 an erster Stelle vor: Jetzt, Kinder, eifert für das Gesetz und gebt euer Leben hin für den Bund unserer Väter! Gedenkt der Taten unserer Väter, die sie in ihren Zeiten vollbrachten, und erlangt großen Ruhm und einen ewigen Namen! Wurde Abraham nicht in der Versuchung als treu befunden, und wurde es ihm nicht zur Gerechtigkeit angerechnet (Αβρααμ οὐχὶ ἐν πειρασμῷ73 εὑρέθη πιστός, καὶ ἐλογίσθη αὐτῷ εἰς δικαιοσύνην)?74 (2,50-52)

Der Verfasser greift die Preisgabe Isaaks durch Abraham in Gen 22 als Vorbild für den Gesetzeseifer auf und paraphrasiert es ganz knapp. Die Formulierung Αβρααμ ἐν πειρασμῷ εὑρέθη πιστός umfasst inhaltlich die Versuchung Abrahams, seinen Gehorsam und sogar die Bewertung Gottes (vgl. Gen 22,12.18). Der Satz ist insgesamt vom passiven εὑρέθη πιστός her als Urteil Gottes über das gehorsame Verhalten Abrahams zu verstehen. Gott ist also hier das logische Subjekt von εὑρέθη πιστός. Im Text bezieht sich der Begriff πιστός auf die Beschaffenheit Abrahams, welche von Gott bestätigt wurde, aber impliziert zugleich seine treue Haltung, nach dem Befehl Gottes gehandelt zu haben (vgl. Gen 22,18). Abrahams πίστις ist hierbei kaum getrennt von seinem gehorsamen Tun gegenüber Gott zu verstehen. Dabei ist auch zu bemerken, dass der Begriff πιστός in der Erzählung in Gen 22 eigentlich nicht vorkommt. Das Vertrauen Abrahams wird sprachlich überhaupt nur einmalig in Gen 15,6 genannt, wo das Verb πιστεύειν gebraucht wird. Der Verfasser zögert aber nicht, die Bewährung Abrahams in der Versuchung mit dem Begriff πιστός zu bezeichnen. Das heißt, dass der Verfasser die Bewährung Abrahams in Gen 22 für ein gutes Paradigma hält, welches das Vertrauen Abrahams augenscheinlich inszeniert. An die positive Bewertung Gottes über die treue Haltung Abrahams (den ersten Satzteil) knüpft der Verfasser den Ausdruck ἐλογίσθη αὐτῷ εἰς δικαιοσύνην aus Gen 15,6b als daraus resultierende Belohnung Gottes an. In diesem Zitat bedeutet der Ausdruck nicht, dass Abraham als ein Gerechter

73 Der Ausdruck ἐν πειρασμῷ bezieht sich sehr wahrscheinlich auf die Versuchung Gottes in Gen 22. In GenLXX  22,1 wird das Verb πειράζειν in Gottes Befehl an Abraham verwendet. 74 Übers. nach Schunck, 1. Makkabärbuch.

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anerkannt wurde (weil das Subjekt von ἐλογίσθη zweifellos seine Treue bzw. seine treue Haltung ist), sondern dass seine Treue ihm zur Gerechtigkeit (d. h. als ein gerechtes Handeln) angerechnet wurde. Diese Deutung von Gen 15,6 unterscheidet sich von der Interpretation dieser Stelle bei Paulus. 6.

Psalmen Salomos

In den Psalmen Salomos geht es bei der Verwendung der δικαι-Termini zu einem wesentlichen Teil um die Gerechtigkeit Gottes bzw. des Messias.75 Ein wichtiges Thema des Buches ist, wie sich die Gerechtigkeit Gottes im widrigen Geschick Israels (Eroberung Jerusalems und Zerstreuung der Juden durch die Heiden, vgl. 2,2f) äußert.76 Wie im Alten Testament (vorwiegend in den Psalmen) wird auch hier fast alle auf Gott bezogene δίκαιος- bzw. δικαιοσύνη-Terminologie mit κριτής und βασιλεύς (2,32) thematisch zusammengebracht (2,10.18.32; 5,1; 8,8; 9,2; 10,5). Die Terminologie aus dem δικαι- Stamm charakterisiert das Wesen von Gottes Gerichthandeln. In diesem Zusammenhang begegnet δικαιοσύνη auch in Form der Genitivverbindungen δικαιοσύνη σου (2,15; 8,25; 9,2.4), δικαιοσύνη αὐτοῦ (8,24; 17,29) - aber nie in der Form δικαιοσύνη θεοῦ! An den angegebenen Stellen ist δικαιοσύνη in besonderer Weise immer eng mit dem richtendem Handeln Gottes verbunden und sie bezieht sich auf die Eigenschaft Gottes als gerechter Richter, der über Völker bzw. Menschen ein gerechtes Urteil fällt.77 In Gerechtigkeit (δικαιοσύνη) wirkt sich Gottes Richten über alle Verfehlungen aus, unabhängig davon, ob sie von Ἰσραήλ bzw. den δίκαιοι oder von den ἔθνη bzw. den ἁμαρτωλοί begangen wurden. Denn im Gericht Gottes ist allein dieser einheitliche Maßstab wirksam: „Wer Gerechtigkeit übt, sammelt sich Leben beim Herrn, wer aber Unrecht übt, verschuldet die Seele in Verderben (ὁ ποιῶν δικαιοσύνην θησαυρίζει ζωὴν αὑτῷ παρὰ κυρίῳ, καὶ ὁ ποιῶν ἀδικίαν αὐτὸς αἴτιος τῆς ψυχῆς ἐν ἀπωλείᾳ).“78 (9,5). Hinsichtlich dieses Vergeltungsschemas zeigt sich

gerade in der Tat der Strafe Gottes, die am sündigen Israel vollstreckt wurde, Gottes

75 Die Rede von Gottes Gerechtigkeit ist in 2,15; 4,24; 8,24-26; 9,2.4.5 belegt; die Gerechtigkeit des Messias (Davids Sohn) dann in 17,23.26.29.37.40; 18,7.8; und Gerechtigkeit in Bezug auf den Menschen (bzw. absolut) in: 1,2.3; 8,6; 9,5; 14,2; 17,19. Außerdem wird das Adjektiv δίκαιος auch häufig verwendet, im Besonderen für die Beschreibung der Gerichtshandlungen Gottes. 76 Dazu vgl. Schüpphaus, Psalmen Salomos, 83–84; Holm-Nielsen, Psalmen Salomos, 51.56; Seifrid, Justification, 117–118; Schröter, Gottesbild, 561. 77 Neben den Genitivverbindungen findet sich häufig der Ausdruck ἐν δικαιοσύνῃ, der auch die Eigenschaft von Gottes Gericht bzw. seinem Urteil charakterisiert, z. B.: „ἐξάραι ὁ θεὸς τοὺς ποιοῦντας ἐν ὑπερηφανίᾳ πᾶσαν ἀδικίαν, ὅτι κριτὴς μέγας καὶ κραταιὸς κύριος ὁ θεὸς ἡμῶν ἐν δικαιοσύνῃ“ (4,24); „τὰ γὰρ κρίματα κυρίου ἐν δικαιοσύνῃ κατ᾿ ἄνδρα καὶ οἶκον.“ (9,5). 78 Übers. jeweils nach Holm-Nielsen, Psalmen Salomos. Vgl. auch 2,16.34-35; 3,11-12; 17,8.

Die vor israelitisch-jüdischem Hintergrund stehenden Schriften

Gerechtigkeit. Dieses richtende Handeln Gottes wird immer wieder vom Beter im Psalm als gerecht anerkannt. Das wird z. B. aus 2,15 und 9,2 ersichtlich: Ich gebe dir recht, Gott, aus aufrichtigem Herzen, denn in deinen Urteilen ist deine Gerechtigkeit, o Gott (Ἐγὼ δικαιώσω σε, ὁ θεός, ἐν εὐθύτητι καρδίας, ὅτι ἐν τοῖς κρίμασίν σου ἡ δικαιοσύνη σου, ὁ θεός)! Unter alle Völker ist Israel verstreut nach dem Wort Gottes, damit du gerechtfertigt werdest, o Gott, in deiner Gerechtigkeit aufgrund unserer Sünden, denn du bist ein gerechter Richter über alle Völker der Erde (ἐν παντὶ ἔθνει ἡ διασπορὰ τοῦ Ισραηλ κατὰ τὸ ῥῆμα τοῦ θεοῦ, ἵνα δικαιωθῇς, ὁ θεός, ἐν τῇ δικαιοσύνῃ σου ἐν ταῖς ἀνομίαις ἡμῶν, ὅτι σὺ κριτὴς δίκαιος ἐπὶ πάντας τοὺς λαοὺς τῆς γῆς).

Die Rede von Gottes Gerechtigkeit in 2,15 ist kennzeichnend dafür, dass in den PsSal häufig das Gericht Gottes von den Menschen als ein gerechtes anerkannt wird (d. h. nicht die Rechtfertigung, die von Gott an die Menschen ergeht, sondern die, welche die Menschen Gott zusprechen). Diese Anerkennungsaussage begegnet noch in 3,5; 4,8.24; 8,7.23-26 und wird durch das Verb δικαιοῦν ausgedrückt. Diese Wendung des δικαιοῦν im Sinne, dass ein Mensch Gott als gerecht anerkennt, wird sehr wahrscheinlich auf PsLXX 50,6 zurückgehen. Man muss auf diese häufig anzutreffende Rede von der Anerkennung der Gerechtigkeit Gottes durch den Menschen in den PsSal aufmerksam machen, insbesondere mit dem Bezug auf Röm 3,4-6, wo Paulus mit dem Zitat von PsLXX 50,6 Gottes Gerechtigkeit bei seinem Handeln gegenüber den Menschen zum Ausdruck bringt. So zeigt sich, dass sowohl in den PsSal als auch bei Paulus der Erweis der Gerechtigkeit Gottes als Topos der theologischen Auseinandersetzung von großer Bedeutung ist.79 Obwohl nach den PsSal die Vergeltung Gottes prinzipiell an alle gleich ergeht, lässt sich bei der Wirkung des Gerichts Gottes jedoch eine klare Differenz zwischen Israel und den heidnischen Völkern ausmachen.80 Im Gerichtsverfahren Gottes wird Israel nach seinen Sünden bestraft, Jerusalem von den Heiden zerstört und das Volk unterdrückt, doch das ist nicht die eigentliche Zielsetzung der Bestrafung. Das Ziel der Strafe ist es, von Sünde gereinigt und wieder aufgerichtet zu werden (3,4.8; 9,6; 10,1-3; 17,22.30; 18,5). In diesem Sinne ist in den PsSal das strafende Handeln Gottes über Israel gerade als eine Erziehung bzw. Züchtigung (παιδεία, παιδεύειν) dargestellt (3,4; 7,3; 8,26; 10,1-3; 13,7-10; 14,1; 16,13; 18,4.7). Der Beter

79 Paulus behandelt das Thema des Beweises der Gerechtigkeit Gottes ebenso in Römer 3,25-26. Aber dort geht es der Gerechtigkeit Gottes nicht um das Gericht über den Sünder, sondern im Gegenteil um die Errettung der Sünder durch Christus. Zur näheren Erläuterung s. S. 253f dieser Arbeit. 80 Vgl. Schröter, Gottesbild, 566.

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bittet beständig darum und glaubt zugleich daran, dass Gott Israel nicht wie die Heiden behandeln und nicht der Vernichtung preisgeben möge. Dahinter steht als Hoffnung und Anliegen des Betenden die Tatsache, dass Gott ἐλεήμων ist.81 Kennzeichnend ist auch, dass das Appellieren des Beters an Gottes Erbarmen über Israel eng mit dem Väterbund bzw. der Erwählung Israels und Davids verbunden ist.82 Der Väterbund und die Erwählung Israels sind also die Grundlage dafür, dass der Beter um die Barmherzigkeit Gottes und die Errettung Israels bitten kann. Den Verheißungen an die Väter und Israel gemäß kann Gott Israel nicht endgültig vernichten, sondern Gott reinigt Israel durch seine Bestrafung und stellt endlich wieder seinen Status als gotterwähltes heiliges Volk her. Im Zusammenhang mit diesen Gesichtspunkten dienen neben ἔλεος auch die Begriffe χρηστότης bzw. χρηστός83 und πίστις84 zur Beschreibung des Handelns Gottes an Israel. Deswegen berühren sich wie im Fall des Alten Testaments die Begriffe δικαιοσύνη, ἔλεος, χρηστότης bzw. χρηστός und πίστις gelegentlich, wenn es um Gottes Heilshandeln gegenüber Israel geht. Darunter wird vor allem die Nebeneinanderstellung von δικαιοσύνη mit ἔλεος (4,24-25; 8,24-28) und πίστις (17,40) ins Auge fallen. Davon ausgehend kann man jedoch nicht ohne weiteres zum Schluss gelangen, dass δικαιοσύνη Gottes in den PsSal als „Barmherzigkeit“ oder „Bundestreue“ zu verstehen sei und dies gerade als Verstehenshintergrund für die positive Konnotation der Formulierung δικαιοσύνη θεοῦ bei Paulus zu gelten habe.85 Hierbei muss man genauer betrachten, dass unter den von ihm genannten Stellen der Begriff δικαιοσύνη aber nur in 17,40 neben πίστις auftritt.86 In 17,40 beschreiben πίστις und δικαιοσύνη die Führungseigenschaft des Messias in einer Metaphorik, nach der er als Hirte seine Herde Israel weidet. Dort bezieht sich die δικαιοσύνη inhaltlich auf V 41f, wo davon die Rede ist, dass der Messias „ohne Unterschied87 sein Volk führt und keinen Hochmut und keine Unterdrückung unter ihnen geschehen lässt.“ Demgegenüber verbindet sich die πίστις inhaltlich mit Gottes Sorge für Israel in V 40c, sodass Gott sein Volk nicht verderben lässt.

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Vgl. 5,2; 7,5; 10,7. Vgl. 7,10; 9,9-10; 11,7-9; 17,4-5.15; 18,3. Vgl. 2,36; 5,2.12; 8,32; 10,2.7. Vgl. 8,28; 17,40. Stuhlmacher bestimmt die δικαιοσύνη Gottes als „die heilschaffende Bundestreue“. (Gerechtigkeit Gottes, 178). Er nimmt an, dass die δικαιοσύνη Gottes in den PsSal als ein Gegensatz zu seinem Erbarmen zu verstehen ist. Anhand der Stellen 17,26.32.37.40; 18,8 bestimmt er jedoch schließlich die Bedeutung der δικαιοσύνη Gottes als „die heilschaffende Bundestreue“. 86 Die δικαι-Termini in 17,32.37; 18,8 beziehen sich im Kontext keineswegs auf eine Bundesvorstellung oder -treue Gottes, vielmehr drücken sie den gerechten bzw. richtigen Charakter der Herrschaft des Messias aus. 87 Dort wird das Wort ἰσότης verwendet, das in der LXX sonst nur in HiLXX 36,29 und SachLXX 4,7 vorkommt. Die Verwendung von ἰσότης zeigt einen griechischen Einfluss.

Die vor israelitisch-jüdischem Hintergrund stehenden Schriften

In diesem Zusammenhang könnte man auch die Stelle 17,26 heranziehen, wo die δικαιοσύνη, abgesehen von einem Bundesdenken bzw. einer Bundeserfüllung, den Charakter der Messiasherrschaft ausdrückt, dass nirgends Ungerechtigkeit und Bosheit herrschen dürften. Von diesen Beobachtungen her ist die Meinung kaum mehr zu halten, dass mit der δικαιοσύνη Gottes in den PsSal die Bundestreue Gottes gemeint ist.88 In den PsSal begründet sich Gottes Gericht über das sündige Israel eindeutig durch seine Wesensart der Gerechtigkeit, mit anderen Worten: In Gottes strafender Tätigkeit über das ungerechte Israel erweist sich seine Gerechtigkeit (vgl. 2,1518; 8,24-25; 9,2). Gottes Gericht zielt darauf, sein erwähltes Volk Israel durch die Züchtigung wieder geradezumachen, nicht zu vernichten (vgl. 8,26; 10,2-3). Gottes Gericht gegenüber Israel ist in diesem Sinne, wie oben beschrieben, nicht lediglich als Vergeltung der Sünde zu verstehen, sondern es hat eine erziehende Funktion. Man kann allerdings davon ausgehend weder die Bedeutung der δικαιοσύνη Gottes in zwei Ebenen nach den Kategorien von Sündern bzw. Heiden und Frommen bzw. Israel trennen, noch verallgemeinert sagen, dass mit der Gerechtigkeit Gottes in den PsSal eine sich erbarmende oder heilschaffende Gerechtigkeit gemeint sei. Auf der semantischen Ebene ist kaum denkbar, dass das eine Wort δικαιοσύνη je nach Kategorie des Menschen oder des Volks tatsächlich in unterschiedlichen Bedeutungen, einmal als iustitia distributiva, ein anderes Mal als iustitia salutifera, verwendet wird. Wenn die Gerechtigkeit Gottes in den PsSal – auf irgendeine Weise – als Barmherzigkeit zu verstehen ist, dann stößt dieses Verständnis der Gerechtigkeit Gottes an eine Grenze, weil damit die in den PsSal durchgreifende Bedeutung der δικαιοσύνη Gottes als die Verfehlungen der Sünder sanktionierende Gerechtigkeit nicht zu erklären ist.89 88 Seifrid interpretiert ebenfalls die Rede von Gottes Gerechtigkeit in PsSal im Rahmen des Bundesdenkens, auch wenn er sie explizit nicht als „covenantal faithfulness“ beschreibt: „It is clear then, that the concept of God’s righteousness found in the Pss. Sol. encroaches upon the idea of the covenant as a promise of salvation to the whole of Israel, and replaces it.“ (Justification, 120); „We have seen that the concept of divine justice likewise is dependent on the idea of promise and fulfillment, covenantal ideas.“ (Justification, 129). 89 Bei dieser gibt es einen gemeinsamen Ausgangspunkt, nämlich, dass die Bedeutung der δικαιοσύνη Gottes in den PsSal vom hebräischen Begriff ‫ צדקה‬her zu verstehen ist. Um den semantischen Einfluss von ‫ צדקה‬zu erklären, wird das Qumran-Schrifttum immer wieder herangezogen, weil ein hebräische Original der PsSal nicht zu belegen ist (vgl. Stuhlmacher, Gerechtigkeit Gottes, 178, Anm. 3; Schüpphaus, Psalmen Salomos, 87). Die zentrale Begründung dieser Ansicht ist, dass δικαιοσύνη in der LXX nicht nur für ‫צדקה‬, sondern auch für ‫ הסד‬und ‫ אמת‬wiedergegeben wird und andererseits auch ‫ צדקה‬gelegentlich mit ἔλεος bzw. ἐλεημοσύνη übersetzt wird (zur ausführlichen Darstellung der Übersetzungsbelege vgl. Ziesler, Meaning, 59–69). Man darf aber davon ausgehend nicht vorschnell schließen, dass durch diesen Vorgang eine Bedeutungserweiterung des Wortes δικαιοσύνη auf der semantischen Ebene entstanden ist und damit die δικαιοσύνη in der LXX gegenüber dem sonstigen Griechisch als ein „covenant word“ im Sinne der erbarmenden bzw.

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In einem menschlichen Kontext begegnet häufig δίκαιος als substantiviertes Adjektiv, ein Gerechter (auch Pl. δίκαιοι). In den PsSal werden zu δίκαιος als Synonym häufig ὅσιος (2,36; 3,8; 4,1.6.8; 8,23.34; 9,3; 12,4.6; 13,10.12; 14,3.10; 15.3.7; 17,16), φοβούμενοι τὸν θεὸν bzw. τὸν κύριον (2,33; 3,12; 4,21.23; 5,18; 12,4; 13,12; 15,13) und εὐσεβής (13,5) verwendet und ἁμαρτωλός (1,1; 2,1.16.34; 3,9.11; 4,2.8.23; 12,6; 13,2.5-8.11; 14,6; 15,5.8.10-13; 16,2.5; 17,5.23.25.36), ἀδίκoς (4,10; 15,4) und ἄνομoς (17,11.18) als Gegenüber. Trotz der sprachlichen Befunde dieser Wörter und der damit zu begreifenden Bedeutung des Terminus δίκαιος ist die Bestimmung, wer in die Kategorie ὁ δίκαιος in den PsSal gehört, komplex. Aus 14,23 und 17,9 (vgl. 9,5) könnte in erster Linie wohl ὁ δίκαιος als derjenige, definiert werden, der nach dem Gesetz lebt und δικαιοσύνη und κρίμα übt, was sich mit den Belegen im Alten Testament deckt. Doch bleibt in den PsSal die Beschreibung des Gerechten nicht immer in einer solch generellen Definition gefangen, sondern weiterführend begeht auch der Gerechte Sünde und erfährt damit Gottes Züchtigung (3,7-8; 9,6-7; 13,7-9). Man darf jedoch nicht die Sünde des Gerechten mit derjenigen der Sünder gleichsetzen, denn die Sünde des Gerechten wird in den PsSal als unwissentliche Sünde beschrieben (3,8; 13,7). Und auch die Züchtigung des Gerechten ist nicht das Gleiche wie die Vernichtung des Sünders, die Bestrafung der Gerechten ist nicht eine endgültige Tat wie für die Sünder, sondern Erziehung aus der Liebe (2,34-35; 13,7). Außerdem differenziert das Verhalten des Gerechten gegenüber den Züchtigungen ihn vom Verhalten des Sünders, indem der Gerechte Gottes Urteile für gerecht hält und die Züchtigung Gottes erduldet und trotzdem Gott als seinem Erlöser fest vertraut (3,3-5; 14,1), während der Sünder Gottes nicht gedenkt und sein Leben verflucht (3,9-12; 4,21; 14,6-7).90 In Bezug auf den Menschen wird das Substantiv δικαιοσύνη in den PsSal nicht so oft wie in Bezug auf Gott verwendet. In 9,5 und 17,9 kommt das typische alttestamentliche Syntagma ποιεῖν δικαιοσύνην bzw. δικαιοσύνην καὶ κρίμα vor. Daneben finden sich auch die an das Alte Testament angelehnten Ausdrücke κατευθύνειν ὁδοὺς αὐτῶν ἐν δικαιοσύνῃ (8,6)91 und πορεύομαι ἐν δικαιοσύνῃ προσταγμάτων

heilschaffenden Gerechtigkeit aufzufassen ist, wie vornehmlich Hill und Ziesler angenommen haben (vgl. Hill, Greek Words, 96f, 108f; Ziesler, Meaning, 59ff). 90 Dazu vgl. Schröter, Gottesbild, 568. 91 Vgl. PsLXX 5,9: „κύριε, ὁδήγησόν με ἐν τῇ δικαιοσύνῃ σου ἕνεκα τῶν ἐχθρῶν μου, κατεύθυνον ἐνώπιόν μου τὴν ὁδόν σου.“ Hier ist jedoch nicht die Rede von der menschlichen Gerechtigkeit, sondern von der Gerechtigkeit und dem Weg des „Herrn“, also Gottes. In diesem Sinne ist diese Schriftstelle auch als Hintergrund für 18,8 denkbar, wo offensichtlich von der Gerechtigkeit des Messias gesprochen wird. Vgl. auch ὁδός δικαιοσύνης in SprLXX 8,20; 12,28; 16,17.31; 17,23; 21,16; HiLXX 24,13.

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αὐτοῦ, ἐν νόμῳ (14,2)92 . Diese metaphorischen Ausdrücke bezeichnen die dem

Willen Gottes entsprechende Lebensführung bzw. -haltung und eine solche gerechte Lebensführung wird durch die Formulierung ἐν δικαιοσύνῃ bestimmt. In 1,2-3 kommt die Aussage ἐπλήσθην δικαιοσύνης in einer hochmütigen Rede über sich selbst in Bekenntnisform vor (vgl. 4,12) – die erste Person „ich“ bezieht sich sehr wahrscheinlich auf das sündige Israel. δικαιοσύνη bezeichnet hier ohne Zweifel umfassend die Gerechtigkeit, die die Forderungen Gottes in der Tora zusammenfasst. 7.

Das 4. Buch Esra

Im Buch 4. Esra wird der Begriff δικαιοσύνη für Gott zweimal verwendet. In 8,8-12 erzählt Esra vom Wunderwerk Gottes, den Menschen aus dem Mutterschoß zu schaffen und ihn in seiner Gerechtigkeit und seinem Gesetz zu erziehen: Das Verwahrende aber und das Verwahrte, beide werden durch Verwahrung verwahrt. Und wenn der Mutterschoß herausgibt, was in ihm gewachsen ist, hast du befohlen, aus den Gliedern selbst, das ist aus den Brüsten, Milch, das Erzeugnis der Brüste zu reichen, damit dein Geschöpf eine gewisse Zeit lang genährt werde. Danach förderst du es durch dein Erbarmen, nährst es durch deine Gerechtigkeit, erziehst es durch dein Gesetz und belehrst es durch deine Weisheit.93

Stuhlmacher geht hier besonders auf den Parallelismus von Erbarmen (ἔλεος) und Gerechtigkeit (δικαιοσύνη) ein und betont, dass an dieser Stelle die Gerechtigkeit Gottes „die barmherzige Treue des Schöpfers zu seiner Kreatur“ meint.94 Mir scheint aber der Ausdruck „die Nahrung durch deine Gerechtigkeit“ statt mit der „Förderung durch dein Erbarmen“, mit der „Erziehung durch dein Gesetz“ inhaltlich auf engste verbunden zu sein. Geht man hiervon aus, dann könnte die Formulierung „durch deine Gerechtigkeit“ an dieser Stelle nicht als die barmherzige Treue Gottes, sondern als umfassende Bezeichnung für Gottes gesamte Anforderung interpretiert werden, die im jüdischen Gesetz expliziert ist und als gerecht bezeichnet wird. Im zweiten Beleg 8,35-36 bezieht sich die Gerechtigkeit anders als in der ersten Belegstelle auf Gottes eigene Eigenschaft, sein Gereichtsein:

92 Vgl. PsLXX 14,2; SprLXX 2,20; JesLXX 33,15. 93 Übers. jeweils nach Schreiner, 4. Buch Esra. 94 Vgl. Stuhlmacher, Gerechtigkeit Gottes, 173. Fiedler versteht, ganz ähnlich, die Gerechtigkeit Gottes an der Stelle als „die erbarmenden und heilenden Gerechtigkeit Gottes“ (Δικαιοσύνη, 141). Vgl. auch Conzelmann, Grundriß, 240: „Gerechtigkeit erhält den Sinn von Bundestreue und Erbarmen.“

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Die Gerechtigkeitsaussagen in jüdischen und intertestamentarischen Schriften

In Wahrheit gibt es nämlich niemand unter den Geborenen, der nicht böse gehandelt, und unter den Gewordenen, der nicht gesündigt hätte. Denn dadurch wird deine Gerechtigkeit und deine Güte offenbar, Herr, daß du dich derer erbarmt hast, die keinen Bestand an guten Werken haben.

Hier hat man erneut einen Text vor sich, in dem die unterschiedlichen Gottesprädikate nebeneinanderstehen. Diese charakteristische Zusammenstellung hat offenbar im Alten Testament ihren Ursprung. Die drei Begriffe Barmherzigkeit, Güte und Gerechtigkeit, oder zwei davon, stehen schon im Alten Testament häufig zusammen, um das Verhalten Gottes gegenüber den Menschen auszuweisen (ExLXX  34,6; PsLXX 85,15; 102,8; 114,5; 144,8; JoelLXX 2,13; JonaLXX 4,2). Allein aufgrund ihrer Parallelstellung sollte man jedoch nicht zu vorschnell davon ausgehen, dass es sich bei ihnen um deckungsgleiche Begriffe handelt. In Bezug auf Menschen wird der Begriff Gerechtigkeit im Sinne der frommen und gesetzmäßigen Lebenshaltung bzw. Tat verwendet. Sie steht inhaltlich parallel zum „Tun des Rechts“ (5,11) und zur „Frömmigkeit“ (6,32), und im Gegensatz zu „Ungerechtigkeit“, welche eine gegensätzliche Lebenshaltung bzw. Tat bezeichnet (7,105.111). Im 4. Buch Esra gilt überwiegend das Vergeltungsdogma, dass Gerechte ihren Taten gemäß je Lohn erhalten und gerettet werden, Gottlose aber bestraft werden und zugrunde gehen (vgl. 7,17f. 33f; 79ff; 8,33.38f). Der Tag des Gerichts ist so streng, dass niemand für andere bitten darf; „jeder trägt selbst seine Ungerechtigkeit oder Gerechtigkeit“ (7,105). In der gegenwärtigen Zeit gibt es viele Gottlose und nur wenige Gerechte, Verderbnis und Ungerechtigkeit haben zugenommen (vgl. 7,51.111). Der Verfasser stellt aber fest, dass am Tag des Gerichts „die Zuchtlosigkeit vertrieben, der Unglaube vertilgt, die Gerechtigkeit aber erwachsen und die Wahrheit entstanden ist“. (7,114).95 8.

Testamente der zwölf Patriarchen

Wenn in den Testamenten der zwölf Patriarchen der δικαιοσύνη-Begriff auf Gott bezogen verwendet wird, bezieht er sich vor allem auf das Heilsgeschehen und

95 Die „Gerechtigkeit“ in 7,114 ordnet Fiedler unter die Belege der göttlichen Gerechtigkeit ein (vgl. Fiedler, Δικαιοσύνη, 142). Doch vom Kontext her ist klar, dass sie als menschliche Gerechtigkeit zu verstehen ist. Der Gebrauch von „Wahrheit“, „Glaube“ und „gerechte Taten“ in 7,33-35, welche ebenso wie 7,114 in einem Kontext mit Gottes Gericht stehen, unterstützt dies: „Der Höchste offenbart sich auf dem Richterthron (dann kommt das Ende); das Erbarmen vergeht (die Barmherzigkeit entfernt sich), die Langmut verschwindet, nur das Gericht bleibt. Die Wahrheit besteht, der Glaube erstarkt, das Werk folgt nach, der Lohn zeigt sich, die gerechten Taten erwachen, die ungerechten schlafen nicht mehr.“ Vgl. auch 6,27-28. Der Verfasser wird mit Gerechtigkeit in 7,114 ebenfalls die gerechten Taten des Menschen meinen (vgl. „Werke der Gerechtigkeit“ in 8,32).

Die vor israelitisch-jüdischem Hintergrund stehenden Schriften

die Restauration Israels als Gottes Volk. In T. Juda 22,2 ist die Rede von der „Parusie des Gottes der Gerechtigkeit (παρουσία τοῦ θεοῦ τῆς δικαιοσύνης)“. Damit wird ausgesagt, dass Gott in seiner Gerechtigkeit Israels durch Fremde verlorenes Königtum wiederaufrichtet und Frieden schafft. Die dem Gottesvolk Israel Heil bringende Gerechtigkeit Gottes wird in T. Seb. 9,8 durch die Licht-Metapher zum Ausdruck gebracht: „Und danach wird euch der Herr, Licht der Gerechtigkeit (φῶς δικαιοσύνης) selbst aufgehen. Und ihr werdet zurückkehren in euer Land und werdet den Herrn in Jerusalem sehen.“96 Auf ähnliche Weise wird in T. Juda 23,5–24,1 die Sonnen-Metapher für die heilbringende δικαιοσύνη des Messias gebraucht: Und wenn ihr umkehrt zum Herrn mit ganzem Herzen, von Reue ergriffen und wandelnd in allen seinen Geboten, dann wird der Herr euch heimsuchen durch Erbarmen und euch zurückführen aus der Gefangenschaft der Völker. Und ein Mensch aus meinem Samen wird aufstehen wie die Sonne der Gerechtigkeit (ὁ ἥλιος τῆς δικαιοσύνης).

In den bislang angeführten Belegen ist vor allem auffällig, dass die Ankunft der göttlichen δικαιοσύνη unmittelbar mit der Befreiung Israels von heidnischen Völkern und der Rückkehr nach Jerusalem in Beziehung gesetzt ist. Dies erlaubt es jedoch nicht, den auf die Eigenschaft Gottes bezogenen Begriff δικαιοσύνη einfach als Heil bzw. Heilstat Gottes zu verstehen. Denn wie der Kontext der Belege zeigt, impliziert die Ankunft der δικαιοσύνη Gottes, die die Gefangenschaft und Unterdrückung Israels durch andere Völker zum Ende bringt, die göttliche vergeltende Tätigkeit gegen diese feindlichen Völker. Gott vollzieht seine Gerechtigkeit dadurch, dass er dem Buße tuenden und zu ihm umkehrenden Israel Heil schafft und die Feinde die es unterdrücken, richtet. Dabei ist es besonders wichtig zu bemerken, dass Bußetun, also Umkehr von der Sünde Israels, immer Voraussetzung dafür ist, dass Israel von heidnischen Völkern befreit wird und in die Heimat Jerusalem zurückkehrt. Die Bedeutung der δικαιοσύνη Gottes bzw. des Messias in den TP ist somit nicht einseitig im positiven Sinne auf die Heilstat Gottes an Israel zu beschränken. Entscheidend in T. Juda 24,6 ist der doppelte Aspekt der richtenden und rettenden Wirkungen der δικαιοσύνη des Messias: „Und durch ihn wird ein Zepter der Gerechtigkeit den Völkern heraufkommen, zu richten und zu retten alle, die den Herrn anrufen (καὶ ἐν αὐτῷ ἀναβήσεται ῥάβδος δικαιοσύνης τοῖς ἔθνεσι, κρῖναι καὶ σῶσαι πάντας τοὺς ἐπικαλουμένους κύριον).“ Die zweite Aussage der δικαιοσύνη in T. Juda 24,1b charakterisiert das Walten des Messias im allgemeinen Sinn, dass es unter seiner Herrschaft keine Ungerechtigkeit geben wird: „…wandelnd mit den Menschen in Sanftmut und Gerechtigkeit (ἐν πραότητι καὶ δικαιοσύνῃ).

96 Übers. jeweils nach Becker, Testamente der zwölf Patriarchen.

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Und keine Sünde wird an ihm gefunden werden.“97 Auch in T. Napht. 4,5 kennzeichnet δικαιοσύνη in sehr ähnlicher Weise die Eigenschaft des Messias in seiner Herrschaft: Und der Herr wird sie auf der ganzen Erdoberfläche zerstreuen, bis das Erbarmen des Herrn kommt, ein Mensch, der Gerechtigkeit tut und Erbarmen vollbringt (ποιῶν δικαιοσύνην καὶ ποιῶν ἔλεος) gegenüber allen den Fernen und Nahen.

Hier begegnet die Redewendung ποιεῖν δικαιοσύνην καὶ ποιεῖν ἔλεος. Sie beschreibt den Charakter des Waltens und Wirkens des Messias. Semantisch sollte man von der Parallelität von δικαιοσύνην und ἔλεος her δικαιοσύνη nicht mit ἔλεος gleichbedeutend als Barmherzigkeit verstehen oder von ἔλεος beeinflusst zum positiven Attribut machen. Die Begriffe lassen sich vielmehr in Hinsicht auf ihre jeweilige Semantik als voneinander unterschieden verstehen, sie beziehen sich jeweils auf einen anderen Charakterzug des Messias. Bei der Wendung δικαιοσύνη geht es um die die Sünde bzw. Übertretung des Menschen richtende und die Gerechtigkeit des Menschen belohnende Gerechtigkeit. Dagegen geht es bei dem Begriff ἔλεος als göttlichem Attribut um die Verhaltensweise des Messias, bei der er sich gegenüber sündigen und damit unter der Strafe Gottes leidenden Menschen erbarmt und die Möglichkeit zur Umkehr gibt. Die Aussagen über δικαιοσύνη in Bezug auf Menschen in TP sind offensichtlich in der Tradition des Alten Testaments verwurzelt. Der Begriff δικαιοσύνη taucht häufig mit der typischen alttestamentlichen Formel ποιεῖν δικαιοσύνην auf: T. Levi 13,5; T. Gad 3,1; T. Benj 10,3. Inhaltlich verbindet sich der Ausdruck der Ausübung der δικαιοσύνη an mehreren Stellen eng mit der Befolgung des Gesetzes; in T. Gad 3,1 steht δικαιοσύνη parallel zu πάντα νόμον ὑψίστου, in T. Benj. 10,3 ποιεῖν δικαιοσύνην zu τὸν νόμον κυρίου καὶ τὰς ἐντολὰς αὐτοῦ φυλάξατε (und zu Φυλάξατε τὰς ἐντολὰς τοῦ θεοῦ in V 5) und in T. Levi 13,5 zu πορεύεσθε ἐν ἁπλότητι κατὰ πάντα τὸν νόμον αὐτοῦ. An den angeführten Stellen bezeichnet der Begriff δικαιοσύνη umfassend die Ausrichtung des Lebens, worauf die Aufforderungen des Gesetzes verweisen und die damit als recht und gerecht zu bezeichnen ist. Außer dieser Verwendungsweise als ethischer Tugend wird δικαιοσύνη in TP in Bezug auf den Menschen als Statusbegriff gebraucht, der dessen gesamte Beschaffenheit beschreibt: „Die (Lebens-)Ausgänge der Menschen zeigen ihre Gerechtigkeit.“ (T. Ass. 4,4). Oder metaphorisch ausgedrückt: „Alle Heiligen werden sich mit Gerechtigkeit bekleiden.“ (T. Levi 18,14).98

97 Vgl. PsLXX 5,5-6; PsSal 17,26-27. 98 Ähnliche metaphorische Ausdrücke finden sich auch in JesLXX 61,10 und PsLXX 131,9.

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Hinsichtlich der antithetischen Gegenüberstellung zweier Lebensweisen (in der Sünde/in Gerechtigkeit bzw. nach dem Fleisch/nach dem Geist) bei Paulus sind die das „Zwei-Wege-Schema“99 enthaltenden Texte von besonderer Bedeutung. In einem dieser Texte findet sich der Terminus δικαιοσύνη. Dabei wird δικαιοσύνη als ein ethisch qualifizierender Begriff für die menschliche Handlung verwendet und zwar mit einer typisch alttestamentlichen Formel ἐν δικαιοσύνῃ: Zwei Wege gab Gott den Söhnen der Menschen und zwei Ratschläge und zwei Handlungsarten und zwei (Lebens-)Weisen und zwei Ziele. Darum ist alles zweierlei: eines (steht jeweils) dem anderen gegenüber. Zwei Wege gibt es: (den Weg) des Guten und (den) des Bösen. Auf ihnen beruhen die zwei Ratschläge in unserer Brust, die sie unterscheiden. Wenn nun die Seele gut wandeln will, vollbringt sie alle ihre Handlungen in Gerechtigkeit (δικαιοσύνη). Und wenn sie sündigt, bereut sie sofort. Denn wenn sie den gerechten (Taten) nachsinnt und die Schlechtigkeit wegstößt, wirft sie alsbald das Böse zu Boden und reißt die Sünde aus. Wenn der Ratschluss sich jedoch zum Bösen neigt, sind alle ihre Taten in Bosheit. Und weil er das Gute von sich stößt und das Böse annimmt und von Beliar beherrscht wird, so wandelt er, selbst wenn er Gutes tut, dieses in Bosheit um. Denn wenn er anfängt, das Gute zu tun, so führt er das Ende der Handlung zum Bösen für ihn, weil der Schatz des Ratschlusses mit dem bösen Geist angefüllt ist. (T. Ass. 1,3-9).

Es ist offensichtlich, dass es in diesem Text um zwei antithetische und einander ausschließende Lebensweisen geht: eine als positiv zu bestimmende, auf das Gute ausgerichtete Lebensweise und eine als negativ zu bestimmende, auf das Böse ausgerichtete und vom bösen Geist bzw. Beliar beherrschte Lebensweise. Dieser Dualismus ist alles andere als weit entfernt von demjenigen in Röm 6;12-23; 8,4-14; Gal 5,16-24 und 2Kor 6:14-16. Hierbei steht er den Ausführungen in 2Kor 6:14-16 besonders nahe, wo Paulus als Christus gegenüberstehende Gegenmacht Beliar erwähnt. Der Begriff δικαιοσύνη in T. Ass. 1,3-9 bestimmt im Gegensatz zu den Begriffen der Sünde, des Bösen und der Schlechtigkeit das, was gottgefällige menschliche Handlungen auszeichnet. Der dortigen Schilderung zufolge wird die Gerechtigkeit sichtbar, wenn der Mensch nach guten Taten sinnt und das Schlechte abstreift (vgl. auch T. Gad 5,3). Diese Argumentation, nach der das Tun des Guten das Schlechte abwehrt und entkräftet, begegnet ebenfalls bei Paulus und zwar in den oben genannten Texten, wo Paulus die Gläubigen zu einem gerechten Lebenswandel auffordert. Die Formulierung ἡ δικαιοσύνη τοῦ νόμου τοῦ θεοῦ in T. Dan 6,10 ist ebenfalls im Zusammenhang mit dem vorliegenden Textbefund zu verstehen. Dan hält seine Kinder an, von der Ungerechtigkeit weg und zu einer gottgefälligen Lebensweise zu

99 Dazu vgl. Ulrichsen, Testamente, 276f.

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Die Gerechtigkeitsaussagen in jüdischen und intertestamentarischen Schriften

kommen, die im Gesetz expliziert ist: „ἀπόστητε οὖν ἀπὸ πάσης ἀδικίας καὶ κολλήθητε τῇ δικαιοσύνῃ τοῦ νόμου τοῦ θεοῦ100 , καὶ ἔσται τὸ γένος μου εἰς σωτηρίαν ἕως τοῦ αἰῶνος.“ Für das semantische Verständnis von δικαιοσύνη τοῦ νόμου τοῦ θεοῦ ist es wichtig, die Formulierung κολλάειν + Dativ in den Blick zu nehmen. Sie kommt auch in T. Iss. 6,1; T. Gad 5,2-3; T. Ass. 3,1-2 vor, wo ebenfalls eine ethische Forderung im Vordergrund steht, und drückt die menschliche Handlung aus, sich an etwas zu halten oder sich auf etwas zu verlassen. In der LXX begegnen die in T. Dan 6,10 verwendeten Verben κολλάειν und ἀποστάζειν häufig dann, wenn es darum geht, eine treu an Gott bzw. Gottes Gesetz festhaltende bzw. eine gottesferne Lebensweise auszudrücken (vgl. DtnLXX  6,13; 10,20; 2KönLXX  18,6 PsLXX  118,31; Sir 2,3). Aus der antithetischen Gegenüberstellung der Begriffe ἀδικία und δικαιοσύνη wird deutlich, dass der Ausdruck δικαιοσύνη τοῦ νόμου τοῦ θεοῦ als die Gerechtigkeit verstanden werden muss, auf welche das göttliche Gesetz verweist und die im Lebenswandel der Gerechten sichtbar werden soll.101 Es handelt sich nicht um eine Eigenschaft oder ein Handeln Gottes, sondern um eine ethische Tugend, die die gottgefällige Lebensweise umfasst. Die Annahme von Käsemann und Stuhlmacher, dass T. Dan 6,10 als eine entscheidende Belegstelle zu werten ist, dass die Rede von der Gerechtigkeit Gottes in frühjüdischen Texten ein terminus technicus für eine heilschaffende Macht Gottes ist,102 ist somit nicht stichhaltig.103 9.

Qumranschriften104

Wie im Alten Testament und in den anderen sprachlich und inhaltlich davon abhängigen frühjüdischen Schriften ist in den Qumranschriften sehr häufig von der Gerechtigkeit Gottes die Rede. Das Adjektiv ‫ צדיק‬und die beiden Substantive ‫צדקה‬ 100 Zu diesem Teil gibt es verschiedene Lesarten in den griechischen MSS. In a c d e f g h i j m steht (τοῦ) θεοῦ, darunter wird in c h i j wird τοῦ νόμου ausgelassen. Folglich findet sich nur in b die Lesart τῇ δικαιοσύνῃ τοῦ νόμου κυρίου. In letzter Zeit ist man zum Schluss gekommen, dass es zu schwierig ist, die Geschichte der Textgestalt durch Untersuchung des Textenverhältnisses zu rekonstruieren und damit eine beste MS auszuwählen (vgl. Ulrichsen, Testamente, 39–42; Becker, Testamente, 17–21). Ich nehme die Lesart τῇ δικαιοσύνῃ τοῦ νόμου τοῦ θεοῦ als die wahrscheinlichste an, weil vor allem die Genitivkonstruktion der Formulierung τοῦ θεοῦ διὰ τῶν ἔργων νόμον θεοῦ in V 9 entspricht (vgl. de Jonge, Testaments, 110–111). Auf jeden Fall bezieht sich der Begriff δικαιοσύνη in τῇ δικαιοσύνῃ τοῦ νόμου τοῦ θεοῦ nicht auf etwas Gott Zugehöriges, sondern auf die Gerechtigkeit, die die Tora fordert. 101 Vgl. Wilckens, Römer I, 217f; Irons, Righteousness, 245. 102 Käsemann, Gottesgerechtigkeit, 370; Stuhlmacher, Gerechtigkeit Gottes, 171 (ähnlich auch Kertelge, Rechtfertigung, 25ff). 103 Vgl. auch Seifrid, Justification, 106f. 104 Nach ihrem Fund wurde den Qumranschriften innerhalb der Paulusforschung in Hinblick auf ihre bemerkenswerte gedankliche Nähe große Beachtung. Dabei wandten viele Exegeten sich besonders den Gemeinsamkeiten innerhalb der anthropologischen Vorstellung zu. Darüber hinaus wird

Die vor israelitisch-jüdischem Hintergrund stehenden Schriften

‫צדק‬, bezeichnen, wie im hebräischen Alten Testament, in der Regel eine Eigenschaft des göttlichen Wesens: ‫( צדיק‬1QH 6,27; 4Q408 3+3a,6); 1) ‫ צדקה‬QS 10,23.25; 11,3.5.12.14; 1QH 4,32; 6,27; 15,22; 16,3; 4Q260 5,5; 11QPsa 19,3; 4QSf 5,5; 4Q511 20 i 1; 11Q5 19,3 u. ö.), 1) ‫ צדק‬QS 4,4; 11,16; 1QH 5,12.36; 12,41; 4Q404 5,6; 4Q511 35,4; 63 iii 1 u. ö.).105 Der Rückbezug auf den Sprachgebrauch des Alten Testaments spiegelt sich vor allem in Redewendungen wie „erzählen die gerechten Taten Gottes“ (1QS 1,21; 10,23; 4Q260 5,5; 1QH 1,30; 4,29; 17,17)106 und „Gerechtigkeit sind all deine Werke“ (1QH 4,31; 4,40; 13,19; vgl. auch 1QH 1,16)107 wider, welche vor allem in poetisch-liturgischen und weisheitlichen Texten häufig begegnen. Diese Formulierungen tauchen meistens in einem exhomologischen Text auf und drücken den Glauben des Beters in Anbetracht seiner Sünde aus, dass Gott in allen Taten gerecht ist. Die Häufung von Belegen dieser Formulierung deutet darauf hin, dass das Anerkennen Gottes als eines gerechten Richters ein zentrales Thema innerhalb der theologischen Auseinandersetzungen auch der Qumran-Gemeinde ist. Im Blick auf das Verständnis der paulinischen Aussagen über Gottes Gerechtigkeit verdienen die Belege der Cstr.-Verbindungen mit ‫ אל‬oder der Genitivkonstruktionen, in denen die Substantive ‫צדק‬/‫ צדקה‬mit einem auf Gott bezogenen enklitischen Personalpronomen verbunden sind, besondere Beachtung; dies sind insgesamt 35 Belege.108 Was für eine Gerechtigkeit diese Konstruktion jeweils zur Sprache bringt und welche Textstellen als Hintergrund der paulinischen Aussagen über Gottes Gerechtigkeit in Frage kommen, muss für jeden Beleg einzeln und sorgfältig betrachtet werden. Nach dem Textbefund ist die anzutreffende dominierende Vorstellung von Gottes Gerechtigkeit in den Qumran-Texten die vergeltende Gerechtigkeit, welche die Ungerechtigkeit und Sünde verfolgt und die Treue und Gerechtigkeit des Menschen belohnt (4Q418; 4Q423; 1QS 5,21; 14,15-16). In dieser Hinsicht sind die folgenden Belege zu beachten, in denen besungen bzw. bekannt wird, dass Gott allein gerecht ist. Dieses Bekenntnis steht meist in schroffem Kontrast zur Sündhaftigkeit der Menschen: IQS 10,25; 11,3.5.12.14; 1QH 4,32; 6,26-27; CD 20,20; 4Q511 20 i 3. Dazu begegnet häufig die Vorstellung, dass das Recht bzw. die Gerechtigkeit des Beters allein aufgrund der Gerechtigkeit Gottes bestehen kann (1QS 11,3.5). Auffallend ist auch, dass die Rede von Gottes Gerechtigkeit oft in Verbindung mit der Tilgung der

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die Brisanz der Qumran-Schriften hinsichtlich der Thematik der Gerechtigkeit Gottes bzw. der Rechtfertigung bei Paulus anerkannt. Zu diesem Überblick über die Belege für die auf Gott als Subjekt bezogene ‫צדק‬-Terminologie vgl. Zanella, s.v. (ThWQ); ders., Gerechtigkeit in den Qumranschriften. Vgl. Ps 35,28; 40,10-11; 51,16-17; 71,24; 101,1; 145,7. Vgl. Ps 33,4; 111,3.7; 145,17; Neh 9,33; Dan 9,14. Zu den einschlägigen Belegstellen vgl. Irons, Righteousness, 198–200.

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bzw. Reinigung von der Sünde steht (1QS 11,3; 1QH 12,38; 1QH 19,33-34; 4Q511 20 i 1; 4Q258 13,3). Von diesen Befunden ausgehend wird die Rede von Gottes Gerechtigkeit in den angeführten Belegen meistens im Sinne der „Barmherzigkeit“, der „Bundestreue“ oder der „heilschaffenden Macht Gottes“ verstanden109 , allerdings geht die Semantik von ‫צדק‬/‫ צדקה‬in den angeführten Belegen nicht über die Bedeutungen Recht, Gerechtigkeit hinaus. Um die Aussage, dass die Gerechtigkeit des Menschen allein mit Hilfe der Gerechtigkeit Gottes bestehen kann, und die auffällige Verknüpfung zwischen Gerechtigkeit Gottes und Sündentilgung zu verstehen, ist es empfehlenswert, die vorausliegenden alttestamentlichen Vorstellungen zu beachten. Die explizite Aussage, Gott tilge bzw. reinige in seiner Gerechtigkeit die Sünde der Menschen, ist im Alten Testament nicht belegt, allerdings ist durchaus eine Verknüpfung von Gerechtigkeit Gottes und Tilgung der Sünde durch ihn an folgenden Stellen zu finden: Ps 51; Mi 7,7-20; Dan 9,3-19. Die Gerechtigkeit Gottes ist das Fundament, aufgrund dessen der Beter Gott um die Tilgung der Sünden bitten und das Heil erfahren kann. Hierbei ist wichtig zu beachten, dass im Kontext der oben genannten Perikopen der Beter das Leiden als gerechte Strafe Gottes anerkennt. So ist es der bereits Buße tuende und sich zu Gott bekehrende Mensch, dem die Sündentilgung zuteilwird. Somit geht es keinesfalls um eine bedingungslose Sündenvergebung. Die Vorstellung der Gerechtigkeit Gottes wird dadurch gewahrt, dass der Beter Strafe erfahren und seine Sünden bekannt hat und dadurch zu Gott umgekehrt ist. Dieser so beschriebene Zusammenhang von Gottes Gerechtigkeit und seine Tilgung der Sünde gilt in gleicher Weise für die Qumran-Texte. Die Vorstellung von 1QS 11,3.5, dass das Recht des Menschen allein aufgrund der Gerechtigkeit Gottes bestehen kann, geht in ihrem Aussagegehalt auf Psalmtexte wie Ps 5; 7; 9; 18; 35; 37; 40; 51; 71; 85 und Mi 7,7-20; Dan 9,3-19 zurück, in denen die Bitte um Rettung oder die Zusage des Heils mit der Gerechtigkeit Gottes verbunden wird. In diesen Texten meint dies das richterliche Eingreifen Gottes und damit die Rettung vor den als gottlos bezeichneten Feinden des Beters. Nun ist es notwendig, auf 1QS 11,2-17 genauer einzugehen, da dieser Text in der Forschung mehrfach als Hintergrund des Verständnisses für die paulinische Formulierung δικαιοσύνη θεοῦ genannt wird.110 Für eine eingehende Kontextanalyse wird hier die entsprechende Stelle ausführlich zitiert:

109 Vgl. Stuhlmacher, Gottes Gerechtigkeit, 154ff; Kertelge, Rechtfertigung, 28ff; Wilckens, Römer I, 215; Lohse, Römer, 78ff; Schröter, Gottesbild, 569ff. 110 Vgl. Stuhlmacher, Gottes Gerechtigkeit, 154ff; Kertelge, Rechtfertigung, 28ff; Wilckens, Römer I, 215; Bornkamm, Paulus, 148f; Lohse, Römer, 79f; Wolter, Römer I, 122.

Die vor israelitisch-jüdischem Hintergrund stehenden Schriften

(2) Was mich betrifft, so steht mein Recht (‫ )משפטי‬bei Gott, und in seiner Hand liegt die Vollkommenheit meines Wandels mitsamt der Geradheit meines Herzens, (3) und durch seine Gerechtigkeit (‫ )צדקתו‬wird meine Sünde getilgt. Denn aus der Quelle seiner Erkenntnis hat er sein Licht eröffnet, so dass mein Auge seine Wunder erblickte und das Licht meines Herzens das Geheimnis (4) des Gewordenen. Und ewiges Sein ist die Stütze meiner Rechten, auf einem starken Felsen geht der Weg meiner Schritte, der durch nichts wanken wird. Denn Gottes Wahrheit, sie ist (5) der Fels meiner Schritte, und seine Macht ist die Stütze meiner Rechten. Aus dem Quell seiner Gerechtigkeit (‫ )צדקתו‬kommt mein Recht (‫)משפטי‬. Licht ist in meinem Herzen aus seinen wunderbaren Geheimnissen. Auf das, was ewig ist, (6) hat mein Auge geblickt, tiefe Einsicht, die Menschen verborgen ist, Wissen und kluge Gedanken vor den Menschen, eine Quelle der Gerechtigkeit und Hort (7) der Kraft mit der Quelle der Herrlichkeit vor der Versammlung des Fleisches. Welche Gott erwählt hat, denen hat er sie zu ewigem Besitz gegeben, und Anteil hat er ihnen gegeben am Los (8) der Heiligen, und mit den Söhnen des Himmels hat er ihre Versammlung verbunden zu einem Rat der Gemeinschaft und Kreis des heiligen Gebäudes, zu ewiger Pflanzung für alle (9) künftigen Zeiten. Doch ich gehöre zur ruchlosen Menschheit, zur Menge des frevelnden Fleisches. Meine Sünden, meine Übertretungen, meine Verfehlungen samt der Verderbtheit meines Herzens (10) gehören zur Menge des Gewürms und derer, die in Finsternis wandeln. Denn kein Mensch bestimmt seinen Weg, kein Mensch lenkt seinen Schritt; sondern bei Gott ist das Recht (‫)המשׁפט‬, und aus seiner Hand (11) kommt vollkommener Wandel, und durch sein Wissen ist alles entstanden. Alles, was ist, lenkt er nach seinem Plan, und ohne ihn geschieht nichts. Ich aber, (12) wenn ich wanke, so sind Gottes Gnadenerweise meine Hilfe auf ewig. Und wenn ich strauchle durch die Bosheit des Fleisches, so besteht mein Recht (‫ )משפטי‬durch die Gerechtigkeit Gottes (‫ )צדקת אל‬in Ewigkeit. (13) Und wenn er meine Bedrängnis löst, so wird er meine Seele aus der Grube ziehen und meine Schritte auf den Weg lenken. Durch sein Erbarmen hat er mich nahegebracht, und durch seinen Gnadenerweis kommt (14) mein Recht (‫)משפטי‬. Durch die Gerechtigkeit seiner Wahrheit (‫ )ובצדקתו אמתו‬hat er mich gerichtet, und durch den Reichtum seiner Güte sühnt er alle meine Sünden, und durch seine Gerechtigkeit (‫ )צדקתו‬reinigt er mich von aller Unreinheit (15) des Menschen und von der Sünde der Menschenkinder, Gott zu loben für seine Gerechtigkeit (‫ )צדקו‬und den Höchsten für seine Majestät. Gepriesen seist du, mein Gott, der du zur Erkenntnis auftust (16) das Herz deines Knechtes. Leite durch Gerechtigkeit (‫ )בצדק‬all seine Werke und richte den Sohn deiner Wahrheit auf, wie du Wohlgefallen hast an den Auserwählten der Menschheit, dass sie stehen (17) vor dir auf ewig. Denn ohne dich wird kein Wandel vollkommen, und ohne dein Wohlgefallen geschieht nichts.111

111 Die Übersetzung ist von Lohse übernommen. Dabei habe ich allerdings eine Änderung vorgenommen: In den Versen 2.10.12.14 habe ich für ‫ משפט‬Gerechtigkeit durch Recht ersetzt, um die Unterscheidung zu ‫ צדקה‬deutlich zu machen.

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Bei dem oben angeführten Textabschnitt aus 1QS 11 erfährt der Beter die Bedrängnis als Strafe Gottes, die der Beseitigung seiner Schuld dient. So ist in 1QS 11,3.5.12 die Überzeugung des Beters erkennbar, dass er zwar jetzt Strafe leiden muss, aber Gott ihn durch diese Strafe wieder ins Recht setzt und zu einem gerechten Wandel führt. Aus den bisherigen Beobachtungen wird deutlich, dass die Rede von Gottes Gerechtigkeit mit der sündentilgenden Strafe in Verbindung steht und sich damit die Bedeutung in diesem Kontext sowohl inhaltlich als auch semantisch von der paulinischen Genitivverbindung δικαιοσύνη θεοῦ unterscheidet. Da die δικαιοσύνη θεοῦ bei Paulus das Urteil Gottes der Gerechtsprechung der Glaubenden zur Sprache bringt, lässt es sich kaum mit dem 1QS 11 in Verbindung bringen.112 Darüber hinaus lässt sich der Hintergrund der Formulierung δικαιοσύνη αυτοῦ in Röm 3,25f, die eindeutig mit dem göttlichen Heilshandeln an den Glaubenden verbunden ist, nicht von 1QS 11 her erklären. Während der Qumrantext von der Sündentilgung durch göttliche Strafe am Beter ausgeht, spricht Paulus vom Sündenerlass an den Glaubenden, der sich ohne Strafe vollzieht, weil Jesus Christus das Gericht über die Glaubenden durch seinen Kreuztod bereits auf sich genommen hat. Ein weiterer Unterschied besteht darin, dass Paulus die Gerechtigkeit Gottes im Kontext der Thematisierung der göttlichen Gerechtmachung der Sünder nennt. Nun gehen wir auf die Belege für die ‫צדק‬-Terminologie ein, welche auf Menschen bezogen verwendet werden. Das Adjektiv ‫ צדיק‬wird, wie auch im Alten Testament, sehr häufig als Bezeichnung für einen Gerechten verwendet. ‫ צדיק‬ist derjenige, der die Gesetze Gottes beachtet und ein gottgefälliges Leben führt. Er verfügt über die Kenntnis dessen, was Gott gefällt und übt die Gerechtigkeit im Verhältnis zu seinen Mitmenschen (4QpPsa  1-10 ii 22f). Sie unterscheiden sich aufgrund dieser Kenntnis und der daraus folgenden Handelsweise von den Frevlern. Zudem gehören zu den Charakteristika der Gerechten, dass sie Buße tun, ihre Sünde bekennen und das Gericht Gottes als gerecht anerkennen. Die beiden Substantive ‫צדק‬, ‫ צדקה‬werden auch nicht allein mit Bezug auf Gott, sondern auch häufig mit Bezug auf die Menschen verwendet. Es lassen sich folgende drei Verwendungsweisen aufzeigen: (1) ‫ צדקה‬und ‫ צדק‬charakterisieren eine positiv konnotierte Eigenschaft des Menschen. In diesem Fall bringen sie den Status des Gerecht-/Rechtschaffen-Seins derjenigen zum Ausdruck, die Gott fürchten und seine Gebote befolgen. Die häufig belegten Cstr.-Verbindungen mi einer Genitivkonstruktion bezeichnet die Eigenschaft der Gerechten. Ausdrücke wie „die

112 Vgl. die exegetische Analyse der Genitivformulierung in Röm 1,17; 3,21f; 10,3 in dieser Arbeit. Dabei muss man besonders beachten, dass der in 1QS 11 verwendete Begriff ‫ משפט‬nicht Rechtfertigung bedeutet, wie es in der Forschung häufig angenommen wird. Bei der Rede von ‫ משפטי‬in 1QS 11 geht es nicht um Rechtfertigung des Beters im Sinne der paulinischen Rechtfertigungslehre, sondern um eine Überzeugung des Beters, dass sein Recht allein durch die Rechtshilfe bzw. Rettungstat Gottes bestehen kann (vgl. Irons, Righteousness, 202ff).

Die vor israelitisch-jüdischem Hintergrund stehenden Schriften

Söhne der Gerechtigkeit“ oder „die Erwählten der Gerechtigkeit“ sind in diese Verwendungsweise einzuordnen (4Q215 I ii). (2) ‫ צדקה‬wird als eine menschliches Verhalten umfassende Tugend verstanden (1QS 5,3f; 8,2; 4Q223-224 2 II 49). Der Begriff bezeichnet umfassend, was dem Willen Gottes entspricht und daher gerecht ist; also die Gerechtigkeit, die von Gott im alltäglichen Leben gefordert wird. (3) ‫ צדקה‬referiert auf eine bestimmte Tat, die als Gerechtigkeit zu bezeichnen ist, zumeist das Geben von Almosen (4Q200 2,6.8.9; 4Q424 3,9). Die dritte Verwendungsweise von ‫ צדהק‬soll etwas näher erläutert werden. Drei Belege dafür kommen aus 4Q200 2,6-9. Dieser Text bezeugt einen Abschnitt aus dem Buch Tobit. Tobit trägt seinem Sohn Tobias auf, wie er sich dem Gebot Gottes entsprechend verhalten soll. Das Geben von Almosen steht dabei im Mittelpunkt. Von einem gesetzestreuen Gerechten wird vor allem erwartet, Armen zu helfen. Das Almosengeben erscheint hierbei als ein wesentliches Kennzeichen von Weisheit und Gerechtigkeit. Dieser Zusammenhang zwischen dem Almosengeben und der Zusprechung von Gerechtigkeit ist auch bei Paulus von Bedeutung. In 2Kor 9,9 fordert Paulus die Korinther dazu auf, die geplante Kollekte für die Armen in Jerusalem durchzuführen. Zur Begründung dieser Forderung führt er Ps 112,9 an, wo der Begriff ‫ צדקה‬sich auf die Wohltätigkeit des Gerechten gegenüber den Armen bezieht. Der dortige Kontext zeigt, dass die Bedeutung der Aufforderung zum Almosen nicht allein darin liegt, dass das Almosengeben an sich eine gute Tat wäre, sondern darin, dass sich im Almosengeben die Gerechtigkeit bzw. Barmherzigkeit der heidnischen Gläubigen erweist, die daraufhin von den jüdischen Gläubigen in Jerusalem als an Gott Glaubende anerkannt werden (vgl. 2Kor 9,12-15; Gal 2,10; Röm 15,22-29).

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Die Gerechtigkeitsaussagen in jüdischen und intertestamentarischen Schriften

C.

Fazit

Die verschiedenen Verwendungsweisen des Begriffs δικαισύνη in den griechischsprachigen jüdischen Schriften aus hellenistisch-römischer Zeit lassen erkennen, dass es unterschiedliche traditionsgeschichtliche Wirkungen und Rezeptionsarten der Gerechtigkeitsvorstellung in diesen Schriften gibt. Für diese gilt, dass sie „einen doppelten Ursprung“113 haben, nämlich zum einen die griechisch-philosophische, zum anderen die alttestamentliche Tradition. Für jede dieser beiden Traditionen lassen sich in den untersuchten Texten charakteristische Ausdrücke und sprachliche Merkmale ausmachen. Besonders auffällig sind die Charakteristika der griechisch-philosophischen Auffassung des Begriffs δικαιοσύνη in vielen antiken jüdischen Texten. Zu den typisch griechisch-philosophischen Redeweisen bzw. Inhalten bezüglich der δικαιοσύνη, die sich in den jüdischen Schriften aus hellenistisch-römischer Zeit finden, gehören vor allem Tugendlisten. Die klassischen Kardinaltugendlisten finden sich bei Philo und im 4. Makkabäerbuch. Das zweigliedrige Tugendschema von εὐσέβεια (in Bezug auf die Beziehung zu Gott) und δικαιοσύνη (in Bezug auf zwischenmenschliche Beziehungen) wird bei Philo und Josephus sowie im Aristeasbrief verwendet. Wie bereits oben dargelegt, weichen Ausdruck und Inhalt der Verwendung der zweigliedrigen Formel bei Josephus von der ursprünglichen Formel ab, weil sie durch die jüdische Verwendungsart der δικαιοσύνη neu geprägt wird, indem sie gewöhnlich als eine Beschreibung für die gesamte Aufforderung Gottes an Israel und für eine gottgefällige Lebenshaltung des Menschen verwendet wird. In der Weisheit Salomos wird δικαιοσύνη einmalig im Zusammenhang der griechisch-philosophischen Kardinaltugenden gebraucht (vgl. 8,5-7). Die anderen Belege zeigen aber offenkundig, dass die Gerechtigkeitsvorstellungen in der Weisheit Salomos im Ausdruck sowie im Inhalt vor allem vom Alten Testament abhängig sind. Hinsichtlich unserer Frage nach dem traditionsgeschichtlichen Hintergrund des Gebrauchs von δικαιοσύνη bei Paulus ist bemerkenswert, dass die in den obigen Schriften vorkommenden Tugendlisten und die differenzierende Verwendungsweise von εὐσέβεια und δικαιοσύνη bei ihm nicht belegt sind. Paulus verwendet ohne Differenzierung zwischen dem Verhältnis zu einer Gottheit und dem Verhältnis zu einem Menschen den Begriff δικαιοσύνη und bezeichnet damit die durch den Glauben gekennzeichnete Lebensweise im Verhältnis zu Gott und den Menschen.114 Neben den von der griechischen philosophischen Tradition her zu verstehenden Rede- und Ausdrucksweisen des Begriffs δικαισύνη finden sich in den frühjü-

113 Fiedler, Δικαιοσύνη, 142. 114 Dazu vgl. meine Auslegung von δικαιοσύνη in Röm 6,13.18.19.20; 8,10; 14,17 in dieser Arbeit.

Fazit

dischen Schriften auch die verschiedenen alttestamentlichen Vorstellungen und sprachlichen Merkmale. Dazu gehört an erster Stelle die Vorstellung Gottes als gerechten Richters. Gott ist ein gerechter Richter, da er die Menschen nach ihren Taten vergeltend richtet, Gerechte belohnt und Frevler bestraft. Wie im Alten Testament, so dienen auch in vielen durch das Alte Testament geprägten Schriften wie etwa in Sirach, Tobit und im Jubiläenbuch die δικαι-Termini sehr häufig dazu, dieses Wesen bzw. diese Handlungsweise Gottes zu charakterisieren. Dort ist wie im Alten Testament in zwei Bezugseben von Gottes Gerechtigkeit die Rede: entweder individuell, im Blick auf den einzelnen Frommen, oder kollektiv, im Blick auf das ganze Volk Israel. Wenn es um die Gerechtigkeit Gottes gegenüber Israel geht, so steht dies häufig im Kontext vom Strafhandeln Gottes aufgrund der Übertretungen Israels. Die meisten Erwähnungen von Gottes Gerechtigkeit beziehen sich auf die schwierigen Lebensumstände Israels, bei denen Israel in heidnische Länder zerstreut wurde und unter der Unterdrückung leidet (Jub 1,8f; 5,15-16; 21,4; 2Bar 44,4-6; 78,5; PsSal 2,15; 8,24.25; 9,2.4; 17,29). In diesem Zusammenhang wird durch die Rede von Gottes Gerechtigkeit angedeutet, dass Gott als ein gerechter Richter die Ungerechtigkeit Israels bestraft hat und somit seine Urteile über Israel gerecht sind. Hierbei handelt es sich um eine Reflexion über die tragische Vergangenheit und um eine Anerkennung der göttlichen Strafe als gerechte Urteile Gottes. Diese Befunde sind in Hinsicht auf die paulinischen Vorstellungen der göttlichen Gerechtigkeit sehr bedeutsam, weil eine vergleichbare Verbindung von Gottes Gerechtigkeit und ihrer Anerkennung durch den Menschen ebenfalls bei Paulus zu finden ist (vgl. Röm 3,4-5.25-26). Wie für die Verfasser der oben genannten jüdischen Schriften ist für Paulus der Erweis der Gerechtigkeit Gottes gegenüber der Menschheit eine wichtige Thematik, die er aufzuzeigen versucht. In den frühjüdischen Schriften finden sich ein paar Belege, in denen die Rede von der Gerechtigkeit Gottes unmittelbar mit der Befreiung von heidnischen Völkern und der neu beginnenden Heilszeit Israels in Verbindung gesetzt wird (Jub 1,15; 5,17-18; T. Juda 22,2; 24,6; T. Seb. 9,8; T. Juda 23,5-24,1). Dabei liegt der Schwerpunkt darin, dass Gott in seiner Gerechtigkeit, nachdem Israel Buße tut und zu ihm umkehrt, Heil schafft und den heidnischen Völkern, die Israel unterdrückten, ihr Tun vergilt. Hinsichtlich des semantischen Verständnisses des Ausdrucks der Gottesgerechtigkeit ist zu beachten, dass die auf das Heil Israels bezogene Gerechtigkeit Gottes stets notwendig das strafende Handeln Gottes an den Israel unterdrückenden heidnischen Völkern einschließt. Deswegen ist es unangemessen, die Rede von der Gerechtigkeit Gottes allein mit Heil bzw. Heilstat zu identifizieren. Diese Verwendungsweise von δικαιοσύνη, die auf die Eigenschaft Gottes als gerechten Richter bezogen ist, ist bei Paulus nur in Röm 3,5 belegt. Die oben dargestellte Vorstellung von Gottes Gerechtigkeit in den frühjüdischen Schriften kann aber nicht als Verstehenshintergrund für die Formulierung δικαιοσύνη

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θεοῦ bei Paulus (Röm 1,17; 3,21-22; 10,3; 2Kor 5,21) gelten, da zwischen der For-

mulierung δικαιοσύνη θεοῦ bei Paulus und der Aussage von Gottes Gerechtigkeit in den frühjüdischen Schriften eine semantische Differenz vorliegt. Während es sich bei der Rede von Gottes Gerechtigkeit in den frühjüdischen Texten um die Eigenschaft Gottes handelt, ist mit der Formulierung δικαιοσύνη θεοῦ bei Paulus die Gerechtigkeit gemeint, die Gott dem Glaubenden zuspricht. Ist von Gottes Gerechtigkeit im individuellen Kontext die Rede, dann unterscheidet sich ihre Konnotation nicht wesentlich von den Aussagen über Gottes Gerechtigkeit, die in Bezug auf den kollektiven Kontext Israels getroffen werden. Es geht dabei um die Gerechtigkeit Gottes, sein Gerechtsein, aufgrund dessen er die Frevler maßregelt, den Gerechten aber Rettung zuteilwerden lässt. Gott ist es, der dem bußtuenden Sünder seine Verfehlung vergibt und ihn wieder auf einen guten Weg zurückbringt. Diese Vorstellung ist besonders gut zu ersehen aus den Texten von Qumran. Die Qumran-Texte haben aufgrund dieser Vorstellung über die Gerechtigkeit Gottes immer wieder in Hinblick auf die Thematik der Gerechtigkeit Gottes bei Paulus besondere Aufmerksamkeit bekommen und es wurde häufig ausgeführt, dass die Aussagen in den Qumran-Texten inhaltlich sehr eng mit der paulinischen Vorstellung verbunden sind. Man sollte diese Verbindung jedoch nicht pauschal ziehen, vielmehr wird es nötig sein, die einzelnen Belegstellen in den Qumran-Texten je nach ihren Bedeutungsnuancen zu unterscheiden und zu prüfen, ob sie sich tatsächlich mit paulinischem Gedankengut vereinbaren lassen. Die Aussagen der Gerechtigkeit Gottes in den Qumran-Texten spielen vor allem auf verschiedene Lobgebete und Bußgebete im Alten Testament an, in denen der Beter die Sündhaftigkeit des Menschen bzw. Israels bekennt und die Gerechtigkeit Gottes in seinen Taten anerkennt und preist (vgl. Neh 9; Dan 9; Ps 51; vgl. auch Dtn 9,4f). Der Gedanke der Sündhaftigkeit des Menschen und der ihr entgegenstehenden Alleinigkeit der Gerechtigkeit Gottes lässt sich bei Paulus in Röm 3,1-20 finden. Das Syntagma δικαιοσύνη θεοῦ bei Paulus hat aber nichts mit diesem Gedanken zu tun. Wenn bei Paulus das Syntagma δικαιοσύνη θεοῦ vorkommt, verweist es auf die Gerechtigkeit, die der Mensch durch den Glauben an Christus Jesus erlangt (Röm 1,17; 3,20f; 10,3; 2Kor 5,21), zudem wird es häufig mit der Glaubensgerechtigkeit parallelisiert (Röm 1,17; 3,20f; 10,3f; vgl. auch 4,11.13; Phil 3,9). Hierbei geht es hauptsächlich um die Feststellung, dass der Mensch allein aufgrund der göttlichen Gnade und wegen seines Glaubens an Christus vor Gott als gerecht bestehen kann. Doch in den Qumran-Texten hat die Gerechtigkeit Gottes gar nichts mit dem gerecht sprechenden Urteil Gottes und mit dem Glauben an Christus zu tun. Sie bezieht sich stets auf Gottes eigene Gerechtigkeit und wird inhaltlich oftmals mit der Reinigung bzw. Sühne der Sünde des Menschen verbunden (1QS 11,3.14; 1QH 4,37; 11,30f). Das Bekenntnis, dass alle Taten Gottes gerecht sind (1QH 4,31.40; 13,19; vgl. auch 1QH 1,16) oder das Recht des Menschen allein durch die Gerechtigkeit Gottes bestehe (1QS 11,3.5.12), begegnet auch

Fazit

in den Qumran-Texten sehr häufig. Diese Vorstellungen der Gerechtigkeit Gottes in den Qumran-Texten gehen vorwiegend auf verschiedene Psalmtexte zurück, in denen ein Beter um die Vergebung der Sünde bittet oder an die Gerechtigkeit Gottes appellierend die Rettung vor seinen gottlosen Feinden erfleht (Ps 5; 7; 9; 18; 35; 37; 40; 51; 71; 85 u. a.). Die Formulierung δικαιοσύνη θεοῦ bei Paulus, die von Paulus immer als Glaubensgerechtigkeit näher bestimmt wird, beruht demgegenüber inhaltlich direkt auf Gen 15,6 und Hab 2,4, wo der Begriff δικαιοσύνη in Bezug auf Menschen gebraucht wird und in Verbindung mit dem Begriff πίστις steht (vgl. Röm 1,17; 4,3; Gal 3,6.11). Auch bei den Belegen für Vorstellungen der Gerechtigkeit innerhalb des menschlichen Kontextes sind in den frühjüdischen Schriften sowohl im Sprachgebrauch als auch in ihrem inhaltlichen Gehalt starke Einflüsse des Alten Testaments erkennbar. Hier lassen sich folgende drei grundlegende Bedeutungen ausmachen: (1) Gerechtigkeit als Eigenschaft eines Gerechten, Frommen, d. h. zur Bezeichnung des Status des Gerechtseins (z. B. Hen 5,10; 10,16;12,4; 91,3; 93,2; 107,1; Jub 1,16; 16,26; 21,24; 22,11; 25,3; 36,6; Vit. Ad. 20,1 u. a.). (2) Gerechtigkeit als ethische Tugend. In diesem Fall umfasst dieser Terminus die gottgefällige und von der Tora geforderte Lebensweise. Ein häufig belegtes Beispiel dieser Verwendung ist die formelhafte Redewendung „Gerechtigkeit üben (ποιεῖν δικαιοσύνην)“ (Tob 4,5; 12,9; 13,8; 14,9; Jub 7,20; 22,10; 30,18.20.23; 36,16; T. Levi 13,5; T. Gad 3,1; T. Benj. 10,3 u. a.). Kennzeichnend ist vor allem, dass diese Aussagen von der Ausübung der Gerechtigkeit inhaltlich an mehreren Stellen eng mit der Befolgung der Tora verbunden sind (z. B. Jub 20,2; 22,10; T. Gad 3,1; T. Benj. 10,3; T. Levi 13,5). (3) Gerechtigkeit als einzelne gerechte Tat. Die am häufigsten als δικαιοσύνη bezeichnete Tat ist das Almosengeben (Sir 44,10; Tobit 4,7f; T. Naph. 4,5; T. Gad 5,3; 4Q200 2,6.8.9; 4Q424 3,9). Diese drei Verwendungsweisen des Begriffs δικαιοσύνη sind auch bei Paulus vertreten: δικαιοσύνη ist der zentrale Begriff, mit dem Paulus die neu gewonnene Identität der Glaubenden und die Ausrichtung ihres Lebenswandels beschreibt. Darüber hinaus fungiert der Begriff als eine Metonymie für Almosen im ganz konkreten Sinne (vgl. 2Kor 9,9f; Phil 1,11). Den weiteren Spuren des Alten Testaments in den jüdischen Schriften nachgehend, fällt ebenfalls die typische Gegenüberstellung von Gerechtem und Frevler ins Auge. Dabei werden die charakteristischen Handlungsweisen des Gerechten und deren Folgen im Gegensatz zu denen des Frevlers dargestellt. Häufig genannte Merkmale des Gerechten sind die Erkenntnis des Gotteswillens, die Befolgung des in der Tora Geforderten und das Vertrauen auf Gott in einer schwierigen Lage. Hinsichtlich des Sprachgebrauchs von πίστις stößt man auf einen Unterschied zwischen den jüdischen Schriften und Paulus. In den jüdischen Schriften wird πίστις im Sinne des Vertrauens auf Gott immer wieder als ein gehorsamer Akt gegenüber Gott dargestellt. Das Vertrauen auf Gott wird hier also nie wie bei Paulus in Bezug auf die Frage nach der göttlichen Rechtfertigung als ein ausschließender

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Die Gerechtigkeitsaussagen in jüdischen und intertestamentarischen Schriften

Gegensatz zur Erfüllung des Gesetzes verstanden, sondern noch im Rahmen der Gesetzestreue. Dies zeigt sich eindeutig an der Art und Weise, wie die jüdische Tradition Gen 15,6 interpretiert (vgl. Sir 44,19-20; 1Makk 2,50-52; Philo, Rer. Div. Her. 92f; Mut. Nom. 218f; Abr. 262f; Praem. Poen. 29f; Virt. 216f).

V.

Die Gerechtigkeitsaussagen im Römerbrief1

Es ist der Römerbrief, in dem Paulus die umfangreichste Vorstellung seines Evangeliums ausarbeitet, die zudem „eine gründlich durchdachte Rechenschaft“2 darüber darstellt. Auch in den anderen Paulusbriefen ist das Evangelium stets ein bedeutsames Thema, das die unterschiedlichen Gedankengänge und Argumentationen im jeweiligen Brief durchzieht, allerdings ohne dass dessen Inhalt in ähnlich stattlichem Umfang wie im Römerbrief dargelegt wird. Gleich im Briefeingang, im Präskript und Proömium, wird das Wort εὐαγγέλιον, die frohe Botschaft, als thematisches Leitwort herausgehoben. Paulus liefert eine präzisierende Erklärung, worum es bei diesem Begriff geht. Drei Aspekte werden dabei von ihm herausgestellt: (1) Das Evangelium ist das von Gott herkommende Wort (1,1). (2) Das Evangelium ist die Verkündigung von Jesus Christus, der aufgrund der Auferstehung von den Toten als Sohn Gottes eingesetzt ist (1,4). (3) Das Evangelium ist die Kraft Gottes, welche jedem Glaubenden Heil herbeiführt (1,16). Ebenfalls innerhalb des Proömiums verleiht Paulus seinem Wunsch Ausdruck, die Gemeinde in Rom zeitnah zu besuchen und seine Heilsbotschaft zu verkündigen und zu festigen. Der Zweck der Abfassung des Römerbriefs liegt für Paulus darin, vor seinem geplanten Besuch in der Gemeinde bestehende Probleme anzusprechen, die dringend zu lösen sind. Diese Probleme umfassen die Gefährdung des Evangeliums (3,5-8; 4,1-25), ethische Missstände (3,5-8; 6; 8,1-17; 12), die Leidenssituation in Folge des Christusglaubens (5,1-11; 8,18-39), die Frage nach der Rettung der Israeliten (9-11), das Verhältnis zur römischen Staatsmacht (13), die Spaltung innerhalb der Gemeinde (12, 14,1-15,7) und die Aufforderung zum Kollektensammeln für die Jerusalemer Gemeinde (15,22-33).3 Hierbei steht die Klarstellung bzw. die Verteidigung seiner Verkündigung Jesu Christi als der wahren Heilsbotschaft im Vordergrund, wie der Textumfang der entsprechenden Passagen zeigt. Bei den Ausführungen, in denen Paulus den zentralen Gehalt seines Evangeliums darlegt, geht es besonders um die Frage, wie die wegen der Sünde dem Gericht

1 Ursprünglich sollten in dieser Arbeit alle Belegstellen der Wörter des Stammes δικαι- im Corpus Paulinum behandelt werden. Dieses Vorhaben konnte aber aus Platzgründen nicht umgesetzt werden. Wenn es sich anbietet, verweise ich zum Zweck eines Vergleichs und zum Aufzeigen einer Verbindung mit den Belegstellen im Römerbrief auf die Belegstellen außerhalb des Römerbriefs. 2 Lohse, Römer, 45. 3 Man darf jedoch, vom Lehrcharakter des Briefes ausgehend, ihn nicht einfach als ein ohnehin dogmatisches Dokument der christlichen Glaubenslehre bezeichnen, wie schon von vielen Exegeten zurecht angemerkt worden ist.

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Die Gerechtigkeitsaussagen im Römerbrief

Gottes verfallene Menschheit Gerechtigkeit erlangen und vor dem Gericht Gottes gerettet werden kann. Die zentrale Rolle dieser Frage nach der Gerechtigkeit bzw. Rechtfertigung zeigt sich gerade an der Häufung der δικαιοσύνη- und δικαιοῦνAussagen im Römerbrief. Diese Termini zielen also zum großen Teil darauf ab, den Wechsel der an Christus Glaubenden zum Status des Gerechtseins zum Ausdruck zu bringen. Im Römerbrief werden viele verschiedene weitere Begriffe aufgegriffen, um das Heilshandeln Gottes an Jesus Christus und das durch dieses erschlossene Heil zu charakterisieren, wie etwa Auslösung (ἀπολύτρωσις), Befreiung (ἐλευθερία), Frieden (εἰρήνη) und Versöhnung (καταλλαγή). Ohne Zweifel bilden aber die δικαι-Termini die am häufigsten verwendete und zentrale Wortgruppe bei der Beschreibung des Heilsgeschehens. Es ist zu fragen, warum gerade diese Wortgruppe im Römerbrief eine so herausragende Stellung einnimmt und welche Funktion ihr innerhalb der theologischen Reflexion im Römerbrief zukommt. Zur Klärung dieser Problematik sollen grundsätzlich Einzeltexte untersucht werden hinsichtlich der Frage, was der verwendete δικαι-Terminus innerhalb des jeweiligen Kontextes bedeutet. Dabei sollte die im vorherigen Kapitel angestellte Untersuchung über die Semantik der δικαι-Termini miteinbezogen werden. Vermutete Traditionszusammenhänge einiger der dort untersuchten Belege mit den einzelnen Verwendungen im Römerbrief sollen dargestellt werden. Dabei ist zu klären, inwiefern einzelne Belege im Römerbrief mit anderen Erwähnungen der δικαι-Termini innerhalb des Römerbriefs sowie des Corpus Paulinum in Verbindung stehen. Methodisch werden dabei Einzelbelegstellen im näheren Kontext untersucht und erklärt, mit welcher Konnotation und Funktion ein δικαι-Terminus verwendet wird.4 Die Texte etwa Röm 2,1-16; 3; 4; 5; 6; 9,30-10,13, in denen die δικαι-Termini gehäuft auftreten und es damit fast unmöglich ist, sie isoliert zu betrachten, werden als größere Einheit untersucht, damit die Funktion der δικαιTermini im vorliegenden argumentativen und pragmatischen Zusammenhang geklärt werden kann.

4 Ausnahmsweise wird die Verwendung von δικαίωμα in Röm 1,32 und in Röm 2,26 nicht gesondert untersucht. Diese Belege werden in der Exegese von Röm 5,16.18 und Röm 8,4 herangezogen.

Der im Evangelium offenbarte Heilsweg: Röm 1,16-17

A.

Der im Evangelium offenbarte Heilsweg – „Gerechtigkeit aus dem Christusglauben“: Röm 1,16-17

1.

Das Evangelium: Die Kraft Gottes zur Errettung für jeden Glaubenden (1,16)

Nach der Danksagung in V 8 äußert Paulus seine tiefe Verbundenheit mit den römischen Christen (V 9-15). Er denkt ständig an sie (V 9) und sehnt sich danach, zu ihnen zu kommen und sie zu sehen (V 10.13). Der Grund für seinen Besuchswunsch wird in V 11-12 genannt: Paulus will den römischen Christen eine „geistliche Gabe (χάρισμα πνευματικόν)“ überbringen, damit sie gestärkt werden.5 Darüber hinaus hofft er, dass er durch seinen Besuch selbst ermutigt wird, wenn er sieht, dass er mit ihnen denselben Glauben teilt. Was ist aber mit der „geistlichen Gabe“, die Paulus hier erwähnt und die er der römischen Gemeinde übermitteln will, gemeint? Aus dem unmittelbaren Kontext wird deutlich, dass er damit die Heilsbotschaft meint, die Jesus als Christus, Gottessohn und rettenden Herrn proklamiert (vgl. V 15; auch 15,27).6 Als Apostel, der dazu verpflichtet ist, allen Völkern diese Heilsbotschaft zu verkündigen, will Paulus auch in Rom seinen Dienst ausrichten. Nach der Äußerung seines dringenden Wunsches gibt Paulus eine prägnante und eindrückliche Bestimmung dessen, worum es im Evangelium geht. Sie beginnt mit der bekenntnishaften Selbstaussage des Paulus, dass er sich des Evangeliums nicht schäme (οὐ γὰρ ἐπαισχύνομαι τὸ εὐαγγέλιον). Die Formulierung οὑ ἐπαισχύνομαι ist häufig im Zusammenhang mit den ἐπαισχύνεσθαι- bzw. ὁμολογέιν-Aussagen in Mk 8,38 par. Lk 9,26; Lk 12,8 par. Mt 10,32f; 2Tim 1,12 als eine urchristliche Bekenntnisformel interpretiert worden.7 Diese immer wieder anzutreffende Interpretation kann jedoch nicht ohne Weiteres aufrechterhalten werden, da vom Text her ein konfessorisches Element in religiösem Sinne kaum auszumachen ist.8 Die Aussage „sich des Evangeliums nicht

5 Das Verb στηρίζειν in Bezug auf die Glaubensstärkung der Gemeinde findet sich noch in 1Thess 3,2; 3,13; 2Thess 2,17; 3,3; 2Petr 1,12. 6 Damit gegen die meisten Exegeten, die den Ausdruck χάρισμα πνευματικόν im Sinne von pneumatischer Gabe verstehen (vgl. bspw. Michel, Römer, 82f; Wilckens, Römer I, 79; Wolter, Römer I, 108). In 1Kor 9,11 spricht Paulus von πνευματικά im Zusammenhang mit der Verkündigung des Evangeliums (vgl. V 14f), wobei er seine apostolische Tätigkeit als die Tätigkeit des Säens charakterisiert, bei dem „Pneumatisches“ gesät wird. Darüber hinaus verwendet Paulus χάρισμα häufig in Bezug auf die Gerechtigkeit bzw. Rettung, welche Gott den Glaubenden widerfahren lässt, ohne eine besondere Bezugnahme auf die Vermittlung pneumatischer Gaben (vgl. 5,15.16; 6,23). 7 So Michel, Römer, 86; Kertelge, Rechtfertigung, 85; Käsemann, Römer, 19; Schlier, Römer, 42; Wilckens, Römer I, 82; Lohse, Römer, 76; Haacker, Römer, 41; Williams, Righteousness, 255. 8 So auch Wolter, Römer I, 114. Der Ausdruck οὐ ἐπαισχύνομαι ist m. E. als eine Redewendung zu verstehen, welche Gewisssein oder Stolz auf etwas zum Ausdruck bringt.

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Die Gerechtigkeitsaussagen im Römerbrief

schämen“ spiegelt vielmehr die Haltung des Paulus gegenüber dem Evangelium und seinem apostolischen Auftrag wider. In seinen Briefen macht Paulus deutlich, dass er sich des Evangeliums, der Christusbotschaft, rühmt und weiß, dass es eine Kraft Gottes ist (1Kor 2,1-4; Gal 6,14; Phil 3,7-9). Er ist sich seiner Sache gewiss und stolz darauf, dass Gott ihn zum apostolischen Dienst berufen hat und ihm anvertraut hat, das durch Christus erschlossene Heil Gottes zu verkündigen (1,1.5; 1Kor 1,1.17; 2,1-4,21; 2Kor 1,1; 2,14-5,21; Gal 1,1.11-17). Das Wort vom gekreuzigten Christus gilt Paulus allein als die Weisheit bzw. Kraft Gottes (1Kor 1,18f), welche den Menschen die Rechtfertigung bzw. Rettung vermittelt (3,21f; 5,1f; 1Kor 1,18-25; 2Kor 3,6-11 u. a.). Aufgrund dieser Überzeugung des Paulus wird auch seine mehrfach begegnende Entschlossenheit dazu verständlich, das Evangelium unter jeglichen Umständen und Schwierigkeiten zu verkündigen. Die Aussage οὑ ἐπαισχύνομαι τὸ εὐαγγέλιον sollte demnach im Zusammenhang mit den Äußerungen des Paulus über sein Evangelium und seinen Stolz auf dieses verstanden werden. Die Überzeugung des Paulus, dass das ihm anvertraute Evangelium als Heilskunde Gottes bei den Menschen Heil bewirkt, kommt auch in Röm 1,16 zum Ausdruck. Paulus bestimmt dabei das Evangelium wie folgt: „Evangelium ist die Kraft Gottes (δύναμις θεοῦ) zur Errettung für jeden, der glaubt (εἰς σωτηρίαν παντὶ τῷ πιστεύοντι).“ Zunächst muss man sich hier darüber Klarheit verschaffen, was das Wort εὐαγγέλιον bedeutet und weshalb und vor welchem Hintergrund Paulus seine Verkündigung vom Heilshandeln Gottes durch Christus mit ebendiesem Begriff bezeichnet. Der Begriff εὐαγγέλιον kommt nach dem bisherigen Befund in der paganen Gräzität schon seit Homer vor und wird überwiegend im Sinne einer guten und frohen Nachricht verwendet, welche jemandem Freude bereitet. So wird z. B. die Nachricht von einem Geburtstag (OGIS II, 458; Theophrastus, Char. 17,7), einer Ausrufung zum Caesar (Josephus, Bell. 4,618.656) oder einem militärischen Sieg (Plutarch, Demetr. 17) als εὐαγγέλιον bezeichnet.9 Der Sprachgebrach in der LXX unterscheidet sich auf semantischer Ebene nicht vom paganen Gebrauch des Wortes (vgl. 2Sam 18,20a.22.25.27; 2Kön 7,9). Wenn man aber nach der Herkunft des Terminus εὐαγγέλιον bei Paulus fragt, ist festzuhalten, dass sein Gebrauch bei ihm im Alten Testament verwurzelt ist. Die Gebrauchsweise des Begriffs εὐαγγέλιον in Bezug auf die Heilskunde Gottes lässt sich besonders an JesLXX 40,9f und 52,7f anschließen, wo von den Freudenboten gesprochen wird, welche Israel das zukünftige Heil Gottes verkündigen.10 Den Jesajatexten und Paulus ist gemeinsam, dass es bei der überbrachten Botschaft 9 Das Wort εὐαγγέλιον wird gelegentlich auch im Sinne des Botenlohns verwendet (vgl. Homer, Od. 14,152.166; Cicero, Attic. 2,10,1; Plutarch, Ages. 33,5; Demetr. 17,6). Vgl. dazu Wolter, Römer I, 82f. 10 So auch Stuhlmacher, Evangelium, 164ff; Lohse, Römer, 62f; Hengel/Schwemer, Paulus, 154.

Der im Evangelium offenbarte Heilsweg: Röm 1,16-17

inhaltlich um das Heilshandeln Gottes geht, welches den Menschen Gerechtigkeit und Heil verschafft. In den Jesajatexten sind die Heilsempfänger die Israeliten, bei Paulus hingegen ist es die ganze Menschheit. Die von Paulus verkündete frohe Botschaft ist in diesem Sinne als eine Heilsbotschaft zu bezeichnen. Diese Konnotation des Begriffs εὐαγγέλιον als Botschaft vom göttlichen Heilshandeln ist vom paganen Sprachgebrauch keinesfalls herzuleiten. In 10,15 verweist Paulus selbst durch das Zitat von Jes 52,7LXX offenkundig darauf, dass seine Erwähnung von εὐαγγέλιον auf die prophetische Tradition im Alten Testament zurückgeht und dass er sich selbst als einen der Boten versteht, die dazu berufen sind, das Evangelium Gottes zu verkündigen. Er ist gewiss, dass das Evangelium durch seinen apostolischen Dienst zu Gehör gebracht wird, so dass jeder es hören und im Glauben annehmen kann. Der in Röm 1,16 die Heilswirkung der Heilsbotschaft bezeichnende Begriff σωτηρία hat ein breites semantisches Spektrum und wird sowohl in der paganen Gräzität als auch in den jüdischen Schriften in verschiedenen Kontexten verwendet.11 Es gibt freilich eine häufig anzutreffende Bedeutungsnuance, nämlich die Befreiung bzw. Rettung von Übel oder Gefahr. So bezieht sich σωτηρία auch in Röm 1,16 auf die eschatologische Errettung vor dem göttlichen Zorngericht (1,18).12 Dieses Zorngericht ist für alle Menschen bestimmt, die in Ungerechtigkeit und Gottlosigkeit verharren und nicht umkehren wollen (vgl. 1,18; 2,5.8.1213 ). Demgegenüber werden die Menschen, die die Heilsbotschaft hören und ihrem Anspruch entsprechend ihr Vertrauen auf Jesus Christus setzen, vor dem Zorngericht gerettet (vgl. 5,9; 1Thess 1,10; 5,9). Diese Heilszusage für die Glaubenden wird nochmals in V 17 durch das Zitat von Hab 2,4 mit dem Begriff ζῆν zum Ausdruck gebracht.14 Wie der dativus commodi15 παντὶ τῷ πιστεύοντι eindeutig aufzeigt, wird die Rettung, welche die Heilsbotschaft verspricht, jedem zuteil, der Jesus als Christus, seinem Retter, Vertrauen schenkt. πᾶς markiert dabei die universale Reichweite

11 Vgl. Spicq, s.v. 12 Vgl. Gräbe, Power of God, 177; Hauck, Dynamis, 274ff. 13 An den genannten Stellen meint Paulus mit ὀργή offenbar das Vernichtungsgericht. Dieser Gebrauch des Wortes geht auf seine alttestamentlich-jüdische Verwendungsweise zurück, nach der ὀργή in Bezug auf das Gericht Gottes über die Gottlosen vorkommt. Zur Vorstellung vom Zorngericht Gottes in der alttestamentlich-jüdischen Tradition und zu den einschlägigen Belegstellen vgl. Konradt, Gericht, 57–65. 14 Durch die Ringkomposition der Verse 16b und 17b werden die Begriffe σωτηρία und ζῆν miteinander in Beziehung gesetzt, wodurch sie einander interpretieren. Im Römerbrief begegnen beide sehr häufig und fungieren als die Leitbegriffe, mit denen Paulus das Heilsgeschick der Glaubenden in Bezug auf ihre gegenwärtige Lage sowie zukünftige Rettung zum Ausdruck bringt (vgl. σωτηρία bzw. σῴζειν: 5,9.10; 8,24; 10,9.10;11,26; 13,11 u. a., ζωή bzw. ζῆν: 5,17.18.21; 6,4.5.8.11.22f; 8.6.10.12 u. a.). 15 Vgl. Wolter, Römer I, 116.

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Die Gerechtigkeitsaussagen im Römerbrief

der Heilsbotschaft. Das Verb πιστεύειν wird in der Auslegung oft auf das davorstehende Evangelium bezogen und im Sinne von zustimmender Wahrnehmung oder Kenntnisnahme verstanden.16 Bei dieser Interpretation ist der Gegenstand des πιστεύειν somit der Inhalt der Heilsbotschaft, das, wovon die Heilsbotschaft spricht. πιστεύειν wird dementsprechend im Sinne von Glauben an etwas bzw. als zustimmende Annahme aufgefasst. Wenn man sich aber den semantischen Zusammenhang des Ausdrucks πιστεύοντι mit den weiteren πίστις-Aussagen in V 17, die offensichtlich das Vertrauen auf Jesus Christus bezeichnen (s. u.), vor Augen hält, ist vielmehr anzunehmen, dass schon in V 16 mit πιστεύοντι vom Vertrauen oder Sich-Verlassen auf Jesus Christus die Rede ist. Die Verwendungsweise von πίστις in 1,5f und 3,22f, wo durchaus vom Vertrauen auf Christus die Rede ist, spricht auch dafür, dass die πιστεύειν- und πίστις-Aussagen in 1,16-17 im Sinne des Vertrauens auf Jesus Christus zu verstehen sind. Für dieses Verständnis ist es außerdem von entscheidender Bedeutung, dass Paulus in Röm 10,11 JesLXX 28,16 (πᾶς ὁ πιστεύων ἐπ᾿ αὐτῷ οὐ καταισχυνθήσεται) als Zeugnis für die Behauptung, dass die Rettung allein Vertrauenden gilt, heranzieht.17 Der Ausdruck ὁ πιστεύων ἐπ᾿ αὐτῷ aus dem Jesajazitat bezieht sich dabei im paulinischen Kontext auf diejenigen, die ihr Vertrauen Jesus Christus schenken (vgl. auch 9,30f). Die an παντὶ τῷ πιστεύοντι angeschlossene Apposition ᾽Ιουδαίῳ τε πρῶτον καὶ Ἕλληνι bringt die universale Ausrichtung der Heilsbotschaft zum Ausdruck. Das Begriffspaar Ἰουδαῖος und Ἕλληνες ist nicht eingeschränkt auf die beiden ethnischen Gruppen Juden und Griechen, sondern Paulus nimmt damit die ganze Menschheit in den Blick. Ist Ἕλληνες καὶ βαρβάροι in V 14 die aus griechischer Perspektive formulierte Kennzeichnung der ganzen Menschheit, so ist Ἰουδαῖος καὶ Ἕλληνες die Kennzeichnung aus jüdischer Perspektive.18 Im Unterschied zur Formulierung in V 14 sind die Griechen aber in V 16 an die zweite Stelle gerückt und bezeichnen nun nicht nur die hellenistisch Gebildeten, sondern stehen stellvertretend für alle nichtjüdischen Völker. Mit der Formulierung Ἰουδαίῳ τε πρῶτον καὶ Ἕλληνι wird somit die universale Gültigkeit des Evangeliums deutlich gemacht, dass die Heilskunde und ihre Heilswirkung, unabhängig davon, ob jemand Jude oder Grieche ist, jedem Glaubenden aus der ganzen Menschheit gilt. Zu beachten ist, dass anders als in V 14 in der Formulierung in V 16 das Adverb πρῶτον nach Ἰουδαίῳ steht. Die Einsetzung des πρῶτον an dieser Stelle stellt für viele Exegeten ein schwerwiegendes Problem dar. Die entscheidende Frage ist dabei,

16 So z. B. Wolter, Römer I, 116f. 17 Man kann wohl davon ausgehen, dass der paulinische Gedankengang, dass das Heil aus dem Vertrauen auf Christus kommt, gerade mit diesem Schriftwort in Verbindung steht. Jes 28,16 kann neben Hab 2,4 und Gen 15,6 als ein Grundtext gelten, auf dessen Grundlage Paulus seinen Rechtfertigungsgedanken entfaltet. 18 So auch viele andere, vgl. nur Lohse, Römer, 77; Haacker, Römer, 42; Wolter, Römer I, 118.

Der im Evangelium offenbarte Heilsweg: Röm 1,16-17

wie die betonte Hervorhebung des auf Juden bezogenen πρῶτον zu verstehen ist und wie diese Bemerkung in Relation zum universalen Charakter der Heilsbotschaft, den Paulus mit besonderem Nachdruck herausstellt, zu erklären ist. Den universalen Charakter der Heilsbotschaft, die allen Menschen, sowohl Juden als auch Heiden ohne Unterschied gilt, betont Paulus mehrfach auch andernorts in seinen Briefen (vgl. 3,29-30; 10,12; 1Kor 1,24; 12,13; Gal 3,28). Andererseits weist er aber auch eindeutig auf die ursprüngliche Erwählung Israels als Gottes Eigentumsvolk (vgl. 11,2.16-18.28) und auf die besonderen, verschiedenen Vorzüge hin, die den Israeliten in ihrer Geschichte widerfahren sind (vgl. 9,4-5). Paulus sagt an keiner Stelle, dass die Vorzüge der Juden einfach bedeutungslos sind (vgl. 3,1-2), obwohl er feststellt, dass die Vorzüge der Juden bei der Rechtfertigung durch Gott und bei der Heilserlangung keine Rolle mehr spielen. Im Blick auf diese paulinische Darlegung der Vorzüge der Juden ist die Voranstellung der Juden in 1,16 an sich nicht verwunderlich. Freilich mag die Hervorhebung der Juden anstößig klingen. Der Anstoß besteht vor allem darin, dass die Hervorhebung des πρῶτον nicht auf die vergangenen Zuwendungen Gottes zu Juden verweist, sondern mit Bezug auf die Geltung der Heilsbotschaft ausgesprochen ist, deren universale Reichweite Paulus festhält. Wenigstens wird man so viel sagen können, dass Paulus mit πρῶτον nicht meint, dass das Jude-Sein etwa einen besonderen Vorzug bzw. Vorteil in Bezug auf das Heilserlangen habe. Wenn Juden die Heilsbotschaft, welche den gekreuzigten Jesus als Christus proklamiert, nicht im Glauben empfangen, können auch sie nicht Anteil am Heil bekommen. Paulus erwähnt in seinen Briefen nirgendwo einen anderen Heilsweg als den durch den Glauben an Jesus Christus. Das Prinzip des Glaubens als notwendige Bedingung für die eschatische Rettung gilt selbstverständlich auch für Juden. Die Hervorhebung des πρῶτον dürfte auch keinesfalls so zu interpretieren sein, als ob Juden in einem absoluten Vorrang der Heilsordnung stünden, in dem Sinne, dass sie zuerst am Heil teilhätten und danach erst Nicht-Juden. Kaum leugnen lässt sich auf Grundlage des Textes jedoch, dass durch die Hervorhebung des πρῶτον die Juden als Adressaten, an die sich die Heilsbotschaft wendet, jedenfalls eine vorrangige Position einnehmen. Diese eindeutig ausgesprochene Voranstellung der Juden als Adressaten der Heilsbotschaft wird jedoch von den meisten Exegeten relativiert. Sie interpretieren die Wendung πρῶτον im Sinne eines heilsgeschichtlichen Vorsprungs bzw. Vorrangs, wobei zwei verschiedene Aspekte unterstrichen werden.19 Zum einen wird häufig darauf hingewiesen, dass das Evangelium in der Geschichte Gottes mit Israel bzw. in den Verheißungen, die einst Israel gegeben wurden, beheimatet ist.20 Zum anderen verstehen einige Exegeten die Hervorhebung von πρῶτον im Sinne, dass die Heilskunde zeitlich zuerst den Juden mitgeteilt wurde und danach den

19 Vgl. Michel, Römer, 88; Schlier, Römer, 43; Käsemann, Römer, 21; Schmithals, Römer, 68f. 20 So z. B. Wilckens, Römer I, 84; Lohse, Juden zuerst, 119.120.126.128; ders., Römer, 77; Wolter, Römer I, 118.

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heidnischen Völkern.21 Im Hinblick auf den Gesamtzusammenhang der Aussage dürfte es sich bei der Wendung πρῶτον jedoch weder um eine Bemerkung über den jüdischen Ursprung des Evangelium noch um einen chronologisch gemeinten Hinweis auf den Prozess der Mission handeln. Denn bei der Verwendung von πρῶτον geht es offenbar nicht um ein bereits abgeschlossenes Geschehen in der Geschichte Israels, sei es, dass Israel durch die Propheten die Verheißungen des Evangeliums gegeben wurden, oder dass zuerst den Juden das Evangelium überreicht und danach den heidnischen Völkern angetragen wurde. Paulus markiert mit πρῶτον vielmehr unverkennbar den Vorrang der Juden im Hinblick auf die universal gültige Heilswirkung der Heilsbotschaft, welche in der Gegenwart von ihm verkündigt wird. Vom unmittelbaren Kontext her liegt es näher, dass Paulus mit dem πρῶτον seine Gewissheit zur Sprache bringen will, dass die Heilsbotschaft, die den Glaubenden das Heil bringt, zuallererst an die Juden gerichtet ist. Hat Paulus das Evangelium als die das Heil bringende Kraft Gottes bestimmt und die Juden als seinen primären Geltungsbereich benannt, kann es als sicher gelten, dass die Juden vom Zuspruch der Heilsbotschaft nicht ausgenommen sind. Sie sollen ebenfalls ohne Ausnahme entsprechend der paulinischen Verkündigung durch den Glaubensgehorsam am Heil Gottes teilhaben können. Diesen Gedankengang, der hier mit dem πρῶτον nur knapp ausgedrückt ist, führt Paulus in Kap. 9-11 näher aus, wo er sich mit dem Problem des Heils für Israel intensiv befasst. In den Ausführungen Kap. 9-11 bedauert Paulus zunächst, dass die Juden die Heilsbotschaft, welche ihnen klar kundgetan worden ist (vgl. 10,16ff), nicht im Glaubensgehorsam angenommen, sondern sich ihr verweigert haben. Paulus zufolge hat sich Gott, nachdem die Juden sich dem Evangelium verschlossen haben, den Heiden zugewandt und dazu entschlossen, das Evangelium zu den Heiden hinaustragen zu lassen, wodurch viele aus den nichtjüdischen Völkern zum Christusglauben gekommen sind. Trotz dieser Lage bleibt Paulus weiterhin davon überzeugt, dass die Juden aus dem Heilsplan Gottes nicht ausgeschlossen sind (vgl. 11). Kennzeichnend ist dabei vor allem, wie Paulus die Ablehnung der Heilsbotschaft durch die Juden versteht. Er nimmt an, dass die Ablehnung seitens der Juden die heilsgeschichtliche Grundlage dafür ist, dass das Heil Gottes den Nichtjuden zuteilwerden konnte (vgl. 11,11.25). In dieser Weise soll man den jetzigen Unglauben der Juden im Rahmen des Heilsplans Gottes verstehen und nicht einfach als ihren endgültigen Abfall (vgl. 11,11). Paulus hat keinen Zweifel daran, dass, wie schon bei den nichtjüdischen Völkern, viele Menschen aus seiner Stammverwandtschaft – Juden – zum Glauben kommen werden (vgl. 11,12.23-24). Wie Gott die heidnischen Völker, die ungehorsam waren, in seinem Erbarmen angenommen hat, wird er auch an den jetzt ungehorsamen Juden seine Barmherzigkeit erweisen und sie zum Heil rufen (vgl. 11,30-31). So behält Paulus die jüdischen Menschen fest im Blick, auch wenn er sich als Apostel zu heidnischen Völkern gesandt weiß (vgl. 9,1f; 10,1f). Die

21 So z. B. Zeller, Juden und Heiden, 142; Michel, Römer, 88; Haacker, Römer, 42.

Der im Evangelium offenbarte Heilsweg: Röm 1,16-17

Hervorhebung durch πρῶτον ist somit in diesem Zusammenhang zu betrachten, in dem Paulus die Gültigkeit der Heilsbotschaft für die Juden feststellt.22

Man darf aber keinesfalls vergessen, dass die Apposition zu παντὶ τῷ πιστεύοντι nicht mit der Hervorhebung der Juden endet. καὶ Ἕλληνι zeigt sogleich, dass das Evangelium als rettende Kraft Gottes nicht nur Juden, sondern gleicherweise Nichtjuden gilt. Unabhängig von der ethnischen Herkunft ermöglicht es denjenigen das Heil, die es hören und im Glauben annehmen. Von daher lässt sich auch verstehen, weshalb Paulus das Evangelium δύναμις θεοῦ nennt.23 Das Evangelium ist die alle ethnischen Grenzen überwindende, niemals ihre Gültigkeit verlierende Kraft Gottes für alle Glaubenden, die ihnen ihre Rettung versichert. Die Feststellung, das Evangelium sei die Kraft Gottes, sollte jedoch nicht so interpretiert werden, dass das Evangelium selbst die Rettungskraft Gottes besitzt oder im Evangelium Gottes Rettungskraft aus sich selbst heraus wirkt. Allerdings findet sich bei vielen Kommentatoren die Tendenz, die Aussage τὸ εὐαγγέλιον, δύναμις γὰρ θεοῦ ἐστιν im Sinne einer Wort-Gottes-Theologie (bzw. eines Wort-GottesKonzepts) zu interpretieren, wonach Gott in seinem Wort gegenwärtig ist und wirkt und durch sein Wort Heil schafft. Sie kommen dann zu der Annahme, dass das Evangelium eine „Erscheinungsweise“24 oder ein „Machthandeln“25 Gottes ist, so dass „sich in ihm (sc. dem Evangelium) Gott selbst wirkmächtig dem Menschen mitteilt“.26 Diese Auslegung der δύναμις θεοῦ wird nicht allein auf das eigentliche Bezugswort εὐαγγέλιον beschränkt, sondern oft auch einfach auf die δικαιοσύνη θεοῦ angewendet, obwohl die Genitivverbindung δύναμις θεοῦ syntaktisch nicht direkt auf die δικαιοσύνη θεοῦ bezogen ist. In der Folge wird häufig die δικαιο-

22 Die Behauptung, dass die Heilsbotschaft, welche jedem Glaubenden das Heil verspricht, zuerst für die Juden gilt, dürfte für die Juden, welche sich dem Evangelium verweigerten, eher wie eine polemische Herausforderung geklungen haben. 23 Vgl. Lohse, Gerechtigkeit Gottes, 225. Die Genitivkonstruktion δύναμις θεοῦ hat in der alttestamentlich-jüdischen Tradition ihren Ursprung, δύναμις bezieht sich dabei auf das rettende Handeln bzw. Eingreifen Gottes in bedrängenden Umständen. Zu beachten ist vor allem die in der LXX häufig begegnende Verbindung von δύναμις und σωτηρία bzw. σῴζειν. Gott manifestiert seine Kraft, indem er zugunsten der zu ihm Gehörenden, die in Gefahr geraten sind, eintritt. Zur näheren Erläuterung vgl. Hauck, Dynamis, 271f. 24 Stuhlmacher, Gerechtigkeit Gottes, 79. 25 Michel, Römer, 88. 26 Kertelge, Rechtfertigung, 85–86. Weitere bei anderen Neutestamentlern zu findende Formulierungen lauten: „die Epiphanie der eschatologischen Gottesmacht“ (Käsemann, Römer, 19); „Selbsteröffnung Jesu Christi im Evangelium“ (Schlier, Römer, 43); „Gott selbst kommt darin zu Wort“, „Die δύναμις des Auferstandenen wirkt in der Verkündigung des Heils der Gottesgerechtigkeit“ (Wilckens, Römer I, 83.91); „Gott selbst an den Hörern der Botschaft handelt“ (Haacker, Römer, 37); „Diese unvergleichliche Kraft wohnt dem Evangelium inne“ (Lohse, Römer, 76).

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Die Gerechtigkeitsaussagen im Römerbrief

σύνη θεοῦ auch unter dem Einfluss dieses Syntagmas ganz ähnlich als „Gottes

eigenes mächtiges Verhalten“27 oder als „heilsetzende Macht“28 bzw. „Schöpfermacht“29 bestimmt. Allerdings ist im Kontext kein Anhaltspunkt dafür zu finden, dass mit der Bestimmung des Evangeliums als δύναμις θεοῦ gemeint sein könnte, dass in ihm die heilschaffende Macht Gottes wirksam sei oder Gott dadurch seine Heilsmacht offenbare. Die Aussage τὸ εὐαγγέλιον δύναμις γὰρ θεοῦ ἐστιν würde letztlich überfrachtet, wenn man ihr eine solche Interpretation aufladen wollte. Im Hintergrund der oben genannten Interpretation des Evangeliums als göttlichen Macht steht die Annahme, dass bei Paulus die drei Begriffe λόγος, πνεῦμα und δύναμις eng miteinander verknüpft sind.30 Als begründende Belege werden zumeist 1Thess 1,5 und 1Kor 2,4f herangezogen.31 In diesen Texten lässt sich in der Tat ein enger Zusammenhang zwischen den Begriffen λόγος und πνεῦμα bzw. δύναμις erkennen. Diese enge Verknüpfung der drei Begriffe an den genannten Stellen kann jedoch keine Begründung dafür sein, dass das Wort Gottes als Kraft Gottes selbst Heil wirkt, oder dafür, dass Gott selbst sich im Wort um der Heilswirkung willen mitteilt. Denn in 1Thess 1,5 und 1Kor 2,4f geht es Paulus nicht darum, die dem Wort Gottes innewohnende Kraft zu betonen, sondern er will rückblickend aufweisen, dass der Geist bzw. die Kraft Gottes in seinem apostolischen Dienst mitgewirkt hat und seine Verkündigung somit wirksam werden ließ. Durch diese Mitwirkung des göttlichen Geistes konnte Paulus’ Verkündigung von den Glaubenden aufgenommen werden – nicht als menschliches Wort, sondern als Wort Gottes. Bei beiden Stellen bezieht sich der Begriff δύναμις nicht direkt auf das Wort selbst, sondern auf das Wirken des Geistes bzw. Gottes, durch das die Verkündigung des Evangeliums geschehen ist und geschehen soll (vgl. Röm 15,19; Gal 3,5; 1Kor 4,19f). Dabei ist anders als im Johannesevangelium die Identifizierung des Wortes mit dem Geist oder Christus selbst (vgl. Joh 1,1-3; 6,63) nicht erkennbar. Eine weitere Textstelle, die zur Untermauerung der genannten Interpretation herangezogen wird, ist Röm 4,17. Anhand dieser Textstelle wird der Aspekt aufgezeigt – nämlich um zu zeigen, dass dem Wort Gottes Schöpferkraft innewohnt. Unter Berufung auf diese Stelle nimmt Stuhlmacher im Hinblick auf die Deutung von Röm 1,16b an, dass Paulus „in

27 Stuhlmacher, Gerechtigkeit Gottes, 79. 28 Käsemann, Gottesgerechtigkeit, 378. 29 Stuhlmacher, Gerechtigkeit Gottes, 83. Stuhlmacher verwendet den Begriff „Macht“ in seiner Dissertation konsequent, um seine Deutung der δικαιοσύνη θεοῦ bei Paulus zu erklären. Diese Deutung des Begriffs geht zurück auf seinen Lehrer Käsemann. Käsemann betont den mächtig wirkenden Charakter von δικαιοσύνη θεοῦ bei Paulus gegenüber dem damals gängigen Verständnis dieser als von Gott verliehenen Gabe und behauptet, dass die δικαιοσύνη θεοῦ nicht allein als Gabe, sondern als „heilsetzende Macht“ zu verstehen sei. Hierzu vgl. die Forschungsgeschichte im Kapitel I der vorliegenden Arbeit. 30 Vgl. Michel, Römer, 87. 31 Vgl. Michel, Römer, 86f; Haacker, Römer, 37; Wilckens, Römer I, 83.

Der im Evangelium offenbarte Heilsweg: Röm 1,16-17

Gottes Wort die Macht des Schöpfers erblickt (Röm 4,17) und es als vorzüglichste Wirkung des Gotteswortes betrachtet hat“.32 Wilckens zieht auch Röm 4,17 für die Interpretation von Röm 1,16 heran und behauptet, dass die schöpferische Kraft Gottes, durch die er „die Toten auferweckt und das Nichtseiende ins Sein ruft“, als solche in der Predigt des Paulus wirkt.33 Mit Röm 4,17 will Paulus aber nicht herausstellen, dass dem Wort die schöpferische Macht Gottes einwohnt, sondern er will hervorheben, dass Gott das Unmögliche möglich machen kann und Abraham auf diese Kraft Gottes sein tiefstes Vertrauen gesetzt hat. Im Satz „der die Toten lebendig macht und das Nichtseiende ruft, wie wenn es da wäre (ζῳοποιοῦντος τοὺς νεκροὺς καὶ καλοῦντος τὰ μὴ ὄντα ὡς ὄντα)“, wird Gottes eigene Kraft beschrieben, nicht die Macht des Wortes. Dass Abraham Isaak als Sohn geschenkt worden ist und er der Vater vieler Völker wurde, ist nicht der Wirkung des Wortes selbst zuzuschreiben, also als ein Wortgeschehen zu interpretieren, sondern ist das von Gott selbst verwirklichte reale Gottesgeschehen, welches Gott aufgrund seiner Verheißung an Abraham vollzogen hat.

Schon vom Argumentationsgang in Röm 1,16-17 her wird klar, dass es Paulus nicht auf die Erscheinung oder Manifestation Gottes in seinem Wort ankommt, sondern auf das Offenbarungsgeschehen der δικαιοσύνη θεοῦ in der Heilsbotschaft. Das Evangelium ist im Sinne eine Kraft Gottes zu nennen, dass es für jeden Glaubenden eine zur Rettung führende Heilsbotschaft ist,34 die aufzeigt, wie die Menschen die Errettung vor dem Zorn Gottes erlangen und am ewigen Leben teilhaben können. Nach V 17 liegt dieser im Evangelium offenbarte Heilsweg darin, dass die Menschen aufgrund des Glaubens Gerechtigkeit von Gott erlangen. Dieses Heilsprinzip gilt allen Glaubenden, Juden und auch Nichtjuden, weshalb auch die römischen Christen ganz zu der Gruppe derer gehören, die aufgrund des Christusglaubens Heil empfangen. Diese Tatsache wird mit der Beschreibung des Evangeliums in Röm 1,2-7 zur Sprache gebracht. In diesen Versen wird das Evangelium als die Botschaft von Jesus Christus beschrieben, dessen Gottessohnschaft aufgrund der Auferstehung bewiesen ist. Durch „Glaubensgehorsam“ (ὑπακοὴ πίστεως: 1,5) ihm gegenüber, der im Evangelium als Gottes Sohn bezeichnet wird, sind die Empfänger des Evangeliums in Rom als Berufene Jesu Christi (κλητοὶ Ἰησοῦ Χριστοῦ: 1,6) bzw. berufene Heilige (κλητοὶ ἁγίοις: 1,7) zu „Geretteten“ geworden.

32 Stuhlmacher, Gerechtigkeit Gottes, 79. 33 Wilckens, Römer I, 83. Er interpretiert Röm 4,17 im Zusammenhang mit dem lebendig machenden Geist in 1Kor 15,45. Zu beachten ist aber, dass in den paulinischen Briefen in Bezug auf die Auferstehung Christi ausschließlich der Geist Gottes und die Kraft Gottes erwähnt werden, nicht aber das Wort Gottes (Röm 1,4; 1Kor 6,14; 2Kor 13,4; Phil 3,10; vgl. Eph 1,20f). 34 So auch Güttgemanns: „Sie (sc. die Formulierung δύναμις θεοῦ) präzisiert den auf den Glaubenden gerichteten sprachlichen Leistungsvorgang der Heilsverkündigung in Bezug auf seine anthropologische efficacia.“ (Gottesgerechtigkeit, 83).

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Die Gerechtigkeitsaussagen im Römerbrief

In diesem Textzusammenhang ist die Verwendung von δύναμις θεοῦ für das Evangelium in Röm 1,16 nicht anders zu verstehen als die Verwendung zusammen mit ὁ λόγος τοῦ σταυροῦ in 1Kor 1,18. Dort wird das Wort vom Kreuz (ὁ λόγος τοῦ σταυροῦ), das auf das zuvor erwähnte Evangelium (1Kor 1,17) wiederholt hinweist, auch benannt als die Kraft Gottes für die Erretteten (τοῖς δὲ σῳζομένοις ἡμῖν δύναμις θεοῦ). Durch diese Aussage über die Empfänger des Heils in Röm 1,16 und 1Kor 1,17-24 wird deutlich, dass das Evangelium als Kraft Gottes nur für Glaubende zu einer wirklichen Erfahrung werden kann. Daher kann nicht einfach gesagt werden, dass die heilschaffende Kraft Gottes dem Evangelium an sich innewohnt und Menschen ohne deren Zutun retten kann. Zwar ist das Evangelium eine für alle Menschen offene Heilsbotschaft, dennoch verlangt es den Hörern den Glauben ab, indem sie sich zum Evangelium als rettender Kraft Gottes bekennen können. Das Evangelium oder das Wort Gottes wirkt, wenn das Wort wahrhaftig als Wort Gottes angenommen und mit Vertrauen darauf beantwortet wird (1Thess 2,13). In diesem Glaubensprozess, an dem man die verborgene Weisheit Gottes erkennt, wirkt der Geist mit dem Evangelium in den Zuhörern (1Kor 2,6-13), nicht selbst im Evangelium. Daher musste sich Paulus bei seiner Verkündigung des Evangeliums darum bemühen, nicht mit Überredungskunst zu sprechen, sondern den Geist und die Kraft Gottes wirken zu lassen, sodass der Glaube der Hörer auf der Kraft Gottes beruht (1Kor 2,1-5). 2.

Das Verständnis von δικαιοσύνη θεοῦ im Zusammenhang mit ἐκ πίστεως εἰς πίστιν

Die inhaltliche Füllung der Heilsbotschaft, womit eine Antwort auf die Frage gegeben ist, in welchem Sinne sie die Kraft Gottes zu nennen ist, welche dem Glaubenden Rettung bringt, wird im Nebensatz in V 17 dargelegt. Paulus sagt, dass im Evangelium (ἐν αὐτῷ) δικαιοσύνη θεοῦ35 aus Glauben zu Glauben (ἐκ πίστεως εἰς πίστιν) offenbart wird. Über das rechte Verständnis der Formulierung δικαιοσύνη θεοῦ hat es unter Exegeten immer kontroverse Diskussionen gegeben. Die Interpretationen in der jüngeren Diskussion lassen sich weitgehend auf die in den 1960er Jahren angestoßene Debatte zwischen Bultmann und Käsemann zurückführen. Während Bultmann die Genitivverbindung als die von Gott geschenkte und zugesprochene Gerechtigkeit versteht36 , schlägt Käsemann vor, sie als heilschaffende Macht zu verstehen37 . Käsemanns Ansicht nach kann allein so die Spannung zwischen Gabe 35 Hier wird zunächst die griechische Genitivformulierung δικαιοσύνη θεοῦ beibehalten, denn jede Wiedergabe, z. B. mit „Gerechtigkeit Gottes“ ist schon eine Interpretation, die das Verständnis beeinflussen kann. 36 Vgl. Bultmann, Theologie, 285. 37 Vgl. Käsemann, Gottesgerechtigkeit, 368ff.

Der im Evangelium offenbarte Heilsweg: Röm 1,16-17

und Dienst bzw. Verpflichtung, die er „die paulinische Dialektik“ nennt, befriedigend erklärt werden. Viele Forscher fragen auch heute noch, ob das Syntagma δικαιοσύνη θεοῦ Gabe Gottes oder Macht Gottes bedeutet, nehmen für eine der beiden Positionen Partei oder versuchen zwischen beiden zu vermitteln. Doch die Frage, ob die Formulierung δικαιοσύνη θεοῦ Gabe oder Macht Gottes bedeutet, hilft zunächst nicht dabei, den Sinn der Genitivverbindung in Berücksichtigung der Semantik des Wortes δικαιοσύνη zu erfassen. Zu beachten ist vor allem, dass die Deutungskategorien Gabe und Macht nicht die referenzielle Semantik von δικαιοσύνη θεοῦ wiedergeben. Sie sind vielmehr Deutungsmuster von Exegeten, die sie zur Beschreibung ihrer eigenen Auffassung von dieser Formulierung benutzt haben. Um den Sinn der Genitivverbindung zu erfassen, müssen die folgenden Fragen gestellt werden: (1) Was ist die semantische Referenz des Substantivs δικαιοσύνη innerhalb der Genitivverbindung? Referiert es auf die Eigenschaft oder das Handeln Gottes? Oder die Eigenschaft des glaubenden Menschen? (2) Wie ist der Genitiv θεοῦ zu verstehen? (3) Wie ist die Genitivformulierung im Gesamtzusammenhang des Textes zu deuten? Die in diesem Sinne zuerst zu behandelnde Frage ist, was mit der Formulierung ἐκ πίστεως εἰς πίστιν, die syntaktisch unmittelbar an die Genitivformulierung anschließt, gemeint ist und in welcher Sinnrelation sie zu ihr steht.38 In der Forschung ist diese Frage umstritten. Die bisher vertretenen Deutungen lassen sich in die folgenden drei Modelle unterteilen: Erstens nehmen viele an, dass πίστις in den Ausdrücken ἐκ πίστεως und εἰς πίστιν jeweils auf verschiedene logische Subjekte bezogen ist und dementsprechend eine unterschiedliche Bedeutung hat. Beispielweise wird die Formulierung interpretiert als „von Gottes Treue zum Glauben der Menschen“39 oder als „von Christi Treue zum Glauben der Menschen“40 . Zweitens vertreten einige Exegeten die Interpretation, dass diese Formulierung ein

38 Eine ähnliche mit ἐκ … εἰς … konstruierte Wendung findet sich bei Paulus in 2Kor 2,16: „ἐκ θανάτου εἰς θάνατον, ἐκ ζωῆς εἰς ζωήν.“ In der LXX finden sich außerdem vergleichbare Formulierungen mit ἐκ …εἰς …: „ἐξ ἡμερῶν εἰς ἡμέρας“ (Ri 11,40; 1Sam 1,3; 1,25 u. a.); „ἐκ δυνάμεως εἰς δύναμιν“ (Ps 83,8); „ἐκ γενεᾶς εἰς γενεάν“ (Spr 27,24); „ἐκ πόλεως εἰς πόλιν“ (Sir 36,26); „ἐκ γῆς, εἰς γῆν“ (Sir 41,10); „ἐκ κακῶν εἰς κακά“ (Jer 9,2); „ἐξ ἀγγείου εἰς ἀγγεῖον“ (Jer 31,11). Je nach Bezugswort bringt die Wendung in den meisten Fällen eine räumliche Distanz oder eine zeitliche Spanne zum Ausdruck. Bei den abstrakten Nomina, bei denen unklar ist, worin eine solche Distanz bzw. Spanne besteht, dient die Wendung ἐκ … εἰς … eher der rhetorischen Verstärkung. Bei dem Gebrauch der Wendung in Röm 1,17 wird im Zusammenhang mit den anderen πιστ-Aussagen in V 16.17b deutlich, dass die Präposition ἐκ einen Grund bzw. Ursprung und die Präposition εἰς ein Ziel zum Ausdruck bringt. 39 Vgl. Dunn, Romans I, 43f; Hays, Πίστις, 41f; Haacker, Römer, 47; Wright, Faithfulness, 1466ff; Schumacher, Entstehung, 222f.271; Mininger, Uncovering, 64ff. 40 Vgl. Hebert, Faithfulness, 375; Campbell, Romans 1:17, 277f.

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Die Gerechtigkeitsaussagen im Römerbrief

fortschreitendes Wachstum des Glaubens bedeutet.41 Drittens treten die meisten Exegeten dafür ein, dass die doppelt genannte πίστις jeweils dieselbe Bedeutung, „Glaube des Menschen“, hat und εἰς πίστιν der Verstärkung von ἐκ πίστεως dient.42 Vom unmittelbaren Kontext und der semantischen Verbindung zwischen Vers 16 und 17 her wird man der letzten Auffassung den Vorzug geben müssen. Besonders ist im Blick auf die semantische Verknüpfung in 1,16-17 auffällig, dass der Ausdruck ἐκ πίστεως εἰς πίστιν in V 17a zu den Formulierungen τῷ πιστεύοντι in V 16 und ἐκ πίστεως im Zitattext Hab 2,4b parallel steht, die zweifellos jeweils den Glauben des Menschen bezeichnen. Somit ist die Betonung des Glaubens der rote Faden in diesen Versen: V 16a Οὐ γὰρ ἐπαισχύνομαι τὸ εὐαγγέλιον, V 16b δύναμις γὰρ θεοῦ ἐστιν εἰς σωτηρίαν παντὶ τῷ πιστεύοντι, Ἰουδαίῳ τε πρῶτον καὶ Ἕλληνι. V 17a δικαιοσύνη γὰρ θεοῦ ἐν αὐτῷ ἀποκαλύπτεται ἐκ πίστεως εἰς πίστιν, V 17b καθὼς γέγραπται· ὁ δὲ δίκαιος ἐκ πίστεως ζήσεται.

Es ist schwer vorstellbar, dass die doppelte πίστις-Formulierung in V 17a, die ohne ein spezifizierendes Genitivattribut gestaltet ist, unvermittelt in einem anderen Sinne als in den benachbarten Formulierungen τῷ πιστεύοντι (V 16) und πίστις (V 17b, Hab 2,4b) verwendet wird. Ebenso ist kaum anzunehmen, dass Paulus mit dieser doppelten Verwendung der nicht näher bestimmten πίστις auf verschiedene Subjekte Bezug nehmen will.43 Denn wollte Paulus mit πίστις die Treue Gottes bzw. Christi bezeichnen, hätte er ein Genitivattribut hinzufügen müssen, damit seine Adressaten die πίστις-Aussage auch in solchem Sinne hätten verstehen können. Insofern ist festzuhalten, dass die doppelte Erwähnung von πίστις in V 17a ein und dieselbe Sache bezeichnet, nämlich den Glauben an Jesus Christus (zu dieser Näherbestimmung der πίστις, s. o.). Unübersehbar ist zudem, dass Paulus auch in den vorhergehenden Versen den Begriff πίστις niemals im Sinne von Treue Gottes bzw. Christi gebraucht. In 1,5.8.12

41 Vgl. Kuss, Römer I, 22f; Taylor, From Faith to Faith, 347f; Fitzmyer, Romans, 263; Jewett, Romans, 144; Olson, Revelation, 115ff. 42 Vgl. Lietzmann, Römer, 31; Cranfield, Romans I, 99f; Schlier, Römer, 45; Ziesler, Meaning, 188; Zeller, Römer, 44; Käsemann, Römer, 27f; Wilckens, Römer I, 88; Stuhlmacher, Römer, 29; Lohse, Römer, 78; Moo, Romans, 76; Schreiner, Romans, 71f. 43 Vgl. Wolter, Römer I, 126.

Der im Evangelium offenbarte Heilsweg: Röm 1,16-17

verwendet er πίστις unverkennbar immer im Sinne der menschlichen Reaktion auf die Christusverkündigung. Er weiß sich als Apostel der Völker dazu bestellt, durch die Verkündigung der Heilsbotschaft die Heiden zum Christusglauben (εἰς ὑπακοὴν πίστεως) zu rufen (1,5). Die Christen in Rom gehören zu denjenigen, die die Heilsbotschaft von Jesus Christus gehört und im Glaubensgehorsam angenommen haben.44 Paulus dankt Gott dafür, dass der Glaube der römischen Christen (ἡ πίστις ὑμῶν) überall bekannt geworden ist (1,8). Er will sie besuchen und hofft, dass er aufgrund des gegenseitig bezeugten Glaubens (διὰ τῆς ἐν ἀλλήλοις πίστεως ὑμῶν τε καὶ ἐμοῦ) Ermutigung erfährt (1,12). Insofern gibt es im näheren Umfeld kein Indiz dafür, dass die πίστις in der Formulierung ἐκ πίστεως εἰς πίστιν in V 17a nicht im Sinne des Glaubens der Menschen, sondern im Sinne der Treue Gottes oder Christi zu interpretieren sei. Damit muss aber nun die Frage gestellt werden, worin dann die Sinnrelation zwischen den beiden Formulierungen ἐκ πίστεως εἰς πίστιν und δικαιοσύνη θεοῦ besteht. Zur Klärung dieser Frage sind zunächst die anderen Verwendungen von ἐκ πίστεως bei Paulus zu berücksichtigen. Der Präpositionalausdruck ἐκ πίστεως ist bei Paulus sehr häufig belegt45 und wird bezeichnenderweise an vielen Stellen wie in Röm 1,17a in Verbindung mit einem δικαι-Begriff gebraucht.46 Der Präpositionalausdruck besagt in diesem Fall, dass die Erlangung der Gerechtigkeit allein aufgrund des Glaubens an Christus möglich ist. Die Belegstellen sind nachfolgend angeführt. Zwei der genannten Belege sind ein Zitat von Hab 2,4b: mit dem Adjektiv δίκαιος: ὁ δὲ δίκαιος ἐκ πίστεως ζήσεται (Röm 1,17b, Zitat von Hab 2,4b) ὁ δὲ δίκαιος ἐκ πίστεως ζήσεται (Gal 3,11, Zitat von Hab 2,4b)

44 Der Ausdruck ὑπακοὴ πίστεως kommt auch in Gal 3,2 in Bezug auf den Vollzug des Glaubens an Christus vor. 45 Außerhalb der paulinischen Briefe findet die Formel sich nur zweimal im Neuen Testament in Heb 10,28 (Zitat von Hab 2,4) und Jak 2,24. 46 Zusätzlich zu der oben genannten Verbindung eines δικαι-Wortes mit ἐκ πίστεως gibt es weitere Formulierungen, in denen ein δικαι-Wort mit διὰ πίστεως (Röm 3,22.30; Gal 2,16; Phil 3,9) bzw. πίστει (Röm 3,28) oder mit dem Verb πιστεύειν verbunden ist (Röm 3,22; 10,4.10; Gal 3,6). Diese Formulierungen verwendet Paulus, um seinen Rechtfertigungsgedanken darzulegen, nämlich, dass die Erlangung der Gerechtigkeit bzw. das Heil aufgrund des Glaubens an Christus möglich ist und nicht auf dem Tun des Gesetzes basiert. Außer den schon genannten Formulierungen sind auch die Wendungen δικαιοσύνη (τῆς) πίστεως (Röm 4,11.13) nicht außer Acht zu lassen. Aufgrund der Verknüpfung des δικαιοσύνη-Begriffs und des πίστις-Begriffs an diesen Stellen besteht kein Zweifel daran, dass die Formulierung δικαιοσύνη θεοῦ in Röm 1,17 semantischen Bezug auf diese Syntagmen nimmt und im Zusammenhang mit ihnen zu interpretieren ist.

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mit dem Substantiv δικαιοσύνη: κατέλαβεν δικαιοσύνην, δικαιοσύνην δὲ τὴν ἐκ πίστεως (Röm 9,30) ἡ δὲ ἐκ πίστεως δικαιοσύνη οὕτως λέγει·(Röm 10,6) ἡμεῖς γὰρ πνεύματι ἐκ πίστεως ἐλπίδα δικαιοσύνης ἀπεκδεχόμεθα (Gal 5,5)

mit dem Verb δικαιοῦν: δικαιοῦντα τὸν ἐκ πίστεως Ἰησοῦ (Röm 3,26) εἴπερ εἷς ὁ θεὸς ὃς δικαιώσει περιτομὴν ἐκ πίστεως καὶ ἀκροβυστίαν διὰ τῆς πίστεως

(Röm 3,30) δικαιωθέντες οὖν ἐκ πίστεως εἰρήνην ἔχομεν πρὸς τὸν θεὸν διὰ τοῦ κυρίου ἡμῶν Ἰησοῦ Χριστοῦ (Röm 5,1) ἵνα δικαιωθῶμεν ἐκ πίστεως Χριστοῦ καὶ οὐκ ἐξ ἔργων νόμου (Gal 2,16) ὅτι ἐκ πίστεως δικαιοῖ τὰ ἔθνη ὁ θεός (Gal 3,8) ἵνα ἐκ πίστεως δικαιωθῶμεν (Gal 3,24)

In Röm 1,17b und Gal 3,11 zieht Paulus Hab 2,4b zweifellos als Schriftbeweis für seinen Rechtfertigungsgedanken heran und zeigt dadurch, dass seine These in Übereinstimmung mit der heiligen Schrift steht (s. u.). Im Umfeld der anderen genannten Textstellen setzt sich Paulus ebenfalls mit der Frage auseinander, auf welcher Grundlage der Mensch Rechtfertigung bzw. Gerechtigkeit von Gott erlangen kann. Dabei hält er entgegen der gängigen jüdischen Position mit der Formel ἐκ πίστεως fest: Nicht die Werke des Gesetzes, sondern allein der Glaube an Jesus Christus ist die Grundlage dafür, dass der Mensch die Rechtfertigung durch Gott erhält. ἐκ πίστεως in Röm 1,17a ist wie die anderen mit δικαι-Begriffen verbundenen Wendungen von ἐκ πίστεως in einem kausalen Sinne zu verstehen. Paulus bringt damit zum Ausdruck, dass die δικαιοσύνη θεοῦ, die Zueignung der Gerechtigkeit durch Gott (zu diesem Verständnis von δικαιοσύνη θεοῦ s. u.), allein aufgrund des Glaubens geschieht. Der Gegenstand der πίστις ist dabei wie zumeist in den paulinischen Briefen nicht angegeben. Allerdings lässt sich aus dem näheren Kontext von Röm 1,17 unschwer erschließen, dass Jesus Christus, welchen das Evangelium als den Sohn Gottes und den Erlöser der Sünder verkündigt (vgl. 1, 2f), als dieser Gegenstand vorausgesetzt ist. Dann aber stellt sich die weitere Frage, wie der zweite Präpositionalausdruck εἰς πίστιν verstanden werden kann.47 Ist er lediglich eine rhetorische Verstärkung von ἐκ πίστεως oder besitzt er eine eigene Bedeutung? Wie eben dargelegt, verweist auch die zweite Erwähnung des Begriffs πίστις in V 17a auf den Glauben an Jesus Christus. Der Unterschied zur Formel ἐκ πίστεως liegt damit allein in der Präposition εἰς. Die Präposition εἰς drückt üblicherweise eine Richtung aus und

47 In den paulinischen Briefen findet sich die Formel εἰς πίστιν nur in Röm 1,17.

Der im Evangelium offenbarte Heilsweg: Röm 1,16-17

schließt damit eine Bewegung auf ein Ziel hin ein. Gibt Paulus mit der Formulierung εἰς πίστιν πίστις das Ziel an, auf welches die δικαιοσύνη θεοῦ sich richtet, so kommt damit zur Sprache, für wen die von Gott anerkannte Gerechtigkeit gilt. Die Formeln ἐκ πίστεως und εἰς πίστιν sind durch unterschiedliche Präpositionen gekennzeichnet, welche ursprünglich verschiedenartige Relationen zum Ausdruck bringen: Aus welchem Grund einerseits und auf welches Ziel hin andererseits die Rechtfertigung durch Gott erfolgt. Sie unterstreichen aber im vorliegenden Kontext gemeinsam, was die diese δικαιοσύνη θεοῦ ermöglichende Grundlage ist. Für das Verständnis der Verbindung von ἐκ πίστεως mit εἰς πίστιν ist auch die Verbindung der Präpositionalausdrücke διὰ πίστεως Ἰησοῦ Χριστοῦ und εἰς πάντας τοὺς πιστεύοντας in Röm 3,22 heranzuziehen, welche ebenso mit der δικαιοσύνη θεοῦ verbunden ist. Die Nähe zwischen 1,17 und 3,21-22 besteht also nicht nur in der gemeinsamen Genitivformulierung und der Parallelität der Offenbarungsaussagen durch ἀποκαλύπτεσθαι und φανεροῦσθαι, sondern auch in der doppelten πίστις-Aussage. Dabei entspricht ἐκ πίστεως in 1,17a dem Ausdruck διὰ πίστεως in 3,22 und εἰς πίστιν in 1,17a dem Ausdruck εἰς πάντας τοὺς πιστεύοντας in 3,22.48 Darüber hinaus lässt sich schon innerhalb der syntaktischen Struktur von 1,16-17 die semantische Verknüpfung von ἐκ πίστεως εἰς πίστιν mit der voranstehenden Wendung παντὶ τῷ πιστεύοντι und dem nachgestellten Präpositionalausdruck ἐκ πίστεως aus dem Habakukzitat erkennen. εἰς πίστιν steht in diesem Zusammenhang zum dativus commodi παντὶ τῷ πιστεύοντι in V 16b parallel und ἐκ πίστεως in V 17a zu ἐκ πίστεως im Zitat von Hab 2,4. Allen πίστις-Formulierungen ist gemeinsam, dass sie denselben Sachverhalt ausdrücken, nämlich was auf der Seite des Menschen für die Rechtfertigung durch Gott vorausgesetzt sein muss. Nun ist zu fragen, was das Syntagma δικαιοσύνη θεοῦ in der Verbindung mit ἐκ πίστεως εἰς πίστιν bedeutet. Wenn man den engen semantischen Zusammenhang zwischen dem Syntagma δικαιοσύνη θεοῦ und der doppelten πίστις-Formulierung ernst nimmt und die Bedeutung der δικαιοσύνη θεοῦ daraus bestimmt, dann ergibt sich nur eine Möglichkeit für deren Verständnis: Sie bezieht sich auf die Gerechtigkeit, welche von Gott zugesprochen wird. Der Rechtfertigungsgedanke, welcher in Röm 3,26.30; 5,1; Gal 2,16; 3,8; 3,24 durch die aktivische Verbalform von δικαιοῦν mit dem Subjekt Gott oder durch die passivische Form δικαιοῦσθαι mit dem logischen Subjekt Gott ausgedrückt wird, wird in Röm 1,17 mit der Genitivkonstruktion δικαιοσύνη θεοῦ in komprimierter Gestalt zum Ausdruck gebracht. Im Resultat aus dieser Beobachtung ist der Genitiv θεοῦ als Angabe des Subjekts des Zueignens oder Zusprechens der Gerechtigkeit zu verstehen (und daher der Genitiv

48 παντὶ τῷ πιστεύοντι in 1,16 entspricht nicht nur εἰς πάντας τοὺς πιστεύοντας in 3,22, sondern auch dem Ausdruck παντὶ τῷ πιστεύοντι in 10,4 und τοῖς πιστεύουσιν in Gal 3,22.

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θεοῦ als gen. auct. bzw. subj. aufzulösen49 ). Das Substantiv δικαιοσύνη referiert hier

im Zusammenhang mit ἐκ πίστεως εἰς πίστιν auf die aus dem Glauben erlangte Gerechtigkeit und ist in diesem Kontext in metonymischer Weise als Gottes Urteil zu verstehen.50 Wenn man die δικαιοσύνη θεοῦ vor dem Hintergrund von Gal 3,11 verstehen will, kann man auch diese Genitivverbindung als Gerechtigkeit vor Gott interpretieren (s. u.). Hinsichtlich der Formulierung ἡ ἐκ θεοῦ δικαιοσύνη in Phil 3,9, welche unmittelbar mit ἡ διὰ πίστεως Χριστοῦ verbunden ist, ist auch die Genitivformulierung in Röm 1,17 im Sinne der Gerechtigkeit, die von Gott kommt, zu lesen. Aus diesem Grund scheiden all diejenigen Interpretationen aus, die δικαιοσύνη in der Genitivformulierung als etwas Gott Eigenes, als eine Eigenschaft51 oder ein Heilshandeln Gottes52 verstehen.53 Wenn man δικαιοσύνη θεοῦ als das Gerecht-

49 Bei der Lektüre exegetischer Kommentare ist nicht nur zu beachten, wie die Exegeten den Ausdruck δικαιοσύνη θεοῦ verstehen, sondern auch, in welchem Sinne sie die Bezeichnungen der verschiedenen Genitivarten innerhalb ihrer Interpretation der Wendung δικαιοσύνη θεοῦ gebrauchen. Denn einerseits wird die Funktion des Genitivs in der Exegese unterschiedlich bestimmt, andererseits variieren die Verständnisse der jeweiligen Genitivarten. Wolter bespielsweise verwendet gen. subj. im Sinne, dass δικαιοσύνη ein Attribut Gottes ist, wie z. B. Käsemann und Brauch es ebenfalls tun. Dagegen versteht Du Toit die Formulierung δικαιοσύνη θεοῦ, die er ebenfalls als gen. subj. auffasst, in einem anderen Sinne (Focusing, 267): Gott sei das Subjekt des Rechtfertigens (δικαιοσύνη bezeichnet hier das Rechtfertigungshandeln). Außerdem verwenden einige Neutestamentler, die den Begriff δικαιοσύνη aus der Genitivformulierung ebenfalls als ein Attribut Gottes verstehen, anders als Wolter die grammatische Bezeichnung gen. poss. (Wright, Paul of Tarsus, 101; Burk, Verbal Genitives, 348.358f). Auch das Verständnis der Genitivformulierung im Sinne der Gerechtigkeit, die Gott verleiht, wird mit unterschiedlichen grammatischen Termini, wie etwa gen. auct. oder gen. obj. erklärt. Bei meiner Bestimmung des Genitivs als gen. subj. folge ich der Verwendungsweise von Du Toit im Sinne, dass Gott den Glaubenden Gerechtigkeit zueignet. Nach den geläufigen griechischen Grammatiken steht im als gen. subj. bestimmten Genitiv in der Regel das handelnde Subjekt des Verbalsubstantivs (vgl. von Siebenthal, Grammatik, 238), so z. B. ἡ ἀγάπη τοῦ θεοῦ als gen. subj.: die Liebe, die Gott jemandem erweist. Obwohl δικαιοσύνη kein nomen actionis ist, kann man die Genitivformulierung δικαιοσύνη θεοῦ im Fall von Röm 1,17 als gen. subj. bestimmen, wenn das Substantiv δικαιοσύνη als metonymischer Ausdruck für das Urteil Gottes und Gott als das Subjekt dieses Ausdrucks angesehen werden. Dieses Verständnis der Genitivformulierung ist auch berechtigt im Hinblick auf den Zusammenhang mit dem Verbalausdruck δικαιοῦται παρὰ τῷ θεῷ in Gal 3,11 wie auch im Zusammenhang mit anderen δικαιοῦσθαι-Wendungen bei Paulus. 50 Zum metonymischen Sprachgebrauch eines Substantivs und den einschlägigen Beispielen vgl. Tayler, Linguistic Categorization, 124f. 51 So aber Fitzmyer, Romans, 257f; Lohse, Römer, 78f; Williams, Righteousness, 255ff; Dunn, Theology, 340f; Theobald, Römer, 208ff; Wright, Faithfulness, 1466ff; Söding, Sühne, 379; Wolter, Römer I, 119ff; Mininger, Uncovering, 98ff; Prothro, Judge, 213. 52 So z. B. Haacker, Römer, 43ff; Jewett, Romans, 141f; Southall, Rediscovering, 289f; Kujanpää, Scriptural Quotations, 307f. 53 Einige Exegeten wollen sich nicht zwischen den beiden Interpretationen als Gabe oder Eigenschaft Gottes entscheiden, sondern nehmen eine mehrfache Bedeutung an (vgl. Sanday/Headlam,

Der im Evangelium offenbarte Heilsweg: Röm 1,16-17

sein Gottes oder dessen Handeln in Gerechtigkeit bestimmen würde, führte dies zu der wenig sinnvollen Aussage, dass das Gerechtsein Gottes erst aufgrund des menschlichen Vertrauens Wirklichkeit wird. Was sollte es denn bedeuten, dass das Gerechtsein Gottes vom menschlichen Vertrauen bzw. Glauben abhängig ist und erst ausgehend von ihm wirksam wird? In Röm 3,3f legt Paulus genau im Gegensatz dazu dar, dass die Gerechtigkeit Gottes unabhängig von der Haltung des Menschen immer bestehen bleibt. Auch die Interpretation der δικαιοσύνη θεοῦ als heilschaffende Macht Gottes ergibt daher keinen Sinn, wenn sie im semantischen Zusammenhang mit ἐκ πίστεως εἰς πίστιν gelesen wird. 3.

Der semantische Zusammenhang von δικαιοσύνη θεοῦ … ἐκ πίστεως εἰς πίστιν und dem Schriftzitat Hab 2,4b

Was Paulus mit der Aussage von δικαιοσύνη θεοῦ in der Verbindung mit ἐκ πίστεως εἰς πίστιν konkret ausdrücken will, wird durch den semantischen Zusammenhang mit dem Schriftzitat Hab 2,4b deutlich. Wie die Zitatformel καθὼς γέγραπται zeigt,54 musste Paulus sich dessen gewiss sein, dass das Schriftwort Hab 2,4b nichts anderes als den Inhalt seiner Verkündigung in der vorausgehenden Argumentation in V 17a bezeugt. Aus diesem Grund kann das Zitat Hab 2,4b als ein Interpretationsschlüssel für das Verständnis von δικαιοσύνη θεοῦ betrachtet und vor jedem anderen Ansatz für das Verständnis dieser Genitivverbindung herangezogen werden.55 Die enge Verknüpfung der Wendung δικαιοσύνη θεοῦ mit dem Habakukzitat wird jedoch in der bisherigen Forschung häufig vernachlässigt. Anstatt das Zitat heranzuziehen, werden andere alttestamentliche bzw. frühjüdische Texte wie Dtn 33,21; T. Dan 6,10; 1QH 11,12-14; 4Esra 8,36 in der Interpretation

Romans I, 24-25; Morris, Romans, 69; Dunn, Romans I, 41f; Byrne, Romans, 60; Schreiner, Romans, 66; Park, Stellvertretung, 212, Anm. 84; Hauck, Dynamis, 293ff). Aber eine solche Interpretation ist sprachlich nicht möglich. Wenn man den Begriff δικαιοσύνη θεοῦ als Eigenschaft Gottes versteht, kann er damit nicht zugleich als eine Gabe bezeichnet werden (vgl. Lee, Greek Words 2, 41ff). Ebenso problematisch ist das Verständnis, dass Gott dem Glaubenden seine Gerechtigkeit schenkt oder der Glaubende an Gottes Gerechtigkeit Anteil erhält (so z. B. Hauck, Dynamis, 293ff). Da die Genitivformulierung in eine bestimmte sprachliche Konstruktion eingesetzt ist, ist eine Entscheidung zwischen der Deutung von dieser als Eigenschaft oder als Zuspruch gefordert. 54 Paulus verwendet die Zitatformel καθὼς γέγραπται häufig: 2,24; 3,4.10; 4,17; 8,36; 9,13.33; 10,15; 11,8.26; 15,3.9.21; 1Kor 1,31; 2,9; 2Kor 8,15; 9,9. Sie entspricht der hebräischen Wendung ‫כאשׁר כתוב‬, die als Einleitung eines Schriftzitats in den Texten von Qumran einige Male vorkommt (1QS 5,17; 8,14; CD 7,19). Bei Paulus finden sich außerdem die anderen Einleitungsformeln etwa γέγραπται γάρ, ἐν γὰρ τῷ Μωϋσέως νόμῳ γέγραπται, ἐν τῷ νόμῳ γέγραπται und ὥσπερ γέγραπται. Vgl. Ellis, Paul’s Use, 22ff; Fitzmyer, Quotations, 299ff; Lohse, Römer, 82, Anm. 28. 55 Diesen entscheidenden Punkt betonen auch auch Conzelmann, Grundriß, 242; Klein, Gottes Gerechtigkeit, 7.

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berücksichtigt. Dass diese Texte im Hintergrund der Genitivformulierung δικαιοσύνη θεοῦ stehen, ist aber unwahrscheinlich, da in ihnen von der Gerechtigkeit als einer Eigenschaft Gottes oder von der Gerechtigkeit als umfassende Bezeichnung für den Willen Gottes und den Inhalt der Tora die Rede ist und nicht von der Gerechtigkeit, die Gott den Glaubenden verleiht. Die Zitatangabe von Hab 2,4b erinnert an die Feststellung des Paulus, dass das Evangelium von Jesus Christus durch die Propheten in den heiligen Schriften schon verheißen worden ist (1,2; vgl. auch 16,25-26). Besonders die Feststellung in 3,21, dass die δικαιοσύνη θεοῦ von Gesetz und Propheten (ὑπὸ τοῦ νόμου καὶ τῶν προφητῶν) bezeugt worden ist (3,21; vgl. auch Gal 3,8), steht in unmittelbaren Zusammenhang mit der Verwendung des Zitats durch Paulus in 1,17. Hab 2,4b ist für Paulus also eines der Schriftworte (und zwar aus den Prophetenschriften), in denen Gott das Prinzip der „δικαιοσύνη ἐκ πίστεως“ schon vorhergesagt hat. Neben Hab 2,4b spielt Gen 15,6, wo sich die Verbindung δικαιοσύνη und πίστις ebenfalls findet, bei Paulus als Schriftzeugnis eine wichtige Rolle, wenn er auf Autorität und Validität seines Evangeliums in Zusammenhang mit den heiligen Schriften zu sprechen kommt (Röm 4,1f; Gal 3,6f). Durch die Art und Weise, wie er die Schriftworte zitiert, macht Paulus deutlich, dass sein Evangelium nicht von ihm selbst ausgeht, sondern dass es durch die heiligen Schriften begründet ist. Interessant ist allerdings, dass der von Paulus angegebene Zitattext von Hab 2,4b hinsichtlich des Wortlautes jedoch weder der am frühesten und am weitesten bezeugten Textform der LXX (LA I) noch dem masoretischen Text entspricht. Der masoretische Grundtext und die drei bisher bekannten Textformen der LXX lauten wie folgt:56 MT ‫יחיה וצדיק באמונתו‬ 1QpHab 8QHevXIIgr ’A Σ Θ vg9

LXX LA I

LXX LA II

LXX LA III

ὁ δὲ δίκαιος ἐκ πίστεως μου ζήσεται

ὁ δὲ δίκαιος μου ἐκ πίστεως ζήσεται

ὁ δὲ δίκαιος ἐκ πίστεως ζήσεται

W B S Q V cet10 it syh; Hebr 10,38 D* pc; Or Cyp Eus Hier ThdrMps Spec11

A al12 ach armpt; Hebr 10,38 P46 al

763 pc14 bo aeth armpt; Hebr 10,38 P13 pl

Alle drei Lesarten der LXX-Handschriften weichen vom masoretischen Text ab, indem sie das Possessivsuffix ‫וֹ‬- durch μου ersetzen oder es auslassen. Mit Ausnahme der LA I, die von der Treue Gottes (ἐκ πίστεώς μου)57 als Bedingung der

56 Zu dieser Tabelle vgl. Koch, Hab. 2,4b, 70f. 57 Rudolph, Habakuk und Septuaginta Deutsch plädieren dafür, ἐκ πίστεως μου als gen. obj. aufzufassen und übersetzen es mit „aus Glauben an mich (Gott)“ (vgl. dazu auch Mußner, Galater, 226; Lyu, Sünde, 167, Anm. 35). Die Rede von der πίστις Gottes ist in der LXX selten, sie findet sich lediglich in PsLXX 32,4; HosLXX 2,20; JerLXX 39,41; 40,6; SirLXX 45,4; PsSal 8,28. Der Ausdruck ἡ ψυχή μου in

Der im Evangelium offenbarte Heilsweg: Röm 1,16-17

Bewahrung des Gerechten im Gericht spricht, stimmen die Lesarten der LXX mit dem MT in ihrem Aussagegehalt darin überein, dass sie die Treue des Gerechten als Grundlage für seine Rettung ansehen. Dabei lässt sich nicht leicht entscheiden, auf welche Lesart Paulus sich bei der Abfassung von Röm 1,17 bezogen hat. Allerdings kommt LA I als eine Vorlage am wenigsten in Betracht, weil sich nur schwer annehmen lässt, dass Paulus die LA I mit der Wendung ἐκ πίστεως μου durch die Auslassung von μου korrigiert hätte. Wichtig ist jedenfalls, dass der Präpositionalausdruck ἐκ πίστεως in Röm 1,17b anders als im MT und in der LXX LA I und LA II ohne Genitivattribut steht. Dadurch fokussiert sich die Formulierung in Röm 1,17b auf die drei Grundbegriffe δίκαιος, πίστις, ζῆν, die den zentralen Inhalt der paulinischen Heilsbotschaft bilden. Das Zitat von Hab 2,4 findet sich mit Auslassung des Possessivpronomens ebenfalls in Gal 3,11. Der Zitattext in Röm 1,17 ist jedoch durch die Zitationsformel καθὼς γέγραπται direkt an die vorangegangene Aussage δικαιοσύνη γὰρ θεοῦ ἐν αὐτῷ ἀποκαλύπτεται ἐκ πίστεως εἰς πίστιν angeschlossen, während er in Gal 3,11 ohne Zitationsformel als ein begründendes Argument für die zuvor mit einer Negation formulierte Argumentation, dass niemand durch die Werke des Gesetzes bei Gott gerecht wird (ἐν νόμῳ οὐδεὶς δικαιοῦται παρὰ τῷ θεῷ), von Paulus angeführt wird. Demzufolge entsteht anders als in Gal 3,11 eine präzise Wortfür-Wort-Parallelisierung zwischen der Aussage V 17a und dem begründenden Schriftzitat V 17b. So bezieht sich die δικαιοσύνη aus der Formel δικαιοσύνη θεοῦ in V 17a auf das Subjekt ὁ δίκαιος in 17b, und der präpositionale Ausdruck ἐκ πίστεως in 17a und derjenige in 17b stehen parallel zueinander. Zu beachten ist hierbei die Bedeutungsverschiebung des Textes Hab 2,4b, welche durch die Zitation bewirkt wird. Im ursprünglichen Kontext der Stelle im Habakukbuch wird gesagt, dass das Strafgericht für die sich hochmütig verhaltenden Frevler bestimmt ist und der Gerechte aufgrund seiner beständigen Treue heraus am Leben bleiben wird. Demzufolge ist ἐκ πίστεως auf ζήσεται zu beziehen, wobei die Betonung auf dem Geschick des Gerechten liegt, nämlich dem (Über-)Leben, welches seine Lebensweise, die Treue zu Gott mit sich bringt.58 An unserer Stelle ist Hab 2,4b aber in Verbindung mit V 17a auf ein völlig neues Argument hin kontextualisiert, dass nämlich die Gerechtigkeit (bzw. Rechtfertigung) aus dem Glauben kommt.59 Wie die syntaktisch-semantische Parallelität zwischen V 17a und V 17b zeigt, liegt der Schwerpunkt des Textbezugs bei der Verbindung zwischen ὁ δίκαιος

HabLXX 2,4 deutet auch darauf hin, dass ἐκ πίστεως μου als Treue Gottes zu verstehen ist (vgl. Koch, Hab. 2,4b, 74, Anm. 74). 58 Vgl. Haacker, Römer, 49. 59 Vgl. Kujanpää, Scriptural Quotations, 305f.

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Die Gerechtigkeitsaussagen im Römerbrief

und ἐκ πίστεως.60 Im Hinblick auf das weitere Textgefüge und den Zusammenhang mit V 16 spricht der Zitattext aber nicht nur von der aus dem Glauben empfangenen Gerechtigkeit, sondern er fungiert seinem Sinngehalt (ἐκ πίστεως ζήσεται) nach auch als eine Begründung dafür, dass jedem Glaubenden das Heil, das ewige Leben, zuteilwird.61 Nun bleibt noch die Frage zu klären, in welchem Sinne und auf welche Art und Weise sich der Begriff δικαιοσύνη in der Formel δικαιοσύνη θεοῦ auf das Subjekt ὁ δίκαιος bezieht. Um diese Frage zu beantworten, muss noch einmal Gal 3,11 berücksichtigt werden, wo Hab 2,4b ebenfalls zitiert und so „die Gerechtigkeit aus dem Glauben“ thematisiert wird. Für das Verständnis der Wendung δικαιοσύνη θεοῦ in Röm 1,17 ist vor allem ihre semantische Entsprechung zur Formulierung δικαιοῦται παρὰ τῷ θεῷ in Gal 3,11a zu beachten. Diese Formulierung zeigt, dass es Paulus im Argumentationsgang in Gal 3,11 auf die Frage ankommt, auf welcher Basis der Mensch im Urteil Gottes als gerecht bestehen kann. Es handelt sich nicht einfach um eine ethische Qualität des Menschen, sondern um die Gerechtsprechung bzw. Rechtfertigung durch Gott. Unter Heranziehung von Hab 2,4b stellt Paulus gegen die geläufige jüdische Auffassung fest, dass diese Rechtfertigung durch Gott allein aus dem Glauben zustande kommt, nicht durch die Erfüllung des Gesetzes. Die durch die Zitierung von Hab 2,4 im Galatertext angeführte These lautet: Niemand kann vor Gott aufgrund der Erfüllung des Gesetzes als δίκαιος bestehen, sondern allein aus dem Glauben.62 Demnach ist unter Berücksichtigung des Vergleiches von Gal 3,11 und Röm 1,17 festzuhalten, dass der verbale Ausdruck δικαιοῦται παρὰ τῷ θεῷ in Gal 3,11a als eine präzisierende Explikation der Genitivformulierung δικαιοσύνη θεοῦ anzusehen ist. In Röm 1,17a bringt Paulus mit der Wendung δικαιοσύνη θεοῦ zum Ausdruck, was er in Gal 3,11 mithilfe des Verbalausdrucks ausgesagt, nämlich die Gerechtigkeit, welche vor Gott Geltung hat und von ihm anerkannt wird. Wie die Formel ἐκ πίστεως εἰς πίστιν deutlich macht und wie auch das angeschlossene Zitat Hab 2,4 nahelegt, ist diese Gerechtigkeit diejenige, die aus dem Glauben an Christus verliehen wird. In diesem Zusammenhang bezeichnet der Begriff δικαιο-

60 So Käsemann, Römer, 29; Fitzmyer, Romans, 265; Wolter, Römer I, 127. Der Text kann allerdings nicht so übersetzt werden, wie es einige Neutestamentler vorschlagen: „der aus dem Glauben Gerechte lebt.“ Bei Paulus findet sich der Text nämlich nicht in der Form ὁ ἐκ πίστεώς δίκαιος ζήσεται. Außerdem spielt nicht allein die Verbindung von δίκαιος und ἐκ πίστεώς eine wichtige Rolle, sondern auch der Zusammenhang zwischen δίκαιος und ζήσεται. 61 Der Ausdruck ζήσεται verweist auf das ewige Leben bzw. die Rettung im Endgericht, da das Zitat Hab 2,4 im Textzusammenhang von Röm 1,17 mit der Rede vom Gericht Gottes verbunden ist. Vgl. Haacker, Römer, 49. 62 Eine vergleichbare parallele Verwendung des Passivs δικαιοῦσθαι und des Adjektivs δίκαιος findet sich bei Paulus noch in Röm 2,13; 3,10ff; 5,1ff.

Der im Evangelium offenbarte Heilsweg: Röm 1,16-17

σύνη innerhalb der Genitivformulierung δικαιοσύνη θεοῦ das Gerechtsein der

Glaubenden vor Gott, jedoch nicht im Sinne eines Besitzes, sondern im Sinne eines von Gott empfangenen Urteils. 4.

Zum Verständnis der gesamten Aussage δικαιοσύνη γὰρ θεοῦ ἐν αὐτῷ ἀποκαλύπτεται ἐκ πίστεως εἰς πίστιν

Im nächsten Schritt ist der Bedeutung der gesamten Aussage δικαιοσύνη γὰρ θεοῦ ἐν αὐτῷ ἀποκαλύπτεται ἐκ πίστεως εἰς πίστιν nachzugehen. Hierbei ist zu fragen, wie die Bedeutung des Prädikats ἀποκαλύπτεται im Präsens Passiv im Zusammenhang mit der Genitivkonstruktion δικαιοσύνη θεοῦ aufzufassen ist. Damit verbunden ist die Frage nach der syntaktischen Beziehung der Wendung ἐκ πίστεως εἰς πίστιν zum Rest des Satzes. Diese Wendung kann entweder als Attribut zu δικαιοσύνη θεοῦ oder als eine adverbiale Bestimmung zum Verb ἀποκαλύπτεται verstanden werden.63 Einige Exegeten sind der Ansicht, dass ἐκ πίστεως εἰς πίστιν als eine adverbiale Näherbestimmung auf das Verb bezogen ist64 , woraus sich die zwei folgenden Interpretationen ergeben:65 (1) Die Gerechtigkeit Gottes (als Eigenschaft Gottes) wird für die Glaubenden aufgrund ihres Glaubens Ereignis bzw. Wirklichkeit.66 (2) Die Rechtfertigung Gottes (oder das Heil Gottes) geschieht aufgrund des Glaubens.67 Wie bereits dargelegt, ist es im Blick auf den näheren Kontext unwahrscheinlich, dass Paulus mit δικαιοσύνη θεοῦ eine Eigenschaft Gottes, sein Gerechtsein meint. Wenn man ἐν αὐτῷ wie üblich im lokalen Sinn als „im Evangelium“ auffasst und der Interpretation (1) folgt, wird der Sinn dieser Interpretation noch einmal schwieriger: Was sollte bedeuten, dass die Gerechtigkeit Gottes im Evangelium aufgrund des menschlichen Glaubens Ereignis wird? Außerdem bedeutet das Verb ἀποκαλύπτειν „etwas offenbaren“, „etwas enthüllen“. Das Verständnis mit „Ereignis werden“ geht über die Semantik des Verbs hinaus (s. u.). Die oben genannte zweite Interpretation ist in Verbindung mit der Implikation von ἐν αὐτῷ ebenfalls schwer aufrecht zu erhalten und auch mit der Semantik von ἀποκαλύπτειν in Verbindung zu bringen.

63 Auffallend ist, dass die meisten Exegeten die entscheidende Frage nach einer Gesamtinterpretation des Satzes außer Acht lassen und sich auf die Interpretation einzelner Ausdrücke konzentrieren. Zu dieser Problematik vgl. Mininger, Uncovering, 64ff. 64 So z. B. Michel, Römer, 89; Haacker, Römer, 47; Wolter, Römer I, 125ff; Mininger, Uncovering, 64ff. 65 Neben diesen beiden Interpretationen können sich weitere Deutungen des Satzes Röm 1,17a ergeben, je nachdem, wie die Formulierung ἐκ πίστεως εἰς πίστιν verstanden und mit dem restlichen Satz verbunden wird. Zu den verschiedenen möglichen Interpretationen vgl. Mininger, Uncovering, 64ff. 66 Vgl. Williams, Righteousness, 255ff; Wolter, Römer I, 119,125. 67 Vgl. Du Toit, Focusing, 267.

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Die Gerechtigkeitsaussagen im Römerbrief

Im Hinblick auf die enge Verbindung von δίκαιος und πίστις im Habakukzitat liegt es meines Erachtens näher, die Wendung ἐκ πίστεως εἰς πίστιν als Näherbestimmung zur Genitivverbindung δικαιοσύνη θεοῦ zu verstehen. Wie oben gezeigt, kommt in der doppelten πίστις-Wendung die Grundlage für die von Gott herkommende Gerechtigkeit zum Ausdruck. Die Aussage der gesamten Wendung δικαιοσύνη θεοῦ ἐν αὐτῷ ἀποκαλύπτεται ἐκ πίστεως εἰς πίστιν kann daher so verstanden werden, dass den Menschen im Evangelium (oder durch das Evangelium) der Heilsweg offenbart (enthüllt) wird, dass sie aufgrund des Glaubens die Gerechtigkeit von Gott erlangen. Die Formulierung δικαιοσύνη θεοῦ steht hier in metonymischer Weise für den Kerninhalt des Evangeliums, nämlich für die von Gott herkommende Gerechtigkeit. Diese Interpretation wird vor allem durch die Rede von der Offenbarung der δικαιοσύνη θεοῦ in 3,21-22 gestützt. Paulus verwendet dort das Synonym zu ἀποκαλύπτειν, φανεροῦν und bestimmt die δικαιοσύνη θεοῦ wie in 1,17 als die Gerechtigkeit, welche aufgrund des Christusglaubens zustande kommt (δικαιοσύνη δὲ θεοῦ διὰ πίστεως Ἰησοῦ Χριστοῦ εἰς πάντας τοὺς πιστεύοντας).68 Die gesamte Wendung νυνὶ δὲ χωρὶς νόμου δικαιοσύνη θεοῦ πεφανέρωται κτλ. in 3,21-22 kann also so verstanden werden, dass Paulus von der in seiner Gegenwart geschehenen Offenbarung der Heilsbotschaft spricht. Diese Heilsbotschaft besteht darin, dass Gott den an Jesus Christus Glaubenden gerecht spricht. Βis zu der Heilszeit ist diese Botschaft ein Geheimnis geblieben und ist nun aber bekannt gemacht worden. Insbesondere die Aussage, dass die δικαιοσύνη θεοῦ bereits vom Gesetz und den Propheten bezeugt worden ist, legt die Interpretation nahe, dass es sich hierbei um eine göttliche Offenbarung des bisher verborgen gebliebenen Heilswegs handelt und nicht um ein In-Erscheinung-Treten der Gerechtigkeit Gottes als dessen Eigenschaft.69 Im Anschluss an die Ausführungen zur Offenbarung der Heilsbotschaft soll nun näher auf den Sprachgebrauch und die Semantik des Verbs ἀποκαλύπτειν eingegangen werden. In der paganen griechischen Literatur wird der Begriff ἀποκαλύπτειν normalerweise im Sinne von „etwas enthüllen bzw. aufdecken“ gebraucht (Herodot, 1,119; Xenophon, Hist 5,4; PGrM 57,17) oder auf metaphorische Weise im Sinne von „eine Gesinnung, Meinung oder einen Plan offenbar machen, bekannt machen“ (Diod Sic XVII 62), an keiner Stelle aber im Sinne von „Ereignis werden“.70 Der Sprachgebrauch von ἀποκαλύπτειν im paganen Griechisch zeigt, dass der Begriff an sich keine theologische Bedeutung hat. Die Verwendung des 68 Im Blick auf den ausgesagten Inhalt lässt sich kaum bestreiten, dass mit der Wendung δικαιοσύνη θεοῦ πεφανέρωται vom selben Geschehen wie in 1,17, der Offenbarung der Heilsbotschaft, die Rede ist, auch wenn Paulus hier das Verb φανεροῦν verwendet. 69 Gegen Wolter, Römer I, 249f. 70 Vgl. Spig, s.v.; Karrer, s.v. (ThBNT).

Der im Evangelium offenbarte Heilsweg: Röm 1,16-17

ἀποκαλύπτειν mit spezifisch religiösen Offenbarungskonnotationen findet sich

erst in den griechischen alttestamentlichen Texten. Die Verwendungsweise und die Bedeutung in der LXX entsprechen zum großen Teil noch derjenigen des paganen Griechisch: „das Dach eines Kastens aufdecken“ (GenLXX 8,13); „eine Unschicklichkeit (ἀσχημοσύνη) des Vaters und eine Unschicklichkeit der Mutter aufdecken“ (LevLXX 18,6f; 20,11.17f u. ö.); „den Kopf der Frau aufdecken“ (NumLXX 5,18); „die Worte des Menschen offenbarmachen“ (JosLXX 2,20) u. a.71 Daneben sind aber auch die religiöse Verwendung des Begriffs in der LXX belegt. Diese besteht darin, dass das Verb ἀποκαλύπτειν häufig mit Bezug auf göttliches Handeln gebraucht wird. So finden sich viele Belege, in denen der Begriff als ein Gotteshandeln vorkommt und in Verbindung mit einer göttlichen Sache (Macht, Rettung, Gerechtigkeit oder Geheimnis) verwendet wird (z. B. NumLXX  22,31; 24,4.16; 1SamLXX  2,27; 3,21; 9,15; 2SamLXX  7,27; JesLXX  52,10; 53,1; 56,1; PsLXX  97,2). In den frühjüdischen Schriften wird der Begriff ἀποκαλύπτειν weiterhin im nichtreligiösen Kontext im allgemeinen Sinne von „enthüllen“ bzw. „entblößen“ verwendet. Bei einer großen Anzahl der Belege ist aber eindeutig von einem göttlichen Offenbarungsgeschehen die Rede (Sir 1,6.30; 4,18; 42,19; äthHen 9,6; 48,6ff; 62,7; 69,26; TestBenj 10,5; 1QS 8,15-16; 9,13; 9,19; 1QH 1,21 u. a.). Blickt man auf den Sprachgebrauch von ἀποκαλύπτειν bei Paulus, zeigt sich, dass dieser vollständig der religiösen Verwendungsweise in der LXX und den frühjüdischen Schriften entspricht. So verwendet Paulus den Begriff in Bezug auf die Offenbarung eines göttlichen Geheimnisses (μυστήριον: Röm 16,25-26; 1Kor 2,7), d. h. die Offenbarung der Heilsbotschaft Gottes, welche als Geheimnis verhüllt war und nach Gottes Willen zur Zeit des Paulus bekannt gemacht worden ist (Röm 16,25-26; auch 3,20-21; 10,17-18). Inhaltlich steht das Wort vom Kreuz und damit das Christusgeschehen als göttliche Rettungstat im Zentrum (1Kor 2,7-8). In diesem Sinne kann Paulus auch von der Offenbarung des Gottessohnes Jesu Christi (Gal 1,16) und von der Offenbarung des Glaubens als des neuen Heilswegs (Gal 3,23) sprechen. Paulus bringt so zum Ausdruck, dass sich seine Verkündigung von Jesus Christus der unmittelbaren göttlichen Offenbarung verdankt und nicht auf menschliche Vermittlung zurückgeht (vgl. Gal 1,12). Gott hat zu der Zeit des Paulus diesen neuen Heilsweg erschlossen, so dass alle Völker zum Glauben kommen und am Heil teilhaben können (Röm 16,25-26). Wenn Paulus in Röm 1,17 durch das ἀποκαλύπτειν in Verbindung mit der Formulierung δικαιοσύνη θεοῦ ein Offenbarungsgeschehen im Evangelium zum Ausdruck bringt, handelt es sich um die Erschließung bzw. Bekanntmachung des zuvor unbekannten und verborgenen Heilswegs, auf dem der Mensch aufgrund des Glaubens Gerechtigkeit erlangt.

71 Nach der Untersuchung von Karrer gehören bis zu zwei Drittel der LXX-Belege in dieses Feld (vgl. Karrer, s.v. (ThBNT)).

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Die Gerechtigkeitsaussagen im Römerbrief

Im Hinblick auf den sprachlichen Ausdruck ist nun außerdem noch zu beachten, dass in alttestamentlichen und frühjüdischen Texten mit Ps 98/97,2; CD 20,20; 1QH 6,26-27; 4Esr 8,36 einige parallele Belege sich finden, in denen ebenfalls ausdrücklich von der Offenbarung der Gerechtigkeit Gottes die Rede ist. Es ist daher eine genauere Untersuchung wert, ob diese Texte Einfluss auf die paulinische Formulierung in Röm 1,17 ausgeübt haben und damit als Traditionshintergrund dieser Stelle anzusehen sind. Um dies zu überprüfen, ist es notwendig, die Semantik der Aussagen über die Offenbarung der göttlichen Gerechtigkeit in ihren jeweiligen Kontexten zu überprüfen: Ps 98/97,2: „Der Herr hat sein Heil kundgetan, vor den Völkern offenbart hat er seine Gerechtigkeit (MT: ‫הודיע‬ ‫יהוה‬ ‫ישׁועתו‬ ‫לעיני‬ ‫הגוים‬ ‫גלה‬ ‫ ;צדקתו‬LXX: ἐναντίον τῶν ἐθνῶν ἀπεκάλυψεν τὴν δικαιοσύνην αὐτοῦ).“72 CD 20,20: „bis dass Heil und Gerechtigkeit (‫ )ישע וצדקה‬offenbar wird für die, die [Gott] fürchten. [Und dann] werdet ihr wieder den Unterschied sehen zwischen einem Gerechten und einem Gottlosen, zwischen einem, der Gott dient, und einem, der ihm nicht dient. Und er wird Huld erweisen, denen, die ihn lieben.“73 1QH 6,26-27: „Alle Ungerechtigkeit aber und Frevel wirst du auf ewig vertilgen, und deine Gerechtigkeit wird offenbar (‫ )נגלתה צדקת‬vor den Augen all deiner Werke.“74 4Esr 8,36: „Denn dadurch wird deine Gerechtigkeit und deine Güte offenbar (in hoc enim adnuntiabitur iusticia tua et bonitas tua), Herr, dass du barmherzig gewesen bist, über die, die keinen Bestand an guten Werken haben.“75

Aus dem unmittelbaren Textbefund geht hervor, dass sich in den genannten Texten die Aussagen von der Gerechtigkeit Gottes ohne Ausnahme auf seine Eigenschaft, d. h. sein Gerechtsein, beziehen. In Ps 98/97,2 handelt es sich um ein Heilsgeschehen, bei dem Gott zugunsten der Seinen eintritt und ihr Heil bewirkt und damit seine Gerechtigkeit vor der Welt kundtut.76 Dabei wird deutlich, dass das Heilshandeln Gottes mit der Vorstellung vom Erweis seiner Gerechtigkeit verbunden ist. Zu fragen ist nun, wie der Ausdruck δικαιοσύνης αὐτοῦ in PsLXX 98,2 zu verstehen ist.

72 73 74 75 76

Übers. nach Septuaginta Deutsch. Übers. nach Lohse, Qumran Texte. Übers. nach Wolter, Römer I. Übers. nach Schreiner, 4. Buch Esra. Zur exegetischen Analyse dieser Stelle vgl. auch S. 97f der vorliegenden Arbeit.

Der im Evangelium offenbarte Heilsweg: Röm 1,16-17

Betrachtet man den näheren Kontext, so wird deutlich, dass der Ausdruck δικαιοσύνης αὐτοῦ im Rahmen des göttlichen Gerichtshandelns an Frevlern bzw. den Feinden Israels verwendet wird.77 Gott verschafft seinem Volk dadurch Heil, dass er durch sein Gericht die Frevler, die es unterdrücken, bestraft. Diese Vorstellung vom Gerichtshandeln Gottes wird in Vers 9 besonders deutlich, wo Gott als ein Richter bezeichnet wird, welcher in den Weltenlauf eingreift und die ganze Welt in Gerechtigkeit (δικαιοσύνη) richtet. Die Rede von der Offenbarung der Gerechtigkeit Gottes in V 2 wird offensichtlich mit diesem Gedanken von Gott als dem gerechten Weltrichter verbunden. In den oben angeführten Texten aus den Qumranschriften weist der jeweilige Kontext eindeutig darauf hin, dass sich der Begriff ‫צדקה‬/‫ צדק‬auf die positive Wesensart Gottes als gerechten Richters bezieht. In CD 20,20 und 1QH 6,26-27 bedeutet die Offenbarung der Gerechtigkeit Gottes somit wie in Ps 98 das Eintreten des göttlichen Gerichts, in dem die Frevler vernichtet, die Gerechten aber gerettet werden. Wegen der im Text vorliegenden Parallelität von Gerechtigkeit, Güte und Barmherzigkeit wird man den Ausdruck Gerechtigkeit (iustitia) in 4Esr 8,36 einseitig im positiven Sinne, verbunden mit Güte und Barmherzigkeit, auffassen können. Methodisch problematisch ist es aber, wenn man nur aufgrund der parallelen Stellung einen synonymen Sinn zu erkennen meint.78 Zudem ist in alttestamentlichen und jüdischen Texten eine solche Nebeneinanderstellung verschiedener Attribute zur Beschreibung der Eigenschaften Gottes üblich. Wenn der Begriff „Gerechtigkeit“ als Beschreibung einer Eigenschaft Gottes verwendet wird, wird damit üblicherweise zum Ausdruck gebracht, dass Gott als der Weltherrscher über die Welt in Gerechtigkeit waltet. Aufgrund dieser Beobachtungen ist festzuhalten, dass zwischen der Wendung δικαιοσύνη θεοῦ in Röm 1,17 und der Rede von Gottes Gerechtigkeit in den oben angeführten alttestamentlichen und frühjüdischen Texten eine deutliche semantische Differenz besteht. Wie oben gezeigt, bedeutet die Formulierung δικαιοσύνη θεοῦ in Röm 1,17 die Gerechtigkeit, welche Gott dem Glaubenden zueignet. In den angeführten Texten bezeichnet der jeweilige Ausdruck für die Gerechtigkeit Gottes dagegen die Gerechtigkeit Gottes als diejenige Eigenschaft, die im Gerichtshandeln bei der Bestrafung der Frevler offenbar wird. In diesem Zusammenhang ist es von Bedeutung, dass Paulus in Röm 1,17 keine Genitivkonstruktion mit Possessivpronomen, etwa δικαιοσύνη αὐτοῦ (seine Ge-

77 So auch Irons, Righteousness, 186f. Aufgrund der engen Verbindung mit dem Begriff σωτηρία sollte δικαιοσύνης αὐτοῦ nicht als heilschaffende Gerechtigkeit oder einfach als Heilstat Gottes interpretiert werden. 78 Beispielweise Stuhlmacher und Fiedler interpretieren die Gerechtigkeit Gottes in 4Esr 8,36 als die erbarmende Gerechtigkeit Gottes. Zur ausführlichen Analyse der Stelle s. o. S. 147f der vorliegenden Arbeit.

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Die Gerechtigkeitsaussagen im Römerbrief

rechtigkeit) oder δικαιοσύνη μοῦ (meine Gerechtigkeit), verwendet, sondern die Wendung δικαιοσύνη θεοῦ (vgl. auch 3,21.22; 10,3). Dieser Unterschied muss beachtet werden, weil der Begriff δικαιοσύνη in der Wendung δικαιοσύνη θεοῦ nicht notwendigerweise wie in den anderen Genitivkonstruktionen attributivisch verstanden werden muss, sondern auch als die von Gott zugesprochene Gerechtigkeit verstanden werden kann, wie sich aus dem näheren Textzusammenhang ergibt.79 Gegen die These, dass im Hintergrund der Wendung δικαιοσύνη θεοῦ in Röm 1,17 die oben genannten Textstellen stehen und diese auf die paulinische Aussage über die Offenbarung der δικαιοσύνη θεοῦ eingewirkt haben, spricht besonders auch die Zitation von Hab 2,4, die sich unmittelbar an die Wendung δικαιοσύνη θεοῦ ἐν αὐτῷ ἀποκαλύπτεται κτλ. anschließt. Will man die oben angeführten Textstellen Ps 98/97,2; CD 20,20; 1QH 6,26-27; 4Esr 8,36 zum Verständnis von Röm 1,17 heranziehen, bedarf es einer Erklärung, warum Paulus nicht diese Stellen, sondern Hab 2,4 zitiert, wo von der Gerechtigkeit des auf Gott Vertrauenden gesprochen wird.

79 Genitivkonstruktionen, in denen δικαιοσύνη ausschließlich als eine Eigenschaft Gottes verstanden werden kann, finden sich bei Paulus in Röm 3,5 und 3,25.26, wo er die Formulierungen θεοῦ δικαιοσύνη und δικαιοσύνη αὐτοῦ verwendet.

Das gerechte Gericht Gottes ohne Ansehen der Person: Röm 2,1-16

B.

Das gerechte Gericht Gottes ohne Ansehen der Person: Röm 2,1-16

1.

Das gerechte Gericht Gottes über die sündigen Juden (2,1-5)

Hat Paulus in 1,18-32 die Menschen angeklagt, welche Sünde und Ungerechtigkeit betreiben, richtet er seinen Vorwurf in 2,1f gegen die Menschen, die andere als Sünder verurteilen. Diese Menschen unterscheiden sich insofern charakterlich eindeutig von der im vorangegangenen Abschnitt beschriebenen Gruppe, die dem Sünder Beifall spendet (1,32), als sie die Sündigen verurteilen (V 1.3).80 Sie sind aber auch nicht zu entschuldigen (ἀναπολόγητος), wie die Menschen, die von Paulus gerade eben verurteilt wurden, da sie ebenfalls unter Ungerechtigkeit und Gottlosigkeit leben (vgl. 1,20). Sie tun die ungerechten Taten selbst, welche sie verurteilen. Paulus fügt hinzu, dass den anderen zu richten für sie nichts anderes ist, als sich selbst zu verurteilen, solange sie sich derselben Vergehen schuldig machen.81 Auf wen ἄνθρωπος ὁ κρίνων hierbei rekurriert, auf Juden oder Nichtjuden, das ist nicht konkret genannt. Kontextuell sind jedoch genügend Gründe dafür angelegt, dass der Gesprächspartner Jude ist. Paulus wechselt im Übergang zwischen 1,32 und 2,1 plötzlich von der 3. Person Plural in die 2. Person Singular. Diese geänderte Anredeform steht ständig im ersten Abschnitt V 1-6, wobei Paulus die anprangert, die andere richten. Und die Anrede in der 2. Singular taucht wiederum durchweg im folgenden Abschnitt V 17-29 auf, in dem Paulus sich mit seiner Kritik direkt an die Juden wendet. Besonders aus dem inhaltlichen bzw. argumentativen Zusammenhang zwischen den beiden Abschnitten geht deutlich hervor, dass die Gruppe in V 1-6 und die in V 17-29 angeredete Gruppe einander entsprechen; erstere werden kritisiert, weil sie selbst nicht tun, was sie für richtig halten und damit den anderen richten, letztere werden auch wegen des Widerspruchs zwischen dem Lehranspruch und der faktischen Lebensführung kritisiert. Hierbei sieht man das eindeutige gemeinsame Element in der Kritik an beiden Gruppen. Von daher ist festzuhalten, dass Paulus sich ab 2,1 an die Juden wendet, die sich als Richter über die anderen Menschen aufspielen. Mit τὸν ἕτερον meint Paulus in diesem Zusammenhang die den Juden gegenüberstehenden Menschen, also die Nichtjuden.

80 So auch Zeller, Römer, 63f; Konradt, Gericht, 501, Anm. 501; Wolter, Römer I, 167. 81 Manche Kommentare verweisen auf die Analogie zwischen Röm 2,1 und Mt 7,4-5 par. Lk 6,42-43 und anderen Texten wie Clem 1,6, die auf Mahnung zum richtigen Handeln des Menschen gegenüber anderen zu sprechen kommen (vgl. Michel, Römer, 113; Lohse, Römer, 99; Fitzmyer, Romans, 299; Wolter, Römer I, 167 u. a.). Der Kritikpunkt an der Stelle Röm 2,1 liegt aber nicht in der Problematik des Urteilens über andere an sich, sondern vielmehr darin, dass die Menschen, die andere richten, selbst dieselbe Sünde tun (so Käsemann, Römer, 50).

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Die Gerechtigkeitsaussagen im Römerbrief

In der Darlegung des Vorwurfes gegen die selbstgerecht urteilenden Juden in 2,15 ist vor allem kennzeichnend, dass Gott durchweg als ein Richter im Endgericht dargestellt wird (dieses Gottesbild begegnet bis V 16). Wie im ganzen Abschnitt deutlich gemacht wird, ist das Handeln des Menschen der entscheidende Punkt, nach dem Gott den Menschen in diesem Endgericht beurteilt. Gott richtet alle Menschen nach ihren Taten – ob sie eine führende, lehrende Position innehaben und Kenntnis der Tora haben oder nicht, hat dabei gar keine Bedeutung (vgl. 2,17-23). Wichtig ist allein, was sie wirklich getan haben. Paulus verdichtet seine diesbezügliche Gewissheit über das Gottesgericht in der Feststellung (V 2), dass Gottes Gericht der Wahrheit gemäß (κατὰ ἀλήθειαν) ergeht. Der Begriff ἀλήθεια wird in alttestamentlichen und frühjüdischen Texten häufig als Gottesattribut, wie auch δικαιοσύνη, πίστις und ἔλεος, verwendet. Dasselbe gilt für Paulus (vgl. ἀλήθεια (Röm 3,4.7; 15,8), δικαιοσύνη (Röm 3,5.26); πίστις (1Thess 5,24; 1Kor 1,9; 10,13); ἔλεος (Röm 9,23; 11,31; 15,9; Gal 6,16)). Traditionsgeschichtlich ist auch bemerkenswert, dass ἀλήθεια schon in alttestamentlichen und frühjüdischen Texten in Verbindung mit dem Gericht Gottes verwendet wird (vgl. TobLXX 3,2; PsLXX 39,11; 53,7; 56,4.11; OdeLXX 7,28; DanLXX 3,28). In diesem Fall bezeichnet ἀλήθεια die Wahrhaftigkeit im richtenden Handeln Gottes in dem Sinne, dass im Gericht Gottes kein falsches Urteil gefällt wird, weil es immer von einer richtigen Grundlage ausgeht. Durch diese Bezugnahme auf das jüdische Gedankengut weist Paulus die Juden anklagend darauf hin, dass nach dem Maßstab des Gottesgerichts auch sie dem Gericht Gottes nicht entgehen können, insofern sie dieselben Sünden wie die Nichtjuden begehen. Paulus zufolge ist aber Gott nicht nur ein strenger Richter, sondern auch gut und barmherzig. Gott ist reich an Güte (χρηστότης), Zurückhaltung (ἀνοχή)82 und Langmut (μακροθυμία), indem er die sündigen Menschen nicht nur streng richtet, sondern ihnen Gelegenheit zur Umkehr einräumt (V 4).83 In seiner reichen Güte schiebt er das Gericht auf und wartet, bis die sündigen Menschen vom falschen Weg umkehren. Für diese Vorstellung vom guten und barmherzigen Gott mittels der Begriffe χρηστότης, ἀνοχή, μακροθυμία gibt es einen gewissen Vorlauf in den alttestamentlichen und frühjüdischen Schriften. Vornehmlich zu nennen sind ExLXX 34,6; PsLXX 85,15; 102,8; 144,8; JoelLXX 2,13; JonaLXX 4,2; SapSal 15,1. Es ist also wichtig, darauf zu achten, dass in der alttestamentlichen und jüdischen

82 Zur Bedeutung von ἀνοχή vgl. BAA, s.v.; Schlier, Römer, 70; Wolter, Römer I, 171. Bei der Verwendung des Begriffs ἀνοχή handelt es sich durchaus um Aufschub bzw. Zurückhaltung einer Handlung oder einer Sache. Die Semantik von ἀνοχή lässt sich somit von der Bedeutung von μακροθυμία unterscheiden. 83 In 1Kor 13,4; 2Kor 6,6; Gal 5,22 stehen χρηστότης und μακροθυμία bzw. ihre Stammverwandten zusammen (vgl. Wolter, Römer I, 170).

Das gerechte Gericht Gottes ohne Ansehen der Person: Röm 2,1-16

Tradition Gott nicht nur als ein gerechter Richter gedacht, sondern gleichzeitig auch an ihn als einen Barmherzigen geglaubt wird. Im Alten Testament und in den frühjüdischen Texten wird die Gerechtigkeit Gottes häufig in Bezug auf sein richtendes Handeln gegenüber Frevlern und fremden Völkern gepriesen, die die Gerechten bzw. Israeliten unterdrückt und verfolgt haben. Andererseits ist nicht selten zu lesen, dass Gott ein barmherziger Gott ist, der große Langmut und Geduld gegenüber den Sündern walten lässt. Gott vergibt Sündern, wenn sie zu Gott um- und wieder in den gottgefälligen Lebenswandel zurückkehren. Es gibt sogar Textstellen, in denen neben den Begriffen ἐλεήμων, μακρόθυμος, ἀληθής und χρηστός als göttliche Eigenschaft die δικαιοσύνη erwähnt wird: GenLXX 24,27; ExLXX 34,6-7; PsLXX 87,12-13; 88,15; 102,27; 142,1; 144,7; Jub 31,25. SapSal 15,1-3 u. a. Die Zusammenstellung von χρηστότης, ἀνοχή, μακροθυμία und δικαιοκρισία in 2,4f in Bezug auf Gott ist somit gar nichts Neues. Wenn man diesen Sachverhalt berücksichtigt, wird δικαιοκρισία nicht als anstößig im Verhältnis zu den freundlichen/milden/entgegenkommenden Eigenschaften empfunden und die Semantik des Begriffs muss der Semantik der anderen Begriffe nicht angepasst werden. Im Gegensatz zum Urteil des Paulus sind die Juden aber nicht der Meinung, dass sie Sünder sind, welche der Güte Gottes und seiner Barmherzigkeit bedürfen und zu ihm umkehren müssen. Denn sie rechnen damit, dass nur die von ihnen als sündig beurteilten Heiden vor Gottes Zorngericht kommen. Sie verachten somit die Güte, Geduld und Langmut Gottes, welche zuerst ihnen gelten.84 Diese selbstgerechte, hochmütige Haltung der Juden charakterisiert Paulus mit den Ausdrücken σκληρότης und ἀμετανόητος καρδία. Die Verwendung des Begriffs σκληρότης hier geht auf den Sprachgebrauch in der LXX und in anderen frühjüdischen Texten zurück.

84 Die in V 4a ausgedrückte Verachtung der Güte Gottes durch die Juden wird von manchen Exegeten als ein missverständliches Vertrauen auf die Güte Gottes aufgefasst. Der Gedankengang ist dabei folgender: Die Juden glauben aufgrund der Erwählungszuversicht daran, dass sie trotz ihrer Sünde durch die Güte Gottes verschont werden. Sie denken, dass sie als Eigentumsvolk Gottes dem Gericht nicht anheimfallen werden, während die heidnischen Völker gerichtet werden (so z. B. Wilckens, Römer I, 124; Käsemann, Römer, 51; Schlier, Römer 70f; Lohse, Römer, 99ff; Haacker, Römer, 69; letztlich noch Wolter, Römer I, 170ff). Tatsächlich spricht Paulus aber von dieser Verachtung der Güte Gottes durch die Juden nicht im Sinne einer falschen Beurteilung oder eines Missverständnisses der Intention der Güte Gottes. Vielmehr ist die Verachtung der Güte Gottes im Zusammenhang mit den folgenden Aussagen über das Unwissen der Juden darüber zu verstehen, dass Gott in seiner Güte und Langmut um ihrer Umkehr willen das Zorngericht hinauszögert. Die von Paulus angeredeten Juden halten sich selbst nicht für Sünder, sondern für Gerechte, dadurch unterscheiden sie sich selbst von den Nichtjuden. Wie die folgende Ausführung in V 5 zeigt, sehen sie selbst gar keine Veranlassung zur Umkehr, obwohl sie wie die Nichtjuden Sünden begehen. Das ist der Anhaltspunkt, von dem aus Paulus gegen die Juden polemisiert, nicht ihre falsche Deutung von Gottes Güte.

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Die Gerechtigkeitsaussagen im Römerbrief

Der Begriff σκληρότης begegnet nur in DtnLXX 9,27, aber ihre Stammverwandten wie σκληρός, σκληροκαρδία und σκληροτράχηλος/σκληροτραχηλία kommen in der LXX und in anderen frühjüdischen Texten häufiger vor, vor allem in den Gerichtsworten des Propheten.85 Die genannten σκληρός-Begriffe bezeichnen die störrisch-starrsinnige Haltung des Volkes Israel bzw. des Einzelnen, sich nicht von Freveltaten abbringen zu lassen und weiter in ihrem sündigen Tun zu verharren. Der Begriff ἀμετανόητος wiederum wird im profanen Griechisch überwiegend im Sinne von unwiderruflich verwendet.86 Wenn dieser Begriff in Bezug auf den Charakter des Menschen verwendet wird, bezieht er sich auch auf eine unbußfertige Haltung des Menschen (vgl. T. Gad 7,5). Paulus wirft nun den Juden vor, dass sie mit solch hochmütigem und umkehrunwilligem Verhalten den Zorn Gottes auf sich ziehen, und er verweist sie mahnend auf das kommende Endgericht Gottes. Die Juden sollen wissen, dass sie wegen ihrer Sünde so wie die sündigen Nichtjuden unter dem Zorngericht Gottes stehen. Die Zeit des Endgerichts wird hierbei der alttestamentlichen Redeweise entsprechend als „Tag des Zorns (ἡμέρα ὀργῆς)“ bezeichnet.87 Der Tag des Zorns ist der Tag, an dem das gerechte Gericht Gottes (δικαιοκρισία) über jeden Menschen ergehen wird (V 5). Das Wort δικαιοκρισία ist ein biblisches Hapaxlegomenon, in den frühjüdischen Schriften lässt es sich nur in T. Lev 3,2; 15,2 belegen.88 Die Feststellung, die die Formulierung δικαιοκρισία τοῦ θεοῦ semantisch beinhaltet nämlich, dass das Gericht Gottes gerecht ist, ist jedoch ein Bestandteil des jüdischen Gedankenguts, der in den alttestamtlichen und frühjüdischen Texten häufig belegt ist.89 Mit der zusammengesetzten Formulierung verdeutlicht Paulus, dass Gottes Gericht ganz und gar das Attribut δικαιο- verdient. Denn im Gericht Gottes wird jedem nach seinen Werken von Gott auf gerechte Weise vergolten werden (vgl. V 6ff). Äußerliche und soziale Faktoren haben keinen Einfluss auf das Urteil Gottes. Aufgrund dieses Grundprinzips hat auch der Unterschied zwischen Juden und

85 Zu den einschlägigen Belegen, vgl. Wolter, Römer I, 172. 86 Vgl. BAA, s.v. 87 Vgl. PsLXX 109,5; HiLXX 20,28; 21,30; ZephLXX 1,15.18; 2,3; KlglLXX 1,12; 2,1.21f; EzLXX 22,24. Zur alttestamtlichen Rede vom Tag des Zornes vgl. Wendebourg, Tag des Herren, 28–151. 88 In der paganen griechischen Literatur findet sich δικαιοκρισία nur bei Dorotheus Sidonius, Fragm., ed. Pingree, 405,32 und in der Compratio Menandri et Philistionis 1,151. Die Belege aus den Papyri bei BAA sind viel jünger als die paulinischen Briefe (vgl. Wolter, Römer I, 173, Anm. 26). 89 Vgl. PsLXX 7,12; 2Makk 12,6; PsSal 9,2.5 (Gott ist ein gerechter Richter); GenLXX  18,25; JesLXX  5,16; JerLXX  11,20; PsLXX  9,9; 34,24; 95,13; 97,9; PsSal 8,24.25; 9,5 (Gott richtet gerecht oder in Gerechtigkeit). Im Neuen Testament außer den paulinischen Briefen noch: Apg 17,31 (καθότι ἔστησεν ἡμέραν ἐν ᾗ μέλλει κρίνειν τὴν οἰκουμένην ἐν δικαιοσύνῃ …); 2Thess 1,5 (ἔνδειγμα τῆς δικαίας κρίσεως τοῦ θεοῦ …) und Offb 19,2 (ὅτι ἀληθιναὶ καὶ δίκαιαι αἱ κρίσεις αὐτοῦ …). In 2Thess 4,8 wird ausdrücklich Gott ὁ δίκαιος κριτής genannt.

Das gerechte Gericht Gottes ohne Ansehen der Person: Röm 2,1-16

Nichtjuden keine Bedeutung im Gericht Gottes (vgl. V 9ff). Jeder muss sich für die gesamten Taten seines Lebens vor Gott verantworten. Aus dieser Vorstellung vom gerechten Gericht Gottes darf man aber nicht den Schluss ziehen, dass die Vorstellung von der Gerechtigkeit des Gerichts Gottes bei Paulus von der traditionellen jüdischen Vorstellung abweicht und der griechischen Vorstellung der iustitia distributiva näherkommt. Wie die Berufung auf die jüdischen Grundsätze über das göttliche Gericht in V 6 und V 11 und die dazugehörigen Ausführungen im Folgenden zeigen, ist die Vorstellung über das gerechte Gericht Gottes für Paulus ohne Zweifel in der alttestamentlich-jüdischen Überlieferung beheimatet. Darüber hinaus ist nicht zu übersehen, dass Paulus hier nochmals nach 1,18 das Eintreten des göttlichen Zorngerichts mit dem Begriff ἀποκάλυψις bezeichnet. Durch den Begriff ἀποκάλυψις unterstreicht Paulus den Sachverhalt, dass das Gericht Gottes, welches jetzt noch nicht sichtbar und in weiter Ferne zu sein scheint, ganz klar alle sündigen Menschen betreffen wird, so dass niemand ihm entfliehen kann.90 2.

Das Gericht Gottes ergeht über Juden und Nichtjuden gleichermaßen (2,6-11)

In V 6-11 wird ferner erklärt, nach welchem Prinzip sich das Gericht Gottes gerecht vollzieht. Das Grundprinzip des Gerichts Gottes legt Paulus schon von Anfang an eindeutig dar: „ἀποδώσει ἑκάστῳ κατὰ τὰ ἔργα αὐτοῦ.“ Gott wird jedem Menschen nach seinen eigenen Taten vergelten. Dieser Grundsatz des Vergeltungsgedankens kommt schon in der jüdischen Tradition recht häufig vor. Die Formulierung an unserer Stelle entspricht PsLXX 61,13 und SprLXX 24,12, es gibt aber noch viele andere ähnliche Parallelen in den anderen alttestamentlichen und frühjüdischen Texten.91 In V 7-10 wird weiter erläutert, wie das in V 6 dargelegte Vergeltungsprinzip konkret im Gericht Gottes angewandt wird. Dabei beschreibt Paulus gute und böse Menschen als zwei verschiedene Typen und die entsprechende Ergehensfolge in Heil oder Unheil zweimal jeweils in Versen 7-8 und Versen 9-10. Die jeweilige Darstellung des Tun-Ergehen-Zusammenhangs sowohl auf Heilsseite als auch auf Unheilsseite ist gestaltet in antithetischem parallel. membr. V 7-10 sind insgesamt chiastisch aufgebaut, indem die Reihenfolge von Heilsseite und Unheilsseite aus V 7-8 in V 9-10 vertauscht wird.92

90 Die Verwendung des Begriffs ἀποκάλυψις in Verbindung mit δικαιοκρισία τοῦ θεοῦ an dieser Stelle berechtigt auch zum Schluss, dass aufgrund der Wendung ἀποκαλύπτεται die Formulierung δικαιοσύνη θεοῦ in 1,17 nicht unbedingt als personifizierte Macht zu verstehen ist. 91 Zu den Belegen vgl. Wolter, Römer I, 174, Anm. 28; Heiligenthal, Werke, 172ff. 92 Zur analysierten chiastischen Struktur von V 6-11, s. Wolter, Römer I, 173.

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Die Gerechtigkeitsaussagen im Römerbrief

In V 7 spricht Paulus zunächst auf der Heilsseite vom guten Menschentyp, welcher das eschatische Heil empfangen wird. Zur Charakterisierung des guten Menschentyps nimmt Paulus zwei Merkmale auf: das ausharrende Tun von guten Werken und eine Lebenshaltung, welche nicht auf vergängliche irdische Dinge, sondern auf den Empfang des eschatischen Heils hin ausgerichtet ist. Dass es bei den genannten Heilsgütern Herrlichkeit (δόξα) und Ehre (τιμή) nicht um eine irdische Belohnung geht, ist vom letztgenannten Wort ἀφθαρσία her erkennbar.93 Diejenigen, die nach diesen eschatischen Heilsgütern streben und beharrlich gute Werke vollbringen, wird Gott ihrem Verhalten entsprechend mit dem ewigen Leben (ζωὴ αἰώνιος) belohnen. ζωὴ αἰώνιος steht hier als umfassende Bezeichnung für das eschatische Heil.94 Auf der Unheilsseite charakterisiert Paulus den bösen Menschentyp, welcher vom Zorngericht Gottes (ὀργὴ καὶ θυμός)95 getroffen werden wird, mit dem Ausdruck ἐξ ἐριθείας. Die ἐξ ἐριθείας sind diejenigen, die von Selbstsucht bzw. Eigennutz (ἐριθεία) bestimmt sind und davon getrieben werden. Sie blicken also nicht auf die unvergänglichen Heilsgüter, sondern sie suchen ihren eigenen vergänglichen Gewinn in der irdischen Welt.96 In solch nichtiger Lebensorientierung verrichten sie anstatt guter Werke nur Ungerechtigkeit (vgl. 1,18).97 In V 9-10 wird die in V 7-8 dargestellte göttliche Vergeltung nach den Taten des Menschen erneut erklärt. Die antithetische Parallelität zwischen der Heilsseite und der Unheilsseite in V 9-10 ist sprachlich viel präziser aufgebaut als die vorherige in V 7-8, indem die gegensätzlichen Satzglieder sich sprachlich entsprechen.98 So lässt Paulus die Charakterisierung vom bösen bzw. guten Menschentyp πᾶσα ψυχὴ ἀνθρώπου κατεργαζομένου τὸ κακόν und πᾶς ὁ ἐργαζομένων τὸ ἀγαθόν einander entsprechen. Ebenso stehen die jeweiligen Ergehensfolgen θλῖψις καὶ στενοχωρία auf Unheilsseite und δόξα δὲ καὶ τιμὴ καὶ εἰρήνη auf Heilsseite parallel

93 Vgl. Wolter, Römer I, 175. 94 Vgl. Wolter, Römer I, 175. Das Syntagma ζωὴ αἰώνιος ist in den frühjüdischen Texten in 2Makk 7,9; 4Makk 15,3; Weis 3,12; PsSal 3,12 belegt. Im Neuen Testament findet es sich viel häufiger, insgesamt 43-mal. Besonders in der johanneischen Literatur (Joh 3,15.16.36; 4,14.36 u. a.) und bei Paulus (noch Röm 5,21; 6,22.23; Gal 6,8) ist vom ewigen Leben häufig die Rede. 95 Das Begriffspaar ὀργή und θυμός bezeichnet in metonymischer Weise das zukünftige Zorngericht Gottes. Die Verbindung der beiden Begriffe ist schon in der LXX und in den anderen frühjüdischen Schriften häufig belegt. Zu den Belegen vgl. Schlier, Römer, 74; Wolter, Römer I, 176, Anm. 38. Außerhalb von den Paulustexten im Neuen Testament kommt das in Offb14,10.19; 16,19; 19,15 vor. 96 Die Charakterisierung der bösen Menschheit mit ἐξ ἐριθείας ist nicht der direkte begriffliche Gegensatz zum zuvor in V 7 angeführten Bild der guten Menschheit. Dies ist aber als eine inhaltlich passende gegensätzliche Beschreibung zur von V 7 zu verstehen. Vgl. Schlier, Römer, 73. 97 Die Formulierung von 2,8 spielt im Hinblick auf Begrifflichkeit eindeutig auf 1,18 an, wobei ἀληθεία und ἀδικία einander entgegengesetzt sind. 98 Vgl. Wolter, Römer I, 177.

Das gerechte Gericht Gottes ohne Ansehen der Person: Röm 2,1-16

zueinander. Hierbei wird durch die Ausdrücke πᾶσα ψυχὴ ἀνθρώπου99 und πᾶς das Kennzeichen des göttlichen Gerichts, über jedes Individuum gleichermaßen zu ergehen, nach V 6 aufgegriffen. Beim endzeitlichen Gericht trifft die Strafe oder Belohnung nach den Taten jeden Menschen als Einzelperson. Eine soziale oder ethnische Zugehörigkeit – beispielsweise zu Juden oder Nichtjuden – spielt keine Rolle dabei. Die Begriffe θλῖψις und στενοχωρία, die die Unheilsfolge für den, der Böses tut, beschreiben, tauchen schon in der LXX häufig zusammen auf (DtnLXX 28,53.55.57; JesLXX 8,22; 30,6 u. a.).100 Das Begriffspaar bezeichnet normalerweise die Erfahrung von Bedrängnis und Angst in der irdischen Welt. Es steht hier allerdings für das strafende Widerfahrnis als Wirkung des Zorngerichts Gottes, das über die Sünder bzw. Gottlosen ergeht. Für die Heilsgüter greift Paulus mit δόξα und τιμή die Begriffe auf, welche schon in V 7 als das angestrebte Ziel desjenigen, der gute Werke tut, angeführt worden sind. Eine kleine Änderung besteht nur darin, dass statt ἀφθαρσία εἰρήνη genannt wird. So ist die Aussage vom vergeltenden göttlichen Gericht in V 9-10 inhaltlich keine grundsätzliche Änderung gegenüber dem zuvor in V 7-8 Gesagten. V 9-10 ist allerdings auch nicht einfach eine redundante Wiedergabe von V 7-8. Der Zusatz „zunächst dem Juden, so auch dem Griechen (᾽Ιουδαίῳ τε πρῶτον καὶ Ἕλληνι) macht erst deutlich, worauf Paulus mit der bisherigen Argumentation abzielt. Paulus will den Sachverhalt klarstellen, dass es zwischen Juden und Nichtjuden beim Gericht Gottes hinsichtlich des Kriteriums der Beurteilung keinen Unterschied gibt. Diesen gerechten Charakter des Gerichtsverfahrens Gottes, in dem alle Menschen gleich betrachtet und behandelt werden, unterstreicht Paulus wieder einmal mit einem alten jüdischen Topos: „bei Gott gibt es kein Ansehen der Person (προσωπολημψία).“ Dieses Gottesbild, gegen das sich auch die Juden nicht wenden können, findet sich erstmals in DtnLXX 10,17 und taucht in frühjüdischen und neutestamentlichen Texten immer wieder auf.101 Die Vorstellung, dass Gott die Person nicht ansieht, bezeichnet an den alttestamentlichen Stellen ursprünglich die Unparteilichkeit bzw. Unbestechlichkeit im Gericht Gottes, indem er die sozialen Unterschiede zwischen den Menschen nicht beachtet. Diese jüdische Vorstellung von Gott als unparteiischem, gerechtem Richter übernimmt Paulus, überträgt sie aber in einen anderen Kontext. Sie wird an unserer Stelle zur Begründung für das

99 Der Ausdruck πᾶσα ψυχὴ ἀνθρώπου ist eine hebräisierende Wiedergabe von ‫את־נפשׁ האדם‬. Er ist mehrfach in der LXX belegt. Zu den Belegen vgl. Wolter, Römer I, 177. 100 Vgl. Wolter, Römer I, 176. 101 Vgl. Sir 35,13f; PsSal 2,18; TestHiob 4,8; 43,13; Jub 5,15-16; 21,4; 33,18; äthHen 63,8; syrBar 13,8; 44,4; LibAnt 20,4. Im Neuen Testament: Mt 22,16/Mk 12,14/Lk 20,21; Gal 2,6; Apg 10,34; Eph 6,9; Kol 3,25; 1Pet 1,17.

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Die Gerechtigkeitsaussagen im Römerbrief

Argument des Paulus, dass Gott bei seinem Gericht zwischen Juden und Nichtjuden keine Differenz sieht.102 3.

Das gerechte Gericht Gottes nach den Taten: Das Besitzen des Gesetzes hat keine Bedeutung (2,12-16)

3.1

Sündigen ohne das Gesetz und durch das Gesetz macht keinen Unterschied (V 12)

In 2,12-16 setzt Paulus seinen Gedankengang fort, dass das gerechte Gericht Gottes über Juden und Nichtjuden gleichermaßen ergeht. In diesem Abschnitt wird aber eine neue Thematik in den bisherigen Gedankengang eingebettet: die Bedeutung des Gesetzes (hier im Sinne der Tora)103 in Bezug auf Gottes Gericht. Dass seine Ausführungen zur Gesetzesfrage analog zum vorherigen Abschnitt immer noch auf die Juden ausgerichtet sind, geht aus ihrem Inhalt deutlich hervor. Paulus erläutert hier, in welchem Sinne die Juden, welche das Gesetz von Gott empfangen haben und dadurch vor den anderen Völkern ausgezeichnet sind, den Nichtjuden gleichgestellt werden (V 12-13), und demgegenüber, wie die Nichtjuden, welche kein Gesetz haben, erfüllen können, was das Gesetz gebietet (V 14-15). Die Verwendung von ἀνόμως für die nichtjüdischen Menschen ist eine verbreitete jüdische Redeweise und beschreibt normalerweise die gesetzlose bzw. gottlose Lebenshaltung der Heiden.104 Das ἀνόμως beschreibt jedoch hier im neutralen Sinne das Merkmal der Nichtjuden, dass sie keine Tora haben, und nicht ihre Gesetzlosigkeit (vgl. 1Kor 9,21). Demgegenüber verwendet Paulus die Formel ἐν νόμῳ für die jüdischen Menschen. Die Formel bezeichnet das besondere Verhältnis zu ihrem Gesetz, der Tora. Die Juden kennen die Tora und leben ihr gemäß. So beginnt Paulus die zwei parallelen Sätze in V 12 mit den Unterscheidungsmerkmalen von Nichtjuden und Juden, schließt aber mit dem gemeinsamen Tatbestand: Die Nichtjuden wie auch die Juden, beide haben gesündigt (ἥμαρτον) und werden demzufolge ohne Unterschied das Gericht Gottes erfahren. Für Paulus spielt also der Unterschied zwischen Juden und Nichtjuden, ob man das Gesetz besitzt oder nicht, gar keine Rolle für die Zuerkennung von Heil und Unheil. Ohne das Gesetz zu sündigen oder im Besitz des Gesetzes zu sündigen – beide Male ist es dasselbe Sündigen, lediglich die Weise des Sündigens ist unterschiedlich.105 Die Menschen,

102 So auch Wolter, Römer I, 178f. 103 Aus dem Kontext ist sicherzustellen, dass in der Auseinandersetzung mit der Gesetzesfrage Paulus mit νόμος die Tora meint. Die Vorstellung, dass die Heiden ἀνόμως sind, ist nur dann zu verstehen, wenn man νόμος als die Tora auffasst. 104 Vgl. BAA, s.v. 105 Vgl. Wolter, Römer I, 181.

Das gerechte Gericht Gottes ohne Ansehen der Person: Röm 2,1-16

welche mit und ohne das Gesetz gesündigt haben, können unterschiedslos nach ihrer Sünde dem Gericht Gottes nicht entkommen. 3.2

Nicht die Hörer, sondern die Täter des Gesetzes werden als gerecht anerkannt (V 13)

In V 13 folgt ein Begründungssatz für das zuvor in V 12 Gesagte. Paulus stellt fest, dass nicht die Hörer des Gesetzes (οἱ ἀκροαταὶ νόμου), sondern die Täter des Gesetzes (οἱ ποιηταὶ νόμου) im Urteil Gottes als gerecht anerkannt werden. Das Adjektiv δίκαιος wird hier – wie im paganen griechischen Sprachgebrauch und in der LXX häufig – als substantiviertes Adjektiv, im Sinne von Gerechter, verwendet. Semantisch bezeichnet es normalerweise den Menschen, welcher im ethischen bzw. juristischen Sinne tadellos ist. In der LXX und in den frühjüdischen Texten bezeichnet es üblicherweise – meistens ohne einen bestimmten forensischen Bezug – einen gottesfürchtigen frommen Menschen, im Gegensatz zu einem Frevler und Gottlosen. Zu beachten ist vor allem, dass hier δίκαιος eindeutig im Kontext des Gerichts Gottes verwendet wird. Paulus spricht also mit δίκαιοι nicht von Gerechten nach dem Maßstab von Menschen, sondern von denjenigen, welche im Urteil Gottes als gerecht anerkannt werden. Dies wird durch den auf das δίκαιοι folgenden Ausdruck παρὰ τῷ θεῷ bestätigt. Die Formulierung παρὰ τῷ θεῷ ist sinngemäß als „bei Gott“, „vor ihm als dem Richter“106 bzw. „im Urteil Gottes“107 wiederzugeben und weist offenkundig auf das eschatische Gerichtsurteil Gottes hin.108 Die endgültige Entscheidung, ob ein Mensch gerecht oder nicht gerecht ist, ist also ausschließlich Sache Gottes. Das zu δίκαιοι παρὰ τῷ θεῷ parallel stehende Passiv δικαιωθήσονται ist auch in diesem Zusammenhang des Urteils Gottes zu verstehen, auch wenn es lexikalischgrammatisch einfach mit „gerecht werden“ oder „als gerecht dastehen“ wiedergegebenen werden kann.109 Im Hinblick auf die sprachliche Formulierung ist die Nähe zu δικαιωθήσεται … ἐνώπιον αὐτοῦ in Röm 3,20 und δικαιοῦται παρὰ τῷ θεῷ in Gal 3,11 bemerkenswert.110 παρὰ τῷ θεῷ und ἐνώπιον αὐτοῦ sind dort zwar anders als an unserer Stelle mit dem Verb verbunden, parallel dazu wird

106 107 108 109

So auch z. B. Wilckens, Römer I, 132. So mit Recht Wolter, Römer I, 181. Vgl. auch Schlier, Römer, 77. Vgl. Schlier, Römer, 77; VanLandingham, Judgement, 280; Prothro, Judge, 165. Man übersetzt das Passiv bei Paulus normalerweise mit „gerechtfertigt werden“, „gerecht gesprochen werden“ oder „für gerecht erklärt werden“. In der syntaktischen Struktur von Röm 3,20 und Gal 3,11 ist eine solche Übersetzung nicht sinngemäß. 110 Wolter verweist auch auf die Wendung δίκαιος … παρὰ κυρίῳ (παρὰ τῷ θεῷ) in HiLXX 9,2 und TestAss (vgl. Römer I, 181, Anm. 56).

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Die Gerechtigkeitsaussagen im Römerbrief

aber, wie in Röm 2,13, δίκαιος verwendet: jeweils in Röm 3,10; Gal 3,12. Durch die Formulierungen δικαιοῦσθαι παρὰ τῷ θεῷ und δικαιοῦσθαι ἐνώπιον αὐτοῦ (sc. θεοῦ) thematisiert Paulus dort analog zu Röm 2,13, wie ein Mensch vor Gott als gerecht bestehen kann. Entscheidend dabei ist, dass bei Paulus das Urteil, einen Menschen als Gerechten anzuerkennen, immer ganz und gar vom Urteil Gottes abhängt (vgl. 8,33; 1Kor 4,4-5). Für ihn ist klar, dass Gott das einzig legitime Subjekt des Urteilens über die Gerechtigkeit des Menschen ist. Die Bedingung für diese Gerechtigkeitsanerkennung bzw. Rechtfertigung durch Gott ist das Handeln nach dem Gesetz (οἱ ποιηταὶ νόμου), wie Paulus in V 13 eindeutig darlegt. Auf das reine Hören des Gesetzes folgt noch keine Anerkennung der Gerechtigkeit (d. h. des Gerechtseins) im Gericht vor Gott. Diese Überzeugung, dass das Gesetz nicht nur gehört, sondern auch danach gehandelt werden soll, ist ein in der jüdischen Tradition verbreiteter Grundsatz.111 Paulus greift also einen sehr bekannten jüdischen Topos auf, der auch für die Juden verständlich und konsensfähig ist, um die sündhaften Juden mit ihren Vergehen zu konfrontieren. Er behauptet damit jedoch nicht, dass der Mensch durch die Erfüllung des Gesetzes die Rechtfertigung Gottes erlangen kann.112 Paulus argumentiert bewusst mit dem ihm und seinem jüdischen Partner vertrauten Gedanken und stellt die an Juden gerichtete Behauptung auf, dass das Besitzen bzw. Hören des Gesetzes dem Menschen keinerlei Rechtfertigung Gottes aus sich heraus zuteilwerden lässt. Wenn die Juden das Gesetz nicht einhalten, können sie keine Rechtfertigung erreichen und sind somit nicht anders als die sündigen Heiden, werden also dem Gericht Gottes verfallen. 3.3

Das Erfüllen der Gesetzesforderung der Nichtjuden, die die Tora nicht haben (V 14-16)

Nachdem Paulus in V 13 mit Hilfe des jüdischen Rechtfertigungsgedankens sein Argument fortgesetzt hat, wendet er in V 14-15 den Blick auf die Seite der Nichtjuden. Paulus weist seinen jüdischen Gesprächspartner auf die Möglichkeit hin, dass

111 Vgl. Dtn 5,27; 6,3; 30,13; Ez 33,31.32; Jak 1,22-25; Josephus, Ant. 5,107; 20,44; auch die rabbinischen Belege in Bill. III, 84ff. 112 Das Zitat des jüdischen Topos in V 13 kann nicht im Sinne verstanden werden, dass Paulus damit die Rechtfertigung durch Erfüllung des Gesetzes als eine einzig wahre Lehre aufstellen würde. Es geht dabei nämlich keineswegs um die Formulierung einer Rechtfertigungslehre. Die Frage, ob es Menschen gebe, die die Rechtsforderungen der Tora vollständig erfüllen und damit im Gericht Gottes als gerecht bestehen können, spielt an dieser Stelle keine entscheidende Rolle und die Frage der Rechtfertigung durch Taten auch für Christen wird nicht thematisiert. Die Aussage in V 13 ist im weiteren argumentativen Kontext von 2,1ff als Vorwurf gegen die hochmütigen und selbstgerechten Juden zu verstehen (vgl. Bornkamm, Gesetz, 99; Schmithals, Römer, 91).

Das gerechte Gericht Gottes ohne Ansehen der Person: Röm 2,1-16

Nichtjuden, die die Tora nicht besitzen, „die Dinge des Gesetzes (τὰ τοῦ νόμου)“ – i. e. die Dinge, die die Tora fordert oder die der Tora entsprechen – erfüllen können. Die Heiden haben ja kein jüdisches Gesetz das den Willen Gottes vorschreibt. Paulus stellt aber fest, dass es unter ihnen trotz dieses widrigen Umstands Menschen geben kann, welche von Natur aus (φύσει) in Übereinstimmung mit der Tora handeln.113 Das hier als Ermöglichungsgrund für das gesetzmäßige Handeln von nichtjüdischen Menschen eingeführte φύσις bezieht sich auf die natürliche Veranlagung im Inneren des Menschen. Sie gibt dem Menschen zu erkennen, was recht und unrecht ist, also in Bezug auf das jüdische Gesetz gesagt: was den sittlichen Forderungen der Tora entspricht. Wenn Nichtjuden von dieser Natur her Kenntnisse über gesetzmäßiges Handeln haben und es vollziehen, dann sind sie sich selbst Gesetz (ἑαυτοῖς εἰσιν νόμος, V 14). Sie haben kein geschriebenes Gesetz wie die Tora in der Hand, aber in einer anderen Form und Weise, laut der Formulierung des Paulus „das ins Herz Geschriebene“.114 Durch ihr Handeln, welches dem Gesetz entspricht, wird erwiesen, dass sie ein solches Gesetz im Herz haben (d. h. dass sie um τὸ ἔργον τοῦ νόμου wissen). Durch diese Argumentation wird klargestellt, dass die Unkenntnis des Gesetzes nicht die entscheidende Hürde für gesetzmäßiges Handeln ist. Das Gesetz nicht zu kennen, kann also kein Hinderungsgrund dafür sein, Gerechtigkeit und Heil zu erlangen. Bei den weiteren Ausführungen über das gesetzeskonforme Handeln der Nichtjuden führt Paulus den Begriff συνείδησις ein. In der antiken Welt der paulinischen Zeit wird das Gewissen als eine besondere Instanz im menschlichen Bewusstsein verstanden, welche ethische Urteile über menschliche Handlungen trifft.115 Die Funktion des menschlichen Gewissens liegt nach Paulus darin, dem Menschen das ins Herz Geschriebene, vom Gesetz Geforderte, aufzuzeigen. In welcher Weise das

113 Mit dem ὅταν-Satz (mit dem Konjunktiv) von V 14 legt Paulus nicht einen hypothetischen Fall vor. Er formuliert das gesetzmäßige Handeln von Heiden als einen Tatbestand (vgl. V 15). Das artikellose ἔθνη zeigt, dass Paulus „nicht etwa die Heiden insgesamt den sündigen Juden gegenüberstellt“. (Wilckens, Römer I, 133). Bei ἔθνη ist von „Heiden, unter denen es durchaus Gehorsam gegenüber Gottes Willen gibt“, die Rede. (Lohse, Römer 104, Anm. 4). Ähnlich so auch Schlier, Römer, 77; Wolter, Römer I, 184. 114 Für die Aussage τὸ ἔργον τοῦ νόμου γραπτὸν ἐν ταῖς καρδίαις αὐτῶν verweisen die Exegeten meistens auf die in der Popularphilosophie der Pauluszeit verbreitete Vorstellung von ἄγραφος νόμος (so z. B. Lohse, Römer, 105; Wolter, Römer I, 186). Im Hinblick auf das Stichwort καρδία an der Stelle scheint dieser Hinweis unzutreffend. Die Formulierung des Paulus steht vielmehr offensichtlich der jüdischen Vorstellung vom ins Herz geschriebenen Gesetz nah (vgl. Jes 51,7; Jer 31,33; Spr 3,3; 7,2f). Bei Paulus findet sich diese Vorstellung noch in 2Kor 3,3. Der Einfluss vom Gedanken des ἄγραφος νόμος kann man dahingegen bei Philo gut sehen (vgl. Abr. 276; Prob. 46). 115 Vgl. Quintilian, Inst. 5,11,41; Publilius Syrus, E21; Seneca, Ep. Mor. XVI 97,15; XVII-XVIII 105,7.

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Die Gerechtigkeitsaussagen im Römerbrief

Gewissen im Menschen wirkt, wird hier im Bild eines Gerichtsverfahrens im Inneren des Menschen dargestellt. In dieser Darstellung klagen sich die Gedanken des Menschen gegenseitig an und verteidigen sich. Durch solche sittlichen Reflexionen über das menschliche Verhalten gibt das Gewissen dem Menschen kund, was recht und was unrecht ist, und ermöglicht das gesetzeskonforme Handeln. Zum Schluss des Abschnitts verweist Paulus nach 2,5 noch einmal auf den Gerichtstag Gottes, welcher alle Menschen treffen wird (V 16). An diesem Gerichtstag wird „das Verborgene der Menschen (τὰ κρυπτὰ τῶν ἀνθρώπων)“ – d. h. die Sache, die der Mensch verborgen hat und die damit für andere nicht ersichtlich war – geoffenbart und gerichtet. Diese Vorstellung, dass Gott die verborgenen Dinge von Menschen offenbar macht, ist nicht nur bei Paulus, sondern auch schon in den alttestamentlichen und frühjüdischen Texten häufig anzutreffen.116 Mit diesem Gerichtsbild wird ausgesprochen, dass Gott ein stets zuverlässiger, gerechter Richter ist, welcher anders als menschliche Richter trotz möglicher Betrugs- und Verschleierungsversuche von menschlicher Seite immer gerechte Urteile fällt. Diese Vorstellung von Gott als gerechtem Richter impliziert auch, dass Gottes Gericht so allumfassend und allwissend ist, dass niemand etwas vor Gott, dem Richter, verheimlichen kann. Wie Paulus mit dem Zusatz κατὰ τὸ εὐαγγέλιόν μου διὰ Χριστοῦ Ἰησοῦ deutlich macht, ist das Wort vom kommenden Endgericht nicht bloß ein Traditionsgut, sondern gehört substantiell zu der Verkündigung des Paulus, welche Christus ihm offenbart hat (vgl. Gal 1,12)117 .

116 Vgl. Sir 1,30 („καὶ ἀποκαλύψει κύριος τὰ κρυπτά σου“); DanLXX 2,47 („Επ᾿ ἀληθείας ἐστὶν ὁ θεὸς ὑμῶν θεὸς τῶν θεῶν καὶ κύριος τῶν βασιλέων ὁ ἐκφαίνων μυστήρια κρυπτὰ μόνος“). Vgl. auch DtnLXX 15,9; PredLXX 12,14; 2Makk 12,41. Bei Paulus ist auch in 1Kor 4,5 von der Enthüllung vom Verborgenen im Kontext des göttlichen Gerichts die Rede (vgl. auch 1Kor 3,13; 14,25). 117 So kann man διὰ Χριστοῦ Ἰησοῦ auf τὸ εὐαγγέλιόν beziehend interpretieren. Durch διὰ Χριστοῦ Ἰησοῦ wird also betont, dass die Verkündigung des Paulus über das Endgericht auf der Offenbarung Christi beruht (vgl. Haacker, Römer, 75). Eine andere Möglichkeit ist es, διὰ Χριστοῦ Ἰησοῦ mit κρίνει zu verbinden (vgl. Wilckens, Römer I, 137; Wolter, Römer I, 188). Beide Möglichkeiten beruhen m. E. auf plausiblen Beobachtungen der paulinischen Texte. Der Gedankengang, dass Jesus Christus der kommende Weltenrichter ist, findet sich bei Paulus in 1Kor 4,5; 2Kor 5,10 (vgl. auch Apg 10,42; 17,31) und in Gal 1,12 bezeugt Paulus, dass das Evangelium aus der Offenbarung Christi stammt. Ich bevorzuge die erste Interpretation, denn die Stellung von διὰ Χριστοῦ Ἰησοῦ steht zu weit von κρίνει ὁ θεός entfernt. Hinzu kommt, dass Paulus offenkundig Gott in V 16 als das Subjekt des richtenden Handelns bestimmt. Die alternative Interpretation, dass Gott durch Christus richtet, ist im Vergleich zu den anderen Aussagen über das Endgericht, nach denen entweder Gott oder Christus richtet, ungewöhnlich.

Gott ist treu, wahrhaftig und gerecht: Röm 3,1-8

C.

Gott ist treu, wahrhaftig und gerecht: Röm 3,1-8

1.

Die Untreue der Juden und die Treue Gottes, lügende Menschen und wahrhaftiger Gott (3,1-4)

1.1

Die Untreue der Juden und die Treue Gottes (V 1-3)

Im vorhergehenden Abschnitt 2,17-29 hatte Paulus auf die Übertretung des Gesetzes durch die Juden verwiesen und damit die Anklage gegen sie erhoben, dass sie gleich den Nichtjuden, die das Gesetz nicht haben, Sünder sind. Aus der Sicht des Paulus bilden sie sich ein, Lehrer und Führer der anderen Menschen (d. h. im Kontext: der Nichtjuden) zu sein und sie darüber belehren zu müssen, was das Gesetz vorgibt. Doch die Juden folgen dem, was sie gelehrt haben, selbst nicht (2,20-23). Infolge dieses Umstands ist ihr Rühmen aufgrund des Gesetzes bedeutungslos geworden. Paulus ist sogar der Meinung, dass aufgrund dieses Widerspruches zwischen der Lehre und dem Tun der Juden der Name Gottes unter den heidnischen Völkern gelästert wird (2,24). Mit 2,28-29 schließt Paulus seine Anklage gegen die Juden mit einer Neudefinition dessen, was das Jude-Sein und die Beschneidung sind, ab: „Jude ist nicht, wer es äußerlich, sondern wer es innerlich ist, und die wahre Beschneidung ist nicht eine äußerliche am Fleisch, sondern wird am Herzen vollzogen – durch den Geist und nicht durch den Buchstaben.“118 In 3,1 befasst Paulus sich mit einem Problem, das sich aus der vorangegangenen Feststellung ergibt. Es kann nämlich gefragt werden, worin dann der Vorzug (περισσόν) des Jude-Seins und der Nutzen (ὠφέλεια) der Beschneidung besteht. Darauf antwortet Paulus: „πολὺ κατὰ πάντα τρόπον. πρῶτον μὲν γὰρ ὅτι ἐπιστεύθησαν τὰ λόγια τοῦ θεοῦ.“ Diese Antwort des Paulus klingt angesichts seiner vorausgehenden Ausführungen über das Sünder-Sein der Juden erstaunlich und bereitet in ihren Einzelheiten für die Auslegung Schwierigkeiten. Entscheidend sind dabei die Fragen, was das Syntagma τὰ λόγια τοῦ θεοῦ bedeutet und wie die Semantik des Passivs ἐπιστεύθησαν zu verstehen ist. Die Formel λόγια θεοῦ (bzw. κυρίου oder σου) lässt sich auch in der LXX finden. Dort kann sie auf die Rechtsforderungen der Tora (vgl. DtnLXX  33,9; PsLXX  118,11.103.148.158.162) oder auf Prophetenworte (vgl. NumLXX  24,4.16) verweisen. In unbestimmtem und allgemeinem Sinne kann sie auch die Worte bzw. Sprüche Gottes bezeichnen, welche von Gott übergeben worden sind und seinen Willen enthalten (vgl. PsLXX  11,7; 17,31; 106,11). Je nach Kontext hat die

118 Diese Kritik des Paulus an Juden, die ihre Identität besonders an der äußerlichen Beschneidung festmachen, findet sich auch in Gal 6,13 und Phil 3,2-3.

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Die Gerechtigkeitsaussagen im Römerbrief

Formel λόγια θεοῦ daher verschiedene Bedeutungsmöglichkeiten.119 τὰ λόγια τοῦ θεοῦ kann aufgrund dieser Beobachtung im vorliegenden Kontext in 3,2 in unbestimmter Weise im Sinne der Worte bzw. Sprüche Gottes verstanden werden, welche Israel in seiner Geschichte von Gott empfangen hat. Dazu sind dann nicht nur die Anweisungen in der Tora zu rechnen, sondern auch die Verheißungen bzw. Bundeszusagen, die Gott den Vorvätern oder den Propheten gegeben hat (vgl. 9,4).120 Die Deutungsversuche, welche τὰ λόγια τοῦ θεοῦ lediglich auf die Messiasverheißung oder Christusoffenbarung beziehen wollen121 , passen nicht zum Textzusammenhang.122 Denn bei den folgenden ἀπιστία-Aussagen geht es in erster Linie nicht um den Unglauben der Juden gegenüber der Heilsbotschaft (s. u.). Im Hinblick auf die weiteren Ausführungen in 3,3f liegt es eher nahe, dass Paulus mit den ἀπιστία-Aussagen in V 3 in einem allgemeinen Sinn den Kontrast zwischen dem treulosen Verhalten der Juden und der unwandelbaren Treue Gottes zum Ausdruck bringen will (s. u.). Das Passiv ἐπιστεύθησαν wird im vorliegenden Kontext nicht im geläufigen Sinn des Verbs πιστεύειν verwendet. Hier trägt es die Bedeutung, „mit etwas betraut werden“. Das dabei implizierte Subjekt ist „Juden“ und das Objekt „die Worte Gottes“.123 Ein ganz ähnlicher Gebrauch von πιστεύειν findet sich bei Paulus auch in 1Thess 2,4; 1Kor 9,17 und Gal 2,7 (vgl. auch 1Tim 1,11; Tit 1,3). Gott hat also den Juden, den Mitgliedern des Volkes Gottes, sein Wort, die Tora mit ihren Verheißungen und Bundeszusagen in vollem Vertrauen übergeben. Damit haben sie die hinreichenden Kenntnisse darüber, was Gott von ihnen erwartet und fordert (vgl. 2,18-19). Wie Paulus im nachfolgenden Vers 3 feststellt, haben die Juden sich jedoch nicht treu gegenüber den Worten Gottes verhalten, die er ihnen vertrau-

119 Im Neuen Testament kommt der Plural λόγια als Bezeichnung der Worte Gottes auch in Apg 7,38; Hebr 5,12 und 1Petr 4,11 vor. Außer im Falle von Apg 7,38, wo sich die Formulierung eindeutig auf die Tora bezieht, ist es m. E. aufgrund der semantischen Unbestimmtheit und Breite von λόγια aber schwierig, die Bedeutung der Formulierung in Hebr 5,12 und 1Petr 4,11 klar darzustellen. 120 Mit Schlier, Römer, 92; Wilckens, Römer I, 164; Lohse, Römer, 116f; Wolter, Römer I, 213. Paulus liefert in Röm 9,4-5 einen mit 3,2 vergleichbaren Gedanken. Dort zählt er die Israel verliehenen Vorzüge auf, wozu auch die Bündnisse, die Gesetzgebung und die Verheißungen zählen, welche gemeinsam als Worte Gottes aufgefasst werden können. 121 Vgl. Sanday/Headlam, Romans, 70f; Michel, Römer, 137, Anm. 3; Schmithals, Römer, 105f; Dunn, Romans I, 138f. 122 Vgl. Flebbe, Solus Deus, 28f. Flebbe betont mit Hinweis auf den Textzusammenhang mit Röm 2 zu Recht, dass τὰ λόγια τοῦ θεοῦ nicht als „die Messiasverheißung oder Christusoffenbarung“ verstanden werden kann. Aber seine Interpretation, dass die Aussage ἐπιστεύθησαν τὰ λόγια τοῦ θεοῦ als „Formel für den Bund“ zu verstehen sei und im weiteren Sinn auf den Bundessschluss Israels mit Gott in Ex 24 bezogen sei, findet im dazugehörigen Kontext kein Indiz. 123 Das Passiv ἐπιστεύθησαν kann auch sinngemäß mit „et. ist jdm. anvertraut“ oder „jd. bekommt etw. anvertraut“ wiedergegeben werden. Vgl. BDR, §312.1; BAA, s.v.

Gott ist treu, wahrhaftig und gerecht: Röm 3,1-8

ensvoll offenbart hat. Von einigen Exegeten wird ἠπίστησαν so verstanden, dass Paulus damit den Unglauben der Juden gegenüber dem Evangelium zum Ausdruck bringen wolle.124 Angesichts der Ausführungen über das Fehlverhalten der Juden in 2,17-24, die den Ausgangspunkt des Diskurses in 3,1f bilden, sollte ἠπίστησαν jedoch eher in Bezug auf das treulose Verhalten der Juden gegenüber den Worten Gottes verstanden werden.125 Mit ἠπίστησαν richtet Paulus den Blick auf die Treulosigkeit (bzw. Untreue) Israels in der Geschichte mit Gott, in dem Sinne, dass sie sich durch ihr Fehlverhalten gegenüber den Worten Gottes als treulos (bzw. untreu) erwiesen haben.126 Paulus stellt ausgehend von diesem Tatbestand der Treulosigkeit der Juden in Vers 3b die Frage, ob die Treulosigkeit (ἀπιστία) „einiger“ Juden die Treue bzw. Zuverlässigkeit (πίστις)127 Gottes zunichtemacht (καταργήσει128 ). Dabei handelt es sich um eine Variante der Theodizeefrage, die die Bedeutung und den Nutzen der Treue Gottes für Israel in Frage stellt:129 Wenn Gottes erwähltes Volk Israel untreu geworden ist und damit der Erwählung Gottes nicht entsprochen hat, worin ist dann die Treue Gottes begründet? In Anbetracht der Unheilssituation der Juden kann der Schluss gezogen werden, dass Gott nicht treu sei. Dies verneint Paulus aber schroff mit den Worten μὴ γένοιτο. Aufgrund des heilsfernen Standes der Juden kann Gottes Treue also nicht in Frage gestellt werden. Sie bleibt nach wie vor in Kraft, trotz der Untreue der Juden.

124 So etwa Cosgrove, Occasion, 97f; Räisänen, Verständnis, 96f; Fitzmyer, Romans, 327; Sänger, Verkündigung, 136; Bell, No one seeks, 204; Kujanpää, Scriptural Quotations, 32. 125 ἀπιστεῖν kann semantisch im Sinne von „sich treulos verhalten“ oder „treulos werden“ verstanden werden (vgl. 2Tim 2,13). Das folgende Gegensatzpaar ἀπιστία-πίστις hebt diese Bedeutungsmöglichkeit hervor. Vgl. auch Schlier, Römer, 92f; Lohse, Römer, 117; Haacker, Römer, 86f; Wolter, Römer I, 214. 126 Vgl. Flebbe, Solus Deus, 34. Die Annahme von Flebbe, dass ἠπίστησάν und ἀπιστία in 3,3 im Sinne des Bundesbruchs aufzufassen seien, ist jedoch nicht zutreffend, weil damit eine unzulässige Einschränkung des semantischen Feldes der ἀπιστία-Ausage vorgenommen wird (vgl. auch Stuhlmacher, Gerechtigkeit Gottes, 84f; Lohse, Römer, 117, Anm. 6). 127 Zu dieser Bedeutung von πίστις vgl. BAA, s.v.; bspw. Haacker, Römer, 86f; Lohse, Römer, 117. 128 καταργεῖν ist bei Paulus 25-mal belegt. Außerhalb des Corpus Paulinum findet sich das Verb im Neuen Testament nur in Lk 13,7 und Hebr 2,14. Zur Bedeutung „zunichte machen“ s. BAA, s.v. 129 Einige Exegeten verstehen die rhetorische Frage in V 3 im Sinne der Behauptung, dass Gott trotz der Untreue der Juden seine Treue weiter aufrechterhalte. Demnach gehe es also um die Reaktion Gottes auf die menschliche Untreue (vgl. Michel, Römer, 138; Wolter, Römer I, 215f u. a.). Diese Auslegung ist zwar vom Text her möglich, hinsichtlich des Textzusammenhangs mit den folgenden Fragen in V 5-7 ist die Frage aber sachgerecht als Theodizeefrage aufzufassen, die nach der Wirklichkeit bzw. Gültigkeit der Treue Gottes fragt (vgl. Cranfield, Romans I, 181; Eskola, Theodicy, 96f; Flebbe, Solus Deus, 35).

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Die Gerechtigkeitsaussagen im Römerbrief

1.2

πίστις τοῦ θεοῦ als Bundestreue Gottes?

Bevor zu den folgenden Versen übergegangen werden kann, muss überprüft werden, ob die in der Forschung verbreitete Bestimmung der πίστις τοῦ θεοῦ als Bundestreue im vorliegenden Kontext zutreffend ist. Unter den Exegeten gibt es die starke Tendenz, die ἀπιστία αὐτῶν im Sinne des Bundesbruchs bzw. der Bundesbrüchigkeit der Juden zu verstehen und dementsprechend die πίστις τοῦ θεοῦ als Bundestreue Gottes zu bestimmen.130 Für das Verständnis der πίστις τοῦ θεοῦ ist aber zunächst noch einmal darauf aufmerksam zu machen, dass die der πίστις τοῦ θεοῦ gegenüberstehende ἀπιστία nicht einfach als Bundesbruch aufgefasst werden kann. Wie oben gezeigt, bezieht sich das Syntagma τὰ λόγια τοῦ θεοῦ nicht allein auf die Bundeszusage, weshalb die ἀπιστία der Juden gegenüber den Worten Gottes nicht im verengten Sinne allein als Bundesbruch zu verstehen ist. Darüber hinaus kommt der Begriff διαθήκη, der den Bundesgedanken explizieren würde, im näheren Kontext nirgendwo vor. ἀπιστία sollte an dieser Stelle demnach nicht eingeschränkt als Bundesbruch, sondern im allgemeinen Sinn als das treulose Verhalten der Juden verstanden werden, d. h. als ein Fehlverhalten, wie es Paulus durch die in 2,17-24 beschriebenen Gesetzesübertretungen illustriert (s. o.). Berücksichtigt man diese kontextuelle Bedeutung von ἀπιστία, entspricht die Bestimmung der πίστις τοῦ θεοῦ als Bundestreue Gottes nicht der Kohärenz des vorliegenden Textes. Die πίστις τοῦ θεοῦ bezeichnet vielmehr – wie im Fall der ἀπιστία der Juden – in einem weiten Sinn die Treue bzw. Zuverlässigkeit Gottes gegenüber den Juden. Dieses Verständnis wird insbesondere durch die parallel stehenden Begriffspaare ἀλήθεια-ψεῦσμα und δικαιοσύνη-ἀδικία gestützt, die den Unterschied zwischen dem Gottsein Gottes und dem Menschsein der Menschen eindeutig und radikal zur Darstellung bringen. Die Bundestreue Gottes in dem Sinne, dass Gott die Bundeszusage hält und damit seine Treue erweist, ist selbstverständlich ein grundlegender Bestandteil der Treue Gottes im Verhältnis zu seinem Volk Israel. Umgekehrt darf jedoch nicht die Aussage zur Treue Gottes unter dem Begriff der Bundestreue subsumiert werden. In diesem Zusammenhang ist auch auffallend, dass die Begriffe πίστις bzw. πιστός bei Paulus in Bezug auf Gott an keiner Stelle im Sinne der Bundestreue im Rahmen des israelitischen Bundesgedankens verwendet werden. Vielmehr charakterisieren sie Gott im allgemeinen Sinne als einen gegenüber den Menschen treu Handelnden (vgl. 1Thess 5,24; 1Kor 1,9;

130 So Stuhlmacher, Gerechtigkeit Gottes, 85; Kertelge, Rechtfertigung, 65; Ziesler, Meaning, 190; Bornkamm, Teufelskunst, 143; Cranfield, Romans I, 180f; Michel, Römer, 138; Wilckens, Römer I, 164; Käsemann, Römer, 74f; Schlier, Römer, 92f; Dunn, Romans I, 131f.139f; Jewett, Romans, 244f; Flebbe, Solus Deus, 34 u. a.

Gott ist treu, wahrhaftig und gerecht: Röm 3,1-8

10,13).131 Der Gebrauch von πίστις in Bezug auf Gott in der LXX zeigt ebenfalls, dass die Semantik des Wortes nicht immer an den Bundesgedanken geknüpft ist, da es abgesehen vom Bundesgedanken die treue bzw. zuverlässige Haltung bzw. Eigenschaft Gottes beschreiben kann (vgl. DtnLXX 32,4; PsLXX 32,4; JesLXX 49,7; HosLXX 2,20).132 1.3

Lügende Menschen und wahrhaftiger Gott (V 4)

Auf welche Weise die Treue Gottes trotz der Untreue der Juden unwandelbar und beständig bleibt, erklärt Paulus hier nicht.133 Stattdessen führt er nach der Negation μὴ γένοιτο einen Grundsatz als Begründung an, mit dem er Gottsein und Menschsein nochmals antithetisch gegenüberstellt: „γινέσθω δὲ ὁ θεὸς ἀληθής, πᾶς δὲ ἄνθρωπος ψεύστης.“ Der Satz ist nicht wie das folgende Zitat aus PsLXX 50,6 mit einer Zitatformel eingeführt, obwohl er ebenfalls auf der Schrift beruht. Der zweite Teil des Satzes entspricht wörtlich PsLXX 115,2 und die Vorstellung, dass Gott wahrhaftig (ἀληθής) ist, findet sich häufig im Alten Testament und in frühjüdischen Schriften.134 Den fundamentalen Unterschied zwischen Menschen und Gott, den Paulus schon in V 3 mit dem Gegensatzpaar ἀπιστία-πίστις herausgestellt hat, verschärft er durch die Gegenüberstellung von ψεύστης-ἀληθής135 noch weiter. Am Übergang von V 3 zu V 4 ist dabei vor allem der Wechsel von der Untreue einiger Juden zur Lüge aller Menschen (πᾶς ἄνθρωπος) besonders auffällig. Paulus spricht nun nicht mehr nur von der Schuld einiger Juden, sondern will die Schuld „aller“ Menschen aufweisen. Damit wird der Argumentationsgang schon ab V 4 über das Bundesvolk Israel hinaus ausgeweitet in eine universale Perspektive. Durch die Berufung auf PsLXX 50,6 stützt Paulus die Feststellung in V 4a ab, dass Gott wahrhaftig, jeder Mensch aber ein Lügner ist. Zwischen der Feststellung und dem begründenden Zitat kann wiederum ein Begriffswechsel von der Wahrhaftigkeit (ἀλήθεια) Gottes zur Gerechtigkeit (δικαιοσύνη) Gottes beobachtet

131 Die Formulierung πίστις τοῦ θεοῦ findet sich bei Paulus nur in Röm 3,3. In der LXX ist sie nie belegt, aber die Vorstellung, dass Gott πιστός ist, ist ein grundlegender Bestandteil des Gottesbildes im Alten Testament und in den jüdischen Schriften. Vgl. DtnLXX 7,9; 32,4; PsLXX 32,4; JesLXX 49,7; HosLXX 2,20; PsSol 14,1; 17,10; Philo, Leg.All. 3,204. 132 Lediglich in DtnLXX 7,9 ist die Treue Gottes eindeutig mit seiner Bundeseinhaltung assoziiert. 133 Mit der Frage, in welchem Sinne Gott sich im Verhältnis zu seinem Volk als treu erweist, setzt sich Paulus intensiv in den Kapiteln 9–11 auseinander. 134 Vgl. GenLXX 32,11; 1EsdrLXX 4,40; 2EsdrLXX 19,33; PsLXX 24,10; 29,10; 30,6; 35,6; 39,11-12; 42,3 u. a.; SachLXX 8,8; JesLXX 45,19; DanLXX 3,28; Tob 3,2 u. a. Besonders 1QH 1,26f und 9,28f enthalten mit dem Gegenüber von der Wahrhaftigkeit Gottes und dem Trug des Menschen eine Parallele zu Röm 3,4a (vgl. Wilckens, Römer I, 164f; Wolter, Römer I, 215, Anm. 29). 135 ψεύστης bezeichnet im allgemeinen Sinn die im Treuebruch erwiesene Unzuverlässigkeit des Menschen, ἀληθής demgegenüber die Verlässlichkeit Gottes.

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Die Gerechtigkeitsaussagen im Römerbrief

werden. Das Gegensatzpaar δικαιοσύνη-ἀδικία kommt erst in V 5 vor. Außer des für den Konjunktiv Aorist gesetzten Futurs νικήσεις entspricht der zitierte Satz wörtlich der zweiten Vershälfte von PsLXX 50,6. Auffällig ist dabei, dass Paulus die erste Vershälfte von PsLXX 50,6, in der der Psalmbeter Gott seine Sünde bekennt, auslässt. Paulus nimmt nur den Satzteil auf, in dem der Beter das Urteil und das Strafhandeln Gottes an sich als gerecht anerkennt, und kombiniert dies mit der Feststellung in V 4a. Damit führt Paulus den Psalmtext über seinen ursprünglichen Sachbezug als individuelles Bußgebet hinaus und verwendet ihn als Schriftbeweis für die in V 4 formulierte These von der Wahrhaftigkeit Gottes.136 Die argumentative Funktion des Zitats im Textzusammenhang muss allerdings genau betrachtet werden. Die Aussage des Zitats, dass Gott mit seinen Worten recht behält und aus dem Prozess mit dem Menschen als Sieger hervorgeht, hat einen unmittelbaren argumentativen Bezug zum Thema der Wahrheit Gottes und unterstützt gewissermaßen die These, dass Gott wahrhaftig ist – freilich nicht bloß in dem Sinne, dass Gott nicht lügt. PsLXX 50,6b spricht vom Erweis der Gerechtigkeit im Urteilsspruch Gottes über den Sünder und dem Sieg Gottes im Rechtsstreit mit dem Menschen.137 Das Psalmzitat führt den Gedankengang damit eindeutig über die bisherigen Ausführungen in V 1-3 hinaus, die den Unterschied von Gottsein und Menschsein herausgestellt haben. Diese mit dem Zitat aus PsLXX 50,6b neu eingeführten Bezugspunkte werden in V 5-6 aufgenommen und münden weiter in einen neuen Diskurs. 2.

Das Gericht Gottes über die Ungerechtigkeit des Menschen ist gerecht (3,5-8)

2.1

Die Ungerechtigkeit des Menschen und die Gerechtigkeit Gottes (V 5-6)

In V 5-6 setzt Paulus sich mit einem Gedanken auseinander, der die Gerechtigkeit des Gerichts Gottes über den ungerechten Menschen in Frage stellt. Der Ausgangs-

136 So auch Hofius, Psalter als Zeuge, 43; Sänger, Verkündigung, 142; Böhm, Rezeption der Psalmen, 167. 137 Wie mehrere Exegeten richtig bemerkt haben, ist nicht anzunehmen, dass Paulus mit dem Zitat aus PsLXX 50,6b den endzeitlichen Sieg Gottes über die ihm den Gehorsam versagende Welt zum Ausdruck bringen will (so aber Käsemann, Römer, 76f; Stuhlmacher, Gerechtigkeit Gottes, 85f). Vgl. Bornkamm, Teufelskunst, 143f; Lohse, Römer, 119; Flebbe, Solus Deus, 39; Wolter, Römer I, 217.

Gott ist treu, wahrhaftig und gerecht: Röm 3,1-8

punkt dieses Gedankens lautet: Die Ungerechtigkeit des Menschen138 erweist139 die Gerechtigkeit Gottes (ἡ ἀδικία ἡμῶν θεοῦ δικαιοσύνην συνίστησιν). Diese These, nach der die Ungerechtigkeit des Menschen als etwas Positives erscheint, entspricht ersichtlich nicht der Auffassung des Paulus.140 Für ihn kann die menschliche Ungerechtigkeit bzw. Sünde in Bezug auf Gott oder auf etwas Anderes auf keine Weise eine positive Funktion oder Bedeutung haben. Sie führt die Menschen schlechthin zum Gericht Gottes (vgl. 1,18ff; 2,1ff; 6,23). Die These des Bedingungssatzes stellt aber offenkundig auch nicht die Meinung der Paulusgegner dar.141 Es ist nämlich kaum vorstellbar, dass die Gegner selbst einen solch absurden Gedanken gegen Paulus eingewendet hätten. Vielmehr spiegelt die These höchstwahrscheinlich eine Meinung wider, die Paulus ungerechterweise von seinen Gegnern aufgrund eines Missverständnisses zugeschrieben wurde. Die Aussage des Bedingungssatzes zeigt also, wie die paulinische Heilsbotschaft von ihren Gegnern (miss-)verstanden wurde und welche Probleme sie mit ihr gehabt haben.142 Paulus greift diese Kritik auf und wehrt sich gegen sie. In den Versen 5-6 werden die Gegner noch nicht explizit genannt. Aus V 8 ist allerdings ersichtlich, dass es sich hier um Einwände der wirklichen, und zwar jüdischen, Gegner des Paulus handelt. Die in den Bedingungssätzen von V 5 und V 7 aufgestellten Behauptungen, „unsere Ungerechtigkeit tut Gottes Gerechtigkeit dar“ und „durch meine Lüge erweist sich Gottes Wahrhaftigkeit als noch größer“, stehen inhaltlich unmittelbar in Verbindung mit dem im ὅτι-Satz formulierten

138 Das Pronomen ἡμεῖς in der Wendung ἡ ἀδικία ἡμῶν bezieht sich nicht allein auf die Juden (gegen Wilckens, Römer I, 165; Räisänen, Verständnis, 102), sondern referiert allgemein auf die Menschen (mit Wolter, Römer I, 218). Diese Auffassung wird durch die Ausweitung von „einigen Juden“ zu „allen Menschen“ in V 3-4 bestätigt. In V 4.5a.7a handelt es sich um den „ethischen Gegensatz zwischen Gott und Mensch“, nicht um den zwischen Gott und Israel (vgl. Haacker, Römer, 88). 139 Zu dieser Bedeutung des Verbs συνιστάναι vgl. BAA, s.v. Im vorliegenden Kontext wird das Verb auch mit „darstellen“ oder „herausstellen“ wiedergegeben (so auch viele Kommentatoren). Die Wendung des Verbs mit dieser Bedeutung findet sich bei Paulus auch in Röm 5,8; 2Kor 6,4; 7,11; Gal 2,18. BAA weist auch auf die außerpaulinischen Belege bei Polybius, Philo, Josephus hin. 140 Manche Exegeten meinen, dass die Aussage im Bedingungssatz in V 5a die eigene Feststellung des Paulus ist und der Einwand der Gegner daher erst ab τί ἐροῦμεν vorliegt. Vgl. nur Flebbe, Solus Deus, 49; Jewett, Romans, 247; Wolter, Römer I, 219. Doch angesichts ihres Inhalts ist die Aussage als eine Formulierung der Gegner zu verstehen, in der ihr Missverständnis der paulinischen Botschaft zum Ausdruck kommt. 141 In der Exegese wird diskutiert, ob Paulus sich die Frage in V 5-7 selbst stellt, oder ob er sich hier mit den wirklich gegen ihn erhobenen Einwänden auseinandersetzt. Im vorliegenden Text ist m. E. angesichts des kohärenten Argumentationszusammenhangs zwischen den Fragen in V 5 und V 7 und des explizit genannten Einwands in V 8 nicht auszuschließen, dass Paulus schon in V 5-7 auf die Einwände seiner Gegner eingeht (vgl. Bornkamm, Teufelskunst, 142.146; Wilckens, Römer I, 161ff; Schlier, Römer, 94f; Flebbe, Solus Deus, 52f). 142 Vgl. Bjerkelund, Nach menschlicher Weise, 96ff; Wilckens, Römer I, 165f.

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Einwand in V 8. In beiden kommt der Einwand gegen Paulus zum Ausdruck, dass seine Botschaft, die von der Gerechtigkeit allein aus dem Christusglauben kündet, zwangsläufig als eine Aufforderung, Unrecht und Ungerechtigkeit zu tun, zu verstehen ist (s. u.). Gegen diese Einwände stellt Paulus fest, dass die ungerechten und sündigen Menschen berechtigterweise unter dem Gericht Gottes stehen. Im Anschluss an den εἰ-Satz, in welchem er die falsche Voraussetzung der Angreifer darlegt, benennt Paulus das aus dieser Voraussetzung folgende, als absurd erscheinende Resultat: Wenn die Ungerechtigkeit des Menschen die Gerechtigkeit Gottes aufweist, wäre Gott ungerecht, wenn er in seinem Zorn ungerechte Menschen richtet. Durch Verweis auf diese absurde Schlussfolgerung entkräftet Paulus das Argument des Einwandes und zeigt damit gleichzeitig, dass sich die Ungerechtigkeit des Menschen niemals dem Gericht Gottes entziehen kann. Mit der Hinzufügung κατὰ ἄνθρωπον λέγω gibt Paulus außerdem zu erkennen, dass er selbst eine solch absurde Frage gar nicht stellen will.143 Der Gedanke, dass der die ungerechten Menschen richtende Gott ungerecht sei, weil die menschliche Ungerechtigkeit die Gerechtigkeit Gottes erweise, entspricht offenkundig „menschlicher Rede“. In V 6 weist Paulus die vorgebrachte Fragestellung daher auch gleich entschieden mit μὴ γένοιτο ab und stellt anschließend die Frage: „ἐπεὶ πῶς κρινεῖ ὁ θεὸς τὸν κόσμον;“ Paulus zielt damit auf einen Konsens, welcher auch für seine Gegner einsichtig sein sollte. Sollte Gott ungerecht sein, wäre die Annahme, dass er die Welt richten könne, unsinnig. Denn die Urteile und sein richterliches Handeln wären ungerecht, wenn Gott selbst ungerecht wäre. Glaubt man jedoch an Gott als den Weltenrichter, muss man zugleich annehmen, dass er gerecht ist.144

143 Vgl. BDR § 495,4b. Die Wendung κατὰ ἄνθρωπον λέγω findet sich bei Paulus auch in Gal 3,15 (vgl. auch Röm 6,19; 1Kor 9,8). Dort dient der Ausdruck dazu, die vorliegende Rede als nicht aus der Schrift kommende, sondern aus dem weltlichen Bereich entstammende zu charakterisieren. Durch die Einführung des leicht zu verstehenden Beispiels aus dem menschlichen Bereich will Paulus den nachfolgenden Gedanken, was als Göttliches gilt, argumentativ stützen. So verfährt er nach dem Schlussverfahren a minore ad maius. Vgl. Mußner, Galater, 236; Bjerkelund, Nach menschlicher Weise, 94ff. Anders als in Gal 3,15 leitet die Wendung in Röm 3,5 jedoch keinen Vergleich aus dem weltlichen Bereich ein, sondern kennzeichnet den Umstand, dass die voranstehende Frage, die die Gerechtigkeit des Gerichts Gottes bezweifelt, einem unhaltbareren, menschlichen Gedankengang entspringt. 144 Schlier bemerkt dazu: „Paulus argumentiert nicht eigentlich von der Sache her, d. h. so, daß er die Schwäche der Schlußfolgerung erötert, sondern weist die Frage ab mit dem Hinweis auf die Konsequenz der Schlußfolgerung, die vom Fragenden wirklich nicht gezogen werden kann.“ (Römer, 95). Bornkamm weist auch auf den ungewöhnlichen Charakter des Argumentationsgangs von V 6 hin (vgl. Teufelskunst, 145).

Gott ist treu, wahrhaftig und gerecht: Röm 3,1-8

2.2

Die Bedeutung von θεοῦ δικαιοσύνη

Nun ist zu fragen, wie die Genitivverbindung θεοῦ δικαιοσύνη zu verstehen ist. Aus dem Kontext wird deutlich, dass das Verständnis der Formulierung als „Gabe“, welche Gott den Glaubenden verleiht, hier nicht sinnvoll ist.145 Einem solchen Verständnis widerspricht schon die Gegenüberstellung von der ἀδικία des Menschen und der δικαιοσύνη Gottes. Aufgrund dieses Gegenübers zeigt sich, dass die Formulierung θεοῦ δικαιοσύνη nicht wie die δικαιοσύνη θεοῦ in 1,17 auf Menschen bezogen verwendet wird. Die Formulierung θεοῦ δικαιοσύνη ist sachgerecht als etwas auf Gott Bezogenes zu verstehen. Im Kontext beschreibt sie in Gegenüberstellung zur ἀδικία des Menschen die Eigenschaft Gottes, gerecht zu sein.146 Dabei bezeichnet δικαιοσύνη aber nicht nur Gottes Sein, sondern auch sein Handeln. Denn wie die ἀδικία der Menschen durch ihr Handeln zutage tritt, so kommt auch Gottes Gerechtigkeit in seinem Handeln zum Vorschein. Die in der Forschung nicht selten anzutreffende Auffassung von θεοῦ δικαιοσύνη als iustitia distributiva147 ist auch aufgrund der eben gemachten Beobachtungen abzulehnen. Obwohl die Formulierung so auf Gott bezogen wird, verengt diese Position doch ihr semantisches Profil. Um die Bedeutung der Genitivverbindung θεοῦ δικαιοσύνη richtig zu erfassen, darf man sie nicht nur im Kontext des Gerichts Gottes in V 5-6 lesen, sondern muss auch die im Text angelegte enge semantische Korrelation von δικαιοσύνη und ἀλήθεια Gottes in V 4-7 berücksichtigen – zumal der Übergang von der ἀλήθεια Gottes zu der δικαιοσύνη Gottes in V 4 eindeutig anzeigt, dass Paulus den Begriff δικαιοσύνη wie ein Synonym von ἀλήθεια verwendet. Das semantische Profil der δικαιοσύνη an unserer Stelle ist folglich breiter aufzufassen als lediglich auf die richterliche Gerechtigkeit bezogen, weshalb die Deutung als iustitia distributiva nicht haltbar ist.148 Aus den bisherigen Beobachtungen geht auch deutlich hervor, dass eine Interpretation der θεοῦ δικαιοσύνη als heilschaffende Gerechtigkeit Gottes ebenso wenig angemessen ist.149 Wie die Weiterführung in V 5-6 zeigt, steht die δικαιοσύνη Gottes zunächst im allgemeinen Sinne in Kontrast zur menschlichen ἀδικία. Doch dann wird die δικαιοσύνη Gottes sogleich mit der Frage nach der Gerechtigkeit

145 So auch Haacker, Römer, 88; Irons, Righteousness, 323. 146 In diese Richtung argumentieren auch Haacker, Römer, 88; Wolter, Römer I, 218; Irons, Righteousness, 273ff. 147 Die Bezeichnung iustitia distributiva wird in der Paulusforschung im Sinne richtender bzw. vergeltender Gerechtigkeit verwendet, wie ich oben gezeigt habe. Ihre ursprüngliche Bedeutung liegt allerdings in der Gerechtigkeit bei der Verteilung von Gütern innerhalb eines Gemeinwesens. 148 Vgl. Haacker, Römer, 88. 149 Die Interpretation von θεοῦ δικαιοσύνη als heilschaffende Gerechtigkeit vertritt z. B. Dunn, Romans I, 134f; 141f.

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des Gerichts Gottes über den sündigen Menschen verbunden. Das Thema der Gerechtigkeit Gottes wird somit im weiteren Gedankengang auf das Gericht Gottes hin spezifiziert, nicht auf das Heilshandeln Gottes. Das Heilshandeln Gottes wird im Text gar nicht thematisiert. Die letzte zu überprüfende Interpretation, welche von vielen Exegeten vertreten wird, ist die Auffassung der Formulierung θεοῦ δικαιοσύνη im Sinne der Bundestreue Gottes.150 Danach wird die θεοῦ δικαιοσύνη im Zusammenhang mit der πίστις τοῦ θεοῦ in V 3 verstanden, was den Bundesbruch Israels (ἀπιστία αὐτῶν) der Bundestreue Gottes gegenüberstellen soll. Wie oben gezeigt, darf die πίστις τοῦ θεοῦ jedoch nicht einengend als Bundestreue Gottes bestimmt werden. Der Begriff πίστις bringt hier ohne eine bestimmte Bezugnahme auf den Bund Israels im allgemeinen Sinne die Zuverlässigkeit bzw. Treue Gottes zum Ausdruck. Aufgrund der deutlichen semantischen Differenz der Begriffe πίστις und δικαιοσύνη darf die Semantik der beiden Begriffe nicht einfach verwechselt werden. Der Kontext in V 5-6 macht zudem deutlich, dass die θεοῦ δικαιοσύνη in keinem Zusammenhang mit dem Bundesgedanken steht und daher nicht als ein Bundesbegriff einzuordnen ist.151 Die Problematik der Annahme, dass die θεοῦ δικαιοσύνη als Bundestreue Gottes zu verstehen sei, besteht vor allem darin, dass sie die Erweiterung des Horizontes der Schuld einiger Juden zur Schuld aller Menschen, die bereits im Wechsel von V 3 auf V 4 eindeutig vorliegt152 , vernachlässigt und somit die semantische Bedeutung der θεοῦ δικαιοσύνη weiterhin im Rahmen des Bundesgedankens auf unzutreffende Weise beschrieben wird.153 Einige Exegeten gehen darüber hinaus sogar davon aus, dass Paulus mit dieser Ausweitung von einem neuen Bund spricht, welcher im Gegensatz zum mit Mose am Sinai geschlossenen auf die ganze Weltschöpfung bezogen ist und für alle Menschen gilt.154 Dabei wird die Recht-

150 So etwa Stuhlmacher, Gerechtigkeit Gottes, 85f; Käsemann, Römer, 74ff; Schlier, Römer, 94ff; Hall, Reconsidered, 186ff; Wilckens, Römer I, 165f.204; Dunn, Romans I, 134.141; Moo, Romans, 189f; Flebbe, Solus Deus, 42ff, Jewett, Romans, 247f; Theobald, Römer, 208ff; Wright, Pauline Perspectives, 68ff; 279ff; 492ff. 151 Manche Ausleger bewerten δικαιοσύνη in V 5 zusammen mit den Begriffen πίστις und ἀλήθεια als zum Bundesbegriff gehörig (vgl. Käsemann, Römer, 74ff; Schlier, Römer, 94ff; Dunn, Romans I, 134ff; Flebbe, Solus Deus, 42ff). 152 Bornkamm und Wolter machen auch zu Recht auf den Horizontwechsel vom jüdischen Kontext hin zur ganzen Welt in V 3-4 aufmerksam (vgl. Bornkamm, Teufelskunst, 144f; Wolter, Römer I, 215f.218). 153 Wolter argumentiert zu Recht, dass in V 5 „nicht das Verhältnis Gott-Israel, sondern das Verhältnis Gott-Mensch das Thema ist“ und „Gottes Bund mit Israel nicht einmal am Rande zur Debatte steht“. (Römer I, 218f). 154 Käsemann legt zur Textstelle Röm 3,4f seine Bundestheologie dar, welche im Text jedoch keinen Anhaltspunkt hat: „Gottes Gerechtigkeit äußert sich nicht in der Wiederherstellung des alten,

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fertigungslehre als ein wesentlicher Inhalt des neuen Bundes einbezogen und „die Rechtfertigung der Gottlosen“ wird als „der Sieg über die mit ihm streitende Welt“ interpretiert.155 Eine solche Ausweitung des Bundesgedankens auf die ganze Welt und Verbindung mit der Rechtfertigungslehre sind jedoch offenkundig an unserer Stelle nicht angelegt.156 Paulus stellt die Menschheit in ihrer Gesamtheit nicht als neuen Bundespartner, sondern als eine aufgrund ihrer Ungerechtigkeit unter dem Gericht Gottes stehende dar – das besagt auch die Hauptthese, die Paulus durch den vorangegangenen langen Argumentationsgang von 1,18–2,29 beweisen wollte. Die 3,4-5 zugrundeliegende Vorstellung, nach der Gott gerecht ist und gerecht handelt, geht auf das Gottesbild des Alten Testaments zurück. Dort ist häufig davon die Rede, dass Gott als Weltkönig bzw. -richter die Menschen in Gerechtigkeit richtet. Gott ist demnach ein gerechter Richter, der die Menschen nicht nach irgendeinem äußerlichen Maßstab beurteilt, sondern allein danach, was sie in ihrem irdischen Leben tatsächlich getan haben.157 Seine Urteile sind daher immer gerecht. Die von Paulus verwendete Genitivformulierung θεοῦ δικαιοσύνη ist im Alten Testament zwar nicht belegt, aber Formulierungen wie δικαιοσύνη μου, δικαιοσύνη σου, δικαιοσύνη αὐτοῦ und δικαιοσύνη κυρίου, die denselben semantischen Gehalt wie θεοῦ δικαιοσύνη aufweisen, lassen sich häufiger finden. δικαιοσύνη bezeichnet in diesen Formulierungen wie das Adjektiv δίκαιος Gottes Eigenschaft, nach der er sich gegenüber dem Einzelnen, Gottes Volk Israel oder der ganzen Welt in seinem Walten und Richten verhält. 2.3

Die weitergehende Verteidigung gegen die jüdischen Einwände (V 7-8)

Bei der Behauptung im Bedingungssatz der rhetorischen Frage von V 7 handelt es sich wie in V 5 darum, dass das Schlechte des Menschen die Güte Gottes manifestieren kann. Wie oben gezeigt, führt diese Behauptung auf den Einwand der Paulusgegner zurück, womit diese die paulinische Botschaft kritisiert haben. Im Blick auf ihren Sinngehalt kann die in V 7 vorliegende Behauptung weder als eigene

sondern in der Begründung des neuen Bundes. Wird dabei in 2.K 3,6ff.; Gal 5,24 ff. der Sinaibund noch polemisch anvisiert, so zeigt die Parallelität von neuer Schöpfung und neuem Bund doch an, daß der Gedanke des Bundes vom Apostel nicht mehr auf Mose und den Sinai, sondern übertragen auf die Weltschöpfung bezogen wird. … Nur so kann für Pls die Erlösung die zweite und letzte Schöpfung sein, ein ebenfalls allen Menschen geltender Bund. Die Gottesgerechtigkeit ist die Macht, welche in diesem ersten und weitesten Bunde der Schöpfung ihren Rechtstitel hat und darum in ihm als ihrem Herrschaftsbereich ihr Recht auch eschatologisch neu begründet und durchsetzt.“ (Römer, 75). Vgl. auch Stuhlmacher, Gerechtigkeit Gottes, 83ff. 155 So Käsemann, Römer, 75ff. 156 Vgl. Schlier, Römer, 96. 157 Dieses Gottesbild als gerechter Richter findet sich auch bei Paulus in Röm 2,6f (vgl. auch 1Kor 4,4-5; 2Kor 5,10).

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Meinung des Paulus noch die seiner jüdischen Gegner angesehen werden. An die Stelle des Gegenübers von ἀδικία der Menschen und δικαιοσύνη Gottes in V 5 tritt nun das ψεῦσμα der Menschen und die ἀλήθεια Gottes. Damit werden die Leitbegriffe aus V 4 wieder aufgenommen.158 Ein weiterer Unterschied liegt darin, dass der Fragesatz anstatt mit einer Wir-Formel mit der Ich-Formel formuliert ist. Freilich bedeutet dies aber keinen Unterschied hinsichtlich der Argumentation der beiden Fragen, denn das „Ich“ bringt ebenso wie das „wir“ einen kollektiven Anspruch zum Ausdruck, nach dem alle Menschen eingeschlossen sind.159 Die Ausgangsfeststellung, dass durch die Lüge der Menschen die Wahrhaftigkeit Gottes um so stärker hervortritt, verläuft inhaltlich parallel zu der Behauptung in V 5, dass die Ungerechtigkeit der Menschen die Gerechtigkeit Gottes herausstellt. Diese beiden falschen Voraussetzungen in V 5 und V 7 stehen in inhaltlichem Zusammenhang mit dem Argument, das Paulus von seinen Gegnern in den Mund gelegt wurde: „Wir sollen das Böse tun, damit daraus das Gute kommt.“ Durch die nachfolgende rhetorische Frage, „Warum werde ich dann noch als Sünder gerichtet?“, verweist Paulus auf die absurde Schlussfolgerung, die sich aus der falschen Voraussetzung ergeben kann. Dieser Schlussfolgerung hält Paulus entgegen, dass ein Sünder natürlich dem Gericht Gottes unterworfen ist und dieses Gericht immer als gerecht gilt. Folglich ist die Ausgangsthese, dass die Lüge des Menschen die Wahrhaftigkeit Gottes beweist und damit der Ehre Gottes dient, nicht mehr aufrecht zu erhalten. Durch diesen Argumentationsgang verdeutlicht Paulus somit, dass seine Verkündigung und Lehre nicht einen falschen moralischen Standpunkt beinhalten, nach dem menschliche Ungerechtigkeit und Sünde als gute Taten bewertet werden könnten. An welchem Punkt genau die Gegner Anstoß an der paulinischen Heilsbotschaft nahmen und warum sich Paulus hier mit den Einwänden der Gegner auseinandersetzen musste, wird unter anderem durch die Fortführung in V 8 deutlich. Durch die explizite Erwähnung des Vorwurfes „Einiger (τινες)“ gegenüber Paulus in V 8 wird ersichtlich, dass es Leute gegeben hat, welche die Verkündigung des Paulus über das gnädige Heilshandeln Gottes am Sünder nicht verstehen konnten und daraus einen falschen Schluss gezogen haben. Der ὅτι-Satz lässt erkennen, worin das Missverständnis und die Kritik der Gegner bestehen. Aus ihrer Sicht fordere Paulus, das Böse zu tun, um das Gute zu erreichen (ποιήσωμεν τὰ κακά, ἵνα ἔλθῃ τὰ ἀγαθά). Die Heilsbotschaft des Paulus mit ihrem zentralen Inhalt der gnädigen Rechtfertigung der Sünder durch Gott scheint in den Ohren seiner Gegner wie eine polemische und zugleich gefährliche Lehre geklungen zu haben, die zur Sünde

158 Die Verse 4-7 bilden eine Ringkomposition: V 4a: θεός ἀληθής - ἄνθρωπος ψεύστης, V 4b-6: θεοῦ δικαιοσύνην - ἀδικία ἡμῶν, V 7: ἀλήθεια τοῦ θεοῦ - ἐμὸν ψεῦσμα. 159 Vgl. Wolter, Römer I, 220f.

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auffordert und die gerechte Lebensordnung erschüttert.160 Im Lichte der Argumentation handelt es sich bei diesen Gegnern höchstwahrscheinlich um Juden, die ihr Leben am Gesetz orientierten und so Gerechtigkeit zu erreichen suchten.161 Für sie bedeutete die Lehre des Paulus die Verbreitung von Sünde und Ungerechtigkeit. Diese Deutung wird durch einen Vergleich mit Röm 6,1 und Gal 2,17 bestätigt, wo Paulus sich mit ähnlichen Einwänden auseinandersetzt. Beide Textstellen schließen sich thematisch eng an Röm 3,8 an.162 In Röm 6,1 befasst sich Paulus mit dem falschen Gedanken, dass die Gnade desto stärker vermehrt werde, je größer die Sünde sei. In Gal 2,17 findet sich wiederum der Gedanke, dass Christus ein Diener der Sünde sei und zur Übertretung des Gesetzes führe. An beiden Stellen wird erkennbar, welchen Vorwürfen der paulinischen Verkündigung die Vorwürfe von jüdischer Seite entgegengebracht wurden. Doch verfälschen diese Vorwürfe die Verkündigung des Paulus über das gnädige Heilshandeln Gottes durch Christus Jesus, welches die Menschen vom Zwang der Einhaltung des jüdischen Gesetzes befreit hat (vgl. Gal 2,4; 2,16f; Gal 3,1f; 5,1f; Röm 3,21f; 5,12f; 7,1f; 9,30f). Ebenso wie er sich in Röm 3,6 gegen den Einwand der Gegner gestellt hat, weist Paulus auch in 6,1 die gegen seine Heilsbotschaft gerichteten Vorwürfe mit μὴ γένοιτο schroff zurück. Seine Botschaft zielt nicht auf Sünde und Ungerechtigkeit, sondern im Gegenteil auf eine gerechte und heilige Lebensführung, die aus der Sünde herausführen soll (vgl. Röm 6,1ff; 8,1-14; 2Kor 6,14-18; Gal 5,16f). Diejenigen, die solche Vorwürfe gegen Paulus erheben, werden auf das Schärfste als Verleumder des Apostels verurteilt (3,8).163 Über diejenigen, die seine Botschaft entstellen, ist das Gericht Gottes verhängt (ὧν τὸ κρίμα ἔνδικόν ἐστιν).164 Damit ist nun deutlich geworden, warum sich Paulus in Röm 3,5f mit den gegen seine Botschaft erhobenen Einwänden beschäftigt, nachdem er die universale Sündhaftigkeit aller Menschen festgestellt hat (1,18ff). Die Einwände verzerren nicht nur die Verkündigung über das gnädige Heilshandeln Gottes, sondern sie stellen auch die grundsätzliche Argumentation infrage, dass sowohl Nichtjuden als auch Juden und somit alle Menschen der Sünde verfallen sind und sich ausnahmslos vor dem Gericht Gottes verantworten müssen. Bei der Auseinandersetzung mit den gegnerischen Einwänden in diesem Abschnitt handelt es sich daher zweifellos

160 Mehrere Textstellen bei Paulus lassen direkt oder indirekt erkennen, dass die Befolgung des Gesetzes das Leben der Juden grundsätzlich bestimmt hat und sie ein gerechtes Leben durch die Einhaltung des Gesetzes angestrebt haben (vgl. nur Röm 9,30f; Gal 2,15f). 161 So auch Schlier, Römer, 97; Käsemann, Römer, 73.78f; Zeller, Römer, 79; Haacker, Römer, 88; Wolter, Römer I, 222. 162 So auch Haacker, Römer, 88; Wolter, Römer I, 222. 163 Der vergleichbare scharfe Vorwurf des Paulus gegen seine Gegner findet sich auch in Gal 1,8f; 5,10 und Phil 3,18-19 (vgl. auch Röm 16,17-18). 164 Vgl. Röm 16,17-18; Gal 5,9-12; Phil 3,18-19.

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um keine Abschweifung vom vorherigen Argumentationsgang. Paulus verteidigt sich gegen jeglichen Versuch, die Ungerechtigkeit des Menschen als etwas Positives und das Gericht Gottes über die Ungerechtigkeit des Menschen als etwas Absurdes darstellen zu wollen. Dass Gott ein gerechter Richter ist, der alle Menschen unparteiisch nach ihren Taten richtet (vgl. 2,6-16), und die Menschen ausnahmslos aufgrund ihrer sündigen Taten dem Gericht Gottes nicht entkommen können, ist ein grundlegender Bestandteil der paulinischen Verkündigung, welchen niemand widerlegen kann. Die nachfolgenden Ausführungen in V 9f setzen diese Argumentation fort. Auch dort spielen die Schriftzitate in ihrer Funktion als göttliche Beweise mit absoluter Autorität eine entscheidende Rolle.

Kein Mensch wird aus Werken des Gesetzes gerecht: Röm 3,9-20

D.

Kein Mensch wird aus Werken des Gesetzes gerecht: Röm 3,9-20

1.

Feststellung: Juden und Griechen sind alle unter der Sünde (3,9)

Den neuen Abschnitt eröffnet Paulus wiederum mit einer rhetorischen Frage, die er sogleich mit der scharfen Negation οὐ πάντως zurückweist. Umstritten ist dabei, wie προεχόμεθα hier zu verstehen ist. Die meisten Exegeten verstehen es als Medium mit der Bedeutung „einen Vorzug haben“ oder „sind im Vorteil“, wobei das „wir“ die Juden als Subjekt impliziert.165 Sprachlich ist diese Deutung allerdings nicht möglich, weil die mediale Verwendung des Verbs im Sinne von „einen Vorzug haben“ im Corpus Hellenisticum an keiner Stelle belegt ist. Außerdem würde die Stelle nach dieser Deutung im Widerspruch zur Versicherung des Paulus in V 1-2 stehen, nach der es viele Vorzüge des Judeseins gibt.166 Gemäß den Belegen in der paganen griechischen Literatur bedeutet προέχειν in der medialen Verwendung „etwas vorschützen“ bzw. „Ausflüchte machen“167 , was auch in 3,9 einen guten Sinn ergibt.168 Im vorangegangenen Abschnitt hatte Paulus gegenüber den übelmeinenden Einwänden gegen seine Verkündigung deutlich gemacht, dass es keine Ausrede und keine Möglichkeit des Entrinnens gibt, durch die die Ungerechtigkeit des Menschen sich Gottes Gericht entziehen könnte (V 5-8). Im der rhetorischen Frage nachfolgenden Satz legt Paulus nun seine Hauptargumentation summarisch dar, nach der alle Menschen, Juden wie Heiden, der Sünde verfallen sind (V 9). Aufgrund der Einbettung in diesen Argumentationsgang sind die rhetorische Frage und ihre schroffe Negation in V 9 folgendermaßen wiederzugeben: „Was bringen wir denn als Entschuldigung vor?169 Ganz und gar nichts.“ Es geht Paulus demnach also nicht um die Behauptung, dass die Juden keine Vorzüge haben, sondern in Anknüpfung an den vorangegangenen Argumentationsgang will er abermals klarstellen, dass sich niemand durch Ausflüchte aus seiner Sündenverfallenheit herrausreden kann.

165 So z. B. Michel, Römer, 141; Wilckens, Römer I, 172; Käsemann, Römer, 81; Schlier, Römer, 97f; Schmithals, Römer, 110; Lohse, Römer, 120f. 166 Paulus widerspricht nie der Ansicht, dass die Juden als Glieder des erwählten Volkes mit vielen besonderen Vorzügen und Gaben gesegnet sind (vgl. Röm 3,1-2; 9,4f). Er weist nur darauf hin, dass die verliehenen Vorzüge und Gaben ihnen nicht automatisch Gerechtigkeit und Heil garantieren. Für die Juden, die wie Nichtjuden nach ihren Taten als Sünder erwiesen wurden, gibt es nur den einen Weg durch den Glauben an Jesus Christus zu Gerechtigkeit und Heil (Röm 3,19ff). 167 Zu dieser Bedeutung, vgl. BAA, s.v. Zur Debatte zum Verständnis des Mediums προεχόμεθα s. Wolter, Römer I, 225f. 168 Vgl. Haacker, Römer, 91. 169 Die Formulierung Τί οὖν προεχόμεθα, welche von NA und vielen anderen Exegeten in zwei Sätze unterteilt wird, ist m. E. als ein Satz anzusehen. Das implizierte Subjekt „wir“ bezieht sich dabei nicht allein auf die Juden, sondern schließt Paulus selbst und seine Leser mit ein.

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Mit προῃτιασάμεθα verweist Paulus auf die anklagende Darstellung der Sündenverfallenheit von Juden und Heiden aus 1,18 bis 2,29. Die Feststellung, die nach γάρ den Inhalt der zuvor erhobenen Anklage (προῃτιασάμεθα) beschreibt, bringt also zusammenfassend zum Ausdruck, worauf Paulus durch die bisherigen langen Ausführungen eigentlich hinauswollte: „Ιουδαίους τε καὶ Ἕλληνας πάντας ὑφ᾿ ἁμαρτίαν εἶναι.“ Die Universalität der Sündenverfallenheit formuliert Paulus dabei mit Hilfe des Begriffspaares „Juden und Griechen“, welches er schon in 1,16 und 2,9.10 benutzt hatte. Das hinzugefügte πάντας bekräftigt dabei noch einmal die Tatsache, dass ausnahmslos alle Menschen Sünder sind. Zu beachten ist vor allem die Formulierung ὑφ᾿ ἁμαρτίαν εἶναι. Die meisten Exegeten meinen, dass der Singular ἁμαρτία nicht die einzelne Sündentat, sondern eine Sündenmacht bezeichnet.170 Dass sich ἁμαρτία nicht auf eine einzelne Sündentat bezieht, ist vom inhaltlichen Gehalt des Textes her nicht zu bestreiten. Ob aber davon ausgehend ἁμαρτία als eine Macht aufzufassen ist, geht aus dem Text nicht zwingend hervor. Für das Verständnis der Formulierung ὑφ᾿ ἁμαρτίαν empfiehlt es sich, die Bedeutung von ὑφ᾿ ἁμαρτίαν aus den anderen ὑπό+Akk.-Formulierungen bei Paulus wie etwa ὑπὸ νόμον in Röm 6,14-15; 1Kor 9,20; Gal 3,23; 4,4.5.21; 5,18 und ὑπὸ χάριν in Röm 6,14-15 abzuleiten.171 Die Formulierungen ὑπὸ νόμον und ὑπὸ χάριν bringen an diesen Stellen nicht zum Ausdruck, dass das Gesetz und die Gnade Gottes eine die Menschen beherrschende Macht sind, sondern bezeichnen das, woran sich das Leben des Menschen orientiert und grundsätzlich bestimmt wird. Aus diesem Grund kann aus der Formulierung ὑφ᾿ ἁμαρτίαν in der Wendung πάντας ὑφ᾿ ἁμαρτίαν εἶναι nicht gefolgert werden, dass alle Menschen unter der Herrschaft der Sündenmacht stehen. Vielmehr ist ihre Aussage so zu verstehen, dass alle Menschen – Juden ebenso wie Griechen – ausnahmslos gesündigt haben und der Sünde verfallen sind (vgl. 3,23; 5,12). 2.

Die Begründung mit Schriftzitaten: Es gibt keinen Gerechten (3,10-18)

Nach der schroffen und anklagenden Feststellung der Sündenverfallenheit aller Menschen folgt eine lange Zitatkomposition aus verschiedenen alttestamentlichen Stellen, die vorwiegend aus den Psalmen und dem Jesajabuch stammen. Wie die einleitende Formulierung καθὼς γέγραπται zeigt, führt Paulus diese Zitate als

170 Vgl. Käsemann, Römer, 81; Schlier, Römer, 98; Wilckens, Römer I, 172f; Dunn, Romans I, 148; Lohse, Römer, 121f; Wolter, Römer I, 227. 171 Vgl. auch ὑπὸ κατάραν in Gal 3,10. Mit diesem Ausdruck spricht Paulus nicht davon, dass die nach dem Gesetz lebenden Menschen unter der Macht des Fluchs stehen, sondern davon, dass der Fluch als Strafe die das Gesetz übertretenden Menschen treffen wird.

Kein Mensch wird aus Werken des Gesetzes gerecht: Röm 3,9-20

Schriftzeugnisse an, die die vorausgehende Feststellung als wahr und unwiderlegbar erweisen sollen. Auf inhaltlicher Ebene ist die Reihe der Zitate in zwei Teile aufzuteilen.172 Der erste Teil in V 10b-12 bezeugt, dass es keinen Gerechten gibt und alle Menschen verdorben sind. Der zweite Teil in V 13-18 veranschaulicht dann die menschliche Frevelhaftigkeit am Beispiel einzelner Körperteile (Hals, Zunge, Lippen, Mund, Füße und Augen).173 Die zitierten Sätze folgen der LXX und sind teilweise leicht gekürzt und verändert. In der Zitatkombination sind die verschiedenen Schriftworte thematisch geordnet und zu einem einzigen Text zusammengestellt:174 Der erste Teil von V 10b οὐκ ἔστιν δίκαιος entspricht wörtlich PredLXX 7,20, doch ἄνθρωπος und ἐν τῇ γῇ sind ausgelassen und anstatt des angeschlossenen Relativsatzes ὃς ποιήσει ἀγαθὸν καὶ οὐχ ἁμαρτήσεται fügt Paulus οὐδὲ εἷς hinzu. V 11-12 gehen auf PsLXX 13,2-3 zurück. V 11 ist aus PsLXX 13,2 leicht umformuliert, indem das Partizip συνίων und ἐκζητῶν τὸν θεόν jeweils mit οὐκ ἔστιν verbunden umgestaltet wird. V 12 entspricht aber PsLXX 13,3 wörtlich. V 13a-b zitiert PsLXX 5,10 wörtlich und V 13c ebenfalls PsLXX 139,4 wörtlich. V 14 entspricht PsLXX 9,28, οὗ ist jedoch durch die Pluralform ὧν ersetzt und das Verb γέμει am Ende umgestellt; so ist der ursprüngliche Satz stilistisch dem ganzen Zitattext passend umgestaltet worden. V 15-17 stammt aus JesLXX 59,7 und die originale Fassung ist nur teilweise leicht verändert. V 18 entspricht PsLXX 35,2 nahezu wörtlich, nur der Singular αὐτοῦ ist durch den Plural αὐτῶν ersetzt worden.

An dieser Zitatkombination ist erkennbar, dass die verschiedenen Schriftworte im Rahmen einer bestimmten Thematik gesammelt und zu einem einzigen Text zusammengestellt worden sind. Abgelöst von ihrem ursprünglichen Kontext und ihrer eigentlichen Bedeutung verwendet Paulus die Schriftzitate zur Bezeugung der Sündenverfallenheit aller Menschen, weshalb V 10b-18 nicht einfach als Anhäufung von Zitaten zu verstehen sind, sondern als paulinische Interpretation der zitierten Texte. Aus seiner Sicht wollen die zitierten Texte alle zeigen, dass die gesamte Menschheit völlig verdorben ist. Insbesondere durch die sechsmalige Wiederholung von οὐκ ἔστιν wird die Ausnahmslosigkeit der Sündenverfallenheit der Menschen herausgestellt.

172 Vgl. Wilckens, Römer I, 172; Wolter, Römer I, 228. 173 So auch Haacker, Römer, 90; Lohse, Römer, 124; Jewett, 254; Wolter, Römer I, 228. 174 Kujanpää, Scriptural Quotations, 39f.

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Die Gerechtigkeitsaussagen im Römerbrief

Der erste Satz der Zitate, „Es gibt keinen Gerechten, auch nicht einen (οὐκ ἔστιν δίκαιος οὐδὲ εἷς)“, fasst inhaltlich die ganze Zitatkombination zusammen und ist

somit als Themensatz der Komposition zu verstehen. Obwohl er als ein Teil der gesamten Zitatkombination gestaltet ist, ist er jedoch als nahezu eigene Formulierung des Paulus aufzufassen. Er weicht nämlich vom originalen Text in PredLXX 7,20 in vielerlei Hinsicht ab. Bis auf die Kernaussage οὐκ ἔστιν δίκαιος lässt Paulus die anderen Satzteile wegfallen und betont die Totalität dieser Kernaussage zusätzlich durch das eingefügte οὐδὲ εἷς. Absichtlich scheint Paulus diesen Satz an den Anfang der Zitat-Reihe gestellt zu haben, um die ausnahmslose Sündenverfallenheit aller Menschen schon am Anfang der Zitatkombination auf den Punkt zu bringen. Der Gedanke von der totalen Verdorbenheit der Menschen ist jedoch keine paulinische Innovation. Auch in der jüdischen Tradition ist er nämlich bezeugt. Besonders in den Qumran-Schriften findet sich häufig die Vorstellung, dass beim Menschen keinerlei Gerechtigkeit herrscht und die menschlichen Handlungen vollkommen verdorben sind (vgl. 1QS 11,9-22; 1QH 3,23-25; 4,30-32; 7,17.28f; 9,14f; 12,31f; 13,16f; 16,11; 18,3.11.13 u. a.).175 Diese scharfe und radikale Vorstellung in den Qumran-Texten geht wiederum auf alttestamentliche Texte zurück, in denen die wesensmäßige Sündhaftigkeit bzw. Niedrigkeit des Menschen geschildert wird.176 Die Feststellung, dass es keinen Gerechten gibt, ist in der alttestamentlichjüdischen Überlieferung wie die überwiegende Verwendungsweise des δίκαιοςBegriffs zeigt, anders als bei Paulus jedoch keine grundsätzliche. Die Feststellung, dass es überhaupt keinen δίκαιος gibt, tritt im gesamten alttestamentlichen Textcorpus nur einmal, in PredLXX 7,20 auf, und damit an der Stelle, auf die auch Paulus zurückgreift. In den anderen Fällen kommt der Begriff δίκαιος nur vor, wenn die Gesinnung oder Handlungsweise eines gesetzestreuen, frommen Menschen zum Ausdruck gebracht werden soll. Daran zeigt sich, dass die alttestamentlich-jüdische Tradition grundsätzlich voraussetzt, dass es den seinen Lebenswandel am Willen Gottes orientierenden Gerechten gibt, obwohl ihr andererseits auch die schicksalhafte Sündhaftigkeit des Menschen bekannt ist. Besonders in den Psalmen und der Weisheitsliteratur (wie Sprüche, Weisheit Salomos, Psalmen Salomos u. a.) finden sich viele Belege für den Vergleich zwischen dem vorbildlichen Verhalten des δίκαιος und dem daraus resultierenden heilvollen Geschick mit seinem negativen Gegenüber, dem ἀσεβής bzw. ἁμαρτωλός. Diese sentenzhafte Gegenüberstellung von δίκαιος und ἀσεβής zielt darauf ab, die Leser zu einem gerechten Lebenswandel aufzurufen und sie dazu weiterhin zu ermutigen. Eine derartige Verwendung

175 Außer den Qumran-Texten begegnen die Motive von der Sündhaftigkeit bzw. der Niedrigkeit des Menschen auch häufig in anderen frühjüdischen Schriften: z. B. Sir 8,5; 10,18; 17,30-32; äthHen 81,4. 176 Zu den mit der qumranischen Vorstellung der Sündhaftigkeit des Menschen eng verbundenen Texte zählen bspw.: Job 4,17; 15,14; 25,4; 40,3-5; Ps 39; 51; 90; 103; 143; Dan 9,1-19.

Kein Mensch wird aus Werken des Gesetzes gerecht: Röm 3,9-20

des Begriffs δίκαιος fehlt aber bei Paulus. Sie wäre auch nicht denkbar, da sie die Möglichkeit eines gänzlich gesetzestreuen Lebens voraussetzt. Paulus hält daran fest, dass alle Menschen ausnahmslos vor Gott Sünder sind und sich niemand vor Gott durch seine Taten als Gerechter auszuweisen vermag (V 9.1920). Für den Beweis dieser These zieht er Schriftworte heran, die die Sündhaftigkeit des Menschen besonders veranschaulichen, und beweist damit, dass alle Menschen vor Gott Sünder sind. Dadurch entwirft er ein außerordentlich pessimistisches Bild vom Menschen, der unter dem Gericht Gottes steht. Wichtig ist dabei jedoch, dass Paulus nicht bloß die Sündenverfallenheit des Menschen erklärt, sondern sie immer in den Zusammenhang mit dem Gedankengang stellt, dass niemand die Gebote und Satzungen des Gesetzes vollkommen erfüllen kann (vgl. Röm 3,19-20; Gal 2,16; 3,10f; 3,21f). Gerade in dieser Verknüpfung zwischen der Feststellung der Sündhaftigkeit des Menschen und der Unmöglichkeit, die Gesetzesforderungen vollständig zu erfüllen, liegt der entscheidende Unterschied zu den jüdischen Vorstellungen über die Sündenverfallenheit des Menschen. Für Paulus gibt es nur eine Möglichkeit, gerecht zu werden, nämlich durch den Glauben an Christus Jesus, der für die Sünder gestorben ist und so den Zugang zum Gerechtwerden für jeden Glaubenden ermöglicht hat. Dies führt Paulus in 5,19 aus, wo er den Begriff δίκαιος in Bezug auf die Christen verwendet (vgl. auch 2Kor 5,21). 3.

Das Gesetz führt nicht zur Rechtfertigung, sondern zur Verdammnis (3,19-20)

3.1

Die Gerichtsverfallenheit aller Menschen (V 19)

Bevor Paulus näher auf das durch das Christusgeschehen erschlossene Heilshandeln Gottes eingeht, verweist er im Anschluss an die vorherigen Zitatkombinationen schließlich noch einmal auf den heillosen Zustand der gesamten Menschheit. Dabei greift er erneut den Begriff νόμος auf, den er zuletzt in 2,12f erwähnt hatte, und erklärt, dass die Menschen durch das Gesetz nicht die Gerechtigkeit erreichen, sondern vielmehr als dem Gericht Gottes verfallene Sünder offenbar werden (V 19-20). Mit dieser Feststellung schließt Paulus seine in 1,18 begonnenen Ausführungen ab, in denen er mit großem argumentativem Aufwand und in universaler Stoßrichtung das Gericht Gottes über die Ungerechtigkeit der Menschen beschrieben hat. Die meisten Exegeten verstehen νόμος an dieser Stelle nicht als eine Sammelbezeichnung für die Rechtsforderungen der Tora, sondern als einen auf die ganze Schrift bezogenen, literarischen Begriff. Dabei nehmen sie an, dass Paulus mit der

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Die Gerechtigkeitsaussagen im Römerbrief

Wendung ὅσα ὁ νόμος λέγει auf die in V 10b-18 zitierten Schriftworte verweist.177 Davon ausgehend wird der ὅτι-Satz von V 19a zumeist so verstanden, dass Paulus mit dem Hinweis auf die Sündenverfallenheit der gesamten Menschheit (V 10b-18) den Juden hier nur noch einmal ihre Sündenverfallenheit bekräftigend vor Augen stellen will. Diese auf die Juden eingeschränkte Lesart von V 19a erscheint allerdings fragwürdig. Im Hinblick auf den weiteren Kontext wird nämlich deutlich, dass Paulus von V 9 bis V 23, ohne auch nur einmal zwischen Juden und Nichtjuden zu unterscheiden, die Sündenverfallenheit konsequent im Hinblick auf die gesamte Menschheit beschreibt. Die Zitatkomposition (V 10b-18) fügt sich ebenfalls in diesen argumentativen Kontext ein, sodass auch zu den mit den Schriftworten angesprochenen Menschen sowohl Juden als auch Nichtjuden zu zählen sind. Im Anschluss an diese mit Schriftbeweisen untermauerte Charakterisierung der ganzen Menschheit wird der universale Aspekt der Schuldigkeit aller in V 19-20 und V 23 durch die Begriffe πᾶν στόμα, πᾶς ὁ κόσμος (V 19), πᾶσα σάρξ (V 20) und πάντες (V 23) expliziert. Die Annahme, dass Paulus in V 19a, abweichend vom näheren Kontext und ohne zusätzliche Markierung, unversehens ausschließlich auf die Sache der Juden zu sprechen kommt, erscheint daher unplausibel. Ganz dezidiert spricht Paulus nämlich entgegen dieser Annahme im nachfolgenden ἵνα-Satz von der Gerichtsverfallenheit der ganzen Welt, ohne zwischen Juden und Nichtjuden zu unterscheiden (πᾶν στόμα φραγῇ καὶ ὑπόδικος γένηται πᾶς ὁ κόσμος τῷ θεῷ). Das entscheidende Problem dieser von der Mehrheit der Exegeten vertretenen Interpretation besteht darin, dass sie den Ausdruck τοῖς ἐν τῷ νόμῳ nur auf die Juden beziehen.178 Meines Erachtens kann der Ausdruck οἱ ἐν τῷ νόμῳ aber als auf die gesamte Menschheit bezogen verstanden werden, im Sinne, dass er die Menschen kennzeichnet, die unter der Bestimmung des Gesetzes leben und damit in dessen Geltungsbereich stehen. Er schließt alle Menschen ein, die auf dem Weg des Gesetzes Gerechtigkeit zu erlangen versuchen. Analoges gilt auch für die Formulierung ὅσοι ἐξ ἔργων νόμου in Gal 3,10. Auch sie bezeichnet die Menschen, die durch die Befolgung der Gesetzesvorschriften Gerechtigkeit erlangen wollen,

177 So z. B. Michel, Römer, 143; Dunn, Roman I, 152; Lohse, Römer, 124; Jewett, Romans, 264; Haacker, Römer, 93; Wolter, Römer I, 230f. Viele Kommentatoren verweisen auch auf die biblischen Stellen und die rabbinischen Belege, in denen νόμος als Bezeichnung der ganzen Schrift gebraucht wird. In 3,19 verwendet Paulus νόμος wie in den folgenden Versen 3,20-21 für die Tora. Der hebräische Begriff ‫ תורה‬ist die Sammelbezeichnung für die ersten fünf Bücher der hebräischen Bibel, die die Rechtsforderungen Gottes zum Hauptinhalt haben. Dabei liegt in 3,19 m. E. kein Wortspiel vor, bei dem νόμος einmal im Sinne der Schrift und zum anderen Mal als Bezeichnung für die Rechtsforderungen verwendet wird (gegen Wolter, Römer I, 230). 178 So z. B. Lohse, Römer, 124f; Haacker, Römer, 93; Wolter, Römer I, 231.

Kein Mensch wird aus Werken des Gesetzes gerecht: Röm 3,9-20

ohne zwischen Juden und Nichtjuden zu unterscheiden.179 Für Paulus ist die von Mose vermittelte Tora wie für die anderen Juden nicht das Gesetz, dessen Geltungsanspruch allein auf Juden beschränkt wäre, sondern hat universale Geltung. Dieser Gedanke von der universalen Geltung der Tora basiert auf der biblischen Erzählung, nach der der eine Gott, welcher die ganze Menschheit geschaffen hat, die Tora durch Mose offenbart hat. Da die Tora durch Mose dem Volk Israel vermittelt worden ist, fungiert sie in erster Linie als Rechtsbestimmung für Juden, zugleich ist sie aber ein universales Gesetz für die gesamte Menschheit, weil sie das einzige von Gott offenbarte Gesetz in der menschlichen Geschichte ist. Dieses Verständnis der Tora findet sich bei Paulus vor allem in Röm 5,12-14 und Gal 3,19- 22 wieder, wo er die Gabe der Tora und ihre Bedeutung im Rahmen einer umfassenden Menschheitsgeschichte beschreibt. In Röm 5,12 spricht Paulus von der Übertretung Adams als Ursache dafür, dass der Tod in die Welt gekommen ist. Anschließend erklärt er, dass alle Menschen gesündigt haben und deswegen dem Tod verfallen sind. Entscheidend ist dabei, dass Paulus den Verlauf der Weltgeschichte in einen ersten Abschnitt vor der Offenbarung der Tora und einen zweiten nach der Offenbarung der Tora unterteilt (V 13-14) und feststellt, dass es die Sünde auch vor der Offenbarung der Tora schon gegeben und der Tod geherrscht hat. Dadurch stellt er die universale Dimension des Sündigens und der geltenden Unheilsfolge heraus. In Gal 3,19-22 thematisiert Paulus ebenfalls die Offenbarung der Tora und deren andauernde Bedeutung aus heilsgeschichtlicher Perspektive:180 Die Tora ist aufgrund der Übertretungen der Menschen durch Mose vermittelt (V 19). Anschließend geht Paulus aber auf die eingeschränkte Funktion der Tora ein: Zeitlich war sie begrenzt, bis die Botschaft über Christus in die Welt kam (vgl. V 19.23f), und auch hinsichtlich der Heilserlangung ist sie begrenzt, weil sie die Menschen nicht zur Rechtfertigung führen, sondern ihnen lediglich ihre Unheilsverfallenheit vor Augen stellen kann (V 21-22). Im Hinblick auf das Verständnis des Begriffs νόμος in Röm 3,19 ist nun festzuhalten, dass bei Paulus die Offenbarung der Tora und deren Funktion im Rahmen der Heilsgeschichte in einem universalen Horizont mit Bezug auf die gesamte Menschheit beschrieben wird. Versteht man den hier eindeutig auf die jüdische Tora referierenden Begriff νόμος in einem solchen universalen Sinne, erschließt sich der Sinn des Finalsatzes in V 19b. Das Gesetz selbst tritt in der Rolle eines Anklägers innerhalb eines Gerichtsszenarios auf, in dem sich alle Menschen ohne Ausnahme

179 Auch an den Formulierungen ἐν νόμῳ δικαιοῦσθαι in Gal 5,4; οἱ ἐκ νόμου in Röm 4,14 und ὑπὸ νόμον in Röm 6,14 wird ersichtlich, dass Paulus, ohne zwischen Juden und Nichtjuden zu unterscheiden, alle Menschen im Blick hat, die ihre Existenz und ihr Heil als vom Gesetz abhängig erachten. 180 Im Hinblick auf den argumentativen Gehalt dieser Stelle ist Gal 3,22 von großer Bedeutung, da Paulus auch hier darstellt, dass die Schrift alle Menschen als vor Gott schuldig ausweist.

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Die Gerechtigkeitsaussagen im Römerbrief

als Angeklagte verantworten müssen. Die in chiastischer Anordnung einander gegenüberstehenden Wendungen πᾶν στόμα und πᾶς ὁ κόσμος bringen die universale Dimension deutlich zum Ausdruck. Das Gesetz bringt die Angeklagten durch seine konkreten Forderungen zum Verstummen. Dieses Verstummen kann als ein Zeichen des Schuldeingeständnisses der Angeklagten verstanden werden181 und der Einsicht, dass sie sich der Verurteilung Gottes nicht entziehen können. 3.2

Zur Feststellung: Kein Mensch wird aus Werken des Gesetzes gerechtfertigt (V 20)

Das in V 19 angesprochene Argument, dass alle Menschen schuldig und dem Gericht Gottes verfallen sind, wird in V 20 noch einmal mit anderen Worten begründet. Paulus wendet mit diesem Satz den Blick auf den eigentlichen Sinn des Gerichtsverfahrens. Es geht darin nämlich um das Urteil Gottes, nach welchem ein Mensch als gerecht anerkannt wird: „Denn (διότι) aus Werken des Gesetzes wird kein Mensch182 vor Gott als gerecht dastehen183 ; durch das Gesetz kommt nur Erkenntnis der Sünde.“ Damit wird das begrenzte Vermögen des Gesetzes in Bezug auf die Erlangung der Gerechtigkeit deutlich zur Sprache gebracht. Doch ist hinsichtlich der Interpretation des Passivs δικαιωθήσεται Vorsicht geboten. Die Verbindung mit der Wendung ἐνώπιον αὐτοῦ macht die gängige Wiedergabe, „gerechtfertigt werden“, als passivum divinum unmöglich. Wie in 2,13, wo δικαιωθήσεται mit παρὰ τῷ θεῷ verbunden ist, ist die Wiedergabe mit „gerecht werden“ oder „als gerecht dastehen“ angemessener. Eine Röm 3,20a sehr ähnliche Feststellung findet sich auch in Gal 2,16 und 3,11, mit leichten Unterschieden in der Formulierung. In Gal 2,16 fehlt ἐνώπιον αὐτοῦ und in Gal 3,11 schreibt Paulus ἐν νόμῳ οὐδεὶς … παρὰ τῷ θεῷ184 anstatt ἐξ ἔργων νόμου οὐ … πᾶσα σὰρξ ἐνώπιον αὐτοῦ. Diese drei δικαιωθήσεται-Formulierungen bei Paulus scheinen hinsichtlich ihrer sprachlichen Gestalt von PsLXX 142,2 beeinflusst zu sein. Von diesen drei variierenden Textstellen bei Paulus steht der Wortlaut οὐ δικαιωθήσεται πᾶσα σὰρξ ἐνώπιον αὐτοῦ in Röm 3,20 dem von PsLXX 142,2 am nächsten. Obwohl ein Einfluss des Psalmtextes bei der Formulierung anzunehmen

181 Vgl. Haacker, Römer, 93; Wolter, Römer I, 231. 182 Der Ausdruck πᾶσα σάρξ kommt in LXX als Äquivalent für ‫ כל־בשׂר‬häufig vor. Dieser Ausdruck bezeichnet schon im Alten Testament häufig wie in Röm 3,20 „die Gesamtheit aller Menschen“. Wolter, Römer I, 232. 183 Das Futur δικαιωθήσεται kann an dieser Stelle nicht nur futurisch, sondern auch gnomisch verstanden werden (mit Wolter, Römer I, 237). 184 Der Ausdruckt παρὰ τῷ θεῷ kommt aber auch in Röm 2,13 vor und wird dort ebenfalls zusammen mit dem Passiv δικαιωθήσεται verwendet.

Kein Mensch wird aus Werken des Gesetzes gerecht: Röm 3,9-20

ist, ist 3,20 allerdings dennoch nicht ohne weiteres als ein Schriftzitat des Psalmtextes zu verstehen, denn die Formulierung des Paulus weicht in vielen Hinsichten vom Psalmtext ab. Zum einen steht bei Paulus ἐνώπιον αὐτοῦ statt ἐνώπιόν σου, womit Gott in der dritten Person genannt wird. Zudem wird πᾶς ζῶν durch πᾶσα σάρξ ersetzt. Den entscheidenden Unterschied zu PsLXX  142,2 markiert aber die Einfügung von ἐξ ἔργων νόμου.185 Im Unterschied zum Psalmtext stellt Paulus dadurch eine Verbindung zwischen der Unmöglichkeit, vor Gott als gerecht dazustehen, und der Erfüllung der Gesetzesforderungen her. In der Darstellung des Paulus rückt somit der Aspekt der Unerfüllbarkeit des Gesetzes im Hinblick auf das Erlangen der Gerechtigkeit im göttlichen Urteil in den Vordergrund, während es sich in PsLXX 142,2 einfach um die Feststellung handelt, dass niemand im gerechten Gericht Gottes vor Gott als Gerechter bestehen kann. Warum der Mensch durch Werke des Gesetzes keine Gerechtigkeit erlangen kann, begründet Paulus hier nicht ausführlich. Stattdessen erklärt er mit einer elliptischen Formulierung die allgemeingültige Funktion des Gesetzes: „durch das Gesetz Erkenntnis der Sünde (διὰ γὰρ νόμου ἐπίγνωσις ἁμαρτίας)“. Dieser Zusatz besagt, dass das Gesetz den Menschen zu erkennen gibt, welche Handlung Sünde ist.186 Das Gesetz fungiert als rechtlicher Maßstab, um die sündigen Taten als solche festzustellen, und führt die Menschen zu der Erkenntnis, dass sie nach ihren Taten Sünder sind und im Gericht Gottes entsprechend verurteilt werden.187 Die Pointe dieser Feststellung in V 20 liegt im Zusammenhang mit der in V 19 beschriebenen Gerichtsszene darin, die verhängnisvolle Lage der Menschen deutlich zu machen und die begrenzte Fähigkeit des Gesetzes vor Augen zu führen. Das Gesetz gibt lediglich die Kenntnis davon, worin die Sünde besteht und vermag auf keine Weise den Menschen das Heil zu eröffnen. Vielmehr führt es den Menschen ihr Schicksal vor Augen, dass sie im Gericht Gottes als Schuldige verurteilt werden. Somit bringt Paulus am Ende der anklagenden Rede 3,9-20 noch einmal zusammengefasst und deutlich zum Ausdruck, dass alle Menschen sich in der verhängnisvollen Lage befinden, dass sie dem Gericht Gottes nicht aus eigener Kraft entrinnen können und somit der Rettung von außen bedürfen. Auf welche Weise diese Rettung möglich wird, führt Paulus im folgenden Abschnitt 3,21-26 aus.

185 Darauf machen auch viele Exegeten aufmerksam, vgl. nur Wilckens, Römer I, 173f; Bornkamm, Paulus, 149; Lohse, Römer, 125; Wolter, Römer I, 232. 186 Ein vergleichbarer Gedankengang findet sich einerseits in Röm 5,13, wo Paulus erklärt, dass die Sünde vor der Offenbarung des Gesetzes nicht angerechnet wurde, und andererseits in Röm 7,7, wo Paulus bemerkt, dass er durch das Gesetz zu der Erkenntnis gekommen ist, dass die Begierde Sünde ist. 187 Vgl. Wilckens, Römer I, 175ff.

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Die Gerechtigkeitsaussagen im Römerbrief

E.

Die Gerechtigkeit Gottes und seine universal gültige Rechtfertigung der Menschen: Röm 3,21-31

1.

Die Rechtfertigung aus dem Glauben und die sich darin manifestierende Gerechtigkeit Gottes (3,21-26)

1.1

Überblick über die Argumentation und die Verwendung der δικαι-Begriffe

Nachdem Paulus auf die Unmöglichkeit einer Rechtfertigung aus Werken des Gesetzes und auf die limitierte Funktion des Gesetzes für das Heil hingewiesen hat, beschäftigt er sich ab 3,21-26 mit dem durch das Christusgeschehen erschlossene Heilshandeln Gottes. In diesem Abschnitt wird zum ersten Mal im Römerbrief ausdrücklich dargelegt, welche Bedeutung und Funktion der Tod Jesu im Rahmen des Heilshandelns Gottes hat und in welchem Sinne der Glaube an Jesus Christus denjenigen, die solchen Glauben haben, den Weg zum Heil eröffnet. Im Hinblick auf diese zentrale Thematik kommt dem Abschnitt Röm 3,21-26 eine entscheidende Bedeutung zu; die Verse werden aus diesem Grund geradezu als „Hauptstück“188 bzw. als „theologische Mitte“189 des Römerbriefs angesehen.190 Thematisch sind sie mit den vorangegangenen und den nachfolgenden Kapiteln verbunden, in denen das Heilshandeln Gottes an den sündigen Menschen besonders hinsichtlich der Rechtfertigung dargelegt wird.191 Eine zentrale Rolle bei der Beschreibung des Heilshandelns Gottes und dessen Wirklichkeit spielen die Wörter aus dem Stamm δικαι-. Durch ihre Anordnung verleihen sie dem Abschnitt die besondere Struktur einer Ringkomposition. Der Beginn des neuen Abschnitts wird gekennzeichnet durch die Proklamation der Offenbarung der δικαιοσύνη θεοῦ, welche aus dem Glauben kommt. Am Ende des Abschnitts wird der Gedanke, dass die Gerechtigkeit aufgrund des Glaubens zu erlangen ist, mit der Aussage δικαιοῦντα τὸν ἐκ πίστεως Ἰησοῦ wieder aufgegriffen. Darüber hinaus ist δικαιοσύνη bzw. δικαιοῦν in Röm 3,21-26 ein Leitwort, das in jedem Vers vorkommt, abgesehen von V 23, in dem die universale Sündenverfal-

188 Vgl. Luther, Römer, 39. 189 Vgl. Kuss, Römer, 100. 190 Außer Luther und Kuss bewerten auch viele andere den Abschnitt als einen im Römerbrief zentralen Text (vgl. Delling, Kreuzestod, 17; Gaukesbrink, Sühnetradition, 229; Flebbe, Solus Deus, 61f). 191 Zu einer ausführlichen Darstellung des Zusammenhangs dieses Abschnittes mit anderen Teilen des Briefes vgl. Bultmann, Theologie, 280f. Kennzeichnend ist, dass dabei die betont an den Anfang des Briefes in 1,16-17 gestellte These in knapp formulierten Sätzen entfaltet wird, die eine ganze Reihe zentraler Begriffe enthalten. Aufgrund des sehr verdichteten Stils und des Gebrauchs einiger semantisch schwer bestimmbarer Hapaxlegomena innerhalb des Corpus Paulinum (ἀπολύτρωσις, ἱλαστήριον, πάρεσις) ist eine Auslegung dieses Abschnittes sehr kompliziert.

Die Gerechtigkeit Gottes und seine universal gültige Rechtfertigung der Menschen: Röm 3,21-31

lenheit der Menschen dargestellt wird. Dabei ist besonders darauf zu achten, in welchem Sinne die verschiedenen δικαι-Formulierungen verwendet werden, denn bereits auf den ersten Blick lassen sich zwei unterschiedliche Verwendungsweisen erkennen: Zum einen bringen das Substantiv δικαιοσύνη und die passive Verbform δικαιοῦσθαι die Gerechtigkeit zum Ausdruck, welche diejenigen, die an Jesus Christus glauben, von Gott empfangen (δικαιοσύνη θεοῦ in V 21.22; δικαιούμενοι in V 24; δικαιοῦντα in V 26). Zum anderen charakterisiert der Begriff δικαιοσύνη die Eigenschaft Gottes (sein Gerechtsein), welche sich in seinem Heilshandeln erweist (δικαιοσύνη αὐτοῦ in V 25.26; δίκαιος in V 26). Diese verschiedenen Bedeutungen werden im Folgenden in ihrem jeweiligen Textzusammenhang erklärt. 1.2

„Die Gerechtigkeit Gottes“ – nicht aus den Gesetzeswerken, sondern aus dem Christusglauben (3,21-22)

Der erste Satz des Abschnitts setzt mit den Worten νυνὶ δέ ein, was eine zeitliche und zugleich eine inhaltliche bzw. logische Wende signalisiert (vgl. 1Kor 15,20; Eph 2,13; Hebr 9,26). Das den Zeitpunkt betonende νυνί besagt, dass das im Folgenden beschriebene Heilshandeln Gottes durch Jesus Christus für Paulus jetzt, d. h. in seiner gegenwärtigen Zeit, offenbart worden ist (vgl. ἐν τῷ νῦν καιρῷ in V 26). Paulus hat die Gewissheit, dass seine Gegenwart die Heilszeit ist (vgl. 2Kor 6,1-2), in der das zuvor von den Propheten verheißene Heil Gottes angebrochen ist und verwirklicht wird. Dass dieses durch die Erlösungstat Christi offenbarte (V 24) Heilshandeln Gottes etwas völlig Neues und damit gegenüber der zuvor in 3,1920 beschriebenen verhängnisvollen Situation der Menschheit absolut Anderes ist, unterstreicht die Partikel δέ. Die verhängnisvolle Unheilslage der sündigen Menschen, der niemand aus eigener Kraft entkommen kann, wird so durch das in der gegenwärtigen Zeit offenbarte Heilshandeln Gottes überboten und aufgelöst. Bei diesem als völlig neu und absolut anders zu bestimmenden Heilshandeln Gottes handelt es sich um das Offenbarungsgeschehen der δικαιοσύνη θεοῦ. Diese Genitivformulierung begegnet bereits in 1,17, allerdings ist sie hier anders als in 1,17 durch den vorangestellten Präpositionalausdruck χωρὶς νόμου charakterisiert. Abgesehen von dieser Näherbestimmung entspricht die Formulierung δικαιοσύνη θεοῦ in 3,21.22 aber in jeglicher Hinsicht derjenigen in 1,17; so korrespondieren auf der einen Seite die Prädikate πεφανέρωται und ἀποκαλύπτεται und auf der anderen Seite die präpositionalen Ausdrücke διὰ πίστεως Ἰησοῦ Χριστοῦ und εἰς πάντας τοὺς πιστεύοντας mit ἐκ πίστεως εἰς πίστιν.192 Für ein genaueres Verständnis der

192 Auf diese begriffliche Entsprechung verweisen auch viele Exegeten, vgl. nur Lohse, Römer, 130; Wolter, Römer I, 246f.

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Die Gerechtigkeitsaussagen im Römerbrief

Genitivformulierung δικαιοσύνη θεοῦ müssen die folgenden Leitfragen berücksichtigt werden: (1) Was ist die semantische Referenz des Substantivs δικαιοσύνη? (2) Wie ist der Genitiv θεοῦ in Verbindung mit der δικαιοσύνη zu verstehen? Um diese Fragen zu beantworten, ist es sehr wichtig, die semantischen Zusammenhänge der Genitivformulierung mit der vorangehenden und der nachfolgenden passivischen Verbalform von δικαιοῦσθαι in V 20 und 24 zu berücksichtigen, denn diese liefern einen bedeutsamen Schlüssel für das Verständnis der Genitivformulierung. Diese wichtige semantische Verknüpfung zwischen den Verbalausdrücken und der doppelt erwähnten Genitivformulierung δικαιοσύνη θεοῦ ist jedoch in der bisherigen Forschung vernachlässigt worden. Die syntaktische Struktur von 3,20-24 mit ihren durch die Ausdrücke δικαιοσύνη θεοῦ bzw. δικαιοῦσθαι und die damit verbundenen Leitbegriffe νόμος und πίστις gekennzeichneten semantischen Bezügen kann wie folgt dargestellt werden: V 20a ἐξ ἔργων νόμου οὐ δικαιωθήσεται πᾶσα σὰρξ ἐνώπιον αὐτοῦ V 21a χωρὶς νόμου δικαιοσύνη θεοῦ πεφανέρωται V 22  δικαιοσύνη δὲ θεοῦ διὰ πίστεως Ἰησοῦ Χριστοῦ εἰς πάντας τοὺς πιστεύοντας. V 24  δικαιούμενοι δωρεὰν τῇ αὐτοῦ χάριτι διὰ τῆς ἀπολυτρώσεως τῆς ἐν Χριστῷ Ἰησοῦ

Zunächst ist festzuhalten, dass die Genitivformulierung δικαιοσύνη θεοῦ in V 21a nicht anders zu verstehen ist als diejenige in V 22.193 Dabei ist der elliptisch gestaltete Satz in V 22 als eine explizierende Näherbestimmung des in V 21a angeführten Syntagmas δικαιοσύνη θεοῦ anzusehen; die Partikel δέ leitet diese Explikation ein. Hinzu kommt, dass, wie in der obigen Analyse aufgezeigt, diese doppelte Erwähnung der δικαιοσύνη θεοῦ semantisch unmittelbar auf die Wendungen ἐξ ἔργων νόμου οὐ δικαιωθήσεται κτλ. in V 20 und δικαιούμενοι δωρεὰν τῇ αὐτοῦ χάριτι κτλ. in V 24 bezogen ist.194 Beide Wendungen bringen die Unmöglichkeit einer Rechtfertigung des Menschen aus Werken des Gesetzes sowie die alleinige Wirksamkeit der Gnade Gottes bei der Rechtfertigung des Menschen zum Ausdruck. Das Argument des Paulus in V 21, für das die Formulierung δικαιοσύνη θεοῦ samt der Näherbestimmung χωρὶς νόμου zentral ist, erläutert die Feststellung in V 20a, dass die Rechtfertigung des Menschen durch die Werke des Gesetzes unmöglich ist. Dabei kann der Präpositionalausdruck χωρὶς νόμου, welcher wörtlich mit

193 Somit gegen Schnelle, Paulus, 334ff. 194 Den semantischen Zusammenhang von δικαιοσύνη θεοῦ und δικαιοῦσθαι beachten auch Bultmann, Theologie, 280f; Klein, Gottes Gerechtigkeit, 8; Conzelmann, Grundriß, 243.

Die Gerechtigkeit Gottes und seine universal gültige Rechtfertigung der Menschen: Röm 3,21-31

„ohne Gesetz“ wiederzugeben ist, sinngemäß auch mit „unabhängig vom Gesetz“195 übersetzt werden.196 Damit wird zum Ausdruck gebracht, dass die δικαιοσύνη θεοῦ ohne jede Mitwirkung des Gesetzes zustande kommt und damit „ohne es heranzuziehen und zu beteiligen“.197 Der Ausdruck νόμου ist dabei ein verkürztes Äquivalent zu ἔργων νόμου (vgl. 3,28, 4,6; Gal 2,16; 3,5).198 Die Aussage mit dem durch die Formulierung χωρὶς νόμου erweiterten Ausdruck δικαιοσύνη θεοῦ kann angesichts des argumentativen Zusammenhangs zwischen V 20 und V 21a nun folgendermaßen paraphrasiert werden: Der Mensch erlangt die Gerechtigkeit von Gott unabhängig von der Erfüllung der Anforderungen des Gesetzes. Durch den zweiten Präpositionalausdruck διὰ πίστεως Ἰησοῦ Χριστοῦ wird im Anschluss an die vorausgehende Näherbestimmung χωρὶς νόμου erklärt, auf welchem Grund die δικαιοσύνη θεοῦ aufbaut, wenn nicht auf der Erfüllung der Gesetzesforderungen. Der Genitivausdruck πίστις Ἰησοῦ Χριστοῦ ist angesichts des direkt anschließenden substantivierten Partizips τοὺς πιστεύοντας und der weiteren πίστις-Aussagen in 3,25-31, die im Textzusammenhang eindeutig die πίστις des Menschen beschreiben (διὰ τῆς πίστεως ἐν τῷ αὐτοῦ αἵματι; δικαιοῦντα τὸν ἐκ πίστεως Ἰησοῦ; ἀλλὰ διὰ νόμου πίστεως; δικαιοῦσθαι πίστει ἄνθρωπον; δικαιώσει περιτομὴν ἐκ πίστεως καὶ ἀκροβυστίαν διὰ τῆς πίστεως), als gen. obj. zu verstehen und damit im Sinne des Glaubens an Jesus Christus.199 Das Verständnis des Genitivs als gen. subj., auf dessen Grundlage πίστις Ἰησοῦ Χριστοῦ dann als Vertrauen bzw. Treue Christi zu interpretieren wäre, ist dagegen nicht nur hinsichtlich des Textzusammenhangs von 3,22, sondern auch angesichts des weiteren Gebrauchs des Begriffs πίστις in Röm 3,24f nicht plausibel.200 Darüber hinaus findet sich kein Beleg in den Paulusbriefen, bei dem Jesus als Subjekt von πιστεύειν fungiert oder ihm das Attribut πίστις beigefügt ist.201

195 Vgl. BAA, s.v.; BDAG, s.v.; die deutschen Bibelübersetzungen: Einheitsübersetzung, Zürcher Bibel, Menge Bibel. 196 Im Zusammenhang mit V 20 meint der Präpositionalausdruck χωρὶς νόμου im Gegensatz zu der Formulierung ἐξ ἔργων νόμου in V 20 „ohne Werke des Gesetzes“ (χωρὶς ἔργων νόμου: vgl. 3,28; 4,6; Gal 2,16; 3,5). 197 Schlier, Römer, 105. 198 So auch Schlier, Römer, 105; Rusam, πίστις Ἰησοῦ Χριστοῦ, 64; Wolter, Römer I, 246. 199 Vgl. Ziesler, Meaning, 191; Schlier, Römer, 105; Wilckens, Römer I, 187f; Käsemann, Römer, 88; Lohse, Römer, 130f; Fitzmeyer, Romans, 345–346; Dunn Romans I, 178; Jewett, Romans, 278; Haacker, Römer, 99f; Moo, Romans, 225; Watson, Paul, 233ff; Schreiner, Romans, 178; Barclay, Gift, 477; Park, Stellvertretung, 214 u. a. 200 So aber viele andere Exegeten, vgl. Howard, Faith of Christ, 459–465; Hooker, ΠΙΣΤΙΣ ΧΡΙΣΤΟΥ, 321–342; Vanhoye, Πίστις Χριστοῦ, 1–21; Barth, Faith, 363–370; Ulrichs, Christusglaube, 157ff; Schumacher, Entstehung, 331ff; Longenecker, Pistis, 478–480; Johnson, Faith of Jesus, 77–90; Mininger, Revelation, 334ff. 201 Vgl. Haacker, Römer, 99; Rusam, πίστις Ἰησοῦ Χριστοῦ, 53.

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Die Gerechtigkeitsaussagen im Römerbrief

Innerhalb der Wendung πίστις Ἰησοῦ Χριστοῦ bezeichnet der Genitiv Ἰησοῦ Χριστοῦ den Gegenstand der πίστις, auf den der Mensch sein Vertrauen setzen

soll. Durch den Präpositionalausdruck διὰ πίστεως Ἰησοῦ Χριστοῦ wird somit in Verbindung mit δικαιοσύνη θεοῦ und im Anschluss an die erste Näherbestimmung durch χωρὶς νόμου verdeutlicht, was als das Prinzip des Erlangens der Gerechtigkeit zu gelten hat. Der zweite präpositionale Ausdruck εἰς πάντας τοὺς πιστεύοντας verdeutlicht im Anschluss an den ersten wiederum, wem die Erlangung der Gerechtigkeit gilt. Sie gilt demnach allen Glaubenden, die ihr Vertrauen auf den für ihre Rettung gestorbenen Jesus Christus setzen und damit die einzige Bedingung für die Erlangung der Gerechtigkeit erfüllen. Durch diese Wiederholung der πίστιςAussagen unterstreicht Paulus die exklusive Bedeutung des Glaubens als einzige Heilsbedingung. Diese Betonung des Glaubens findet ihre Entsprechung in den Ausdrücken παντὶ τῷ πιστεύοντι und ἐκ πίστεως εἰς πίστιν aus Röm 1,16-17. Das Heilshandeln Gottes, das in 3,21-22 durch die Genitivformulierung in verdichteter Weise dargestellt wird, wird in V 24f noch näher erläutert. Auf der semantischen Ebene bezieht sich die Genitivformulierung δικαιοσύνη θεοῦ eindeutig auf das Passiv δικαιοῦσθαι in V 24, welches das Gerechtwerden der Glaubenden bzw. das rechtfertigende Handeln Gottes zum Ausdruck bringt. Die gesamte Aussage von V 24 δικαιούμενοι δωρεὰν τῇ αὐτοῦ χάριτι διὰ τῆς ἀπολυτρώσεως τῆς ἐν Χριστῷ Ἰησοῦ greift also den Gedankengang von 3,21-22 auf und führt ihn im Zusammenhang mit dem Christusgeschehen, in dem Jesus als ἱλαστήριον hingestellt wurde (V 25a), weiter. Aufgrund dieser Verknüpfung von δικαιοσύνη θεοῦ und δικαιοῦσθαι kann kaum bestritten werden, dass Paulus mit dem Ausdruck δικαιοσύνη θεοῦ etwas anderes als die Gerechtigkeit meint, welche Gott dem Glaubenden zueignet. Die Genitivformulierung δικαιοσύνη θεοῦ ist in diesem Sinne eine Verkürzung von δικαιοῦσθαι παρὰ τῷ θεῷ anzusehen. Zu beachten ist hierbei, dass das Substantiv δικαιοσύνη nicht einfach mit dem Begriff „Rechtfertigung“ wiedergegeben werden kann. Denn das Substantiv ist kein nomen actionis, das sich von der Verbalform ableitet, sondern wie andere Substantive mit der Endung -συνη (etwa ἁγιωσύνη, ἀφροσύνη und εὐφροσύνη) ein auf das Adjektiv zurückgehendes nomen abstractum.202 Das Substantiv δικαιοσύνη kann dabei in seinem jeweiligen Kontext Verschiedenes bezeichnen. So kann es auf den Status des Menschen (Gerechtsein) oder auf eine konkrete gerechte Tat referieren oder als eine umfassende ethische Kategorie verwendet wird. Im vorliegenden Kontext ist die Referenz des Substantivs δικαιοσύνη im ersten Sinne zu verstehen und bezieht sich auf den Status des Gerechtseins der Glaubenden. Aber im Fall 202 Vgl. BDR, § 110.2; Wolter, Paulus, 391; ders. Römer, 121. Als nomen actionis verwendet Paulus die Substantive δικαίωμα und δικαίωσις in 5,16.18, wo diese Begriffe die Tat Christi (d. h. dessen Tod) oder die Folge des Heilstodes Christi für die Glaubenden zum Ausdruck bringen. Zur semantischen Analyse der beiden Begriffe s. S. 296f, 324f der vorliegenden Arbeit.

Die Gerechtigkeit Gottes und seine universal gültige Rechtfertigung der Menschen: Röm 3,21-31

der δικαιοσύνη θεοῦ ist δικαιοσύνη nicht als ein Besitz oder eine Eigenschaft des Menschen, sondern als Metonymie für das Urteil Gottes, das den Menschen in den Stand der Gerechtigkeit versetzt, zu verstehen. Der Genitiv θεοῦ ist in diesem Zusammenhang als Angabe des Subjekts zu verstehen, das den Glaubenden den Status der Gerechtigkeit zueignet. Gott ist es, der über den an Jesus Christus Glaubenden das Urteil „gerecht“ fällt.203 Die Gerechtigkeit der Glaubenden, die ihnen aufgrund des Glaubens an Jesus Christus verliehen wird, beruht ausschließlich auf der Gnade Gottes, da die Glaubenden zu keiner hinreichenden Gegenleistung fähig sind. In diesem Sinne bezeichnet Paulus die Gerechtigkeit der Glaubenden als ein Geschenk oder eine Gnadengabe Gottes (3,24; 5,16f). Es darf aber nicht aus dem Blick geraten, dass es sich beim vorliegenden Kontext dieser Gerechtsprechung durch Gott im Kern um eine forensische Situation handelt, in der Gott über die Menschen Gericht hält und sein Urteil fällt. Ausnahmslos alle Menschen haben gesündigt und sind dadurch dem Gericht Gottes verfallen. In dieser verhängnisvollen Lage offenbart Gott den neuen Heilsweg, auf dem jeder Mensch aufgrund des Vertrauens auf Jesus Christus Gerechtigkeit erlangen kann. Wenn man diesen forensischen Kontext ins Auge fasst, so erscheint die Interpretation problematisch, nach der Gott den Glaubenden seine eigene Gerechtigkeit als Gabe verleiht oder die Glaubenden an der göttlichen Eigenschaft teilhaben.204 Aus diesen Überlegungen wird auch deutlich, dass es sich bei der doppelten Wendung δικαιοσύνη θεοῦ in 3,21-22 nicht um die Beschreibung einer Eigenschaft oder Verhaltensweise Gottes handelt.205 Die Vorstellung von der Gerechtigkeit Gottes im Sinne einer Eigenschaft Gottes oder eines dieser Eigenschaft entsprechenden

203 Grammatikalisch kann der Genitiv als gen. auct. bzw. gen. subj. verstanden werden, wonach Gott der Urheber bzw. Geber der Gerechtigkeit ist. 204 So Schlier, Römer, 108.172; Lietzmann, Römer, 95; Bornkamm, Paulus, 147. Ich sehe aber in den Aussagen von 3,21f keinen Anhaltspunkt für die oben genannten Interpretationen. Auch mit der Aussage in 2Kor 5,21 ist nicht gemeint, dass die Eigenschaft Christi und Eigenschaft des Sünders ausgetauscht werden. Es geht vielmehr um einen Stellungswechsel, bei dem Christus an Stelle der Sünder starb, nicht um die Vermittlung seiner Eigenschaften an die Glaubenden. 205 So aber viele Exegeten, vgl. vor allem Kertelge, Rechtfertigung, 75f; Schlier, Römer, 103ff; Wilckens, Römer I, 187f; Dunn, Romans I, 165f; Ulrichs, Christusglaube, 167ff; Gaukesbrink, Sühnetradition, 233f; Jewett, Romans, 272ff; Schumacher, Entstehung, 327ff; Wright, Faithfulness, 995ff; Wolter, Römer I, 246ff; Sanders, Paul, 673; Mininger, Revelation, 332ff. Von diesen Exegeten unterscheiden einige nicht klar zwischen den beiden Interpretationsmöglichkeiten der δικαιοσύνη θεοῦ als Gabe und als Handeln bzw. Eigenschaft Gottes und vertreten damit eine doppelte Bedeutung des Begriffs δικαιοσύνη θεοῦ. Außerdem betrachten diese Exegeten die Wendung δικαιοσύνη θεοῦ in 3,21-22 als gleichbedeutend mit den anderen Genitivformulierungen in 3,5 und 3,25-26, die eindeutig die Eigenschaft Gottes bezeichnen.

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Die Gerechtigkeitsaussagen im Römerbrief

Handelns Gottes wird nach 3,5 erst in V 25 und 26 durch die Formulierung δικαιοσύνη αὐτοῦ wieder aufgegriffen. Die δικαιοσύνη θεοῦ in 3,21.22 im Sinne einer von Gott zugesprochenen Gerechtigkeit lässt sich auf semantischer Ebene von der θεοῦ δικαιοσύνη in 3,5 deutlich unterscheiden. Und auch das in der Forschung nach wie vor verbreitete Verständnis der Genitivformulierung als Ausdruck einer Heilsmacht oder einer ähnlich rettenden Macht Gottes206 wird dem unmittelbaren Kontext nicht gerecht, weil δικαιοσύνη dabei als etwas Gott zu eigen Seiendes verstanden wird. Dass die Auffassung von δικαιοσύνη θεοῦ als einer göttlichen Macht nicht im Einklang mit dem Kontext steht, wird ferner auch klar, wenn man den Begriff δικαιοσύνη θεοῦ konsequent mit „Heilsmacht“ übersetzt: Was soll es heißen, dass die Heilsmacht Gottes unabhängig von Werken des Gesetzes allein aus dem Christusglauben kommt und von der Tora und den Propheten bezeugt ist? Bei diesem Verständnis verliert die für die Deutung der Genitivformulierung δικαιοσύνη θεοῦ bei Paulus wichtige Verbindung von δικαιοσύνη und πίστις letztlich ihre Bedeutung. Eine weitere Frage ist, wie das Perfektum πεφανέρωται in Verbindung mit dem Subjekt δικαιοσύνη θεοῦ verstanden werden kann. In dieser Frage wurden im Wesentlichen zwei Antwortmöglichkeiten vorgebracht. Üblicherweise wird der Ausdruck πεφανέρωται als der Verweis auf ein Offenbarungsgeschehen verstanden und somit als Ausdruck des Bekanntwerdens der δικαιοσύνη θεοῦ.207 Der vorher verborgene Heilsweg (oder das Heilsprinzip), dass die Gerechtigkeit allein aus dem Glauben an Christus kommt, ist nämlich in der Zeit des Paulus bekanntgemacht worden. Andere Exegeten sind hingegen aber der Ansicht, dass die Aussage δικαιοσύνη θεοῦ πεφανέρωται als „Ereignis- bzw. Wirklichkeit-Werden der Gerechtigkeit Gottes“ aufzufassen ist.208 Das Syntagma δικαιοσύνη θεοῦ wird dabei als Gottes Eigenschaft, sein Gerechtsein in seinem Heilshandeln, interpretiert und der Glaube wird als der Grund verstanden, welcher die Gerechtigkeit Gottes als ein Ereignis bewirkt. Demnach ist das Ereignis-Werden der Gerechtigkeit Gottes gänzlich vom Glauben des Menschen abhängig. Dieses Verständnis ist aber aus theologischer Perspektive nicht sinnvoll. Wie bereits gezeigt, ist die Aussage χωρὶς νόμου δικαιοσύνη θεοῦ eng mit der vorangehenden Wendung ἐξ ἔργων νόμου οὐ δικαιωθήσεται κτλ. verbunden, weshalb es sich nahelegt, dass χωρὶς νόμου wie διὰ πίστεως Ἰησοῦ Χριστοῦ als ein Attribut zur Genitivverbindung anzusehen ist. Zudem entfernt sich die Übersetzung von φανεροῦσθαι als „sich ereignen“ zu weit von der Semantik des Verbes im Sinne von erscheinen bzw. offenbar oder manifest werden. Grundlegend ist 206 So aber Stuhlmacher, Gottes Gerechtigkeit, 86ff; Schlier, Römer, 104ff; Käsemann, Römer, 87f; Ziesler, Meaning, 191f; Schnelle, Paulus, 334ff; Theißen, Römer, 64f; Mininger, Revelation, 332ff. 207 Vgl. Lohse, Römer, 130. 208 So Wolter, Römer I, 247.

Die Gerechtigkeit Gottes und seine universal gültige Rechtfertigung der Menschen: Röm 3,21-31

der Ausdruck φανεροῦσθαι in 3,21 als Synonym zu ἀποκαλύπτεσθαι in 1,17 zu verstehen; mit beiden Verben bezeichnet Paulus ein göttliches Geschehen, durch das die Heilsbotschaft erschlossen wird, das darin besteht, dass die Gerechtigkeit aus dem Christusglauben kommt. Ferner muss schließlich auch das Tempus der Verbform πεφανέρωται beachtet werden. Das Perfektum ist nämlich so zu verstehen, dass die Bekanntmachung in einem einmaligen Geschehen bereits erfolgt und abgeschlossen ist und der Heilsweg damit gegenwärtig zugänglich ist. Dass die Formulierung δικαιοσύνη θεοῦ nicht als eine Eigenschaft oder das Handeln Gottes, sondern als die von Gott verliehene Gerechtigkeit zu verstehen ist, wird vor allem durch die weitere Näherbestimmung μαρτυρουμένη ὑπὸ τοῦ νόμου καὶ τῶν προφητῶν in V 21b deutlich. Paulus verweist mit dieser Näherbestimmung darauf, dass die von Gott verliehene Gerechtigkeit, welche mit der Erfüllung der Gesetzesforderungen nichts zu tun hat, sondern allein aufgrund des Glaubens an Christus zustande kommt, schon vom Gesetz und den Propheten bezeugt worden ist.209 Der Ausdruck „Gesetz und Propheten“ bezeichnet dabei die Gesamtheit der Schriften des Alten Testaments;210 der Begriff νόμος bezieht sich auf die fünf Bücher von Genesis bis Deuteronomium und προφῆται steht dementsprechend für die übrigen Bücher der heiligen Schrift. Mit der Aussage, dass die δικαιοσύνη θεοῦ durch die ganze heilige Schrift bezeugt ist, will Paulus verdeutlichen, dass die Botschaft des Paulus Gottes Willen entspricht und sich seiner Autorität verdankt und damit die wahre Botschaft ist (vgl. 1,2). Der in Bezug auf die Funktion der Propheten und des Gesetzes als Zeugen der Heilsbotschaft verwendete Ausdruck μαρτυρεῖν kann wahrscheinlich vor dem Hintergrund der Zwei-Zeugen-Regel in Dtn 19,15-20 verstanden werden.211 In diesem Zusammenhang ist zu beachten, dass Paulus in seinen Ausführungen über die Heilsbotschaft bewusst Schriftzitate sowohl aus der Tora, als auch aus den Propheten als begründende Schriftbeweise für sein Argument anführt. Markant sind dabei die Zitate von Hab 2,4 in Röm 1,17 (auch in Gal 3,11) und von Gen 15,6 in Röm 4,3 (dasselbe auch in Gal 3,6); diese sind aufgrund der im Text gegebenen Verbindung des δικαι-Terminus mit dem πίστις-Begriff von entscheidender Bedeutung für das Argument des paulinischen Rechtfertigungsgedankens. Beide Zitate finden Verwendung in zentralen Perikopen des Römerbriefs, in denen Paulus seine

209 Μαρτυρουμένη ist als partizipiales Attribut mit δικαιοσύνη θεοῦ verbunden. Das Verb μαρτυρεῖν bedeutet „Zeugnis ablegen“ oder „bezeugen“ und hat forensische Bedeutung. 210 So auch viele andere, vgl. nur Schlier, Römer, 105; Wilckens, Römer I, 186; Wolter, Römer I, 247. Der Ausdruck „Gesetz und Propheten“ findet sich nicht nur bei Paulus, sondern auch an vielen anderen Stellen im Neuen Testament und in den jüdischen Schriften aus der hellenistischen und römischen Zeit. Er fungiert als ein literarischer Begriff, der die ganze Schrift des alttestamentlichen Kanons bezeichnet (zu den Belegen vgl. Wolter, Römer I, 247, Anm. 28). 211 Vgl. Wilckens, Römer I, 186.

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Die Gerechtigkeitsaussagen im Römerbrief

Rechtfertigungsbotschaft als allein von Gott legitimierte und allein wahre sowie gültige Heilsbotschaft zu beweisen versucht. 1.3

Die sich in der Rechtfertigung der Sünder erweisende Gerechtigkeit Gottes (3,22c-26)

1.3.1

Die universale Sündenverfallenheit aller Menschen (V 22c-23)

Der in V 21-22b sehr verdichtet formulierte Gedankengang über das Heilshandeln Gottes wird in V 22c-26 konkreter beschrieben. Dabei knüpft diese Explikation inhaltlich an die Frage an, in welchem Sinne der Christusglaube im Mittelpunkt der Heilsbotschaft steht. Bevor Paulus sich dieser Frage zuwendet, betont er aber zunächst nochmals zusammenfassend die Sündenverfallenheit aller Menschen, die schon in V 9-18 zur Sprache gekommen war. Mit dem Verb ἁμαρτάνειν stellt Paulus dabei ausdrücklich fest, dass alle Menschen gesündigt haben (πάντες γὰρ ἥμαρτον), und betont die ausnahmslose Heillosigkeit des Menschen nachdrücklich dadurch, dass er schon zu Beginn des Satzes mit der Feststellung οὐ γάρ ἐστιν διαστολή einsetzt.212 Infolge des sündigen Verhaltens befinden sich alle Menschen in einer Situation, in der sie der Herrlichkeit Gottes ermangeln (ὑστεροῦνται τῆς δόξης τοῦ θεοῦ). Die Konjunktion καί zwischen ἥμαρτον und ὑστεροῦνται hat dabei einen konsekutiven Sinn.213 Mit dieser Darstellung der Unheilsfolge, die alle sündigen Menschen betroffen hat (vgl. 5,12), greift Paulus auf eine anthropologische Grundeinsicht der jüdischen Tradition zurück. In frühjüdischen Texten begegnet man in Bezug auf den Sündenfall Adams und Evas häufig der Vorstellung, dass sie nach dem Fall der Herrlichkeit (δόξα) Gottes entfremdet bzw. entkleidet wurden (vgl. ApkMos 20,1-2; 21,1-6; griechBar 4,16). In diesen Erzählungen ist δόξα (lexikalischer Sinn: Lichtglanz214 ) als umfassende Bezeichnung für die besondere Würdigkeit

212 Die Wendung οὐ γάρ ἐστιν διαστολή kommt noch einmal in Röm 10,12 vor. Dabei wird jedoch nicht von der Unterschiedslosigkeit im sündigen Handeln aller Menschen gesprochen, sondern es geht um die Universalität des Heilshandelns Gottes, das ohne Unterschied zwischen Juden und Nichtjuden allein aufgrund des Glaubens an Christus allen Menschen Heil zuteilwird. 213 Die Formulierung im Präsens ὑστεροῦνται κτλ. sollte nicht so verstanden werden, dass „die Unheilsfolgen des Sündenfalls auch für die Glaubenden und Gerechtfertigten noch andauern und auch sie noch unter der Hinfälligkeit des menschlichen Daseins leiden“. (Wolter, Römer I, 254). Stattdessen bringt sie die ausweglose und verhängnisvolle Situation derjenigen zum Ausdruck, die Sünden begangen und damit die Herrlichkeit Gottes verloren haben. Das Präsens wird zur Erklärung dieses Sachverhaltes über den Zustand der sündigen Menschen verwendet. Für diejenigen, die aufgrund des Glaubens an Christus gerecht geworden sind, ist dies aber ein Zustand der Vergangenheit. 214 Die Bedeutung von δόξα lässt sich nur schwer ins Deutsche übertragen. Die gängige Übersetzung „Herrlichkeit“ trifft die grundlegende Semantik nicht, die sich mit Blick auf die Gesamtheit der Be-

Die Gerechtigkeit Gottes und seine universal gültige Rechtfertigung der Menschen: Röm 3,21-31

und Schönheit zu verstehen, die Adam und Eva als die nach dem Ebenbild Gottes Geschaffenen besessen hatten. Die Redewendung „der δόξα entkleidet werden bzw. entfremdet werden“ bezeichnet dann metaphorisch die Gottes- bzw. Heilsferne, die durch den Sündenfall verursacht wurde. In frühjüdischen Texten wird der Unheilsstand der Menschen, die Sünden begangenen haben, häufig als der Verlust oder das Fehlen der δόξα beschrieben und entsprechend gilt auf der anderen Seite die Wiederausstattung mit δόξα als die eschatische Heilsverwirklichung des Menschen. Nicht zu übersehen ist an unserer Stelle ferner das Nebeneinander der Termini δόξα und δικαιοσύνη.215 In V 20 hatte Paulus mit der Formulierung οὐ δικαιωθήσεται die Unmöglichkeit, durch Gesetzeswerke Gerechtigkeit zu erlangen, zum Ausdruck gebracht und in V 21-22 im Einklang damit mit der Formulierung δικαιοσύνη θεοῦ den Heilsstand der Glaubenden beschrieben. In V 24 greift Paulus nun erneut auf die Begrifflichkeit des Gerechtseins zurück, um den wiederhergestellten Heilstand der sündigen Menschen zu kennzeichnen.216 Somit ist die Gerechtigkeitsterminologie bestimmend und die δόξα-Aussage ist in diese δικαιAussagen eingebettet, wodurch sich eine deutliche Parallelisierung dieser beiden Begriffe ergibt. Eine solche Verknüpfung von δόξα und δικαιοσύνη findet sich in den Paulusbriefen noch in Röm 5,1-2 und 8,30, wo Paulus mit den beiden Begriffen das gegenwärtige und das zukünftige Heilsgeschick der Glaubenden beschreibt (vgl. auch 6,4-7). Diese Nebeneinandersetzung und Wechselbeziehung von δικαιοσύνη und δόξα findet sich schon in alttestamentlichen und jüdischen Texten: PsLXX  111,9; JesLXX  45,25; 58,8; 61,3; ApkMos 20,1-2; Bar 5,2.217 Im Hinblick auf die Zusammenstellung der beiden Begriffe bei Paulus verdienen vor allem die Jesajatexte besondere Beachtung. Auch in ihnen stehen δικαιοσύνη und δόξα im Zusammenhang mit dem Heilsgeschehen des Menschen. Das Heilshandeln Gottes an Israel vollzieht sich erst dann, wenn das abgefallene und sündige Israel seinen ursprünglichen Stand als Gottes erwähltes Volk in δόξα und δικαιοσύνη wieder erreicht. Die parallele Verwendung von δόξα und δικαιοσύνη bei Paulus, stützt sich offenbar auf diese alttestamentliche Tradition.

lege ergibt und mit Lichtglanz oder Pracht und damit mit dem Strahlen eines Lichts wiedergegeben werden kann. 215 Auf die Parallelisierung machen auch einige Exegeten aufmerksam (vgl. Schlier, Römer, 107f; Käsemann, Römer, 89; Lohse, Römer, 131). 216 Die Aussage δικαιούμενοι κτλ. ist als Gegensatz zu ὑστεροῦνται τῆς δόξης τοῦ θεοῦ zu verstehen (vgl. Schlier, Römer, 108). 217 Die beiden Begriffe δικαιοσύνη und δόξα werden nicht nur in Bezug auf Menschen, sondern auch in Bezug auf Gott verwendet, vgl. PsLXX  96,6; JesLXX  45,24; 62,2; Bar 2,18. Die Gerechtigkeit und Herrlichkeit Gottes manifestieren sich in seinem Handeln als Schöpfer und Herrscher und verbinden sich mit seinem Heilshandeln an seinem Volk Israel.

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1.3.2

Die Rechtfertigung der Sünder und die sich darin erweisende Gerechtigkeit Gottes (V 24-26) 1.3.2.1 „Umsonst gerechtfertigt aufgrund von Gottes Wohlgefallen“ (V 24)

Die Menschen, die die Herrlichkeit Gottes verloren haben und zu Sündern geworden sind, hat Gott in ihrer Heillosigkeit aber nicht sich selbst überlassen. Er hat ihnen einen Weg eröffnet, auf dem sie wieder Gerechtigkeit und Heil erlangen können. Dieses Heilsgeschehen, für das Gott selbst die Initiative ergreift, beschreibt Paulus in 3,24-26. In V 24 spricht er zunächst von der Rechtfertigung und von der Auslösung der Sünder, die Gott durch Christus ermöglicht hat. Das Partizip δικαιούμενοι in V 24 drückt hier aus, was die Glaubenden, welche früher Sünder waren und damit der göttlichen Herrlichkeit verlustig gegangen sind, im Heilshandeln Gottes gewinnen: Es ist der Status des Gerechtseins, welcher ihnen das eschatische Heil sichert (vgl. 1,17; 5,9.17.18.21). Der Stand der Gerechtigkeit, den der Mensch auf dem Weg der Gesetzeserfüllung nicht zu erreichen vermag (V 20), kommt nun jedem Glaubenden zu und zwar „geschenkweise (δωρεάν), dank der Gnade Gottes (τῇ αὐτοῦ χάριτι), durch die Erlösung, welche in Christus Jesus geschehen ist (διὰ τῆς ἀπολυτρώσεως τῆς ἐν Χριστῷ Ἰησοῦ)“. Innerhalb des Argumentationsgangs in V 19-26 steht diese Aussage von der Rechtfertigung aus der Gnade Gottes heraus in V 24 der negativen Aussage von einer Rechtfertigung durch Gesetzeswerke in V 20 gegenüber und sticht durch diese antithetische Gegenüberstellung besonders heraus. Das Passiv δικαιοῦσθαι kann grundsätzlich ohne Bezugnahme auf das handelnde Subjekt Gott einen Statuswechsel des Menschen zum Gerechtsein bezeichnen und daher mit „gerecht werden, als gerecht dastehen, sich als gerecht erweisen“ übersetzt werden.218 So hat Paulus schon in 3,20 die passivische Form δικαιωθήσεται πᾶσα σάρξ nicht mit der Präpositionalwendung „durch Gott (δι’ αὐτοῦ)“ verbunden, sondern mit der Wendung „vor Gott (ἐνώπιον αὐτοῦ)“ (vgl. auch 2,13; Gal 3,11). Bei einer passivischen Form des Verbs δικαιοῦν liegt der Impetus auf dem Wechsel des Zustands und nicht in der Frage, wer als Akteur hinter der Handlung steht. Doch muss in vorliegendem Kontext auch beachtet werden, dass Paulus in den folgenden Versen 3,26 und 3,30 das Verb in der Aktivform in Verbindung mit Gott als handelndem Subjekt verwendet. Diese Verwendungsweise des Verbs δικαιοῦν zeigt deutlich, dass für Paulus Gott derjenige ist, der den Heilsstand des Sünders dadurch wiederherstellt, diesen durch seinen Urteilsspruch als gerecht anzuerkennen. Aufgrund dieser Beobachtungen lässt sich festhalten, dass es bei der δικαιοῦσθαι-Aussage nicht bloß um einen Statuswandel des Menschen geht,

218 Das Passiv δικαιοῦσθαι setzt nicht immer zwingend einen Aktanten voraus, sondern kann auch einfach den Wechsel des Status zum Gerechtsein oder das Sein im Zustand der Gerechtigkeit beschreiben (vgl. GenLXX 38,26; 44,16; PsLXX 142,2; JesLXX 43,9.26).

Die Gerechtigkeit Gottes und seine universal gültige Rechtfertigung der Menschen: Röm 3,21-31

sondern dass das rechtfertigende Handeln Gottes schon als Ursache dieses Statuswandels vorausgesetzt ist.219 Diese Rechtfertigung des Sünders durch Gott erfolgt jedoch nicht bedingungslos. Wie in 3,21-22 und 3,24f deutlich wird, erlangt allein der an Christus Jesus Glaubende Gerechtigkeit von Gott. In welchem Sinne Gott, der nach 1,18-3,19 als gerechter Weltrichter jeden Sünder in seinem Zorngericht richtet, einem Sünder allein aufgrund des Christusglaubens dennoch Gerechtigkeit zusprechen kann, wird durch die an das Partizip δικαιούμενοι angeschlossenen adverbialen Bestimmungen δωρεὰν τῇ αὐτοῦ χάριτι διὰ τῆς ἀπολυτρώσεως τῆς ἐν Χριστῷ Ἰησοῦ näher erklärt. Entscheidend ist dabei auch die Erklärung im Relativsatz, der auf die Wendung Χριστῷ Ἰησοῦ folgt (V 25a), in welchem der Tod Jesu ausdrücklich als Heilshandeln Gottes dargestellt wird. Daher sind die Verse 24-25 von besonderer Wichtigkeit, da hier der Tod Jesu und dessen Bedeutung für die Sünder in Bezug auf das Heilsgeschehen Gottes expliziert wird. Um dabei richtig zu verstehen, worin Paulus die Heilsbedeutung des Todes Jesu sieht, ist es sehr wichtig, das semantische Profil der zentralen, mit dem Heilshandeln Gottes verbundenen Begriffe in V 24-25 möglichst genau zu klären. Zunächst soll dabei auf die ersten drei bedeutsamen Begriffe, δωρεάν, χάρις und ἀπολύτρωσις in V 24 eingegangen werden. Die zwei modalen Ausdrücke δωρεάν und τῇ αὐτοῦ χάριτι, die zwischen δικαιούμενοι und διὰ τῆς ἀπολυτρώσεως τῆς ἐν Χριστῷ Ἰησοῦ eingeschoben sind, charakterisieren die Art und Weise, auf welche die Rechtfertigung der Sünder erfolgt. Das Adverb δωρεάν ist ein erstarrter Akkusativ von δωρεά220 und kann im vorliegenden Kontext im Deutschen mit „geschenkweise“ oder „umsonst“ wiedergegeben werden. δωρεάν bringt daher zum Ausdruck, dass die Glaubenden die Rechtfertigung anders als bei einem Kauf oder Tausch umsonst und ohne äquivalente Gegenleistung als Geschenk erhalten.221 Im Zusammenhang mit der Feststellung in V 19-20 lässt sich die mit δωρεάν verbundene Aussage in V 24 folgendermaßen verstehen: Gott gibt den Menschen, welche das Gesetz übertreten haben und sich daher keine entsprechende Gegenleistung für die Rechtfertigung anrechnen lassen können, die Gerechtigkeit als ein Geschenk. Das Wort χάρις in der Formel τῇ αὐτοῦ χάριτι ist der zentrale Begriff, mit dem Paulus die Eigenart des Heilshandelns Gottes an den Sündern zum Ausdruck

219 Bei der passivischen Verwendung handelt es sich um die Verleihung des Status der Gerechtigkeit durch Gott an die Glaubenden. Man darf dies nicht überinterpretieren als ein Im-Glaubender-Gerechtigkeit-Gottes-teilhaftig-Werden, so wie dies Schlier macht (Römer, 108), oder als ein Ereigniswerden dieser Gerechtigkeit Gottes für den Glaubenden, wie bei Wolter (Römer I, 247.249.253). 220 Vgl. BAA, s.v. 221 Vgl. Flebbe, Solus Deus, 89f; Wolter, Römer I, 253f.

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bringt.222 Bevor die geläufige Wiedergabe mit „Gnade“ (bzw. im Englischen „Grace“) einfach übernommen wird, sollte man sich die Semantik des Begriffs genauer vor Augen führen.223 Die Wiedergabe mit „Gnade“ wird seinem vielfältigen semantischen Spektrum, wie es sich an zahlreichen Stellen der paganen griechischen Literatur zeigt, nicht gerecht. Von großer Wichtigkeit ist es dabei, die Semantik des Begriffs von seiner etymologischen Herkunft her zu betrachten. Das Substantiv χάρις ist mit dem Verb χαίρειν und dem Substantiv χαρά verwandt.224 Die bisher bekannten Belege zeigen, dass die Grundsemantik von χάρις mit „an jemandem Freude zu finden oder Wohlgefallen zu haben“ wiedergegeben werden kann.225 Bei dem Nebeneinander von χάρις und δωρεάν ist zu beachten, dass die beiden Begriffe keinesfalls als eine Tautologie zu verstehen sind, wie in der Forschung häufig behauptet wird. Während bei δωρεάν der Fokus darauf liegt, dass die Rechtfertigung als ein unverdient von Gott empfangenes Geschenk zu verstehen ist, wird mit χάρις die göttliche Gewogenheit den Glaubenden gegenüber betont. Durch den Ausdruck τῇ αὐτοῦ χάριτι stellt Paulus daher heraus, dass Gott den Glaubenden ohne besondere Vorbedingungen und ohne einen erfindlichen Grund, sondern schlicht aus Freude und Wohlgefallen Gerechtigkeit zuteilwerden lässt. In 4,4 wird dieser semantische Gehalt von χάρις durch den metaphorischen Vergleich des Arbeitenden (ἐργαζομένῳ) mit dem Nichtarbeitenden (μὴ ἐργαζομένῳ) nochmals unterstrichen.226 Paulus kombiniert beide Ausdrücke χάρις und δωρεάν und un-

222 Vgl. Bultmann, Theologie, 287ff; Conzelmann, s.v. (ThWNT); Breytenbach, Interpretationen, 321f. 223 Breytenbach weist zu Recht auf die Problematik der im Englischen gängigen Übersetzung von χάρις mit „grace“ hin, welche vom lateinischen Begriff gratia geprägt ist. Stattdessen schlägt er die Wiedergabe von χάρις mit „favour“ vor und von ἔλεος mit „pity“ oder „mercy“ (vgl. „Charis“, 247f). 224 Vgl. Conzelmann, s.v. (ThWNT). 225 Vgl. Conzelmann, s.v. (ThWNT). In der Forschung ist die Tendenz anzutreffen, die Verwendung von χάρις bei Paulus vor dem Hintergrund des Gunsterweises des Kaisers zu erklären (vgl. Harrison, Grace, 57–63). Allerdings darf nicht übersehen werden, dass der Terminus in der LXX häufig sowohl im Kontext des menschlichen Miteinanders als auch mit Blick auf die Relation zu Gott gebraucht wird. An vielen alttestamentlichen Stellen wird gesagt, dass ein Mensch Gnade bei Gott gefunden hat oder ein Mensch um die gnädige Zuwendung Gottes bittet (GenLXX 6,8; ExLXX  33,1213.16-17; 34,9; PsLXX 83,12; SprLXX 3,34). Hinzu kommt, dass Paulus den Begriff χάρις auf Gott den Vater und nicht den Kaiser bezieht (vgl. 1Thess 1,1; 1Kor 1,3; 2Kor 1,2; Gal 1,3; Phil 1,2 (vgl. auch 2Thess 1,2; 2,26; Eph 1,2; Kol 1,2; 1Tim 1,2; 2Tim 1,2; Tit 1,4; Phlm 3). 226 Der Gedanke von der göttlichen Gunst und ihrer zentralen Rolle im göttlichen Handeln wird in den folgenden Abschnitten weiter ausgeführt. Nach Röm 4,13f ist die grundlose souveräne Gunst Gottes nicht nur der Ausgangspunkt für die Rechtfertigung, sondern auch für die Teilhabe der Glaubenden an der Verheißung an Abraham. Wenn Paulus sagt, dass die Menschen durch den Glauben an Christus den Zugang zur Gunst Gottes erhalten haben und immer noch in diesem Stand stehen (5,2), dann ist die Gunst Gottes schlechthin das grundlegende, die Existenz der Glaubenden bestimmende Prinzip. In diesem Sinne kann Paulus auch sagen, dass die Gunst Gottes

Die Gerechtigkeit Gottes und seine universal gültige Rechtfertigung der Menschen: Röm 3,21-31

terstreicht damit die Tatsache, dass der sündige Mensch ohne einen bestimmten Grund und ohne Vorleistung von Gott als Gerechter anerkannt wird.227 Diese Verknüpfung von δωρεάν und χάρις begegnet auch in Röm 5,17, wo Paulus die durch das Christusgeschehen an die Glaubenden vermittelte Gerechtigkeit als Geschenk bezeichnet und auf die göttliche Gunst als ihren Ursprung zurückführt. Der Begriff ἀπολύτρωσις bezeichnet im profanen Griechisch normalerweise die Auslösung aus der Sklaven-, Kriegsgefangenen- oder Schuldnerschaft durch eine Lösegeldzahlung.228 Der Akzent der Wortbedeutung liegt also nicht auf der Aktion des Loskaufens an sich, sondern auf dem durch das Loskaufen bewirkte Ergebnis, dass eine gefangene oder versklavte Person durch den Loskauf befreit wird und dadurch wiederum in eine Abhängigkeit gegenüber dem Bezahlenden gerät.229 Im Neuen Testament wird ἀπολύτρωσις überwiegend im übertragenen Sinne mit einer soteriologischen Bedeutung verwendet und bezieht sich entweder auf die durch Jesus Christus bewirkte Erlösung von den Sünden und deren Unheilsfolgen (vgl. 1Kor 1,30; Eph 1,7; Kol 1,14; Heb 9,15) oder auf die eschatische Erlösung, die den Christen in der zukünftigen Heilszeit widerfahren wird (vgl. Lk 21,28; Röm 8,23; Eph 1,14; 4,30).230 Die Verwendung von ἀπολύτρωσις in Röm 3,24 ist der ersten Gebrauchsweise zuzuordnen und bezeichnet somit das Geschehen der Erlösung aus den Sünden und deren Unheilsfolge.231 Die attributive Näherbestimmung ἐν Χριστῷ Ἰησοῦ macht deutlich, durch wen diese Auslösung der Glaubenden aus den Sünden verwirklicht wurde, nämlich durch Christus Jesus, der am Kreuz gestorben ist. Der Tod Jesu Christi ist daher als der Ermöglichungsgrund für die Erlösung der Glaubenden von den Sünden anzusehen. Diesen Gedanken spricht Paulus auch in 1Kor 1,30 aus: „Die Glaubenden sind in Christus Jesus, der Gottes Weisheit ist, gerechtfertigt, geheiligt und erlöst.“232

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über die Glaubenden herrscht, bis sie am ewigen Leben teilhaben. Die Glaubenden stehen nicht unter dem Gesetz, sondern unter der Gunst Gottes (οὐ γάρ ἐστε ὑπὸ νόμον ἀλλὰ ὑπὸ χάριν: 6,14). Im Fehlen einer notwendigen Bedingung liegt ein gemeinsames Element der sich sonst unterscheidenden Begriffe δωρεάν und χάρις. Keinesfalls kann der Begriff χάρις aber ohne eine Unterscheidung von δωρεάν mit „umsonst“, „geschenkweise“ wiedergegeben werden. Vgl. BAA, s.v. Hiermit möchte ich die Semantik des Begriffs ἀπολύτρωσις von der des ἐλευθερία unterscheiden. Vgl. auch Spicq, s.v.; Flebbe, Solus Deus, 92f. Kennzeichnend ist, dass der Begriff ἀπολύτρωσις im Neuen Testament vorwiegend keinen bestimmten Kaufpreis impliziert und das Heil der Glaubenden als Erlösung aus Sünden und dem daraus folgenden Unheil bezeichnet. Nur bei der Verwendung in Eph 1,14 findet sich im Zusammenhang mit περιποιήσις ausdrücklich die Bedeutungsnuance eines Loskaufs. Vgl. Flebbe, Solus Deus, 92f. Vgl. Eschner, Gestorben, 35; Wolter, Römer I, 254f. Für das Verständnis des Sinngehaltes von 1Kor 1,30 muss die syntaktische Struktur genau beachtet werden. Der vorliegende Text lautet: „ἐξ αὐτοῦ δὲ ὑμεῖς ἐστε ἐν Χριστῷ Ἰησοῦ, ὃς ἐγενήθη σοφία ἡμῖν ἀπὸ θεοῦ, δικαιοσύνη τε καὶ ἁγιασμὸς καὶ ἀπολύτρωσις.“ Anders als die meisten Exegeten,

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Auch an dieser Stelle stehen die Begriffe Gerechtigkeit (δικαιοσύνη) und Erlösung (ἀπολύτρωσις) nebeneinander. In 1Kor 1,31 steht ἀπολύτρωσις als eine der Heilsfolgen auf derselben Ebene wie δικαιοσύνη und ἁγιασμός. In Röm 3,24 führt Paulus die ἀπολύτρωσις allerdings als die Grundlage der Rechtfertigung ein.233 Damit verdeutlicht er, dass die durch Christus geschehene Auslösung aus der Sünde der Grund dafür ist, dass der Glaubende von Gott als Gerechter anerkannt wird. 1.3.2.2 Der Tod Christi als von Gott hingestelltes ἱλαστήριον (V 25a)

Zu der Frage, in welchem Sinne Christus Jesus der Heilsmittler ist, der die Erlösung und die Rechtfertigung der Sünder möglich macht, gibt Paulus im Relativsatz V 25 eine weitere Erklärung.234 Der sich auf Χριστῷ Ἰησοῦ beziehende und damit die Person näher bestimmende Relativsatz ist eine Deutungssaussage seines Todes. Die Formulierung ἐν τῷ αὐτοῦ αἵματι verdeutlicht dabei, dass es sich bei dem in V 25 beschriebenen Vorgang um den Kreuzestod Jesu handelt, bei dem dessen Blut vergossen worden ist. Paulus bezeichnet dabei „Christus Jesus“ in Bezug auf

die δικαιοσύνη τε καὶ ἁγιασμὸς καὶ ἀπολύτρωσις auf ὃς ἐγενήθη beziehen, möchte ich darauf hinweisen, dass der Relativsatz vor δικαιοσύνη τε καὶ ἁγιασμὸς καὶ ἀπολύτρωσις endet und die drei Begriffe als Attribut von ὑμεῖς zu verstehen sind. Es ist nicht die Rede davon, dass Jesus Christus ausgelöst worden und deshalb gerecht und heilig ist, sondern dass die Glaubenden in Jesus Christus sind und durch ihn die Gerechtigkeit, Heiligkeit und Erlösung erlangt haben. Die Formulierung in 1Kor 6,11, in der die Verbalausdrücke ἡγιάσθητε und ἐδικαιώθητε stehen, stützt diese Interpretation. Wichtig ist, dass Paulus δικαιοσύνη, ἁγιασμός und ἀπολύτρωσις an keiner Stelle in Bezug auf Jesus Christus verwendet. 233 Anders Wolter, Römer I, 255. Er versteht den Zusammenhang zwischen δικαιούμενοι und διὰ τῆς ἀπολυτρώσεως τῆς ἐν Χριστῷ Ἰησοῦ so, dass „die Erlösung und die Rechtfertigung in eins fallen“. Besser fügt es sich aber in die syntaktische Struktur ein, wenn man διὰ τῆς ἀπολυτρώσεως instrumental versteht. 234 Nachdem Bultmann in seiner Theologie des Neuen Testaments die These aufgestellt hat, dass Paulus hier ein aus der hellenistischen Urgemeinde stammendes Traditionsstück zitiere, sind ihm viele in dieser Ansicht gefolgt (z. B. Käsemann, Römer, 89–91; Stuhlmacher, Gerechtigkeit Gottes, 88f; Kertelge, Rechtfertigung, 51–53). Der Umfang dieses Traditionsstückes wurde dabei zwar unterschiedlich abgesteckt, in jüngster Zeit scheint sich aber dahingehend ein Konsens herauszubilden, dass zumindest die V 25-26a oder bis Ende V 26 als vorpaulinisch anzusehen sind (vgl. Wilckens, Römer I, 183f; Wengst, Formeln, 87f; Strecker, Befreiung, 501f; Lohse, Märtyrer, 149–154; Zeller, Gottes Gerechtigkeit, 63f; Gaukesbrink, Sühnetradition, 229f; Janowski, Sühne, 350; Knöppler, Sühne, 118f; Flebbe, Solus Deus, 117 u. a.). Allerdings hat es daran auch starken Zweifel und Kritik gegeben (vgl. Kuss, Römer, 160; Cranfield, Romans I, 200f; Schlier, Römer, 107; Moo, Romans, 220f; Schreiner, Romans, 188f; Hultgren, Romans, 153 u. a.). Mit Wolter gehe ich davon aus, dass die Hapaxlogomena, das Nebeneinander von διὰ τῆς πίστεως und ἐν τῷ αὐτοῦ αἵματι und die Parallelität von εἰς ἔνδειξιν τῆς δικαιοσύνης αὐτοῦ und πρὸς τὴν ἔνδειξιν τῆς δικαιοσύνης αὐτοῦ nicht notwendigerweise als Indizien für die Aufnahme eines Traditionsstücks verstanden werden müssen und Paulus diese Wendungen auch selbst formuliert haben kann (vgl. Wolter, Römer I, 244f).

Die Gerechtigkeit Gottes und seine universal gültige Rechtfertigung der Menschen: Röm 3,21-31

seinen Tod als ἱλαστήριον, das Gott selbst offen hingestellt hat. Auf diese Weise wird der Tod Jesu als ein göttliches Handeln im Rahmen des Heilsplans vorgestellt, durch das der vorherbestimmte Heilswille Gottes zur Vollendung kommt. Bevor allerdings der Textsinn der Wendung προέθετο ὁ θεὸς ἱλαστήριον κτλ. im Ganzen in den Blick genommen werden kann, sollte zunächst der Begriff ἱλαστήριον in seiner Semantik und vor seinem traditionsgeschichtlichen Hintergrund untersucht werden, weil er von entscheidender Bedeutung für das Verständnis des gesamten Textzusammenhangs ist. Exkurs: Die Bedeutung von ἱλαστήριον in Röm 3,25 Über das semantische Profil und den traditionsgeschichtlichen Hintergrund des Begriffs ἱλαστήριον, der im Text die Bedeutung des Todes Jesu näher bestimmt, hat es in der Forschung bereits viele Diskussionen gegeben. Eine mehrfach vertretene Meinung ist, dass Paulus mit ἱλαστήριον auf den großen Versöhnungstag in Lev 16 anspielt und es in Röm 3,25 daher als „Sühneort“ (bzw. als „Ort der sühnenden Gegenwart“ oder „Ort der Kondeszendenz Gottes“235 ) oder „Sühnemittel (bzw. -mal)“236 zu verstehen ist.237 Dieses Verständnis geht

235 So gehen einige Exegeten vorschnell vom Sprachgebrauch von ἱλαστήριον in Bezug auf den Kultgegenstand der Deckplatte (‫ )כפרת‬zu einer theologischen Deutung über (vgl. Klaus, Tod Jesu, 150ff; Gaukesbrink, Sühnetradition, 231; Janowski, Sühne, 350–354; Söding, Sühne, 379f; Schreiber, Weihegeschenk, 94; Wolter, Paulus, 107). Präferiert wird von diesen Exegeten das Verständnis von ἱλαστήριον als „Ort der Gottesgegenwart“, da sie in Anbetracht der Belege in der LXX die Wiedergabe mit „Sühneort“ für unpassend erachten. 236 Vgl. Conzelmann, Rechtfertigungslehre, 396; Wilckens, Römer I, 190ff; Roloff, ‚ἱλαστήριον‘ (EWNT), 456; Hübner, Sühne, 126f; Barth, Tod Jesu, 39f; Stuhlmacher, Römer, 55–57; ders., Exegese, 120ff; Fitzmyer, Romans, 349f; Hultgren, Romans, 147; Schnelle, Paulus, 481ff; Kraus, Tod Jesu, 150–157; Breytenbach, Versöhnung, 166ff; Gaukesbrink, Sühnetradition, 230ff; Knöppler, Sühne, 113ff; Janowski, Sühne, 350ff; ders., Leben für andere, 110f; Jewett, Romans, 284ff; Wolter, Römer I, 256ff; ders., Paulus, 107f. Damit sind alle diejenigen Exegeten aufgeführt, bei deren Interpretation von ἱλαστήριον in Röm 3,25 Lev 16 im Hintergrund steht. Bei ihnen finden sich jedoch verschiedene Deutungsvarianten („Sühnemittel, -mal, -opfer oder -ort“). M. E. sind diese Nuancen von geringerer Bedeutung, da es entscheidend darauf ankommt, wie das substantivierte Adjektiv ἱλαστήριον im Kontext von Lev sowie im Kontext bei Paulus sachgemäß wiedergegeben werden kann. 237 Um die Angemessenheit des Verständnisses von ἱλαστήριον mit dem Begriff „Sühne“ für die Deutung des Todes Jesu in Röm 3,25 zu überprüfen, muss zunächst zwischen Sühne als Begriff der interpretierenden Sprache des Exegeten und Sühne als Begriff der Quellensprache unterschieden werden (vgl. Breytenbach, Gnädigstimmen, 420f; Schröter, Sühne, 51ff; Wolter, Paulus, 101ff). Viele Exegeten gehen aufgrund dieser Differenzierung davon aus, dass der Begriff „Sühne“ in der paulinischen Deutung des Todes Jesu nicht vorkommt (vgl. Breytenbach, Stellvertretung, 66f; Schröter, 58ff; Wolter, Paulus, 102f). Der deutsche Begriff „Sühne“ wird gewöhnlich folgendermaßen verstanden: Er „gehört seiner Herkunft nach in den Bereich des germanischen Rechtswesens, ist mit demjenigen der ‚Versöhnung‘ ethymologisch verwandt und bezeichnet die Beilegung von

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davon aus, dass ἱλαστήριον im Zusammenhang mit dem Gebrauch des Begriffs ‫ כפר‬in Lev 16 und damit mit dem kultischen Blutritus am großen Versöhnungstag steht. Damit wird ferner angenommen, dass Paulus das Sterben Jesu in Röm 3,25 als eine Überbietung des Tempelkults darstellt.238 Mit dieser Deutung ergeben sich allerdings einige Probleme. Erstens ist zu beachten, dass als Wiedergabe von ἱλαστήριον in Röm 3,25 „Sühneort“ oder „Sühnemittel“ nur dann in Frage kommen, wenn sich dieses Verständnis des Begriffs nicht nur im Kontext von Röm 3,25, sondern auch bei der Verwendung an den anderen Belegstellen als zutreffend erweisen lässt. Das gängige Verständnis als „Sühneort/-mittel“ scheint allerdings schon im Blick auf die Verwendung in der LXX als nicht plausibel. Der Begriff bezeichnet in der LXX nämlich durchgängig die Deckplatte auf der Bundeslade oder einen bedeckenden bzw. umschließenden Gegenstand und an keiner Stelle explizit einen Ort der Sühne oder einen sühnenden Gegenstand (s. u.). Zweitens bietet die Verwendung des Begriffs ἱλαστήριον in Verbindung mit dem Wort αἷμα allein noch kein hinreichendes Argument für die Annahme, dass Paulus mit diesem Begriff auf den in Lev 16 beschriebenen großen Versöhnungstag anspielen wollte. Denn ἱλαστήριον ist außer in Lev 16 und ohne Bezugnahme auf den dort geschilderten Blutritus in Verbindung mit αἷμα auch anderswo belegt (vgl. 4Makk 17,2122). Überdies ist ἱλαστήριον ein substantiviertes Adjektiv, das in Röm 3,25 ohne Artikel verwendet wird. Syntaktisch bezieht es sich als Attribut auf das Akkusativobjekt ὅν (womit Χριστός Ἰησοῦς gemeint ist). Es wäre somit falsch, anstelle der Referenz auf Jesus Christus für ἱλαστήριον eine andere Referenz zu suchen und diese weiterhin auf einen bestimmten Gegenstand wie etwa auf die Deckplatte der Bundeslade (‫ )כפרת‬zu beziehen.239

Streitigkeiten bzw. die Wiedergutmachung geschehenen Unrechts“. (Schröter, Sühne, 61). Zu dieser Definition vgl. auch Janowski, Sühne, 3f; Grimm, Deutsches Wöterbuch 20, 1012–1022. 238 So z. B. Stuhlmacher, Exegese, 132; Breytenbach, Versöhnung, 170; Janowski, Sühne, 352; Gaukesbrink, Sühnetradition, 232f. 239 Vgl. Breytenbach, Versöhnung, 166f. Außer dem syntaktischen Problem ergibt sich bei den Interpretationen, die die Verwendung von ἱλαστήριον in Lev 16 zur Erklärung des Verses heranziehen, noch ein weiteres. Setzt man nämlich Christus Jesus im typologischen Sinne mit der ‫ כפרת‬gleich, ergibt sich eine sinnlose Aussage; Lohse kommentiert hierzu: „Wäre Christus mit der ‫ כפרת‬verglichen worden, so würde der Vergleich … dadurch schief, daß ja eben das Blut Christi an die ‫כפרת‬, die er selbst wäre, gesprengt werden müßte.“ (Märtyrer, 152). Viele weitere Exegeten folgen dieser Einsicht (vgl. Wengst, Formeln, 83; Barth, Tod Jesu Christi, 39f; Schrage, Römer, 3,21-26, 78; Haacker, Römer, 91, Anm. 8; Schnelle, Paulus, 508, Anm. 3; Schreiber, Weihegeschenk, 96; Schumacher, Entstehung, 334). Im Hinblick auf den kultischen Vollzug wäre es sinnvoller, wenn Jesus Christus mit dem Blut vergießenden Opfertier verglichen würde. Dagegen bezieht sich der Begriff ἱλαστήριον bei der Ausführung des Kultvorganges in Lev 16 niemals auf das Opfertier, sondern stets auf die Deckplatte der Lade. In Röm 3,25 kommt der Tod Jesu allerdings eindeutig mit Hilfe des Begriffs αἷμα zum Ausdruck und Jesus Christus wird als das von Gott hingestellte ἱλαστήριον beschrieben. Diese Beobachtungen lassen es als unwahrscheinlich erscheinen, dass die Verwendung von ἱλαστήριον in Röm 3,25 auf den Blutritus am großen Versöhnungstag anspielt. Einige Exegeten versuchen in alternativer Weise die Verwendung ἱλαστήριον in Röm 3,25 in eine

Die Gerechtigkeit Gottes und seine universal gültige Rechtfertigung der Menschen: Röm 3,21-31

Aus der syntaktischen Struktur des Verses geht hervor, dass Paulus mit dem Terminus ἱλαστήριον den Tod Jesu mit der umfassenden Bedeutung dieses Begriffs versehen will.

Paulus bringt durch die Verwendung von ἱλαστήριον somit in Röm 3,25 zum Ausdruck, welche positive Wirkung bzw. Funktion der Tod Christi für diejenigen hat, die auf ihn als den heilwirkenden Tod vertrauen. Das in Röm 3,25 auf den Tod Jesu bezogene ἱλαστήριον kann somit weder typologisch noch metaphorisch auf den Sprachgebrauch von ἱλαστήριον in Lev 16 hingedeutet werden, wo es die Deckplatte der Bundeslade bezeichnet. Denn beide Auslegungsarten, die typologische ebenso wie die metaphorische, setzen gleichermaßen voraus, dass die Verwendung von ἱλαστήριον in Bezug auf den Tod Christi in Röm 3,25 mit dem Sprachgebrauch in Lev 16 verbunden ist.240 Was für eine Heilsbedeutung ist dann aber mit ἱλαστήριον verbunden? Für die Beantwortung dieser Frage muss zunächst die Semantik von ἱλαστήριον erhellt werden. Dies soll durch eine erneute gründliche Untersuchung aller einschlägigen Belege dieses Terminus erreicht werden. Dabei wird sich zeigen, dass bei den bisherigen Deutungsversuchen („Versöhnungs- oder Sühneort bzw. -mittel“ sowie „Weihegeschenk“) die grundlegende Semantik des Begriffs ἱλαστήριον noch nicht zufriedenstellend herausgearbeitet worden ist.241 Zunächst ist auf die Belege in der LXX einzugehen, wo der Begriff in verschiedenen Kontexten verwendet wird, weshalb sich eine semantische Untersuchung der Belegstellen besonders lohnt. Wie bereits erwähnt, bezeichnet ἱλαστήριον in der LXX häufig die Deckplatte (‫ )כפרת‬auf der Lade im Allerheiligsten, in der die Gesetzestafeln aufbewahrt werden (ExLXX 25,17-22; 31,7; 35,12; 38,5.7f; LevLXX 16,2.13-15; NumLXX 7,89).242 ἱλαστήριον referiert in diesem Fall somit auf ein rechteckiges Stück Goldblech, welches in seinen Maßen genau denen der Bundeslade entspricht, auf der es liegt. Diese Goldplatte ist mit zwei Cheruben aus getriebenem Gold geschmückt, unter deren ausgebreiteten Flügeln Gott sich Mose offenbart hat. Wenn man versuchen wollte, an den genannten Belegstellen den Begriff ἱλαστήριον mit „Sühneort oder -mittel“ zu verstehen, wird die Unangemessenheit einer solchen Wiedergabe deutlich.243 ἱλαστήριον kann nämlich an den genannten Belegstellen als etwas „Bedeckendes“, „Umschließendes“ oder einfach als eine „Decke“ verstanden werden. Es ist gut vorstellbar, dass der Übersetzer der hebräischen Bibel ‫ כפרת‬mit ἱλαστήριον

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Verbindung mit Lev 16 zu bringen, indem sie den Begriff als eine funktionelle Metapher verstehen (vgl. Wolter, Römer I, 258f; Janowski, Leben für andere, 110f). Allerdings ergibt sich zwischen der typologischen und dieser metaphorischen Interpretation kein Unterschied, da das artikellose Wort ἱλαστήριον immer noch bezogen auf den Blutritus in Lev verstanden wird. Vgl. Wolter, Römer I, 258f. Deißmann, ἱλαστήριον, Kraus, Tod Jesu, und Schreiber, Weihegeschenk, bieten einen umfassenden Überblick über die bisher bekannten Belege für ἱλαστήριον. An der ersten Belegstelle ExLXX 25,17 wird ἱλαστήριον als Adjektiv verwendet und ‫ כפרת‬wird mit ἱλαστήριον ἐπίθεμα (bedeckender Aufsatz) wiedergegeben. Vgl. Schreiber, Weihegeschenk, 93.

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wiedergegeben hat, weil das Wort der Semantik des Wortes ‫כפרת‬, das etwas „Bedeckendes“ bedeutet, sehr nahekommt. Der Begriff bezieht sich in der LXX aber nicht ausschließlich auf die Deckplatte der Bundeslade. In EzLXX 43,14.17.20 steht er für den hebräischen Terminus ‫( עזרה‬Einfassung), also für den oberen und unteren Teil des Brandopferaltars (θυσιαστήριον), welche den eigentlichen Altar umfassen. Deutlich ist, dass sich ἱλαστήριον hier wie bei der Verwendungsweise in Bezug auf die Deckplatte der Bundeslade ebenfalls auf eine Platte bezieht, die etwas bedeckt, zudeckt oder umschließt. Fraglich ist nun also, ob die Wiedergabe von ‫ עזרה‬mit ἱλαστήριον auf die Weise erklärt werden kann, dass die LXX-Übersetzer den Terminus ἱλαστήριον aus dem Grund ausgewählt haben, weil der Brandopferalter wie die Bundeslade an einem kultischen Ort steht und auf ihm ein sühnender Ritus mit Blutapplikation vollzogen wird.244 Allerdings ist zu beachten, dass ἱλαστήριον sich hier nicht auf den gesamten Brandopferaltar, sondern nur auf einzelne seiner Teile bezieht, nämlich auf den oberen und den unteren Absatz. Damit stellt sich aber die Frage, in welchem Sinne die den Opferaltar umschließenden Absätze ein Sühneort sein können. Das zeigt, dass dieser Interpretationsversuch durch eine theologische Vormeinung eingefärbt ist, nach der der Terminus ἱλαστήριον von Vornherein mit dem Sühnegedanken zusammenhängt.245 Aus der Analyse des unmittelbaren Kontextes legt sich dagegen vielmehr die Vermutung nahe, dass die Übersetzer den hebräischen Terminus ‫ עזרה‬mit ἱλαστήριον wiedergegen haben, weil er eine Einfassung bezeichnet, die den Brandopferaltar bedeckt und umschließt. Das Vorkommen von ἱλαστήριον in GenLXX 6,16 (Symmachus) und AmLXX 9,1 zeigt weiterhin, dass das Wort unabhängig vom kultischen Kontext und damit ganz ohne Bezugnahme auf die Bundeslade oder den Brandaltar auf einen bedeckenden, zudeckenden oder umschließenden Gegenstand referiert. An den genannten Stellen bezeichnet ἱλαστήριον nämlich zum einen die Arche des Noah und zum anderen ein Säulenkapitell. Die Wiedergabe ἱλαστήριον durch Symmachus für ‫ תבה‬in GenLXX 6,16 wird in der Forschung häufig als miss- oder unverständliche Übersetzung angesehen.246 Sie wird jedoch verständlich, wenn man sich vor Augen hält, dass der hebräische Terminus ebenso wie der für seine Wiedergabe in anderen griechischen Übersetzungen verwendete Begriff κιβωτός eine Kiste mit einer Aufbewahrungsfunktion bezeichnet. Darüber hinaus lässt sich die Wiedergabe des hebräischen Wortes mit ἱλαστήριον im Symmachus-Text durch das Vorkommen der Verbalform ‫ כפר‬in V 14 erklären, welche denselben Stamm besitzt wie das Substantiv ‫כפרת‬.247 Die Arche ist also eine Art Kiste, die innen und außen mit Pech abgedichtet ist (V 14), um die in ihr befindlichen Menschen und Tiere vor dem Wasser zu schützen. Wenn man sich die Betonung des Abdichtens der Arche und ihre Funktion sowie die Grundbedeutung von

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So aber Deißmann, ἱλαστήριον, 196; Kraus, Tod Jesu, 61f.154f; Schumacher, Entstehung, 340f. Dieser Einwand gilt auch für die Auffassung von ἱλαστήριον in GenLXX 6,16 und AmLXX 9,1. Vgl. Schreiber, Weihegeschenk, 94, Anm. 24; Wolter, Römer I, 256. Vgl. Wolter, Römer I, 256. ‫ כפרת‬ist ein von ‫ כפר‬im Piel abgeleitetes und semantisch verwandtes nomen actoris (vgl. Deißmann, ἱλαστήριον, 200f).

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ἱλαστήριον als Bezeichnung von etwas, das bedeckt oder umschließt, vor Augen führt, ist

die griechische Übersetzung von ‫ תבה‬mit ἱλαστήριον alles andere als unplausibel, sondern eine durchaus passende Übertragung.248 Ebenfalls wird die Verwendung von ἱλαστήριον für ‫ כפתור‬in AmLXX 9,1 verständlich, wenn es als die Bezeichnung für etwas Umschließendes oder Bedeckendes verstanden wird. Es bezeichnet nämlich das Kapitell und damit den oberen Teil einer Säule in einem Tempel, auf das der Prophet schlagen soll, damit die Türschwellen erbeben. Bisher wurde die Übertragung mit ἱλαστήριον an dieser Stelle zumeist für einen Übersetzungsfehler gehalten249 oder dadurch erklärt, dass es sich bei der Säule um eine Kultanlage im Betheler Heiligtum handelt und das Säulenkapitell daher mit ἱλαστήριον übersetzt werden konnte.250 Doch dieser Vorschlag erscheint nicht plausibel. Bedenkt man hingegen, dass ein Kapitell der obere, abdeckende Teil einer Säule ist, so ist seine Bezeichnung mit ἱλαστήριον sinnvoll und stimmt mit der lexikalischen Bedeutung von ‫ כפתור‬überein. Aus den bisherigen Analysen ist deutlich geworden, dass die LXX-Übersetzer ἱλαστήριον durchgängig in Bezug auf einen Gegenstand mit bedeckender und umschließender Funktion verwenden und an keiner Stelle im Sinne von Sühneort oder -mittel bzw. in Bezug auf einen sühnenden Gegenstand. Außerdem ist deutlich geworden, dass es beim Gebrauch von ἱλαστήριον nicht notwendig um einen Ort im Allgemeinen oder um einen zentralen Ort am jeweiligen Heiligtum geht.251 Neben den LXX-Stellen gibt es noch weitere Belege für ἱλαστήριον aus der frühen römischen Kaiserzeit. Da diese Belege einen entscheidenden Beitrag für das semantische Verständnis von ἱλαστήριον leisten, seien sie im Folgenden einzeln aufgeführt:252 (1) W.R. Platon/E.L. Hicks, The inscriptions of Cos, Nr. 80 Das Volk (hat) den Göttern für das Heil des Imperator Caesar, Sohn eines Vergöttlichten, Augustus, das ἱλαστήριον (geweiht).

248 Deißmann versucht die Verwendung von ἱλαστήριον in Gen 6,16 als eine zutreffende Übersetzung zu erklären: „… die Arche Noahs als ἱλαςτήριον bezeichnet, offenbar deshalb, weil sie der Gnadenort war: wer in der Arche sich barg, dem war Gott gnädig.“ (ἱλαστήριον, 196; ähnlich Manson, ἹΛΑΣΤΗΡΙΟΝ, 4; Mollaun, ἹΛΑΣΤΗΡΙΟΝ, 74f). Diese Erklärung ist jedoch nicht mit der Semantik des Begriffs begründet, sondern mit einem theologischen Gedankengang überfrachtet. 249 Für den Beleg von ἱλαστήριον in Am 9,1 nehmen einige Exegeten an, dass die Übersetzung von ‫ כפתור‬mit ἱλαστήριον auf einen Lesefehler des Übersetzers zurückgeht, bei dem ‫ כפרת‬statt ‫ כפתור‬gelesen wurde (vgl. v. a. Knöppler, Sühne, 37, Anm. 180; Schreiber, Weihegeschenk, 94; Wolter, Römer I, 256). Vertraut man dagegen der Sprachkompetenz des Übersetzers, ist anzunehmen, dass dieser ‫ כפתור‬mit ἱλαστήριον wiedergeben wollte, weil das hebräische Wort ‫ כפתור‬den oberen Teil einer Säule bezeichnet, der diese von oben abdeckt. 250 Vgl. Kraus, Tod Jesu, 24.154. 251 Anders Kraus, Tod Jesu, 31f; Janowski, Sühne, 350ff. 252 Die in (1) – (6) aufgeführten Übersetzungen sind A. Weiß, Weihegeschenk entnommen. Außer den angeführten Belegen gibt es noch zwei weitere Belege des Begriffs ἱλαστήριον, nämlich Aelius Herodianus et Pseudo-Herodianus Gramm., Rhet. Und P. Fay, Nr. 337. Doch für die semantische Untersuchung sind die zwei letztgenannten Belege nicht weiterführend (vgl. Kraus, Tod Jesu, 27f).

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(2) W.R. Platon/E.L. Hicks, The inscriptions of Cos, Nr. 347 Das Volk von Haleis (hat) … dem Augustus, dem Zeus Stratios als ἱλαστήριον (geweiht), unter dem Damarchen Gaius Norbanus Moschion, dem Kaiserfreund. (3) Bullettino del Museo dell’Impero Romano, Nr. 11 Als ἱλαστήριον (haben dies geweiht) den Göttern für das Heil des Tiberius Caesar, Sohn eines Vergöttlichten, des Gottes, Augustus, und der lulia Augusta die Hierophylaken Marcus Sthenius, Sohn des Lucius, und Thyrsos, Sohn des Thyrsos, und Apollonides, Adoptivsohn des Thearetes, natürlicher Sohn des Apollonides, die Kaiserfreunde. (4) SEG LIV 796 Das Volk von Halasarna (hat dies) als ἱλαστήριον dem Apollon (geweiht) für Theudamos, Sohn des Attalos. (5) Chr. Blinkenberg/K.F. Kinch, Lindos 2, Inschriften, Nr. 425 Dem Höchsten Gott (haben) Thrasylochos Moriageneus, der Priester der Kindischen Athena und des Zeus der Stadt (= Lindos), und die Einwohner der Stadt Lindos (dies als) ἱλαστήριον (geweiht). (6) Tempelchronik von Lindos B 49, Z. 48-53253 Telephos (weihte) eine Schale mit goldenem Buckel, auf der geschrieben stand: ‚Telephos der Athena als ἱλαστήριον, wie der Lykische Apollon gesagt hat.‘ Über diese Dinge schreibt Xenagoras im ersten Buch seines Werkes ‚Über Rhodos‘, Gorgosthenes in seinem Brief, Hieroboulos in seinem Brief. (7) Dio Chrysostomus, Or 11,121 Denn sie (sc. die Griechen) lassen ihnen zurück ein sehr schönes und großes Weihegeschenk für Athena mit der Inschrift: Die Achaier (geben) ἱλαστήριον für die Athena Ilias. In den paganen Belegen bezieht sich ἱλαστήριον auf verschiedene Gegenstände, die den Göttern gestiftet wurden: eine Statue, ein Denkmal oder eine Trinkschale. Diese Weihegaben dienen dem Zweck, die Gottheit gnädig zu stimmen oder zu beschwichtigen, um nicht von der zornigen Strafe der Gottheit getroffen zu werden. Aufgrund dieses Befundes in paganen Texten verstehen einige Ausleger ἱλαστήριον allgemein als „Weihegeschenk“ oder

253 Hierbei handelt es sich um die Inschrift auf einer Stele in Lindos auf Rhodos, die auf das Jahr 99 v. Chr. datiert wird und eine Auflistung von im Tempel aufgestellten Weihegaben enthält.

Die Gerechtigkeit Gottes und seine universal gültige Rechtfertigung der Menschen: Röm 3,21-31

„Weihegabe“.254 Dieses Verständnis scheint auf den ersten Blick sehr gut in den Kontext der oben angeführten Belege zu passen.255 Doch darf diese Auffassung nicht vorschnell auf die Bedeutung des Begriffs ἱλαστήριον übertragen werden.256 Der nähere Kontext in der Tempelchronik von Lindos und in Dio Chrysostomus, Or 11,121 zeigt, dass der Begriff ἱλαστήριον nicht einfach als Synonym für ἀνάθημα verstanden werden kann, sondern eine andere spezifische Bedeutung hat.257 Außerdem lässt sich die Wiedergabe mit „Weihegeschenk“ nicht mit den oben genannten Kontexten der LXX-Belege in Übereinstimmung bringen, wo der Begriff ἱλαστήριον meist einen Gegenstand bezeichnet, der eine bedeckende Funktion hat.258 Daher ist zu überlegen, wie der Sprachgebrauch in den paganen Texten einerseits und in der LXX andererseits auf eine gemeinsame Grundbedeutung zurückgeführt werden kann.259 Man kann

254 Vgl. Schreiber, Weihegeschenk, 99ff; Eschner, Gestorben, 33ff. Schreiber fasst das pagane Verständnis des Weihegeschenkes wie folgt zusammen: „Es handelt sich in der Antike um geläufige Formen des Kontaktes mit der göttlichen Welt, die an den Bedürfnissen der Menschen orientiert sind. In konkreten Anliegen wie Krankheit, Kinderwunsch, Liebe, einer gefährlichen Reise zur See oder übers Gebirge wendet man sich an eine Gottheit. Als Dank für die Hilfe oder als Vorleistung für die Unterstützung, dann häufig im Kontext eines Gelübdes/votum, gibt man der Gottheit ein Weihegeschenk. … Dahinter kann die Vorstellung stehen, dass Krankheit und Not eine gestörte Gottesbeziehung anzeigen, in gewisser Weise Formen göttlicher Strafe sind.“ (Weihegeschenk, 102). 255 Vgl. Weiß, Weihegeschenk, 298. Weiß kommt in seinen Untersuchungen paganer Belege von ἱλαστήριον zum Schluss, dass der Begriff im paganen Kontext am ehesten als Sühnemal zu verstehen ist. 256 So aber Schreiber, Weihegeschenk, 100ff. 257 Vgl. Haacker, Römer, 107; Weiß, Weihegeschenk, 298ff. Bei den meisten Belegen aus den Inschriften ist die Bedeutung des Begriffs ἱλαστήριον kaum zu ermitteln, da es bei diesen Quellen keinen ausführlicheren Kontext gibt. Außerdem weist selbst Schreiber darauf hin, dass es mit ἀνάθημα schon einen normalerweise verwendeten griechischen Hauptbegriff für „Weihegeschenk“ gibt (vgl. Weihegeschenk, 103). 258 Weder „Weihegeschenk“ noch „Sühne“ können den Sinngehalt des Begriffs ἱλαστήριον befriedigend wiedergeben. Dies wird in der umfassenden Behandlung der Belegstellen deutlich. 259 In diesem Zusammenhang muss noch einmal betont werden, dass das Grundprinzip der semantischen Bestimmung eines Wortes darin liegen muss, eine Bedeutung zu finden, die allen Belegen des betreffenden Wortes gerecht wird. Unter Berücksichtigung der Belegstellen umfasst ἱλάσκεσθαι bzw. (ἐξ)ἱλάσκεσθαι m. E. das Bedeutungssprektrum von „bedecken“, „zudecken“ oder „umschließen“. Die Semantik von ἱλάσκεσθαι bzw. (ἐξ)ἱλάσκεσθαι unterscheidet sich damit deutlich von der des Verbs καταλλάσσειν (versöhnen) (vgl. Breytenbach, Versöhnung, 95ff; ders., Stellvertretung, 60ff). Die Termini ἱλάσκεσθαι bzw. ἐξἱλάσκεσθαι bedeuten weder „vergeben“ bzw. „sühnen“ an den alttestamentlichen Belegstellen, in denen das Verb mit einem sündigen Menschen oder mit dem Sündenbegriff als Objekt verbunden ist, noch bedeuten sie „gnädig stimmen“ bzw. „beschwichtigen“ in paganen Texten, in denen die Gottheit als Objekt in Verbindung mit dem Verb vorkommt. Man kann die verschiedenen Bedeutungen in der LXX bzw. in den paganen Texten nicht damit erklären, dass die Semantik von ἱλάσκεσθαι bzw. (ἐξ)ἱλάσκεσθαι durch den Aussagegehalt des hebräischen Wortes ‫ כפר‬geprägt worden sei und sich entsprechend verschoben hättte (gegen Knöppler, Sühne,

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die differierenden Bedeutungsvorschläge von „Weihegeschenk“ in Bezug auf die paganen Texte bis „Sühneort bzw. -mittel“ in Bezug auf die LXX-Stellen nicht einfach unvermittelt nebeneinanderstehen lassen, ohne einen semantischen Zusammenhang aufzuzeigen.260 Die grundlegende Semantik des Begriffs ἱλαστήριον in den eben untersuchten paganen griechischen Stellen liegt wie bei den bereits untersuchten Belegen aus der LXX meines Erachtens darin, dass mit dem Wort etwas bezeichnet wird, das bedeckt, zudeckt, umschließt oder schützt. Eine Statue, ein Denkmal oder eine den Göttern gestiftete Trinkschale werden als ἱλαστήριον bezeichnet, da all diese Gegenstände den Zweck haben, den Zorn der Gottheit zuzudecken oder zu umschließen, sodass dieser die Menschen, die die Weihegaben als ἱλαστήριον gegeben haben, nicht mehr treffen kann. Umgekehrt kann man die Funktion des als ἱλαστήριον gestifteten Gegenstandes auch so verstehen, dass er die Schuld der Menschen bedeckt und die Menschen nun nicht mehr vom Zorn Gottes getroffen werden können, eben weil sie umschlossen ist und damit nicht mehr offen daliegt. Die Verwendungsweise von ἱλαστήριον im Kontext des Stiftens einer Weihegabe lässt sich so gut aus der hier skizzierten grundlegenderen Bedeutung ableiten, nämlich insofern, als diejenigen, die ein Weihegeschenk stiften, mit einem solchen den Zorn der Gottheit zudecken und so vor ihm geschützt sein wollen. In der frühjüdischen Literatur begegnet der Begriff ἱλαστήριον bei Philo, Josephus und im 4. Makkabäerbuch. Philo verwendet den Begriff ἱλαστήριον stets zur Bezeichnung der Deckplatte auf der Lade (Cher. 25; Vit. Mos. 2,95.97; Fug. 101).261 Zur Erklärung für seine Leser beschreibt er ἱλαστήριον näher und zwar wie in ExLXX 25,17 als ἐπίθεμα („Aufsatz“) (vgl. Fug. 100; Vit. Mos. 2,95.97). Interessant ist die Erläuterung Philos zur Deckplatte der Lade in Fug. 100: „Dies sind die sechs Städte, die die Schrift Verbanntenstädte nennt (4Mos. 35,12), von denen auch fünf abgebildet und im Heiligtum dargestellt sind: Gebot und Verbot durch die Gesetzestafeln in der Lade, ἡ ἴλαος δύναμις durch den Deckel der Lade – die Schrift nennt ihn ἱλαστήριον, die schöpferische und königliche durch die beiden daraufgesetzten geflügelten Cherubim.“ Dieser Erläuterung zufolge hat die Deckplatte der Lade die besondere Kraft, den Zorn Gottes zu bedecken und die Menschen vor Unheil zu schützen. Diese Bedeutung wird verständlich, wenn man die Funktion der Deckplatte, die hier mit ἱλαστήριον bezeichnet wird, im Zusammenhang mit ihrer Lokalisierung im

39f). Geht man dagegen von der Grundbedeutung „bedecken“, „zudecken“ bzw. „umschließen“ aus, so lassen sich die unterschiedlich gedeuteten Verwendungsweisen in Einklang miteinander bringen: Wird das Verb ἱλάσκεσθαι in der LXX mit Sünde bzw. dem Sünder als Objekt verwendet, bedeutet es, dass die Gesetzlosigkeiten bzw. die Sünder bedeckt werden und somit die Strafe Gottes abgewendet wird. Im paganen Kontext mit der Gottheit als Objekt besagt das Verb, dass der Zorn der Götter eingeschlossen bzw. bedeckt wird und so die Menschen vor ihm bewahrt werden, die eine Weihegabe gestiftet haben. 260 So aber Schreiber, 100ff. 261 Die Verwendung von ἱλαστήριον in Bezug auf die Deckplatte der Bundeslade begegnet im Neuen Testament auch in Hebr 9,5.

Die Gerechtigkeit Gottes und seine universal gültige Rechtfertigung der Menschen: Röm 3,21-31

Allerheiligsten beachtet. Wie aus der Darstellung in Lev 16 hervorgeht, besteht die Funktion der Deckplatte der Lade nicht einfach nur darin, die Lade zu bedecken, sondern auch in der Bewahrung vor dem todwirkenden Zorn Gottes (vgl. ExLXX 19,7-25; 20,18-21; 25,10-22; 2SamLXX 6,1-11). Der einzige Beleg von ἱλαστήριον bei Josephus findet sich in Ant. 16,182. Konkret handelt sich es dabei um ein Denkmal, das Herodes bei der Öffnung des Grabes Davids errichtet hat: Herodes d. Gr. ließ das Grab Davids öffnen und berauben, doch als zwei seiner Leibwächter durch Feuerflammen getötet wurden, eilte er in großer Furcht hinaus und errichtete ἱλαστήριον aus weißem Stein am Eingang unter hohen Kosten.262 Dieses Denkmal, das Herodes aus Angst gestiftet hat, hat ebenfalls die Funktion eines den Zorn Gottes beschwichtigenden Weihegeschenks. Er bringt es dar, um sich vor den befürchteten Folgen seiner Tat zu schützen. Diesem Verwendungszusammenhang von ἱλαστήριον liegt kaum die Vorstellung von Sühne oder Entsündigung zugrunde, da das Errichten des Denkmales nicht darauf abzielt, die Schuld des Menschen zu tilgen, sondern fortan Unheil von den Menschen abzuwenden.263 Der zuletzt zu überprüfende Beleg von ἱλαστήριον findet sich in 4Makk 17,21-22. Diese Stelle ist wegen ihrer besonderen Nähe zu Röm 3,25 hinsichtlich der mit ἱλαστήριον verbundenen Motivik (Blut, Tod des Menschen) in der Forschung immer wieder als Interpretationshintergrund für die Verwendung von ἱλαστήριον in Röm 3,25 herangezogen worden.264 Die augenfällige Gemeinsamkeit zwischen Röm 3,25 und 4Makk 17,21-22 besteht darin, dass in beiden Texten der Begriff ἱλαστήριον in Bezug auf den Tod eines Menschen verwendet wird, welcher eine heilbringende Bedeutung hat, d. h. die Rettung anderer bewirkt. Von zentraler Bedeutung ist ferner das Vorkommen des unmittelbar mit ἱλαστήριον in Verbindung stehenden Terminus αἷμα.265 Aufgrund dieser Gemeinsamkeiten kann der Makk-Text als die dem Paulustext am nächsten kommende Parallele gelten.266 Somit gibt es außer in Röm 3,25 einen Beleg dafür, dass der Tod eines Menschen mit dem Begriff αἷμα und die Heilswirkung dieses Todes mit dem Terminus ἱλαστήριον beschrieben wird. Hinzuweisen ist in diesem Zusammenhang auch darauf, dass der Terminus ἱλαστήριον im Makk-Text in Bezug auf den Tod eines Menschen ohne eine eindeutige Bezugnahme auf den Blutritus in Lev 16 gebraucht wird. Damit lässt sich auch für diesen Text wie in Röm 3,25 ein Zusammenhang mit dem Tempelkult nicht sicher erweisen. Zwischen beiden Texten lassen sich aber auch gravierende Differenzen ausmachen, die gegen die These sprechen, dass der

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Übers. nach Schreiber, Weihegeschenk. So auch, Kraus, Tod Jesu, 26f.40. Vgl. Lohse, Märtyrer, 149ff; ders., Römer, 135; Haacker, Römer, 106. Mit der Verwendung von αἷμα unterscheidet sich Röm 3,25 von den anderen paganen ἱλαστήριονBelegtexten. 266 So schon Lohse, Römer, 135.

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Gebrauch von ἱλαστήριον in Bezug auf den Tod Jesu in Röm 3,25 vor dem Hintergrund des Märtytertodes in 4Makk 17,21-22 zu verstehen ist. So sind es im Makk-Text die Menschen selbst, die durch ihren Tod Gott gegenüber ein ἱλαστήριον weihen, während es bei Paulus Gott ist, der für die sündigen Menschen ein ἱλαστήριον hingestellt hat.267 Darüber hinaus sind die Frommen, die gesetzestreu gelebt haben, in 4Makk diejenigen, die als ἱλαστήριον ihr Leben hingegeben haben, wohingegen in Röm 3,25 Jesus Christus, der Sohn Gottes, das von Gott hingestellte ἱλαστήριον ist. Ein dritter gewichtiger Unterschied ist, dass im Makk-Text die sühnende Leistung der Frommen allein auf das Volk Israel beschränkt ist, während die Heilswirkung des Todes Jesu universal, über die Juden hinaus auf alle Glaubenden bezogen ist. Schließlich ist darauf hinzuweisen, dass der Tod der Frommen im Makk-Text als Märtyrertod verstanden werden kann, da sie aufgrund der Treue gegenüber ihrer religiösen Überzeugung gestorben sind. Jesus Christus ist hingegen nicht aufgrund seines Glaubens und seiner religiösen Überzeugung gestorben, sondern allein aufgrund des Heilswillens Gottes, nach dem Christus als ἱλαστήριον für die Rettung der sündigen Menschen hingegeben werden sollte.268 Aus den bisherigen semantischen Untersuchungen lässt sich der Schluss ziehen, dass die Bedeutung des Begriffs ἱλαστήριον mit „bedecken“ und „umschließen“ wiedergegeben werden kann und das Wort nicht allein in kultischen Kontexten und ohne Bezug auf Lev 16 verwendet werden kann. Dagegen kann es in unterschiedlichen Zusammenhängen auf einen bedeckenden und umschließenden Gegenstand referieren. So bezeichnet ἱλαστήριον in GenLXX 6,16 (Symmachus) die Arche Noah, welche in den anderen griechischen Versionen κιβωτός genannt wird; in EzLXX 43,14.17.20 steht ἱλαστήριον für den hebräischen Terminus ‫( עזרה‬Einfassung), also für den oberen und unteren Teil des Brandopferaltars (θυσιαστήριον), welche den eigentlichen Altar umfassen; in AmLXX 9,1 bezeichnet ἱλαστήριον das Kapitell und damit den oberen Teil einer Säule in einem Tempel. Wenn der Begriff ἱλαστήριον im paganen Bereich im Kontext einer Weihegabe verwendet wird, wird die Wirkung dieser Weihegabe ausgedrückt, nämlich, dass der potenzielle Zorn der Gottheit beschwichtigt werden soll, um so die Menschen davor zu schützen. ἱλαστήριον bedeutet also nicht „Weihegeschenk“, sondern beschreibt eher die den Zorn der Gottheit einhegende Funktion des gestifteten Weihegeschenks.

Für das weitere Verständnis des argumentativen Duktus in 3,25 ist es wichtig, den Sinngehalt der eindeutig auf ἱλαστήριον bezogenen präpositionalen Wendungen

267 So auch viele Exegeten vgl. nur Lohse, Römer, 135; Kraus, Tod Jesu, 40; Schreiber, Weihegeschenk, 97. 268 Diesen Unterschied zwischen dem Tod Jesu und dem Martyrium im Makkabäerbuch betont auch Schreiber: „Zudem liegt beim Märtyrertod der Akzent auf der Entscheidung der Märtyrer zu Standhaftigkeit, Überzeugungstreue und Tod, was dann von Gott honoriert wird, während Paulus Gottes Handeln an Jesus betont. Gott ist grammatisch und theologisch Subjekt des Geschehens.“ (Weihegeschenk, 98).

Die Gerechtigkeit Gottes und seine universal gültige Rechtfertigung der Menschen: Röm 3,21-31

διὰ τῆς πίστεως und ἐν τῷ αὐτοῦ αἵματι genau zu betrachten. Syntaktisch ist es

zunächst möglich, die beiden Wendungen als aufeinander bezogen im Sinne von „durch das Vertrauen auf das Blut“ zu lesen.269 Die Wendung διὰ τῆς πίστεως kann aber auch von ἐν τῷ αὐτοῦ αἵματι getrennt und stattdessen bezogen auf ἱλαστήριον gelesen werden. Doch sollte der ersten Deutung der Vorzug gegeben werden, da sonst die Wendung διὰ τῆς πίστεως in ihrer Einbindung fraglich bleibt. Die gesamte Formulierung in Röm 3,25a bringt damit zum Ausdruck, dass die die Sünden bedeckende Wirkung nicht einfach im Tod Christi, sondern konkret im am Kreuz vergossenen Blut Christi liegt, das als ἱλαστήριον für die Glaubenden fungiert.270 Wenn Paulus in Verbindung mit dem Heilstod Jesu von Blut spricht, meint er damit offenbar nicht lediglich die Hingabe des Lebens bzw. den gewaltsamen Tod Jesu,271 sondern er will einer spezifischen Heilseffizienz des Blutes Ausdruck verleihen. Die Wendung δικαιωθέντες ἐν τῷ αἵματι αὐτοῦ in Röm 5,9, in der das Blut Christi als Grundlage für die Rechtfertigung der Glaubenden gedeutet wird, stützt diese Interpretation. Wenn Paulus nur den Tod Christi als Grundlage für die Rechtfertigung hätte anführen wollen, wäre es nicht nötig gewesen, das Blut Christi expressis verbis zu erwähnen. Die Wendung αἷμα im Zusammenhang mit ἱλαστήριον lässt sich höchstwahrscheinlich mit den alttestamentlichen Vorstellungen von Blutriten erklären, denen eine Heilseffizienz zugesprochen wird.272 Sie kann aber kaum, wie bereits festgestellt, auf den Blutritus am großen Versöhnungstag in Lev 16 hin interpretiert werden. Die Frage ist nun, mit welchem Blutritus im Alten Testament der auf den Tod Jesu bezogene und mit ἱλαστήριον verbundene Begriff αἷμα in Röm 3,25

269 Viele Exegeten sind der Ansicht, dass die Anbindung von ἐν τῷ αὐτοῦ αἵματι an διὰ τῆς πίστεως grammatisch unmöglich ist. Haacker plädiert allerdings dafür, beide Ausdrücke als verbunden zu lesen und weist auf die Konstruktion von πίστις mit ἐν in 1Kor 2,5; Gal 3,26; Eph 1,15; Kol 1,4; 1Tim 3,13; 2Tim 3,15 und die Wendung πιστεύειν ἐν in Mk 1,15; Ps 105,12; Sir 32,21 hin (vgl. Römer, 108). 270 Einige Exegeten wollen πίστις in 3,25 entgegen der opinio communis als vertrauensvolle Zuwendung Gottes bzw. Christi zu den Menschen interpretieren (vgl. Schumacher, Entstehung, 342ff; Longenecker, Romans, 424ff). Gegen diese Interpretation spricht schon der nähere Kontext, in dem sich der Begriff πίστις ohne Ausnahme auf den menschlichen Glauben bezieht. Hätte Paulus von der Zuwendung Gottes sprechen wollen, wären an dieser Stelle Possessivpronomen zu erwarten. 271 So z. B. Haacker, Römer, 105f; Eschner, Gestorben, 36f. 272 Im Alten Testament werden Applikationsriten (Besprengen und Bestreichen) mit dem Schlachtblut sowohl in kultischen als auch in nichtkultischen Ritualen mehrfach erwähnt. Diese Blutapplikationsriten haben für die Menschen, welche sie ausführen, oder für den Gegenstand, an dem sie vollzogen werden, besondere Wirkungen. Die Wirkungen einer solchen Blutapplikation reichen von der Weihe eines Altars und Heiligtums bis zur Entsühnung von Menschen, damit sie wieder Zugang zu Gott finden. Weshalb die Blutapplikation zur Sühne dienen kann, wird in Lev 17,11 erklärt: Denn das Blut ist „zum einen Lebensträger und zum anderen Gottes heilvolle Gabe für den kultischen Vollzug“. (Knöppler, Sühne, 10–19).

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zusammenhängt. Die hier anzutreffende paulinische Vorstellung des Todes Jesu erinnert meines Erachtens im Rückgang auf die verschiedenen Blutriten im Alten Testament eindeutig an das Passa in Ex 12LXX , wo der Blutritus für die Rettung der Israeliten die entscheidende Rolle spielt. Nach der Schilderung in Ex 12LXX soll das Passatier vom typischen Kleinviehbestand der Nomaden (πρόβατον: V 3.5.21) ausgewählt und geschlachtet werden. Mit seinem Blut sollen der Türsturz und die beiden Türpfosten der Häuser bestrichen werden, damit Gott (κύριος: V 12) bzw. der Verderber (ὀλεθρεύων: V 23) an diesen Häusern vorübergeht. Das Blut des Tieres hat damit die Macht, das Strafgericht Gottes abzuwehren, welches sich gegen alle erstgeborenen Lebewesen und Götter in Ägypten richtet. Das Blut an den Türen der Häuser der Israeliten bewirkt als „apotropäisches Zeichen“273 Schutz und Abwendung von Gefahr, die offenbar alle, Ägypter wie Israeliten, bedroht. Der Name des Ritus „Passa“ (‫ )ֶפַּסח‬leitet sich vom hebräischen Verb ‫ פסה‬ab, welches „überspringen“ bzw. „vorübergehen“ bedeutet und mit dem in Ex 12 das Verschonen des Hauses der Israeliten durch Gott beschrieben wird. Das Passa „ist also das Überspringungs- bzw. Verschonungsfest, was auch in der Bezeichnung als „διαβατήρια ἱερά“ bei Philo (z. B. Spec. Leg. 2,145) bzw. als „ὑπερβάσια“ bei Josephus (z. B. Ant. 2,311-317) zum Ausdruck kommt.“274 Die LXX übersetzt den hebräischen Terminus ‫ פסה‬mit σκεπάζειν (V 13.27) und παρέρχεσθαι (V 23). Für das Verständnis der Darstellung des Todes Jesu und dessen Heilswirkung in Röm 3,25 ist die Verwendung dieser beiden Termini in Ex 12LXX aufschlussreich. Das Verb σκεπάζειν, das „schützen“ und „bewahren“ bedeutet,275 ist mit ἱλαστήριον sinnverwandt und das Verb παρέρχεσθαι steht wiederum semantisch mit πάρεσις in enger Verbindung. Auffällig ist also, dass Paulus parallel zur Rechtfertigung und Auslösung aus den Sünden als Wirkung des Todes Jesu mit dem zu παρέρχεσθαι aus Ex 12LXX sinnverwandten Begriff πάρεσις vom nicht bestrafenden Vorübergehen Gottes spricht und die Heilswirkung des vergossenen Blutes Jesu als Schutz vor dem Zorngericht mit ἱλαστήριον beschreibt. Zwar findet der Begriff ἱλαστήριον in Ex 12LXX keine Erwähnung, doch wird durch das mit ἱλαστήριον sinnverwandte Verb σκεπάζειν die Heilswirkung des Blutes des geschlachteten Tie-

273 Eberhart, Opfer, 274. Viele andere Exegeten verstehen auch das Passafest als apotropäisches Ritual (vgl. Rost, Weidewechsel, 104–106; Janowski, Sühne, 249; Gilders, Blood Ritual, 44; Schlund, Deutungen, 400ff). 274 Eberhart, Opfer, 274f. Zu den Auffassungen des Passafestes in Targumim, Jubliäen und EzTrag vgl. Schlund, Deutungen, 401f. 275 Vgl. BAA, s.v. Interessant ist die Verwendung der Begriffe ‫( חומ‬beschützen) und ‫( גדן‬verschonen) in den Pentateuch-Targumen, die semantisch mit ‫ פסה‬verwandt sind. Philo erklärt das Passa mit Hilfe des Begriffs διαβατήρια, wenn er es als διάβασις bezeichnet. Josephus und Aquila interpretieren das Passa wiederum als ὑπέρβασις (Übergang). Vgl. Schlund, Deutungen, 401ff.

Die Gerechtigkeit Gottes und seine universal gültige Rechtfertigung der Menschen: Röm 3,21-31

res zum Ausdruck gebracht, die darin besteht, die Israeliten vor dem Zorn Gottes zu bewahren.276 Aufgrund dieser Überlegungen kann man zum Schluss kommen, dass Paulus den Tod Jesu mit Hilfe der Begriffe ἱλαστήριον und πάρεσις in Hinsicht auf sein Blut mit einer apotropäischen Bedeutung versieht und hinsichtlich dieser Begrifflichkeit einen deutlichen Bezug auf den Blutritus beim Passa in Ex 12LXX herstellt. In diesem Zusammenhang lässt sich nicht übersehen, dass Paulus in 1Kor 5,7 den Tod Jesu expressis verbis als Passaopfer (πάσχα) bezeichnet.277 Dort, wo Paulus von der Unzucht eines jungen Mannes spricht, erinnert er die Korinther mit besonderem Nachdruck an das Sterben Jesu Christi, aufgrund dessen sie rein und gerecht geworden sind (vgl. 1,30; 6,11). Somit wird deutlich, dass Paulus den Tod Jesu im Rahmen der rituellen Passa-Vorstellungen als den Heilstod versteht, aufgrund dessen Gott über die Sünden der Menschen hinwegsieht und diese vor seinem Zorn geschützt sind. Insgesamt ist die Schilderung des Todes Jesu und dessen Heilsbedeutung in Röm 3,24-25 damit weniger durch einen Rückbezug auf den Versöhnungstag in Lev 16 oder vor dem Hintergrund der paganen Weihegabehandlung zu verstehen, sondern vielmehr vor dem Hintergrund des Passarituals in Ex 12LXX als ein apotropäisches Geschehen. 1.3.2.3 Der Erweis der Gerechtigkeit Gottes in seinem Heilshandeln (V 25b-26)

In den angehängten elliptischen Präpositionalphrasen in V 25b-26 erklärt Paulus, worauf Gott mit seinem Heilshandeln im Christusgeschehen gezielt hat. Diese Intention Gottes wird durch die zweifache Wendung ἔνδειξις τῆς δικαιοσύνης αὐτοῦ angezeigt, die von Paulus offenkundig parallel verwendet wird.278 Die einleitenden Präpositionen εἰς und πρός machen deutlich, dass der Erweis der Gerechtigkeit Gottes der Zweck des Heilshandelns ist.279 Die beiden Genitivformulierungen δικαιοσύνη αὐτοῦ in 3,25.26 drücken im vorliegenden Kontext nichts anderes als die

276 Die Verwendung von σκεπάζειν im Sinne einer Bedeckung bzw. Bewahrung der Menschen kommt noch in Jes 51,16 vor. 277 In 1Kor 5,7 handelt es sich wie in Röm 5,8 und 14,15 um eine argumentative Aussage über das Sterben Christi, da diese Formel eindeutig in einen paränetischen Kontext eingebettet ist. Paulus sagt hier zwar nicht, dass „Christus für euch starb“, aber die Aussage, dass Christus das Passaopfer ist, hat denselben argumentativen Sinngehalt. 278 Von daher ist es kaum vorstellbar, dass Paulus mit seiner doppelten ἔνδειξις-Aussage unterschiedliche Sachverhalte bezeichnen wollte, wie einige Exegeten meinen: Erwähnt seien z. B. „die richterliche Gerechtigkeit“ und „die Gabe der Gerechtigkeit“ (Bultmann, ΔΙΚΑΙΟΣΥΝΗ, 13); „Bundestreue“ und „die universale Heilskraft“ (Lohse, Römer, 135f). 279 Die präpositionalen Wendungen sind einerseits im finalen, andererseits aber auch im konsekutiven Sinne zu verstehen. Sie können sowohl die Absicht des Handelns Gottes, als auch dessen Folge bezeichnen (anders Flebbe, Solus Deus, 110f). Dieser Sachverhalt findet sich beispielsweise auch in 4,16; 6,4.6; 8,4.

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Eigenschaft Gottes aus, nach der er gerecht ist und gerecht handelt. Bei der δικαιοσύνη αὐτοῦ handelt es sich daher um Gottes eigene Gerechtigkeit.280 Aufgrund des auf Gott bezogenen Personalpronomens αὐτοῦ ist es nicht möglich, δικαιοσύνη hier als etwas dem Menschen Zuzurechnendes zu verstehen. Außerdem bestätigt auch der der zweiten ἔνδειξις-Aussage zugeordnete substantivierte Infinitiv εἰς τὸ εἶναι αὐτὸν δίκαιον, dass die δικαιοσύνη αὐτοῦ als Gottes Gerechtsein zu interpretieren ist. Mit diesem semantischen Gehalt unterscheidet sich die δικαιοσύνη αὐτοῦ in 3,25.26 eindeutig von der doppelten Aussage über die δικαιοσύνη θεοῦ in 3,21.22. Bei der δικαιοσύνη θεοῦ in 3,21.22 handelt es sich um die δικαιοσύνη, welche ohne Zutun der Gesetzesforderungen, allein aufgrund des Christusglaubens jedem Glaubenden von Gott zugesprochen wird (s. o.). Dabei geht es um die Frage, auf welcher Grundlage ein Mensch vor Gott als gerecht bestehen kann. Die Formulierung δικαιοσύνη αὐτοῦ in 3,25.26 thematisiert demgegenüber das Gerechtsein Gottes in seinem Heilshandeln. Die häufig anzutreffenden Deutungsversuche, die die δικαιοσύνη θεοῦ in 3,21.22 und die δικαιοσύνη αὐτοῦ in 3,25.26 mit ein und derselben Bedeutung entweder als Eigenschaft oder als Heilshandeln Gottes bestimmen, müssen als unangemessen betrachtet werden. Denn die unterschiedlichen Bedeutungen der δικαιοσύνηWendungen werden dabei nicht beachtet und die vom Kontext sowie von der Formulierung her eindeutig zu unterscheidenden Genitivkonstruktionen δικαιοσύνη θεοῦ und δικαιοσύνη αὐτοῦ werden aufgrund eines theologischen Vorurteils in einen einheitlichen semantischen Rahmen gepresst. Die δικαιοσύνη αὐτοῦ in 3,25.26 steht angesichts ihrer semantischen Referenz nicht mit der Formulierung δικαιοσύνη θεοῦ in 3,21.22, sondern mit der Formulierung θεοῦ δικαιοσύνη in 3,5 in einer Linie, welche ebenfalls eine Eigenschaft Gottes bezeichnet. Zu beachten ist allerdings, dass in 3,25.26 anders als in 3,5 die δικαιοσύνη αὐτοῦ eindeutig mit dem Heilshandeln und nicht mit dem Gerichtshandeln Gottes in Verbindung steht. In V 25b-26 wird nämlich eindeutig zum Ausdruck gebracht, dass sich die Gerechtigkeit Gottes dadurch manifestiert, dass Gott die vorher begangenen Sünden unbeachtet lässt und die Sünder gerecht macht. Und auch in der Weiterführung in V 26 wird der Erweis der Gerechtigkeit Gottes im Zusammenhang mit seinem rechtfertigenden Handeln thematisiert. Bevor dieser Zusammenhang näher erläutert werden kann, muss zunächst geklärt werden, was die Zusätze διὰ τὴν πάρεσιν τῶν προγεγονότων ἁμαρτημάτων und ἐν τῇ ἀνοχῇ τοῦ θεοῦ bedeuten. Der in V 25b gebrauchte Terminus πάρεσις ist ein Hapaxlegomenon innerhalb des Neuen Testaments. In den paganen griechischen Schriften bezeichnet es ebenso wie in den alttestamentlichen und jüdischen

280 Vgl. Flebbe, Solus Deus, 112.

Die Gerechtigkeit Gottes und seine universal gültige Rechtfertigung der Menschen: Röm 3,21-31

Schriften als nomen actionis immer ein menschliches Handeln, bei dem der Handelnde etwas nicht beachtet und übergeht.281 Wenn es in Bezug auf menschliche Verfehlungen verwendet wird, bedeutet es das Nichtbeachten bzw. Übergehen derselben, das häufig mit Straffreiheit einhergeht (Xenophon, Hipparch. 7,10; Dionysius v. Halicarnass, Ant. Rom. 2,35,4; 7,37,2; Josephus, Ant. 15,48; Sir 23,2).282 Insofern kann der Begriff πάρεσις auf semantischer Ebene nicht ohne Weiteres mit ἄφεσις (Erlass, Vergebung) gleichgesetzt werden283 , auch wenn die semantischen Felder der beiden Begriffe eine gemeinsame Schnittmenge aufweisen.284 Auch πάρεσις in Röm 3,25 kann aufgrund dieses Sachverhalts nicht von vornherein mit Erlass oder Vergebung wiedergegeben werden. Dieser Ausdruck bezeichnet vielmehr eine Strafunterlassung, bei der Gott die früher begangenen Sünden der Glaubenden unbeachtet übergeht.285 Dieses Verhalten Gottes meint hier aber nicht „ein vorläufiges, zeitlich limitiertes Hingehenlassen“ der Sünden, im Sinne, dass die endgültige Abrechnung dieser noch aussteht.286 Wenn Gott Verfehlungen der Menschen unbeachtet übergeht, heißt dies nichts anderes, als dass Gott sie schlicht nicht anrechnet (vgl. Röm 4,8; 2Kor 5,19) und sich ihre Tilgung schon erledigt hat.287 Dass Paulus mit der Formulierung διὰ τὴν πάρεσιν τῶν προγεγονότων

281 Vgl. dazu BAA, ‚πάρεσις, παρίημι‘; BDAG, ‚πάρεσις, παρίημι‘; Kraus, Tod Jesu, 100f; Wolter, Römer I, 260f. 282 Zur ausführlichen Analyse der einschlägigen Belege vgl. Kraus, Tod Jesu, 100f und Wolter, Römer I, 260f. 283 So aber BAA, s.v.; Kümmel, πάρεσις, 262f; Wilckens, Römer I, 196; Stuhlmacher, Römer, 58; Gaukesbrink, Sühnetradition, 233; Lohse, Römer, 135f; Flebbe, Solus Deus, 114; Zeller, Gottes Gerechtigkeit, 64; Knöppler, Sühne, 118f. 284 Michel, Römer, 153; Schlier, Römer, 112f; Cranfield, Romans I, 212; Dunn, Romans I, 181; Wolter, Römer I, 260f; William, Saving Event, 34. Gegen Lietzmann, Römer, 51; Kümmel, πάρεσις, 261–263; Käsemann, Römer, 92; Fitzmyer, Romans, 351; Lohse, Römer, 135f; Flebbe, Solus Deus, 114; Zeller, Gottes Gerechtigkeit, 150; Hultgren, Romans, 158. 285 Kraus meinte, dass sich die Perfekt-Form προγεγονότα „auf ein in der Vergangenheit abgeschlossenes Geschehen“ beziehe und der Ausdruck προγεγονότα ἁμαρτήματα Sünden einer vergangenen, abgeschlossenen Epoche bezeichne und zwar der Zeit vor dem Christusereignis (Tod Jesu, 104.112); in eine ähnliche Richtung weisen die Interpretationen vieler anderer Exegeten, vgl. Käsemann, Römer, 92, Schlier, Römer 113; Wilckens, Römer, 196; Gaukesbrink, Sühnetradition, 232. M. E. ist diese Interpretation aber nicht überzeugend, da es in der Folge eine Phase, nämlich die Zeit zwischen dem Christusereignis und dem Zeitpunkt, zu welchem der Einzelne zum Christusglauben gekommen ist, geben würde, in der die Menschen immer noch sündige Handlungen vollziehen, diese aber nicht mehr in den πάρεσις-Akt eingeschlossen sind. Mit προγεγονότα ἁμαρτήματα dürften dagegen vielmehr die Sünden des einzelnen Glaubenden gemeint sein, welche er vor seiner Bekehrung begangen hat. Der Ausdruck wird demnach beim Lesen individuell gedeutet und der mit ihm aufgerufene Zeitabschnitt wird an den Zeitpunkt der je eigenen Bekehrung angepasst. 286 Gegen Michel, Römer, 153; Cranfield, Romans I, 211f; Kraus, Tod Jesu, 102f; Moo, Romans, 238ff; Jewett, Romans, 290 u. a. 287 Vgl. Zeller, Gottes Gerechtigkeit, 64; Wolter, Römer I, 260f.

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ἁμαρτημάτων tatsächlich von einem endgültigen Sündenerlass spricht, wird vor

allem durch den unmittelbaren Bezug auf die Rechtfertigungsaussagen in V 24a und in V 26b unterstützt (s. u.). Hinsichtlich der in V 25 verwendeten Begrifflichkeiten ist, wie oben dargestellt, anzunehmen, dass die Wendung πάρεσις τῶν προγεγονότων ἁμαρτημάτων aufgrund des gemeinsamen semantischen Gehalts mit παρέρχεσθαι auf die Passaerzählung in Ex 12 anspielt. Wie Gott an den Israeliten, die den Blutritus vollzogen haben, vorübergegangen ist, ohne sie zu bestrafen, geht Gott auch an den früher geschehenen Sünden der auf die Kraft des Blutes Christi vertrauenden Glaubenden vorüber. Paulus überträgt die Begrifflichkeit, die schon in Bezug auf die Wirkung des Blutes des Opfertieres in der Passatradition verwendet wurde, auf die Wirkung des Todes Jesu. Der Grund für das göttliche Handeln, welches hier mit πάρεσις beschrieben wird, ist das vergossene Blut Jesu Christi, das die Kraft hat, die Sünder vor dem Zorn Gottes zu bewahren. Dass das gnädiges Handeln Gottes gegenüber den Sündern von Gottes Nachsicht und Zurückhaltung herrührt, macht Paulus am Satzschluss mit ἐν τῇ ἀνοχῇ deutlich. Obwohl diese Präpositionalphrase in NA auf zwei Verse aufgeteilt ist, ist sie syntaktisch eher auf die in V 25 unmittelbar vorausgehende Wendung πάρεσις τῶν προγεγονότων ἁμαρτημάτων zu beziehen.288 Sie gibt nämlich einen Grund dafür an, inwiefern das Nichtbeachten der menschlichen Sünden zustande kommen kann.289 Die Belege für ἀνοχή sowohl in paganen griechischen Texten als auch in der LXX und bei anderen jüdischen Autoren wie Philo und Josephus bezeugen, dass es beim Gebrauch des Wortes um den Aufschub bzw. die Zurückhaltung einer Handlung oder einer Sache geht (vgl. 1Makk 12,25; Philo, Leg. 100; Josephus, Bell. 1,173; Ant. 6,72f; 7,281, u.a).290 In keinem der Belege bedeutet ἀνοχή Langmut oder Geduld, wie es in gängigen Übersetzungen oft wiedergegeben wird, und seine Semantik lässt sich somit von der Semantik des Wortes μακροθυμία unterscheiden.291 ἐν τῇ ἀνοχῇ bringt in Verbindung mit διὰ τὴν πάρεσιν τῶν προγεγονότων ἁμαρτημάτων zum Ausdruck, dass Gott sein Gericht zurückhält und die Glaubenden mit ihren Verfehlungen ungestraft davonkommen. Unter Berücksichtigung des Kontextes kann sich die Aussage des Nichtbeachtens der früher geschehenen Sünden durch Gott nicht auf ein anderes Gesche-

288 Vgl. Wilckens, Römer I, 196f; Schlier, Römer, 113; Käsemann, Römer, 93f; Flebbe, Solus Deus, 112f; Zeller, Gottes Gerechtigkeit, 64f; Wolter, Römer I, 262 u. a. 289 In diesem Zusammenhang ist ἐν τῇ ἀνοχῇ nicht temporal, sondern instrumental bzw. modal zu verstehen (gegen Michel, Römer, 146; Wilckens, Römer I, 196f; Lohse, Römer, 129, mit Flebbe, Solus Deus, 112f). 290 Vgl. Michel, Römer, 65, Anm. 2; Schlier, Römer, 113; Kraus, Tod Jesu, 112ff; Zeller, Gottes Gerechtigkeit, 67f; Breytenbach, „Charis“, 257f. 291 Vgl. BAA, s.v.; Zeller, Gottes Gerechtigkeit, 67f; Kraus, Tod Jesu, 112ff; ders., Erweis, 197f.

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hen beziehen, als auf das zuvor in V 24-25a beschriebene.292 Sie stellt damit eine komplementäre Weiterführung der vorangehenden Rechtfertigungsaussage dar. Dem Partizip δικαιούμενοι entspricht πάρεσις τῶν προγεγονότων ἁμαρτημάτων (vgl. die Entsprechung von λογίζεται δικαιοσύνην χωρὶς ἔργων und ἀφέθησαν αἱ ἀνομίαι, ἐπεκαλύφθησαν αἱ ἁμαρτίαι sowie οὐ μὴ λογίσηται κύριος ἁμαρτίαν in Röm 4,6-8 oder die Entsprechung von μὴ λογιζόμενος αὐτοῖς τὰ παραπτώματα αὐτῶν und γενώμεθα δικαιοσύνη θεοῦ in 2Kor 5,19.21) und der Adverbialbestimmung τῇ αὐτοῦ χάριτι entspricht der Präpositionsausdruck ἐν τῇ ἀνοχῇ. Die in der Forschung nicht selten anzutreffende Interpretation, welche die πάρεσις-Aussage auf das Handeln Gottes in der Zeit vor dem Sühnetod Jesu oder vor dem Christusglauben bezieht293 , ist angesichts ihrer engen semantischen Verknüpfung mit der Rechtfertigungsaussage in V 24 nicht angemessen. Darüber hinaus kann bei der πάρεσις-Aussage kaum die Rede davon sein, dass Gott allein dem Bundesvolk der Israeliten gegenüber seine Bundestreue durch die Vergebung vergangener Sünden erweist.294 Paulus gibt im näheren Kontext nämlich keinerlei Indiz dafür, dass die von ihm beschriebene πάρεσις allein den Juden gälte und Heiden von ihr ausgeschlossen wären. Die Ausführung zum Heilshandeln Gottes an den sündenverfallenen Menschen ist offensichtlich schon ab V 19 und danach bis einschließlich V 26 universal auf alle Menschen hin ausgerichtet. Damit ist deutlich, auf welchen theologischen Gedanken Paulus mit der ersten ἔνδειξιςAussage hinauswill: Gott stellt seine Gerechtigkeit unter Beweis, indem er in seiner Zurückhaltung die früheren Sünden der an Christus glaubenden Menschen nicht beachtet und ungestraft lässt. Zum Verständnis des Zusammenhangs des Verbs δικαιούμενοι und der Wendung πάρεσις τῶν προγεγονότων ἁμαρτημάτων in V 24-25 müssen Röm 4,6-8 und 2Kor 5,19-21 beachtet werden. An diesen Stellen bringt Paulus nämlich eine vergleichbare Parallelität zwischen der Rechtfertigung und der Sündenvergebung bzw. Nichtanrechnung der Sünden durch Gott zum Ausdruck. In Röm 4,7-8 zieht Paulus PsLXX 31,2 als bestätigendes Schriftwort für die Rechtfertigung des Gottlosen heran. Die drei im Zitat aneinandergereihten synonymen Wendungen – die Vergebung der Gesetzlosigkeiten, die Zudeckung der Sünden und die Nichtanrechnung der Sünden – stehen in einem unmittelbaren Zusammenhang mit der vorausgehenden Aussage über die Anrechnung der Gerechtigkeit für die Menschen, die keine Werke des Gesetzes vorweisen können (4,6). In 2Kor 5,19 spricht Paulus hinsichtlich der

292 So auch Wolter, Römer I, 261f. 293 So z. B. Kuss, Römer, 161; Michel, Römer, 153; Schlier, Römer, 113; Stuhlmacher, Römer, 58; Kraus, Tod Jesu, 148f; Haacker, Römer, 108; Fitzmyer, 352; Jewett, Römer, 291. Gegen diese Position vgl. Käsemann, Römer, 93f; Zeller, Gerechtigkeit Gottes, 67f; Dunn, Romans I, 174. 294 So aber Käsemann, Römer, 93f; Flebbe, Solus Deus, 113f; Lohse, Römer, 136; Theobald, Römer, 208.

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durch Christus ergehenden Heilswirkung auf die Glaubenden ebenfalls davon, dass Gott ihre Übertretungen nicht anrechnet (μὴ λογιζόμενος αὐτοῖς τὰ παραπτώματα αὐτῶν). Und dies korrespondiert auffälliger Weise wieder mit der Vorstellung, dass Gott die Glaubenden zu Gerechten macht (5,21). Zu beachten ist ferner, dass Paulus sehr selten von der Sündenvergebung (mit dem Begriff ἄφεσις) spricht (nur einmal in Röm 4,7 im Zitat aus PsLXX 31,2)295 , stattdessen aber auf andere Formulierungen zurückgreift (etwa nicht bestrafend die Sünde übergehen, Zudecken der Sünde und Nichtanrechnen der Sünde), um die Wirkung des Todes Christi hinsichtlich der menschlichen Sünde zu beschreiben und zum Ausdruck zu bringen, dass die vormaligen Sünden getilgt bzw. aufgehoben worden sind. Dieser Gedanke, dass infolge des Todes Christi die Sünden bzw. Übertretungen der Glaubenden nicht angerechnet und bestraft werden, ist eine besondere Glaubensaussage bei Paulus.296 Die zweite Aussage von ἔνδειξις τῆς δικαιοσύνης αὐτοῦ in V 26 wiederholt im Wesentlichen das, was bereits in V 25b gesagt worden ist; es geht um die Manifestation von Gottes Gerechtigkeit in seinem Heilshandeln an den Sündern. Diese zweite Aussage ist jedoch insofern keine einfache Wiederholung der vorherigen, als in V 26 inhaltlich vorher noch nicht ausgesagte Aspekte benannt werden. Zunächst beschreibt Paulus mit der Wendung ἐν τῷ νῦν καιρῷ den Zeitpunkt, zu dem Gott durch sein Heilshandeln seine Gerechtigkeit sichtbar macht und betont mit ihr, dass die neue Heilszeit nicht zu irgendeinem anderen Zeitpunkt, sondern in der Gegenwart angebrochen ist (vgl. 3,21; 2Kor 6,1-2). Wie das Folgende in V 26b deutlich zeigt, besteht die Besonderheit dieser Heilszeit darin, dass Gott die an Christus Jesus Glaubenden, die vorher Sünder waren, durch seine Zuwendung mit Gerechtigkeit und Heil versieht. Dabei handelt Gott allen Menschen gegenüber unparteiisch. Es ist bedeutungslos, ob jemand Jude ist oder nicht (vgl. 1,16-17; 3,21f; 4,1f; 5,12f; 9-11; vgl. auch Gal 2,15f; 3,6f, u. a.). Dadurch, dass Paulus den Christusglauben als einzig gültigen Heilsweg zur Rechtfertigung vermittelt und dieser für ihn universale Reichweite hat, unterscheidet sich seine Heilsbotschaft von allen vorherigen.297 Im Hinblick auf die Verkündigung dieser Heilsbotschaft kann die Gegenwart des Paulus als eine vollständig neue und als wahre Heilszeit qualifiziert werden, in der Gott durch sein Heilshandeln seine Gerechtigkeit unter Beweis gestellt hat (vgl. 16,25f; 2Kor 6,1-2). Der zweite neue Gesichtspunkt der Weiterführung in V 26 besteht darin, dass der Ausdruck δικαιοσύνη αὐτοῦ auf semantischer Ebene durch εἰς c. inf. erläutert wird. 295 Die Aussage der Sündenvergebung kommt darüber hinaus lediglich in Kol 1,14 (ἄφεσις τῶν ἁμαρτιῶν) und in 2,13 (χαρίζομαι πάντα τὰ παραπτώματα) vor und ist somit innerhalb der paulinischen und deuteropaulinischen Schriften eher selten belegt. 296 Vgl. Delling, Kreuzestod, 24. 297 Vgl. Wolter, Römer I, 263.

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Durch diese weitere Näherbestimmung wird die Gerechtigkeit Gottes in Bezug auf sein Heilshandeln an den Menschen zusätzlich als das Leitthema dieses Abschnittes hervorgehoben. εἰς τὸ εἶναι αὐτὸν δίκαιον κτλ. ist als inhaltliche Weiterführung zu πρὸς τὴν ἔνδειξιν τῆς δικαιοσύνης αὐτοῦ zu verstehen. Ob die Wendung allerdings final oder konsekutiv verstanden werden muss, ist nicht leicht zu entscheiden, da der Text beide Interpretationen zulässt. Darüber hinaus ist es für das Verständnis der gesamten Aussage in V 26b auch relevant, wie die syntaktische und semantische Verknüpfung der Fortführung καὶ δικαιοῦντα τὸν ἐκ πίστεως Ἰησοῦ mit dem voranstehenden Infinitivsatz verstanden wird. Anders als die meisten Übersetzungen und Kommentare es nahelegen, steht das Partizip δικαιοῦντα nicht auf der gleichen Ebene wie die Infinitivkonstruktion. Das Partizip im Akk. Sg. ist vielmehr deutlich dem Infinitiv untergeordnet, da es als prädikative Ergänzung an die Akkusativwendung αὐτὸν δίκαιον angeschlossen ist. Somit gibt es im Anschluss an den Infinitiv, der Gottes Gerechtsein zum Ausdruck bringt, eine Explikation dafür, auf welche Weise Gott sich als gerecht erweist und worin seine Gerechtigkeit besteht. Demnach verschafft Gott jedem Sünder aufgrund des Glaubens an Jesus wieder Gerechtigkeit und erweist seine Gerechtigkeit in diesem Heilshandeln an den Menschen. Nicht die Ungerechtigkeit des Menschen stellt für Paulus somit die Gerechtigkeit Gottes heraus (diesen Gedanken hatte er schon in 3,5f als absurd zurückgewiesen), sondern die Rechtfertigung des sündigen Menschen lässt Gottes Gerechtigkeit in Erscheinung treten. Wenn die sündigen Menschen wieder in den Zustand der Gerechtigkeit versetzt werden und damit ihr Status als Geschöpfe nach Gottes Ebenbild wiederhergestellt wird, manifestiert sich die Gerechtigkeit Gottes. Mit δικαιοῦντα τὸν ἐκ πίστεως Ἰησοῦ greift Paulus offenkundig wieder auf die Aussage δικαιούμενοι δωρεάν κτλ. aus V 24 sowie auf die Formulierung der δικαιοσύνη θεοῦ aus V 21 und 22 zurück. Der generische Singular ὁ ἐκ πίστεως Ἰησοῦ bezeichnet hierbei alle Menschen, die ihr Vertrauen auf Jesus als ihren Retter setzen. Er steht somit für denselben Typus von Menschen, der in 1,16 und 3,22a mit ὁ πιστεύων bezeichnet wird.298 Der Genitiv Ἰησοῦ ist aufgrund des näheren Kontextes als gen. obj. aufzulösen, wie es auch bei den mit πίστις verbundenen Genitiven Ἰησοῦ Χριστοῦ, Χριστοῦ Ἰησοῦ und Χριστοῦ in Röm 3,22; Gal 2,14.20; 3,22; Phil 3,9 der Fall ist. Die nur mit Ἰησοῦ verbundene Wendung ist zwar auffällig, kann aber nicht befriedigend erklärt werden. Jedenfalls ist festzuhalten, dass sie nichts anderes bedeutet als πίστις Ἰησοῦ Χριστοῦ (Röm 3,22) und πίστις Χριστοῦ Ἰησοῦ (Gal 2,16), wodurch auch der Christus-Glaube als die sowohl notwendige als auch hinreichende Bedingung für die Rechtfertigung durch Gott herausgestellt

298 Vgl. Wilckens, Römer I, 199; Wolter, Römer I, 264.

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wird.299 ὁ ἐκ πίστεως Ἰησοῦ ist eine typisch paulinische Formulierung, die sich mit dieser Bedeutung auch im Galaterbrief findet (Gal 3,7.9).300 Gemeint sind damit Menschen, deren „Heils- und Existenzorientierung sich am Christusglauben ausrichtet“.301 Diesen Glaubenden gegenüber bezeichnet Paulus diejenigen, die ihre Heils- und Existenzgrundlage in der Erfüllung des Gesetzes suchen mit οἱ ἐκ νόμου (Röm 4,14.16) oder οἱ ἐξ ἔργων νόμου (Gal 3,10). Auf der Argumentationsebene ist damit erkennbar, dass am Schluss des Abschnitts noch einmal die Rechtfertigung aus dem Glauben als der zentrale Gedanke der Heilsbotschaft, welcher schon in V 21-22 und V 24 beschrieben wurde, zum Ausdruck kommt. Die Begrifflichkeit der Gerechtigkeit bzw. Rechtfertigung, mit der das im Glauben erfahrene Heilsgeschehen zur Sprache gebracht wird, durchzieht den gesamten Abschnitt wie ein roter Faden und gestaltet ihn zu einer Ringkomposition. An dieser Stelle muss nun noch geklärt werden, wie die Aussage über die Gerechtigkeit Gottes mit dem Heilshandeln Gottes gegenüber der sündigen Menschheit zusammenhängt – mit anderen Worten: in welchem Sinne die unterlassene Bestrafung der vergangenen Sünde bzw. die Rechtfertigung der Sünder als ein Erweis der Gerechtigkeit Gottes gelten kann.302 In 2,1f wird doch ausdrücklich festgestellt, dass Gott ein gerechter Richter ist, der den Menschen seinen Taten entsprechend richtet, der keinerlei falsche Rücksicht nimmt und dessen Gericht stets nach dem Maßstab der Wahrheit ergeht (vgl. 2,2f). Die Formulierung δικαιοσύνη αὐτοῦ in 3,25f ist in ihrem nahen Kontext aber anders als die Formulierung in 3,5 in Verbindung mit dem rettenden Heilshandeln Gottes und zwar mit dem Nicht-Bestrafen bzw. der Rechtfertigung der Sünder gesetzt. Daraus ergibt sich die Frage, wie sich eine solche Assoziation von göttlicher Gerechtigkeit und göttlichem Heilshandeln erklären lässt. Zur Klärung dieser Problematik sind bisher verschiedene Erklärungsmodelle entwickelt worden. An erster Stelle ist der sogenannte Satisfaktionsgedanke zu nennen, der sich zuerst bei Anselm von Canterbury findet und von manchen bis heute vertreten wird. Nach diesem Gedanken kann die Aussage über Gottes Gerechtigkeit in V 25-26 im dem Sinne verstanden werden, dass Gottes Gerechtigkeit in seinem Handeln an Christus sichtbar wird, indem er diesen zum Sühneopfer macht.303 Der Tod Christi ist nach diesem Verständnis eine die Sünde der Menschen aufwiegende

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Vgl. Schlier, Römer, 115. Vgl. Wolter, Römer I, 264. Wolter, Römer I, 264. Vgl. auch Schlier, Römer, 115; Lohse, Römer, 136. Diese Frage ist m. E. in bisherigen Arbeiten nicht ausreichend behandelt worden und wird meistens sogar ganz ausgelassen. 303 Vgl. Anselm, Cur Deus homo, XII u. passim.

Die Gerechtigkeit Gottes und seine universal gültige Rechtfertigung der Menschen: Röm 3,21-31

Ersatzleistung, die die Wiedergutmachung der durch die menschliche Sünde verletzten Ehre bzw. Gerechtigkeit Gottes ermöglicht.304 Gemäß diesem Verständnis wird die zweifach erwähnte δικαιοσύνη αὐτοῦ semantisch als iustitia distributiva und damit als richtende Gerechtigkeit Gottes aufgefasst, deren Anspruch im sühnenden Tod Christi erfüllt wurde.305 Allerdings ist der hier als Attribut Gottes gebrauchte Begriff δικαιοσύνη nicht zwingend ausschließlich in diesem negativen Sinne als richtende Gerechtigkeit zu verstehen, sondern er hat eine umfassendere semantische Breite (s. u.).306 Hinzu kommt, dass, wie die Untersuchung über den Begriff ἱλαστήριον bereits gezeigt hat, die Deutung dieses Begriffs als Sühnemittel oder -ort im strengen Sinne nicht haltbar ist. Deutlich geworden ist hingegen, dass die grundlegende Bedeutung des Begriffs ἱλαστήριον in Bezug auf eine gestiftete Weihegabe darin liegt, den (sündigen) Menschen zu bedecken und so vor dem zornigen Gericht Gottes zu schützen. Schließlich klärt der oben genannte Deutungsvorschlag, δικαιοσύνη αὐτοῦ im Zusammenhang mit dem sühnenden Tod Jesu als eine richtende Gerechtigkeit Gottes zu verstehen, den Zusammenhang zwischen dem Erweis der göttlichen Gerechtigkeit und dem Heilshandeln Gottes, welches in den beiden Wendungen διὰ τὴν πάρεσιν τῶν προγεγονότων ἁμαρτημάτων sowie δικαιοῦντα τὸν ἐκ πίστεως Ἰησοῦ zum Ausdruck gebracht wird, nur unzureichend. Die zweimalige ἔνδειξις-Aussage ist im vorliegenden Text eindeutig mit dem göttlichen Handeln des Nichtbeachtens der vergangenen Sünden einerseits und der Rechtfertigung der an Jesus Christus Glaubenden andererseits verbunden und nicht mit dem durch ἱλαστήριον artikulierten Tod Christi.307 Eine weitere, in der Forschung häufig anzutreffende Erklärung für das Verhältnis zwischen der Aussage δικαιοσύνης αὐτοῦ und dem göttlichen Heilshandeln hängt gerade mit der semantischen Auffassung des Begriffs δικαιοσύνη zusammen. Viele Exegeten behaupten, dass dieser nicht mit der geläufigen Übersetzung „Gerechtigkeit“ wiederzugeben sei, sondern vor dem Hintergrund des alttestamentlichen Sprachgebrauchs im Sinne von Bundestreue oder Barmherzigkeit verstanden werden müsse und damit die positive Konnotation des Begriffs δικαιοσύνη im Zusam-

304 So auch Zeller, Gottes Gerechtigkeit, 60ff; Knöppler, Sühne, 113f; Söding, Sühne, 379ff; Theißen, Erleben und Verhalten, 315. 305 So z. B. Sanders, Paul, 673f. 306 Vgl. dazu Teil II.A.1 dieser Arbeit. 307 Viele Exegeten lesen aber beide ἔνδειξις-Wendungen im Zusammenhang mit dem in V 25 durch die Begriffe ἱλαστήριον und αἷμα geschilderten Tod Jesu (vgl. Ridderbos, Paulus, 123; Delling, Kreuzestod, 17; Knöppler, Sühne, 113ff; Gaukesbrink, Sühnetradition, 233f; Zeller, Gottes Gerechtigkeit, 60ff; Longenecker, Romans 432ff). Syntaktisch gesehen ist die erste ἔνδειξις-Aussage jedoch unmittelbar mit διὰ τὴν πάρεσιν τῶν προγεγονότων ἁμαρτημάτων verbunden und die zweite mit εἰς τὸ εἶναι αὐτὸν δίκαιον καὶ δικαιοῦντα τὸν ἐκ πίστεως Ἰησοῦ.

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menhang mit dem Nichtbeachten der Sünde und der Rechtfertigung in Röm 3,25-26 erklärt werden könne.308 Das Verständnis von δικαιοσύνη als Bundestreue bzw. Barmherzigkeit Gottes wird damit begründet, dass in der griechischen Übersetzung des Alten Testaments der Begriff δικαιοσύνη als Bezeichnung einer Eigenschaft Gottes sehr häufig neben anderen Gottes Eigenschaft beschreibenden Prädikaten wie etwa ἔλεος, μακροθυμία, ἀλήθεια und χρηστότης steht.309 Doch muss hier beachtet werden, dass einzelne Begriffe nicht allein aufgrund ihres gemeinsamen Vorkommens semantisch als deckungsgleich anzusehen sind. Die Semantik des Terminus δικαιοσύνη ist nicht deckungsgleich mit der Semantik der deutschen Begriffe Treue und Barmherzigkeit, mit denen die griechischen Begriffe πίστις und ἔλεος häufig wiedergegeben werden. Der Terminus δικαιοσύνη bringt dagegen den Aspekt des Wesens Gottes zum Ausdruck, dass er gerecht und rechtmäßig handelt und so auch in seinem Wesen gerecht ist. Im Grunde genommen wird δικαιοσύνη demnach als Bezeichnung einer positiven Eigenschaft Gottes verwendet und hat in diesem Sinne eine umfassende Bedeutung. In den meisten Fällen meint die Rede von Gottes Gerechtigkeit, wie viele Belegstellen im Alten Testament und in frühjüdischen Texten zeigen, eine vergeltende, strafende Gerechtigkeit. Demgegenüber steht die Rede von Gottes Gerechtigkeit aber auch nicht selten im Zusammenhang mit dem Handeln Gottes zugunsten eines Frommen bzw. des Volkes Israel, der bzw. das von Frevlern bzw. fremden Völkern unterdrückt wird. Um die Verbindung der Wendung δικαιοσύνη αὐτοῦ mit διὰ τὴν πάρεσιν κτλ. und δικαιοῦντα τὸν ἐκ πίστεως Ἰησοῦ in 3,25-26 genauer zu verstehen, leisten die auf das Heilshandeln bezogenen Aussagen über Gottes Gerechtigkeit im Alten Testament und in den frühjüdischen Texten einen entscheidenden Beitrag, welche auf sein Heilshandeln bezogen sind.310 Meines Erachtens sind besonders die Plagenund Exoduserzählung in Ex 7-15 und die prophetischen Orakelreden über das eschatische Heil und die Restitution Israels im Jasajabuch – wie etwa in Jes 45; 51; 59; 61 – als Verstehenshintergrund für Röm 3,25b-26 von Bedeutung. In diesen Texten

308 Vgl. Kertelge, Rechtfertigung, 81ff; Ziesler, Meaning, 193f; Käsemann, Gottes Gerechtigkeit, 374f; ders., Römer, 92ff; Wilckens, Römer I, 196ff; Flebbe, Solus Deus, 111ff; Lohse, Römer, 135f; Gaukesbrink, Sühnetradition, 233f. 309 Vgl. GenLXX 24,27; ExLXX 34,6; DtnLXX 32,4; PsLXX 87,12-13; 88,15; 102,27; 142,1; 144,7; Jub 31,25; 1QS 11,12-14; 4Esr 8,36. 310 Ferner ist der Umstand zu beachten, dass das Offenbarwerden bzw. der Erweis der Gerechtigkeit Gottes bereits im Alten Testament und in den frühjüdischen Texten eine wichtige Thematik theologischer Reflexion ist. Anders als in der Forschung häufig getan, können m. E. die Textstellen CD 2,4f; 1QH 11,12f und 4Esra 8,31-36 aber nicht für die Interpretation von Röm 3,25-26 herangezogen werden. Denn die Rede von Gottes Gerechtigkeit an diesen Stellen steht in keiner Verbindung mit dem rechtfertigenden und nicht bestrafenden Handeln Gottes, von dem Paulus spricht.

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fällt auf, dass die Manifestation der Gerechtigkeit Gottes und die Anerkennung JHWHs als des einzigen und rettenden Gottes als das Ziel dargestellt werden, auf das Gottes Heilshandeln ausgerichtet ist. Nach der Schilderung der Exoduserzählung liegt der Grund für die Verstockung des Pharaos und das Gericht über ihn und sein Volk darin, dass Gott seine göttliche und rettende Macht erweisen will (vgl. ExLXX 6,6-7; 7,5.17; 8,10; 9,14.16; 10,2; 14,18.31). Dabei kommt zweimal die Rede von der δικαιοσύνη Gottes vor, nämlich in Ex 9,27, wo nach der siebten Plage der Pharao gegenüber Mose bekennt, dass Gott gerecht ist (ὁ κύριος δίκαιος), und in Ex 15,13, wo Mose die Heilstaten JHWHs an Israel besingt: „Du leitest in deiner Gerechtigkeit dieses dein Volk (ὡδήγησας τῇ δικαιοσύνῃ σου τὸν λαόν σου τοῦτον), das du erlöstest, du ludest in deiner Kraft dein heiliges (Volk) ein in die Herberge.“ Der Erweis der Gerechtigkeit Gottes besteht darin, dass er die sein Volk Israel versklavenden und unterdrückenden Ägypter bestraft und sein Volk von diesem Sklavendienst erlöst. In diesem Heilshandeln Gottes manifestieren sich seine Gerechtigkeit, Herrlichkeit und Stärke (vgl. ExLXX 13,3.16; 14,4.17.18; 15,6.21). Dabei geht eindeutig aus dem Text hervor, zu welchem Zweck JHWH sein Volk erlöst; nämlich dem Zweck, dass die Israeliten anstelle der Götter Ägyptens fortan ihm allein dienen (ExLXX 7,16; 8,1.8.20; 9,1.13; 10,26; 12,31).311 Zwar ist hier von einer Rechtfertigung der Israeliten keine Rede, doch ist impliziert, dass das Volk Israel durch seinen Auszug aus Ägypten in das verheißene Land dazu bestimmt ist, zu einem gerechten Volk zu werden (vgl. ExLXX 15,26). Den Höhepunkt der Exoduserzählung bildet der Bericht vom Passafest, bei dem ein Opferlamm geschlachtet wird, dessen Blut die Israeliten vor dem zornigen Gericht Gottes an Ägypten bewahren soll. Wie oben gezeigt, kann die in Röm 3,24-26 anzutreffende Vorstellung des Heilsgeschehens besonders aufgrund der Wendungen πάρεσις τῶν προγεγονότων ἁμαρτημάτων und ἱλαστήριον διὰ τῆς πίστεως ἐν τῷ αὐτοῦ αἵματι auf den Bericht vom Passafest in Ex 12 anspielen; dies legt die Vermutung nahe, dass die zentralen Ausdrücke der Exoduserzählung die paulinischen Formulierungen an dieser Stelle geprägt haben. Neben der Exoduserzählung ist wie gesagt auf JesLXX 45; 51,1-16; 56,1-8; 59,15-21; 61-62 als Verstehenshintergrund für Röm 3,26 hingewiesen worden. Dort ist häufig von der δικαιοσύνη Gottes (JesLXX 45,8.19.24; 51,5.8; 56,1; 59,17; 61,11; 62,1-2; vgl. auch JesLXX 46,13; 63,1) die Rede und das Thema der Gerechtigkeit Gottes und dessen darin begründeter Rettungstat durchzieht die Texte wie ein roter Faden. Die Rettung Israels und seine Restitution als Gottesvolk sind in der Gerechtigkeit Gottes und seiner wahren Gottheit begründet. In umgekehrter Perspektive lässt

311 Das Motiv, dass das Volk Israel von den Göttern Ägyptens ablassen und allein JHWH dienen soll, kann auch auf den paulinischen Imperativ, Gott zu dienen, in Röm 6 bezogen werden.

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sich sagen, dass die Rettung der Israeliten zur Folge hat, dass die Gerechtigkeit Gottes vor den Augen der Völker kundgetan wird, sodass Israel zusammen mit den Völkern bekennen kann, dass JHWH allein ein gerechter und rettender Gott ist (vgl. die in JesLXX 45 wiederkehrende Aussage „keiner sonst ist Gott außer mir“; vgl. auch JesLXX 49,26; 52,9-10). Im eschatischen Geschehen rettet Gott diejenigen, die auf ihn vertrauen und auf seinem Weg wandeln; diejenigen aber, die an fremden Göttern festhalten und sich dem Angebot der Zuwendung und Rettung widersetzen, werden beschämt. Um am eschatischen Heil teilzuhaben, müssen sich alle Sünder zu JHWH bekehren und ihn als einzigen Erlöser und Retter bekennen. Wichtig ist hierbei, dass der eschatische Ruf zur Hinwendung zu JHWH über Israel hinaus auf alle Völker ausgeweitet ist (vgl. JesLXX 45,20-23; 56,6-7). Mit der universalen Weite bei der Beschreibung des göttlichen Heilshandelns in Röm 3,2526 knüpft Paulus womöglich ganz bewusst an diese jesajanische Darstellung von der Heilstat JHWHs an allen Völkern an. Die im Jesajatext häufig vorkommende Rede von der Einzigkeit Gottes und deren universaler Bedeutung kommt auch der Passage Röm 3,27-30 sehr nahe. Zu beachten ist ferner, dass das Heilshandeln Gottes nicht allein auf die Manifestation seiner Gerechtigkeit und Herrlichkeit abzielt, sondern auch auf das Gerechtwerden bzw. die Verherrlichung seines Volkes (vgl. JesLXX 45,25; 48,18; 54,14.17; 56,1; 58,8; 60,21; 61,3.10; 62,2). Gerade in diesem Punkt besteht eine wesentliche Gemeinsamkeit mit Röm 3,25-26, wo Paulus vom Erweis der göttlichen Gerechtigkeit im Zusammenhang mit dem Heilshandeln Gottes an den sündigen Menschen spricht. Wie in der Jesaja-Vision wird auch bei Paulus der Heilsratschluss Gottes vollendet, wenn die abgefallene Menschheit wieder als gerecht restituiert wird. 2.

Die universal geltende Rechtfertigung aus dem Glauben (3,27-31)

2.1

Ausschluss des Selbstruhms in der Rechtfertigung aus dem Glauben (V 27)

Bei der Frage in V 27, ποῦ οὖν ἡ καύχησις, geht es darum, worin bei der durch Glauben empfangenen Rechtfertigung das Selbstrühmen des Menschen bestehen könnte.312 Mit der schroffen und entschiedenen Antwort ἐξεκλείσθη weist Paulus jede Möglichkeit menschlichen Selbstrühmens zurück. Die Gründe für diese Zurückweisung hat er im Vorangegangenen bereits ausführlich dargelegt. Danach ist die Gerechtigkeit, der Heilszustand der Glaubenden, keinesfalls eine Sache, die durch menschliche Leistungen wie die Erfüllung der Gesetzesforderungen zustande

312 Die mit οὖν eingeleitete rhetorische Frage bezieht sich auf den vorangegangenen Abschnitt, sodass das mit ihr Implizierte in einem engen Zusammenhang mit dem Argumentationsgang von V 21-26 zu begreifen ist.

Die Gerechtigkeit Gottes und seine universal gültige Rechtfertigung der Menschen: Röm 3,21-31

kommt. Gemessen am Maßstab des Gesetzes müssen alle Menschen als ungerechte Sünder beurteilt werden und sind damit dem göttlichen Gericht verfallen. In dieser ausweglosen heillosen Lage hat Gott als Heilsinitiator den Menschen durch das Christusgeschehen einen Heilsweg erschlossen, sodass nun jeder aufgrund des Christusglaubens Gerechtigkeit erlangen kann. Damit beruht die Ermöglichung der Gerechtigkeit auf keiner menschlichen Gegenleistung, sondern ganz und gar auf der Gnade des Gottes, der seinen Sohn Jesus für die Sünder als die Sünde bedeckendes Mittel hingegeben hat (V 24-25).313 Die Glaubenden haben somit keinerlei Grund, sich der gewonnenen Gerechtigkeit zu rühmen und Paulus verleiht diesem Sachverhalt durch die in V 27a vorgetragene rhetorische Fragestellung deutlichen Ausdruck. Besondere exegetische Schwierigkeiten begegnen bei der Auslegung der nachfolgenden zweiten Frage und ihrer Beantwortung in V 27b, die elliptisch ohne Prädikat formuliert sind. Strittig ist vor allem, worin der inhaltliche Zusammenhang des ganzen Satzes besteht und wie die sich gegenüberstehenden Syntagmen νόμος τῶν ἔργων und νόμος πίστεως zu verstehen sind.314 Die meisten Exegeten sind der Ansicht, dass als das fehlende Prädikat das vorausgehende ἐξεκλείσθη zu ergänzen sei und so alle drei Satzfragmente syntaktisch vom ersten Satzteil in V 27a abhängig sind. Das Passiv ἐξεκλείσθη wird dabei als passivum divinum verstanden. Die von Paulus gestellte Frage lautete dann folglich, wodurch hat Gott jegliches Rühmen des Menschen ausgeschlossen, und für eine mögliche Antwort wird auf das Gegenüber von νόμος τῶν ἔργων und νόμος πίστεως verwiesen.315 Der weitere Kontext macht diese Deutung jedoch unwahrscheinlich, da das Gegenüber von Werken und Glauben hier immer auf die Frage nach dem Grund der Rechtfertigung bezogen ist. Um das Gegenüber zwischen νόμος τῶν ἔργων und νόμος πίστεως in 27b zu verstehen, muss der Blick auf 4,2f gerichtet werden, wo Paulus GenLXX 15,6 zitiert und aus der Perspektive des Christusglaubens reinterpretiert. Paulus verweist darauf, dass Abraham nicht aufgrund von Werken (ἐξ ἔργων: 4,2), sondern aufgrund des Vertrauens auf Gott (πίστις αὐτοῦ: 4,5) gerechtfertigt wurde, und schließt daraus,

313 Dass die Rechtfertigung des Gottlosen allein auf der Gnade Gottes beruht, wird vor allem in der Ausführung in Röm 4,4, wo Paulus die Rechtfertigung des Gottlosen mit dem Bild von Arbeit und Lohn als unverdiente Gnade beschreibt, anschaulich dargestellt (vgl. 5,1-2.16-17). 314 Zu τῶν ἔργων ist vor dem Hintergrund der Gegenüberstellung zu νόμου πίστεως der Begriff νόμος zu ergänzen. Syntaktisch kann der Genitiv τῶν ἔργων aber auch anders als in der Satzteilung im NA so verstanden werden, dass er von διὰ ποίου νόμου abhängig ist. Deutlich ist aber in allen Fällen, dass der Begriff νόμος zu ergänzen ist. 315 So die meisten Exegeten, vgl. nur Wilckens, Römer I, 244f; Schier, Römer, 116; Lohse, Römer, 137; Haacker, Römer, 109f; Wolter, Römer I, 269f.

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Die Gerechtigkeitsaussagen im Römerbrief

dass für Abraham damit jeglicher Anspruch, sich vor Gott zu rühmen, ausgeschlossen sei. Die Thematik des Ausschließens des menschlichen Rühmens, auf die Paulus in 4,2f ebenso wie in 3,27 zu sprechen kommt, ist mit der Frage verbunden, wodurch der Mensch Gerechtigkeit erlangen kann. Die Alternative von Glauben und Werken bezieht sich in 4,2f also direkt auf den Grund der Rechtfertigung und nicht auf die Frage nach der Berechtigung des Rühmens vor Gott; der Bezug auf diese Frage ist lediglich ein indirekter. Wird die Frage nach dem Gegenüber von Glauben und Werken und deren Beantwortung in 3,27 vor dem Hintergrund dieser parallelen Argumentation in 4,2f betrachtet, zeigt sich, dass Paulus an dieser Stelle den christlichen Adressaten nochmals vor Augen führen will, wodurch ihre Rechtfertigung erfolgt ist.316 Als das fehlende Verb ist in diesem Zusammenhang schließlich δικαιοῦσθαι zu ergänzen.317 Eine weitere in der Forschung sehr umstrittene Frage ist, was der Begriff νόμος in den Wendungen νόμος τῶν ἔργων und νόμος πίστεως jeweils bedeutet. Im Wesentlichen werden drei Deutungen vorgeschlagen: (1) νόμος bezieht sich in beiden Syntagmen auf die Tora318 ; (2) in der ersten Wendung bezieht sich νόμος auf die Tora, in der zweiten hingegen ist es im metaphorischen Sinne als „Maßstab, Ordnung, Prinzip“ zu verstehen319 ; (3) νόμος bedeutet in beiden Wendungen „Prinzip“ bzw. „Ordnung“320 . Das semantische Feld des Begriffs νόμος schließt durchaus die Bedeutungen „Maßstab, Ordnung, Prinzip“ ein321 . Auch Paulus verwendet den Begriff an einigen Stellen in diesem Sinne (vgl. 7,21a.23a.c-d; 8,2). Meistens gebraucht er ihn aber zur Bezeichnung der Tora, des ersten Teils der alttestamentlichen Schriften, der zugleich als das bedeutendste jüdische Gesetzbuch gilt (vgl. 3,19-21.28.31; 4,13-16; 5,13.20; 7,1.4-9.12.14 u. ö.). 316 Wie oben gezeigt, gibt es in der Exegese die deutliche Tendenz, διὰ ποίου νόμου κτλ. in Verbindung mit ἐξεκλείσθη zu verstehen. Syntaktisch sind die Sätze διὰ ποίου νόμου; τῶν ἔργων; οὐχί, ἀλλὰ διὰ νόμου πίστεως vom Verb ἐξεκλείσθη aber getrennt zu sehen und als das fehlende Verb ist δικαιοῦσθαι hinzuzufügen. 317 Ein mit Röm 3,27 vergleichbarer Gedankengang findet sich in Eph 2,8f, wo ebenfalls der Glaube als die Grundlage des Heils den Werken gegenübergestellt ist. 318 In diese Richtung tendieren viele Exegeten, aber mit unterschiedlichen Nuancen. Vgl. Friedrich, Das Gesetz, 120: „Das des Glaubens (Röm. 3,27) ist das Gesetz, das die Glaubensgerechtigkeit bezeugt (Röm. 3,21).“ (sehr ähnlich auch Michel, Römer, 155; Lohse, Römer, 137); Hahn, Gesetzesverständnis, 49: „das Gesetz, wie es für den, der von Sünde und Tod befreit ist, verpflichtend in Erscheinung tritt.“; Hübner, Gesetz, 119f: „das rechte Verhalten zum Willen Gottes …, wie er in der Tora seinen Ausdruck findet.“; Osten-Sacken, Heiligkeit, 30: „die durch den Glauben in Kraft gesetzte Tora“; Wilckens, Römer I, 245f: „dem Glauben zugeordnetes Gesetz“ oder „die im Glauben zu ihrer ursprünglichen Bestimmung gekommene Tora“. 319 So Schumacher, Entstehung, 348ff; Wolter, Römer I, 269f. 320 Vgl. Kuss, Römer, 175f; Zeller, Römer, 92f; Fitzmyer, Romans, 363; Haacker, Römer, 110; Räisänen, Paul and Law, 50–52; ders. ΝΟΜΟΣ, 119–147; Moo, Romans, 246–250 u. a. 321 Vgl. BAA, s.v.; LSJ, s.v.; Passow, s.v.

Die Gerechtigkeit Gottes und seine universal gültige Rechtfertigung der Menschen: Röm 3,21-31

Die Entscheidung, welche Bedeutungsmöglichkeit jeweils den Vorzug verdient, ist aufgrund des unmittelbaren Kontextes zu fällen. Wie eben dargestellt, handelt es sich bei der rhetorischen Frage in V 27 aufgrund ihres argumentativen Zusammenhangs mit den vorausgehenden und nachfolgenden Versen um die Feststellung, dass es bei der aufgrund des Christusglaubens erfolgten Rechtfertigung keinen Grund zum menschlichen Rühmen geben kann. Wenn Paulus so auf die Rechtfertigung zu sprechen kommt und die Begriffe ἔργα und πίστις für ihre mögliche Bedingung gegenüberstellt, bezeichnet ἔργα die Taten, durch die die Forderungen des Gesetzes erfüllt werden und πίστις den Glauben an Christus. Dieser Befund schließt die erste Interpretationsmöglichkeit aus, dass Paulus mit νόμος τῶν ἔργων und νόμος πίστεως von zwei verschiedenen Aspekten oder Funktionen der Tora spricht. Der Glaube an Christus als der einzige Weg zur Gerechtigkeit kann jedoch weder einfach ein neues Verständnis der Tora sein noch etwas zur Tora Gehörendes322 , wenn im vorliegenden Textzusammenhang der Glaube und die Erfüllung der Tora eindeutig als sich ausschließende Bedingungen für die Rechtfertigung benannt werden. Der unmittelbar anschließende V 28, in dem Paulus feststellt, dass die Rechtfertigung ohne Werke des Gesetzes, allein aufgrund Glaubens an Christus erfolgt, ist demnach entscheidend für das Verständnis der Gegenüberstellung von νόμος τῶν ἔργων und νόμος πίστεως in V 27. Dass es bei der Gegenüberstellung in V 27 um zwei verschiedene Wege als Antwort auf die Frage geht, wie der Mensch vor Gott Gerechtigkeit erlangen kann, wird auch durch die Beschreibung der Rechtfertigung Abrahams in 4,2-5 bestätigt, bei der sich Werke und Glaube als zwei Prinzipien gegenüberstehen. Die Intention der Gegenüberstellung von νόμος τῶν ἔργων und νόμος πίστεως in Form von Fragen und Antworten in V 27 besteht letztlich darin, den Adressaten erneut deutlich zu machen, auf welchem Weg sich ihre Rechtfertigung ereignet. 2.2

Der einzige Gott rechtfertigt Juden wie Nichtjuden aus dem Glauben (V 28-30)

In V 28f führt Paulus den Gedankengang von V 27 weiter. Der mit γάρ angeschlossene Satz liefert nicht eine logische Begründung für das zuvor Gesagte, sondern ver-

322 Die Aussage von V 21, dass die aus dem Glauben kommende Gerechtigkeit durch die Tora bezeugt wurde, und die Aussage von V 31, dass das Gesetz durch den Glauben aufgerichtet wird, müssen nicht notwendig für die Interpretation des Ausdrucks νόμος πίστεως herangezogen werden, da beide Aussagen zum Ausdruck bringen, dass die Heilsbotschaft des Paulus in Kontinuität mit der heiligen Schrift steht und dieser nicht widerspricht. Das, was Paulus mit νόμος πίστεως im Gegenüber zu νόμος τῶν ἔργων zum Ausdruck bringen will, und der Aussagegehalt von V 21 und V 31 sind sehr unterschiedlich. Man darf also νόμος πίστεως nicht in Zusammenhang mit V 21 und V 31 als die den Christusglauben bezeugende Tora interpretieren.

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Die Gerechtigkeitsaussagen im Römerbrief

stärkt die vorangegangene Argumentation, indem er das bereits Gesagte nochmals variiert. Die Verbindung von δικαιοῦσθαι und πίστις mit der Näherbestimmung χωρὶς ἔργων νόμου zeigt, dass Paulus hier den in V 20f entfalteten Gedanken aufgreift. Das durch keinen Artikel bestimmte Substantiv ἄνθρωπος meint hier „ein Mensch im generellen Sinn“323 . Es steht im Textzusammenhang metonymisch für alle Menschen, Juden wie Nichtjuden, und bringt damit die universale Weite der Rechtfertigungsbotschaft zum Ausdruck.324 Die Adverbialbestimmung πίστει verweist ohne Zweifel auf den Glauben an Jesus Christus, welcher im vorausgehenden Abschnitt mehrfach im Zusammenhang mit der Rechtfertigung erwähnt wird. Da der Dativ πίστει den Grund der Rechtfertigung bezeichnet, ist er instrumental zu verstehen; im folgenden Vers wird es wiederum durch die Wendungen ἐκ πίστεως und διὰ τῆς πίστεως ausgedrückt. Der Ausdruck χωρὶς ἔργων νόμου macht noch einmal deutlich, dass die Rechtfertigung durch Gott unabhängig davon geschieht, ob der Mensch ein Gesetz befolgt oder nicht. Somit entspricht die Verbindung δικαιοῦσθαι χωρὶς ἔργων νόμου inhaltlich der Wendung χωρὶς νόμου δικαιοσύνη θεοῦ in V 21. ἔργα νόμου bezeichnet schließlich die Taten, durch die das Gesetz befolgt wird.325 Als nächstes muss nach der Bedeutung des Passivs δικαιοῦσθαι gefragt werden. Wie bereits gezeigt, kann das Passiv grundsätzlich ohne Bezugnahme auf Gott als handelndes Subjekt mit „gerecht werden“ wiedergegeben werden. Im vorliegenden Kontext kann es jedoch als ein passivum divinum aufgefasst werden, da im folgenden Vers dasselbe Verb im Aktiv ausdrücklich mit Gott als Subjekt verbunden ist. Bei diesem Gebrauch des Verbs geht es Paulus, wie bereits häufig gezeigt, um einen forensischen Akt, in dem Gott einen Menschen als gerecht anerkennt und ihn in den Status des Gerechtseins versetzt. Nicht zu übersehen ist die Parallelität des Satzes mit Gal 2,16 (εἰδότες δὲ ὅτι οὐ δικαιοῦται ἄνθρωπος ἐξ ἔργων νόμου ἐὰν μὴ διὰ πίστεως Ἰησοῦ Χριστοῦ). Dort erklärt Paulus, dass die Erlangung der Gerechtigkeit allein durch den Christusglauben möglich ist. Auffällig ist dabei, dass Paulus im Zusammenhang mit der Rechtfertigungsaussage häufig auf die Thematik der Beschneidung zu sprechen kommt (Gal 2-5,6; 6,11-16), was auch im vorliegenden Text der Fall ist (vgl. V 30; 4,1f). Wenn Paulus zur Frage der Rechtfertigung meint, dass der Mensch nicht aus Werken des Gesetzes, sondern durch den Glauben an Jesus Christus gerechtfertigt wird, dann hat er mit dieser Aussage vor allem die Juden im Blick, die die Toraobservanz immer noch als Heilsweg ansehen. Bei den toraobservanten Juden steht die Befolgung der

323 Vgl. dazu Schlier, Römer, 116; Lohse, Römer, 138, Anm. 33; Wolter, Römer I, 270. 324 Vgl. Wolter, Römer I, 270. 325 Vgl. Wolter, Römer I, 271.

Die Gerechtigkeit Gottes und seine universal gültige Rechtfertigung der Menschen: Röm 3,21-31

Beschneidung als Bedingung für die Zugehörigkeit zum Gottesvolk im Vordergrund. Sie fordern daher auch von den Heiden, sich beschneiden zu lassen, damit sie in das Volk Gottes aufgenommen werden. Dass die glaubenden Heiden aber die Beschneidung nicht benötigen, um als gerecht anerkannt zu werden, verdeutlicht Paulus durch den Verweis auf die Rechtfertigung Abrahams zu dem Zeitpunkt, als er noch nicht beschnitten war.326 Bei der auf die zentrale These zur Rechtfertigung folgenden zweiten rhetorischen Frage geht es darum, ob sich Anspruch und Geltungsbereich Gottes nur auf die Juden beschränken (V 29). Implizit steckt dabei schon in der rhetorischen Frageform eine Behauptung. In der zweiteiligen Frage (ἢ Ἰουδαίων ὁ θεὸς μόνον; οὐχὶ καὶ ἐθνῶν;) und deren Beantwortung (ναὶ καὶ ἐθνῶν) kommt die grundlegende Überzeugung über Gott zum Ausdruck, dass er nicht allein Gott der Juden ist, sondern auch Gott der Heiden und damit aller Menschen. Allerdings ist dies noch nicht das Hauptargument, auf das Paulus hier hinauswill. Mit der emphatischen Betonung des universalen Geltungsbereichs Gottes will Paulus darauf hinweisen, dass im durch den Christusglauben erfolgten Heil Gottes keine Differenz zwischen Juden und Nichtjuden bestehen kann. In seinen vorausgehenden Ausführungen in 3,19-26 hatte Paulus schon mehrfach direkt und indirekt auf den universalen Aspekt des göttlichen Heilsgeschehens hingewiesen. Alle Menschen, sowohl Juden als auch Nichtjuden, haben Sünden begangen und damit die Herrlichkeit Gottes verloren (V 23). Alle Menschen können aber auch aufgrund des Glaubens an Christus Gerechtigkeit erlangen, da Gott durch das Heilsgeschehen in Christus einen neuen Weg zur Gerechtigkeit erschlossen hat (V 24-26). Die Universalität der Heilsbotschaft ist bislang hauptsächlich im Hinblick auf den Glauben der Menschen, der Juden wie Nichtjuden gleichermaßen Gerechtigkeit verschafft, herausgestellt worden. Die Universalität der Heilsbotschaft besteht aber nicht nur in der allgemeinen Zugänglichkeit des Glaubens, sondern ist nach Paulus auch in der Einzigkeit Gottes begründet. Somit hat sich die Begründung der Universalität der Heilsbotschaft verschoben vom anthropologischen Fokus auf den Glauben des Menschen zum Fokus auf das Wesen Gottes selbst.327 Die in V 29 vorgetragene These, dass Gott der Gott aller Menschen ist, geht offensichtlich auf das jüdische monotheistische Gottesverständnis zurück.328 Dass Gott als

326 Dass auch in Röm 3,27f die Frage nach der Rolle der Beschneidung bei der Rechtfertigung im Hintergrund des Argumentationsgangs steht, wird weiterhin durch die Aussage in V 30, mit der Paulus die für die Unbeschnittenen wie Beschnittenen geltende Rechtfertigung feststellt, und die Heranziehung der Rechtfertigung Abrahams in Röm 4 bestätigt (s. u.). 327 So auch Haacker, Römer, 112. 328 So auch viele, vgl. nur Wilckens, Römer I, 248; Schlier, Römer, 117f; Haacker, Römer, 112; Lohse, Römer, 138f; Zimmermann, Namen des Vaters, 560f; Wolter, Römer I, 271f. In der paganen Gräzität findet sich auch die Vorstellung, dass Gott einer ist. Zu den Belegen vgl. Zeller, Der eine Gott, 36ff.

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Die Gerechtigkeitsaussagen im Römerbrief

Schöpfer und Herrscher der Welt über die ganze Welt und alle Menschen regiert, ist eine mehrfach belegbare Gottesvorstellung im Alten Testament und frühen Judentum.329 Paulus bedient sich dieser Gottesvorstellung, um sein Argument der universalen Gültigkeit der Heilsbotschaft zu begründen. In V 30 stellt Paulus im Anschluss an seine Ausführungen zur Universalität der Heilsbotschaft in V 29 nun ausdrücklich fest, dass Gott der Eine bzw. Einzige ist (εἷς ὁ θεός). Die Charakterisierung JHWHs als einziger Gott mit dem Adjektiv εἷς findet sich in der LXX an vier Stellen: DtnLXX  6,4; SachLXX  14,9; DanLXX  3,17 und MalLXX  2,10.330 Sprachlich steht Mal 2,10 (θεὸς εἷς) der paulinischen Formulierung am nächsten; als eine wesentliche Vorlage kommt vor allem aber DtnLXX  6,4 in Frage.331 Die von den alttestamentlichen Belegen abweichende Formulierung in V 30 legt jedoch auch nahe, dass Paulus nicht auf eine bestimmte Vorlage zurückgreift, sondern auf einen jüdischen Grundsatz, dem auch die jüdischen Gegner zustimmen müssen. Mit dieser Charakterisierung Gottes kommt im vorliegenden Kontext aber nicht allein die Einzigkeit Gottes im Hinblick auf die Gesamtheit der Menschen zur Sprache, sondern auch die Gleichheit im Handeln Gottes an den Menschen. Paulus erweitert damit den jüdischen Grundsatz der Einzigkeit Gottes um den Gedanken seines Heilshandelns, indem er seine Rolle eines gerecht sprechenden Richters ins Spiel bringt. Der eine Gott ist nicht allein Schöpfer und Herrscher über die gesamte Menschheit, sondern auch der Richter, der über alle Menschen das Urteil fällt, ob sie gerecht sind oder nicht. Auch diese Vorstellung Gottes als über die menschliche Gerechtigkeit urteilender und gerecht sprechender Richter findet sich schon in einigen alttestamentlichen Perikopen (vgl. 1KönLXX 8,32; JesLXX 50,8-9; 53,11; auch JesLXX 54,17; PsLXX 142,2). Für Gott gilt sowohl die Beschneidung aus dem Glauben als auch die Unbeschnittenheit aufgrund des Glaubens als gerecht (ὃς δικαιώσει περιτομὴν ἐκ πίστεως καὶ ἀκροβυστίαν διὰ τῆς πίστεως). Die Futurform δικαιώσει bezieht sich dabei nicht

Sie ist aber „nicht als absolute monotheistische Aussage zu verstehen, sondern durchaus im traditionellen hierarchischen Rahmen: „Einer ist der Größte unter anderen.“ (Zimmermann, Namen des Vaters, 535). Vgl. auch Zeller, Der eine Gott, 34–49; Breytenbach, Der einzige Gott, 38. Diese parallele Gottesvorstellung in der paganen Welt zeigt allerdings eindeutig, dass die paulinische Vorstellung von der Einzigkeit Gottes nicht allein für die Juden, sondern auch für Heiden nachvollziehbar gewesen ist. Der paulinische Gedanke, dass Gott als einziger einen universalen Anspruch auf die ganze Welt hat, ist jedoch im Hinblick auf dessen Verwendungskontext offensichtlich mit dem jüdischen Grundbekenntnis zum Monotheismus verbunden (vgl. 1Kor 8,6; Gal 3,20). 329 Vgl. DtnLXX 4,35; 32,39; 2KönLXX 19,19; JesLXX 37,20; 43,10-11; 45,6.14.21f; 46,9; PsLXX 47,9; 66,7-8; 99,2-3; 113,4; MalLXX 1,11. Zur Gottesvorstellung des Schöpfers und Weltherrschers vgl. Feldmeier/ Spieckermann, Der Gott der Lebendigen, 93ff. 330 Vgl. Zimmermann, Namen des Vaters, 542ff. 331 Vgl. Schlier, Römer, 118; Wilckens, Römer I, 248; Haacker, Römer, 112; Wolter, Römer I, 272 u. a.

Die Gerechtigkeit Gottes und seine universal gültige Rechtfertigung der Menschen: Röm 3,21-31

auf den Freispruch im Endgericht, sondern ist als ein gnomisches Futur zu verstehen, das die Gewissheit über das Eintreten eines Sachverhalts zum Ausdruck bringt.332 Nicht, ob ein Mensch beschnitten oder unbeschnitten ist, spielt für das Urteil Gottes eine Rolle333 , sondern das einzig entscheidende Kriterium ist der Glaube an Christus Jesus, der durch sein Sterben für die Sünder den universal geltenden Heilsweg des Glaubens erschlossen hat. Die beiden Präpositionalausdrücke ἐκ πίστεως und διὰ τῆς πίστεως verdeutlichen eben diese Tatsache, wobei sie auf semantischer Ebene voneinander nicht zu unterscheiden sind, da der Wechsel von ἐκ und διά als stilistische Variation zu verstehen ist (vgl. 1,17; 3,19-26; 4,11f; 5,10; Gal 2,16; 1Kor 12,8; 2Kor 3,11).334 2.3

„Wir richten durch den Glauben das Gesetz auf“: Das einleitende Wort zur Auslegung der Abrahamsgeschichte (V 31)

Die dritte Hauptfrage in V 31 macht noch einmal deutlich, dass die Auseinandersetzung mit den jüdischen Gesprächspartnern im Hintergrund der Ausführungen über die Verbundenheit von Glauben und Rechtfertigung steht. Dabei ist die Frage und deren Beantwortung, die das Verhältnis der Tora zum Glauben ins Zentrum stellen, als Auseinandersetzung mit dem jüdischen Einwand zu verstehen, welcher gegen die Argumentation des Paulus gerichtet war. Die Feststellung, dass bei der Erlangung der Gerechtigkeit allein Glauben an Christus Legitimität zukommt und jedwede Befolgung des Gesetzes außer Kraft gesetzt ist, kann die Frage hervorrufen, ob der Christusglaube letztendlich nicht das Gesetz außer Kraft setze und damit den Menschen in ein sündiges Leben führe. Mit μὴ γένοιτο weist Paulus jedoch schroff diese Antwortmöglichkeit zurück (vgl. auch Röm 3,4.6; 6,1.15) und stellt die Gegenthese auf, dass durch den Glauben das Gesetz nicht aufgehoben, sondern aufgerichtet und damit zur Geltung gebracht wird. Die Frage ist nun, in welchem Sinne gesagt werden kann, dass durch den Glauben das Gesetz aufgerichtet wird. Wie von vielen Exegeten übereinstimmend gezeigt wird, bezeichnet der Begriff νόμος im vorliegenden Kontext „die Tora als den ers-

332 Vgl. Haacker, Römer, 112; Wolter, Römer I, 272, Anm. 39. 333 Die Bezeichnungen περιτομή und ἀκροβυστία stehen hier wie in Röm 2,25-27 als „metonymische Umschreibung für Juden und Heiden“. (Wolter, Römer I, 272, Anm. 41; vgl. Schlier, Römer, 118; Marcus, Circumcision, 72–83; Longenecker, Romans, 450). 334 Vgl. Schlier, Römer, 118; Lohse, Römer, 139; Wilckens, Römer I, 248; Wolter, Römer I, 272. Gegen diese Position wollen einige Exegeten wie Schlatter, Gottes Gerechtigkeit, 155f; Käsemann, Römer, 98; Wilckens, Römer I, 248; Flebbe, Solus Deus, 150ff, die Präpositionen ἐκ und διά mit einer unterschiedlichen Bedeutung versehen. Außerdem finden sich einige Exegeten, die den Begriff πίστις nicht im Sinne des Vertrauens des Menschen, sondern als die Treue (oder die vertrauende Zuwendung) Gottes bzw. Chrisi auffassen wollen (vgl. Schumacher, Entstehung, 361ff).

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ten Teil des alttestamentlichen Kanons“335 , sodass die Aussage νόμον ἱστάνομεν so verstanden werden kann, als ginge es darum, den ursprünglich gemeinten Sinn der Tora richtig aufzufassen und damit die Tora zur Geltung zu bringen.336 Die Tora kann demzufolge erst richtig verstanden werden, wenn man wie Paulus anhand der Tora und der Abrahamsgeschichte begriffen hat, dass der Mensch allein aus dem Glauben Gerechtigkeit erlangen kann (vgl. Gal 3,8). Der Glaube gilt danach als der einzige Weg, der in tatsächlicher Entsprechung und Kontinuität zur Schrift steht. Dieser Gedankengang korrespondiert mit dem, was Paulus schon in V 21 ausgeführt hat, dass die Heilsbotschaft, die besagt, dass die Gerechtigkeit aus dem Glauben an Christus kommt, durch das Gesetz und die Propheten bezeugt worden ist (vgl. Röm 1,2; 16,26). Im nächsten Abschnitt führt Paulus die Geschichte Abrahams als Schriftbeleg ein. Mit diesem erweist er das, was er in V 27-30 erklärt hat, als schriftgemäß. V 31 schließt damit einen Abschnitt ab und fungiert gleichermaßen als Überleitung zur Auslegung der Abrahamsgeschichte.337

335 Wolter, Römer I, 274. 336 Die Ausdrücke καταργεῖν und ἱστάνειν stehen hier für die hebräischen Verben ‫ יטל‬und ‫( קומ‬vgl. Lohse, Römer,139; Wilckens, Römer I, 249, Anm. 784; Wolter, Römer I, 273f). 337 Vgl. Lohse, Römer, 139; Wolter, Römer I, 275.

Abrahams Rechtfertigung aus dem Glauben und seine Vaterschaft aller Glaubenden: Röm 4,1-25

F.

Abrahams Rechtfertigung aus dem Glauben und seine Vaterschaft aller Glaubenden: Röm 4,1-25

1.

Die einleitende rhetorische Frage: Ist Abraham nach dem Fleisch unser Vater geworden?338 (4,1)

Mit τί οὖν ἐροῦμεν führt Paulus einen neuen Argumentationsgang ein. Die mit diesen Worten beginnende Aussage ist als eine rhetorische Frage zu verstehen, die auf ihre Verneinung zielt und damit schon eine Behauptung impliziert (vgl. 3,5; 6,1; 7,7; 9,14). Paulus verleiht mit dieser Frage von Anfang an seiner These Ausdruck, dass Abraham nicht nach dem Fleisch (κατὰ σάρκα), sondern aufgrund des Glaubens zum Vater aller Glaubenden geworden ist, der Beschnittenen ebenso wie der Unbeschnittenen. Er fragt also nicht danach, was Abraham, der leibliche Stammvater der Juden, gefunden hat, wie die meisten Exegeten die Frage in V 1 verstehen,339 sondern ob Abraham nach dem Fleisch (κατὰ σάρκα) als „unser Vater“ (d. h. im Kontext „Vater aller Glaubenden“)340 angesehen werden kann. Die Pointe der Frage liegt darin, die Absurdität des Kriteriums κατὰ σάρκα für die Vaterschaft Abrahams aufzuzeigen und gleichzeitig auf das wahre Kriterium hinzuweisen. In diesem Zusammenhang ist mit dem Ausdruck κατὰ σάρκα nicht lediglich „eine leibliche Abstammung“ gemeint, obwohl ein solches Verständnis auch nicht unmöglich ist (vgl. Röm 1,3; 9,3.5; 1Kor 10,18). Zur richtigen Erfassung der Bedeutung von κατὰ σάρκα im Kontext muss der voraufgehende Textzusammenhang berücksichtigt werden, in den die Fragestellung in V 1 eingebettet ist. In 3,27-31

338 Viele Handschriften lesen πατέρα statt προπάτορα (wie bei NA). Beide Lesearten werden von guten Handschriften unterstützt, sodass vom äußeren Befund her nur schwer die Entscheidung für eine der Lesarten getroffen werden kann. Ihre durchgehende Verwendung in Röm 4 scheint allerdings eher für die Lesart πατέρα zu sprechen. 339 Die meisten Exegeten und Kommentatoren verstehen den Satz syntaktisch so, dass Ἀβραὰμ das Subjekt des Infinitivs εὑρηκέναι ist und das Fragepronomen τί nicht nur als Objekt von ἐροῦμεν fungiert, sondern auch als Objekt von εὑρηκέναι (so die meisten deutschen Übersetzungen und Kommentartoren; vgl. nur Käsemann, Römer, 100; Lohse, Römer, 146f; Du Toit, Christlicher Glaube, 328f; Wolter, Römer I, 279). Diese syntaktische Analyse ist allerdings problematisch. Zunächst muss nämlich beachtet werden, dass das ganze τί οὖν ἐροῦμεν eine feste Frageformel ist, welche nicht aufgetrennt werden kann (vgl. Röm 3,5; 6,1; 7,7; 8,31; 9,14.30). τί kann deswegen nicht Objekt eines anderen Satzteils – in diesem Fall von εὑρηκέναι – sein. Die Formulierung τί οὖν ἐροῦμεν hat die rhetorische Funktion, die nachfolgende These in Frage zu stellen und gleichzeitig eine Gegenthese einzuführen. Die in Frage gestellte These ist hier als Infinitiv εὑρηκέναι κτλ. konstruiert, sodass sich folgendes Verständnis ergibt: „Was sollen wir nun sagen? Ist Abraham nach dem Fleisch (d. h. in Bezug auf äußerliche Leistung und damit im vorliegenden Kontext: die Beschneidung) unser Vater geworden?“ 340 Die Anredeform „wir“, mit der Paulus hier die christlichen Adressaten anspricht, lässt offen, ob er Juden oder Nichtjuden meint. Möglich ist, dass beide Seiten eingeschlossen sind.

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hatte Paulus konstatiert, dass sowohl die Juden als auch die Nichtjuden ohne Unterschied aufgrund des Christusglaubens gerechtfertigt werden. Der alleinige Gott spricht allen Glaubenden Gerechtigkeit zu, wobei es nicht von Bedeutung ist, ob sie beschnitten sind oder nicht. Paulus ist sich sicher, dass das Rechtfertigungsprinzip, „aus dem Christusglauben“, nicht „durch Werke des Gesetzes“, der Tora entspricht und seine Wahrhaftigkeit und Gültigkeit in der Schrift findet (3,31). In den nachfolgenden Versen 4,1f entfaltet Paulus diesen Gedankengang mit Hilfe eines Schriftbeweises auf der Grundlage der Abrahamserzählung. Nach dem einleitenden Fragesatz von V 1 kommt er auf seine auf Gen 15,6 beruhende Erkenntnis zu sprechen, dass Gott Abraham nicht aufgrund seiner Werke Gerechtigkeit zugerechnet hat, sondern aufgrund seines Glaubens; anschließend entfaltet er den Gedanken, dass Abraham aufgrund der Glaubensgerechtigkeit, die er im Stand der Unbeschnittenheit schon hatte, zum Vater aller Glaubenden geworden ist (4,916). Mit diesen Ausführungen bringt Paulus zur Geltung, dass die Beschneidung keinesfalls das geltende Kriterium für die Vaterschaft Abrahams sein kann. Unter der Berücksichtigung dieses Kontextes muss das gängige Verständnis von κατὰ σάρκα als attributive Näherbestimmung zu Abraham und damit im Sinne einer leiblichen Abstammung als unzutreffend angesehen werden. Die Formulierung bringt nicht die leibliche Vaterschaft Abrahams für Juden zum Ausdruck, sondern ist offenkundig im argumentativen Textzusammenhang mit der Thematik Beschneidung bzw. Gesetzeserfüllung verbunden (vgl. die Bezüge zu ἔργα (V 2), περιτομή (V 9f), νόμος (V 13)). In diesem Zusammenhang kann der Ausdruck κατὰ σάρκα mit „nach einer äußerlichen Leistung bzw. nach einem äußerlichen Maßstab“ (vgl. 2Kor 5,16; 10,2f; 11,18; Phil 3,2f) wiedergegeben werden.341 Mit dem Fragesatz in V 1 zieht Paulus somit die damals gängige jüdische Überzeugung, dass die heidnischen Völker sich notwendigerweise beschneiden lassen müssen, um Mitglied des Gottesvolkes werden zu können, in Zweifel und stellt gleichzeitig die Frage, was dann als wahres Kriterium für Abrahams Vaterschaft zu gelten hat. Die rhetorische Frage bereitet auf diese Weise den weiteren Argumentationsgang vor, in welchen die Abrahamsgeschichte aus der Perspektive des Christusglaubens völlig neu ausgelegt und als begründendes Argument für die Vaterschaft Abrahams für die christlichen Gläubigen verwendet wird.

341 Der semantische Bezug von κατὰ σάρκα auf die Beschneidung kann vor allem damit begründet werden, dass die Beschneidung sachlich eine am Fleisch durchgeführte Handlung ist (vgl. die Wendung von σάρξ in Röm 2,28-29 und GenLXX 17,13).

Abrahams Rechtfertigung aus dem Glauben und seine Vaterschaft aller Glaubenden: Röm 4,1-25

2.

Gen 15,6 als Schriftbeweis für die Rechtfertigung aus dem Glauben, nicht aus Werken (4,2-5)

2.1

Die Verbindung von πίστις und δικαιοσύνη in Gen 15,6 als semantischer Schlüssel für die paulinische Rechtfertigungslehre

Der als Schriftbeweis eingeführte Text Gen 15,6 hat neben dem in 1,17 zitierten Hab 2,4 besonderes Gewicht für den paulinischen Rechtfertigungsgedanken. Dies wird insbesondere auch in Gal 3,6-14 deutlich, wo Paulus die beiden alttestamentlichen Texte heranzieht, um die Abrahamskindschaft der nichtjüdischen Glaubenden und ihre Teilhabe an der Verheißung als berechtigt aufzuzeigen. Durch diesen Rückgriff auf die Schrift, einerseits auf einen Text aus der Tora und andererseits auf einen prophetischen Text, legt Paulus dar, dass die ganze Schrift in ihrem vollen Umfang bestätigt, dass die Rechtfertigung nicht durch das Vorweisen von Werken erlangt, sondern allein im Glauben empfangen werden kann (zu den Zitaten Gen 15,6 und Hab 2,4 kommt noch das Psalmwort aus Ps 32,1f in Röm 4,7-8!). Vor dem Hintergrund der herausragenden Rolle der Begriffe πίστις κτλ. und δικαιοσύνη κτλ. sowie ihre enge sprachliche Verbindung in der Ausführung der paulinischen Heilsbotschaft wird ersichtlich, warum die Texte Gen 15,6 und Hab 2,4 als Schriftzeugen für Paulus so wichtig sind.342 Gerade auch in Röm 4 wird ersichtlich, dass Paulus besonders die Verknüpfung der πίστις mit δικαιοσύνη von Gen 15,6 im Blick hat und von ihr ausgehend seinen neuen Gedanken der Rechtfertigung aus dem Glauben entfaltet.343 Während er für die Verknüpfung von πίστις und δικαιοσύνη in Röm 1,17 auf Hab 2,4 als Beleg zurückgreifen konnte, zeigt er nun in Röm 4,1f, dass sich sein Rechtfertigungsgedanke auch auf Grundlage von Gen 15,6 beweisen lässt. Dabei ist jedoch die Art und Weise zu beachten, auf welche Paulus die Formulierung ἐπίστευσεν δὲ Ἀβραὰμ τῷ θεῷ καὶ ἐλογίσθη αὐτῷ εἰς δικαιοσύνην aus Gen 15,6 versteht und davon ausgehend seine Vorstellung von der Rechtfertigung entwickelt. Das Schriftwort Gen 15,6, das in der frühjüdischen Tradition zusammen mit anderen Abrahamserzählungen (z. B. über die Beschneidung oder die Opferung Isaaks) als Beleg für die Gesetzestreue Abrahams verstanden wurde (s. u.), wird bei Paulus zum Zeugnis für die Gerechtigkeit aus dem Glauben. Bei Paulus ist dieses Schriftwort deshalb von großer Wichtigkeit, weil es zeigt, dass die πίστις Abrahams

342 Dabei sei darauf hingewiesen, dass Paulus sich nicht nur auf Gen 15,6 und Hab 2,4 beruft, wenn er den Glauben als die hinreichende Bedingung für die Erlangung des Heils erklärt. Auch Jes 28,16 ist für Paulus bspw. ein Schriftwort, das belegt, dass dem an Christus Glaubenden das endgültige Heil zukommt (vgl. Röm 9,33; 10,11). Bei der Frage nach der Herleitung der semantischen Verknüpfung von δικαιοσύνη und πίστις ist jedoch festzuhalten, dass diese auf Gen 15,6 und Hab 2,4 zurückgeht. 343 Vgl. Köckert, Abraham, 356.

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die Grundlage für seine δικαιοσύνη ist. Das eigenartige paulinische Verständnis von Gen 15,6 kommt in den folgenden Versen durch die zweifach belegte Formel „δικαιοσύνη πίστεως“ in 4,11.13 zum Ausdruck. 2.2

Zur parallelen Verwendung von λογίζεσθαι δικαιοσύνην und δικαιοῦν in V 2-5

Um die eigenartige Interpretation von Gen 15,6 durch Paulus nachzuvollziehen, empfiehlt sich zunächst ein Blick auf die Rezeption dieses Textes in der frühjüdischen Tradition. In der jüdischen Überlieferung wird Abrahams πίστις nämlich allgemein als eine tugendhafte Haltung, also noch im Rahmen eines menschlichen Werkes bzw. Tuns verstanden.344 Kennzeichnend ist, dass Gen 15,6f häufig mit der Erzählung von der Bewährung in der Versuchung in Gen 22, welche exemplarisch den Gehorsam Abrahams gegenüber den Weisungen Gottes zeigt, in Verbindung gebracht wird: Sir 44,20; Jub 17,15-18; 1Makk 2,52; 4Q225 2. Dabei wird Gen 15,6 zitiert, um die Gesetzestreue Abrahams in seiner gehorsamen Haltung und Anerkennung Gottes zusammenzufassen. An diesen Belegstellen ist eine Gegenüberstellung von Glauben und Werken des Gesetzes, die bei der Rechtfertigungsthematik bei Paulus ganz im Vordergrund steht, nicht erkennbar. Die Rezeption von Gen 15,6 in der jüdischen Tradition zeigt auch, dass die Formulierung λογίζεσθαι εἰς δικαιοσύνην nicht im Sinne der Rechtfertigung Abrahams interpretiert wurde, sondern derart, dass Gott das vertrauensvolle Festhalten Abrahams als Gerechtigkeit, d. h. ein rechtes Verhalten anerkannt hat. Außerdem ist bemerkenswert, dass der Ausdruck λογίζεσθαι εἰς δικαιοσύνην häufig ohne Rückgriff auf den Begriff πίστις in Verbindung mit anderen Handlungen, die einen besonderen Gehorsam gegenüber dem Willen Gottes voraussetzen bzw. zeigen, verwendet wird: z. B. PsLXX 105,31; 1Makk 2,52. Dabei kommt es nicht auf die Rechtfertigung aus dem Glauben, sondern auf die Feststellung an, dass Gott diese gehorsamen Handlungen als etwas Rechtes anerkannt hat. Paulus versteht dieselbe Schriftstelle jedoch aus einer völlig anderen Perspektive. Die Aussage ἐπίστευσεν Ἀβραὰμ τῷ θεῷ deutet er nicht im Sinne einer Gesetzestreue, sondern als die Grundlage, auf der Abraham von Gott Gerechtigkeit zugesprochen wird. Nach diesem Verständnis des Paulus ist die δικαιοσύνη nicht mehr wie in der jüdischen Tradition im Sinne eines rechten Verhaltens oder einer Tugend aufzufassen. Sie bezieht sich vielmehr auf den Status, welcher Abraham durch den Zuspruch Gottes zuerkannt wurde. Aus diesem Grund kann Paulus das Verb δικαιοῦν bzw. δικαιοῦσθαι (V 2.5.25) parallel zu der aus Gen 15,6 herstammenden Redewendung λογίζεσθαί τινι εἰς δικαιοσύνην bzw. λογίζεσθαί τινι δικαιοσύνην (vgl. V 5.6.11.22f) im ganzen Kapitel 4 verwenden.

344 Vgl. Lohse, Gerechtigkeit Gottes, 214; Köckert, Abrahams Glaube, 27ff.

Abrahams Rechtfertigung aus dem Glauben und seine Vaterschaft aller Glaubenden: Röm 4,1-25

Diese parallele Verwendung der beiden Ausdrücke trägt entscheidend zum semantischen Verständnis des δικαιοῦν in Bezug auf deren paulinische Verwendungsweise bei. Anhand der parallelen Verwendung des δικαιοῦν bzw. δικαιοῦσθαι zu λογίζεσθαι εἰς δικαιοσύνην oder λογίζεσθαι δικαιοσύνην wird deutlich, dass diese für Paulus auf den gleichen Vorgang referieren.345 Klar ist daher, dass das Verb δικαιοῦν nicht ein Gerechtmachen in dem Sinne bedeutet, dass Gott aus einem gottlosen einen frommen Menschen macht. Das Verb mit Gott als handelndem Subjekt ist vielmehr als ein urteilendes Handeln Gottes zu verstehen, durch das ein Gottloser, der sein Vertrauen auf den Sünder rechtfertigenden Gott setzt, als gerecht anerkannt wird (V 5). 2.3

Die Rechtfertigung des Gottlosen, der sein Vertrauen auf Gott setzt (V 4-5)

In V 4f erörtert Paulus mit Hilfe der Metaphorik vom Lohnarbeiter und der Lohnzahlung weiter, wie er das Schriftwort Gen 15,6 versteht. Die mehrmalige Wiederholung der Wendung λογίζεσθαι εἰς δικαιοσύνην in V 3-5 bildet dabei eine Kontinuität zwischen dem Schriftzitat und dessen Auslegung. Zu Beginn von V 4 und V 5 stehen die Wendungen τῷ ἐργαζομένῳ und τῷ μὴ ἐργαζομένῳ einander gegenüber und bilden einen gewissen Parallelismus.346 Der so am Beginn parallel ansetzende Vergleich der unterschiedlichen Menschentypen wird jedoch sowohl strukturell als auch inhaltlich nicht parallel weitergeführt. In V 4 spricht Paulus davon, als was der erhaltene Lohn dem, der Werke tut, zugerechnet wird (als ὀφείλημα); in V 5 spricht er dagegen von der Gerechtigkeit desjenigen, der keine Werke tut, sondern auf Gott, der den Gottlosen rechtfertigt, sein Vertrauen setzt. Mit Hilfe einer allgemein verständlichen Vorstellung in V 4 macht Paulus deutlich, dass durch Gesetzeswerke keine Rechtfertigung aus Gnade erfolgen kann, denn sie basieren auf menschlichen Verdiensten und sind daher nicht als ein Geschenk bzw. eine Gnadengabe Gottes zu charakterisieren (vgl. 5,15-17). Ergänzt werden muss dieser Gedanke durch das von Paulus mehrfach angeführte Argument, dass die Rechtfertigung aus den Gesetzeswerken faktisch unmöglich ist. Dies hatte Paulus im näheren Umfeld des Textabschnittes in 3,9-20 in Bezug auf die universale Sündenverfallenheit der Menschheit festgestellt (vgl. auch Gal 2,16; 3,10f). Dass Paulus gerade auch an unserer Stelle nicht eine mögliche Rechtfertigung aufgrund der Erfüllung des Gesetzes behaupten will, ist auch vom unmittelbaren Kontext her deutlich. Paulus argumentiert durch den metaphorischen Vergleich zwischen

345 Vgl. Prothro, Judge, 176. 346 Zu der Formulierung τῷ μὴ ἐργαζομένῳ kommentiert Wolter zu Recht wie folgt: „Die Eingangsformulierung τῷ δὲ μὴ ἐργαζομένῳ ist lediglich die konzessive Folie für πιστεύοντι δέ, denn das μὴ ἐργάζεσθαι ist nicht Bedingung oder Voraussetzung für die Rechtfertigung, sondern ein hypothetischer Begleitumstand.“ (Römer I, 284).

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Arbeitenden und nicht Arbeitenden, dass die Rechtfertigung durch Gott in Wirklichkeit immer aus dem Glauben kommt und damit völlig in der Gnade Gottes eingeschlossen wird. Der Mensch kann durch keine eigenen Werke, d. h. Leistungen nach dem Gesetz, die Gerechtigkeit erwirken. Die Erlangung der Gerechtigkeit aus dem Glauben kann somit nicht als ein Lohn verstanden werden, der durch das Vollbringen der Gesetzeswerke verdient worden wäre, sondern sie ist ein Geschenk (vgl. 3,24; 5,15.17), das allein von der Initiative Gottes und seiner Gnade herrührt. Bei dieser Erklärung der Rechtfertigung aus dem Glauben in V 4-5 ist somit die Gnade Gottes, der göttliche Gunsterweis, als Hauptargument zugrunde gelegt, wie Paulus es auch an anderer Stelle hervorhebt (vgl. 3,24; 4,16; 5,2.15.17.20.21). Zu beachten ist dabei, dass Paulus nicht einfach von einer bedingungslosen Rechtfertigung des Gottlosen spricht. Die Menschen, denen sie zuteilwird, sind zwar Gottlose, aber zugleich, wie Paulus sogleich in paradox anmutender Weise ergänzt, solche, die ihr Vertrauen auf Gott setzen.347 Für Paulus gibt es – wie er mehrfach ausführt (vgl. bes. Röm 3,21-31; 9,30-10,15; Gal 2,15-3,29; Phil 3,9) – keine Rechtfertigung, ohne an Gott bzw. Jesus Christus zu glauben.348 3.

Die Seligpreisung Davids in Ps 32 (31) als Schriftbeweis für die Rechtfertigung ohne Werke (4,6-8)

In V 6-8 führt Paulus ein weiteres Schriftzitat zur Begründung der in den vorangegangenen Versen beschriebenen Rechtfertigung aus dem Glauben an. Das Zitat stammt aus Psalm 32 (31), in dem die Sündenvergebung Gottes eine zentrale Stellung einnimmt und als μακαρισμός beschrieben wird. Die einleitende Wendung καθάπερ καὶ κτλ. in V 6 zeigt eindeutig an, welche Bedeutung dieses Psalmwort für Paulus hat. Es ist für ihn nicht lediglich eine Schriftstelle, die von der Sündenvergebung des barmherzigen Gottes spricht. Er greift es vielmehr als einen Schriftbeweis auf, der die Zurechnung der Gerechtigkeit „ohne Werke (χωρὶς ἔργων)“ bestätigt. Unter Rückgriff auf das Stichwort ἔργον entfaltet Paulus so den vorausgehenden Gedanken aus V 2-5. Der Ausdruck χωρὶς ἔργων bezeichnet dabei – wie die vorherige Wendung τῷ μὴ ἐργαζομένῳ – metonymisch den Zustand,

347 Man kann nun fragen, in welchem Sinne ἀσεβής an dieser Stelle zu verstehen ist. Im Blick auf die allgemeine Semantik kann das Wort als eine Bezeichnung für die Menschen verstanden werden, die sich nicht an die Gebote halten. In dieser Bedeutung können mit dem Wort gottlose Juden sowie gottlose Nichtjuden gemeint sein. Möglich wäre aber auch, dass mit ἀσεβής in Röm 4,5 nur unbeschnittene Heiden gemeint sind. 348 Nicht zu übersehen ist, dass Paulus in Röm 4 anders als sonst vom Gottesglauben und nicht vom Christusglauben der christlichen Gläubigen spricht (vgl. V 5.24). Auf diese Weise stellt Paulus eine Verbindung zwischen Abraham und den nichtjüdischen Christen her.

Abrahams Rechtfertigung aus dem Glauben und seine Vaterschaft aller Glaubenden: Röm 4,1-25

in dem die Menschen sich befinden, ohne die Forderungen des Gesetzes erfüllt zu haben (was im Textzusammenhang konkret bedeutet: ohne sich beschnitten zu sein). Im zitierten PsLXX 31,1-2a (V 7-9) kommt die Vorstellung von der Zurechnung der Gerechtigkeit „ohne Werke“ jedoch nicht in einer präzisen Formel zur Sprache, sondern es wird von der Vergebung der Gesetzlosigkeiten, der Zudeckung und der Nichtanrechnung der Sünden gesprochen. Allerdings können gewisse semantische Parallelen der Aussage ὁ θεὸς λογίζεται δικαιοσύνην χωρὶς ἔργων in V 6 mit den im Zitattext belegten Formulierungen ἀφέθησαν αἱ ἀνομίαι (V 7a), ἐπεκαλύφθησαν αἱ ἁμαρτίαι (V 7b) und οὐ μὴ λογίσηται κύριος ἁμαρτίαν (V 8) kaum übersehen werden. Der Zitiervorgang durch Paulus zeigt darüber hinaus unmissverständlich auf, dass Paulus selbst die Zurechnung der Gerechtigkeit unabhängig von Werken inhaltlich auf derselben Ebene wie die Sündenvergebung verstanden wissen will. Dass Gott dem Gottlosen, der selbst keine Gerechtigkeit in seinen Taten vorweisen kann, Gerechtigkeit zurechnet, ist nichts anderes, als dass er dessen Übertretungen bzw. Sünden erlässt und bedeckt.349 Die Rechtfertigung des Gottlosen geht so faktisch mit der Sündenvergebung einher. Eine solche Verbindung von Rechtfertigung und Sündenerlass ist, wie bereits deutlich wurde, auch schon in 3,24-25 belegt (vgl. auch 2Kor 5,19-21). Darüber hinaus verdient die Parallelität zwischen der Formulierung ὁ θεὸς λογίζεται δικαιοσύνην χωρὶς ἔργων und der Formulierung οὐ μὴ λογίσηται κύριος ἁμαρτίαν besondere Beachtung. Beide Sätze setzen Gott als handelndes Subjekt voraus und beschreiben die Anrechnung von Gerechtigkeit oder Sünde durch Gott.350 Die semantische Verknüpfung der beiden Formulierungen kommt besonders durch denselben Begriff λογίζεσθαι zustande. In der durch dieses Verb entstehenden semantischen Assoziation der beiden Formulierungen liegt mit hoher Wahrscheinlichkeit auch der Grund für das Zitat von PsLXX 31,2a. Wenn er einfach die Vorstellung der Sündenvergebung durch Gott mit dem Gedanken der Rechtfertigung aus dem Glauben in Verbindung hätte bringen wollen, hätte Paulus nämlich auch einen anderen alttestamentlichen Text heranziehen können. Viele Exegeten nehmen im Hinblick auf die Verbindung der beiden Texte durch das gemeinsame Schlusswort an, dass das Zitat von PsLXX 31,1f mit der vorangegangenen These von V 6 in der Art der zweiten Auslegungsregel Hillels verbunden ist, der sogenannten gezera schawa.351 Doch solch einer Annahme, dass Paulus

349 Vgl. Wolter, Römer I, 287. 350 Bei dieser Anrechnung geht es um Urteilsakt vor dem Forum des göttlichen Gerichtes, vgl. Prothro, Judge, 177f. 351 Vgl. Jeremias, Gedankenführung, 149f.; Plag, Gezera Schawa, 137f.; Zeller, Römer, 100; Käsemann, Römer, 107; Haacker, Römer, 119; Lohse, Römer, 150; Dunn, Romans I, 207; Fitzmyer, Romans, 376; Ibita, Gen 15,6, 683f u. a. Die zweite Regel des Rabbi Hillel besteht in einer Art Analogieschluss auf

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sich einer bestimmten Regel Hillels bedient hätte, muss mit Vorsicht begegnet werden. Sie ist umso unwahrscheinlicher, als „die Unterscheidung zwischen der Anrechnung bei Abraham und der Anrechnung bei David für das Aussageziel des Textes letztlich bedeutungslos bleibt“.352 Hinzu kommt, dass es Paulus in Röm 4,6-8 im Grunde nicht darum geht, die zwei verschiedenen Sachverhalte in den durch einen identischen Begriff aufeinander bezogenen Texten in einen neuen Interpretationsrahmen zu bringen und einander auslegen zu lassen. Vielmehr begründet er mit dem Zitat von PsLXX 31,1f seinen Rechtfertigungsgedanken, den er, eingeleitet durch die Formel καθάπερ καὶ Δαυὶδ λέγει, nochmals zusammenfassend zum Ausdruck bringt.353 Das Zitat von PsLXX 31,1f steht für Paulus somit offenbar in einem inhaltlichen Zusammenhang mit demjenigen von Gen 15,6. Im Anschluss an Gen 15,6 betont das Psalmwort, dass diese Anrechnung der Gerechtigkeit aus dem Glauben nicht auf der Erfüllung der Gesetzesforderungen basiert, sondern auf dem Urteil des gnädigen Gottes, der die Sünde vergibt und bedeckt. Letztlich liegt es auf der Hand, dass Paulus aufgrund seines Schriftverständnisses die im Psalmwort zum Ausdruck gebrachte Nichtanrechnung der Sünde im semantischen Rahmen mit der „Rechtfertigung ohne Werke“, die er ausgehend von Gen 15,6 zuvor entfaltet hat, verstehen will. Allgemein lässt sich dieser Zusammenhang so verstehen, dass das Nichtanrechnen der Sünde mit dem Anrechnen zur Gerechtigkeit ohne Werke gleichbedeutend ist und sie als Synonyme verwendet werden. Daneben kann der Zusammenhang von Nichtanrechnen der Sünde und Anrechnen zur Gerechtigkeit jedoch auch als Beziehung zweier getrennter Vorgänge und die Nichtanrechnung der Sünde als die Voraussetzung der Anrechnung zur Gerechtigkeit verstanden werden. Wenn ein Gottloser, der in der Sünde gelebt hat, gerechtfertigt wird, dann schließt dies ein, dass Gott dessen Sünde nicht anrechnet.354 Wichtiger als das präzise Verständnis des Zusammenhangs zwischen beiden Vorgängen erscheint an dieser Stelle aber der Umstand, dass die Parallelität zwischen den Formulierungen ὁ θεὸς λογίζεται δικαιοσύνην χωρὶς ἔργων und οὐ μὴ λογίσηται κύριος ἁμαρτίαν zur Erhellung der Bedeutung des δικαιοῦν bei Paulus beitragen kann. Das δικαιοῦν des Gottlosen durch Gott heißt für Paulus, dass Gott dessen Sünde nicht anrechnet und ihm aufgrund seines Glaubens an Christus Gerechtigkeit zurechnet. Bei der Verwendung des Verbs δικαιοῦν in Röm 4

der Grundlage von identischen oder gleichbedeutenden Begriffen in verschiedenen Schriftworten. Die Texte, die durch einen gemeinsamen Ausdruck so aufeinander bezogen werden, legen sich gegenseitig aus (vgl. Stemberger, Einleitung, 30). 352 Avemarie, Neues Testament, 376f (vgl. auch Wolter, Römer I, 285f). 353 Vgl. Foster, Renaming, 35. 354 Vgl. Prothro, Judge, 180.

Abrahams Rechtfertigung aus dem Glauben und seine Vaterschaft aller Glaubenden: Röm 4,1-25

geht es nicht um eine innere Transformation des Menschen, sondern um einen Statuswechsel durch das Gerechtigkeit zuerkennende Urteil Gottes. 4.

Abraham als Vater aller Glaubenden, der unbeschnittenen wie der beschnittenen (4,9-12)

4.1

Das Argument: Die Rechtfertigung Abrahams im Zustand der Unbeschnittenheit (V 9-10)

In V 9 wird ein neuer Argumentationsgang durch die Frage eingeleitet, ob die im Psalmzitat zum Ausdruck gebrachte „Seligpreisung“ der Zurechnung der Gerechtigkeit ohne Werke (im begründenden Psalmtext heißt es die Sündenvergebung) nur für den Beschnittenen oder auch für den Unbeschnittenen gilt.355 Im Anschluss an diese Frage weist Paulus noch einmal auf die in Gen 15,6 geschilderte Rechtfertigung Abrahams hin. In welchem Sinne die Geschichte von der Rechtfertigung Abrahams Bezug auf die Frage nimmt und als Antwort darauf verstanden werden kann, wird aber erst durch die Fortführung in V 10 deutlich, wo eine weitere Frage und ihre Antwort anschließen. Der zentrale Punkt der Argumentation, auf den Paulus mit Gen 15,6 verweisen will, ist die Frage nach Abrahams Zustand zum Zeitpunkt, als Gott ihm seinen Glauben als Gerechtigkeit angerechnet hat. Diese Frage lässt sich allein anhand der Textstelle Gen 15,6 jedoch nicht beantworten. Erst im Zusammenhang mit der chronologischen Rekonstruktion des Kontextes der Textstelle mit Gen 17, wo die Beschneidung Abrahams erzählt wird, wird Paulus’ Annahme, dass Abraham noch unbeschnitten war, als ihm die Zurechnung der Gerechtigkeit aufgrund seines Glaubens erfolgte, verständlich. Mit diesem Hinweis auf den chronologischen Ablauf der Abrahamsgeschichte argumentiert Paulus, dass die Beschneidung für die Zurechnung der Gerechtigkeit durch Gott nicht maßgeblich ist. 4.2

Die neue Interpretation der Beschneidung Abrahams und dessen Vaterschaft aller Glaubenden (V 11-12)

In V 11-12 setzt Paulus den mit der Ausgangsfrage in V 9 eröffneten Argumentationsgang weiter fort. In V 11 legt er zunächst sein Verständnis der Beschneidung Abrahams dar. Er bezeichnet die Beschneidung dabei nicht mit der ursprünglichen, in Gen 17,11 belegten Bedeutung als das Bundeszeichen (σημεῖον διαθήκης),

355 In V 9 werden περιτομή und ἀκροβυστία als metonymische Bezeichnung für die Beschnittenen und Unbeschnittenen verwendet (vgl. 2,25-27; 3,30). Vgl. Wolter, Römer I, 288.

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sondern als Siegel (σφραγίς) der δικαιοσύνη τῆς πίστεως, die Abraham schon im Zustand der Unbeschnittenheit (ἐν τῇ ἀκροβυστίᾳ) besessen hatte.356 In der frühen jüdischen Tradition war die Beschneidung eine religiöse Zeremonie, in der allen jüdischen Männern am achten Tag nach der Geburt die Vorhaut beschnitten wurde. Damit wurden sie als legitimierte Mitglieder in das Volk des Bundes aufgenommen. Im Falle einer Konvertierung zum Judentum wurde dieses Ritual auch von nicht-jüdischen Männern gefordert. Diese strenge Regelung der Beschneidung im frühen Judentum geht auf die Erzählung in Gen 17 zurück, in der Gott Abraham befiehlt, zum Zeichen des Bundes alle männlichen Kinder am achten Tag beschneiden zu lassen, und Abraham sich gehorsam an diesen Befehl Gottes hält. In der frühjüdischen Rezeption dieser Erzählung wird diese Befehlserfüllung als Gesetzesgehorsam verstanden, der Abrahams Vollkommenheit aufzeigt. Gegenüber dieser traditionellen jüdischen Interpretation verleiht Paulus der Beschneidung Abrahams eine neue Bedeutung. Paulus zufolge ist die Beschneidung ein göttliches Geschehen, bei dem Gott Abrahams Glaubensgerechtigkeit (δικαιοσύνη τῆς πίστεως) besiegelt (d. h. beglaubigt) hat.357 Die Formulierung δικαιοσύνη τῆς πίστεως verweist dabei offenkundig auf das in Gen 15,6 geschilderte Geschehen, dass Gott dem noch unbeschnittenen Abraham aufgrund seines Glaubens Gerechtigkeit zuteilwerden ließ. Die δικαιοσύνη τῆς πίστεως bezeichnet demnach die Gerechtigkeit, die Abraham im Glauben von Gott empfangen hat und der Genitiv τῆς πίστεως ist im Sinne eines gen. orig.358 bzw. quali. zu verstehen. Die Formulierung δικαιοσύνη τῆς πίστεως ist semantisch isotop mit Ausdrücken wie δικαιοσύνη ἡ ἐκ πίστεως in Röm 9,30, ἡ ἐκ πίστεως δικαιοσύνη in Röm 10,6 oder δικαιοσύνη διὰ πίστεως Χριστοῦ, δικαιοσύνη ἐπὶ τῇ πίστει in Phil 3,9. Diese Formulierungen, in denen das Substantiv δικαιοσύνη mit dem Substantiv πίστις verknüpft ist, verweisen allesamt auf die Gerechtigkeit, die auf Glauben basiert bzw. aus dem Glauben kommt.359

356 Die Genitivkonstruktion τῆς ἐν τῇ ἀκροβυστίᾳ betont nochmals den unbeschnittenen Zustand Abrahams, als diesem von Gott Gerechtigkeit zugesprochen wurde. 357 Im Neuen Testament wird der Begriff σφραγίς bzw. σφραγίζειν nicht selten im Sinne einer göttlichen Bestätigung bzw. Legitimation gebraucht (vgl. 1Kor 9,2; 2Kor 1,22; Eph 1,13; 4,30; 2Tim 2,19; Apk 7,2-3; 9,4). Das logische Subjekt des Besiegelns ist Gott. Durch die Metapher σφραγίς bringt Paulus zum Ausdruck, dass Gott durch die Beschneidung die Gerechtigkeit Abrahams bestätigt hat. Auch in frühen jüdischen Schriften und in rabbinischen Texten lassen sich Belege finden, in denen die Beschneidung wie bei Paulus als Siegel bezeichnet wird: aram. T. Lev. C, Kol. A, 21-23; EpBarn 9,6; T. Cant. 3,8; T. Est. II 5,1; T. Ber. 7,13. Paulus greift in Röm 4,11 demnach einen im frühen Judentum verbreiteten Topos auf. Vgl. Blaschke, Beschneidung, 417f; Lohse, Römer, 152. 358 So auch Wolter, Römer I, 290. 359 Außer den oben erwähnten Formulierungen sind auch viele andere Kombinationen des Begriffs πίστις mit einem δικαι-Begriff bei Paulus belegt (zu den Belegen vgl. S. 177f der vorliegenden Ar-

Abrahams Rechtfertigung aus dem Glauben und seine Vaterschaft aller Glaubenden: Röm 4,1-25

Die neue Bewertung der Beschneidung als „sichtbare und vorweisbare Bestätigung“360 der Glaubensgerechtigkeit stellt dabei ein polemisches Gegenstück zur jüdischen Deutung der Beschneidung dar, nach der die Beschneidung Abrahams als Gesetzesgehorsam verstanden wird. Im Unterschied zur jüdischen Ansicht macht Paulus deutlich, dass die Beschneidung bei der Erlangung der Gerechtigkeit keine Rolle mehr spielt. Denn Gott hat Abraham bereits vor dem Vollzug der Beschneidung aufgrund des Glaubens Gerechtigkeit zugesprochen. Aufgrund dieses neuen Verständnisses der Beschneidung Abrahams bestimmt Paulus in V 11b-12 auch das Kriterium für die Vaterschaft Abrahams neu. Die beiden εἰς τό-InfinitivKonstruktionen beschreiben in Verbindung mit V 11a, wo die Beschneidung als eine göttliche Bestätigung bezeichnet wird, zu welchem Zweck Gott diese Beschneidung vollziehen lassen hat. Mit der ersten εἰς τό-Infinitiv-Konstruktion wird als die erste Zweckbestimmung angegeben, dass Abraham zum Vater aller Glaubenden (πάντων τῶν πιστευόντων) wird, und zwar derjenigen, die wie Abraham im Zustand der Unbeschnittenheit (δι᾿ ἀκροβυστίας)361 glauben. Wird die Beschneidung Abrahams im Lichte dieser göttlichen Absicht gesehen, ist sie überhaupt kein Hindernis mehr dafür, die unbeschnittenen nichtjüdischen Glaubenden in die Kindschaft Abrahams mit hineinzunehmen. Vielmehr legitimiert die Beschneidung Abrahams als die Besiegelung seiner Glaubensgerechtigkeit die Zugehörigkeit der unbeschnittenen Nichtjuden, die mit Abraham den gemeinsamen Glauben teilen, zur Kindschaft Abrahams. In der zweiten εἰς τό Infinitiv-Konstruktion beschreibt Paulus eine weitere Intention Gottes, die hinter der Beschneidung Abrahams steht. Die Beschneidung, durch die Gott Abrahams Glaubensgerechtigkeit wie mit einem Siegel bestätigt hat, legitimiert endgültig, dass auch den zum Glauben gekommenen unbeschnittenen Heiden aufgrund ihres Glaubens Gerechtigkeit zuteilwird. Dass Abraham bereits im Stand der Unbeschnittenheit aufgrund seines Glaubens Gerechtigkeit zugerechnet wurde und dass diese im Stand der Unbeschnittenheit aus dem Glauben empfangene Gerechtigkeit durch die Beschneidung besiegelt wurde, ist nach Paulus also nicht bloß ein singuläres Geschehen innerhalb der Lebensgeschichte Abrahams, sondern unverzichtbarer Bestandteil des vorherbestimmten Ratschlusses Gottes, nach dem er die unbeschnittenen Glaubenden als Gerechte anerkennt. In V 12 fasst Paulus nochmals bekräftigend zusammen, wie er die Vaterschaft Abrahams im Lichte seines Verständnisses der Beschneidung Abrahams nach dem Kriterium des Glaubens neu bestimmt. Nachdem in V 11b Abrahams Vaterschaft beit). Diese verweisen allesamt auf den Rechtfertigungsgedanken, dass der Mensch allein aufgrund des Glaubens an Christus Gerechtigkeit erlangen kann. 360 Wolter, Römer I, 290f. 361 δι᾿ ἀκροβυστίας ist im modalen Sinn zu verstehen, als „im Stand der Unbeschnittenheit“. Lohse, Römer, 152.

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Die Gerechtigkeitsaussagen im Römerbrief

für die christusgläubigen Nichtjuden erklärt wurde, wird sie nun im Hinblick auf die beschnittenen Juden ausgesprochen.362 Paulus bezeichnet Abraham zu Beginn als „Vater der Beschneidung (πατὴρ περιτομῆς)“ und erklärt daraufhin genauer, wem unter den Beschnittenen die Vaterschaft Abrahams gilt, wer mit anderen Worten zu den Nachkommen Abrahams gezählt werden kann. Demnach ist Abraham Vater derjenigen, die nicht nur beschnitten sind, sondern ebenfalls wie Abraham glauben.363 Der Beschneidung kommt somit nicht mehr der Stellenwert einer notwendigen Bedingung für die Kindschaft Abrahams zu. Die Beschneidung Abrahams ist – wie Paulus in den vorausgehenden Versen dargelegt hat – „ein äußerlich sichtbares Zeichen“364 , das seine Glaubensgerechtigkeit bestätigt. Einzig der die Rechtfertigung ermöglichende Glaube, den Abraham schon im unbeschnittenen Zustand hatte, gilt als die notwendige Bedingung für die Kindschaft zu Abraham. Bevor zum nächsten Abschnitt übergegangen werden kann, muss abschließend noch einmal genauer betrachtet werden, auf welche Weise Paulus die neue Bestimmung der Vaterschaft Abrahams für die Glaubenden bzw. umgekehrt die Kindschaft der Glaubenden zu Abraham begründet. Paulus geht grundsätzlich von der VaterKind-Relation aus, überträgt diese aber auf das Verhältnis zwischen Abraham und den Christusgläubigen. Da dieses Vater-Kind-Verhältnis nicht auf leiblicher Abstammung beruht, sondern auf der Übereinstimmung im Gottvertrauen und damit im Handeln, ist diese Verhältnisbestimmung im metaphorischen Sinne zu verstehen. Der Gedanke, dass Abraham nicht allein für die leiblichen Nachkommen zum Vater wird, sondern für all jene, die wie er selbst handeln, findet sich auch außerhalb des Corpus Paulinum, nämlich in Joh 8,41f.365 Das entscheidende Kriterium der Nachkommenschaft Abrahams ist dort allerdings gerade nicht der Glaube an Gott, sondern das Erfüllen der Gesetzesforderungen. Die Eigenart der Begründung des 362 So auch die meisten Exegeten, vgl. Schlier, Römer, 127f; Wilckens, Römer I, 265f; Käsemann, Römer, 110; Lohse, Römer, 152; Wolter, Römer I, 292f. Dass es bei V 12 um eine neue Erklärung über das wahre Kriterium der Vaterschaft Abrahams im Hinblick auf die Juden geht, wird vor allem durch die einleitende Wendung πατὴρ περιτομῆς unterstützt. Sonst wäre schwer zu klären, warum Paulus diesen Ausdruck gerade nach V 11b-c verwendet, wo er eindeutig vom Verhältnis Abrahams zu den unbeschnittenen Glaubenden gesprochen hatte. Dazu kommt, dass der elliptisch konstruierte Satz in V 12 syntaktisch von τὸ εἶναι αὐτὸν in V 11 abhängig ist und damit mit dem vorhergehenden V 11b zusammenhängt. Nachdem Paulus in V 11b-c die Vaterschaft Abrahams zu den heidnischen Glaubenden thematisiert hat, kommt er auf die Vaterschaft Abrahams zu den christusgläubigen Juden zu sprechen. Vgl. Wolter, Römer I, 293. 363 Die metaphorische Redewendung στοιχεῖν τοῖς ἴχνεσιν bezeichnet „die Übereinstimmung oder Nachahmung“ im Handeln bzw. in der Gesinnung (vgl. 2Kor 12,18; Gal 5,25; Phil 3,16; 1Petr 2,21; Philo, Virt. 64; MartPol 22,1). Vgl. Wolter, Römer I, 293. In Röm 4,12 ist mit dieser Redewendung gemeint: „in den Spuren des Glaubens Abrahams gehen, sich ihm in seinem Glauben zu- und seinem Weg einordnen.“ (Schlier, Römer, 128). 364 Wolter, Römer I, 293. 365 Vgl. Haacker, Römer, 123; Wolter, Römer I, 291.

Abrahams Rechtfertigung aus dem Glauben und seine Vaterschaft aller Glaubenden: Röm 4,1-25

Vater-Kind-Verhältnisses in Röm 4 besteht darin, dass für sie weder die leibliche Abstammung noch das Tun des Gesetzes von Bedeutung sind, sondern allein der Glaube an Gott. 5.

Die Abrahamskindschaft und deren Erbschaft für die Glaubenden (4,13-17a)

5.1

Die Erbverheißung aufgrund der Glaubensgerechtigkeit (V 13)

Die in V 13 erwähnte Verheißung, „Erbe der Welt zu sein“, geht auf die Zusagen Gottes an Abraham zurück. Es ist allerdings schwierig festzustellen, auf welche der Abraham dort zugesagten Verheißungen sich die ἐπαγγελία hier genau bezieht. Mehrfach wird in der Abrahamsgeschichte berichtet, dass Gott Abraham ein neues Land verheißt (Gen 12,7; 13,14-17; 15,7-21; 17,8), aber in den einschlägigen Prätexten in Gen kommt das Syntagma „der Erbe der Welt (τὸ κληρονόμος κόσμου)“ an keiner Stelle vor. Im Hinblick auf die argumentative Absicht unserer Stelle steht mit hoher Wahrscheinlichkeit die Erzählung in Gen 15 im Hintergrund von Röm 4,13, in der Gott nach der Anrechnung von Abrahams Glauben zur Gerechtigkeit (Gen 15,6) diesem die Erbschaft des Landes verheißt (Gen 15,7f).366 Paulus‘ besonderes Anliegen ist also gerade die Verknüpfung der Verheißung an Abraham mit dessen Rechtfertigung durch Gott. In der Abrahamsgeschichte hat die Abraham zugesagte Verheißung des Erbes mit dem Vollzug der Beschneidung (als einer Befolgung des Gesetzes) offenbar gar nichts zu tun. Zu beachten ist zudem, dass Paulus hier nicht wie der Genesis-Text vom Erben des Landes, sondern vom Erben der Welt spricht. Eine solche Ausweitung der Erbschaft vom Land auf die Welt begegnet auch in den frühjüdischen Schriften: z. B. Sir 44,21; Philo, Vit. Mos. 1,155; Somn. 1,175; Jub 17,3; 19,21; 22,14; 32,19;

366 Zwar kommt in GenLXX 15 das Substantiv κληρονόμος nicht vor, das Verb κληρονομεῖν wird in GenLXX 15,3-8 aber fünfmal verwendet (V 3.4(2X).7.8). In jedem Fall ist der Ausdruck „τὸ κληρονόμος κόσμου“ in Röm 4,13 nicht als eine Zusammenfassung der verschiedenen Abraham gegebenen Landverheißungen bzw. Verheißungen der zahllosen Nachkommenschaft zu verstehen, wie von den meisten Exegeten angenommen (vgl. nur Schlier, Römer, 129; Lohse, Römer, 153; Wolter, Römer I, 295). Nach dem Ablauf der Abrahamserzählung in Gen stehen nämlich nicht alle Verheißungen unmittelbar mit dem Geschehen der Rechtfertigung Abrahams durch seinen Glauben in Verbindung (wobei der Argumentationsgang in Röm 4 diese Verbindung zwischen Verheißung und Rechtfertigung voraussetzt). Gott hatte Abraham und seinen Nachkommen bereits mehrfach das Land zugesagt, bevor er Abrahams Glauben zur Gerechtigkeit angerechnet hat (vgl. Gen 12,7; 13,14-15.17). Daher erscheint es als plausibel, dass der Gedanke in Röm 4,13 auf Gen 15,6f zurückgeht, wo die Rechtfertigung Abrahams und die Verheißung des Landes nacheinander vorkommen und miteinander verknüpft sind.

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Die Gerechtigkeitsaussagen im Römerbrief

äthHen 5,7; sBar 14,12f; 51,3.367 Kennzeichnend ist, dass in diesen Texten die Erlangung der Verheißung mit der Gesetzestreue oder der Weisheit der angesprochenen Personen in Verbindung gebracht wird.368 Im Unterschied zu dieser jüdischen Vorstellung stellt Paulus ebenfalls unter Berufung auf die Abrahamsgeschichte die Glaubensgerechtigkeit gegenüber der Gesetzeserfüllung als das einzig gültige Kriterium für die Erbverheißung dar. Die Gegenüberstellung von διὰ δικαιοσύνης πίστεως und διὰ νόμου bildet also das entscheidende Argument von V 13, mit dem Paulus verdeutlicht, dass Abraham ausschließlich aufgrund seiner Glaubensgerechtigkeit die Landverheißung zukommt. Die Verheißung, „Erbe der Welt zu sein“, ist in keiner Weise vom Gesetz abhängig. Die Formulierung δικαιοσύνη πίστεως lässt sich wie in 4,11 als gen. orig. bzw. quali. auffassen. Inhaltlich hängt sie ebenfalls mit Röm 9,31; 10,6 und Phil 3,9 zusammen, wo Paulus die Gerechtigkeit aus dem Glauben der Gerechtigkeit aus dem Gesetz als die einzig wahre und von Gott anerkannte gegenüberstellt. Der Genitiv πίστεως bringt die Grundlage der somit zugeeigneten δικαιοσύνη zum Ausdruck. Wie bereits bei der Auslegung von V 11 gezeigt wurde, bezieht sich die δικαιοσύνη πίστεως eindeutig auf die Rechtfertigung Abrahams in Gen 15,6 und kann als eine Umschreibung dieses Geschehens in verknappter Form verstanden werden. Damit ist gerade von der Schrift bezeugt, dass jedem Glaubenden, der dem Glauben Abrahams folgt und dadurch als Gerechter anerkannt ist, die Erbschaft der Welt zuteilwird. Dies wird weiter in den folgenden Versen V 14f begründet und erklärt. 5.2

Die Abrahamskindschaft: Die Geltung der Verheißung für alle Glaubenden (V 14-17a)

In V 14 führt Paulus seinen Argumentationsgang mit einem Argument e contrario fort369 und macht dabei die Absurdität der gegnerischen These deutlich: „Wenn οἱ ἐκ νόμου Erben wären, dann würde der Glaube entleert und auch die Verheißung außer Kraft gesetzt.“ Die Wendung οἱ ἐκ νόμου bezeichnet hier die Menschen, deren Existenz und Leben vom Gesetz bestimmt sind. Im Hinblick auf den Argumentationsgang von V 9f sind damit diejenigen gemeint, die die Beschneidung vollziehen.370 In der in V 14 vorliegenden Argumentation geht es demnach um „die

367 368 369 370

Zu den Belegen vgl. Wilckens, Römer I, 269f; Wolter, Römer I, 296. Vgl. Wilckens, Römer I, 269f; Lohse, Römer, 154. Vgl. Wilckens, Römer I, 270. Die Formulierung οἱ ἐκ νόμου steht parallel zu οἱ ἐκ περιτομῆς in V 12 und ὁ ἐκ τοῦ νόμου in V 16. Vergleichbare Formulierungen kommen auch im Galaterbrief vor: „ὅσοι ἐξ ἔργων νόμου εἰσίν“ (3,10); „οἱ ὑπὸ νόμον θέλοντες εἶναι“ (4,21). Sie bezeichnen im jeweiligen Kontext nicht allein die Juden, sondern alle Menschen, die sich entgegen der Forderung des paulinischen Evangeliums

Abrahams Rechtfertigung aus dem Glauben und seine Vaterschaft aller Glaubenden: Röm 4,1-25

Frage, ob es die Erfüller des Gesetzes sind, denen die Abrahamverheißung gilt“371  – die mit οἱ ἐκ νόμου Bezeichneten können daher nicht einfach mit den Juden gleichgesetzt werden.372 Paulus wendet sich damit im Anschluss an die Argumentation in V 13 gegen die Behauptung, dass die Abraham gegebene Verheißung allein den Beschnittenen gilt, die die Tora befolgt haben. Für Paulus wäre der Glaube, der nach dem Schriftbeweis die einzige Voraussetzung für die Rechtfertigung und die Erbverheißung ist, wertlos, wenn die Menschen aufgrund der Erfüllung des Gesetzes an dem Erbe des verheißenen Landes teilhaben würden. Wenn der Glaube auf diese Weise wertlos wäre, dann wäre auch die Verheißung, die Abraham und seinem Samen aufgrund der Glaubensgerechtigkeit zugesprochen wurde, außer Kraft gesetzt. Nach Paulus kann niemand aufgrund des Gesetzes (i. e. aufgrund von Gesetzeswerken) in die Verheißung der Erbschaft einbezogen werden. Denn das Gesetz bewirkt eher ὀργή (V 15a).373 Diese Feststellung kann erst dann verstanden werden, wenn sie zusammen mit dem folgenden Argument in V 15b gelesen wird: „Wo kein Gesetz ist, gibt es auch keine Übertretung (παράβασις).“374 Das heißt umgekehrt: Wo es das Gesetz gibt, entsteht auch dessen Übertretung. Das Gesetz führt die Menschen also nicht automatisch zur Gerechtigkeit, sondern eher das Gegenteil ist der Fall. Es ruft bei den Menschen seine Übertretung erst hervor (dieser Sachverhalt wird in 7,9ff näher erläutert) und diese Übertretung löst Gottes Zorn (d. h. sein Zorngericht: vgl. 1,18; 2,5.16; 3,5; 5,9) aus. Die Übertretung des Gesetzes und das Zorngericht Gottes gehören somit notwendig zusammen. Mit dieser Feststellung greift Paulus sachlich auf das Argument zurück, welches er bereits in 1,18ff entfaltet hat. Gemessen am Anspruch des Gesetzes gibt es keine Person, welche vor Gott als gerecht dastehen kann, denn niemand kann die Forderungen des Gesetzes

371 372 373 374

nicht allein auf den Glauben an Jesus Christus verlassen, sondern auch durch die Befolgung des Gesetzes Gerechtigkeit zu erlangen suchen (vgl. Gal 5,4). Wolter, Römer I, 298. Vgl. Schlier, Römer, 127f; Wolter, Römer I, 298. κατεργάζεσθαι bedeutet „verschaffen“, „bewirken“ oder „entstehen lassen“, wie in Röm 2,9; 5,3; 7,8.13.18; 2Kor 4,17; 7,10; 9,11 u. a. Vgl. BAA, s.v. Ein mit V 15b vergleichbarer Gedanke findet sich in 1Kor 15,56, wo Paulus expliziert, dass die Kraft der Sünde das Gesetz ist (ἡ δὲ δύναμις τῆς ἁμαρτίας ὁ νόμος). Auch Röm 7,7f und 5,12f bringen zum Ausdruck, dass das Gesetz die Grundlage ist, die der Sünde zur Macht verhilft (7,1f). Die Sünde kann das Gesetz missbrauchen, indem es die Begierde zum Sündigen in den Menschen bewirkt. Aus diesem Grund verhindert das Gesetz die Sünde nicht, sondern vermehrt sie (5,20; vgl. auch Gal 3,19f). Die Annahme von Haacker, dass Paulus in 4,15 auf der Grundlage des profanen griechischen Gesetzesbegriffs argumentiere (vgl. Römer, 127), entspricht nicht dem Kontext. Deutlich ist, dass Paulus vor den negativen Folgen eines die Tora befolgenden Lebenswandels warnen will (vgl. Gal 3,10f).

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Die Gerechtigkeitsaussagen im Römerbrief

vollständig erfüllen. Durch das Gesetz verfallen alle Menschen ausnahmslos dem Zorngericht Gottes (3,19-20). Deshalb (διὰ τοῦτο) gilt allein das Prinzip des „ἐκ πίστεως“ für alle Menschen, Juden sowie Nichtjuden, als der einzige Weg, aufgrund dessen ihnen nach der Gnade (κατὰ χάριν) die Gerechtigkeit sowie, der Feststellung von V 16 zufolge, auch die Abraham zugesagte Verheißung zuteilwird. Hieran sieht man wiederum die bei Paulus zugrundeliegende Verbindung von πίστις und χάρις, welche die Eigenart seiner Heilsbotschaft ausmacht. Der Glaube an Christus geht mit der Gnade Gottes einher (3,24; 4,4) und der Gnadenstand, in dem sich alle Glaubenden befinden, setzt den Glauben an Christus voraus (vgl. 5,1.20-21; 6,14). Die Satzteile mit der Infinitivkonstruktion εἰς τὸ εἶναι βεβαίαν κτλ. führen weiter aus, weshalb der Glaube und nicht das Gesetz als die schlechthin einzige Vorbedingung für die Erbverheißung zu gelten hat. Aus dem Glaubensprinzip in Bezug auf die Abrahamsverheißung folgt die Sicherung der Verheißung des Erbes an die gesamte Nachkommenschaft Abrahams, die wie er Vertrauen auf Gott setzt.375 Die Infinitivkonstruktion in V 16b kann aber auch wie die beiden Infinitivkonstruktionen in V 11 als final verstanden werden, insofern sie die Intention Gottes bezüglich des Glaubensprinzips zum Ausdruck bringt.376 Gott verfolgt mit seinem Heilshandeln die Absicht, dass die Menschen allein aufgrund des Glaubens an Christus Gerechtigkeit erlangen und dadurch in die Erbschaft Abrahams eintreten können. 6.

Abrahams Glaubensgerechtigkeit als Vorbild für die Gerechtigkeit der an Jesus Christus Glaubenden (4,17b-22)

6.1

Die Eigenart des Glaubens Abrahams (V 17b-18)

Die Ausführung über Abrahams Glauben wird mit dem präpositionalen Ausdruck κατέναντι οὗ eingeleitet, der das Handeln Abrahams, ἐπίστευσεν, näher bestimmt. Das Relativpronomen οὗ wird gleich im Anschluss mit θεοῦ fortgeführt, an das sich wiederum zwei partizipiale Prädikationen anschließen, welche Gottes Allmacht bei der Auferweckung der Toten und der Schöpfung zum Ausdruck bringen. Innerhalb dieser syntaktischen Konstruktion beschreibt das Attribut τοῦ ζῳοποιοῦντος τοὺς νεκροὺς καὶ καλοῦντος τὰ μὴ ὄντα ὡς ὄντα nicht nur das Wesen Gottes, sondern implizit auch den Glauben Abrahams, indem es zum Ausdruck bringt, auf was für einem Gott er vertraut hat. Paulus zufolge hat Abraham daran geglaubt, dass Gott zur Auferweckung der Toten und zur Schöpfung aus dem Nichts imstande ist.

375 Im vorliegenden Kontext bringt βέβαιος die Gewissheit über die Erfüllung der Verheißung zum Ausdruck und bildet somit die Antithese zu καταργεῖσθαι (V 14b). Vgl. Wolter, Römer I, 300. 376 Vgl. Wilckens, Römer I, 16; Lohse, Römer, 155; Wolter, Römer I, 300.

Abrahams Rechtfertigung aus dem Glauben und seine Vaterschaft aller Glaubenden: Röm 4,1-25

Die beiden Gottesprädikationen „die Toten lebendig machen“ und „das Nichtseiende ins Dasein rufen“ gehen auf die jüdische Gottesvorstellung zurück. Parallelen für die erste Prädikation sind in JosAs 20,7 und am Schluss der zweiten Benediktion des sogenannten Achtzehngebets belegt (vgl. auch DtnLXX  32,29; 1SamLXX  2,6; NehLXX  9,6; PsLXX  71,20; JesLXX  26,19; 4Q521 7,6)377 ; für die zweite finden sich wiederum Parallelen in Spec. Leg. 4,187; Opif. 81 (ähnliche Formulierungen auch in Leg. All. 3,10; Mut. Nom. 46; Somn. 1,76; Vit. Mos. 2,100.267; syrBar 14,17; 21,4f; 48,8; 2Makk 7,28).378 Mit der Kombination dieser beiden traditionellen Gottesaussagen (vgl. 2Makk 7,28f; JosAs 8,9) charakterisiert Paulus den Gottesglauben Abrahams und erklärt in den folgenden Versen 18-21, wie dieser Glaube sich in der Lebensgeschichte Abrahams ausgewirkt hat. Im beharrlichen Vertrauen auf Gottes Zusage wurde ihm endlich das verheißene leibliche Kind Isaak geboren. Diese Wundergeschichte interpretiert Paulus im Lichte des Gottesglaubens und betont dabei besonders, dass Abraham den Verheißungsworten Gottes und der diese Worte bewirkenden Macht Gottes stets Glauben geschenkt hat, obwohl er sich seines eigenen und des körperlichen Zustands seiner Frau bewusst war (V 19-21). Diese Eigenart des Glaubens des Abraham beschreibt Paulus in V 18 mit den Worten „παρ᾿ ἐλπίδα ἐπ᾿ ἐλπίδι“. παρ᾿ ἐλπίδα bezieht sich dabei auf die aussichtslose Situation Abrahams, in der es scheinbar, entgegen aller Hoffnung, „nach menschlichem Ermessen nichts zu hoffen gibt“379 . ἐπ᾿ ἐλπίδι bringt demgegenüber die Reaktion Abrahams zum Ausdruck, dass er an der Hoffnung auf die Erfüllung der Zusage Gottes beständig festgehalten hat. Voller Hoffnung hat Abraham sein Vertrauen auf Gottes Zusage gesetzt, dass er Vater vieler Völker wird380 : „So (zahlreich) wird deine Nachkommenschaft sein.“ (Vgl. Gen 15,5). Die Verbindung von Glauben und Hoffnung findet sich bei Paulus auch in 1Thess 1,3; 5,8; Gal 5,5; 1Kor 13,7.13; Röm 5,2. Aufgrund dieser Belege wird deutlich, dass Glaube bei Paulus immer mit Hoffnung einhergeht (vgl. auch Röm 5,4f; 8,18f; 12,12; 15,13; Gal 5,5). Auf der Basis des Glaubens entsteht auch die Hoffnung auf die heilvolle Zukunft. Dieser Gedanke

377 In 2Kor 1,9 findet sich außerdem noch die Aussage τῷ θεῷ τῷ ἐγείροντι τοὺς νεκρούς. 378 Dass Gott τὰ μὴ ὄντα ὡς ὄντα ruft, bedeutet nicht, dass „das Nichtseinde gelten würde, als ob es seiend wäre“. (Lohse, Römer, 156). ὡς hat eine konsekutive Bedeutung (so auch viele, etwa Käsemann, Römer, 117; Hofius, Gottesprädikationen, 58, Anm. 1; Cranfield, Romans I, 244; Schlier, Römer, 132; Lohse, Römer, 156; Wolter, Römer I, 305, Anm. 107 u. a.). Die Formulierung erinnert an die Schöpfungsgeschichte in Gen 1, nach der Gott durch das Wort ohne jede Vorgabe die Welt erschaffen hat. 379 Wolter, Römer I, 305. 380 Die Infinitivkonstruktion εἰς τὸ γενέσθαι αὐτὸν πατέρα πολλῶν ἐθνῶν geht auf Gen 17,5 zurück und muss als Angabe des Inhalts des ἐπίστευσεν aufgefasst werden (mit Dunn, Romans I, 219; Byrne, Romans, 160; Jewett, Romans, 335f). Dieses Verständnis ergibt hinsichtlich der hier vorliegenden Syntax einen besseren Sinn als die konsekutive Bedeutung (vgl. bes. Jewett, Romans, 335f).

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Die Gerechtigkeitsaussagen im Römerbrief

kann auch der Formulierung in V 18 entnommen werden. Die Hoffnungsaussage in Bezug auf Abrahams Glauben ist daher an dieser Stelle nicht bloß als eine adverbiale Bestimmung zur Charakterisierung des Glaubens Abrahams zu verstehen, sondern auch als eine Aussage darüber, dass der glaubende Abraham die unerschütterliche Hoffnung auf die Erfüllung der verheißenen Worte hatte. 6.2

Die Ausführung über Abrahams Glauben in seiner hoffnungslosen Realität (V 19-22)

In V 19-21 wird Abrahams Glauben, der bereits in den vorangehenden Versen zur Sprache kam, im Hinblick auf die konkrete Lebenssituation näher beschrieben. Verschiedene Formulierungen, wie etwa μὴ ἀσθενήσας τῇ πίστει (V 19a), οὐ διεκρίθη τῇ ἀπιστίᾳ (V 20a), ἐνεδυναμώθη τῇ πίστει (V 20b) und πληροφορηθείς (V 21)381 , veranschaulichen, einander ergänzend und sich steigernd, die Beharrlichkeit dieses Glaubens. V 19 beschreibt den Glauben Abrahams drastisch zunächst in Bezug auf seine Lebenssituation: „Ohne schwach zu werden im Glauben (ἀσθενήσας τῇ πίστει), war sich Abraham seines schon erstorbenen Leibes im hundertjährigen Alter (τὸ ἑαυτοῦ σῶμα [ἤδη] νενεκρωμένον, ἑκατονταετής που ὑπάρχων) und des erstorbenen Mutterschoßes seiner Frau Sara (τὴν νέκρωσιν τῆς μήτρας Σάρρας) bewusst.“ Die Lebenssituation Abrahams ließ die Hoffnung auf die Geburt eines Kindes nicht zu. An der Darstellung dieser aussichtslosen Lage Abrahams ist besonders zu beachten, auf welche Weise Paulus die Zeugungsunfähigkeit Abrahams und Empfängnisunfähigkeit Saras beschreibt. Durch die Worte νενεκρωμένον und νέκρωσις sind sie als „eine Art Tod“382 ausgewiesen.383 Diese Charakterisierung des körperlichen Zustandes von Abraham und Sara mit νεκρός steht jedoch in Verbindung mit der Gottesprädikation in V 17b „ζῳοποιοῦντος τοὺς νεκρούς“. Demnach ist die Empfängnis des leiblichen Sohnes Isaaks als ein wundersames Geschehen zu verstehen, durch das Gott den abgestorbenen Körper Abrahams lebendig gemacht hat. Abraham hat mit anderen Worten seinem Glauben entsprechend durch die Geburt Isaaks die aus dem Tod ins Leben führende Macht Gottes an seinem eigenen, schon erstorbenen Leib als wirkliche erfahren. Im weiteren argumentativen Fortgang macht Paulus gerade diesen Aspekt des Abrahamsglaubens, die Verwirklichung

381 Diese vier den Glauben Abrahams beschreibenden Wendungen bilden eine Parallelisierung von negierten Aussagen und positiven Aussagen, wobei μὴ ἀσθενήσας τῇ πίστει der Wendung ἐνεδυναμώθη τῇ πίστει und οὐ διεκρίθη dem Ausdruck πληροφορηθείς gegenübersteht (vgl. Du Toit, Christlicher Glaube, 332f). 382 Wolter, Römer I, 307. 383 Vgl. auch Hebr 11,12, wo die Zeugungsunfähigkeit Abrahams als Gestorben-Sein (νενεκρωμένου) beschrieben wird.

Abrahams Rechtfertigung aus dem Glauben und seine Vaterschaft aller Glaubenden: Röm 4,1-25

des Geglaubten in der eigenen Lebensgeschichte, zum Anknüpfungspunkt zwischen dem Glauben Abrahams und dem Glauben der christlichen Gläubigen (vgl. V 24-25). V 20-21 machen im Anschluss an V 18 noch einmal deutlich, dass Abraham am Glauben an die Verheißung Gottes festgehalten hat. Trotz aller augenscheinlichen Widrigkeiten wurde er im Glauben immer stärker (ἐνεδυναμώθη τῇ πίστει: V 20a)384 und gab Gott die Ehre (δοὺς δόξαν τῷ θεῷ). Er zweifelte nicht (οὐ διεκρίθη)385 an der Verheißung, sondern war voller Gewissheit (πληροφορηθεὶς: V 21), dass Gott verwirklichen würde, was er verheißen hat. Im Zusammenhang mit dem Inhalt der Verheißung kommt mit dieser Beschreibung zum Ausdruck, dass Abraham daran geglaubt hat, dass Gott imstande ist, ihm durch seine Schöpferkraft Nachkommen zu verschaffen. Am Ende der bisherigen Ausführung nimmt Paulus die Formulierung von Gen 15,6 wieder auf und schließt sie mit διό unmittelbar an den vorausgehenden Gedankengang an. Was Abraham von Gott genau als Gerechtigkeit angerechnet wurde, wird von dieser Textstruktur her klar ersichtlich: Es ist der Glaube, der in V 17b-21 mit Verweis auf die konkrete Lebenssituation Abrahams beschrieben worden ist. Dieser Glaube vereint die vielfältigsten Aspekte, was beachtet werden muss, um den Sinngehalt des Gottesglaubens Abrahams noch genauer zu begreifen. In seinem Glauben vertraut Abraham darauf, dass Gott die Toten lebendig machen und das, was nicht ist, durch sein Wort ins Dasein rufen kann. Der Glaube gibt Abraham eine Hoffnung, die sich nicht von einer scheinbar widrigen Realität abschrecken lässt, und die Gewissheit über die Wahrheit der Verheißung Gottes, die zur Erfüllung kommen wird.386 Genauer zu betrachten bleibt nun noch, worin eigentlich der Anlass dieser Ausführungen über Abrahams Glauben besteht. Ausgehend vom Argumentationsverlauf wird deutlich, dass Paulus an der Glaubensgeschichte Abrahams aufzeigen will, dass dieser die Rechtfertigung nicht aufgrund von Gesetzeswerken, sondern aus dem Glauben erlangt hat, und dass die Verheißung aufgrund dieses Glaubens verwirklicht wurde. Dass Paulus sich damit nicht nur an die nichtjüdischen Gläubigen, sondern zugleich auch an die Juden richtet, die die Botschaft von der Rechtfertigung aus dem Glauben nicht annehmen und deshalb die an Christus glaubenden Heiden noch nicht als Mitglieder der Heilsgemeinschaft Gottes akzeptieren wollen, lässt sich meines Erachtens aus dem weiteren Argumentationsgang entnehmen. Wenn die Juden der neuen Auslegung der Abrahamsgeschichte durch Paulus folgen, so können sie nicht länger behaupten, dass sie allein als Beschnittene zur

384 ἐνδυναμοῦν kann im Passiv mit „stark werden“ wiedergegeben werden (vgl. Eph 6,10; 2Tim 2,1). 385 Vgl. BAA, s.v. 386 Zur ausführlichen Erklärung der verschiedenen inhaltlichen Aspekte des Glaubens Abrahams vgl. Schlier, Römer, 135.

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Die Gerechtigkeitsaussagen im Römerbrief

Nachkommenschaft Abrahams gehören und ihnen allein die an Abraham ergangene Verheißung gilt, die nichtjüdischen Glaubenden demgegenüber aber als Unbeschnittene noch außerhalb der Nachkommenschaft Abrahams und des ihr geltenden Verheißungsanspruchs stehen. Nach der paulinischen Interpretation ist das Gegenteil der Fall. Demnach sollen sich die Juden nicht mehr dem Evangelium verschließen, sondern an Christus glauben, damit sie zur wahren Nachkommenschaft Abrahams werden, welche nicht allein der leiblichen Abstammung nach, sondern auch dem Glauben nach ihrem Stammvater Abraham entspricht. Diese gänzlich neuartige Auslegung der Abrahamsgeschichte hat auf der argumentativen Ebene somit zweierlei Funktionen: Einerseits bestätigt sie die Tatsache, dass die an Christus glaubenden Nichtjuden als Gerechte in die Heilsgemeinschaft Gottes aufgenommen worden sind, und andererseits führt sie den jüdischen Gegnern bzw. Ungläubigen vor Augen, dass sie des Christusglaubens bedürfen, um zur Heilsgemeinschaft Gottes gehören zu können. 7.

Abrahams Glaubensgerechtigkeit als Vorbild für die Rechtfertigung der christlichen Gläubigen (4,23-25)

7.1

Die Bedeutung der Rechtfertigung Abrahams für die christlichen Gläubigen (V 23-24)

In V 23-25 legt Paulus ausführlicher dar, in welchem Sinne der Glaube Abrahams mit dem Glauben der Christen in Verbindung steht. Zu Beginn der Darlegung stellt er fest, dass die Rechtfertigung Abrahams und damit die Anrechnung seines Glaubens als Gerechtigkeit nicht nur um Abrahams willen (δι᾿ αὐτόν), sondern „um unseretwillen (δι᾿ ἡμᾶς)“ in der Schrift berichtet wird. Der erklärende Zusatz mit der doppelten Dativ-Konstruktion οἷς … τοῖς πιστεύουσιν … beschreibt näherhin, wer zu diesem „wir“ gehört. Wie die Näherbestimmung des Partizips zeigt, verweist es auf diejenigen, die an Gott glauben, der den Herrn Jesus von den Toten auferweckt hat. Dass Abraham der Glaube an Gott als Gerechtigkeit angerechnet wurde, ist für Paulus also nicht lediglich ein Detail der vergangenen Abrahamsgeschichte, sondern es ist ein Schriftzeugnis dafür, dass die Rechtfertigung durch Gott allein aus dem Glauben erfolgt. Demzufolge bringt die Rechtfertigung Abrahams dann auch zur Geltung, dass Gott auch allen an Christus Glaubenden, Juden wie Nichtjuden, Gerechtigkeit zuteilwerden lässt. In V 24 nimmt Paulus einen Übertragungsvorgang vor, indem er Gottes Handeln an denen, die an Christus glauben, mit seinem Handeln an Abraham gleichsetzt. Dazu verweist Paulus auf die inhaltliche Gemeinsamkeit des Gottesglaubens Abra-

Abrahams Rechtfertigung aus dem Glauben und seine Vaterschaft aller Glaubenden: Röm 4,1-25

hams und der gläubigen Christen: Die Christen glauben ebenso an Gott387 , der Jesus von den Toten auferweckt hat (τὸν ἐγείραντα Ἰησοῦν τὸν κύριον ἡμῶν ἐκ νεκρῶν: V 24b)388 , wie Abraham an den die Toten lebendigmachenden Gott geglaubt hat (τοῦ ζῳοποιοῦντος τοὺς νεκρούς: V 17). Abraham und die Christen haben denselben Gottesglauben, welcher sowohl die notwendige als auch die hinreichende Bedingung für die Rechtfertigung ist.389 Aufgrund des Gottesglaubens, der dem Glauben Abrahams völlig entspricht, wird Gott ganz gewiss ebenso wie Abraham jedem an Christus Glaubenden Gerechtigkeit zusprechen.390 7.2

„Wegen unserer Sünden und wegen unserer Rechtfertigung“: Die Deutung des Todes und der Auferstehung Jesu (V 25)

7.2.1

Zum Einfluss von JesLXX 53,12c auf die Formulierung in 4,25a

Der an das Prädikatsnomen Ἰησοῦν τὸν κύριον ἡμῶν angehängte Relativsatz gibt eine Explikation der Bedeutung des Todes und der Auferstehung Jesu für das christliche Wir: „Er wurde wegen unserer Übertretungen hingegeben und wegen unserer Rechtfertigung auferweckt (ὃς παρεδόθη διὰ τὰ παραπτώματα ἡμῶν καὶ ἠγέρθη διὰ τὴν δικαίωσιν ἡμῶν).“ Das christliche Wir wird mit diesen Worten eindeutig als die begünstigte Person dargestellt, der die Heilswirkung des Todes und der Auferstehung Jesu zugutekommt. Das Sterben und die Auferstehung Jesu sind Paulus zufolge nicht umsonst, sondern zur Verwirklichung der göttlichen Heilsabsicht für die sündige Menschheit geschehen (vgl. die beiden passiva divina, die sich jeweils auf die Tat Gottes beziehen). Zu beachten ist zudem, dass hier die Aussage über die Hingabe Jesu (seinen Tod) einerseits und die Aussage über die Auferweckung Jesu durch Gott andererseits als die zentralen Inhalte der paulinischen Verkündigung von Jesus Christus nebeneinanderstehen, wie es auch andernorts bei Paulus häufig belegt ist (vgl. auch 1Thess 4,14; 1Kor 15,3-5; Röm 5,9-10; 6,3f; 8,34). Das auf die Hingabe Jesu verweisende Prädikat παρεδόθη, zusammen mit der Wendung διὰ τὰ παραπτώματα ἡμῶν, stellt eine gewisse Parallele zu JesLXX  53,12c her.391 Im Umfeld des sogenannten vierten Gottesknechtliedes finden sich in 387 Die Formulierung πιστεύειν ἐπί + Akk. findet sich schon in SapSal 12,2 und im Neuen Testament in Apg 9,42; 11,17; 16,31; 22,19; Röm 4,24; Hebr 6,1. Vgl. Wolter, Römer I, 285. 388 Dass Gott Jesus von den Toten auferweckt hat, stellt Paulus auch in Röm 10,9 sowie in 1Kor 15,14.17; 1Thess 4,14 als zentralen Inhalt des christlichen Glaubens dar. 389 Vgl. Käsemann, Glaube, 167ff; Klaiber, Rechtfertigung, 156f. 390 μέλλει λογίζεσθαι kann nicht als futurische Feststellung der künftigen Rechtfertigung im Endgericht verstanden werden, sondern betont im gnomischen Sinne die Wirklichkeit der Rechtfertigung (mit Wolter, Römer I, 309; gegen Schlatter, Gottes Gerechtigkeit, 172; Michel, Römer, 174; Schlier, Römer, 135; Käsemann, Römer, 121; Fitzmyer, Römer, 388 u. a.). 391 Von einem Einfluss von JesLXX 53,12 auf die Formulierung von Röm 4,25 gehen bereits viele Exegeten aus. Vgl. Schlier, Römer, 136; Wengst, Formeln, Hengel, Atonement, 35f; Schmithals,

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Die Gerechtigkeitsaussagen im Römerbrief

V 6.12b noch weitere παραδιδόναι-Formulierungen, die vom selben Sachverhalt handeln.392 Die Formulierung διὰ τὰς ἁμαρτίας αὐτῶν παρεδόθη in JesLXX  53,12c steht im Hinblick auf die Präpositionalwendung διά und deren Bezugswort ἁμαρτία im Akk. Plural der Hingabeformulierung von Röm 4,25a allerdings besonders nahe. Die Abwandlung von ἁμαρτία zu παράπτωμα ist dabei aufgrund der semantischen Nähe beider Begriffe als nicht sehr gravierend aufzufassen. Paulus verwendet den Begriff παράπτωμα häufig als Synonym zu ἁμαρτία (vgl. Röm 5,1520; 11,11-12; 2Kor 5,19; Gal 6,1) und gelegentlich auch direkt neben ἁμαρτία (vgl. Röm 5,15.16.20). Überdies ist bemerkenswert, dass die Hingabeformulierung in Gal 1,4, διδόναι ὑπέρ (bzw. διδόναι περί),393 den Begriff ἁμαρτία im Plural als Bezugswort enthält, wie er ebenfalls im Plural in der Hingabeformulierung von Jes 53,12c vorkommt (vgl. auch 1Kor 15,3). Mit der dreifach verwendeten παραδιδόναι-Formulierung wird im Jesajatext wie in Röm 4,25 die Auslieferung einer Person in den Tod (Jes 53,6.12) durch Gott zum Ausdruck gebracht.394 Die Person, die eine solch leidvolle Hingabe erfahren musste, ist im Jesajatext der Gottesknecht, welcher die Sünde anderer trägt und um dieser anderen willen leidet (V 4). Der Präpositionalausdruck der Hingabeformel διὰ τὰς ἁμαρτίας αὐτῶν in V 12c macht besonders deutlich, dass der Gottesknecht nicht aufgrund seiner eigenen Sünden stirbt. Er selbst war unschuldig und es findet sich bei ihm kein Anhaltspunkt dafür, wofür er das Leiden und die Todesstrafe verdient hätte (V 9). Doch aufgrund der Sünde bzw. Gesetzlosigkeiten anderer hat er gelitten

Römer, 148; Fitzmyer, Romans, 389; Dunn, Romans I, 224f; Wilk, Bedeutung, 286f; Lohse, Märtyrer, 133; ders., Römer, 162; Haacker, Römer, 110f; Jewett, Romans, 342; Breytenbach, Versöhnung, 209f; ders., Stellvertretung, 70; Isaiah 53, Eschner, Gestorben, 64ff.413ff.479ff.490ff; Wolter, Römer I, 311f u. a. 392 JesLXX 53,6: „καὶ κύριος παρέδωκεν αὐτὸν ταῖς ἁμαρτίαις ἡμῶν“; JesLXX 53,12: „διὰ τοῦτο αὐτὸς κληρονομήσει πολλοὺς καὶ τῶν ἰσχυρῶν μεριεῖ σκῦλα, ἀνθ᾿ ὧν παρεδόθη εἰς θάνατον ἡ ψυχὴ αὐτοῦ, καὶ ἐν τοῖς ἀνόμοις ἐλογίσθη· καὶ αὐτὸς ἁμαρτίας πολλῶν ἀνήνεγκεν καὶ διὰ τὰς ἁμαρτίας αὐτῶν παρεδόθη.“ 393 Die von den Handschriften P46 ‫ א‬A D F G K L P u. a. bezeugte Lesart τοῦ δόντος ἑαυτὸν ὑπὲρ τῶν ἁμαρτιῶν in Gal 1,4 ist hinsichtlich der Frage nach dem Einfluss von Jes 53LXX auf die paulinische Hingabeformulierung bemerkenswert. Diese Lesart in Gal 1,4 entspricht der Formulierung δῶτε περὶ ἁμαρτίας in JesLXX 53,10. Auch wenn der griechische Text in der 2. Pl. formuliert ist, sind die sprachlichen Gemeinsamkeiten auffällig. Die Wendung ὑπὲρ ἡμῶν πάντων παρέδωκεν αὐτόν in Röm 8,32, welche den Tod Jesu als göttliches Handeln darstellt, in dem Gott seinen eigenen Sohn hingab, kommt sprachlich besonders JesLXX 53,6 (κύριος παρέδωκεν αὐτὸν ταῖς ἁμαρτίαις ἡμῶν) nahe. Diese Nähe spricht ebenfalls für einen prägenden Einfluss des Jesajatexts auf die paulinische Hingabeformulierung. 394 Die aktivische Wendung des Verbs παραδιδόναι mit Gott als Subjekt in V 6 verweist eindeutig auf die von Gott im Tod des Gottesknechtes ausgehende Initiative. Die aktivische Formulierung desselben Verbs findet sich in Röm 8,32, wo Paulus mit dieser Formulierung betont, dass der Tod Jesu das zugunsten der Rettung der Sünder von Gott initiierte Heilshandeln ist.

Abrahams Rechtfertigung aus dem Glauben und seine Vaterschaft aller Glaubenden: Röm 4,1-25

und wurde in den Tod dahingegeben (V 5.6.8.12). Der Tod des Gottesknechts ist daher ein stellvertretender Tod, mit dem er die Sünden anderer auf sich genommen (V 11.12) und die den sündigen Menschen zugedachte Todesstrafe zu ihren Gunsten erlitten hat. Durch diese stellvertretende Annahme der Todesstrafe durch den Gottesknecht wurden als deren Heilswirkung Frieden (παιδεία εἰρήνης ἡμῶν) und Heilung (ἡμῶν ἰάθημεν) für die mit „wir“ bezeichneten sündigen Menschen erwirkt. Angesichts dieser Schilderung des Todes des Gottesknechts und ihres Sinngehalts lassen sich schon einige Gemeinsamkeiten mit der paulinischen Vorstellung des Todes Jesu in Röm 4,25 festhalten. Die Hingabe Jesu wird erstens wie die Vorstellung von der Auslieferung des Gottesknechts als ein von Gott initiiertes Ereignis dargestellt. Das Passiv παρεδόθη in 4,25 ist dabei angesichts des parallel stehenden Prädikates ἠγέρθη offenkundig passivum divinum aufzufassen. Für Paulus ist der Kreuzestod Jesu ein Heilshandeln Gottes, mit dem er seinen eigenen Sohn für die Sünder hingegeben hat (vgl. die aktivische Formulierung mit Gott als Subjekt in Röm 8,32). Zweitens macht Paulus wie Jes 53 mit der identischen Formulierung παρεδόθη διά deutlich, dass Jesus nicht aufgrund seiner eigenen Sünden, sondern aufgrund der Sünden anderer (im Text ist von den mit „wir“ bezeichneten Glaubenden die Rede) dem Kreuzestod ausgeliefert worden ist. Nach dem Verständnis des Paulus war Jesus wie der Gottesknecht in Jes 53 unschuldig, er „kannte die Sünde nicht“ (2Kor 5,21).395 Drittens erwirkt die Hingabe Jesu als Gottes Handeln bei Paulus ebenfalls das Heil der sündigen Menschen, die wegen ihrer Sünden eigentlich dem Gericht verfallen müssten. Die Glaubenden, die ihr Vertrauen auf diesen für sie in den Tod hingegebenen Jesus als ihren Retter setzen, erlangen Gerechtigkeit und das ewige Leben (vgl. Röm 3,24-25; 5,16-21). Jesus ist für Paulus der des Titels „Herr“ würdige Retter, der durch seinen stellvertretenden Tod der sündigen Menschheit den Weg zur Gerechtigkeit und zum Leben eröffnet hat (Ἰησοῦς ὁ κύριος ἡμῶν in 4,24; vgl. auch 5,1-11; 10,9-13; 2Kor 5,21).396 Insgesamt lässt sich festhalten, dass die in Röm 4,25 belegte Deutung der Hingabe Christi mit der Tradition von der Hingabe des Gottesknechts in Jes 53 sowohl

395 Damit ist die Sündlosigkeit Jesu gemeint (vgl. Breytenbach, Versöhnung, 138f; Schmeller, 2Kor I, 337). Die Vorstellung von der Sündlosigkeit Jesu wird außerdem in Röm 8,3 zum Ausdruck gebracht, wenn Paulus schreibt, dass Gott seinen Sohn „in der Gleichgestalt des Sündenfleisches“ gesandt hat (vgl. auch Phil 2,7-8). 396 In diesem Zusammenhang ist es höchst bemerkenswert, dass es sowohl in Jes 53 als auch bei der paulinischen Deutung des Todes Jesu um einen Tod geht, welcher vielen Menschen Gerechtigkeit verschafft. In Röm 5,18 verwendet Paulus den Terminus δικαίωμα in Bezug auf den Tod Christi und bringt damit zum Ausdruck, dass durch diesen Tod viele Menschen gerecht geworden sind (vgl. V 19). Die Vorstellung, dass der Tod Jesu den Menschen Gerechtigkeit verschafft, findet sich darüber hinaus in 3,24-26 und 5,9.

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Die Gerechtigkeitsaussagen im Römerbrief

hinsichtlich der sprachlichen Formulierung als auch im Lichte des sich im Kontext widerspiegelnden Motivs auffällig übereinstimmt. 7.2.2

Die Bedeutung des Substantivs δικαίωσις

Während die Hingabe Jesu durch Gott ihren Grund in den Sünden der mit „wir“ bezeichneten christlichen Menschen hat, hängt die Auferweckung Jesu mit der Rechtfertigung dieser Menschen zusammen. Paulus verleiht der Auferstehung Jesu damit Heilsbedeutung. Mit der Wendung διὰ τὴν δικαίωσιν verweist er auf das Ziel der Auferweckung Jesu. Die üblicherweise kausal mit „wegen“ oder „um … willen“ wiedergegebene Präpositionalwendung διά mit Akk. ist im Textzusammenhang in finalem Sinne zu verstehen, weshalb der Satz folgendermaßen paraphrasiert werden kann: „Jesus wurde auferweckt, damit „wir“ gerechtfertigt werden (δικαίωσις).“397 Im Folgenden soll näher auf die Bedeutung des Terminus δικαίωσις eingegangen werden. Bei ihm handelt es sich um ein von δικαιοῦν abgeleitetes Substantiv, das seit Thukydides in der paganen Gräzität vorkommt. Der grundlegenden Bedeutung des Verbs entsprechend bezieht sich das Substantiv δικαίωσις auf den Vorgang bzw. die Handlung des Wiedergerechtmachens oder auf den Vorgang einer Zurechtsetzung.398 Ob es sich im aktivischen Sinne auf die Handlung bezieht oder im passivischen Sinne auf den erfolgten Zustand, lässt sich nur aufgrund des jeweiligen Kontextes entscheiden; an manchen Belegstellen ist ein eindeutiges Urteil jedoch nur schwer zu fällen. In den paganen griechischen Texten wird δικαίωσις häufig in Bezug auf die Bestrafung eines Übeltäters verwendet (vgl. Thukydides, 8,66,2; Plutarch, De Artax. 14,1; De Sera. 25; Dio Chrisostom, 40,43,3; Josephus, Ant. 18,14; 18,315). Dabei verweist es auf die Handlung, die die Sache des Übeltäters und ihn selbst durch Bestrafung wieder in einen gerechten Zustand versetzen soll. Bei diesem Sprachgebrauch bleibt die Semantik von δικαίωσις in Kontinuität mit derjenigen des Verbs δικαιοῦν.399 Mit seiner grundlegenden Bedeutung der Verwirklichung der Gerechtigkeit kann der Begriff δικαίωσις in positivem Sinne auch auf eine gerichtliche Verteidigung oder Rechtfertigung referieren, bei der die angeklagten Personen sich zum Recht verhelfen und es zur Wiedergutmachung kommt (Harpokration, Lys. 9,8; Plutarch, Moral. 9; Dio Chrysostomos, 41,54,3). In anderen, nicht selten

397 So auch Schlier, Römer, 136; Wilckens, Römer I, 278; Wolter, Römer I, 312; Eschner, Gestorben, 416ff. 398 Vgl. Schrenk, s.v. (ThWNT). 399 Das Verb δικαιοῦν wird auch häufig im Kontext einer Bestrafung eines Übeltäters verwendet. Dabei heißt das Verb nicht „richten“, sondern bezeichnet den Vorgang infolgedessen der Übeltäter wieder in einen gerechten Zustand versetzt wird. Zur ausführlichen Analyse dieser Gebrauchsweise s. S. 66f dieser Arbeit.

Abrahams Rechtfertigung aus dem Glauben und seine Vaterschaft aller Glaubenden: Röm 4,1-25

anzutreffenden Fällen wird das Wort mit Bezug auf das Recht bzw. eine Rechtsforderung verwendet (Thukydides, 1,141,1; 3,82,4; Dionysios von Halikarnassos, Ant. Rom. 1,87,1; 7,16,2; Plutarch, Demetr. 18). Diese auf den ersten Blick etwas ungewöhnlich erscheinende Verwendung des Wortes lässt sich ebenso aus seiner oben vorgeschlagenen Semantik erklären. So kann auch eine Rechtsforderung oder Rechtssatzung mit δικαίωσις bezeichnet werden, denn diese haben die Funktion, innerhalb der menschlichen Gemeinschaft Gerechtigkeit herzustellen. In der LXX ist δικαίωσις nur in LevLXX  24,22 und PsSal 3,3 belegt. In LevLXX  24,22 bezieht sich der Begriff auf die Rechtssatzungen der Tora: „δικαίωσις μία ἔσται τῷ προσηλύτῳ καὶ τῷ ἐγχωρίῳ, ὅτι ἐγώ εἰμι κύριος ὁ θεὸς ὑμῶν.“ Dieser Gebrauch entspricht damit der oben genannten dritten Ver-

wendungsweise in der paganen Gräzität. In PsSal 3,3 bezeichnet δικαίωσις die Anerkennung des ergangenen Gerichtsurteils Gottes als gerecht: „δίκαιοι μνημονεύουσιν διὰ παντὸς τοῦ κυρίου, ἐν ἐξομολογήσει καὶ δικαιώσει τὰ κρίματα κυρίου.“ Diese Anerkennung des Gerichts Gottes als eine gerechte Züchtigung

zeichnet das Verhalten eines Gerechten aus. Der Gebrauch des Substantivs δικαίωσις in PsSal 3,3 entspricht der Verwendungsweise des Verbs δικαιοῦν in PsLXX 50,6, durch die ebenso die Anerkennung der göttlichen Strafe als gerecht zur Sprache kommt (vgl. PsSal 2,15; 3,5; 4,8; 8,7; 8,23.26; 9,2). So gehen mit Ausnahme des letzten Belegs die Verwendungsweisen von δικαίωσις in der LXX insgesamt nicht über den üblichen Sprachgebrauch innerhalb der paganen Gräzität hinaus, sondern bleiben im Blick auf Semantik und Gebrauchsweise durchaus innerhalb des gewöhnlichen Rahmens. Entsprechend der Verwendungsweisen von δικαίωσις und der daraus abgeleiteten Semantik des Substantivs in den außerbiblischen und biblischen Texten referiert δικαίωσις hier auf einen forensischen Vorgang, in dem den mit „wir“ bezeichneten Glaubenden Gerechtigkeit widerfährt. Viele Exegeten nehmen an, dass das Substantiv als nomen actionis im aktivischen Sinne auf das rechtfertigende Handeln Gottes zu beziehen sei.400 Ein solches Verständnis des Substantivs δικαίωσις ist angesichts der Gebrauchsmöglichkeit des Terminus nicht von vornherein auszuschließen. Im Hinblick auf das direkt auf δικαίωσις in 4,25 folgende und damit semantisch verbundene Partizip Aorist δικαιωθέντες in 5,1, das den schon erreichten Stand der Gerechtigkeit der Glaubenden zum Ausdruck bringt (s. u.), liegt es jedoch näher, das Substantiv δικαίωσις als auf diesen Stand (als das Ergebnis der mit ihm bezeichneten Handlung) bezogen zu verstehen. Entscheidend für das Verständnis des Wortes ist also, dass der Fokus des Sprachgebrauchs nicht darauf gerichtet ist, ein Handeln Gottes zu betonen, sondern darauf, einen den Glaubenden widerfahrenden Vorgang zum Ausdruck zu bringen. Dieses Verständnis passt auch besser

400 So z. B. Schrenk, s.v. (ThWNT); Schlier, Römer, 136f; Wolter, Römer I, 312, Anm. 137.

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Die Gerechtigkeitsaussagen im Römerbrief

zum Gebrauch von δικαίωσις in 5,18, wo durch den Begriff eindeutig das Ergebnis des an den Glaubenden ergangenen Heilshandelns Christi zum Ausdruck gebracht wird.401 7.2.3

Zum Zusammenhang der Auferstehung Jesu mit der Rechtfertigung der Glaubenden in 4,25b

Es bleibt noch eine Frage zu beantworten: In welchem Sinne hängt die Auferstehung Jesu mit der Rechtfertigung der Glaubenden zusammen?402 Paulus hatte in 3,24-25 unmissverständlich den Tod Christi als die Grundlage dafür bestimmt, dass die sündigen Menschen ohne erbrachte Gegenleistung, aus Gnade von Gott Rechtfertigung erlangen können. Der Tod Christi war der dortigen Vorstellung zufolge ein sühnender Tod, der die auf Gottes Gnade beruhende Rechtfertigung aus dem Glauben ermöglicht hat. Dieser Gedanke wird im folgenden Abschnitt 5,1ff aufgegriffen und weiter entfaltet (vgl. bes. V 18-19). In 4,25 stellt Paulus aber wie die Formulierung von V 25b zeigt im Unterschied zu der in 3,24-25 enthaltenen Vorstellung die Auferweckung Jesu von den Toten als die entscheidende Grundlage für die Rechtfertigung der Glaubenden dar. Doch fragt sich, in welchem Sinne die Auferweckung Jesu mit der Rechtfertigung der Glaubenden zusammenhängen und als ihre Grundlage von Bedeutung sein kann. Zum Verständnis dieses Zusammenhangs kann 1Kor 15,12f eine Hilfestellung geben, wo Paulus den Korinthern gegenüber, die an der Auferstehung der Toten zweifeln, die Realität der Auferstehung Christi behauptet.403 Dort schreibt er in V 17: „Wenn aber Christus nicht auferweckt worden ist, ist euer Glaube nichtig, seid ihr noch in euren Sünden.“ Das Argument, dass der Glaube nichtig, nutzlos und folgenlos wird, wenn die Auferstehung Christi nicht wahr ist, ist angesichts des argumentativen Verlaufs im Textumfeld nicht schwer nachzuvollziehen. Wäre die Auferstehung Christi, die das Fundament des Christusglaubens bildet, nur ein Produkt menschlicher Einbildung, bliebe der Glaube an Christus bodenlos. Für das Verständnis der weiteren Argumente in 1Kor 15,12f muss zunächst diese Erklärung

401 Den Begriff δικαίωσις verwendet Paulus noch einmal in Röm 5,18. Dort bezeichnet der Begriff, eindeutig im Gegensatz zu κατάκριμα, die Heilsfolge, die der Tod Christi den Glaubenden herbeiführt. 402 In der Forschung wird diese Frage m. E. kaum befriedigend beantwortet. Die meisten Exegeten erklären die gegenseitige Bezogenheit von Tod und Auferweckung Christi in dem Sinne, dass beide in ihrer Bedeutung in Bezug auf das Heilsgeschehen nicht voneinander zu trennen sind und sich daher sowohl auf die Sündenvergebung als auch auf die Rechtfertigung beziehen lassen (vgl. Michel, Römer, 175; Lohse, Römer, 162). Im vorliegenden Text sind die Aussagen über den Tod und die Auferweckung Christi aber auf unterschiedliche Vorgänge bei den Glaubenden bezogen. Die Aussage über den Tod Christi kann hier nicht mit derjenigen über die Auferweckung vermengt und auf die Rechtfertigung der Glaubenden bezogen werden. 403 Vgl. Wolter, Römer I, 313.

Abrahams Rechtfertigung aus dem Glauben und seine Vaterschaft aller Glaubenden: Röm 4,1-25

der Auferstehung Christi beachtet werden. Gleichzeitig muss aber auch die zweite Aussage „ihr seid noch in euren Sünden“ in den Blick genommen werden. Angesichts dieser Aussage stellt sich die Frage, wie der Zusammenhang zwischen dem In-der-Sünde-Bleiben der Christen und der ausbleibenden Auferstehung Christi geklärt werden kann. An erster Stelle bietet sich dabei die Möglichkeit, den zweiten Satzteil im Hinblick auf die vorher betrachtete Verbindung der Wirklichkeit der Auferstehung Christi mit dem Glauben zu deuten. Demnach wäre die Rechtfertigung der Gläubigen unwirksam, wenn Christus im Tod bliebe. Der Grund für die Rechtfertigung ginge verloren und die Christen befänden sich folglich weiterhin im Stand des Sünders,404 denn sie sind aufgrund des Glaubens an den gekreuzigten und auferstandenen Christus gerechtfertigt worden (vgl. Röm 10,9-10). Analog zu 1Kor15,12f werden auch im nahen Kontext von Röm 4,25 die Macht Gottes, welche die Toten lebendig macht bzw. auferweckt, und die Wirklichkeit des Auferstehungsgeschehens Jesu als maßgebliche Glaubensinhalte dargestellt. Nach 4,23f glauben die Christen wie Abraham an den Gott, der die Toten lebendig macht. Ihrem Glauben an die Auferweckung Christi durch Gott gemäß sind sie als Gerechte anerkannt worden, die zur Heilsgemeinschaft Gottes gehören. Hinsichtlich des argumentativen Gehalts von Röm 4,25b und 1Kor 15,17 ist dieser Erklärungsversuch allerdings noch unzureichend, auch wenn mit ihm schon ein wichtiger Aspekt des Zusammenhangs zwischen der Auferstehung Christi und der Rechtfertigung der Glaubenden benannt ist. Paulus behauptet in Röm 4,25b nämlich nicht, dass der Glaube an die Auferstehung Christi, sondern die Auferstehung Christi selbst das die Rechtfertigung bewirkende Fundament ist. An der Formulierung ἔτι ἐστὲ ἐν ταῖς ἁμαρτίαις ὑμῶν wird außerdem deutlich, dass in 1Kor 15,17 nicht vom Außer-Kraft-Setzen der Rechtfertigung die Rede ist, sondern vom In-der-Sünde-Bleiben bzw. -Leben. Daher sollte die in 4,25b benannte Bindung der Auferstehung Christi an die Rechtfertigung der Glaubenden als grundlegend für das Textverständnis in Betracht gezogen und auf andere Weise gedeutet werden. Dabei lässt sich zunächst feststellen, dass die Auferstehung Christi nicht nur in Röm 4,25 und 1Kor 15,17, sondern auch anderenorts im Corpus Paulinum mit der Gerechtigkeit bzw. Rechtfertigung der Glaubenden argumentativ in Verbindung gebracht wird. Dabei sind in erster Linie Röm 6,4-11; 8,10-11 und 2Kor 5,14-21 zu nennen. In diesen Texten wird die Aussage über die Auferstehung Christi als Argumentationsbasis einerseits mit der Neuheit der Existenzweise bzw. des Lebenswandels der Glaubenden parallelisiert und andererseits mit deren zukünftiger

404 So z. B. Wolter, Römer I, 313: „so dass die Glaubenden immer noch Sünder wären.“ Die Aussage ἔτι ἐστὲ ἐν ταῖς ἁμαρτίαις ὑμῶν kann aber im Textzusammenhang auch in dem Sinne gedeutet werden, dass sie sich noch in der alten Lebensweise in der Sünde befinden (vgl. Schrage, 1Kor, 131f).

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Die Gerechtigkeitsaussagen im Römerbrief

Auferstehung. Dabei bezeichnet der δικαι-Begriff (δικαιοῦσθαι in Röm 6,7; δικαιοσύνη in Röm 8,10; δικαιοσύνη in 2Kor 5,21) die neue Identität der zu Christus Gehörigen in Bezug auf ihren neuen Status und ihren neuartigen Lebenswandel. In Röm 6,4-11 steht die Auferstehung Christi einerseits mit der gegenwärtigen Existenzweise und andererseits mit dem zukünftigen Schicksal der Christen in Verbindung. Die in den Tod Christi hinein Getauften sollen dem Auferstehungsleben Christi entsprechend ihren irdischen Lebenswandel neu gestalten, damit sich das eigentliche Ziel der Auferstehung Christi erfüllt (V 4). In V 10-11 bringt Paulus diesen Gedanken nochmals deutlich zum Ausdruck: Die Christen sollen wie bereits Christus durch Tod und Auferstehung („den Tod für die Sünde und das Leben für Gott“, V 10), ein Leben für Gott und damit ein Leben in Gerechtigkeit (V 13.19) führen (V 9-11). Andererseits steht die Auferstehung Christi in 6,5.8 aber offenkundig im Zusammenhang mit der leiblichen Auferstehung der Christen in der Heilszukunft. Die Christen, die durch den Glaubensvorgang am Tod Christi teilgenommen haben und damit von ihrer vormaligen Existenz in der Sünde getrennt sind, werden auch am Auferstehungsgeschick Christi teilnehmen. Die Feststellung von V 7, dass die Glaubenden vom Zustand der Sünde in den Zustand der Gerechtigkeit versetzt worden sind, ist in diesen argumentativen Zusammenhang eingebettet. Somit ist sowohl – in präsentischer Hinsicht – die Aussage von der Rechtfertigung der Glaubenden als auch – in futurischer Hinsicht – die Aussage von der Auferstehung der Glaubenden mit der Aussage über die Auferstehung Christi verbunden. Für Paulus ist die Auferstehung Christi demnach der fundierende Bezugspunkt für den Statuswechsel (die Rechtfertigung) der an Christus Glaubenden und deren Lebenswandel in Gerechtigkeit sowie deren Auferstehung im Eschaton. Eine vergleichbare Zusammenstellung der Auferstehung Jesu und der Gerechtigkeit (im Sinne einer gerechten Lebensführung) bzw. der leiblichen Auferstehung der christlichen Gläubigen findet sich in Röm 8,10-11. Hinsichtlich des Kontextes ist unverkennbar, dass es hier wie in Röm 6,1f um die Aufforderung zu einer gerechten Lebensführung und um den ermutigenden Zuspruch des Auferstehungslebens geht. Paulus fordert seine Adressaten auf, „nicht nach dem Fleisch, sondern nach dem Geist zu wandeln“ (V 4-6; vgl. auch Röm 7,5-6; Gal 5,16-24; Phil 3,3). Das Wandeln nach dem Geist bedeutet dabei, unter Einwirkung des einwohnenden Geistes Gottes ein dem Willen Gottes entsprechendes Leben zu führen. Die neue Ausrichtung des Lebenswandels der christlichen Gläubigen, die ihnen das Auferstehungsleben mit Christus garantiert, wird in Röm 8,10 durch das Wort δικαιοσύνη auf den Begriff gebracht.405 Die Aussage über die Auferstehung Christi fungiert somit innerhalb

405 Zur Bedeutung des Begriffs δικαιοσύνη in 8,10 s. S. 378f der vorliegenden Arbeit.

Abrahams Rechtfertigung aus dem Glauben und seine Vaterschaft aller Glaubenden: Röm 4,1-25

des argumentativen Zusammenhangs als Grundlage für die Paränese und den Zuspruch. Wenn die Gläubigen immer nach dem in ihnen wohnenden Geist handeln und so ihr Leben in Gerechtigkeit vollziehen, wird auch ihr sterblicher Leib durch die Kraft des Geistes, der Jesus von den Toten auferweckt hat, lebendig gemacht werden (V 11). Schließlich stellt Paulus auch in 2Kor 5,14-21 neben der Botschaft der Versöhnung die neue Existenzweise des Christen dar. Auch hier zieht er den Tod und die Auferweckung Christi als argumentatives Fundament für die neu gewonnene Identität und die daraus hervorgehende Lebensführung heran, wenn er schreibt: „Einer ist für alle gestorben, folglich sind sie allesamt gestorben. Und er ist darum für alle gestorben, damit die, welche leben, nicht mehr sich selbst leben, sondern dem, der für sie gestorben und auferweckt ist.“ (V 14b-15). Wieder bedient Paulus sich der Ausdrücke ἀποθνῄσκειν und ζῆν, um die radikale Wende der christlichen Gläubigen zu einer neuen Existenzweise zu beschreiben. Dabei charakterisiert er die neue Existenzweise zusammenfassend durch die Wendung „Leben für Christus“.406 Die durch den Glauben zu Christus gehörenden Menschen sind als mit Christus Gestorbene (vgl. Röm 6,2-7) zu einer neuen Existenzweise bestimmt, die auch in ihrer praktischen Lebensführung sichtbar werden soll. Sie können als neue Schöpfung (καινὴ κτίσις) bezeichnet werden, denn „in Christus“ sind sie in ihrer Wesensart und Haltung ganz neu ausgerichtet. Interessanterweise wird der Begriff δικαιοσύνη auch in 2Kor 5,21 zur Beschreibung dieser neuen Existenzweise und der damit einhergehenden neuen Lebensführung verwendet. Die Genitivformulierung δικαιοσύνη θεοῦ bezieht sich auf die Christenmenschen („wir“), die durch das Heilshandeln Gottes durch Christus zum Heil gelangt sind. In der Darstellung der neuen Existenzweise der Christen in 2Kor 5,14-21 ist deutlich erkennbar, dass einerseits der Tod Christi mit dem Tod (d. h. dem Abbruch der alten Existenzweise) und andererseits die Auferweckung Christi mit der neuen Existenz bzw. Lebensführung der Glaubenden korrespondiert. Die analoge Verbindung der Auferstehung Christi mit der neuen Existenzweise der Glaubenden in Röm 6,4-11; 8,10-11 und 2Kor 5,14-21 kann nun zur Klärung der eingangs gestellten Frage beitragen, in welchem Sinne der in Röm 4,25b vorliegende Zusammenhang zwischen der Aussage über die Auferstehung Christi und der Aussage über die Gerechtigkeit der Glaubenden in Bezug auf ihre Existenz und ihren Lebenswandel zu verstehen ist. Es ist deutlich geworden, dass es sich dabei keineswegs um eine ungewöhnliche Verwendungsweise dieser Aussagen handelt. Die Aussage über die Auferstehung Christi fungiert für Paulus als eine

406 Ein entsprechender Gedankengang findet sich auch in Röm 6,11 und 7,4 (vgl. auch Gal 2,19), wo Paulus mit dem ähnlichen Ausdruck „Leben für Gott“ die neue Ausrichtung des Lebenswandels der Glaubenden beschreibt.

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Die Gerechtigkeitsaussagen im Römerbrief

Prämisse, um eine Verbindung zwischen dem Geschick Christi und dem Geschick der an Christus Glaubenden in Bezug auf ihre Existenz und ihren Lebenswandel herzustellen; wie Christus durch seine Auferstehung die Wende von der Sünde hin zu Gott vollzogen hat, so sollen die Glaubenden diese Wende in ihrem Leben sichtbar machen (vgl. 6,10-11). Gerade die verschiedenen δικαι-Termini (δικαιοῦσθαι in Röm 6,7, δικαιοσύνη in Röm 8,10 und δικαιοσύνη in 2Kor 5,21) und damit auch der Begriff δικαίωσις in Röm 4,25b bringen diese Neuheit der im Glauben vollzogenen Existenzund Lebensweise der Christen zum Ausdruck. Daher kann die Interpretation ausgeschlossen werden, die δικαίωσις in Röm 4,25b im Sinne der zukünftigen Rechtfertigung im Endgericht versteht, bei dem der auferstandene Christus für die Glaubenden eintritt, und die Auferstehung Christi somit als notwendige Bedingung für die Rechtfertigung der Christen vorausgesetzt sein soll.407 Vielmehr steht die Verbindung der Auferstehung Christi mit der Gerechtigkeit der Glaubenden im Zusammenhang mit den Aussagen des Paulus, in denen das Auferstehungsgeschehen Christi parallel zu der Auferstehung der Christen steht und als die Grundlage für ihre neue Existenzweise verstanden wird.

407 So aber Eschner, Gestorben, 416ff.

Friede, Hoffnung und Ruhm der gerechtfertigten Christen in der leidvollen Gegenwart: Röm 5,1-11

G.

Friede, Hoffnung und Ruhm der gerechtfertigten Christen in der leidvollen Gegenwart: Röm 5,1-11

1.

Friede und Hoffnung der gerechtfertigten Glaubenden (5,1-4)

1.1

δικαιωθέντες als Identitätsbezeichnung für die Glaubenden

Mit dem Partizip Aorist δικαιωθέντες beschreibt Paulus den neuen Zustand, in welchen die an Christus Glaubenden versetzt sind: Sie sind gerechtfertigt worden und zwar aufgrund ihres Christusglaubens (ἐκ πίστεως)408 . Dabei greift Paulus den zentralen Gedankengang seiner Heilsbotschaft auf, den er in 1,16-17 angeführt und in 3,21-4,25 ausführlich entfaltet hatte. Das Partizip δικαιωθέντες knüpft unmittelbar an die Wendung διὰ τὴν δικαίωσιν ἡμῶν in 4,25b an. Es charakterisiert hier die Identität des genannten christlichen „wir“ in Bezug auf den Status: „wir“, d. h. die an Christus Jesus Glaubenden, sind Gerechte (δίκαιοι) geworden (vgl. 5,19). Αnders als im Fall der aktivischen Wendung fokussiert Paulus mit dem Passiv nicht auf das Handeln Gottes, sondern auf den erlangten Heilsstand derjenigen, die zum Christusglauben gekommen sind.409 Der Aorist deutet darauf hin, dass sich dieser Zustand einem in der Gegenwart schon abgeschlossenen Geschehen verdankt.410 Die Rechtfertigung durch Gott im Endgericht ist hier demnach kein Thema. Auch in V 9 verwendet Paulus die Form δικαιωθέντες und spricht damit noch einmal vom Gerechtsein der Glaubenden im Sinne eines schon abgeschlossenen Geschehens. Schließlich wird auch in der später folgenden Darstellung des durch Christus realisierten Heilsgeschehens in 5,16-19 deutlich, dass die Glaubenden die Gerechtigkeit als Geschenk Gottes bereits erlangt haben. Ist die Bedeutung des Begriffs soweit geklärt, muss nun aber überlegt werden, wodurch der Impetus der eindringlichen Hervorhebung verursacht ist, dass die Glaubenden bereits den Stand der Gerechtigkeit erlangt haben. Meines Erachtens rührt er von der besonderen Lage der Christen in Rom her, nämlich ihrer Bedrängnis durch jüdische Kritiker (vgl. 3,5-8; 5,3f; 10,1ff). Der erste Vers des 5. Kapitels spricht vom Gerechtsein der Glaubenden, was begrifflich deutlich an den vorangegangenen Argumentationsgang in Kapitel 4 anknüpft, wo Paulus unter Berufung

408 Der Begriff πίστις verweist offensichtlich auf den Glauben an Christus, wie der nähere Kontext deutlich macht (4,24). 409 Für das Verständnis des Passivs δικαιωθέντες ist nicht notwendigerweise von einem passivum divinum auszugehen (so aber Wolter, Römer I, 319). 410 Vgl. Schlier, Römer, 139f; Breytenbach, Versöhnung, 145f; Eschner, Gestorben, 274; Wolter, Römer I, 319.

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Die Gerechtigkeitsaussagen im Römerbrief

auf die Abrahamsgeschichte die Rechtfertigung und die Abrahamskindschaft der nichtjüdischen Gläubigen begründet hat. Der Impetus der Aussage von der Rechtfertigung der Gläubigen in 5,1 kann vor dem Hintergrund dieser Beobachtung so verstanden werden, dass Paulus den bereits erreichten Heilsstand der nichtjüdischen Gläubigen an dieser Stelle nochmals herausstellen und gegenüber seinen jüdischen Kritikern verteidigen will. Die anschließenden Verweise auf die Gnade Gottes und seine besondere Zuwendung an die nichtjüdischen Christen sowie auf die sich im Geistempfang und im Sterben Christi erweisende Liebe Gottes dienen nicht allein der Vergewisserung der römischen Christen über ihren bereits erlangten Heilsstand, sondern angesichts der Kritik der jüdischen Gegner auch der Verdeutlichung des Umstands, dass die nichtjüdischen Gläubigen als Empfänger von Gottes Gnade und Liebe schon jetzt zu ihm Gehörige sind.411 Auffälligerweise findet sich in Gal 2,16ff eine ähnliche Argumentation. Auch dort verweist Paulus seine sich in einer bedrohlichen Situation befindenden Adressaten mit besonderem Nachdruck auf ihre bereits geschehene Rechtfertigung aus dem Glauben. Dass er dabei nicht nur seine Adressaten ihres Glaubens versichern will, sondern auch seine jüdischen Kritiker im Blick hat, geht aus den Passagen im Galaterbrief hervor, in denen er sich mit der Kontroverse um die Toraobservanz auseinandersetzt. In diesen Passagen steht die Thematik der Beschneidung besonders im Vordergrund. Unter Berufung auf das Rechtfertigungsgeschehen Abrahams in Gen 15,6 verdeutlicht Paulus, dass die nichtjüdischen Glaubenden in den galatischen Gemeinden bereits aufgrund ihres Christusglaubens gerechtfertigt worden sind (Gal 3,6f). Interessanterweise betont Paulus dabei wie in Röm 5,5 mit Nachdruck, dass die galatischen Gläubigen im Glauben auch den Geist Gottes empfangen haben (Gal 3,1f) und als Kinder Gottes angenommen worden sind (Gal 3,26; vgl. Röm 8,14f.29). Zudem entspricht die Aussage über die Liebe Christi in Gal 2,20, die vor allem in seinem Sterben ihren Ausdruck findet, offenkundig der Aussage über die Liebe Gottes in Röm 5,8. Schließlich ist auch die bekenntnishafte Aussage des Paulus in Gal 2,19-20, dass er nicht mehr für das Gesetz (vgl. Röm 7,4-6), sondern im Glauben an Christus lebt, der ihn liebte und sich für ihn hingab, nicht allein als ein

411 Schon in Röm 1,7 hat Paulus die römischen Christen als die von Gott Geliebten und Berufenen bezeichnet. Damit bringt er schon am Beginn seines Briefes zum Ausdruck, dass die Tatsache, dass die römischen Christen zum Glauben gekommen sind, nicht von einem bloßen Zufall oder von menschlichem Wollen abhängt, sondern ausschließlich vom göttlichen Ratschluss. Im Zusammenhang mit dieser Beobachtung muss außerdem festgehalten werden, dass Paulus auch in Röm 9,25-26 mit dem Zitat aus Hos 2 und Jes 10 auf den Heilsplan Gottes für die nichtjüdischen Völker verweist und bemerkenswerterweise auch dort die nichtjüdischen Völker als in der Zukunft von Gott Berufene und Geliebte bezeichnet werden (vgl. Röm 8,28-39).

Friede, Hoffnung und Ruhm der gerechtfertigten Christen in der leidvollen Gegenwart: Röm 5,1-11

persönliches Bekenntnis zu verstehen. Auch diese Aussage bezieht sich nämlich auf die Situation der Christen in Galatien, in der sie von jüdischen Kritikern bedrängt wurden. Dies ist daran erkennbar, dass Gal 2,20 mit dem übergreifenden Argumentationsgang verbunden ist, wonach nicht durch das Gesetz, sondern allein aufgrund des Christusglaubens die Gerechtigkeit erlangt werden kann und die Galater gemäß dieser Heilsbotschaft schon als Kinder Gottes berufen worden sind. 1.2

Das Friedensverhältnis zu Gott für die aus dem Glauben Gerechtfertigten (V 1)

Aufgrund des Standes der Gerechtigkeit haben die Glaubenden auch Frieden im Verhältnis zu Gott (πρὸς τὸν θεόν).412 εἰρήνη bezeichnet hier „weder eine Stimmung der Seele noch die innere Verfassung des einzelnen“413 , sondern das Verhältnis des Friedens zwischen Gott und denjenigen, die zum Christusglauben gekommen und damit gerechtfertigt worden sind.414 Auf diese Friedensrelation der Glaubenden zu Gott nimmt in V 10-11 noch einmal der Begriff καταλλάσσειν Bezug, der ebenfalls mit der Rechtfertigungsvorstellung in Verbindung gebracht wird – aber nicht als Folge, sondern als Parallele zum Rechtfertigungsgeschehen in V 9 (s. u.). Was den Gebrauch des Wortes εἰρήνη in Bezug auf das Gottesverhältnis der Gerechtfertigten angeht, schließt Paulus an die alttestamentliche Tradition an.415 εἰρήνη wird im Alten Testament in verschiedenen Kontexten verwendet. Häufig bezeichnet das Wort den Frieden zwischen Völkern oder zwischen einzelnen Menschen und damit die Zeit des zwischenmenschlichen Verhältnisses, in der kein Krieg oder Streit herrscht (z. B. RiLXX  4,7; 3KönLXX  2,13; 4KönLXX  9,17ff; JesLXX  14,30; SprLXX  17,1). Allgemein kann es sich auch auf das Wohlbefinden oder Heil-Sein eines Menschen beziehen (z. B. RiLXX  6,23; 18,6; 1KönLXX  10,4; 20,42; 2KönLXX  15,27; 18,29; PsLXX  72,3).416 Der semantische Gehalt des Begriffs ist aber gelegentlich unklar und schwer zu spezifizieren. In Bezug auf Röm 5,1 ist vor allem die Verwendungsweise von Bedeutung, bei der εἰρήνη das Heilsgut bezeichnet, welches 412 Anhand der syntaktischen Struktur wird deutlich, dass εἰρήνη hier als Ergebnis der Rechtfertigung zu verstehen ist. Vgl. Breytenbach, Versöhnung, 145f.150. 413 So Lohse, Römer, 166. Vgl. auch Schlier, Römer, 141; Wolter, Römer I, 320. 414 So auch viele Exegeten, vgl. nur Schlier, Römer, 140f; Wilckens, Römer I, 288; Breytenbach, Versöhnung, 144f; Wolter, Römer I, 320. εἰρήνη bezeichnet nicht die Ausgeglichenheit des menschlichen Gemütes oder ein Gestimmtsein im Leben (vgl. Wolter, Rechtfertigung, 95). 415 Vgl. Breytenbach, Versöhnung, 144f. M. E. hat die Vorstellung von der pax Romana in römischer Zeit und von der pax deorum/deum traditionsgeschichtlich nichts mit der paulinischen Verwendung von εἰρήνη zu tun (mit Wolter, Römer I, 320, Anm. 10; gegen Haacker, Römer, 135ff). 416 Zu den verschiedenen Sinnzusammenhängen des Begriffs εἰρήνη im Alten Testament vgl. auch Foerster, ‚εἰρήνη‘ (ThWNT).

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Die Gerechtigkeitsaussagen im Römerbrief

Gott seinem Volk Israel oder einem Einzelnen schenkt. In diesem Fall ist auch die Heilsgegenwart gemeint, in der kein strafendes Gericht Gottes mehr zu fürchten ist (vgl. HiLXX  22,21; JesLXX  27,5; 57,19; auch grHen 1,8).417 An den meisten Stellen verwendet Paulus εἰρήνη im Zusammenhang mit dem Heilszustand der Menschen, womit dann der von Gott gestiftete Friede gemeint ist.418 Wenn Paulus sagt, dass sich die aus dem Glauben Gerechtfertigten in einem Friedensverhältnis mit Gott befinden, will er damit zum Ausdruck bringen, dass sie gerade aufgrund dieses Verhältnisses in eine Lage versetzt sind, in der sie das Zorngericht Gottes nicht mehr zu fürchten haben (vgl. 1,18f; 2,5f; 5,9).419 Die Grundlage dieses Friedensverhältnisses gibt der Präpositionalausdruck διὰ τοῦ κυρίου ἡμῶν Ἰησοῦ Χριστοῦ an. Der Stifter des Friedens mit Gott ist Jesus Christus, der von jedem Glaubenden als der für ihn gestorbene, auferstandene und erhöhte gegenwärtige Herr geglaubt und bekannt wird. Ein weiterer deutlicher Bezug der εἰρήνη-Wendung in Röm 5,1 auf die alttestamentliche Tradition besteht in der Verbindung der εἰρήνη mit der Partizipialform δικαιωθέντες. Im griechischen Alten Testament finden sich viele Belege, in denen εἰρήνη und δικαι-Wort parallel zueinander verwendet werden oder in gedanklicher Beziehung stehen: PsLXX 34,27; 71,3.7; 84,11; SprLXX 16,8; JesLXX 9,6; 32,17; 39,8; 48,18; 53,4-12; 60,17; Bar 5,4. Meines Erachtens sind die Belege in JesLXX  48,18; 53,4-12 und 60,17 dabei von besonderer Bedeutung, da Gerechtigkeit und Friede dort wie bei Paulus als von Gott kommende Heilsgüter verstanden werden. Insbesondere JesLXX  53,4-12 kommt Röm 5,1-11 insofern am nächsten, als er von Frieden und Gerechtigkeit spricht, welche durch den Tod eines Menschen für Sünder herbeigeführt worden sind, genau wie Röm 5,1-11.420

417 Vgl. Wolter, Rechtfertigung, 98ff. 418 Zum Überblick des Gebrauchs des Begriffs bei Paulus vgl. Schlier, Römer, 141; Breytenbach, Versöhnung, 144f. Beachtet werden muss dabei aber, dass Paulus mit εἰρήνη nicht immer auf das Friedensverhältnis mit Gott verweist, sondern auch das Heil (z. B. Röm 2,10; 8,6; 16,20; 1Thess 5,23), eine friedvolle Gesinnung (z. B. Röm 15,13; Phil 4,7) oder das friedliche Verhältnis der Gemeindeglieder untereinander (z. B. Röm 14,17.19; 1Kor 7,15; 14,33) mit diesem Begriff bezeichnen kann. 419 So auch Wolter, Rechtfertigung, 102ff; ders., Römer I, 320. 420 Bei Paulus findet sich die Verbindung von εἰρήνη und δικαιοσύνη noch in Röm 14,17, wo beide Begriffe Charakteristika des Reiches Gottes bezeichnen, auf das die Christen ihr Handeln ausrichten sollen, und somit – anders als in Röm 5,1 – nicht als Ausdrücke für Heilsgüter zu verstehen sind, sondern als ethische Anforderungen an die Glaubenden.

Friede, Hoffnung und Ruhm der gerechtfertigten Christen in der leidvollen Gegenwart: Röm 5,1-11

1.3

Der Gnadenstand der Glaubenden und die Hoffnung auf die kommende Herrlichkeit (V 2-4)

Der Relativsatz von V 2 führt die Beschreibung des gegenwärtigen Heilsstandes im vorangegangenen Satz fort. Mithilfe einer räumlichen Vorstellung bringt Paulus zum Ausdruck, dass die Adressaten in Rom als die aus dem Glauben Gerechtfertigten den Zugang zur Gnade Gottes erhalten haben und in dieser Gnade stehen. Die Verbform ἐσχήκαμεν ist im vorliegenden Kontext als ein „eigentliches Perfektum“ zu verstehen.421 Der Ausgangspunkt des Gnadenstandes ist, wie der Anschluss δι᾿ οὗ deutlich macht, Jesus Christus, der in V 1 als Stifter des Friedensverhältnisses erwähnt worden ist. Genauer kann dieser Ausgangspunkt im Tod Jesu gesehen werden, denn wo Paulus im Zusammenhang mit dem Heil der Menschen von Christus spricht, schließt dies immer den Gedanken vom Kreuzestod Jesu Christi ein. Außerdem zeigt die Formulierung τῇ πίστει deutlich, dass für den Gnadenstand immer der Glaube vorausgesetzt ist, welcher im Tod Jesu die Ermöglichung des Zugangs zu einem solchen Stand erblickt. Es stellt sich allerdings die Frage, was mit der Aussage τὴν προσαγωγὴν ἐσχήκαμεν τῇ πίστει εἰς τὴν χάριν ταύτην konkret gemeint ist. Die deiktische Wendung τὴν χάριν ταύτην zeigt zunächst deutlich, dass die χάρις sich hier auf den in V 1 mit den Worten δικαιωθέντες οὖν ἐκ πίστεως εἰρήνην ἔχομεν πρὸς τὸν θεὸν beschriebenen gegenwärtigen Heilsstand der Glaubenden bezieht.422 χάρις beschreibt somit nicht eine Eigenschaft Gottes423 , sondern charakterisiert vielmehr die Art und Weise des Heilsgeschehens, durch das die Glaubenden Gerechtigkeit und Frieden empfangen haben. Für Paulus ist klar, dass die Rechtfertigung der Gottlosen und ihr Friede im Verhältnis zu Gott allein durch Gottes Gnade zustande kommen kann. Der Begriff προσαγωγή, der die mit χάρις verbundene räumliche Vorstellung zum Ausdruck bringt, geht auf kultische Vorstellungen im Alten Testament zurück.424 Im kultischen Kontext bezeichnet προσάγειν κτλ. „das Hintreten des kultischen Personals vor Gott zum Dienst im Heiligtum“425 . Gemäß diesem Bild ist den Glaubenden ein besonderer Zugang zum göttlichen Raum eröffnet worden, sodass sie in einem besonderen Heilsbereich stehen, in dem die göttliche Gnade wirkt und ihre Wirkung erfahrbar ist. Insgesamt bringt die Aussage προσαγωγὴν ἐσχήκαμεν τῇ πίστει εἰς τὴν χάριν ταύτην ἐν ᾗ ἑστήκαμεν daher zum Ausdruck,

421 Mit Breytenbach, Versöhnung, 147; Wolter, Römer I, 321. 422 Vgl. Breytenbach, Versöhnung, 147; Wolter, Römer I, 321. Die enge Verbindung zwischen dem δικαι- und dem χάρις-Terminus lässt sich auch in Röm 3,24; 4,2-5; 5,16-17 finden. 423 Vgl. Wolter, Römer I, 321. 424 Vgl. Wolter, Römer I, 320f. 425 Wolter, Römer I, 320. Zu den Belegen von προσάγειν in der LXX vgl. Wolter, Römer I, 320, Anm. 12.

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Die Gerechtigkeitsaussagen im Römerbrief

dass die Glaubenden in einen besonderen göttlichen Heilsbereich gelangt sind, in welchem sie in der Wirkung der göttlichen Gnade bewahrt bleiben. Die Vorstellung, dass die Existenz und Lebensweise der Glaubenden fundamental durch die göttliche Gnade bestimmt ist, begegnet bei Paulus auch an anderen Stellen. So stellt er in Röm 6,14 fest, dass die Glaubenden nicht unter dem Gesetz, sondern unter der Gnade Gottes stehen. Die Gnade Gottes meint dabei nicht allein die gunstvolle Zuwendung in einem vergangenen Heilsgeschehen (3,24), sondern sie ist ein Grundprinzip, das auch in der Gegenwart die Existenz und Lebensweise der Glaubenden völlig neu bestimmt (vgl. 5,21; 6,14). Entscheidend ist, dass dem Gnadenstand bei Paulus immer das Vertrauen auf Jesus Christus vorausgeht und das Stehen in bzw. unter der Gnade somit auch nur im weiteren Beharren im Christusglauben erhalten bleibt (vgl. die Verbindung von χάρις mit der Wendung ἐκ πίστεως … διὰ τοῦ κυρίου ἡμῶν Ἰησοῦ Χριστοῦ).426 In diesem Sinne kann Paulus gegenüber den galatischen Christen, die sich unter dem Druck der Unruhestifter beschneiden lassen wollen, argumentieren, dass die Befolgung dieser Forderung und damit die Unterordnung unter die Einhaltung des ganzen Gesetzes nicht nur ein einfaches Vergehen wäre, sondern, dass sie so von Christus abkommen und aus der Gnade herausfallen würden (Gal 5,2-4). Neben den Begriffen εἰρήνη und χάρις verwendet Paulus hier den Begriff ἐλπίς, um auf einen weiteren Aspekt des Heilsstandes zu verweisen. Er schreibt, dass die Gerechtfertigten „sich der Hoffnung auf die Herrlichkeit Gottes rühmen (καυχώμεθα ἐπ᾿ ἐλπίδι τῆς δόξης τοῦ θεοῦ)“. Der sich auf die Form ἐλπίδι beziehende Genitiv τῆς δόξης τοῦ θεοῦ gibt dabei zugleich an, was der Gegenstand und was der Grund der Hoffnung ist. Die Glaubenden rühmen sich der Herrlichkeit (oder des Lichtglanzes) Gottes, d. h. der Herrlichkeit, welche Gott ihnen in der Heilszukunft verleihen wird.427 Die meisten Exegeten interpretieren diese Aussage über die Hoffnung im Zusammenhang mit dem in 3,23 über die δόξα Gesagten als den Wiedergewinn der Herrlichkeit, welche dem Menschen durch den Sündenfall verloren ging.428 Eine solche Verbindung der beiden Stellen erscheint jedoch als unwahrscheinlich, denn in 5,2 ist die δόξα-Aussage deutlich in einen sich wesentlich unterscheidenden Kontext als in 3,23 eingebettet. Spricht Paulus dort von der δόξα im Sinne der Ebenbildlichkeit, die die Menschen aufgrund ihrer Sünde verloren haben, so spricht er in 5,2 von ihr im Sinne der Herrlichkeit, welche Gott den

426 Die unauflösliche Verbindung des Christusglaubens der Glaubenden mit ihrem Gnadenstand wird auch in Röm 3,24; 4,4f; 5,15.17.20-21; 6,15 beschrieben. Paulus sagt an keiner Stelle explizit, dass der Glaube an Christus die Voraussetzung für den Gnadenstand ist, doch folgt dies eindeutig aus seiner Argumentation. 427 Die Formulierung δόξα τοῦ θεοῦ ist im Textzusammenhang am sinnvollsten als ein gen. auct. aufzufassen. 428 So z. B. Dunn, Romans I, 249; Moo, Romans, 302; Wolter, Römer I, 322.

Friede, Hoffnung und Ruhm der gerechtfertigten Christen in der leidvollen Gegenwart: Röm 5,1-11

Glaubenden, die trotz der Bedrängnisse am Glauben an Christus festhielten, im Eschaton zuteilwerden lassen wird (vgl. 8,17.18.21).429 Die Schilderung von 5,3-4 spielt unverkennbar auf die leidvolle Situation an, der die christlichen Adressaten in Rom ausgesetzt sind. Wenn Paulus in diesem Kontext auf die in der Endzeit verliehene Herrlichkeit verweist, will er die römischen Gläubigen offenbar zur Standhaftigkeit im Glauben ermutigen. Die Wendung ἐλπίς τῆς δόξης τοῦ θεοῦ verweist in diesem Zusammenhang daher nicht auf die Restitution der durch die Sünde verlorenen Herrlichkeit, sondern auf die Heilszukunft, in der die Glaubenden von Gott Herrlichkeit empfangen. In derselben Weise verwendet Paulus das Wort δόξα auch in Röm 8,17f und 2Kor 4,17f. Auch dort bezeichnet er damit die Herrlichkeit, die in der zukünftigen Heilszeit den in Bedrängnis standhaft gebliebenen Christen zuteilwerden wird. 2.

Die Liebe Gottes als Grundlage für die Hoffnung auf die heilvolle Zukunft (5,5-8)

Paulus ist sich dessen gewiss, dass die Hoffnung auf das endgültige Heil und die mit ihm verwirklichte Herrlichkeit nicht zuschanden werden lässt (οὐ καταισχύνει), sondern dass sie sich erfüllen wird (V 5), weil sie auf dem festen Grund der Liebe Gottes steht (ἀγάπη τοῦ θεοῦ)430 . Nach Paulus‘ Darstellung in diesen Versen ist die Liebe Gottes durch den heiligen Geist, der den Glaubenden gegeben wurde, in ihre Herzen gegossen. Zum Verständnis dieser bildhaften Vorstellung muss der von Paulus verwendete Ausdruck ἐκχύειν ἐν ταῖς καρδίαις genauer betrachtet werden. Im Alten Testament und in den frühjüdischen Schriften wird das göttliche Handeln am Menschen häufig als Ausgießen oder Ausschütten beschrieben; so ist häufig vom Ausgießen des Zorns (PsLXX 68,25; 78,6; JesLXX 42,25; JerLXX 7,20; 10,25; KlglLXX 2,4; EzLXX 9,8; 14,19; 21,36; 30,15; HosLXX 5,10; ZefLXX 3,8; Sir 16,11) und des Geistes die Rede (JesLXX 44,3; JoelLXX 3,1.2; SachLXX 12,10; äthHen 62,2; 91,1; 4Q504 2,5,15), aber auch vom Ausgießen des Erbarmens (Sir 18,11), des Segens (MalLXX 3,10), der Weisheit (äthHen 49,1) und der Gnade (PsLXX 44,3).431 Hinsichtlich der paulinischen Formulierung im vorliegenden Kontext sind die Belege für die Rede vom Ausgießen des Geistes von Bedeutung. Paulus spricht

429 In Gal 5,5 spricht Paulus von der Hoffnung auf die Gerechtigkeit (ἐλπίδα δικαιοσύνης), was in enger Verbindung mit der Wendung ἐλπίς τῆς δόξης τοῦ θεοῦ in Röm 5,2 steht. Paulus weist damit nämlich in einer ähnlichen Leidenssituation auf die heilvolle Zukunft hin. Die Ausstattung mit Gerechtigkeit und Herrlichkeit ist der entscheidende Bestandteil der zukünftigen Heilsaussage bei Paulus (vgl. auch Röm 8,17.18.21.30.33; 2Kor 4,17; Phil 3,21 u. a.). 430 Die Genitivverbindung ist als gen. subj. zu verstehen. Vgl. Lohse, Römer, 169. 431 Vgl. Wolter, Römer I, 327.

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häufiger an anderen Stellen davon, dass die Glaubenden den Geist Gottes empfangen haben (vgl. 1Kor 12,13; 2Kor 1,21f; Gal 3,3; 4,6; vgl. auch Eph 1,13; 4,30). Angesichts dieser Rede vom Geistempfang bei Paulus und des oben dargelegten Bezugs auf die alttestamentliche Tradition der Geistausgießung erscheint plausibel, dass Paulus mit der Wendung ἡ ἀγάπη τοῦ θεοῦ ἐκκέχυται ἐν ταῖς καρδίαις ἡμῶν κτλ. eigentlich auf die Gabe des Geistes verweisen und seine Adressaten so an ihren Geistempfang erinnern will.432 Der von den Glaubenden erfahrene Geistempfang ist für Paulus ein sicherer Erweis dafür, dass Gott sie in seiner Liebe als seine Kinder angenommen hat (vgl. Röm 8,14-16; 9,25-26; 1Kor 12,3.13; Gal 3,5; 1Thess 4,8; auch Apg 8,15f; 10,44f; 11,15f; 15,7f; 19,2f). Diejenigen, die den Geist Gottes empfangen haben, können sich dessen gewiss sein, dass Gott ihr Leben bis zu ihrer eschatischen Verherrlichung leitet, sodass ihre Hoffnung auf die δόξα θεοῦ nicht enttäuscht werden wird (vgl. Röm 15,13; Gal 5,5; Phil 1,19; vgl. auch Eph 3,16).433 In V 6-8 führt Paulus das Thema der Liebe Gottes fort und bezieht nun auch den Tod Christi in den gedanklichen Zusammenhang mit ein.434 Nicht nur in der Gabe des Geistes, sondern vor allem im Tod Christi erweist sich für Paulus die Liebe Gottes (V 8). Das Sterben Christi für die Gottlosen bzw. Sünder ist für ihn „der immer noch geltende Erweis der Liebe Gottes“435 . Paulus hebt die Einzigartigkeit der Liebe Gottes in besonderer Weise dadurch hervor, dass er die Außergewöhnlichkeit des Todes Christi im Vergleich mit der allgemein nachvollziehbaren Vorstellung des Sterbens für andere herausstellt (V 7). Dieser Argumentationsgang lässt sich aber nur vom Vater-Sohn-Verhältnis zwischen Gott und Jesus Christus verstehen, auf das Paulus an anderen Stellen des Römerbriefs mehrfach zu sprechen kommt (vgl. Röm 1,2f; 8,3.29.32; vgl. auch Gal 4,4). Explizit ist davon in den Versen 6-8 keine Rede, doch wird im unmittelbaren Kontext durch die Wendung διὰ τοῦ θανάτου τοῦ υἱοῦ αὐτοῦ in V 10 deutlich, dass der Tod Christi der Tod des einzigen geliebten Sohnes Gottes ist.436

432 So auch Dibelius, Vier Worte, 6; Schlier, Römer, 149f; Dunn, Romans I, 253; Lohse, Römer, 169. 433 Die Tatsache, dass die Glaubenden den Geist Gottes empfangen haben und weiterhin in sich tragen, ist die Garantie dafür, dass sie zu Gott gehören und am ewigen Leben teilhaben (Röm 8,15.23; 1Kor 2,12; 12,3; 2Kor 1,22; 5,5; 11,4; Gal 3,2.5.14; 4,6; 1Thess 4,8). Vgl. Wolter, Römer I, 326; ders., Paulus, 160ff. 434 Das zentrale Motiv der Liebe Gottes ist hier eingerahmt von der zweifachen Rede vom Sterben Christi für die Gottlosen in V 6 sowie für die Sünder in V 8b. 435 Breytenbach, Versöhnung, 158. συνίστημι bedeutet, wie in Röm 3,5; 2Kor 6,4; 7,11 und Gal 2,18, „darstellen, erweisen“ (vgl. BAA, s.v.). Die Präsensform des Verbs deutet darauf hin, dass der Erweis der Liebe Gottes im Tod Christi ein für alle Zeit gültiger Tatbestand ist; der Tod Christi ist als Liebeshandeln Gottes an die Menschen schon vollzogen, er fungiert aber als immer gegenwärtiger Erweis der Liebe Gottes für jeden Glaubenden. 436 Wie die Formulierung von 8,32 eindeutig zeigt, versteht Paulus den Tod Christi als ein göttliches Handeln, bei dem Gott seinen geliebten Sohn für die Rettung der Sünder dem Tod hingegeben

Friede, Hoffnung und Ruhm der gerechtfertigten Christen in der leidvollen Gegenwart: Röm 5,1-11

In Verbindung mit dieser Wendung deutet die Aussage von V 8b, dass Christus zugunsten der Sünder starb, darauf hin, dass Gott seinen Sohn für diese hingegeben hat. Vor dem Hintergrund dieses gedanklichen Kontextes erschließt sich die Logik der Argumentation von V 8, nach der sich Gottes Liebe darin erweist, dass Christus für die Sünder gestorben ist.437 Die Besonderheit und Unvergleichlichkeit des Todes Christi bzw. der Hingabe seines Sohnes durch Gott unterstreicht Paulus durch die Gegenüberstellung mit allgemeinen Vorstellungen über den Tod für andere, die für seine Adressaten nachvollziehbar sind. Nach den allgemeinen menschlichen Vorstellungen, auf die Paulus hier verweist, stirbt kaum jemand für einen gerechten Menschen (ὑπὲρ δικαίου). Oder ins Positive gewendet: Vielleicht nimmt es einer auf sich, für einen guten Menschen (ὑπὲρ τοῦ ἀγαθοῦ) zu sterben.438 Christus ist aber „für uns“ gestorben, als „wir“ noch Sünder (ἁμαρτωλοί) waren.439 Gott hat demnach seinen einzigen Sohn für Menschen hingegeben, für die sonst niemand sein Leben preisgeben würde. Fällt nach menschlichem Ermessen schon die Vorstellung nicht leicht, sein Leben für den Gerechten und Guten zu geben, ist es umso weniger nachvollziehbar, es für Sünder und Gottlose hinzugeben. Ist die Hingabe des eigenen Lebens für Sünder und Gottlose bereits unvorstellbar, so erscheint das Dahingeben des eigenen Sohnes für solche Menschen absurd. Eine solch unbegreifliche und absurd erscheinende Tat hat aber Gott vollzogen und damit jede menschliche Vorstellung von einer möglichen Lebenshingabe überboten. Da Gott aber durch die Dahingabe seines Sohnes eine Heilstat zugunsten der sündigen Menschheit vollbracht hat, ist seine Handlung nicht absurd. In dieser eindrucksvollen Weise bringt Paulus zur Darstellung, dass diese Tat Gottes, die Hingabe seines Sohnes in den Tod, seiner Liebe

hat. Von diesem Geschehen her entfaltet Paulus das Motiv der Liebe Gottes. Beachtet werden muss dabei aber, dass die Verbindung zwischen dem Sterben Jesu und der Liebe Gottes zu den Menschen nur besteht, wenn der gestorbene Jesus als Sohn Gottes starb (vgl. Wilckens, Römer I, 289; Breytenbach, Versöhnung, 159; Eschner, Hingabe, 677). 437 Paulus spricht in Bezug auf das Sterben Jesu auch von der Liebe Christi (vgl. Gal 2,20-21; 2Kor 5,14). 438 Die Wendung ὑπὲρ γὰρ τοῦ ἀγαθοῦ τάχα τις καὶ τολμᾷ ἀποθανεῖν sollte als Verstärkung bzw. Erläuterung der ersten ὑπέρ-Wendung verstanden werden (vgl. Schlier, Römer, 153). Die gelegentlich anzutreffende Auffassung, nach der τοῦ ἀγαθοῦ als Genitiv des Neutrums verstanden und mit „das Gute“ übersetzt werden muss, erscheint nicht plausibel, da Paulus bei der Verwendung von ὑπέρ-Wendungen stets die begünstigte Person an die Präposition ὑπέρ anschließt (mit Lohse, Römer, 170; anders Haacker, Römer, 137f; Eschner, Gestorben, 282; Jewett, Romans, 360; Wolter, Römer I, 330f). 439 Mit den drei ἔτι-Phrasen verweist Paulus nachdrücklich auf den Zeitpunkt des Sterbens Christi und bezieht sich auf den Zustand der Glaubenden, in dem diese sich vorher befanden. Die beiden gen. absol. ἀσθενῶν und ἁμαρτωλῶν bezeichnen den vorherigen Stand in der rückblickenden Perspektive.

311

312

Die Gerechtigkeitsaussagen im Römerbrief

zur Menschheit entspringt, und dass sie allein in solcher Weise als eine Liebestat verstanden werden kann. 3.

Die heilvolle Zukunft und die bereits mit Zuversicht erfüllte Gegenwart der Glaubenden (5,9-11)

3.1

Die gegenwärtige Rechtfertigung und die zukünftige Rettung der Glaubenden durch Jesus Christus (V 9)

Mit dem ersten πολλῷ μᾶλλον-Argument440 blickt Paulus vom bereits erfolgten Liebeserweis Gottes in der Hingabe seines Sohnes in die Zukunft des endzeitlichen Heils. Die Wendung πολλῷ μᾶλλον zu Beginn von V 9a ist syntaktisch von V 8 abhängig und die Wendung δικαιωθέντες νῦν ἐν τῷ αἵματι αὐτοῦ erläutert im Anschluss an das in V 8 Gesagte weiter, was den Glaubenden durch das Liebeshandeln Gottes schon jetzt widerfahren ist. Paulus geht in V 9a von diesem schon erfolgten Geschehen aus und richtet ab V 9b den Blick auf die endzeitliche Rettung. Wie in V 1 bringt das Partizip δικαιωθέντες den gegenwärtigen Zustand des Gerechtseins derer zum Ausdruck, die zum Christusglauben gekommen sind und ihr Vertrauen auf Jesus Christus setzen; sie sind keine Sünder mehr, sondern Gerechte (vgl. 5,19). Diese Änderung des Status der jetzt im Glauben zu Christus Gehörenden kommt dabei klar zur Sprache (im Gegensatz zum vorherigen Status des Sünders in 8b).441 Anknüpfend an das in V 8b angesprochene Sterben Christi für die Sünder

440 Die Argumentationsfigur πολλῷ μᾶλλον kommt bei Paulus noch in Röm 5,15.17; 2Kor 3,9.11 und Phil 2,12 vor (vgl. auch Röm 11,12.24). Bezüglich ihrer Herkunft ist in der Literatur umstritten, ob sie aus dem Qal-Wachomer-Schluss der rabbinischen Literatur hergeleitet (so z. B. Müller, Qal-Wachomer, 73–92; Michel, Römer, 182; Wilckens, Römer I, 298; Schlier, Römer, 154; Breytenbach, Versöhnung, 170f; Jewett, Romans, 362; Lohse, Römer, 170f; Haacker, Römer, 138) oder vor dem Hintergrund der griechischen antiken Rhetorik verstanden werden muss (so Eschner, Gestorben, 303, Anm. 661; Wolter, Römer I, 333f). Jedenfalls muss beachtet werden, dass es sich bei Verwendung dieser Argumentationsfigur nicht immer um ein argumentum a maiori ad minus oder umgekehrt ein argumentum a minori ad maius handelt und nicht immer leicht zu beurteilen ist, welche Seite als das minus bzw. Leichtere und welche als das maius bzw. das Schwerere zu bestimmen ist (vgl. Wolter, Rechtfertigung, 177ff). Im Fall von Röm 5,8 lässt sich nur sicher sagen, dass Paulus hier vom bereits Geschehenen auf das Zukünftige, noch nicht Eingetroffene schließt. 441 Wenn man die Semantik des Verbs δικαιοῦν grundsätzlich im Sinne von „verurteilen“ bzw. „richten“ auffasst und den Sprachgebrauch des Verbs wie Haacker im positiven Sinne des Rechtfertigens bei Paulus als ein von der üblichen griechischen Bedeutung abweichendes „Sondersprachphänomen“ (Römer, 139) bezeichnet, kommt man zu einem falschen Schluss. Das Verb δικαιοῦν in Verbindung mit einem personalen Objekt kann nicht im Sinne von „bestrafen“ oder „richten“ wiedergegeben werden, sondern es bedeutet in diesem Fall, „durch eine Bestrafung einen Übeltäter in den Zustand der Gerechtigkeit einzusetzen“. Zur ausführlichen Analyse der paganen Belege vgl. Teil II.A.2 der vorliegenden Arbeit.

Friede, Hoffnung und Ruhm der gerechtfertigten Christen in der leidvollen Gegenwart: Röm 5,1-11

macht Paulus mit der Formel ἐν τῷ αἵματι αὐτοῦ hier unmissverständlich deutlich, dass der Ermöglichungsgrund des bereits verwirklichten neuen Status der Glaubenden der Tod Christi ist. Mit dieser Formel wiederholt Paulus hier außerdem die grundlegende Aussage von 3,24-25, wo er den Tod Jesu mit derselben Formel in Verbindung mit der ἱλαστήριον-Vorstellung als eine die Sünde bedeckende, Unheil abwehrende Opfergabe dargestellt hatte.442 Die entscheidende Entsprechung besteht darin, dass der Tod Jesu mithilfe des Wortes αἷμα als Grundlage für das gegenwärtige Gerechtsein der Glaubenden zum Ausdruck kommt.443 Mit Blick auf weitere paulinische Texte wird deutlich, dass Paulus den Tod Christi häufiger in einen Zusammenhang mit der Rechtfertigung der Glaubenden bringt. In 5,15-19 beschreibt er den Tod Christi durch die Begriffe χάρις, δικαίωμα und ὑπακοή und verbindet sie mit dem Sachverhalt, dass die Glaubenden aufgrund dieses Todes den Status der Gerechtigkeit erlangt haben. In Röm 8,3 kommt Paulus auf den Tod des Sohnes Gottes zu sprechen und meint, Gott habe seinen Sohn in Gestalt sündigen Fleisches gesandt, um die Sünde zu vernichten. Die Folge dieses Geschehens, die im ἵνα-Satz in V 4 zum Ausdruck kommt, ist die Ermöglichung der Gerechtigkeit im Leben der Glaubenden, die „nach dem Geist wandeln“. Damit ist durch den Tod Christi und durch den Geist Gottes möglich geworden, was durch das Gesetz unmöglich war. Der Zusammenhang des Todes Christi mit der Gerechtigkeit der Glaubenden findet sich außerdem noch einmal in 2Kor 5,21, wo Paulus sagt, dass Gott Jesus Christus, „der keine Sünde kannte, zur Sünde gemacht hat, damit wir die Gerechtigkeit Gottes würden“. Zusammenfassend lässt sich demnach festhalten, dass der Tod Jesu für Paulus das Fundament dafür ist, dass die sündigen Menschen wieder Gerechtigkeit erlangen. Im Argumentationsgang von Röm 5,9 ist außerdem noch die emphatische Verwendung des Wortes αἷμα zu beachten. Dieser Begriff bezeichnet im vorliegenden Kontext eindeutig das Blut Jesu, das er am Kreuz vergossen hat und das dazu dient, den Sündern den Status des Gerechtseins zu verschaffen. Einige Exegeten sind der Ansicht, dass αἷμα allein in metonymischem Sinne auf den gewaltsamen Tod

442 An dieser Stelle sei noch einmal ausdrücklich darauf hingewiesen, dass der Begriff ἱλαστήριον in 3,25 nicht ausschließlich in Bezug auf den Deckel der Bundeslade (‫ )כפרת‬zu verstehen ist und damit auch nicht zwingend auf das Blutritual des großen Versöhnungtags anspielt. Das Wort in 3,25 mit der Deckplatte der Lade zu identifizieren oder metaphorisch darauf zu beziehen, ist schon angesichts der syntaktischen Struktur des Verses nicht möglich. Beachtet werden muss, dass sich der Begriff ἱλαστήριον nicht immer auf die Deckplatte der Lade bezieht, sondern auf verschiedene Gegenstände, die etwas „bedecken“, „schützen“ oder „bewahren“, referieren kann. 443 Vgl. Breytenbach, Versöhnung, 165ff; Wolter, Römer I, 332. Eine bemerkenswerte Differenz besteht jedoch darin, dass in 5,9 die Wirkung des Todes Christi nur mit Hilfe des Begriffs der Rechtfertigung (weiter in V 10 mit dem Begriff der Versöhnung), während sie in 3,24-25 mittels weiterer Begriffe, wie etwa Auslösung (ἀπολύτρωσις) und Unbeachtet-Lassen bzw. Übergehen (πάρεσις) der Sünde, beschrieben wird.

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Jesu referiert.444 Wenn Paulus diesen Begriff aber ausdrücklich erwähnt, dient er ihm nicht einfach als pars pro toto, vielmehr will er den spezifischen Bedeutungshorizont dieses Wortes einbringen. Im Vers wird das Blut Jesu deutlich so beschrieben, dass es eine heilwirkende Kraft hat, weil die Sünder durch das Blut zu Gerechten gemacht werden. Diese Vorstellung, dass das vergossene Blut Jesu für die sündigen Menschen die Änderung ihres Status bewirken kann, steht meines Erachtens in Verbindung mit den Blutriten im Alten Testament, welche den vom Opfer profitierenden Menschen Entsündigung bzw. Entsühnung verschaffen sollen. Allerdings stellt sich die Frage, mit welchem Text die Formulierung bei Paulus zusammenhängt, denn im Alten Testament ist die Vorstellung, dass durch das Blut des Opfertieres ein sündiger Mensch gerecht werden kann, nicht explizit belegt. Wird die Wendung ἐν τῷ αἵματι αὐτοῦ in 5,9 in Verbindung mit derselben Wendung in 3,25 betrachtet445 , muss die in Ex 12 beschriebene Passatradition als Verstehenshintergrund angenommen werden, nach welcher ein Opfertier aus dem Kleinviehbestand der Nomaden geschlachtet und sein Blut auf den Türsturz und auf die beiden Türpfosten gestrichen werden sollte. Das Blut des Opfertiers hat der Darstellung in Ex 12 zufolge eine apotropäische Funktion. Es sollte die sündigen Menschen „bedecken“ (σκεπάζειν)446 und dafür zu sorgen, dass der Verderber vorübergeht (παρέρχεσθαι), ohne sie zu bestrafen. Wie bereits in der Auslegung von Röm 3,25 dargelegt, steht die Deutung des Todes Jesu mittels des Begriffs ἱλαστήριον und die Beschreibung seiner Wirkung mit Hilfe des Begriffs πάρεσις in besonderer Nähe zur Passaerzählung in Ex 12. Auch wenn die Rechtfertigung der Israeliten nicht expressis verbis erwähnt wird, steht doch der Gedanke im Hintergrund, dass Gott die Israeliten aufgrund der „verdeckenden“ Wirkung des Blutes des Opfertiers als Gerechte ansieht und ihr Leben bewahrt. Auf eine ähnliche Weise besagt die Formulierung δικαιωθέντες νῦν ἐν τῷ αἵματι αὐτοῦ in Röm 5,9, dass das Blut Christi die Kraft hat, denjenigen Gerechtigkeit zu verschaffen, die auf dessen Kraft vertrauen, die aber ursprünglich nach dem Maßstab des Gesetzes gerichtet werden sollten. Ist durch den stellvertretenden Tod Christi die Rechtfertigung der Glaubenden ermöglicht worden, so lässt sich – dem Argument in V 8 folgend – auch sagen, dass die ursprüngliche Grundlage der jetzigen Gerechtigkeit der Glaubenden die Liebe Gottes ist. Aus Liebe hat Gott seinen Sohn für die Sünder dahingegeben.

444 So z. B. Delling, Kreuzestod, 25; Eschner, Gestorben, 308f; Wolter, Paulus, 107; ders., Römer, 332, Anm. 66. 445 Vgl. Wolter, Rechtfertigung, 180. 446 Das Motiv des Bedeckens und sein Gegenmotiv der Nacktheit und Beschämung kommen im Alten Testament häufig vor. Bei Paulus finden sich metaphorische Redewendungen wie „sich Bekleiden“ oder „mit einem neuen Zelt bzw. Haus überkleidet Werden“ (vgl. Gal 3,27; 2Kor 5,1-4). Diese metaphorischen Redewendungen haben eine soteriologische Konnotation.

Friede, Hoffnung und Ruhm der gerechtfertigten Christen in der leidvollen Gegenwart: Röm 5,1-11

Der Beschreibung von V 9 zufolge führt dies zu ihrer Rechtfertigung, damit sie als Gerechte wieder zur Heilsgemeinschaft Gottes gehören. Aus christologischer Perspektive lässt sich dieser Sachverhalt auch so beschreiben, dass Jesus Christus die Todesstrafe, die für die gottlosen, sündigen Menschen vorgesehen war, stellvertretend auf sich genommen hat und damit die Möglichkeit zur Rechtfertigung durch Gott erschlossen hat. Die Glaubenden, die den Tod Jesu als ein solches Heilshandeln Gottes zu ihren Gunsten im Glauben angenommen haben, wurden aufgrund dieses Glaubens gerechtfertigt.447 Paulus ist sich ausgehend von dieser gegenwärtigen Verfassung der Glaubenden sicher, dass diese gerechtfertigten Glaubenden auch aus dem Gericht Gottes (ἀπὸ τῆς ὀργῆς) errettet werden – und zwar durch Christus (δι᾿ αὐτοῦ). Das endzeitliche Vernichtungsgericht an den Gottlosen bzw. Sündern (1,18; 2,5; 3,5) trifft die auf Christus Vertrauenden nicht, denn sie wurden schon aufgrund ihres Glaubens an Christus als Gerechte in die Gemeinschaft mit ihm hineingenommen. Sie können sich somit jetzt schon ohne Zweifel dessen gewiss sein, dass ihnen das eschatische Heil zuteilwird. Während die außerhalb des Glaubens bleibenden Sünder gerichtet werden, wird der gestorbene, auferstandene und kommende Jesus Christus sie vor dem endzeitlichen Vernichtungsgericht bewahren (vgl. 1Thess 1,10; 5,9-10).448 Der argumentative Gehalt des in V 8 bis V 9 ausgesagten Gedankens kann nun folgendermaßen zusammengefasst werden: Das Sterben Jesu am Kreuz ist für Paulus erstens nicht die Hinrichtung eines Verbrechers, sondern Gottes Heilshandeln, bei dem er seinen eigenen Sohn für die Sünder hingegeben und dadurch seine Liebe

447 Wenn Paulus sagt, dass Christus für die Gottlosen bzw. Sünder starb, ist der Tod Christi selbstverständlich nicht nur für die christlichen Gläubigen geschehen. Christi Tod als stellverstretender Tod für die Sünder hat eine „universale Bedeutung“. (Breytenbach, Versöhnung, 158). Bei Paulus ist aber, wenn er von der Rechtfertigung bzw. Versöhnung als Heilswirkung des Todes Christi spricht, immer der Glaube mitbedacht, der den Tod Christi allererst als Heilstod für die Sünder deutet und diesen mit solcher Bedeutung auf sich selbst bezieht, auch wenn er nicht explizit mit einer Formel wie ἐκ πίστεως oder διὰ τῆς πίστεως angesprochen wird. Der Tod Christi ist für alle Menschen geschehen, aber die Rechtfertigung und Versöhnung werden nach Paulus nur für diejenigen Wirklichkeit, die diesen Tod als Heilsgeschehen für sich im Glauben annehmen. 448 Der Versuch, von der Formulierung δι᾿ αὐτοῦ her eine bildhafte Szene zu konstruieren, ist durch die Texte nicht gedeckt. Zum genauen Szenario lässt sich nicht viel sagen, denn Paulus selbst schweigt zu den Details (vgl. Breytenbach, Versöhnung, 171; Wolter, Rechtfertigung, 189f; ders., Römer I, 333). Um den Aussagegehalt des Präpositionalausdruckes δι᾿ αὐτοῦ zu erklären, haben einige Exegeten die Stelle Röm 8,34 herangezogen (z. B. Wolter, Rechtfertigung, 190f; Stuhlmacher, Römer, 76; Theobald, Römer, 149f; Zeller, Römer, 111). Jedoch ist diese Hinzuziehung von Röm 8,34 nicht plausibel, da es Paulus in Röm 5,9 nicht um den Ablauf eines Gerichtsverfahrens, sondern um die Rettung der Gläubigen vor dem vernichtenden Urteil über die Welt geht. Vor diesem Hintergrund ließe sich vielmehr eine Verbindung zu 1Kor 15,21ff oder 1Thess 4,13ff bzw. 5,9f herstellen. Dort schildert Paulus die Parusie und das Gericht Christi, indem dieser als Weltenherrscher und Richter dargestellt wird, der die feindlichen Mächte besiegt und die Gläubigen in seine Herrschaft aufnimmt.

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zur Menschheit erwiesen hat. Zweitens ist die Hingabe des Sohnes durch Gott bzw. das Sterben Christi als Liebestat Gottes die alleinige Grundlage für den gegenwärtigen Heilsstand der Glaubenden, in welchem ihnen Rechtfertigung widerfahren ist. Das Sterben Christi ist drittens nicht nur für die Gegenwart der Glaubenden von Heilsbedeutung, sondern als Erweis der Liebe Gottes zu den Glaubenden ist es auch die entscheidende Basis für die Hoffnung auf das endgültige Heil trotz allgegenwärtiger Bedrängnis. Schließlich erscheint viertens bei Paulus die Vorstellung, dass die Glaubenden aus der Gnade Gottes gerechtfertigt sind, häufig als zentraler Gehalt der Wirkung des Todes Jesu an den Menschen (vgl. auch Röm 3,24-26; 5,16-19; 6,7; 8,1; 1Kor 1,30; 6,11; Gal 2,16f). Die Rechtfertigungsaussage bringt in diesem Fall den veränderten Status der Glaubenden zum Ausdruck mit der Implikation, dass die Glaubenden mit dem neugewonnenen Status der Gerechtigkeit in die Heilsgemeinschaft Gottes aufgenommen worden sind und damit das kommende Gericht Gottes nicht zu fürchten brauchen. 3.2

Die zukünftige Rettung der Versöhnten und ihr Rühmen Gottes in der Gegenwart (V 10-11)

V 10 wiederholt und verstärkt im Wesentlichen die schon in V 9 zum Ausdruck gebrachte Gewissheit des endgültigen Heils der Glaubenden. Paulus bedient sich hier allerdings einer anderen Vorstellung, um die gegenwärtige intakte Relation der Glaubenden zu Gott zu beschreiben, nämlich die der Versöhnung mit Gott. Diese hier neu verwendete Begrifflichkeit „Versöhnung (καταλλάσσειν, καταλλαγή)“ steht im vorliegenden Abschnitt auf semantischer Ebene deutlich mit der Wendung εἰρήνη πρὸς τὸν θεόν in V 1 im Zusammenhang. Anders als in der Friedensaussage in V 1 ist die Versöhnung in V 10 jedoch nicht als Folge der Rechtfertigung expliziert. Vielmehr steht die Versöhnungsaussage auf derselben Ebene wie die Rechtfertigungsaussage von V 9 und ergänzt und bekräftigt das erste πολλῷ μᾶλλον-Argument. Die Versöhnungsaussage darf dabei nicht einfach als eine komplementäre Erläuterung unter die Rechtfertigungsaussage subsumiert werden, denn beide Vorstellungen stammen aus je unterschiedlichen Bildfeldern und haben daher eine je verschieden akzentuierte Semantik: Bei der Rechtfertigung geht es um die Änderung des Status vom Sünder zum Gerechten, bei der Versöhnung dagegen um die Änderung des Verhältnisses gegenüber Gott, von der Feindschaft zu einem Friedensverhältnis. In der Protasis (εἰ) stellt Paulus zunächst „einst und jetzt“ gegenüber.449 Die mit „wir“ bezeichneten Glaubenden, die früher die Gottesfeinde (ἐχθροί) waren, sind jetzt durch den Tod des Gottessohnes mit Gott versöhnt (κατηλλάγημεν τῷ θεῷ διὰ

449 So auch Wolter, Römer I, 335.

Friede, Hoffnung und Ruhm der gerechtfertigten Christen in der leidvollen Gegenwart: Röm 5,1-11

τοῦ θανάτου τοῦ υἱοῦ αὐτοῦ). Wenn man Gott als das Subjekt ergänzt, kann diese

passivische Aussage aktivisch wie folgt wiedergegeben werden (vgl. 2Kor 5,18f)450 : Gott hat „uns“, die wir seine Feinde waren, mit sich versöhnt, indem er seinen eigenen Sohn Jesus Christus hingegeben hat. Die Versöhnung ist nach Paulus eigentlich eine Tat Gottes, bei der er durch die Hingabe seines eigenen Sohnes die Feindschaft zwischen sich und der sündigen, ihm gegenüber feindlich gesinnten Menschheit aufgehoben hat.451 Gott hat initiativ durch das Christusgeschehen die Grundlage dafür geschaffen, dass die Menschen wieder in eine friedvolle Relation zu ihm treten können. Diejenigen, die zum Christusglauben gekommen sind und – um es der in V 10 belegten Vorstellung gemäß zu sagen – diese Versöhnungsbotschaft als das auf sie ausgerichtete Wort Gottes angenommen haben, sind an das Ziel der Botschaft Gottes gelangt (vgl. 2Kor 5,18-21). Ausgehend von diesem bereits vollzogenen Geschehen der Versöhnung ist es für Paulus gewiss, dass die jetzt schon mit Gott versöhnten Glaubenden auch im Eschaton gerettet werden. Wenn Gott seinen Sohn um der Versöhnung willen dahingegeben hat, so wird er auch die an Christus Glaubenden in der Zukunft retten. Dass diese endgültige Rettung wie im Fall des bereits verwirklichten Friedensverhältnisses zu Gott durch Christus Jesus erfolgen wird, wird durch den hinzugefügten Präpositionalausdruck ἐν τῇ ζωῇ αὐτοῦ explizit zur Sprache gebracht. Was Paulus mit diesem Ausdruck genau meint, wird im Zusammenhang mit den anderen Selbstaussagen des Paulus über die Teilhabe am ewigen Leben der Glaubenden verständlich, die auf das Auferstehungsgeschehen Jesu Bezug nehmen. Am Ende des Kapitels verkündet Paulus, dass die Gnade Gottes über die Glaubenden herrscht, sodass diese am ewigen Leben teilhaben werden, was „durch den Herren Christus Jesus“ ermöglicht wird (5,21). Mit der Wendung οὐ μόνον δέ, ἀλλὰ καί erreicht Paulus zum Abschluss noch einmal eine Steigerung, mit der er eine neue segensvolle Gegebenheit des christlichen Wir zum Ausdruck bringt (V 11). Er nimmt dabei wieder die gegenwärtige Situation der Glaubenden in den Blick: Als mit Gott Versöhnte können sie sich nicht nur des zukünftigen Heils gewiss sein, sondern sie können sich schon in der Gegenwart Gottes rühmen, auch wenn ihre leidvolle Lebenssituation dem entgegenzustehen scheint. Paulus kommt hierbei wieder auf die Motivik des Rühmens zurück, nachdem er schon in V 2-3 das Sich-rühmen-Können der Glaubenden als positives Merkmal der christlichen Existenz dargestellt und den Grund ihres Rühmens benannt hatte. Am Ende des Satzes in V 11 gibt Paulus mit der Formulierung διὰ τοῦ κυρίου ἡμῶν Ἰησοῦ Χριστοῦ κτλ. die Begründung dafür an, wie es 450 Vgl. Breytenbach, Versöhnung, 154. Breytenbach betont dazu, dass es sich bei der Versöhnungsvorstellung in 5,10 um „den Versöhnungsakt als einmalige Aufhebung der Feindschaft“ handelt, nicht um eine Sinnesänderung des zornigen Gottes. 451 Vgl. Bornkamm, Paulus, 150; Breytenbach, Versöhnung, 153ff.

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möglich ist, sich angesichts der leidvollen Situation Gottes zu rühmen: Der Herr Jesus Christus, der durch seinen Tod die Versöhnung der Glaubenden mit Gott gestiftet hat und der sie im Endgericht retten wird, ermöglicht ihnen auf diese Weise das Rühmen. Interessant ist dabei vor allem, dass Paulus die Begrifflichkeit καυχᾶσθαι ἐν θεῷ, welche er schon in 2,17 in Bezug auf die Juden verwendet hat, nun auf die christlichen Glaubenden überträgt.452 In ähnlicher Weise hat er bereits die zentralen Begriffe Gerechtigkeit, Kindschaft bzw. Erbe Abrahams, welche traditionell allein auf die Juden bezogen worden sind, auf die an Christus glaubenden Heiden ausgeweitet und ihre Bedeutung damit universalisiert (4,13f). Diese universale Dimension der Heilsbotschaft veranschaulicht Paulus demnach nicht allein mit der häufig vorkommenden Formulierung „sowohl Juden als auch Heiden“ (wie auch „Beschnittene und Unbeschnittene“), sondern auch dadurch, dass er die genannten Begriffe als Identitätsbezeichnungen auch für die nichtjüdischen Christen gebraucht. Durch den Begriff καταλλαγή und die Wendung διὰ τοῦ κυρίου ἡμῶν Ἰησοῦ Χριστοῦ bildet V 11 mit V 1 (εἰρήνην ἔχομεν πρὸς τὸν θεὸν διὰ τοῦ κυρίου ἡμῶν Ἰησοῦ Χριστοῦ) eine Inklusion. In V 1 wird der durch Jesus Christus zustande gekommene Friede mit Gott zur Sprache gebracht und in V 11 wird in gleicher Weise von der Versöhnung durch Jesus Christus gesprochen. Neben dieser Inklusion ist es auffällig, dass Jesus Christus bzw. sein Tod im gesamten Abschnitt 5,1-11 als Grundlage für das gegenwärtige und zukünftige Heilsgeschehen angeführt wird. Durch Jesus Christus haben die Glaubenden Gerechtigkeit und ein friedvolles Verhältnis zu Gott erlangt (V 1). Durch ihn haben sie auch den Zugang zur Gnade Gottes erhalten (V 2). Der Tod Christi hat, als sie noch Sünder waren, die Liebe Gottes zu ihnen offenbar gemacht und ihnen den Zugang zu Rechtfertigung und Versöhnung eröffnet (V 8-10). Jesus Christus, der bereits durch seinen Tod den Glaubenden den Zugang zur Rechtfertigung und Versöhnung eröffnet hat, wird sie auch vor dem zukünftigen Gericht Gottes retten (V 9-10). Gott, der Jesus Christus zur Rettung der sündigen Menschen gesandt und dem Todesgericht ausgeliefert hat, ist der Initiator. Der unmittelbare Heilsmittler, der durch seinen Tod den Heilsplan Gottes umgesetzt hat, ist jedoch Jesus Christus. Dieser christologische Gedankengang, der der zentralen Stellung Jesu Christi in Bezug auf das Heilsgeschehen nachgeht, wird von Paulus im folgenden Abschnitt weiter entfaltet.

452 So auch viele, vgl. nur Dunn, Romans I, 261; Wolter, Römer I, 337.

Die Gnade Gottes, die die Sünde und den Tod überwindet: Röm 5,12-21

H.

Die Gnade Gottes, die die Sünde und den Tod überwindet: Röm 5,12-21

1.

Das durch die Sünde Adams verursachte Todesverhängnis der Menschheit (5,12-14)

In V 12-14 erklärt Paulus zunächst, wie die Sünde und der Tod in die Welt gekommen sind und zur Herrschaft über die gesamte Menschheit gelangen konnten. Dabei blickt er auf die Geschichte vom Sündenfall in Gen 3,1-24, die von der Übertretung Adams und dem daraus resultierenden Todesurteil Gottes erzählt. Bezeichnenderweise erwähnt Paulus Adam dabei nicht namentlich, sondern verwendet für ihn die Formel εἷς ἄνθρωπος. Dadurch charakterisiert er Adam im Gegenüber zu Christus als „den einen Menschen“, der durch seine Tat das Geschick aller anderen Einzelmenschen bestimmt hat453 und bereitet ausgehend von diesem Ausgangspunkt den Vergleich zwischen Adam und Christus in den folgenden Versen 15-19 vor. Kennzeichnend ist auch die Formulierung ἡ ἁμαρτία εἰς τὸν κόσμον εἰσῆλθεν. Paulus geht es dabei nicht primär um Adams Sünde im Sinne eines individuellen Vergehens, sondern um die Tatsache, dass durch ihn die Sünde in die Welt gekommen ist.454 Durch die Sünde Adams ist nach Paulus auch der Tod in die Welt eingetreten. Ausgehend von der Formulierung in V 12a stellt er Adam als den Menschen dar, der für den Eintritt der Sünde und des Todes in die Welt verantwortlich ist (vgl. V 15-19).455 Anschließend verweist er im mit καὶ οὕτως angeschlossenen Satz darauf, dass nicht der erste Mensch Adam allein, sondern alle von Adam abstammenden Menschen gesündigt haben und infolgedessen der Tod ebenso wie beim Sündenfall Adams über sie gekommen ist. Man darf hieraus allerdings nicht schließen, dass Adams Sünde als die Ursache für das Sündigen aller nachkommenden Menschen zu verstehen ist oder dass alle Menschen, ohne gesündigt zu haben, aufgrund seiner Sünde von Geburt an selbst Sünder sind.456 Denn wie an der Wendung καὶ οὕτως deutlich wird, sollte

453 Paulus führt einen Vergleich zwischen der Tat Adams und der Tat Christi mit ihren jeweiligen universalen Wirkungen auf die Menschen durch. Dabei bezeichnet er Adam ebenso wie Christus weitgehend als „einen Menschen“ im Gegenüber zu den Bezeichnungen der Menschen mit „alle“ und „viele“ (vgl. V 12.15.16.17.19). 454 Vgl. Wilckens, Römer I, 314. 455 In der jüdischen Tradition lassen sich parallele Belege finden, nach denen die Übertretung Adams ebenfalls als Ursprung der menschlichen Sünde gilt (vgl. äthHen 81,3; syrBar 17,2; 23,4; 4Esr 3,7.26; 4,30; 7,11). Vgl. Brandenburger, Adam und Christus; 49f; Lohse, Römer, 175f; Wolter, Römer I, 342, Anm. 4. 456 Augustins Interpretation als „Erbsünde bzw. Ursünde“, die in der westlichen Kirche lange nachgewirkt hat, ist eine Fehlinterpretation, wie schon viele Exegeten richtig angemerkt haben. Diese beruht vor allem auf seiner falschen Auslegung von ἐφ᾿ ᾧ. Vgl. Wolter, Römer I, 344f.

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Die Gerechtigkeitsaussagen im Römerbrief

man die Relation der beiden Satzteile nicht ausschließlich als einen konsekutiven Zusammenhang verstehen, sondern als eine parallele Gegenüberstellung. Auch im kausalen Nebensatz (ἐφ᾿ ᾧ …)457 macht Paulus deutlich, dass das Todesverhängnis der Menschen auf ihr eigenes Sündigen zurückzuführen ist. „Kein Mensch wird als Sünder geboren, und ohne gesündigt zu haben, ist auch kein Mensch ein Sünder.“458 In V 13-14 beschreibt Paulus das seit dem Sündenfall Adams bestehende Sündenbzw. Todesverhängnis aller Menschen näher. Dabei lenkt er den Blick auf die Zeit von Adam bis Mose (ἀπὸ Ἀδὰμ μέχρι Μωϋσέως), also auf die Zeit, bis das Gesetz (d. h. die Tora) an Mose übergeben wurde. An dieser Stelle verweist Paulus darauf, dass die Sünde immer schon unabhängig vom Vorhandensein des Gesetzes in der Welt war und die Menschen in der vorgesetzlichen Zeit ebenso wie in der nachgesetzlichen Zeit ausnahmslos den Tod erlitten haben. Die Menschen der vorgesetzlichen Zeit haben nicht in der Weise der Übertretung Adams gesündigt (ἐπὶ τῷ ὁμοιώματι τῆς παραβάσεως Ἀδάμ) – d. h. sie haben sich nicht wie Adam dadurch versündigt, dass sie ein ausdrückliches Gebot übertreten haben.459 Gleichwohl ist es für Paulus klar, dass alle Menschen in der Zeit vor dem Gesetz ausnahmslos gesündigt haben und dem Todesverhängnis als Unheilsfolge ihrer Sünde nicht entrinnen konnten. In seinem Kern besteht der Unterschied zwischen der Zeit vor dem Gesetz und der Zeit nach dem Gesetz darin, dass die Sünde in der vorgesetzlichen Zeit „noch nicht dingfest gemacht werden konnte, wie man eine Schuld in ein Rechnungsbuch einträgt“460 (ἁμαρτία δὲ οὐκ ἐλλογεῖται μὴ ὄντος νόμου: V 13b).461 In dieser Zeit fehlte also der Maßstab, mit dem sich entscheiden ließ, was Sünde ist und was nicht. Die Sünde in der vorgesetzlichen Zeit konnte demnach nicht als solche angerechnet werden, war unabhängig davon aber immer in der Welt, auch wenn der Mensch sie nicht zu erkennen vermochte. Durch diesen Hinweis auf die verhängnisvolle Situation der Menschheit in der vorgesetzlichen Zeit bringt Paulus die Universalität der Sündenverfallenheit und des Todesschicksals aller Menschen zur Darstellung.

457 ἐφ᾿ ᾧ ist als eine kausale Konjunktion zu verstehen, die mit „aus welchem Grund“ oder „weil“ wiedergegeben werden kann (vgl. 2Kor 5,4; Phil 3,12). 458 Wolter, Römer I, 345. Paulus bespricht schon in Röm 3,23 den Sachverhalt, dass alle Menschen gesündigt haben und aufgrund dieses eigenen Sündigens der Herrlichkeit Gottes entbehren. Dort sind die Sündentat und ihre Folge aber ohne Bezug auf die Übertretung Adams geschildert. 459 In diesem Sinne auch Wilckens, Römer I, 317f; Käsemann, Römer, 142f; Haacker, Römer, 144; Lohse, Römer, 176f; Wolter, Römer I, 346ff u. a. 460 Lohse, Römer, 176. 461 Das Verb ἐλλογεῖν bedeutet „auf die Rechnung setzen“, „in Rechnung stellen“. Das Verb kommt außer in Röm 5,13 und Phlm 18 in den biblischen Schriften nicht vor und ist auch in der jüdischen und nichtjüdischen Literatur nicht belegt (vgl. Wolter, Römer I, 346f). Häufig findet es sich aber in den Papyri und Inschriften und wird im Sinne von „in Rechnung stellen“ bzw. „anrechnen“ gebraucht. Zu den Belegen des Verbs in Papyri und Inschriften vgl. Wolter, Römer I, 346f.

Die Gnade Gottes, die die Sünde und den Tod überwindet: Röm 5,12-21

2.

Die vergleichenden Aussagen über die Übertretung Adams und die Rettungstat Christi (5,15-19)

2.1

Die Argumentationsweise und die sprachlichen Merkmale des Abschnitts

Nach dem Hinweis auf das Todesverhängnis aller Menschen erläutert Paulus in V 15ff die heilvolle Wirkung des Christusgeschehens, die die Todeswirkung der Tat Adams überbietet und den Menschen Gerechtigkeit und Leben zuteilwerden lässt. Den herausragenden Charakter dieses Geschehens stellt er vor allem durch den fünfmaligen Vergleich mit dem Adamsgeschehen (V 15-19) heraus. Zu Beginn dieser Ausführung bezeichnet Paulus Adam als „ein Gegenbild Christi (τύπος τοῦ μέλλοντος)“. Die typologischen Vergleiche zwischen Adam und Christus beruhen gerade auf dieser Einsicht, dass Adam im Hinblick auf die Heilsgeschichte der Christus gegenüberstehende Typus ist. Bei den Vergleichen wird ferner ein gemeinsames Motiv erkennbar, durch das Adam und Christus miteinander verbunden werden: Durch die Tat eines einzelnen Menschen wird das Geschick vieler anderer Menschen bestimmt.462 Zugleich tritt bei jedem Vergleich aber die große Differenz zwischen beiden zutage, indem aufgezeigt wird, was Adam und Christus getan haben und was daraus für die Menschheit folgte. Stilistisch ist auffällig, dass die „Adamsseite“ und die „Christusseite“ strukturell parallel gestaltet sind. Doch entsprechen sich dabei manche Vergleichsebenen beider Seiten nicht exakt. So wird in V 15-16 dem παράπτωμα Adams das χάρισμα bzw. δώρημα gegenübergestellt, mit dem das durch das Christusgeschehen bewirkte Heilsgeschick des Menschen bezeichnet wird. In V 17 ist in Gegenüberstellung zur Herrschaft des Todes von der Herrschaft der Christen die Rede. Eine genaue strukturelle und begriffliche Entsprechung liegt nur in V 18f vor, wo sich die Taten Adams und Christi und ihre unterschiedlichen Wirkungen antithetisch gegenüberstehen. Bezüglich des Sprachgebrauchs ist es kennzeichnend, dass Paulus mehrfach auf -μα endende Nomina verwendet: für die Adamsseite παράπτωμα (V 15.16.17), κρίμα (V 16) und κατάκριμα (V 16) und für die Christusseite χάρισμα (V 15.16), δώρημα (V 16) und δικαίωμα (V 16.18). Mit Hilfe dieser Begriffe beschreibt Paulus die mit Adam beginnende Unheilsgeschichte und das sie überwindende Heilsgeschehen durch Christus.

462 Dies betonen auch viele Exegeten, vgl. Wilckens, Römer I, 323ff; Lohse, Römer, 180ff; Wolter, Römer I, 349.

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322

Die Gerechtigkeitsaussagen im Römerbrief

2.2

Die durch Adam erfolgte Verurteilung und die durch Christus zuteilwerdende Gerechtigkeit (V 15-17)

Am Beginn der Vergleiche zwischen dem Adams- und dem Christusgeschehen stellt Paulus mit der Formulierung οὐχ ὡς … οὕτως καί heraus, dass zwischen beiden eine große Differenz besteht. τὸ παράπτωμα bezieht sich eindeutig auf die Verfehlung Adams (vgl. den Ausdruck παράβασις Ἀδάμ in V 14). Der Verfehlung Adams steht hier jedoch nicht die Tat Christi, sondern die Gnadengabe (τὸ χάρισμα) Gottes gegenüber, welche aufgrund der Heilstat Christi (d. h. dessen Tod) den Menschen zuteilwird. So stellt Paulus schon am Beginn der Vergleichsrede den herausragenden Charakter des Heilshandelns Gottes heraus. Worin der entscheidende Unterschied zwischen den beiden Seiten konkret liegt, wird im nachfolgenden εἰ … πολλῷ μᾶλλον Satz erklärt: Während es durch den Fehltritt „des Einen“ (Adam) zum Tod „der Vielen“ gekommen ist, ist die Gnade Gottes und das Geschenk, das in der Gnade „des einen Menschen Jesus Christus“ seinen Grund hat, „den Vielen“ reichlich widerfahren. Was für ein Geschenk durch Christus gegeben worden ist, wird hier noch nicht ausdrücklich gesagt, durch die Begriffe δικαίωμα und δικαιοσύνη wird es aber in den folgenden Versen 16-17 eindeutig bestimmt. Die Ausdrucksebene von V 15-17 macht deutlich, dass Paulus hier den Gedankengang ausführt, der schon in 3,23-24 angeführt worden ist. Wie bereits dort beschreibt er in V 15-17 das Heilsgeschehen Gottes, welches durch Jesus Christus verwirklicht worden ist, mit den Begriffen χάρις und δωρεά. Das Heil, das den Menschen aufgrund der Gnade Gottes als Geschenk gewährt wird, wird wie in 3,24 mit den δικαι-Termini (δικαίωμα, δικαιοσύνη) beschrieben. Ein kleiner Unterschied besteht nur darin, dass hier statt des Verbs δικαιοῦν die Substantive δικαίωμα und δικαιοσύνη verwendet werden. Diese Änderung führt jedoch zu keinem tiefgreifenden Unterschied, denn die beiden Substantive und das Passiv δικαιούμενοι in 3,24 beziehen sich gleichermaßen auf dasselbe Geschehen, dass nämlich die sündigen Menschen durch den Tod Jesu Christi gerecht geworden sind. Der an δωρεά angeschlossene Präpositionalausdruck ἐν χάριτι τῇ τοῦ ἑνὸς ἀνθρώπου Ἰησοῦ Χριστοῦ verdeutlicht, wem die sündigen Menschen ihr Heil zu verdanken haben. Gott ist derjenige, der den an Christus Glaubenden ihr Heil schenkt; doch Christus Jesus ist es, der durch sein Sterben den Weg zu diesem Heilsgeschehen eröffnet hat. In V 16a bringt Paulus den herausragenden Charakter des durch Christus bewirkten Heilsgeschehens im Vergleich zum durch Adam verursachten Geschehen mit der Formel οὐχ ὡς … οὕτως καί nochmals zum Ausdruck. Das Geschenk (τὸ δώρημα), welches durch das Christusgeschehen den Menschen zuteilwird, ist mit dem, was Adam über die Menschheit gebracht hat (δι᾿ ἑνὸς ἁμαρτήσαντος), nicht vergleichbar. Der zweite Satz in V 16b ist demgegenüber aufgrund seiner elliptischen Form und der verschobenen Gegenüberstellung von ἐξ ἑνὸς und ἐκ πολλῶν

Die Gnade Gottes, die die Sünde und den Tod überwindet: Röm 5,12-21

παραπτωμάτων nur schwer zu interpretieren. Klar ist, dass κατάκριμα sich auf die

durch Adam herbeigeführte Unheilsfolge bezieht und δικαίωμα die durch Christus vielen Menschen zukommende Gerechtmachung bezeichnet. So kann der Aussagegehalt von V 16b folgendermaßen paraphrasiert werden: Durch den Sündenfall Adams sind viele Menschen der Verurteilung (κατάκριμα) ausgesetzt. Das Christusgeschehen bringt demgegenüber den Vielen, die aufgrund ihrer Übertretungen der Verurteilung verfallen waren, die Gnadengabe Gottes, die Gerechtigkeit bzw. Rechtfertigung (δικαίωμα). V 17 veranschaulicht den in V 15-16 beschriebenen Unterschied zwischen dem Adamsgeschehen und dem Christusgeschehen weiter. Dabei nimmt Paulus die Formulierung εἰ … πολλῷ μᾶλλον und den Terminus χάρις von V 15 wieder auf, führt aber einen neuen Aspekt mit der Gegenüberstellung von θάνατος und ζωή ein: „Wenn infolge der Übertretung des Einen (Adams) der Tod zur Herrschaft gelangte, um wie viel mehr (πολλῷ μᾶλλον)463 werden diejenigen, die die Gnade und die Gabe der Gerechtigkeit in überfließender Fülle empfangen (οἱ τὴν περισσείαν τῆς χάριτος καὶ τῆς δωρεᾶς τῆς δικαιοσύνης λαμβάνοντες), zum Leben gelangen.“ Durch diese Weiterführung in V 17 wird die Unvergleichlichkeit zwischen dem Adamsgeschehen und dem Christusgeschehen noch zugespitzter zum Ausdruck gebracht. Wie im Vergleich von V 15 passen die beiden Seiten des Vergleichs in V 17 syntaktisch und semantisch nicht zueinander; dabei ist insbesondere die Asymmetrie zwischen der Herrschaft des Todes und der Herrschaft der die Gnade und Gerechtigkeit erlangenden Menschen deutlich zu erkennen. Das entscheidende Argument, auf das Paulus mit diesem Vergleich zielt, lässt sich aber trotzdem leicht erkennen: Das Heilshandeln Gottes durch Jesus Christus übertrifft das Verhängnis des Todes, das durch die Sünde Adams auf alle Menschen übergetreten ist, bei Weitem.464

463 So Wolter, Römer I, 340. 464 Bei den Vergleichen zwischen dem Adamsgeschehen und dem Christusgeschehen geht es nicht lediglich um die Aufhebung der Herrschaft des Todes, sondern Paulus stellt durch die Vergleiche der beiden Seiten die überlegende Kraft des Heilshandelns Gottes heraus. Diesem Heilshandeln Gottes liegt das Christusgeschehen zugrunde, das den Glaubenden Gerechtigkeit und Leben als Gottes Gnadengabe widerfahren lässt. Das Heilsgeschehen durch Christus ist somit mit dem Adamsgeschehen schon von dessen inhaltlichen Implikationen her nicht vergleichbar (so auch viele vgl. Wilckens, Römer, 324ff; Haacker, Römer, 146ff; Lohse, Römer, 180ff; Wolter, Römer I, 352ff).

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Die Gerechtigkeitsaussagen im Römerbrief

2.3

Zur Bedeutung von δικαίωμα in V 16 und δικαιοσύνη in V 17

Es ist nun näher zu untersuchen, was δικαίωμα in V 16 und δικαιοσύνη in V 17 im vorliegenden Kontext bedeuten. δικαίωμα ist ein nomen actionis465 , das vom Verb δικαιοῦν abgeleitet ist. Die vielfältige Wiedergabe dieses Terminus in deutschen Übersetzungen paganer Texte sowie die in den Lexika aufgeführte lange Reihe an Bedeutungsvorschlägen weisen auf das breite Spektrum seiner Verwendungsmöglichkeiten in verschiedenen Kontexten hin. So kann er eine Strafe, eine Satzung, eine Rechtsordnung, einen Rechtsanspruch oder ein Urteil bezeichnen.466 Allerdings ergibt sich aus diesen unterschiedlichen Bedeutungen die Frage, wie sich die Wortsemantik von δικαίωμα bestimmen lässt. Für eine Antwort auf diese Frage muss meines Erachtens die Erklärung des Terminus bei Aristoteles beachtet werden. In EN. 5,1135a 8-13 beschreibt Aristoteles das semantische Profil von δικαίωμα im Vergleich zum Substantiv δικαιοπράγημα und kommt zu einer eindeutigen semantischen Differenzierung zwischen δικαίωμα und δικαιοπράγημα, indem er unterschiedliche Bedeutungsbereiche für beide Begriffe aufzeigt. Demzufolge meint δικαίωμα „die Korrektur“ bzw. „die Wiedergutmachung der ungerechten Handlung (τὸ ἐπανόρθωμα τοῦ ἀδικήματος)“, während mit δικαιοπράγημα einfach „eine gerechte Handlung“ bezeichnet wird. Mit Blick auf die Semantik des Verbs δικαιοῦν, „wieder zum gerechten Zustand machen“ bzw. „wieder in den gerechten Zustand versetzen“, welche sich bei der Begriffsuntersuchung in Teil II.A.2 ergeben hat, ist die Differenzierung bei Aristoteles gut nachvollziehbar. Auch die oben aufgeführten Verwendungsweisen von δικαίωμα in den verschiedenen Kontexten lassen sich von dieser Bedeutung herleiten. Der Begriff δικαίωμα bezieht sich demnach auf Gegenstände oder Handlungen, welche Gerechtigkeit wiederherstellen oder wieder zur Gerechtigkeit führen. Die auf diese Weise am häufigsten bezeichneten Gegenstände bzw. Handlungen sind, wie oben gezeigt, „Strafe“, „Satzung“ bzw. „Ordnung“ und „Recht“. Dieser Befund zeigt sich ebenso bei der Verwendung von δικαίωμα durch Paulus. In Röm 1,32 bezeichnet der Begriff δικαίωμα eine göttliche Ordnung, nach der die Menschen, die die in V 21-31 aufgeführten Taten der Sünde und der Unge-

465 δικαίωμα wird üblicherweise als nomen rei actae verstanden, also als ein Nomen, das das Ergebnis der Handlung zum Ausdruck bringt (vgl. BDR § 109,2; Schrenk, s.v. (ThWNT); Wolter, Römer I, 353, Anm. 54 u. a.). Die Belege für δικαίωμα in paganen Texten zeigen aber, dass der Begriff nicht immer das Ergebnis des Gerechtseins, sondern in den meisten Fällen im aktivischen Sinne auf die Handlung des Gerechtmachens verweist. 466 Vgl. Schrenk, s.v. (ThWNT); Spicq, s.v.; BAA, s.v. In diesen drei Lexika wird das semantische Spektrum des Begriffs δικαίωμα auf drei Bedeutungskategorien verteilt: Strafe, Satzung, Recht bzw. Gerechtigkeit.

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rechtigkeit begehen, der Todesstrafe467 anheimfallen. Bei diesem Sprachgebrauch ist nicht von einer konkreten Satzung in der Tora die Rede, sondern der Begriff δικαίωμα verweist hier eher auf eine allgemeingültige Aussage, die den Sünde-TodZusammenhang besonders herausstellt. Diese Verwendungsweise von δικαίωμα in Bezug auf eine Rechtsordnung steht eindeutig in einer Traditionslinie mit der LXX, in der δικαίωμα sehr häufig für ‫( חק‬bzw. ‫ )חקה‬oder ‫ משפט‬eintritt.468 Unter Berücksichtigung der grundlegenden Semantik kann δικαίωμα in diesem Fall mit „Recht Schaffendes“ bzw. „Gerechtigkeit Schaffendes“ übersetzt werden. In ähnlicher Weise wird der Begriff δικαίωμα auch in Röm 2,26 zur Bezeichnung einer Ordnung oder Satzung verwendet. Ab Röm 2,17f äußert Paulus erneut Kritik gegenüber den Juden. Die Juden, die die Nichtjuden aus der Perspektive ihres Gesetzes verurteilen, übertreten die Weisungen des Gesetzes und sind damit wie Heiden zu Unbeschnittenen geworden. In V 26 wendet sich Paulus dem möglichen Fall zu, dass die Nichtjuden die gerechten Forderungen des Gesetzes (δικαιώματα τοῦ νόμου) befolgen. Mit diesem Hinweis verschärft er nochmals seine Kritik an den Juden, die sich gegenüber den Heiden hochmütig verhalten und sie nach ihren Maßstäben richten (vgl. auch 2,14). In 8,4 spricht Paulus davon, dass diejenigen die δικαίωμα τοῦ νόμου erfüllen, nach dem Geist wandeln. Die meisten Exegeten sind der Meinung, dass der Ausdruck δικαίωμα an dieser Stelle die Satzung bzw. Rechtsforderung der Tora bezeichnet.469 Wenn man die oben dargelegte Bedeutung ins Auge fasst, kann der Ausdruck δικαίωμα τοῦ νόμου als die Gerechtigkeit verstanden werden, die die Tora fordert. Das, was die Tora aufgrund des menschlichen Fleisches nicht durchzusetzen vermag, bringt Gott durch seinen Geist zustande (vgl. 8,4f). Der Begriff δικαίωμα in Röm 5,16 hat dagegen eindeutig eine andere Bedeutung als in Röm 1,32; 2,26 und 8,4. Für das Verständnis von δικαίωμα in Röm 5,16 muss zunächst die Gegenüberstellung von δικαίωμα und κατάκριμα beachtet werden, denn im Gegensatz zu der von Adam induzierten Verurteilung (κατάκριμα) bezeichnet δικαίωμα hier die Rechtfertigung, die durch das Christusgeschehen an die Glaubenden ergeht. Allerdings muss dann noch geklärt werden, ob der Begriff eher auf einen Stand des Gerechtseins der Glaubenden oder auf den Vorgang ihrer Gerechtmachung referiert. Im Hinblick auf die oben dargelegten Ausführungen des Aristoteles zu diesem Lexem ist meines Erachtens Letzterem der Vorzug zu

467 Bei der Verwendung von θανάτος handelt es sich nicht um den biologischen Tod, sondern „um den eschatischen Tod, den der in V 18 angekündigte Zorn Gottes über die Menschen als Strafe für die in V 21-31 beschriebenen Vergehen verhängen wird“. (Wolter, Römer I, 159). 468 Zu den einschlägigen Belegen, Schrenk, s.v. (ThWNT). 469 Vgl. Wilckens, Römer II, 128f; Schmithals, Römer, 265; Haacker, Römer, 188; Moo, Romans, 481ff; Lohse, Römer, 232; Landmesser, Geist, 137; Giesen, Befreiung, 204; Jewett, Romans, 485; Wolter, Römer I, 479; Stettler, Heiligung, 498, Anm. 245; Longenecker, Romans, 696 u. a.

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geben, da sie den Begriff eindeutig als eine menschliche Handlung ausweisen, die etwas Ungerechtes in Gerechtigkeit überführt.470 Darüber hinaus zeigt die weitere Verwendung von δικαίωμα in 5,18 eindeutig, dass es sich bei dieser Handlung um einen Akt des Wiedergutmachens bzw. Wiedergerechtmachens handelt, während das Substantiv δικαίωσις eher im passivischen Sinne den durch die Tat Christi ermöglichten Stand des Menschen bezeichnet (vgl. meine Auslegung von δικαίωσις in 4,25). Eine mit 5,16f vergleichbare antithetische Gegenüberstellung von Verurteilung und Rechtfertigung findet sich in 2Kor 3,9, wo Paulus seinen apostolischen Dienst mit dem Dienst des Mose vergleicht: Der von Mose erbrachte Dienst ist ein Dienst der Verurteilung (διακονία τῆς κατακρίσεως), welcher zum Tod führt, wohingegen der von Paulus erbrachte Dienst ein Dienst der Gerechtigkeit (διακονία τῆς δικαιοσύνης) ist, der zum Leben führt. So werden durch die Antithetik in 2Kor 3,9 nicht die Folgen der jeweiligen Tat Adams bzw. Christi beschrieben, sondern die Folgen, welche der jeweilige Dienst von Mose und Paulus bewirkt hat. Trotz dieser inhaltlichen Differenz wird aber deutlich, dass Paulus in beiden Texten denselben Gedanken zum Ausdruck bringen will, nach welchem das Gesetz die Menschen zur Verurteilung führt, wohingegen durch Christus Rechtfertigung und Heil an ihnen geschieht. Insgesamt wird auf diese Weise deutlich, dass Paulus in Röm 5,13-14 und 5,20 das Gesetz im Zusammenhang mit der Herrschaft der Sünde thematisiert und die Überbietung der letztlich auf dem Gesetz basierenden Herrschaft der Sünde als Kerninhalt des göttlichen Heilsgeschehens darstellt. Die semantische Bedeutung von δικαιοσύνη in V 17 erschließt sich leichter als die von δικαίωμα in V 16. Das Substantiv δικαιοσύνη bezeichnet hier die Gerechtigkeit, die die an Christus Glaubenden von Gott erlangt haben. Die Parallelität mit δικαίωμα (V 16c), δικαίωσις (V 18b) und δίκαιοι (V 19b) und die Gegenüberstellung zu κατάκριμα (16b, 18a) und ἁμαρτωλοί (V 19) gibt dem Begriff hier sein semantisches Profil. So steht δικαιοσύνη in V 17b eindeutig als Korrelat zu δικαίωμα und δικαίωσις, die sich wiederum im Gegenüber zu der vom Adamsgeschehen hergeleiteten Verurteilung (κατάκριμα) auf die durch das Christusgeschehen bewirkte Rechtfertigung der Glaubenden beziehen. Von daher kann δικαιοσύνη metonymisch als das rechtfertigende Urteil Gottes aufgefasst werden. Womöglich ist aber auch sie angesichts der semantischen Korrelation mit δίκαιοι in V 19b referenzsemantisch ein Stück weit als der Stand des Gerechtseins zu verstehen, der den Glaubenden durch das rechtfertigende Urteil Gottes zuteilgeworden ist.471

470 Damit gegen die meisten Exegeten, die δικαίωμα in 5,16 als Ergebnis der Handlung verstehen (vgl. Schrenk, s.v. (ThWNT); Spicq, s.v.; NIDTE, s.v.). 471 δικαιοσύνη kann in V 17 nicht wie von Schlier, Römer, 172 auf die Eigenschaft Gottes bezogen als „die in Jesus Christus vollzogene und offenbar gewordene Gerechtigkeit Gottes“ verstanden werden.

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Paulus charakterisiert mit der Formel δωρεὰ τῆς δικαιοσύνης die Gerechtigkeit, die die Glaubenden von Gott erlangt haben, als Geschenk. Wie die Kombination von χάρις und δωρεὰ τῆς δικαιοσύνης zeigt, geht dieses Geschenk der Gerechtigkeit mit der Gnade Gottes einher und rührt auch von ihr her. Die Gerechtigkeit, die den Glaubenden als Geschenk zuteilgeworden ist, ist also nichts anderes als Gottes Gnadengabe (vgl. χάρισμα in V 15.16). An dieser Charakterisierung der δικαιοσύνη mit δωρεά und χάρις ist auch erkennbar, dass Paulus hier den in 3,24 anzutreffenden Gedankengang noch einmal wiederholt. In welchem Sinne die Gerechtigkeit, der Status des Gerecht-Seins, ein göttliches Geschenk ist, erläutert er dabei nicht explizit. Hinsichtlich des vorliegenden Kontextes kann dies aber leicht erklärt werden. Die Gerechtigkeit ist denjenigen, die Sünde begangen haben und somit eigentlich keine entsprechende Gegenleistung vorweisen können, aufgrund der Gnade Gottes verliehen worden. Deswegen ist die Gerechtigkeit der Glaubenden kein Lohn, welcher nach Schuldigkeit angerechnet wird (4,4), sondern ein Geschenk von Gott. Aufmerksam zu machen ist an dieser Stelle noch auf die Verknüpfung von δικαιοσύνη und ζωή. Die Vorstellung in V 17b, dass diejenigen, die Gerechtigkeit empfangen haben, im Leben herrschen, bezieht sich offenkundig auf das künftige Auferstehungsgeschehen der Glaubenden.472 Der Tod ist als Unheilsfolge der Sünde Adams über die Menschen gekommen und herrscht auch gegenwärtig noch über sie. Bei der Parusie Jesu wird diese Herrschaft des Todes aber endgültig enden und an ihrer Stelle die Herrschaft des auferstandenen Jesus Christus beginnen (vgl. 1Kor 15,25). Dabei werden die gerechtfertigten Glaubenden in einem neuen geistlichen Leib von himmlischer Gestalt auferstehen und an der Herrschaft Christi im ewigen Leben teilhaben (vgl. 1Kor 15,35-49), wenn Christus alle Mächte und Feinde bis hin zum letzten Feind, dem Tod, zunichte macht (vgl. 1Kor 15,2326.50-56).473 Die Zusagen vom ewigen Leben als der Heilsfolge der Glaubenden in Röm 5,18b und 5,20b spielen auch gerade auf diese Zukunft des endzeitlichen Lebens an, welche mit der Parusie und der Herrschaft Jesu Christi anbrechen wird. Diese Zusage der Auferstehung und des ewigen Lebens im Eschaton setzt allerdings stets den Zustand des Gerechtseins bzw. das durch den Lebenswandel in Gerechtigkeit bewirkte Verbleiben in diesem Zustand voraus (vgl. 6,5-11.15-23; 8,10-11; 1Kor 15,12ff).474

472 Vgl. Schlier, Römer, 172. 473 Wolter verweist zu Recht auf den gedanklichen Zusammenhang von Röm 5,17b mit 1Kor 15,26 (vgl. Römer I, 354). Eine besondere Nähe zwischen Röm 5,17.21 und 1Kor 15,21-22 besteht auch darin, dass Paulus in beiden Texten Adam und Christus jeweils als den den Tod Bringenden und den das Leben Bringenden gegenüberstellt. 474 Traditionsgeschichtlich geht der Gedankengang, dass die gerechtfertigten Glaubenden am ewigen Leben teilhaben, auf die alttestamentlich-frühjüdische Vorstellung zurück, dass das Fleisch des

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2.4

Die Übertretung Adams und die Gerechtmachung Christi (V 18-19)

V 18-19 fassen das in den voranstehenden Versen 15-17 vorgebrachte Argument nochmals zusammen: Das Todesverhängnis, welches durch die Sünde Adams über die gesamte Menschheit gebracht wurde, ist durch das Christusgeschehen überboten worden, indem es den Glaubenden, die aufgrund ihrer Übertretungen dem Todesverhängnis eigentlich nicht entkommen können, zur Grundlage für ihre Rechtfertigung und das daraus folgende ewige Leben wird. In den weiteren Aussagen über den Vergleich zwischen Adam und Christus in V 18-19 werden die Elemente der vorangegangenen Ausführungen wie etwa das Motiv der Tat eines Menschen und deren universale Wirkung auf die Menschheit sowie die Gegenüberstellung von παραπτώμα bzw. κατάκριμα und δικαιώμα bzw. δικαίωσις wieder aufgenommen. Auf argumentativer Ebene sind die Aussagen des Vergleichs in V 1819 jedoch keine reine Wiederholung oder Zusammenfassung des Vorangegangenen. Vielmehr verhelfen sie zu einem besseren Verständnis der vorangegangenen Argumente, indem sie den Vergleich noch präzisieren.475 Im Hinblick auf die syntaktische Struktur sind die beiden Aussagen in V 18-19 jeweils in einem strengen parallel. membr. gestaltet; die semantische und syntaktische Entsprechung der Vergleichsätze in V 18-19 zwischen der Adamsseite und der Christusseite sind im Gegensatz zu den vorangegangenen Vergleichsaussagen sehr präzise. So stellt Paulus der Wendung δι᾿ ἑνὸς παραπτώματος die Wendung δι᾿ ἑνὸς δικαιώματος und der Unheilsfolge κατάκριμα die Heilsfolge δικαίωσις ζωῆς gegenüber; in V 19 stellt er den Wendungen διὰ τῆς παρακοῆς τοῦ ἑνὸς ἀνθρώπου und διὰ τῆς ὑπακοῆς τοῦ ἑνός als Konsequenz die jeweilige Folge mit den Wendungen ἁμαρτωλοὶ κατεστάθησαν οἱ πολλοί und δίκαιοι κατασταθήσονται οἱ πολλοί gegenüber. Einzig der Genitiv ζωῆς in V 18b bricht aus dieser parallelen Struktur aus. Mit Blick auf den Kontext ist zu κατάκριμα wohl θανάτου zu ergänzen, wodurch die Gegenüberstellung von Verurteilung und Tod einerseits sowie Gerechtigkeit und Leben andererseits hergestellt wird. Der Terminus δικαίωμα in V 18b bezieht sich im Gegenüber zur Übertretung (παράπτωμα) Adams auf die Tat Christi. Das antithetische Verhältnis von δικαίωμα in 18b zu παράπτωμα macht deutlich, dass mit δικαίωμα hier die Heilstat mit Bezug auf den Tod Christi ausgesagt wird und nicht wie in V 16b mit dem κατάκριμα gegenüberstehenden δικαίωμα dessen Wirkung an den Glaubenden.476 Paulus bringt den Tod Christi vorher bereits mit dem Terminus χάρις (V 15) und danach mit dem Frommen bzw. Gerechten nicht verderben wird (vgl. Ps 16). Vor diesem Hintergrund können auch die Aussagen über die Auferstehung Jesu verstanden werden. 475 Vgl. Theobald, Gnade, 108ff. 476 So auch viele, vgl. nur Schlier, Römer, 173; Wilckens, Römer II, 326; Dunn, Romans I, 283; Haacker, Römer, 147; Wolter, Römer I, 356.

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Terminus ὑπακοή (V 19) zum Ausdruck; in V 18 verwendet er hierfür den Begriff δικαίωμα. Die meisten Exegeten übersetzen δικαίωμα in diesem Zusammenhang mit „Rechtstat“ oder „gerechte Tat“.477 Die Semantik des griechischen Terminus wird damit aber nur unzureichend wiedergegeben, denn die Semantik des Verbs δικαιοῦν wird dabei nicht hinlänglich beachtet. Wie Aristoteles in EN. 5,1135a 8-13 expressis verbis erklärt, unterscheidet sich die Semantik des Begriffs δικαίωμα von derjenigen des Begriffs δικαιοπράγημα (zum Text s. o.). Wenn Paulus den Tod Christi mit δικαίωμα bezeichnet, bringt er damit die Wirkung des Todes Christi zum Ausdruck, nämlich die Wiederherstellung des Status der Gerechtigkeit für den sündigen Menschen.478 Diese Gerechtigkeit als Heilsfolge, die durch den Tod Christi herbeigeführt wird, wird in V 18b mit δικαίωσις bezeichnet. Bezüglich des traditionsgeschichtlichen Hintergrundes ist zu überlegen, ob die Vorstellung, dass der Tod Christi vielen bzw. allen Menschen Gerechtigkeit verschafft, an das vierte Gottesknechtslied aus Jes 53 anknüpft. Anders als im griechischen Text wird im masoretischen Text dieser Stelle ausgesagt, dass der unschuldige Gottesknecht die Sünder gerecht macht, indem er die Verfehlungen der anderen auf sich lädt und für ihre Rettung stirbt (V 10-11). Interessant ist dabei vor allem, dass Paulus dem Tod Christi mit dem Begriff δικαίωμα die Bedeutung eines Gerechtigkeit verschaffenden Todes zuschreibt und dessen Folge an den sündigen Menschen mit dem Begriff δικαίωσις zum Ausdruck bringt (vgl. 4,25).479 Auch die Verwendung des Begriffs ὑπακοή in V 19 im Zusammenhang mit dem Tod Christi spielt auf Jes 53 an, wo der Tod des Gottesknechts als die Erfüllung des Willens Gottes verstanden wird (vgl. Jes 53,10).480 Hinsichtlich der Gemeinsamkeiten beider Texte ist auch festzuhalten, dass mit den Begriffen „alle“ und „viele“ eine universale Reichweite der Wirkung des Todes zum Ausdruck gebracht wird.481 Für 477 Vgl. Kuss, Römer, 238; Käsemann, Römer, 130; Cranfield, Romans I, 289; Schlier, Römer, 173; Brandenburger, Adam, 233; Theobald, Gnade, 109; Lohse, Römer, 182; Dunn, Romans I, 296f; Fitzmyer, Romans, 420; Bird, Saving Righteousness, 78; Wolter, Römer I, 341 u. a. 478 In diesem Sinne auch Wilckens, Römer I, 326; Käsemann, Römer, 131; Haacker, Römer, 147. 479 In 4,25, wo die mit διὰ τὰς ἁμαρτίας αὐτῶν παρεδόθη in JesLXX 53,12 nahezu identische Formulierung παρεδόθη διὰ τὰ παραπτώματα ἡμῶν vorkommt, steht der Begriff δικαίωσις in Verbindung mit der Auferweckung Christi. Die in V 25b vorliegende Vorstellung, dass Jesus auferweckt wurde und dieses Geschehen die Gerechtmachung der Glaubenden zur Folge hat, kann ebenfalls als eine Anspielung auf Jes 53LXX angesehen werden (vgl. JesLXX 53,10.12). 480 So auch Söding, Sühne, 387. Zu verweisen ist in diesem Kontext auf Phil 2,6f, wo Paulus davon spricht, dass Christus auf seinen göttlichen Status verzichtet und sich erniedrigt hat, als Knecht in die Welt gekommen ist und im Gehorsam dem Willen Gottes gegenüber gestorben ist. Was das Motiv anbelangt, dass nämlich der Tod Christi nach dem Willen Gottes geschehen ist und Christus sich wegen der Sünde der anderen hingegeben hat, ist ferner Gal 1,4 zu beachten. 481 So auch Breytenbach, Versöhnung, 210; Fitzmyer, Romans, 421; Bird, Saving Righteousness, 80; Eschner, Gestorben, 350f. Neben Röm 5,18f findet sich auch in 2Kor 5,21 die Vorstellung, dass aufgrund des Todes Jesu die Sünder in den Status der Gerechtigkeit versetzt werden. Darüber

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Paulus ist der Tod Jesu der Heilstod, der sich nach dem Heilsplan Gottes für die Rettung der Sünder ereignet hat. Aufgrund dieses gerecht machenden Todes Jesu werden die Menschen, die auf ihn vertrauen, nicht mehr als Sünder verurteilt und im Gericht zugrundegehen, sondern am ewigen Leben teilhaben. Auch der Terminus δικαίωσις ist wie δικαίωμα ein vom Verb δικαιοῦν abgeleitetes und mit diesem in semantischer Verbindung stehendes Substantiv. An den belegten Stellen in der Profangräzität, der LXX und den frühjüdischen Texten lässt sich nicht leicht erkennen, ob sich δικαίωσις eher auf einen Handlungsvorgang oder das Handlungsergebnis bezieht.482 Wenn Paulus in Röm 5,18b den Tod Christi aber mit δικαίωμα als gerecht machende Tat bezeichnet und diesen Terminus als Gegenbegriff zu παράπτωμα verwendet, so liegt es nahe, dass δικαίωσις in 5,18b im passivischen Sinne die Folge des Heilshandelns Gottes, und zwar das Gerecht-Werden bzw. Gerecht-gemacht-Werden der Menschen beschreibt. Der Begriff bezeichnet also den Vorgang, in dem diejenigen, die früher Sünder waren, jetzt aber ihr Vertrauen auf Christus setzen, wieder in den Status der Gerechtigkeit versetzt werden. Paulus hat den Terminus δικαίωσις schon in 4,25 mit dieser Bedeutung verwendet, wo er den Tod und die Auferstehung Christi als die Grundlage für das Heilsgeschehen der Glaubenden erläutert hat. Während δικαίωσις in 4,25b im unmittelbaren Zusammenhang mit der Auferweckung Christi angeführt ist, beschreibt es in 5,18 die Folge, welche der Tod Christi für die Glaubenden bewirkt. Dabei ist jedoch die Verknüpfung von δικαίωσις und ζωή483 unbedingt zu beachten, welche ausdrücklich auf den in 4,25b beschriebenen engen Zusammenhang zwischen dem Gerechtsein der Glaubenden und deren Teilhabe am Auferstehungsleben Christi anspielt. Der Tatbestand, dass Jesus Christus von den Toten auferweckt worden ist, ist für Paulus zweifellos der Ermöglichungsgrund dafür, dass die Glaubenden auch am Auferstehungsleben teilhaben werden. Für diese Teilhabe am ewigen Leben ist bei Paulus stets der Status der Gerechtigkeit vorausgesetzt, welcher dem Glaubenden aufgrund der Gnade Gottes verliehen wird.484 In V 19 wird die Unvergleichlichkeit zwischen der Tat Adams und der Tat Christi zum letzten Mal zur Sprache gebracht. Dies ist die einzige (antithetische) Vergleichs-

hinaus kann die Aussage des Paulus in 2Kor 5,16, dass er Jesus Christus nicht mehr nach dem Fleisch beurteilt, als eine Anspielung auf die Beschreibung des Aussehens des Gottesknechts in Jes 53,2-3 verstanden werden. 482 Auch bei anderen Begriffspaaren mit den Endungen -μα und -σις in der Gräzität kann dieser Sachverhalt festgestellt werden (vgl. Debrunner, Wortbildungslehre, 156f). 483 ζωῆς ist nicht „als gen. epexegeticus., sondern als Genitiv des Ziels zu deuten“. (Theobald, Gnade, 110). Rechtfertigung erschließt das Leben oder hat es zur Folge. 484 Zum Zusammenhang von Gerechtigkeit und dem Zuspruch des Lebens vgl. oben die Exegese zu V 17.

Die Gnade Gottes, die die Sünde und den Tod überwindet: Röm 5,12-21

aussage des Abschnitts, die streng im parallel. membr., ohne jegliche Verschiebung der Satzstruktur formuliert ist. So stehen sich die Wendungen παρακοή τοῦ ἑνὸς ἀνθρώπου auf der Seite Adams und ὑπακοή τοῦ ἑνός auf der Seite Christi einerseits und als Angabe der jeweiligen Folge die Wendungen ἁμαρτωλοὶ κατεστάθησαν οἱ πολλοί und δίκαιοι κατασταθήσονται οἱ πολλοί gegenüber. Der zur Beschreibung der Tat Adams verwendete Begriff παρακοή korrespondiert mit dem im Voranstehenden mit παράπτωμα bezeichneten Vorgang. Wenn Paulus jetzt in Bezug auf die Übertretung Adams von παρακοή spricht, beschreibt er Adams Übertretung in Hinsicht auf die Weisung Gottes (Gen 2,17).485 Demgegenüber spricht Paulus auf Seiten Christi von ὑπακοή, mit dem er Gottes Willen erfüllt hat. Mit ὑπακοή ist hier zweifellos der Tod Christi gemeint, der unmittelbar davor in V 18b mit dem Begriff δικαίωμα zur Sprache gekommen ist. Sinngemäß findet sich diese Verwendungsweise von ὑπακοή auch in Phil 2,8, wo Paulus den Tod Christi als das Geschehen des Gehorsams, mit welchem er sich dem Willen Gottes unterwarf, entfaltet. Wie bei der Wendung χάρις τοῦ θεοῦ in V 15 kommt somit durch den Ausdruck ὑπακοή noch einmal zur Sprache, dass sich das Gerecht-Werden bzw. das Gerecht-gemacht-Werden (καθιστάναι δίκαιος)486 der Glaubenden ursprünglich der Heilsinitiative Gottes verdankt. Demnach ist es Christus, der durch seinen Kreuzestod in unmittelbarer Weise die Grundlage für die Rechtfertigung der Glaubenden geschaffen hat, doch hat Gott dies alles vorherbestimmt und Wirklichkeit werden lassen. Im Hinblick auf die Verwendungsweise der δικαι-Termini bei Paulus ist besonders die Verwendung von δίκαιοι in V 19 zu beachten. Lediglich an dieser Stelle verwendet Paulus in seinen Briefen das Adjektiv δίκαιος in Bezug auf die Christusgläubigen. Schon in Röm 2,13 hatte er von Gerechten gesprochen, hat den Begriff dort aber ausschließlich als Bezeichnung für diejenigen verwendet, die die Satzungen der Tora befolgen und aus diesem Grund als Gerechte zu bezeichnen sind. Dabei kommt es Paulus nicht darauf an, eine Art Rechtfertigungslehre zu entwerfen, die den Weg aufzeigt, auf dem ein Mensch aufgrund des Gesetzeswerkes gerecht werden kann. Vielmehr verweist er auf diese Weise auf einen Grundsatz, der bei Juden unbedingte Zustimmung findet, um damit die Juden, welche die Tora nur lehren, aber in ihrem eigenen Handeln nicht beachten, zur Rechenschaft zu ziehen (vgl. 2,17-29). Wie bereits anhand von 3,19f festgestellt, ist Paulus davon überzeugt, dass es keinen Gerechten gibt, der durch die Erfüllung der Gesetzesforderungen Gerechtigkeit erlangen könnte, weshalb alle Menschen dem Gericht Gottes verfallen sind. Warum dies so ist, erläutert Paulus in 7,7-23 ausführlich. Das 485 Vgl. Lohse, Römer, 182; Wolter, Römer I, 357. 486 Der Ausdruck δίκαιοι κατασταθήσονται korrespondiert mit δικαιούμενοι in 3,24 und δικαιωθέντες in 5,1. Es handelt sich dabei nicht um ein passivum divinum (anders Wolter, Römer I, 357). Grammatikalisch ist das logische Subjekt nicht Gott, sondern die Heilstat Christi.

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Die Gerechtigkeitsaussagen im Römerbrief

Gerechtwerden bzw. das Vor-Gott-als-gerecht-Dastehen kommt allein im Glauben an Christus Jesus zustande, der durch den Tod den der Sünde verfallenen Menschen den Weg zu diesem Status eröffnet hat (vgl. 3,25; 5,9-10; 8,3-4; vgl. auch 2Kor 5,21). Dieser durch Christus eröffnete Heilsweg ist offen für alle und hat universale Gültigkeit, wie die Wendung οἱ πολλοί zeigt.487 Die Sündentat des ersten Menschen Adam hat dazu geführt, dass die Vielen als Sünder verurteilt worden sind. Der Tod Christi aber birgt eine die verhängnisvolle Wirkung der Tat Adams überwindende Kraft in sich, aufgrund derer die Vielen zu Gerechten gemacht werden.488 Die Sünder werden zu Gerechten, wenn sie sich auf den Tod Jesu als solchen Heil wirkenden Tod verlassen. 3.

Die die Sünde und den Tod überbietende Wirkung der Gnade Gottes (5,20-21)

Nach der Aussagenreihe mit den Vergleichen zwischen Adam und Christus wird in V 20 wieder das Thema des Gesetzes aufgegriffen, das zuletzt in 5,13 im Zusammenhang mit dem Nachweis des Vorhandenseins der Sünde in der vorgesetzlichen Zeit erwähnt wurde. Obwohl die Sünde in der Zeit vor dem Gesetz nicht angerechnet werden konnte, war sie auch damals schon in der Welt, da die Menschen seit Adam ausnahmslos gesündigt haben (s.o). Demgegenüber beschreibt Paulus jetzt, was nach dem Eintritt des Gesetzes in die Geschichte der Menschheit geschehen ist: Die Sünde hat sich daraufhin nicht etwa vermindert, sondern vermehrt. Die Wendung πλεονάζειν τὸ παράπτωμα beschreibt hier also die verhängnisvolle Situation der Menschheit nach der Einführung des Gesetzes, in der „sich die Zahl der Verfehlungen vervielfältigt hat“489 (vgl. πολλοὶ παραπτωμάτων in V 16 und die wiederholten οἱ πολλοί-Aussagen in V 18.19). Diese paradox anmutende Situation, dass das Gesetz, welches eigentlich zu Gerechtigkeit und Leben führen sollte (vgl. Röm 7,10; Gal 3,21), die Vermehrung der Sünde zur Folge hat490 , sieht Paulus unter einer heilsgeschichtlichen Perspek-

487 πολλοί drückt nicht einfach eine große Zahl von Menschen aus, sondern zeigt die universale Wirkung des Todes Christi an. Auf argumentativer Ebene bestehen keine Differenzen zu πάντες (so auch Lohse, Römer, 182; Wolter, Römer I, 357f). 488 κατασταθήσονται ist als „ein modales Futur zu verstehen, das einen potentiellen Vorgang umschreibt, der in die Zukunft hinein offen ist“. (Wolter, Römer I, 358). Das Wort schließt auch diejenigen ein, die noch zum Glauben kommen werden. Es ist kaum möglich, δίκαιοι κατασταθήσονται in eschatologischem Sinne als Hinweis auf den Urteilsspruch zu verstehen (so aber Schlier, Römer, 175; Käsemann, Römer, 149; Lohse, Römer, 182; Bird, Saving Righteousness, 78ff). 489 Wolter, Römer I, 359 (vgl. auch Brandenburger, Adam, 250; Schlier Römer, 177). 490 Auf diese Thematik geht Paulus in 7,7f noch ausführlicher ein.

Die Gnade Gottes, die die Sünde und den Tod überwindet: Röm 5,12-21

tive.491 Wenn Paulus meint, „wo die Sünde zugenommen hat, da ist die Gnade erst recht überreich hervorgetreten“, betont er damit ausdrücklich, was Gott in dieser verhängnisvollen Situation der Menschheit getan hat: Gott überwindet die übermächtige Wirkung der Sünde durch seine Gnade. Die Beschreibung dieser Überwindung durch den Ausdruck ὑπερεπερίσσευσεν führt noch einmal den besonderen Charakter des Heilshandelns Gottes an den Menschen vor Augen. Das durch den Eintritt des Gesetzes noch gesteigerte Maß des Verhängnisses der Menschheit ist durch die Fülle der Gnade Gottes überboten worden, indem diese Gnade am vormals sündigen Menschen umso reicher und mächtiger zur Wirkung gelangt. Die überströmende Gnade Gottes bewältigt die Wirkung der Sünde, indem sie den Menschen über die verhängnisvolle Situation hinaus Gerechtigkeit und Leben schenkt (V 15-19). V 21 beschreibt zusammenfassend die Folge der machtvollen Heilswirkung der göttlichen Gnade im Gegenüber zur verhängnisvollen Wirkung der Sünde. Die Sünde hat durch den Tod (ἐν τῷ θανάτῳ)492 über die Menschheit geherrscht. Doch diese Herrschaft ist zum Ende gekommen, da die Herrschaft der Gnade Gottes, die der Menschheit Gerechtigkeit und folglich das ewige Leben schenkt, sie übersteigt. Dabei greift Paulus noch einmal auf die für ihn typische Gegenüberstellung des Zusammenhangs von Sünde und Tod einerseits sowie Gerechtigkeit und Leben andererseits zurück.493 Durch diese Antithetik tritt umso deutlicher hervor, was Gott durch seine Gnade an den der Sünde und dem Tod verfallenen Menschen getan hat. Der Begriff δικαιοσύνη in V 21b bezieht sich im vorliegenden Kontext offensichtlich auf die Gerechtigkeit der Glaubenden, die Gott ihnen als Geschenk gegeben hat (vgl. V 17).494 Er wird hier insofern nicht als ein gleichgeordneter Gegenbegriff zu ἁμαρτία in V 21a verwendet, als er anders als ἁμαρτία nicht auf eine Handlung, sondern auf den neu gewonnenen Status der Glaubenden verweist.

491 Haacker betont zu Recht, dass das Thema des Abschnitts „nicht die Heilszuneigung an den Einzelnen, sondern der Entwurf einer Geschichtstheologie zur Vertiefung und Abrundung der Zusammenfassung des Evangeliums in V 1-11“ ist. (Römer, 147) Vgl. auch Schlier, Römer, 177. 492 Der Präpositionalausdruck ἐν τῷ θανάτῳ ist instrumental aufzulösen (vgl. Schlier, Römer, 178; Wolter, Römer I, 358f). 493 Die das Unheil zum Ausdruck bringende Formulierung in V 21a und die das Heil zum Ausdruck bringende Aussage in V 21b bilden keinen reinen Parallelismus, da ἁμαρτία das Subjekt χάρις gegenübersteht und δικαιοσύνη nicht wie ἁμαρτία als Subjekt, sondern als Grundlage für die Herrschaft der Gnade angeführt wird. Schließlich wird mit εἰς ζωὴν αἰώνιον nicht wie mit der Dativkonstruktion ἐν τῷ θανάτῳ das Mittel der Herrschaft, sondern das Ziel der Gnadenherrschaft angegeben. 494 Bei der δικαιοσύνη in V 21 handelt sich es nicht um Gottes eigene Gerechtigkeit. So aber z. B. Schlier, Römer, 178: „διὰ δικαιοσύνης, durch die nun in Jesus Christus erschienene und waltende δικαιοσύνη θεοῦ, die in die Gerechtigkeit seiner Gnade einbeziehende Gerechtigkeit der Bundestreue Gottes (vgl. 3,21f; 5,17).“

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Die Gerechtigkeitsaussagen im Römerbrief

Aufgrund dieses neu gewonnenen Standes kann sich der auf Christus Vertrauende gewiss sein, dass er am ewigen Leben teilhaben wird. Auch diese Teilhabe wird wie die Rechtfertigung und die Versöhnung der Glaubenden durch Jesus Christus (διὰ Ἰησοῦ Χριστοῦ) bewirkt, der aufgrund dieser Rettungstat der Anrede κύριος würdig ist.

Christliche Existenz: Tot zwar für die Sünde, lebend aber für Gott: Röm 6,1-11

I.

Christliche Existenz: Tot zwar für die Sünde, lebend aber für Gott: Röm 6,1-11

1.

Die Feststellung des Standes der Glaubenden: der Sünde gestorben (6,1-2)

In 6,1 lässt Paulus mit der einleitenden rhetorischen Frage Τί οὖν ἐροῦμεν einen Einwand zu Wort kommen, der gegen das vorher in 5,20b Gesagte erhoben werden kann. Dabei handelt es sich um die Behauptung, dass – wenn die Gnade Gottes umso reichlicher strömt, wo die Sünde sich vermehrt – es ja gut sei, weiter zu sündigen, damit die Gnade Gottes zunehme. Mit dem emphatischen Nein (μὴ γένοιτο) weist Paulus diesen absurden Gedankengang entschieden zurück. Es sollte überhaupt nicht zur Lebensweise der Christen gehören, weiter zu sündigen, auch wenn sich die Gnade Gottes immer stärker vermehrt als die menschlichen Übertretungen. Denn die Christen sind – wie Paulus im Folgenden darlegt – zum gerechten Leben berufen und eine von der Sünde beeinflusste Lebensführung soll für jeden Glaubenden der Vergangenheit angehören. Interessant ist hierbei vor allem die gedankliche Analogie der in V 1 vorgetragenen These zu den in 3,5-8 artikulierten Unterstellungen gegen Paulus, nämlich dass er bei seiner Verkündigung der christlichen Botschaft zum Tun des Bösen auffordere. In 3,5-8 hatte Paulus sich mit den Einwänden auseinandergesetzt, welche sich gegen seine Verkündigung über die Rechtfertigung der Gottlosen durch Gott aus Gnade gewandt hatten, und bestätigt, dass seine Verkündigung und Lehre nicht auf das Befördern der Sünde bzw. Ungerechtigkeit ausgerichtet ist, sondern gerade dagegen.495 Wie dort geht Paulus in 6,1 auf den Einwand ein, welcher seine Verkündigung, der Mensch werde gerecht gemacht aufgrund des Christusglaubens, als absurd und unmoralisch zu disqualifizieren versucht.496 Einige Exegeten neh-

495 Zur ausführlichen Analyse des Argumentationsgangs von Röm 3 s. o. S. 208f dieser Arbeit. 496 In Gal 2,17 begegnet eine vergleichbare rhetorische Frage des Paulus, die ebenfalls eine gegen das paulinische Evangelium gerichtete Behauptung der Juden voraussetzt: „εἰ δὲ ζητοῦντες δικαιωθῆναι ἐν Χριστῷ εὑρέθημεν καὶ αὐτοὶ ἁμαρτωλοί, ἆρα Χριστὸς ἁμαρτίας διάκονος;“ Man kann aus dieser Frage ableiten, wie die jüdischen Kritiker damals die paulinische Verkündigung des Christusglaubens verstanden haben und was sie an ihr problematisch fanden. Sie gehen davon aus, dass die paulinische Rechtfertigungslehre, welche die Einhaltung der Tora als Möglichkeit, Gerechtigkeit zu erlangen, außer Kraft setzt und allein den Glauben an Christus Jesus als einzige Bedingung gelten lässt, dazu führt, zu sündigen. Die These, die hinter der rhetorischen Frage in V 1 steht, dass durch die zunehmende Sünde die Gnade Gottes mächtiger wird, ist im Hinblick auf deren Inhalt sicherlich keine Wiedergabe eines Einwandes der jüdischen Gegner des Paulus. Es handelt sich vielmehr um eine auf Paulus selbst zurückgehende Formulierung, welche aber ein mögliches Missverständnis der Pauluskritiker in Bezug auf seine Rechtfertigungslehre erkennen lässt.

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Die Gerechtigkeitsaussagen im Römerbrief

men an, dass es bei der rhetorischen Frage aus Röm 6,1 um einen hypothetischen Einwand gegen das paulinische Evangelium gehe, während es sich in 3,5f um die Auseinandersetzung mit tatsächlichen jüdischen Kritikern handele.497 Es ist jedoch vorstellbar, dass Paulus sich nicht nur in 3,5f, sondern auch in 6,1 gegen ihn kritisierende Juden wendet.498 Denn in beiden Texten geht es letztlich um dieselbe Unterstellung, dass Paulus zur Sünde auffordere, nicht zur Gerechtigkeit.499 Und wie in Röm 3,5f weist Paulus diesen Vorwurf auch in 6,1 scharf zurück. In 6,1ff führt Paulus darüber hinaus aus, woran sich dann jedes christliche Leben ausrichten soll. Diese Ausführung über das rechte und wahre christliche Leben beginnt mit einer Erklärung zur Auffassung des Paulus von der christlichen Existenz: Die Christen sind der Sünde gestorben (oder: für die Sünde tot: V 2). Hierbei bedeutet ἀποθνῄσκειν natürlich nicht ein leibliches Sterben des Christenmenschen im biologischen Sinne. Paulus verwendet es vielmehr metaphorisch500 und drückt damit den völligen Bruch mit der Sünde aus, der sich bei der Bekehrung zum Christusglauben in der Lebensgeschichte der Christen vollzogen hat (vgl. 6,10.11.13).501 Von diesem Standpunkt ausgehend, argumentiert Paulus, dass es für jeden Gläubigen unmöglich ist, sein Leben fortan weiter in der Sünde zu führen. 2.

Die Teilhabe der Glaubenden an Tod und Auferstehung Christi (6,3-6)

In V 3-4 erörtert Paulus das der-Sünde-Gestorbensein der Christen im Zusammenhang ihres Taufgeschehens. Die meisten Exegeten setzen voraus, dass Paulus hier seine Adressaten in Röm an das einstige Taufritual erinnert und eine Interpretation der Taufe vornimmt. Betrachtet man aber den unmittelbaren Kontext, wird deutlich, dass es im Hauptargumentationsgang nicht darum geht, zu erklären, was die Taufe bedeutet.502 Vielmehr geht der Impetus der Berufung auf den Taufvorgang

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So z. B. Lohse, Römer, 186; Wolter, Römer I, 368. Dazu vgl. Wilckens, Römer II, 8f; Schlier, Römer, 190f; Schnelle, Gerechtigkeit, 75. Vgl. Käsemann, Römer, 157; Wilckens, Römer II, 8f. ἀπεθάνομεν τῇ ἁμαρτίᾳ ist eine „non-basic“-Verwendung des ἀποθνῄσκειν (vgl. Semino, Metaphor, 11f). Es ist klar, dass „wir“ nicht wirklich tot sind, die Verbindung mit τῇ ἁμαρτίᾳ zeigt die besondere Art des „Sterbens“ an. Vgl. Breytenbach, Taufen als Metapher, 280. 501 Auch in Gal 2,19 verwendet Paulus das Verb ἀποθνῄσκειν mit dem Dativ νόμῳ im metaphorischen Sinne. Diese Sterbens-Metaphorik bezeichnet die völlige Trennung, den definitiven Bruch mit dem dativisch angeschlossenen Objekt. Zur Verwendung und Bedeutung von ἀποθνῄσκειν + Dat., ζῆν + Dat. und zu den parallelen Vorstellungen in der paganen Literatur und in jüdischen Schriften vgl. Wolter, Römer I, 369f. 502 So auch Käsemann, Römer, 155f; Dunn, Romans I, 308; ders., Baptism, 139–140; Siber, Mit Christus, 221–227; Wedderburn, Romans 6, 341–343; Theobald, Römer, 231.237; Haacker, Römer, 151; Wolter, Römer I, 370.

Christliche Existenz: Tot zwar für die Sünde, lebend aber für Gott: Röm 6,1-11

darauf zurück, den Adressaten vor Augen zu führen, was durch den Taufvorgang bei ihnen geschehen ist. Es ist die umstürzende, wesentliche Wende in der Existenz der christlichen Adressaten. Die Schilderung dieser Wende unter Berufung auf das Taufgeschehen fungiert im Rahmen des Argumentationsgangs im Abschnitt als Prämisse für die nachfolgende Paränese, nämlich Leben für Gott, Leben in der Gerechtigkeit. Paulus sagt, dass die Adressaten gleichsam in Christus Jesus hinein getauft worden sind (ὅσοι ἐβαπτίσθημεν εἰς Χριστὸν Ἰησοῦν)503 , und legt anschließend dar, was diese Taufe in Christus Jesus hinein bedeutet. Die Taufe in Christus bedeutet die Taufe in seinen Tod hinein, das Eingetaucht-Werden in seinen Tod (εἰς τὸν θάνατον αὐτοῦ ἐβαπτίσθημεν).504 Mit dieser metaphorischen Rede505 stellt Paulus also die Schicksalsgemeinschaft von Christus und den an ihn Glaubenden dar, in der die Glaubenden am Tod Christi teilhaben, mit anderen Worten, mit Christus mitsterben (vgl. V 8). Dieses Geschehen des Mitsterbens mit Christus wird bezeichnenderweise der Geschichte von Jesu Tod entsprechend mit dem Ausdruck συνθάπτειν dargestellt. Und damit wird auch die Teilhabe an dem Todesschicksal Christi bildhaft wie ein reales Todesgeschehen dargestellt (vgl. auch συνεσταυρώθη in V 6).506 Durch den Taufvorgang entsteht demzufolge eine „Ergehensgemeinschaft“507 zwischen Christus und den an ihn Glaubenden, und zwar im Tod.508 Was

503 Als Wiedergabe der Formulierung βαπτισθῆναι εἰς verwende ich „getauft werden in … hinein“, damit die lokale Bedeutung der Verbindung εἰς + Akk. erhalten bleibt. 504 Breytenbach macht aufgrund seiner Untersuchung des Sprachgebrauchs von βαπτίζειν/ βαπτισθῆναι εἴς τι/τινα in den paganen Texten darauf aufmerksam, dass diese Formulierung in Röm 6,3 ebenso eine räumliche Bedeutung hat und nicht wie üblicherweise in der Exegese im Sinne von „taufen auf jdn. bzw. auf den Namen jdns.“ aufzufassen ist (Taufen als Metapher, 266ff; auch Käsemann, Römer, 157; Ridderbos, Paulus, 288; Schnelle, Gerechtigkeit, 76; Dunn, Romans I, 311). Die dem griechischen Sprachgebrach entsprechende Übersetzung sollte „eingetaucht werden in“ lauten. Breytenbach, Taufen als Metapher, 266ff. Diese räumliche Deutung des Ausdrucks ist schon bei einigen anderen Exegeten erwähnt, vgl. Wilckens, Römer II, 11f; Dunn, Romans I, 311; Ferguson, Baptism, 156. 505 Die Redewendung „eingetaucht-werden“ mit „in eine andere Person bzw. deren Tod“ in 6,3 weicht vom üblichen Sprachgebrauch ab, es entspricht somit dem Charakter metaphorischer Rede. Vgl. Breytenbach, Taufen als Metapher, 280. 506 Das συνθάπτειν bezeichnet die Teilnahme an dem Todesschicksal der Person. Vgl. Jewett, Romans, 398; Wolter, Römer I, 373; Breytenbach, Taufen als Metapher, 277. Auch in 1Kor 15,4 spricht Paulus vom Begraben-Werden Christi in Bezug auf die Kerninhalte der Verkündigung; der Schilderung des Sterbens und der Auferweckung Christi in Röm 6,4f entspricht dieser Leitfaden der paulinischen Verkündigung. Interessant ist noch die besondere Nähe von Röm 6,4 zu Kol 2,12, wo vom MitChristus-Begraben-Werden ebenfalls mit Bezug auf das Taufgeschehen gesprochen wird. 507 Wolter, Römer I, 372. 508 Die anderen Komposita mit συν- (συνεσταυρώθη, ἀπεθάνομεν σὺν, συζήσομεν) spielen beim folgenden Argumentationsgang weiter eine wesentliche Rolle, um die analoge Verbundenheit

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Die Gerechtigkeitsaussagen im Römerbrief

Paulus mit dem metaphorischen Ausdruck vom „Mit-Christus-Begraben-Werden“ aussagen will, geht aus den folgenden Ausführungen von V 6-11 deutlich hervor: Er meint den grundsätzliche Bruch mit dem alten Leben in Sünde. Wie der Tod Jesu durch die Bestattung seines Leibes endgültig bestätigt wurde, ist der Tod für die Sünde des Glaubenden auch ein einmaliger Tod, weswegen eine Rückkehr in das alte Leben in Sünde gar nicht möglich ist. Das Mitsterben mit Christus, also die Trennung von der Sünde, ist jedoch nicht alles, was die Christen durch die Taufe in der Schicksalsgemeinschaft mit Christus in gleicher Weise erfahren. Das Anteilnehmen am Schicksal Christi wird erst dann vollendet, wenn die Christen auch an der Auferstehung (ἀναστάσις) teilhaben (V 5).509 Der Ausdruck σύμφυτος γίνεσθαι τῷ ὁμοιώματι + Genitiv dient dazu, eben diese schicksalhafte Verwandtschaft von Tod und Auferstehung Christi einerseits und Tod und Auferstehung der Glaubenden andererseits zu beschreiben.510 Paulus ist gewiss, dass diejenigen, die durch die Taufe am Tod Christi teilgenommen haben, mit Christus auch in seiner Auferstehung vereinigt sein werden. Zu beachten ist hierbei, auf welche Weise Paulus das analoge Verhältnis zwischen der Auferstehung Christi und der Auferstehung der Christen herstellt. Auf der Seite der Glaubenden spricht Paulus gewissermaßen vom „Wandeln in Neuheit des Lebens (ἐν καινότητι ζωῆς περιπατεῖν)“511 als dem der Auferstehung Christi entsprechenden Sachverhalt (V 4), und nicht von der leiblichen zukünftigen Auferstehung. Paulus überträgt also das Auferstehungsgeschehen Christi auf die Lebensführung

zwischen dem Schicksal Christi und dem der Getauften zur Sprache zu bringen (vgl. auch Kol 2,1213). 509 Die meisten Exegeten sind der Ansicht, dass es bei der Aussage von V 5b um die künftige Teilhabe an Jesu Auferstehungsleben geht (vgl. Käsemann, Römer, 161; Dunn, Romans I, 331; Lohse, Römer, 191; Jewett, Romans, 401f; Wolter, Römer I, 377 u. a.). Liest man sie vom Argumentationsgang in V 4 und V 6f her, in dem die ethische Dimension des neuen Lebenswandels der Glaubenden in Analogie zur Auferstehung Christi beschrieben wird, dann scheint es auch denkbar, dass die Aussage im weiteren Verlauf in Bezug auf die gegenwärtige Lebensweise nach der Taufe zu interpretieren ist (vgl. die Aussage der Auferstehung mit Christus in V 8 im Zusammenhang mit den Versen 10-11). Vgl. Kuss, Römer I, 304; Cranfield, Romans I, 308. 510 Σύμφυτος γίνεσθαι bezeichnet hier eine Verbundenheit bzw. Vereinigung mit dem Schicksal Christi (vgl. Cranfield, Romans I, 307; Käsemann, Römer, 159; Zeller, Römer, 122; Jewett, Romans, 400). Die geläufige Übersetzung „zusammenwachsen“ trifft nicht ganz die zugrunde liegende Bedeutung des Lexems σύμφυτος. „Das Element des Wachsens ist nicht unbedingt Teil des Bedeutungsgehalts von σύμφυτος.“ (Breytenbach, Taufen als Metapher, 277f). Vgl. auch Wilckens, Römer II, 13; Jewett, Romans, 400f. 511 Die häufige Verwendung περιπατεῖν bei Paulus im Zusammenhang mit einer ethisch qualifizierten Lebensweise ist auffällig (vgl. Röm 8,14; 13,13; 14,15; 1Kor 3,3; 7,17; Gal 5,16; Phil 3,17; 1Thess 2,12; 4,1.12). Dies kann man vom Sprachgebrauch des hebräischen Begriffs ‫ הלך‬her erklären, welcher im Alten Testament und in frühjüdischen Schriften ebenfalls häufig in Bezug auf den Lebenswandel des Menschen verwendet wird (vgl. Bergmeier, s.v. (EDNT)).

Christliche Existenz: Tot zwar für die Sünde, lebend aber für Gott: Röm 6,1-11

der Glaubenden. Die neue Weise der Lebensführung ist der Erörterung von V 10f zufolge nichts anderes als ein Leben „für Gott“, das auf Gerechtigkeit ausgerichtet ist. V 6 ist im Hinblick auf die Argumentationsführung als präzisierende Weiterführung von V 4-5 anzusehen. Dabei wird nochmals das Mitsterben mit Christus thematisiert, welches im Voranstehenden mit Hilfe der Taufterminologie veranschaulicht worden ist. Dabei wird die Bedeutung des Mitsterbens mit Christus ausdrücklich auf seine ethische Bedeutungsdimension hin erklärt; das Mitsterben mit Christus bedeutet das Sterben des „alten Menschen (παλαιὸς ἄνθρωπος)“. Was ein solches Sterben meint, wird durch die parallelen Aussagen in V 2 und V 6b erhellt, welche vom Bruch mit dem vormaligen Leben in der Sünde handeln. Für das Verständnis der Aussage über das Sterben des alten Menschen ist unbedingt ihr gegensätzlicher Bezug auf die Aussage ἐν καινότητι ζωῆς περιπατεῖν von V 4 zu berücksichtigen. Das Sterben des „alten Menschen“ meint also das definitive Ende der früheren Lebensweise vor der Bekehrung, welche wesentlich mit dem sündigen Tun verbunden war.512 Nicht übersehen werden darf dabei, dass Paulus das Mitsterben der Glaubenden mit Christus nochmals mit dem an die historische Begebenheit des Todes Jesu am Kreuz erinnernden Begriff, nämlich σταυροῦν, hervorhebt: „Unser alter Mensch ist mitgekreuzigt worden (ὁ παλαιὸς ἡμῶν ἄνθρωπος συνεσταυρώθη).“513 Der an diese bereits getroffene Feststellung anknüpfende ἵνα-Satz in V 6b erklärt weiter, was dieses Geschehen zur Folge hat. Nach Paulus geht mit dem Mitsterben mit Christus die Vernichtung des „Leibes der Sünde (σῶμα τῆς ἁμαρτίας)“ einher und damit das Leben „im Dienst an der Sünde (δουλεύειν ἡμᾶς τῇ ἁμαρτίᾳ)“ zu Ende. Was bedeutet hier aber die Vernichtung des Leibes der Sünde? Klar ist, dass das Syntagma σῶμα τῆς ἁμαρτίας nicht auf den biologischen Leib der Christen verweist, denn die von Paulus angeredeten Christen leben noch in ihrem sterblichen Leib (vgl. V 12). Zu einer sinnvollen Interpretation gelangt man nur, wenn man den Ausdruck so wie παλαιὸς ἄνθρωπος im übertragenen Sinne als die alte Existenzweise vor der Bekehrung versteht, in der der Leib dem Dienst der Sünde unterworfen ist.514 Mit 512 Παλαιὸς ἄνθρωπος bezeichnet „die Existenz vor der Bekehrung“. (Wolter, Römer I, 378). Der Ausdruck „alter Mensch“ ist hinsichtlich dieser Vergangenheit zu verstehen, es ist also eine existenzielle Bestimmung der vormaligen Lebensweise in der Sünde, die aus der Retrospektive vorgenommen wird. Eine vergleichbare Rede vom „alten Menschen (παλαιὸς ἄνθρωπος)“ findet sich auch in Eph 4,22-24; Kol 3,9-10. 513 Die Vorstellung vom Christen als eines Gekreuzigten kommt noch ausdrücklich in Gal 2,19; 5,24; 6,14 vor. 514 Vgl. Wolter, Römer I, 378f. Den Begriff σῶμα verwendet Paulus sehr häufig in seiner Beschreibung der anthropologischen Existenz. Der Begriff bezeichnet normalerweise im neutralen Sinne die leibliche Wirklichkeit des Menschen. Er kann aber auch negativ qualifiziert werden, indem er wie

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Die Gerechtigkeitsaussagen im Römerbrief

καταργηθῇ τὸ σῶμα τῆς ἁμαρτίας ist also gemeint, dass die vorherige Lebensweise

im Dienst an der Sünde durch das Mitsterben mit Christus aufgehoben ist.515 In der Tat wiederholt Paulus hierbei mit anderen Worten, was er schon in V 2 gesagt hatte.516 Der angeschlossene Infinitiv τοῦ μηκέτι δουλεύειν ἡμᾶς τῇ ἁμαρτίᾳ dient als Explikation der voranstehenden Wendung καταργηθῇ τὸ σῶμα τῆς ἁμαρτίας517 . Der Ausdruck δουλεύειν ἡμᾶς τῇ ἁμαρτίᾳ charakterisiert zugleich, wie das vorherige Leben derjenigen, die jetzt zum Christusglauben gekommen sind, einstmals war. Sie waren im Dienst der Sünde und damit unfähig zum gerechten Lebenswandel (vgl. 6,20). Sie sollen jetzt aber die neu gewonnene Identität in ihrer Lebensführung durchsetzen, indem sie sich in den Dienst der Gerechtigkeit stellen (vgl. 6,19). 3.

Interpretation der Formulierung ὁ γὰρ ἀποθανὼν δεδικαίωται ἀπὸ τῆς ἁμαρτίας in V 7

Der im Blick auf den verbalen Ausdruck δεδικαίωται näher zu untersuchende Satz ist in einen argumentativen Zusammenhang eingebettet (γάρ). V 7 führt den argumentativen Hauptgedanken des Mitgestorben-Seins von V 6 einerseits begründend weiter. Er ist aber andererseits auch als Übergang zu den folgenden Versen anzusehen. Das Motiv des Gestorbenseins der Glaubenden und die Wende ihrer Existenzweise in V 7 werden im folgenden Argumentationsgang aufgenommen und weitergeführt. In diesem Übergangsvers stellt Paulus die mit dem Glaubensvorgang bzw. dem Taufgeschehen eröffnete gegenwärtige christliche Existenz zusammenfassend dar, die er in den vorangegangenen Versen hauptsächlich mithilfe der Sterben-und-Leben-Vorstellung ausgeführt hatte. Das substantivierte Partizip ὁ ἀποθανών bezieht sich vom Kontext her zweifellos auf das christliche „wir“, welches im Vorangegangenen bereits mehrfach als „die Gestorbenen“ bezeichnet worden ist. Damit wechselt Paulus vom inkludierenden

in Röm 6,6 in Verbindung mit dem Begriff ἁμαρτία gebracht wird. In diesem Fall bezeichnet die Wendung σῶμα τῆς ἁμαρτίας die Existenzweise des Menschen, in der sein Leib der Sünde bzw. den Begierden unterworfen ist. Vergleichbare Formulierungen finden sich in Röm 7,24 (σῶμα τοῦ θανάτου) und Kol 2,11 (σῶμα τῆς σαρκός). Zu den verschiedenen Sinnzusammenhängen des Begriffs σῶμα bei Paulus vgl. Bultmann, Theologie, 193–203; Schweizer, s.v. (ThWNT); Bauer, Leiblichkeit, 67–181; Scornaienchi, Soma, 68–279; Schnelle, Paulus, 536–540. 515 Καταργεῖν ist ein von Paulus sehr häufig verwendeter Begriff, der in verschiedenen Kontexten vorkommt (vgl. Röm 3,3.31; 4,14; 7,2.6; 1Kor 1,28; 2,6; 6,13 u. a.). Im Zusammenhang von V 6 kann das Verb im Sinne von „vernichten“, „aufheben“, „beseitigen“ aufgefasst werden. Vgl. BAA, s.v.; BDAG, s.v. 516 Vgl. Schlier, Römer, 198; Wolter, Römer I, 379. 517 Der substantivierte Infinitiv in V 6d ist grammatisch als epexegetisch zu verstehen. Im vorliegenden Kontext hat er eher konsekutiven als finalen Sinn (vgl. Wolter, Römer I, 379).

Christliche Existenz: Tot zwar für die Sünde, lebend aber für Gott: Röm 6,1-11

„wir“ zum allgemeingültigen Stil der 3. Person. Dieser Wechsel durch ein substantiviertes Partizip ist bei Paulus auch anderswo zu sehen (vgl. 4,24).518 In welchem Sinne die christlichen Gläubigen als „Gestorbene“ zu bezeichnen sind, ist bereits mit den voranstehenden Versen erklärt worden (s. o.). Zugrunde gelegt ist eine metaphorische Vorstellung vom Sterben, gemäß der die Gläubigen den fundamentalen Bruch mit der alten Lebensweise unter der Sünde erfahren haben und damit am Tod Christi teilhaben (vgl. Gal 2,20; 5,24). Die besondere Schwierigkeit der Auslegung liegt nun aber in der Frage, wie die Wendung δεδικαίωται ἀπὸ τῆς ἁμαρτίας zu verstehen ist. Die in der bisherigen Forschung vertretenen und im Folgenden zu referierenden Deutungen sind grob gesagt in zwei Positionen zu unterteilen519 : (1) Paulus meine mit diesem Ausdruck einen Freispruch von der Sünde der Vergangenheit.520 Es gehe also um eine Lossprechung von Schuld. (2) Die fragliche Formulierung bedeute eine Befreiung von der Sündenmacht (d. h. von der Pflicht zu Sklavendiensten an der Sündenmacht).521 Die Vertreter der ersten Position fassen ἁμαρτία im allgemeinen Sinne als ehemalige Sünde der nun Glaubenden und das Passiv δεδικαίωται als göttlichen Freispruch davon auf. Die die zweite Perspektive vertretenden Exegeten interpretieren den Singular ἁμαρτία in der Weise, dass er nicht eine Sündentat, sondern eine Macht meint, die Herrschaft über die Menschen und ihren Dienst ergreift, und verstehen das Passiv δεδικαίωται im Sinne einer Befreiung davon. Bei diesen Auslegungsversuchen ist zu erkennen, dass das Ergebnis der Interpretation ganz und gar davon abhängig ist, wie man die passive Form δικαιοῦσθαι und den davon abhängigen Präpositionalausdruck ἀπὸ τῆς ἁμαρτίας versteht. Gehen wir nochmals auf den mit dem Artikel versehenen Singular ἁμαρτία ein. Man kann von diesem Singularausdruck eine Machtvorstellung ableiten und zwar nach den verschiedenen metaphorischen Ausdrücken des Paulus, in denen ἁμαρτία wie ein Lebewesen personifiziert dargestellt wird (vgl. 5,12.21; 6,6.12.13.14.17.18.20.22; 7,5.8.9.11.13.14.17.20). Daraus folgt aber nicht zwingend, dass die Sünde bei Paulus durchweg als eine kosmische bzw. überindividuelle

518 Gegen die Interpretation, die ὁ ἀποθανών nicht auf die Glaubenden, sondern auf Christus bezieht (z. B. Scroggs, Romans VI.7; Frankemölle, Taufverständnis, 77–80; Kearns, Interpretation, 301ff; Kirk, Unlocking Romans, 111ff; Campbell, Deliverance, 825f; Prothro, Judge, 191f u. a.). 519 Es ist in den meisten Fällen schwierig, die Kommentatoren einem der beiden Punkte zuzuordnen, denn sie durchmischen beide Positionen in ihren Ausführungen. Oben teile ich die vertretenen Positionen zum besseren Verständnis dennoch in zwei Richtungen auf. Maßgeblich ist dabei, zu welcher Richtung die einzelnen Positionen jeweils tendieren. 520 So z. B. Michel, Römer, 207; Lohse, Römer, 192; Cranfield, Romans I, 311, Anm. 1; Dunn, Romans I, 320; Fitzmyer, Romans, 436; Despotis, Rethinking, 50ff. 521 So z. B. BAA, s.v.; Schlier, Römer, 198; Käsemann, Römer, 162; Jewett, Romans, 405; Campbell, Deliverance, 825f; Wolter, Römer I, 380.

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Die Gerechtigkeitsaussagen im Römerbrief

Macht zu verstehen ist.522 Denn es gibt Textstellen, in denen der Singular ἁμαρτία sehr wohl im Sinne der sündigen Tat oder in metonymischer Weise in Bezug auf die Lebensweise in der Sünde verwendet wird (vgl. 4,7; 5,13; 6,1-2; 7,5.13b; 8,3b; 11,27; 14,23; 1Thess 2,16; 1Kor 15,3.17; 2Kor 5,21; 11,7; Gal 1,4; 2,17). Man darf zudem nicht übersehen, dass Paulus die mit der Sünde verbundenen metaphorischen Ausdrücke wie etwa βασιλεύειν bzw. κυριεύειν + Nominativ, ὑπακούειν + Dativ, παριστάνειν τὰ μέλη ὅπλα + Dativ, δοῦλοί + Genitiv nicht allein in Bezug auf ἁμαρτία verwendet, sondern auch gelegentlich mit den Subjekten θάνατος (5,14.17), χάρις (5,21) und νόμος (7,1) sowie auch in Verbindung mit den Begriffen ἀκαθαρσία (6,19), ἀνομία (6,19), deren Gegenbegriff δικαιοσύνη (6,19.20) und dem Begriff τύπος διδαχῆς (6,17).523 Bestimmt man ausgehend von den metaphorischen Ausdrücken ἡ ἁμαρτία als eine kosmische Macht, so müsste man auch die anderen genannten Subjekte entsprechend auffassen. Eine solche Interpretation, die also auf eine Vielzahl unterschiedlicher Machtsphären hinausliefe, ist aber nicht plausibel. Viel entscheidender für das Verständnis von ἁμαρτία in V 7 ist die Untersuchung ihres semantischen Zusammenhangs, insbesondere ihrer unmittelbaren Verknüpfung mit dem Verb δικαιοῦσθαι. Aufgrund der durchgeführten semantischen Analyse des Verbs δικαιοῦν lässt sich sicher sagen, dass dieses Verb im Passiv nicht eine „Befreiung (bzw. Loswerdung) von etwas“ bedeutet.524 So bezeichnet die passivische Wendung δικαιοῦσθαι den Vorgang einer Wiederherstellung der Gerechtigkeit, indem jemand oder etwas in den Zustand der Gerechtigkeit (zurück-) versetzt bzw. wieder mit Gerechtigkeit versehen wird (vgl. den Teil II.B. dieser Arbeit). Die passivische Wendung ist in der paganen Gräzität, in den jüdischen Schriften und in den biblischen Texten des Alten und Neuen Testaments je nach Kontext folgendermaßen wiederzugeben: „als gerecht dastehen“, „gerecht gemacht werden“, „gerecht werden“. Wie die Untersuchung der relevanten Belegstellen bis

522 Anders aber Schlier, Römer, 197–198; Käsemann, Römer, 161–162; Dunn, Theology, 111–114; Siber, Mit Christus, 227ff; Schnelle, Paulus, 543–545; Wolter, Römer I, 369.380.383 u. a. Die oben dargestellten metaphorischen Redewendungen sind so aufzufassen, dass Paulus den Effekt und die Wirkungsweise der Sünde für den Menschen beschreibt und aufzeigt, was für ein schwerwiegendes und unentrinnbares Phänomen das Sündigen ist. Ob Paulus wirklich an die Sünde als kosmische Macht gedacht hat, muss m. E. offenbleiben (vgl. auch Gerber, Waffendienst, 135). 523 Außer den oben dargestellten Ausdrücken müssen auch die Ausdrücke νόμῳ τοῦ θεοῦ οὐχ ὑποτάσσεται (8,7) und τῇ δικαιοσύνῃ τοῦ θεοῦ οὐχ ὑπετάγησαν (10,3) beachtet werden, welche das Gesetz bzw. die Gerechtigkeit Gottes als eine Größe darstellen, der sich der Mensch zu unterwerfen hat. Im vorliegenden Kontext sind sie eindeutig metaphorisch zu verstehen, im Sinne von „annehmen“ oder „sich auf etwas einlassen“. Die in der Forschung häufig anzutreffende Annahme, dass die Formulierung δικαιοσύνη τοῦ θεοῦ in 10,3 wegen des Ausdrucks ὑπετάγησαν als Macht zu verstehen ist, ist deswegen nicht mehr stichhaltig. 524 Vgl. Scroggs, Romans VI.7, 104f; Fitzmyer, Romans, 437; Prothro, Judge, 188ff.

Christliche Existenz: Tot zwar für die Sünde, lebend aber für Gott: Röm 6,1-11

jetzt (Röm 2,13; 3,20.24.28; 4,2; 5,1.9) gezeigt hat, entspricht die Bedeutung des passivischen Ausdrucks bei Paulus weitgehend derjenigen in den paganen und jüdischen Schriften. Paulus geht es, wenn er dieses Verb im Passiv gebraucht, ebenfalls um eine Versetzung in einen gerechten Zustand; es zielt zumeist darauf ab, den Statuswechsel vom Sünder-Sein zum Gerechter-Sein zum Ausdruck zu bringen. Die Wendung δικαιοῦσθαι an unserer Stelle ist im Blick auf die grundlegende Semantik nicht anders als sonst bei Paulus zu verstehen.525 Die passivische Verwendungsweise des Verbs δικαιοῦν begegnet bei Paulus häufig im Zusammenhang mit dem Rechtfertigungsgedanken, bei dem Gott als handelndes Subjekt des Rechtfertigungsgeschehens auftritt. Hierbei ist jedoch zu beachten, dass das Passiv δικαιοῦσθαι grammatisch nicht zwingend als passivum divinum zu verstehen ist. Das Passiv wird, wie dessen Untersuchung in paganen, alttestamentlichen und jüdischen Texten zeigt, häufig ohne Verbindung zu Gott als logischem Subjekt verwendet und ist in diesem Fall einfach mit den oben genannten Bedeutungen wiederzugeben (die passivische Form δικαιοῦσθαι wird gelegentlich in mit dem Adjektiv δίκαιος annähernd gleichem Sinne verwendet)526 . Das Passiv wird gebraucht, wenn der Fokus nicht darauf liegt, wer die Wiederherstellung der Gerechtigkeit bzw. das Mit-Gerechtigkeit-Versehen vollzogen hat, sondern wenn der veränderte Zustand des Gerechtseins, in dem die betroffene Person sich befindet, in den Vordergrund gerückt wird (vgl. 3,24; 5,1.9).527 Dass die passivische Formulierung nicht zwingend mit „gerechtfertigt werden“ wiedergegeben werden muss, wird vor allem gestützt durch die Verwendung von δικαιοῦσθαι in Röm 3,20 und Gal 3,11, wo dies mit den Präpositionalausdrücken ἐνώπιον αὐτοῦ (scl. θεοῦ) bzw. παρὰ τῷ θεῷ verbunden ist. Bei diesen Ausdrücken legt sich die gängige Übersetzung mit „gerechtfertigt werden (von Gott bzw. vor Gott)“ nicht nahe. Zu bevorzugen ist in diesem Fall die Wiedergabe mit „als gerecht dastehen, sich als gerecht erweisen“. Im Lichte des näheren Kontextes, in dem Paulus den veränderten Stand der Gläubigen heraushebt, ist auch die Form δεδικαίωται in Röm 6,7 entsprechend der Verwendung von δικαιοῦσθαι in Röm 3,20 und Gal 3,11, d. h. ohne einen Rückbezug auf ein passivum divinum, zu übersetzen.

525 Gegen Schlier, Römer, 198. Er behauptet, dass die Bedeutung δικαιοῦσθαι in Röm 6,7 anders als sonst bei Paulus im Sinne von „befreit werden“ aufzufassen ist. 526 Betrachtet man die Verwendung des Passivs δικαιοῦσθαι und seine Bedeutung in den Belegstellen in paganen und biblischen Texten, zeigt sich, dass es wie die Verben mit -εω-Endung im Passiv ebenfalls adjektivisch als „gerecht sein“ bzw. „gerecht werden“ gebraucht werden kann. Vgl. Debrunner, Wortbildungslehre, 93ff. 527 Bei Paulus ist das Verb δικαιοῦν viel häufiger passivisch als aktivisch belegt. Das liegt daran, dass Paulus im Hinblick auf seine jüdischen Gegner, die Einwände gegen die Rechtfertigungslehre des Paulus vorgebracht hatten, den geänderten Status der Glaubenden betonen musste.

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Die Gerechtigkeitsaussagen im Römerbrief

Von der dem Passiv δικαιοῦσθαι zu Grunde liegenden Semantik her kann man davon ausgehen, dass die Deutung von ἁμαρτία als Sündenmacht in unserem Kontext unangemessen ist. Es sei denn, der Satz hieße, der Verstorbene sei „aus der Sündenmacht gerecht geworden“, was aber wenig Sinn ergibt. Der Begriff ἁμαρτία beinhaltet vielmehr noch die Bedeutungsnuance des Tatcharakters, da sich dieser durchaus auch auf die Sünde im Zusammenhang mit menschlichem Handeln bezieht. Er referiert aber in unserem Kontext offenkundig nicht auf eine bestimmte Sündentat, sondern beschreibt in metonymischer Weise die grundsätzliche Sündhaftigkeit des ehemaligen Lebens der Glaubenden (d. h. ihre einstige sündhafte Existenz- und Lebensweise). Der gesamte Ausdruck δεδικαίωται ἀπὸ τῆς ἁμαρτίας heißt dann, dass diejenigen, die der Sünde durch die Taufe in Christus hinein abgestorben sind, von der alten Existenzweise in der Sünde in den neuen Stand des Gerechtseins versetzt worden sind.528 Die Adressaten waren früher Sünder, indem sie im Dienst der Sünde standen; doch dieses Dienstverhältnis ist nun beendet, sie befinden sich jetzt aufgrund ihres Glaubens und Taufgeschehens in neuer Existenz- und Dienstweise. Wenn man δεδικαίωται ἀπὸ τῆς ἁμαρτίας als Freispruch bzw. Lossprechung von den Sünden interpretiert, ist diese Wendung nicht in ihrer ganzen Weite erfasst. Denn diese Auffassung kann die Bedeutungsnuance der Veränderung des Zustandes der Gläubigen vom Ungerechtsein zum Gerechtsein, welche eigentlich der Begrifflichkeit δικαιοῦσθαι zugrunde liegt, nicht abdecken. Für das Verständnis der Formulierung δεδικαίωται ἀπὸ τῆς ἁμαρτίας ist des Weiteren wichtig, deren semantischen Zusammenhang mit der naheliegenden Vorstellung von der radikalen Umwendung der Glaubenden zu berücksichtigen. Wie gesagt, fasst Paulus in V 7 die existenzielle Wende zusammen, welche bei den Glaubenden durch ihr Taufgeschehen vollzogen ist.529 Diese Wende wird in den vorangegangenen Versen mit den Formulierungen „der Sünde abgestorben“ und „wandeln in der Neuheit des Lebens“ beschrieben. Das substantivierte Partizip ὁ ἀποθανών bezieht sich gerade auf dieses Der-Sünde-abgestorben-Sein, d. h. auf die definitive Abtrennung vom ehemaligen Leben in der Sünde. Die Formulierung δεδικαίωται ἀπὸ τῆς ἁμαρτίας knüpft demgegenüber an die Vorstellung der

528 Die Formulierung δικαιοῦσθαι ἀπό ist auch in Sir 26,29; T. Sim. 6,1; Hermas, Vis. 3,9,1 belegt und wie in Röm 6,7 mit einem negativen Wort wie etwa ἁμαρτία, πονηρία oder σκολιότης kombiniert. Von diesen Belegen her ist festzuhalten, dass δικαιοῦσθαι ἀπό nicht eine „Befreiung von etwas“ bedeuten und nicht einfach mit „Freispruch“ wiedergegeben werden kann. Vgl. Prothro, Judge, 187f. 529 Zu beachten ist, dass bei Paulus nicht nur in Röm 6,1f, sondern auch anderswo die Rede von der Gerechtigkeit (Gerechtsein) der Glaubenden häufig im Zusammenhang mit dem Geschehen des Geistempfangs steht (Röm 8,1f; 1Kor 6,11; Gal 3,23f). Paulus sieht, dass der Empfang des Geistes die Veränderung der Seinsweise der Glaubenden mitbewirkt.

Christliche Existenz: Tot zwar für die Sünde, lebend aber für Gott: Röm 6,1-11

Neuheit des Lebenswandels der Glaubenden an (V 4-6), welche die neue von den Glaubenden zu vollziehende Lebensweise ausdrückt. Diese Verknüpfung kann entscheidend zum Verständnis der Aussage von V 7 beitragen und bestätigt, dass mit δικαιοῦσθαι nicht die Befreiung von der Sündenmacht gemeint ist, sondern eher das Eintreten bzw. Versetzt-Werden in eine neue Identität oder den neuen Status des Glaubenden zur Sprache gebracht werden soll. 4.

Die weitere Darlegung der neuen Existenz der Glaubenden (6,8-11)

Die Feststellung in V 8 ist im Kern eine Wiederholung dessen, was Paulus bereits in V 5 gesagt hat530 : Wenn die Glaubenden mit Christus mitgestorben sind, dann werden sie auch am Leben Christi teilhaben (εἰ δὲ ἀπεθάνομεν σὺν Χριστῷ, πιστεύομεν ὅτι καὶ συζήσομεν αὐτῷ). Zu bedenken ist hierbei die Bedeutung von συζήσομεν αὐτῷ; fraglich ist, ob die Aussage auf die leibliche Teilhabe der Glaubenden an Jesu Auferstehungsleben531 oder in übertragenem Sinne auf ihre neue Lebensführung mit Christus (in diesem Fall ist συζήσομεν ein logisches Futur)532 verweist. Die futurische Zeitform spricht stark dafür, dass Paulus mit συζήσομεν αὐτῷ das künftige noch ausstehende Leben mit Christus im Eschaton im Blick hat. Außer dieser Stelle verweist Paulus seine christlichen Adressaten häufig auf die Heilszukunft, in der sie an dem Auferstehungsleben Christi teilhaben werden (5,17.21; 8,11; 1Kor 15,21ff; 2Kor 4,14; Phil 3,10-11.21; 1Thess 4,14-17; 5,10). Die in den folgenden Versen vorgenommene Deutung der Auferstehung Christi als das Leben für Gott und ihre analoge Übertragung auf die gegenwärtige Lebensführung der Glaubenden unterstützen jedoch die zweite Interpretationsmöglichkeit. Mit der Aussage συζήσομεν αὐτῷ wird Paulus betonen wollen, dass die Glaubenden ihr bisheriges Leben für Gott völlig neu umgestalten sollen, so wie sich mit dem Sterben und der Auferstehung Christi ebenfalls eine radikale Wende vollzogen hat (V 10). Paulus hat in diesem Zusammenhang schon in V 4 in Entsprechung zur Auferstehung Christi vom „Lebenswandel in Neuheit“ der Christen gesprochen. Eine Entscheidung zwischen den beiden alternativen Deutungen fällt schwer, es ist aber aufgrund des semantischen Zusammenhangs der Aussage vom Mitleben der Glaubenden in V 8 und der Aussage von der Auferweckung Christi in V 9 die erste zu bevorzugen. Auch der Ausdruck πιστεύομεν ὃτι, welcher eine „Hoffnungsgewissheit“533 darstellt, spricht dafür, dass Paulus hierbei von der zukünftigen Auferstehung der Glaubenden spricht. 530 So auch Wilckens, Römer II, 18; Wolter, Römer I, 380. 531 So die meisten Exegeten, vgl. Schlier, Römer, 199; Dunn, Romans I, 324; Fitzmyer, Romans, 437; Wolter, Römer I, 380f. 532 Vgl. Cranfield, Romans I, 312f; Moo, Romans, 377; Jewett, Romans, 406. 533 Wolter, Römer I, 381.

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Die Gerechtigkeitsaussagen im Römerbrief

Im Textzusammenhang von 6,7f ist die enge Verknüpfung von Rechtfertigungsaussage und Lebenszuspruch an die Glaubenden offensichtlich. Die Feststellung in V 7, dass die Glaubenden von der Sünde gerechtfertigt worden sind, hängt mit den davor- (V 5) und dahinterstehenden (V 8) Lebenszusagen zusammen. Nicht nur hier, sondern auch an anderen Stellen bei Paulus sind des Öfteren die Rechtfertigung und die Aussicht auf das Mitleben mit Christus in engster Weise miteinander verbunden. In Röm 1,16-17 legt Paulus unter Aufnahme von Hab 2,4 dar, dass der Gerechte (im vorliegenden Kontext: der aufgrund seines Glaubens Gerechtfertigte) am ewigen Leben teilhat. Der Zusammenhang von Gerechtsein und ewigem Leben findet sich weiterhin in Röm 5,17, wo von denjenigen gesprochen wird, die die Gnade Gottes und das Geschenk der Gerechtigkeit empfangen haben. Diesen wird versprochen, am Auferstehungsleben teilzuhaben (vgl. V 17.18.21). Auch in Röm 8,10 wird die Gerechtigkeit der Glaubenden mit einer Lebenszusage verbunden (τὸ μὲν σῶμα νεκρὸν διὰ ἁμαρτίαν τὸ δὲ πνεῦμα ζωὴ διὰ δικαιοσύνην). Nach dieser Schilderung ist der Leib derjenigen, denen der Geist Gottes innewohnt, zwar vom Tod bestimmt, aber ihr Geist ist vom Leben bestimmt. Was diese Aussage bedeutet, wird im folgenden Vers 11 deutlich, wo Paulus von der zukünftigen Auferstehung der Glaubenden spricht. Die Glaubenden, die den göttlichen Geist haben und seinem Antrieb nachkommend Gerechtigkeit in ihrem Lebenswandel sichtbar machen, werden am Auferstehungsleben teilhaben. Demnach ist festzuhalten, dass es für Paulus ohne die Voraussetzung des Gerechtseins kein Auferstehungsleben mit Christus geben kann.534 Nach der Eingangsfeststellung von 6,8 setzt Paulus die Darlegung der schicksalhaften Verbundenheit zwischen dem Ergehen Christi und dem der Glaubenden fort. In V 9-10 wird zunächst der Sachverhalt des Todes und der Auferstehung Christi nochmals präzise ausgesagt. Interessant ist dabei vor allem, dass Paulus dem Tod und der Auferstehung Christi jeweils eine herausgehobene Bedeutung zuschreibt, welche unmittelbar auf die existentielle Wende der Glaubenden Bezug nimmt. Paulus nimmt damit eine existenzielle Interpretation des Todes und der Auferstehung Jesu unter Einschluss einer ethischen Implikation vor. Das Sterben Christi war Paulus zufolge ein „einfürallemaliges“ (endgültiges) Absterben der Sünde (τῇ ἁμαρτίᾳ ἀπέθανεν)535 ; sein Wiederleben ist ein Leben für Gott (ζῇ τῷ θεῷ).

534 Mit diesem Gedanken knüpft Paulus an die alttestamentlich-jüdische Tradition an, der zufolge die Frommen bzw. Gerechten auferstehen werden (z. B. syrBar 30,1-3; 2Makk 7,9.14; PsSal 3,12). Vgl. Wolter, Paulus, 215. Für das Verständnis der Aussage von der Auferstehung Jesu ist es wichtig, die auf Ps 16,10 zurückgehende Überzeugung zu beachten, dass der Fromme der Verwesung entgehen wird (vgl. Apg 2,25-32; 13,33f). 535 Vgl. Hebr 7,27; 9,12; 10,10.

Christliche Existenz: Tot zwar für die Sünde, lebend aber für Gott: Röm 6,1-11

Es kommt ihm in V 11 nun alles darauf an, zu zeigen, in welchem Sinne diese Bedeutung von Tod und Auferstehung Jesu einen Bezug zur Existenz der Glaubenden hat. Hierbei tritt zum ersten Mal in diesem Abschnitt ein Imperativ auf. Mit ihm fordert Paulus seine Adressaten dazu auf, die radikale Wende, welche Christus durch seinen Tod und seine Auferstehung durchlebt hat, auch in ihrem neuen Leben zu vollziehen (vgl. 7,4; Gal 2,19-20).

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Die Gerechtigkeitsaussagen im Römerbrief

J.

Die neue Lebenseinstellung der Christen: Leben im Dienst für Gott bzw. für die Gerechtigkeit: Röm 6,12-23

1.

Argumentationsgang und Metaphorik in 6,12-23

Nachdem Paulus die Eigenart des Christ-Seins beschrieben hat, führt er in 6,12-23 aus, wie die Lebensweise beschaffen ist, die jeder Christ der neu gewonnenen Identität entsprechend führen soll. Diese Aufforderungen sind teilweise bereits implizit im vorangegangenen Abschnitt mit seinen indikativischen Aussagen angesprochen, indem in der Beschreibung des neuen Status bereits ein ethischer Anspruch enthalten ist (besonders V 4 und V 10-11). Dieser Anspruch wird im vorliegenden Abschnitt mit seinen Imperativen in den Vordergrund gerückt. Insbesondere in V 12-13 und V 19 sind gerade diese Imperative zu einem gerechten Lebenswandel ausdrücklich formuliert, wobei sie auf den Begriff δικαιοσύνη ausgerichtet sind. Zu beachten ist hierbei, dass Paulus häufig einen Wechsel von der Seins- zur SollensAussage vornimmt. So wie die Feststellung des Seins der Glaubenden in V 14 als Prämisse für die folgenden Imperative fungiert, so dient auch die Feststellung in V 17-18 und V 22 als Ausgangspunkt für die Aufforderung zu einem dem neuen Status entsprechenden Handeln. Auf semantischer Ebene erweist sich der Begriff δικαιοσύνη als sehr komplex. Will man den Argumentationsgang des vorliegenden Abschnitts 6,12-23 richtig verstehen, muss man besondere Aufmerksamkeit darauf legen, in welchem Sinne der mehrfach vorkommende Begriff δικαιοσύνη hier verwendet wird. Hierbei ist zumindest klar, dass der Begriff nicht immer dieselbe Bedeutung besitzt; mitunter bezeichnet er den Status des Gerechtseins als Heilstand im Gegenüber zu θάνατος (V 16), daneben wird er auch im Gegenüber zu ἁμαρτία, ἀκαθαρσία und ἀνομία als ethische Kategorie in Bezug auf die menschliche Handlungsweise verwendet (V 18.19.20). Im zweiten Fall fungiert er eindeutig als Gegenbegriff zu den Termini ἁμαρτία, ἀκαθαρσία und ἀνομία, welche Negativbestimmungen des Handelns der Christen in ihrer Vergangenheit darstellen. Der Begriff δικαιοσύνη bezeichnet damit die neue Ausrichtung ihres Lebens auf Gott (s. u.). Bezüglich der sprachlichen Gestaltung ist außerdem die ausgiebige Verwendung metaphorischer Redeweise auffällig. Diese bringt die unterschiedlichen Existenzbzw. Handlungsweisen der Gläubigen zum Ausdruck. Die herangezogene Metaphorik entstammt hauptsächlich dem Bereich von Herrschafts- und Dienstverhältnis, wie die Wendungen ὑπακούειν, παριστάνειν τὰ μέλη, κυριεύειν, δουλοῦσθαι (bzw. δοῦλος) aufzeigen. Diese Ausdrücke werden mit weiteren metaphorischen Redewendungen (καρπός, ὀψώνια und χάρισμα) kombiniert, welche offenkundig verschiedenen Bereichen entstammen. Mithilfe dieser Kombination der verschiedenen Metaphern veranschaulicht Paulus auf eindrückliche Weise die Existenzund Handlungsweisen der Christen und ihre jeweiligen positiven bzw. negativen

Die neue Lebenseinstellung der Christen: Röm 6,12-23

Folgen. Dies gilt zum einen auf der negativen Seite im Hinblick auf die Sünde und zum anderen auf der positiven Seite im Hinblick auf die Gerechtigkeit bzw. Gott, wobei beide Perspektiven einander antithetisch gegenübergestellt sind. Die in 6,12-23 verwendeten metaphorischen Ausdrücke lassen sich im Blick auf ihre antithetischen Bezüge folgendermaßen darstellen: Sünde/Gesetzlosigkeit/Unreinheit ἡ ἁμαρτία βασιλεύειν (V 12) ὑπακούειν ταῖς ἐπιθυμίαις (V 12) παριστάνειν τὰ μέλη ὅπλα ἀδικίας τῇ ἁμαρτίᾳ

Gerechtigkeit/Gott παριστάνειν τὰ μέλη ὅπλα δικαιοσύνης τῷ θεῷ (V 13) δουλοῦσθαι τῇ δικαιοσύνῃ/τῷ θεῷ

(V 13)

(V 18.22)

ἡ ἁμαρτία κυριεύειν (V 14) δοῦλοὶ (τῆς) ἁμαρτίας (V 16.20) παριστάνειν τὰ μέλη δοῦλα τῇ ἀκαθαρσίᾳ καὶ τῇ ἀνομίᾳ (V 19) ἐλευθερωθῆναι ἀπὸ τῆς ἁμαρτίας (V 18.22) ὀψώνια τῆς ἁμαρτίας (V 23)

παριστάνειν τὰ μέλη δοῦλα τῇ δικαιοσύνῃ

(V 19) ἐλεύθεροι εἶναι τῇ δικαιοσύνῃ (V 20) χάρισμα τοῦ θεοῦ (V 23)

2.

„Stellt eure Glieder Gott zur Verfügung als Waffen der Gerechtigkeit“ (6,12-13)

2.1

Der Argumentationsgang von V 12-13

Wie zuvor erwähnt, bedeutet die paulinische Formulierung ἀπεθάνομεν τῇ ἁμαρτίᾳ in V 2 nicht eine versprochene Feststellung, dass das Christenleben völlig sündenfrei ist oder sein wird. Die Glaubenden leben weiterhin noch im sterblichen Leib (ἐν τῷ θνητῷ σώματι).536 Das heißt, dass sie aufgrund ihrer leiblichen Existenz immer noch in der Gefahr stehen, ihren Begierden folgend zu sündigen. Deswegen behält die Aufforderung des Paulus, dass sie die Sünde in ihrem sterblichen Leib nicht herrschen lassen sollen, Geltung für jeden Glaubenden.537 Bei dieser Aufforderung bedient sich Paulus wie in 5,21 der Redewendung ἡ ἁμαρτία βασιλεύει. Die in der Forschung verbreitete These, dass die ἁμαρτία im Singular von eben diesem Ausdruck her als überindividuelle Macht zu verstehen ist, ist, wie oben gezeigt wurde, fraglich. Denn der Prohibitiv μὴ οὖν βασιλευέτω ἡ ἁμαρτία … gibt vielmehr darauf einen Hinweis, dass der Mensch dem Einfluss der Sünde entgegenwirken und sie damit unter seine Kontrolle bringen kann.538 Die Wendung sollte daher besser in der Weise verstanden werden, dass Paulus mit

536 Ein sehr ähnlicher Gedanke kommt bei Paulus noch in Röm 8,10 vor. Dort formuliert Paulus aber τὸ σῶμα νεκρόν. Dass dies ein damals weit verbreiteter Ausdruck der Anthropologie ist, zeigen viele parallele Belege in der paganen griechischen Literatur sowie in der jüdischen Tradition. Zu den einschlägigen Belegen Wolter, Römer I, 388, Anm. 5. 537 Vgl. Backhaus, Evangelium, 27. 538 Vgl. Schnelle, Gerechtigkeit, 86.

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Die Gerechtigkeitsaussagen im Römerbrief

der Herrschaftsmetaphorik vor allem die prekäre Lebenswirklichkeit der Christen beschreibt: der Christ ist der Gefahr des Sündigens unentrinnbar ausgeliefert. Dieser machtvollen Herrschaft der Sünde soll jeder Glaubende widerstehen, so dass sein Leben nicht wieder in den alten Zustand zurückfällt. Solch ein Widerstehen gehört wesentlich zu einer der neuen christlichen Existenz entsprechenden Lebensführung. In V 13 wird die Aufforderung zum neuen Lebenswandel, welche schon in V 12 zur Sprache gekommen ist, weitergeführt. Auf inhaltlicher Ebene wird allerdings grundsätzlich nichts Neues ausgesagt, sondern das in V 12 Gesagte wird nun noch einmal in anderer Weise ausgedrückt.539 So verwendet Paulus hier anstatt der Wendung μὴ βασιλευέτω ἡ ἁμαρτία ἐν τῷ θνητῷ ὑμῶν σώματι die Redewendung μηδέ παριστάνετε τὰ μέλη ὑμῶν ὅπλα ἀδικίας τῇ ἁμαρτίᾳ. Zudem steht an Stelle von σῶμα nun der Ausdruck μέλη, die Glieder, also Körperteile des Menschen. Die Glaubenden als handelndes Subjekt können ihre Glieder entweder der Sünde als „Waffen der Ungerechtigkeit“ oder Gott als „Waffen der Gerechtigkeit“ zur Verfügung stellen540 ; je nachdem, was sie mit den Gliedern ihres Leibes tun, ist es unrecht oder recht.541 Der erste, mit μηδέ verneinte Imperativ mahnt apotreptisch542 , dass die in den Tod Christi hinein getauften Christen ihre Glieder nicht mehr der Sünde als Waffen des Unrechts zur Verfügung stellen sollen. Der Sinngehalt dieser metaphorischen Mahnrede lässt sich wie folgt paraphrasieren: Die Christen sollen mit den Gliedern ihres Leibes kein Unrecht (ἀδικία) mehr tun. Der zweite Imperativ verlangt zudem von den Adressaten protreptisch543 , dass sie von nun an aktiv mit ihrem Körper für Gott in Gerechtigkeit (δικαιοσύνη) tätig werden sollen. Paulus formuliert diesen

539 Vgl. Wolter, Römer I, 390. 540 παριστάνειν wird in der paganen Gräzität und in der LXX in verschiedenen Kontexten normalerweise im Sinne von „zur Verfügung stellen“, „bereitstellen“, oder „dar-, vorstellen“ verwendet (vgl. BAA, s.v.; LSJ, s.v.; Reike/Bertram, s.v. (ThWNT)). Diese unterschiedliche Gebrauchsweise zeigt deutlich, dass das Wort nicht allein der Opfersprache entnommen sein kann. Es wird aber gelegentlich auch im Kontext des Opferkults gebraucht (vgl. Xenophon, An VI 1,22). Paulus verwendet παριστάνειν in Röm 12,1 einmal in Bezug auf die Opfervorstellung und fordert seine Adressaten auf, ihren Leib als „lebendiges und heiliges Opfer“ darzubringen. 541 Von μέλη im Sinne des Handlungsorgans spricht Paulus auch andernorts (vgl. 7,5.23; 12,4; vgl. Kol 3,5). Bezüglich der Rede von den körperlichen Gliedern als Waffe der Sünde in Röm 6,13 ist noch die Art und Weise der Darstellung der Sündhaftigkeit in Röm 3,10f interessant, wo Paulus diese in Bezug auf jeden menschlichen Körperteil aufzeigt (vgl. Haacker, Römer, 160). 542 Der Imperativ von V 13a hat „die Nuance, mit etwas aufhören zu sollen (nicht mehr)“. (Wolter, Römer I, 389). 543 Der positiv formulierte Imperativ von V 13b hat „eine ingressive Ausrichtung“. (Wolter, Römer I, 389).

Die neue Lebenseinstellung der Christen: Röm 6,12-23

Aufruf mit derselben metaphorischen Redewendung wie in V 13a, sodass apotreptische und protreptische Aussagen parallel stehen und sich erst in dieser Parallelität gegenseitig erschließen. 2.2

Zur Verwendung von δικαιοσύνη und ihrer Bedeutung im Kontext

Von der antithetischen Gegenüberstellung von ἀδικία und δικαιοσύνη her ist deutlich, dass δικαιοσύνη hier nicht wie in Röm 5,17 als Heilsbegriff zu verstehen ist, der auf die durch den Glauben erlangte Gerechtigkeit von Glaubenden verweist, sondern eine ethische Kategorie bezeichnet, auf die die Handlungen der Glaubenden hinzielen sollen.544 Diese Verwendungsweise der δικαιοσύνη tritt im Römerbrief hier zum ersten Mal auf. Allerdings zeigt der Blick auf 2Kor 6,7.14; 9,10; Phil 1,11; 3,6 (vgl. auch Röm 14,17), dass diese Verwendungsweise der δικαιοσύνη als einer ethischen Kategorie bei Paulus nicht selten ist.545 Wenn das nomen abstractum δικαιοσύνη bei Paulus in dieser Weise bezogen auf die Handlungsweise des Gläubigen verwendet wird, ist es als ein Tugendbegriff zu verstehen. δικαιοσύνη bezeichnet in diesem Fall die vom Menschen zu praktizierende Gerechtigkeit, also im allgemeinen Sinne das, was Gottes Willen entspricht und in der Lebensführung der Glaubenden vollzogen werden soll. Der Gebrauch der δικαιοσύνη in dieser Bedeutung unterscheidet sich von der auf eine Eigenschaft des Glaubenden bezogenen Verwendungsweise, die den Heilsstand bezeichnet und häufig im Kontext der Rechtfertigung vorkommt (vgl. Röm 4,3.6.9.11.13.22.24; 5,17.21; 9,30; 10,3-10; 1Kor 1,30; 2Kor 3,9; Gal 2,21; 3,21; 5,5; Phil 3,9). Man darf darum die verschiedenen Gebrauchsweisen bei Paulus aufgrund ihrer völlig unterschiedlichen Bedeutungen nicht vermischen und hierauf eine theologisch konzipierte Deutung errichten, die einer differenzierten Analyse des Sinngehaltes des Textes letztlich widerspricht. Leider findet sich genau dies in vielen Kommentaren zur Wendung δικαιοσύνη in Röm 6,13, was unser Verständnis des Textes sehr erschwert und in eine falsche Richtung lenkt.546 So schreibt z. B. Käsemann:

544 So auch Wolter, Römer I, 391. 545 Dieser Sprachgebrauch der δικαιοσύνη als umfassende Tugend findet sich außer bei Paulus im Neuen Testament noch an den mehreren anderen Stellen: Mt 3,15; 5,6.10.20; 6,1.33; 21,32; Lk 1,75; Joh 16,8.10; Apg 10,35; 13,10; 17,31; 24,25; Eph 5,9; 6,14; 1Tim 6,11; 2Tim 2,22; 3,16; Tit 3,5; Heb 1,9; 11,33; Jak 1,20; 1Petr 2,24; 3,14; 2Petr 2,5; 2,21; 3,13; 1Joh 2,29; 3,7.10; Apk 19,11; 22,11. 546 Außer Käsemann und Dunn vertreten auch viele andere Exegeten ein sehr ähnliches Verständnis. Vgl. Furnisch, Theology, 195f; Jewett, Romans, 411; Southall, Rediscovering, 117ff; Du Toit, Dikaiosyne, 334ff.

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Man sollte darum nicht die ethische Dominante betonen, welche die at.lich-jüdische Antithese von Waffen der Gerechtigkeit oder Ungerechtigkeit hat. Pls überbietet den Gegensatz von rechtschaffenem und unrechtem Handeln. … die Gerechtigkeit (ist) aber die in Christus und mit der Rechtfertigung auf den Plan getretene Gottesmacht, die in der Vorwegnahme der leiblichen Auferweckung neues Leben wirkt und in ihren Dienst stellt. 547

Und ähnlich Dunn: It is noticeable that even in this antithesis Paul refers to speak of the power opposed to God as ‘sin’ rather than Satan. In line with the metaphor being developed, ἀδικία and δικαιοσύνη do not so much denote concrete acts (constrast ἀδικία in 1:18) as personified superhuman agencies: unrighteousness, as the means by which the power of sin effects and exercises its authority over and through the individual; righteousness, as the power of God to retain the individual (believer) under his sway. … Righteousness as much as grace can be used to describe the manner and mode in which God manifests himself; the gift is inseparable from the giver.548

Der Kontext macht allerdings deutlich, dass beim Gebrauch von δικαιοσύνη in Röm 6,13 keinesfalls von der Gabe (als Heilsstatus) die Rede ist. Es ist auch unmöglich, δικαιοσύνη mit Bezug auf die Aussage von δικαιοσύνη θεοῦ bei Paulus als Gottes eigene Gerechtigkeit zu verstehen.549 Da der Begriff eindeutig dem Substantiv ἀδικία gegenübergestellt ist, bezieht er sich offenkundig auf eine menschliche Handlungsweise, die er als eine positive qualifiziert. Das oben referierte Verständnis der δικαιοσύνη ist folglich eine unplausible Interpretation, welche die referenzielle Semantik des Wortes in seinem Kontext nicht richtig beachtet und dessen unterschiedliche Verwendungsmöglichkeiten mit je verschiedenen Bedeutungen innerhalb des Corpus Paulinum nicht differenziert berücksichtigt. Bei den eben gezeigten Deutungen kann man sehen, dass δικαιοσύνη in 6,13 als Gottes Macht verstanden wird, also überwiegend nicht als Gerechtigkeit auf Seiten des Glaubenden, sondern auf Seiten Gottes interpretiert wird. Die Auslegung des Textes wird weiter dadurch erschwert, dass noch ein anderes Verständnis von δικαιοσύνη, nämlich als die den Glaubenden geschenkte Gerechtigkeit, der Deutung zugrunde gelegt und mit der davon ganz verschiedenen Interpretation

547 Käsemann, Römer, 169. 548 Dunn, Romans I, 338f. 549 So auch Schnelle, Gerechtigkeit, 85f (gegen Luz, Eschatologie, 232; Du Toit, Dikaiosyne, 270ff). Schnelle betont zu Recht, dass bei der Interpretation von δικαιοσύνη in 6,13 die Vorstellung der δικαιοσύνη θεοῦ nicht eingetragen werden darf (vgl. Gerechtigkeit, 85ff).

Die neue Lebenseinstellung der Christen: Röm 6,12-23

des Begriffs als Gottes eigene Gerechtigkeit verschmolzen wird. Dabei werden zwei unterschiedliche Lesarten kombiniert, die semantisch eigentlich nicht miteinander in Einklang zu bringen sind.550 Somit wird überhaupt nicht klar, als was diese Gerechtigkeit zu verstehen ist.551 Nun stellt sich die Frage, aus welcher Tradition die Verwendungsweise der δικαιοσύνη als ethische Tugend stammt und wie sie befriedigend zu erklären ist. Viele nehmen an, dass diese Verwendung der δικαιοσύνη auf die griechisch-philosophische Tradition zurückzuführen ist. Traditionsgeschichtlich ist die Verwendungsweise von δικαιοσύνη als Tugend an unserer Stelle meines Erachtens jedoch nicht in die Linie der griechischen philosophischen Überlieferung einzuordnen.552 Für diese Entscheidung sprechen die folgenden gewichtigen Beobachtungen: Im Unterschied zur paulinischen Verwendungsweise wird δικαιοσύνη in den griechischen philosophischen Werken und den davon geprägten jüdischen Texten überwiegend im Kontext des menschlichen Zusammenlebens verwendet. Hierbei geht es mit der Rede von δικαιοσύνη um die Frage, wie gerechte Lebensverhältnisse in ethischen und politischen Zusammenhängen hergestellt werden können. Wenn es dagegen um das Gottesverhältnis geht, kommt der Begriff εὐσέβεια zur Anwendung. Diese zwischen den beiden Termini differenzierende Verwendungsweise, die besonders seit Isokrates häufig zu finden ist, begegnet immer wieder in den von der griechischen Philosophie geprägten jüdischen Schriften (vgl. 4Makk 5,23f; Philo, Virt. 175; Exsecr. 162; Det. 73.143; Cher. 96; Josephus, Ant. 6,265; 8,121.314; 9,16; 10,50; 14,283; 15,375). Bei Paulus ist eine solche Unterscheidung jedoch nicht zu erkennen; vielmehr gebraucht er den Begriff δικαιοσύνη als umfassenden Begriff für eine menschliche Tugend mit Bezug sowohl auf das Gottesverhältnis als auch auf das menschliche Zusammenleben.553 Zu beachten ist auch, dass bei Paulus die klassischen vier Kardinaltugenden des Griechentums oder eine variierte bzw. reduzierte Tugendliste,

550 Die Intention dieses Deutungsversuches besteht darin, das lange in der Forschung vertretene Verständnis von δικαιοσύνη als Gabe Gottes zu überwinden und den dialektischen Aspekt zwischen dem gegenwärtigen Heilszustand und der gleichzeitig geforderten Lebensführung in Gerechtigkeit herauszustellen. 551 Der eine Begriff δικαιοσύνη kann an derselben Stelle nicht gleichzeitig die beiden Bedeutungen, sowohl die von Gott geschenkte Gabe als auch die Eigenschaft Gottes, haben. 552 Gegen Wolter, Römer I, 391f. Unter Berücksichtigung des naheliegenden Kontextes ist es nicht erforderlich, für die Erklärung der Wendung δικαιοσύνη in Röm 6,13 auf die Tugendlehre der antiken griechischen Philosophie zurückzugreifen. 553 Auch Dihle verweist darauf, dass die alttestamentliche Vorstellung der Gerechtigkeit sich im Unterschied zu hellenistischen Traditionen sowohl auf das Verhältnis zu Gott als auch auf das Verhältnis der Menschen untereinander bezieht (vgl. Dihle, Kanon, 33). Siehe dafür auch Teil II.B.2 dieser Arbeit.

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welche mit δικαιοσύνη kombiniert ist, nie zu finden sind. In von der griechischhellenistischen Philosophie beeinflussten jüdischen Schriften hingegen begegnet eine solche Tugendliste sehr häufig (vgl. z. B. SapSol 8,7; 4Makk 1,6.18; 2,6; 5,23f; Philo, Leg. All. 1,63; Cher. 5; Sacr. 84; Ebr. 23; Vit. Mos. 2,185 u. ö.).554 Um die Gebrauchsweise von δικαιοσύνη in Röm 6 richtig zu verstehen, ist es unabdingbar, ihren Zusammenhang mit der alttestamentlichen Vorstellung von δικαιοσύνη zu berücksichtigen. In dieser wird der Begriff δικαιοσύνη nicht nur in Bezug auf die Eigenschaft Gottes bzw. des Menschen verwendet, sondern auch als Tugend im Rahmen des menschlichen Zusammenlebens und zwar als die von Gott geforderte Weise der Gestaltung dieses Zusammenlebens. So lautet beispielsweise der Zweck der Erwählung Abrahams in Gen 18,19, „Recht und Gerechtigkeit zu tun (ποιεῖν δικαιοσύνην καὶ κρίσιν)“, damit Abraham den ihm verheißenen Segen Gottes erfährt. Dieser Aufruf zu Recht und Gerechtigkeit taucht an verschiedenen Stellen im Alten Testament auf und bildet gleichsam die Zusammenfassung des an Israel ergangenen Gesetzes (vgl. JesLXX  32,16-17; 33,5.15; 56,1; 64,5; PsLXX  14,2; 105,3; 118,121; JerLXX  22,3 u. a.). In den prophetischen Büchern findet sich häufig die Anklage gegen das Volk Israel, diesem Aufruf nicht nachgekommen zu sein (vgl. JesLXX  5,7; 59,14; AmLXX  5,24 u. a.). In diesen Fällen ist δικαιοσύνη als Tugend zu verstehen, welche dem in der Tora zum Ausdruck kommenden Willen Gottes entspricht. Dieser alttestamentlichen Verwendungsweise der δικαιοσύνη entspricht der Ausdruck ὅπλα δικαιοσύνης.555 Nun ist näher auf den Genitivausdruck ὅπλα δικαιοσύνης einzugehen. Das Wort ὅπλον wird sehr häufig sowohl in der paganen griechischen Literatur als auch in der LXX im militärischen Kontext verwendet und ist in den meisten Fällen mit „Waffe“ wiederzugeben.556 Diese Bedeutung trifft auch im Blick auf die Wendung ὅπλα δικαιοσύνης an unserer Stelle zu, wie auch an anderen Belegstellen bei Paulus (vgl. Röm 13,12; 2Kor 6,7; 10,4).557 Paulus bringt mit der antithetischen Gegenüberstellung von ὅπλα ἀδικίας und ὅπλα δικαιοσύνης ein kriegerisches Bild zum Ausdruck; es macht die das christliche Leben bestimmende Kampfsituation begreiflich, in die sich jeder Christ gestellt findet. Der Christenmensch kann seine leiblichen Glieder entweder der Sünde als Waffen der Ungerechtigkeit oder Gott als Waffen der Gerechtigkeit zur Verfügung stellen. Durch das Taufgeschehen, in dem er der Sünde

554 Zu den weiteren Belegen s. Teil II.C.1 der vorliegenden Arbeit. 555 Hierbei will auch beachtet sein, dass der Genitivsausdruck ὅπλα δικαιοσύνης einen Semitismus in Anlehnung an die hebräischen Genitivformulierungen im Alten Testament darstellt. In der LXX und in frühjüdischen Schriften lassen sich viele Genitivformulierungen finden, in denen der Begriff δικαιοσύνη bildsprachlich mit anderen Begriffen wie etwa Weg, Licht, Sonne, Frucht u. a. verbunden wird (zu den Belegen vgl. S. 107 dieser Arbeit). 556 Vgl. Oepke, s.v. (ThWNT); Spicq, s.v.; BAA, s.v. 557 Vgl. Schlier, Römer, 203; Du Toit, Dikaiosyne, 272f; Wolter, Römer I, 390.

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abgestorben ist und damit am Tod Christi Anteil genommen hat, hat sich eine grundlegende Wende in seiner Existenzweise vollzogen; die innere Kampfsituation bleibt jedoch weiterhin als Teil seiner Lebenswirklichkeit bestehen.558 In dieser Situation hat der getaufte Gläubige in den Dienst für Gott einzutreten, indem er seine Glieder als Waffen der Gerechtigkeit Gott überlässt. Der Imperativ παραστήσατε κτλ. heißt hier also, dass der Gläubige mit seinem Leib durch sein Handeln Gerechtigkeit durchsetzen soll. Der Genitiv δικαιοσύνης ist in diesem Textzusammenhang am besten als gen. quali. aufzulösen.559 Dieser gibt an, in welche Richtung, auf welches Ziel hin der menschliche Leib in seinem Handeln ausgerichtet sein soll. 3.

Der Stand der christlichen Gläubigen: „Nicht unter dem Gesetz, sondern unter der Gnade“ (6,14)

Auf die paränetischen Weisungen in V 12f folgt in V 14 wiederum eine indikativische Feststellung über das Sein der christlichen Gläubigen. Die Interpretation dieser Feststellung bereitet einige Schwierigkeiten. Auf den ersten Blick klingt die Aussage, die Sünde werde über die christlichen Adressaten nicht herrschen (ἁμαρτία γὰρ ὑμῶν οὐ κυριεύσει)560 , gewissermaßen wie ein logischer Widerspruch zum Aufruf in V 12, welcher grundsätzlich die Möglichkeit des Sündigens der Glaubenden voraussetzt.561 Wenn die Sünde, wie Paulus jetzt feststellt, nicht mehr über die Glaubenden herrschen wird, warum sollten sie ihr dann noch etwas entgegenhalten müssen? Klar ist, wie eben gezeigt wurde, dass man die Aussage von V 14 nicht logisch nachvollziehen kann, wenn man sie immer noch im selben argumentativen Zusammenhang mit den vorangegangenen ethischen Aufforderungen, nicht in der Sünde zu bleiben, erklären will. Darüber hinaus würde die Interpretation wohl noch weiter dadurch erschwert, wenn man Paulus’ Aussage im Lichte der Lebenswirklichkeit der Christen läse, in der sie tatsächlich der Sünde kaum gänzlich entrinnen können. Meines Erachtens lässt sich diese Aussage allein so verstehen, dass Paulus die Seinsweise der Christen als vom Herrschaftsbereich der Sünde radikal getrennt aussagen will. Mit dieser Feststellung von V 14, welche die gegenwärtige und zukünftige Freiheit der Christen von der Herrschaft der Sünde betont, will Paulus

558 Vgl. Michel, Römer, 209; Schlier, Römer, 203. 559 So auch Kuss, Römer, 384. Wenn man aber den jeweiligen Genitiv nur adjektivisch mit „ungerechte bzw. gerechte“ Waffen wiedergibt, ist das eine Fehlübersetzung (vgl. Du Toit, Dikaiosyne, 273). 560 Das Futur κυριεύσει ist nicht als „verdeckter Imperativ“ zu verstehen, da es keine Dublette zur in V 12 im Imperativ formulierten Aufforderung darstellt. Das Futur drückt vielmehr einen Sachverhalt aus, der in die Zukunft hinein fortdauert (mit Wolter, Römer I, 392). 561 Vgl. Lietzmann, Römer, 70; Käsemann, Römer, 170.

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also die zuvor vorgebrachten Erklärungen über ihre neue Existenz weiter vertiefen. Im vorangehenden Abschnitt hatte er bereits die folgenden Aspekte herausgestellt: (1) Die Christen sind der Sünde abgestorben bzw. ihre alte, im Dienst der Sünde stehende Existenzweise ist zum Ende gekommen (V 2-6). (2) Die Gläubigen, die in den Tod Christi hinein getauft worden sind, sind durch ihren Glauben an Christus in den Zustand der Gerechtigkeit versetzt worden (V 7). (3) Wie Christus der Sünde gestorben ist, so sind dies auch die Glaubenden und sollen ein neues Leben für Gott führen (V 8-11). Die Feststellung von V 14a ist mit diesen den Wechsel der Existenz der Christen illustrierenden Seins-Aussagen verknüpft und ausgehend von diesem Sachzusammenhang zu interpretieren. Mit der Feststellung „die Sünde wird nicht über die Getauften herrschen“ meint Paulus also nicht, dass die Christen vom Sündigen völlig frei sein werden, sondern er will den gegenwärtigen, heilvollen Zustand der christlichen Existenz betonen, der durch ihren Glauben an Christus und ihre Taufe herbeigeführt worden ist. Dieser Zustand, durch den der Anspruch bzw. die Herrschaft der Sünde abgetan worden ist, besteht fortwährend. Die Feststellung von V 14a ist somit nicht zwingend als logischer Widerspruch zum davorstehenden Imperativ in V 12 zu sehen. Sie legt vielmehr die Grundlage für die Aufforderungen in den folgenden Versen, wie es auch die anderen indikativischen Aussagen in Röm 6 tun.562 Weshalb kommt die Sündenherrschaft für die Glaubenden zum Ende? Der Grund wird im mit γάρ eingeleiteten Satz erläutert. Die Glaubenden, die in Christus hinein getauft worden sind, sind nämlich nicht mehr „unter dem Gesetz, sondern unter der Gnade (οὐ γάρ ἐστε ὑπὸ νόμον ἀλλὰ ὑπὸ χάριν)“. Nicht unter dem Gesetz zu sein heißt, dass das Leben der Christen nicht mehr durch das Gesetz bestimmt wird. Die vom Gesetz vorgeschriebene Lebensweise wird durch eine andere Lebensweise ersetzt, welche ganz und gar von der gunstvollen Zuneigung Gottes durchzogen ist. Dieses Befreitsein vom Gesetz bezüglich der christlichen Existenz und Lebensweise betont Paulus auch an anderen Stellen (vgl. 7,1f; 8,1f; 10,4; Gal 2,17f; 3,10f). Das Gesetz, das den Menschen Gerechtigkeit und Leben nicht verschaffen konnte, wird ersetzt durch den Geist Gottes als der neuen Grundlage der Lebensweise der Glaubenden (7,1f; 8,1f). Durch den Glauben an Christus haben die Christen den Geist Gottes empfangen (Gal 3,1f). Der Empfang des Geistes und der fortwährende Antrieb durch den Geist bestimmt die Lebensweise der Christen völlig neu. Sie sind frei geworden von der Verpflichtung zur Befolgung des Gesetzes; und doch erfüllen sie aufgrund der Führung durch den Geist die Gerechtigkeit (8,1f). Dieses Befreitsein der Glaubenden von der Tora, welches durch den Glauben und den Empfang des Geistes zustande

562 Vgl. Lohse, Römer, 197; Wolter, Römer I, 392.

Die neue Lebenseinstellung der Christen: Röm 6,12-23

kommt, ist nach Paulus der Grund dafür, dass die Glaubenden sich nicht mehr im von der Sünde beherrschten Zustand befinden.563 4.

Die neue Lebenseinstellung der Christen: Leben als „Sklaven der Gerechtigkeit“ (6,15-23)

4.1

Die einleitende rhetorische Frage in V 15 und die Argumentation in V 16

Das im Vorangegangenen beschriebene Befinden, das Nicht-unter-dem-Gesetzsondern-unter-der-Gnade-Sein darf der Christ nicht als eine Gelegenheit zu sündigen ausnutzen. Dies wird durch die rhetorische Frage und ihre Verneinung in V 15 unterstrichen. Dieser Argumentationsgang ist im Hinblick auf seinen Stil und Sinngehalt mit 5,20–6,2 im Wesentlichen identisch und bringt im Grunde dasselbe Argument. Wie dort stellt Paulus hier nach dem Hinweis auf die das Leben der christlichen Gläubigen bestimmende Gnade Gottes die Behauptung auf, dass sie nunmehr nicht als Sklaven der Sünde leben sollen, indem sie weiter sündigen. Gott hat die Glaubenden nicht zu einem sündigen Leben in den Gnadenstand versetzt, sondern für das Gegenteil: die Christen sollen ihrer Berufung entsprechend ihr Leben an der Gerechtigkeit ausrichten. Im zweiten großen Hauptteil des Kapitels 6, den Versen 15-23, wird gerade diese Aufforderung entfaltet und dabei werden besonders die unterschiedlichen Folgen der unterschiedlichen Dienstweisen – unter der Sünde und unter der Gerechtigkeit – betont herausgestellt. Paulus führt aber immer noch keine konkreten Weisungen an, sondern illustriert eher in deskriptivem Stil die Ausrichtung, die die christliche Lebensführung vorweisen soll. In 16a legt Paulus zunächst ein Grundwissen über das Herr-Sklave-Verhältnis vor; er erläutert nämlich, dass, wenn man sich jemandem als Sklave zum Gehorsam hingibt, man ihm als dessen Sklave auch zum Gehorsam verpflichtet ist (ᾧ παριστάνετε ἑαυτοὺς δούλους εἰς ὑπακοήν, δοῦλοί ἐστε ᾧ ὑπακούετε). Danach kommt es Paulus aber nicht darauf an, weiter über das Sklavenverhältnis der Christen zu reden, vielmehr spricht er relativ unvermittelt von den unterschiedlichen Ergehensweisen auf Unheils- und Heilsseite, welche jede Dienstweise – entweder der Sünde oder des Gehorsams – folgerichtig herbeiführt: Der Dienst unter der Sünde führt zum Tod, der Dienst in Gehorsam aber zur Gerechtigkeit (ἤτοι ἁμαρτίας εἰς

563 Einige Aussagen zum Gesetz, mit denen Paulus erklärt, dass das Gesetz Grundlage für die Macht und Wirkung der Sünde ist, können zum Verständnis der in 6,14 vorliegenden Argumentation beitragen. Im Hinblick auf den Gegensatz von νόμος und χάρις ist besonders Röm 4,14f zu beachten, wo Paulus beschreibt, was negativ aus der Bindung der Erbverheißung an das Tun des Gesetzes folgen würde.

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θάνατον ἢ ὑπακοῆς εἰς δικαιοσύνην).564 θάνατος ist hierbei nicht als natürlicher

Tod, sondern als der eschatische Tod im Zusammenhang mit dem Gerichtsurteil Gottes zu verstehen.565 Soweit ist die Folge des Lebens in der Sünde klar, wie Paulus es in V 23 nochmals deutlich macht (vgl. auch 5,12.15.17.21). Die Gegenüberstellung von θάνατος und δικαιοσύνη macht hierbei deutlich, dass δικαιοσύνη dem die Unheilsfolge bezeichnenden Tod gegenüber eben die Heilsfolge bezeichnet.566 δικαιοσύνη an dieser Stelle hat darum eine andere Bedeutung als in V 13, wo sie als Gegenbegriff zu ἀδικία die positive menschliche Tatsphäre umschreibt. Mit δικαιοσύνη ist hier offenbar nicht von der Gerechtigkeit als ethischer Kategorie die Rede, sondern von der Folge, welche der Dienst in Gehorsam mit sich bringt. Die δικαιοσύνη-Wendung in 6,16 ist somit in die Linie des Gebrauchs in 5,17.21; 9, 9,30; 10,4.10 einzuordnen, wobei mit dem Begriff der Heilsstand des Menschen gemeint ist. Wenn man so will, kann man der Formulierung von 6,22-23 entsprechend nach δικαιοσύνη den Genitiv ζωῆς oder den präpositionalen Ausdruck εἰς ζωήν ergänzen (vgl. 5,18.21), damit sich in antithetischer Gegenüberstellung beide Seiten, die des Todes (Unheil) und die des Lebens (Heil), entsprechen. Auf syntaktischer Ebene ist noch auffällig, dass die Formulierung δοῦλοι ὑπακοῆς der Wendung δοῦλοι ἁμαρτίας gegenübergestellt ist.567 Mit δοῦλοι ἁμαρτίας charakterisiert Paulus zweifellos die menschliche Existenz auf der negativen Seite, welche ihm gemäß für jeden Gläubigen der Vergangenheit angehört und damit als hinfällig abgetan werden soll. Mit den Worten aus 6,12-13 kann man das Leben als Sklave der Sünde folgendermaßen darstellen: Es ist ein Leben, in welchem der Mensch von Begierde getrieben ist und seine Glieder dafür hingibt, Sünden zu begehen. Als das entsprechende Gegenüber von δοῦλοι ἁμαρτίας wäre vielleicht

564 Zu den elliptischen Genitivformulierungen ἁμαρτίας und ὑπακοῆς ist aus dem Kontext jeweils δοῦλοί zu ergänzen. In der Tat kommt der Ausdruck δοῦλοι τῆς ἁμαρτίας in V 17.20 vor. Vgl. Schlier, Römer, 206; Wolter, Römer I, 395, Anm. 42. 565 Vgl. Michel, Römer, 211; Wolter, Römer I, 395. 566 Viele verstehen m. E. die referenzielle Semantik der δικαιοσύνη nicht richtig, wenn sie den Begriff im Deutungsrahmen der Rechtfertigungslehre interpretieren und ihn damit in Einklang mit der im Glauben zugeteilten Gerechtigkeit zu bringen versuchen (vgl. Michel, Römer, 211f; Käsemann, Römer, 171f; Wolter, Römer I, 395f). Bei der Wendung δικαιοσύνη geht es vielmehr um die Gerechtigkeit, welche die gehorsame, der Sünde entgegengesetzte Lebensführung mit sich bringt. Man darf also die δικαιοσύνη nicht auf den eschatologischen Spruch Gottes hindeuten (gegen Michel, Römer, 211), denn sie kann sich auch auf den Stand der Gerechtigkeit beziehen, welchen diejenigen, die den Dienst im Gehorsam ausüben, schon in ihrer Gegenwart erreichen. Unzutreffend ist auch die Interpretation als ethische Tugend (so aber Du Toit, Dikaiosyne, 345). 567 Vgl. Schlier, Römer, 206; Wolter, Römer I, 395.

Die neue Lebenseinstellung der Christen: Röm 6,12-23

δοῦλοι δικαιοσύνης oder δοῦλοι τοῦ θεοῦ passender (vgl. V 18f)568 – geschrieben

steht aber δοῦλοι ὑπακοῆς. Was mit ὑπακοή hier gemeint ist, lässt sich wegen der verschiedenen möglichen Kontextbezüge nicht leicht entscheiden. Wenn man den Ausdruck δοῦλοι ὑπακοῆς von den bisherigen antithetischen Ausführungen vom Sklavendienst gegenüber der Sünde bzw. gegenüber der Gerechtigkeit her liest, besonders mit Bezug auf die Aufforderung in V 12f, dann ist der Gehorsam als eine Umschreibung für die Handlungsweise des Menschen aufzufassen, die mit dem Willen Gottes in Einklang steht. Der Ausdruck δοῦλοι ὑπακοῆς bezeichnet dann diejenigen, die in diesem Sinne handeln. Daneben gibt es noch eine andere Verständnismöglichkeit, bei der der Begriff ὑπακοή im Zusammenhang mit der Aussage ὑπηκούσατε δὲ ἐκ καρδίας in V 17 interpretiert wird. Dann meint ὑπακοή den Glaubensgehorsam der Glaubenden im Sinne, dass sie die Verkündigung bzw. Lehre des Paulus angenommen haben.569 Die Christen, welche dieser Lehre folgend auf Jesus Christus vertrauen, charakterisiert Paulus mit dem Ausdruck δοῦλοι ὑπακοῆς. Für diese Deutungsmöglichkeit spricht die häufig bei Paulus anzutreffende Verwendungsweise des Begriffs ὑπακοή im Sinne des Glaubensgehorsams (vgl. 1,5; 15,18; 16,19.26; 2Kor 10,5f). Aufgrund des unmittelbaren Kontextes, besonders des Gegenübers zu ἁμαρτία, ist dennoch die erste Interpretationsmöglichkeit zu präferieren.570 Der Begriff ὑπακοή steht als Beschreibung der positiven Lebensweise ἁμαρτία gegenüber und erhält somit eine ethische Färbung. Von der syntaktischen Struktur her ist jedenfalls klar, dass die Entscheidung, in welcher Weise ὑπακοή zu verstehen ist, gar nicht die semantische Bestimmung von δικαιοσύνη beeinflussen kann. Denn das semantische Profil von δικαιοσύνη ist unabhängig vom Verständnis von ὑπακοή; von Bedeutung ist im Fall von V 16 allein die Gegenüberstellung zu θάνατος. Aufgrund dieser Stellung zu θάνατος kann δικαιοσύνη als Heilsbegriff verstanden werden.

568 So Lohse auch: „Eigentlich wäre zu erwarten gewesen, daß es geheißen hätte: ἤτοι ἁμαρτίας εἰς θάνατον ἢ δικαιοσύνης εἰς ζωήν.“ (Römer, 200). In diesem zu erwartenden Satz ist besonders zu beachten, dass δικαιοσύνη dann aber nicht mehr als Heilsbegriff, sondern als Gegensatz zu ἁμαρτία als ethische Kategorie zu verstehen ist. 569 So z. B. Schlier, Römer, 207; Wolter, Römer I, 395f. 570 Vgl. Schlier, Römer, 207.

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4.2

Der Wechsel des Dienstverhältnisses: „Ihr seid zu Sklaven der Gerechtigkeit geworden“ (V 17-18)

Der Vers 17 beginnt mit einer Danksagung an Gott, welche einen deutlichen Einschnitt markiert: „χάρις δὲ τῷ θεῷ“.571 Diese Danksagung reicht bis V 18, wo die Folge des in V 17 Gesagten genannt wird. V 17 und V 18 stehen somit in einem argumentativen Zusammenhang.572 Paulus dankt Gott, weil seine Adressaten „der ihnen übergebenen Lehre Gehorsam erwiesen haben“ und damit „von der Sünde befreit, zu Sklaven der Gerechtigkeit geworden sind“. Die Adressaten in Rom, die jetzt zum Christusglauben gekommen sind, waren (ἦτε) Paulus’ Begrifflichkeit zufolge „Sklaven der Sünde (δοῦλοι τῆς ἁμαρτίας)“. Sie haben also in Sünde gelebt, weit entfernt von einem sittlichen Leben. Mit den Worten von V 13 gesagt: „Sie haben ihre Glieder als Waffen der Ungerechtigkeit der Sünde zur Verfügung gestellt.“ Diesem vormaligen Leben gegenüber sind sie jetzt zu „Sklaven der Gerechtigkeit“ geworden (oder in den Dienst der Gerechtigkeit gestellt worden) dadurch, dass sie der ihnen übergebenen Lehre gehorsam geworden sind. τύπος διδαχῆς kann dem üblichen Sprachgebrauch von τύπος entsprechend als eine bestimmte Form bzw. Gestalt der Lehre – nämlich die des Paulus – verstanden werden; also als Begriff für das, was die paulinische Lehre beinhaltet.573 Es bezeichnet im vorliegenden Kontext offensichtlich die Botschaft bzw. Lehre über das durch Christus bewirkte Heil und über die christliche Lebensweise574 , die den Gläubigen in Rom vermittelt worden ist. ὑπακούειν εἴς τινα bedeutet üblicherweise „etwas

571 Diese Formulierung findet sich in der griechischen Bibel nur bei Paulus. Eine solche Danksagung begegnet bei Paulus öfters (vgl. Röm 7,25; 1Kor 15,57; 2Kor 2,14; 8,16; 9,15) und zwar häufig im Zusammenhang mit dem Bekehrungsgeschehen. Vgl. Schlier, Römer, 207; Wolter, Römer I, 396. 572 Bultmanns These, dass V 17b eine spätere Glosse sei (Glossen, 202), ist nicht mehr stichhaltig, wie viele Exegeten schon vorgebracht haben. Der Satz schließt sich gut an V 16 an und gibt den entscheidenden Grund an, wodurch die Befreiung der christlichen Adressaten von der Sünde geschehen ist. Das anderweitige Fehlen der Ausdrücke ἐκ καρδίας und τύπον διδαχῆς kann kein Anhaltspunkt für Bultmanns These sein (vgl. Kuss, Römer, 388; Schlier, Römer, 209f; Wilckens, Römer II, 35; Käsemann, Römer, 171; Lohse, Römer, 200). 573 Zum Sprachgebrauch des Begriffs τύπος und dessen Bedeutung vgl. BAA, s.v.; Spicq, s.v.; Wolter, Römer I, 398. 574 Die meisten Exegeten sind der Ansicht, dass τύπος διδαχῆς die Christus-Botschaft meint (vgl. Käsemann, Römer, 173; Lohse, Römer, 201; Wolter, Römer I, 396 u. a.). Wenn man die Aussage ὑπηκούσατε δὲ ἐκ καρδίας εἰς ὃν παρεδόθητε τύπον διδαχῆς im Textzusammenhang liest, in dem besonders stark auf die ethische Lebensführung der Glaubenden eingegangen wird, dann kann τύπος διδαχῆς über die Rechtfertigungslehre hinaus auch auf die Lebensgestaltung der Glaubenden verweisen. Die Annahme, dass mit τύπος διδαχῆς ein Katechismus, der bei der Taufe abgelegt wurde, gemeint sei, ist im vorliegenden Text nicht nachzuweisen (so aber Kertelge, Rechtfertigung, 270; Käsemann, Römer, 173f; Bornkamm, Taufe, 48; Du Toit, Dikaiosyne, 322; Schlier, Römer, 209; Lohse, Römer, 201).

Die neue Lebenseinstellung der Christen: Röm 6,12-23

annehmen“, „etwas Folge leisten“, oder „sich auf etwas einlassen“.575 Im vorliegenden Kontext bezeichnet die Formulierung in Verbindung mit τύπον διδαχῆς nichts anderes als den Glaubensvorgang der christlichen Adressaten, in dem sie die ihnen vermittelte Lehre aufgenommen und ihr Folge geleistet haben (vgl. Röm 10,16; 2Thess 1,8; 3,14). Wie oben erwähnt, gebraucht Paulus ὑπακοή auch häufig gerade in diesem Sinne (vgl. Röm 1,5; 15,18; 16,19.26; 2Kor 10,5). Ihm zufolge ist eben der Gehorsam gegenüber der christlichen Lehre im Glauben „aus dem Herzen (ἐκ καρδίας)“576 derjenige Grund, der den Adressaten den Dienstwechsel von der Sklaverei der Sünde zur Sklaverei der Gerechtigkeit ermöglicht hat. Die argumentative Funktion von V 18 ist besonders beachtenswert, denn dieser Vers beschreibt wiederum indikativisch die gegenwärtige Existenzweise der christlichen Adressaten. Paulus gibt damit die Grundlage für den folgenden ethischen Imperativ von V 19 an. Die ethischen Aufforderungen werden in Röm 6 auf der Basis der immer wieder angeführten indikativischen Feststellungen der neuen christlichen Existenzweise ausgesprochen, so wie es bereits in den Argumentationsgängen der Verse 1-14 (V 2 (ἀπεθάνομεν τῇ ἁμαρτίᾳ), V 7 (δεδικαίωται ἀπὸ τῆς ἁμαρτίας) und V 14 (οὐ γάρ ἐστε ὑπὸ νόμον ἀλλὰ ὑπὸ χάριν)) zu beobachten war. Bei der vorliegenden Beschreibung des christlichen Seins in V 18 wird die Sklavenmetaphorik aus V 16 wieder aufgenommen und weitergeführt. Die hier zuerst neu begegnende Wendung ἐλευθεροῦσθαι ἀπό ist im Zusammenhang mit dieser Sklavenmetaphorik zu verstehen.577 Diese Formulierung bezeichnet hier also das Befreiungsgeschehen vom Sklavendienst unter der Sünde, das heißt den Abbruch des vergangenen Lebens, für welches die Sünde konstitutiv war. Diese Befreiungsaussage geht angesichts ihrer Semantik und ihres unmittelbaren Kontextes eindeutig über die Vergebung der Sünden bzw. den Freispruch von den 575 ὑπακούειν und εἰς gehören zusammen als ein Ausdruck, die Präposition εἰς ist nicht von παρεδόθητε abhängig. ὃν παρεδόθητε ist als attributiver Relativsatz zu τύπον διδαχῆς zu verstehen. Zu dieser Interpretation der Satzstruktur vgl. Wolter, Römer I, 397. Das geläufige Verständnis „ihr wurdet der Lehre übergeben“ ist an die vorliegende syntaktische Struktur nicht anschlussfähig. Es wäre besser, „die Lehre wurde den Adressaten übergeben“ zu lesen (vgl. Wolter, Römer I, 397f). 576 Der Ausdruck ἐκ καρδίας findet sich im Neuen Testament noch in 1Petr 1,22. Ähnliche Ausdrücke mit καρδία sind allerdings häufig im Neuen Testament belegt (vgl. 1Tim 1,5; 2Tim 2,22); diese sind offensichtlich vom Sprachgebrauch im Alten Testament abhängig (vgl. DtnLXX 4,29; 6,5; 10,12; 30,2.10; 2ChrLXX 15,12; JoelLXX 2,12; JerLXX 3,10). In Röm 10,9f beschreibt Paulus den Glauben, das Vertrauen ausdrücklich als einen Vollzug des Herzens (… καὶ πιστεύσῃς ἐν τῇ καρδίᾳ σου … καρδίᾳ γὰρ πιστεύεται εἰς δικαιοσύνην …). Wie in Röm 10 legt Paulus hier mit dem Ausdruck ἐκ καρδίας dar, dass sich das Glaubensgeschehen in der innerlichen Mitte der Person vollzieht (vgl. Schlier, Römer, 208). 577 Die metaphorischen Wendungen Sklavendienst und Befreiung in Röm 6 können auf die Exoduserzählung zurückgeführt werden. In der Exoduserzählung geht es um den Wechsel des Dienstherrn, vom Pharao zu JHWH, dem allein Israel dienen soll (Ex 3,12; 6,6; 14,5; Dtn 5,9; Dtn 6,12f). Vgl. Siikavirta, Baptism, 138ff.

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Die Gerechtigkeitsaussagen im Römerbrief

Sünden hinaus. Die Aussage ἐλευθερωθέντες δὲ ἀπὸ τῆς ἁμαρτίας steht somit in einer semantischen Linie mit den Formulierungen des Der-Sünde-Sterbens in 6,2, des Gekreuzigt-Werdens des alten Menschen und der Vernichtung des Leibes der Sünde in 6,6, welche allesamt die wesentliche Wende in der Existenz der Gläubigen bezeichnen.578 Die Befreiung von der Sünde bedeutet jedoch keinen Eintritt in die vollständige Unabhängigkeit von der Möglichkeit des Sündigens. Die Befreiung vom Sklavendienst unter der Sünde geht vielmehr mit einem Wechsel zu einem neuen Dienstverhältnis einher. V 18b drückt nun aus, in welchen neuen Dienst die Glaubenden, die in Christus hinein Getauften, eingetreten sind. Der passive Aorist ἐδουλώθητε τῇ δικαιοσύνῃ bezeichnet ein bereits abgeschlossenes Geschehen, nämlich dass die in Christus Getauften in den Dienst der Gerechtigkeit versetzt worden sind. Wenn man Gott als das logische Subjekt dieses Geschehens annimmt, dann kann man dies aktivisch folgendermaßen umformulieren: Gott hat die Glaubenden zum Dienst der Gerechtigkeit berufen. Die metaphorische Redewendung ἐδουλώθητε τῇ δικαιοσύνῃ macht von ihrem Sinngehalt her deutlich, dass diese Aussage nicht bloß meint, dass die Glaubenden im forensischen Sinne zu Gerechten erklärt worden sind. Sie beschreibt also nicht bloß ein verändertes Urteil Gottes und den damit einhergehenden Statuswechsel vom Sünder zum Gerechten, sondern die Wende der gesamten Existenz derjenigen, die zum Christusglauben gekommen sind; sie waren Sklaven der Sünde, sind jetzt aber Sklaven der Gerechtigkeit. Somit sind sie verpflichtet, durch Taten der Gerechtigkeit Gott zu dienen (V 19). Wenn Paulus diesen Anspruch mithilfe der Metaphorik von Sklavendienst und Befreiung formuliert, kommt es ihm auf die Frage an, wovon das Leben der Glaubenden bestimmt wird, entweder von der Sünde oder von der Gerechtigkeit. Die Formulierung ἐδουλώθητε τῇ δικαιοσύνῃ hängt in diesem Sinne mit der Aussage vom Lebenswandel in Neuheit in V 4 und V 11 zusammen. Das Leben als Sklave der Gerechtigkeit bedeutet nichts anderes als das Leben für Gott (vgl. den Begriffswechsel zwischen τῇ δικαιοσύνῃ und τῷ θεῷ in V 19 und V 22); es besteht im Konkreten darin, dass die Menschen ihre Glieder als Waffen der Gerechtigkeit übergeben (V 13), oder wie Paulus in V 19 formuliert: dass sie ihre Glieder als Sklaven in den Dienst der Gerechtigkeit stellen. Man sieht anhand dieser Sklavenmetaphorik, dass Paulus δικαιοσύνη wiederum gegenüber ἁμαρτία als eine personifizierte Größe darstellt, zu der der Mensch in einem Dienstverhältnis steht. Mit dieser metaphorischen Redeweise tritt in den Begriffen δικαιοσύνη und ἁμαρτία eine hegemoniale Verhältnisbestimmung des Menschen in den Vordergrund, die sich in seinem Handeln niederschlägt.579 578 So auch Schlier, Römer, 207. 579 Die Verwendungsweise von δικαιοσύνη und ἁμαρτία und ihre antithetische Gegenüberstellung sind mit denen von δικαιοσύνη und ἀνομία in 2Kor 6,14 vergleichbar. Mit diesem Gegensatzpaar

Die neue Lebenseinstellung der Christen: Röm 6,12-23

Man darf jedoch von dieser Metaphorik her nicht ohne Weiteres δικαιοσύνη und ἁμαρτία als überindividuelle, kosmische Mächte interpretieren. Denn wie die paulinischen Formulierungen in unserem Text zeigen, kann der Mensch sich in der Tat zwischen dem Dienst unter der Sünde und dem Dienst unter der Gerechtigkeit entscheiden (vgl. V 12-13). Wenn aber δικαιοσύνη als Macht zu verstehen wäre, warum sollten die Glaubenden dann zu einer solchen Entscheidung aufgefordert werden – wenn sie sich doch ganz unweigerlich im entsprechenden Machtbereich befänden? Paulus gebraucht diese metaphorischen Formulierungen (δοῦλος εἶναι, δουλοῦσθαι), um zwei konträre menschliche Lebensweisen, die auf einer Entscheidung des einzelnen Menschen beruhen, zu veranschaulichen. 4.3

Der Dienst der Gläubigen an der Gerechtigkeit und ihre Heiligkeit und Teilhabe am ewigen Leben (V 19-23)

4.3.1

Die zweite Paränese: „Stellt jetzt eure Glieder in den Dienst der Gerechtigkeit“ (V 19)

Nachdem Paulus auf den gegenwärtigen Zustand der Adressaten hingewiesen hat (V 18), schließt er noch eine Paränese im Blick auf ihren neuen Lebenswandel an, der diesem neuen Zustand entsprechen soll. Er tut dies diesmal aber mit einem konkreten Hinweis auf die Lebensweise der Adressaten in der Vergangenheit, indem er diese zunächst daran erinnert, wie ihr Leben war, als sie noch als „Sklaven der Sünde“ (V 20) lebten. Den neuen Einschnitt markiert hier die auffällige Wendung ἀνθρώπινον λέγω διὰ τὴν ἀσθένειαν τῆς σαρκὸς ὑμῶν. Paulus verwendet den Ausdruck ἀνθρώπινον λέγω, wenn er ein Bild aus dem Menschenleben als Beispiel heranzieht und damit den Lesern sein Argument, bei dem es etwa um die göttliche Wirklichkeit geht, begreiflich machen will (vgl. Röm 3,5; 1Kor 9,8; Gal 3,15).580

charakterisiert Paulus dort die jeweilige Identität bzw. Zugehörigkeit der Gläubigen und Ungläubigen. Hiermit tritt, wie in Röm 6,13.18.19, die ethische Weisung in den Vordergrund, dass die Gläubigen ihr Leben entsprechend ihrer neu gewonnenen Identität führen sollen. Hierbei ist ein Machtverhältnis, das vom mit δικαιοσύνη bzw. ἁμαρτία Bezeichneten ausginge, gar kein Thema. Man könnte unter Umständen aus der Antithese zwischen Christus und Belial oder zwischen Gott und Satan (vgl. 1Kor 5,5; 7,5; 2Kor 2,11; 6,15; 11,14.15; 12,7; 1Thess 2,18) das paulinische Verständnis eines Machtverhältnisses zwischen Gott und entgegenstehenden Mächten ableiten, aber nicht aus dieser Stelle. 580 Zur Bedeutung und Funktion der Redewendung ἀνθρώπινον λέγω vgl. Bjerkelund, Nach menschlicher Weise, 81ff. Die mit ἀνθρώπινον λέγω verbundene Wendung ἀσθένεια τῆς σαρκός kann zunächst in weiterem Sinne so aufgefasst werden, dass sie die anthropologische Grundbefindlichkeit ausdrückt, dass die Menschen wegen ihrer Fleischlichkeit mehreren Schwächen beim Verstehen und Handeln unterworfen sind. Im vorliegenden Kontext von 6,19 wäre die Deutung „Anfechtung des Christen durch die Regungen des Fleisches“ von Käsemann, Römer, 174 eine übertriebene Interpretation. ἀσθένεια τῆς σαρκός bezeichnet vielmehr „das begrenzte Fassungsvermögen des

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Die Gerechtigkeitsaussagen im Römerbrief

Die christlichen Adressaten haben vor ihrer Bekehrung „ihre Glieder in den Sklavendienst der Unreinheit und der Gesetzlosigkeit gestellt“ und ihr Leben so als ein gesetzloses geführt (παρεστήσατε τὰ μέλη ὑμῶν δοῦλα τῇ ἀκαθαρσίᾳ καὶ τῇ ἀνομίᾳ εἰς τὴν ἀνομίαν).581 Anders, mit den Worten von V 20, gesagt: „Sie hatten mit der Gerechtigkeit nichts zu schaffen.“582 Der Lebenswandel der Christen als „Sklaven der Gerechtigkeit“ soll sich deutlich unterscheiden von diesem Lebenswandel vor der Bekehrung. Diesen Aufruf formuliert Paulus in Entsprechung zur Formulierung der vormaligen Lebensweise (παρεστήσατε τὰ μέλη ὑμῶν δοῦλα τῇ ἀκαθαρσίᾳ καὶ τῇ ἀνομίᾳ εἰς τὴν ἀνομίαν) folgendermaßen: „παραστήσατε τὰ μέλη ὑμῶν δοῦλα τῇ δικαιοσύνῃ εἰς ἁγιασμόν.“ Während der Beginn der beiden Formulierungen sich gleicht, zeigt deren Fortsetzung eine deutliche antithetische Gegenüberstellung der vergangenen und der gegenwärtigen Lebensweise. δικαιοσύνη steht hier als Bezeichnung dessen, in wessen Dienst die Christen sich nun stellen sollen, ἀκαθαρσία und ἀνομία583 als negativen Bestimmungen ihres vormaligen Lebenswandels gegenüber. Sind ἀκαθαρσία und ἀνομία bezogen auf die einstige Lebensweise und δικαιοσύνη bezogen auf die neue Lebensweise – jeweils als Dienstherr – angegeben, handelt es sich dabei offenbar um eine „metaphorische Personifikation“584 , die die jeweilige ethische Kategorie als handelnde Größe darstellt. Die an die Dienstweisen angehängten εἰς-Ausdrücke bringen die jeweilige Ergehensfolge zum Ausdruck; dem Ausdruck εἰς τὴν ἀνομίαν, der die Folge des negativen Dienstes unter der Sünde zur Sprache bringt, steht die Wendung εἰς ἁγιασμόν als Ergehensfolge des positiven Lebenswandels gegenüber. Anhand der antithetischen Darstellung der umgebenden Verse ist zum Ausdruck εἰς τὴν ἀνομίαν

581 582 583

584

Begreifens“ (Lohse, Römer, 201) von Menschen, die im Fleisch leben. In diese Richtung auch viele andere, vgl. Michel, Römer, 213f; Wilckens, Römer II, 37f; Schlier, Römer, 210; Moo, Romans, 401f; Haacker, Römer, 164; Wolter, Römer I, 399. Für solch einen Verweis auf die menschlichen Schwächen gibt es in 1Kor 2,10f eine interessante Parallele. Das einstige Leben der Glaubenden wird mit demselben metaphorischen Ausdruck aus V 13 (παριστάνειν τὰ μέλη + Dativ) beschrieben. Lohse, Römer, 203. Viele Exegeten weisen zu Recht darauf hin, dass traditionsgeschichtlich die Verwendung der Begriffe ἀκαθαρσία und ἀνομία im Alten Testament ihren Ursprung hat. Die Kombination der beiden Worte findet sich so schon in der LXX häufig und bezeichnet „alle möglichen Übertretungen von Gottes Weisung, die Heillosigkeit und Gottesferne begründen“. (Wolter, Romans I, 399f): DtnLXX  31,29; KlglLXX  1,8f; MiLXX  2,10; NahLXX  3,6; JesLXX  27,9; EzLXX  9,9; 22,5; 39,24; 1/3Esr 1,47. Paulus charakterisiert mit Hilfe dieser Begriffe häufig die einstige Lebensweise der Heiden (vgl. Röm 1,21-32; 1Kor 5,1-6,20; 2Kor 6,14-18). Bei dieser Charakterisierung handelt es sich um eine Verurteilung aus jüdischer Perspektive (vgl. Ep. Arist. 166; 3Makk 2,17; Philo, Leg. All. 2,29; Apg 2,23; 1Kor 9,21). Wolter, Römer I, 399.

Die neue Lebenseinstellung der Christen: Röm 6,12-23

der Begriff θάνατος zu ergänzen, zu εἰς ἁγιασμόν ist ζωὴν αἰώνιον hinzuzufügen. Diese antithetisch gestalteten Beschreibungen der Dienstverhältnisse und ihrer jeweiligen Folgen können wie folgt dargestellt werden:

Dienstherr Folge

Vormalige Lebensweise ἀκαθαρσία und ἀνομία ἀνομία – θάνατος

Gegenwärtige Lebensweise δικαιοσύνη ἁγιασμός – ζωὴ αἰώνιος

Hierbei greift Paulus wieder das antike Bild des Sklavendienstes auf und überträgt es auf die unterschiedlichen Lebensweisen des Menschen. Der Mensch kann seinen Körper entweder zugunsten der Sünde oder zugunsten der Gerechtigkeit einsetzen. Die Existenzweise des Menschen hängt also davon ab, in welchen Dienst er sich selbst stellt, was er mit seinen Gliedern vollzieht. V 19 ist seinem intendierten Gehalt nach im Wesentlichen mit V 13 identisch. Ein Unterschied besteht allerdings darin, dass die antithetische Beschreibung der jeweiligen Lebensweisen in V 13 synchron (entweder-oder), in V 19 dagegen diachron (einst-jetzt) erfolgt.585 Für das Verständnis von δικαιοσύνη in V 19 ist sein antithetisches Verhältnis zu ἀκαθαρσία und ἀνομία entscheidend. δικαιοσύνη wird hierbei in diesem Zusammenhang, wie in V 13.18, als Handlungsbegriff verwendet, nicht als Statusbegriff. Der Präpositionalausdruck εἰς ἁγιασμόν, welcher die Folge des Dienstes der Gerechtigkeit bezeichnet, bestätigt gerade dieses Verständnis. Die Lebensführung im Dienst der Gerechtigkeit schafft die Heiligkeit bei den diesen Dienst Befolgenden, der Dienst der Unreinheit und Gesetzlosigkeit hingegen bewirkt das Gegenteil, nämlich Gesetzlosigkeit. Die beiden Begriffe ἀνομία und ἁγιασμός beziehen sich jeweils auf den Zustand, welchen die Menschen durch ihr Handeln entweder im Dienst der Unreinheit und Gesetzlosigkeit oder im Dienst der Gerechtigkeit erreichen. Somit wird deutlich, dass in V 19 ein semantischer Zusammenhang zwischen der Handlungsweise des Menschen und ihrer Folge vorliegt. Die in V 19 ausdrücklich vorliegende Verbindung der Gerechtigkeit des menschlichen Handelns und der Heiligkeit als ihrer Folge kann demnach nicht bloß als eine von Gott erwirkte Teilhabe an seiner Heiligkeit oder als eine den Glaubenden aufgrund ihres Glaubens schon zuteil gewordene Heiligkeit verstanden werden.586 Wenn man den V 19 in diesem Sinne versteht, kommt es zu einer unpassenden Zuordnung von gerechtem Handeln und Heiligkeit; gemäß dieser Zuordnung wäre allein der Christusglaube als Vorbedingung für das eschatische Heil anzusehen und das Handeln in Gerechtigkeit immer nur als eine sekundäre Sache. Entgegen dieser verbreiteten Deutung kommt es Paulus in V 19 darauf an, dass nicht nur

585 Vgl. Wolter, Römer I, 399. 586 So aber Wilckens, Römer II, 39; Wolter, Römer I, 400; Siikavirta, Baptism, 140ff.

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Die Gerechtigkeitsaussagen im Römerbrief

der Glaube an Christus, sondern auch das menschliche Handeln entscheidend für das Zustandekommen der Heiligkeit und die Erlangung des ewigen Lebens ist (V 22-23).587 4.3.2

Die vergangene und die gegenwärtige Lebensweise der Christen (V 20-22)

V 20 beschreibt im Anschluss an V 19 das Leben der Gläubigen vor ihrer Bekehrung. Diese Vergangenheit wird im Licht der Gegenwart und begrifflich im Rückgriff auf die Sklavenmetaphorik aus den vorangegangenen Versen dargestellt. Die Gläubigen haben in der Vergangenheit ihre Glieder der Sünde hingegeben und so als Sklaven der Sünde (δοῦλοι ἦτε τῆς ἁμαρτίας) gelebt. Sie haben in diesem Modus des Lebensvollzuges die Gerechtigkeit, das Handeln in Gerechtigkeit, überhaupt nicht im Blick. ἐλεύθεροι ἦτε τῇ δικαιοσύνῃ bringt im Zusammenhang mit der Darstellung in V 20a geradezu diesen vormaligen Lebenswandel der Glaubenden zum Ausdruck.588 δικαιοσύνη und ἁμαρτία in V 19 haben in dieser Darstellung der vormaligen Lebensweise eine eindeutig ethische Konnotation, wie ἀκαθαρσία, ἀνομία und auch ihr Gegenbegriff δικαιοσύνη in V 18. Und sie sind allesamt in der Sklavenmetaphorik als personifizierte Größen dargestellt, gegenüber welchen der Mensch in einem Dienstverhältnis steht. δικαιοσύνη in V 20b ist somit eindeutig, wie im voranstehenden Vers 19, immer noch als eine ethische Kategorie zu verstehen, welche sich auf menschliche Handlungen bezieht. Ihre Gegenüberstellung zu ἁμαρτία bestätigt dieses Verständnis.589 Die Fragestellung und deren Antwort in V 21 erklären weiter, in welcher Lebensweise die christlichen Adressaten in Rom sich vormals befanden. Sie vollzogen nach Paulus‘ Beschreibung in ihrer Vergangenheit Handlungen, derer sie sich jetzt schämen590 und deren Folge der Tod ist (τὸ γὰρ τέλος ἐκείνων θάνατος). Jetzt sind 587 Bei Paulus wird der Begriff ἁγιασμός nicht immer mit einer festen Bedeutung verwendet. In 1Kor 1,30 bezeichnet er den neu gewonnenen Stand der Gläubigen, da er hier neben δικαιοσύνη und ἀπολύτρωσις steht. In diesem Sinne spricht Paulus in 1Kor 6,11 auch davon, dass die Glaubenden im Geist Gottes geheiligt worden sind. Aufgrund dessen kann Paulus die Glaubenden auch ἅγιος nennen (Röm 1,7; 8,27; 15,25f; 16,2.15 u.a). Diese Verwendungsweise unterscheidet sich von derjenigen in Röm 6,19, wo mit ἁγιασμός die Ausrichtung des Lebenswandels bezeichnet ist, was eine deutliche ethische Konnotation einschließt. Beide Verwendungsweisen dürfen nicht in der Weise miteinander verknüpft werden, dass die von Paulus in Röm 6,19f geforderte Heiligung als bereits geschenkte Gabe interpretiert wird (vgl. Schäfer, Gegenwart, 157). 588 Die Formulierung ἐλεύθεροι ἦτε τῇ δικαιοσύνῃ kann im Hinblick auf den Textzusammenhang nicht bloß in Bezug auf den früheren Stand der Heidenchristen verstanden werden, sondern bezieht sich auf ihre ehemalige Lebensweise mit ihren Handlungen. 589 Gegen die Position, dass mit δικαιοσύνη die Gerechtigkeit Gottes gemeint sei (vgl. Siikavirta, Baptism, 138ff). 590 Eine vergleichbare Parallele bietet Eph 5,8-14. Die Konstruktion ἐπαισχυνομαι ἐπί ist auch in paganen griechischen Texten belegt (vgl. Isocrates, Panegyr. 77; Ps-Plato, Theages 130c; Chrysipp bei Diogenes Laertius 7,127). Vgl. Wolter, Römer I, 402. Um welche konkreten Handlungen es sich

Die neue Lebenseinstellung der Christen: Röm 6,12-23

sie aber von der Sünde (d. h. vom Sklavendienst unter der Sünde) befreit und in den Dienst Gottes gestellt (V 22). Durch dieses neue Dienstverhältnis gegenüber Gott (also das Leben für Gott, nicht für die Sünde) haben sie folglich in ihrem Leben „die Frucht zur Heiligkeit (καρπὸς εἰς ἁγιασμόν)“. Das heißt, ihre Lebensführung im Dienst Gottes besteht aus Handlungen, die sie zur Heiligkeit führen.591 Und diese sich in den Handlungen der Gläubigen erweisende Heiligkeit sichert ihnen fernerhin das ewige Leben (ὁ δὲ τέλος ζωὴν αἰώνιον). Hierbei wird aus dem Kontext deutlich, dass das Substantiv ἁγιασμός, wie in V 19b, im Sinne des Status des Heiligseins, den die Gläubigen durch ihren Dienst für Gott erreichen sollen, verwendet wird. Die Bedeutung der Aussage καρπὸς εἰς ἁγιασμόν darf man also nicht in der Weise relativieren, dass man sie als von Gott gewirkte Teilhabe an seiner Heiligkeit versteht, die den Gläubigen ganz unabhängig vom eigenen Handeln zugutekäme.592 Hinsichtlich der Ausdrucksebene ist an dieser Darstellung des gegenwärtigen Standes der Adressaten auffällig, dass Paulus statt der Gegenüberstellung von ἁμαρτία und δικαιοσύνη diejenige von ἁμαρτία und θεός anführt: „νυνὶ δὲ ἐλευθερωθέντες ἀπὸ τῆς ἁμαρτίας δουλωθέντες δὲ τῷ θεῷ.“ Diese Gegenüberstellung von ἁμαρτία und θεός wurde bereits ausdrücklich zwischen V 10f und V 13 vorgenommen. Der flexible Begriffswechsel von δικαιοσύνῃ zu θεός oder umgekehrt von θεός zu δικαιοσύνῃ weist auf, dass Paulus δικαιοσύνη nicht als eine der Sündenmacht entgegengesetzte Macht verwendet. Wenn δικαιοσύνη für Paulus so eine notwendig auf die Sünde bezogene Gegenmacht wäre, könnte er hier diesen Wechsel nicht so einfach vornehmen. Dasselbe gilt auch für den Gebrauch von ἁμαρτία. Wie die Gegenüberstellungen von ἀδικία und δικαιοσύνη in V 13 und von ἀκαθαρσία bzw. ἀνομία und δικαιοσύνη in V 19 aufzeigen, ist auch die ἁμαρτία ihrerseits nicht notwendig als eine auf die δικαιοσύνη bezogene Gegenmacht zu

handelt, zu denen die sich jetzt Schämenden gehören, sagt Paulus nicht ausdrücklich. Es lässt sich aber aus Röm 1,19-32, 1Kor 6,9-11 oder Gal 5,19-21 erschließen, wo Paulus sündhaftes Vergehen der Menschen aufzählt. 591 καρπός bezeichnet im übertragenen Sinne „menschlichen Taten und deren Auswirkungen“. (Wolter, Römer I, 402). Diese metaphorische Redeweise geht auf die des Alten Testaments zurück (vgl. Spr 1,31; Jer 12,2; 17,10; Am 6,12; SapSal 3,13.15; EpArist 260; Philo, Fug. 176 u. a.). 592 In V 22 spricht Paulus nicht von einer Teilhabe an Gottes Heiligkeit. ἁγιασμός bezeichnet hier die Heiligkeit, welche die Christen in ihrer dem neuen Status entsprechenden Lebensführung durch ihre Handlungen sichtbar machen. Die Christen sind selbstverständlich diejenigen, die durch den Christusglauben geheiligt worden sind und damit die Eigenschaft Gottes, heilig zu sein, teilen (vgl. 1Kor 1,30; 6,11). Die Erwähnung von ἁγιασμός in 6,22 hat aber eine andere Bedeutungsnuance, nämlich Heiligkeit im Handeln (gegen Wilckens, Römer II, 39; Wolter, Römer I, 403). Aus all dem folgt, dass es eine falsche Interpretation wäre, die in V 22 erwähnte Heiligkeit als eine solche aufzulösen, die durch die den Glaubenden gegebene göttliche Macht δικαιοσύνη sozusagen automatisch erfolgt (so aber Jewett, Romans, 424; Dunn, Romans I, 347).

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verstehen. Offenkundig steht δικαιοσύνη in einer sehr flexiblen Verwendungsweise einmal ἀδικία (V 13) und ein andermal ἀκαθαρσία und ἀνομία (V 19) gegenüber. Paulus weitet so die Bandbreite der antithetischen Begriffe, mit deren Hilfe er die Unterschiede zwischen der früheren und gegenwärtigen Lebensführung der Glaubenden beschreibt. Der Fokus liegt nicht auf einer Darstellung des Machtverhältnisses, in dem die Sünde als kosmische Macht der Gerechtigkeit gegenübersteht, sondern Paulus will durch die variierende Verwendung der jeweiligen antithetischen Begriffe die unterschiedlichen Lebensweisen in Sünde und Gerechtigkeit mit je spezifischer Begrifflichkeit veranschaulichen. Zu beachten ist noch die Aussage, dass die christlichen Adressaten „die Frucht zur Heiligkeit“ schon haben (ἔχετε: Präsens!). Wenn man diese indikativische Aussage in V 22 im Zusammenhang mit dem Imperativ in V 19 liest, nach dem die Adressaten ihre Glieder in den Dienst der Gerechtigkeit stellen sollen, „so dass ihr heilig werdet“, stößt man auf einen logischen Widerspruch. Warum sollte der Christ sich noch bemühen, Heiligkeit zu erlangen, indem er seinen Leib dem Dienst der Gerechtigkeit zur Verfügung stellt, wenn er schon jetzt die Frucht zur Heiligkeit besitzt? Ein ähnliches Problem stellte sich bereits in V 14, wo Paulus unmittelbar an die Aufforderung an die Christen, die Sünde nicht über ihren Leib herrschen zu lassen, sondern die Glieder vielmehr Gott zur Verfügung zu stellen (V 12f), eine indikativische Aussage ἁμαρτία γὰρ ὑμῶν οὐ κυριεύσει anfügt. Es ist aber nicht notwendig, wie beim Verhältnis der indikativischen Aussage über das Sein der Christen in V 14 zu den Imperativen in V 12f, auch beim Verhältnis der Aussage in V 22 über die gegenwärtige Heiligung der Christen von einem logischen Widerspruch zu sprechen, wenn man sich den Sachverhalt vor Augen führt, dass die Christen trotz ihrer jetzigen positiven Lebensweise der Gerechtigkeit und der Heiligkeit immer noch einem möglichen Rückfall in die Sünde ausgesetzt sind. Die christlichen Adressaten, die jetzt von Paulus aufgrund ihrer Handlung sehr positiv bewertet werden, müssen angesichts dieser Gefährdung immer wieder dazu angehalten werden, durch gerechtes Handeln Heiligkeit anzustreben und damit die bereits gelungene Lebensweise aufrechtzuerhalten. 4.3.3

Die Folge des Dienstes für Gott bzw. für Gerechtigkeit: Das ewige Leben in Christus (6,23)

In V 23 bringt Paulus mit einer summarischen Feststellung den bisherigen Gedankengang zu einem Abschluss. Hierbei wird eindeutig noch einmal ausgesprochen, was die beiden unterschiedlichen Lebensweisen entweder in der Sünde oder für Gott zur Folge haben: „Der Lohn der Sünde ist der Tod, die Gnadengabe Gottes aber ist das ewige Leben.“ Was dem Menschen im Eschaton widerfährt, hängt davon ab, wie er in seinem Leben gehandelt hat. Die wie ein lehrhafter Grundsatz klingende Feststellung in V 23 mit einer solchen Bedeutung hat eine paränetische

Die neue Lebenseinstellung der Christen: Röm 6,12-23

Funktion593 , da sie die Leser zu einem Leben in Gerechtigkeit und Heiligkeit anstachelt. Paulus betont hierbei wiederum, dass das Ergebnis des Dienstes an der Sünde nichts anderes als der Tod sein kann.594 Für Paulus besteht somit ein unauflösbarer Zusammenhang zwischen Sünde und Tod (vgl. 5,12.15.17.21; 6,16.21). Gegenüber dieser negativen Folgebestimmung erbringt der Dienst für Gott bzw. für die Gerechtigkeit den solchen Dienst Leistenden das ewige Leben. Mit der Formulierung ζωὴ αἰώνιος ἐν Χριστῷ Ἰησοῦ τῷ κυρίῳ ἡμῶν wird aufgrund ihrer inhaltlichen Nähe zu den anderen Auferstehungsaussagen bezüglich der Glaubenden sehr wahrscheinlich die Teilhabe an dem Auferstehungsleben Christi gemeint sein (vgl. 5,10.21; 6,8; 8,11; 1Kor 15,20-22; 2Kor 4,14; Phil 3,10-11.20-21; 1Thess 4,14)595 ; der Präpositionalausdruck ἐν Χριστῷ Ἰησοῦ κτλ. ist hierbei mit Blick auf die vergleichbaren Aussagen von der Rettung bzw. von der Teilhabe an dem Auferstehungsleben, in denen Christus in der Rolle eines Mittlers bzw. Helfers auftritt, als instrumental aufzufassen (vgl. 5,9.10.21; 1Thess 4,14; 5,9; 1Kor 15,2122).596 Das Endresultat dieses als positiv qualifizierten Dienstverhältnisses, das ewige Leben, wird anders als beim Dienst (ὀψώνια597 ) gegenüber der Sünde als χάρισμα bezeichnet. χάρισμα kennzeichnet bei Paulus eine Gabe von Gott, die sich seiner gunstvollen Zuwendung verdankt (vgl. 1,11; 5,15.16; 12,6; 1Kor 1,7; 7,7; 12,4.9.28f). Diese Bezeichnung ist hier mit Bezug auf das den Glaubenden verliehene ewige Leben gewiss von Paulus bewusst gewählt; sie erinnert uns an den engen Zusammenhang zwischen der Gnade Gottes und dem ewigen Leben in 5,17.18.22. Die Glaubenden sind kraft der Gnade Gottes von der Sünde und ihrer Todesfolge befreit und haben Gerechtigkeit als Geschenk erhalten (3,24f; 4,2f). Darüber hinaus 593 Vgl. Wolter, Römer I, 404. 594 Paulus verwendet den Begriff θάνατος so wie in V 16 und 21 auch hier über den physischen Tod hinaus in der Bedeutung des eschatischen Unheils. Demgegenüber bezeichnet ζωὴ αἰώνιος die eschatische Zukunft, in der die Gläubigen in ewiger Gemeinschaft mit Christus leben (1Thess 4,1417). 595 Vgl. Wolter, Römer I, 336. 596 Eine inhaltliche Präzisierung der Vorstellung des ewigen Lebens durch Christus im Eschaton ist aber insofern schwer zu konstruieren, als Paulus selbst nur spärlich darüber Auskunft gibt. Man könnte aus der Darstellung über die Parusie und die Teilhabe am Auferstehungsleben Jesu in 1Kor 15,20f oder aus den Aussagen über die Auferstehung der Toten in 1Thess eine gewisse Szenerie ableiten, aber schwerlich ein detailliertes Bild oder eine bestimmte Abfolge der Ereignisse (vgl. Wolter, Paulus, 207f). 597 Der Begriff ὀψώνιον wird sehr häufig im militärweltlichen Kontext im Sinne von Sold verwendet (vgl. BAA, s.v.; Spicq, s.v.). Nimmt man aber alle bisher gefundenen Belegstellen in den Blick und untersucht die Verwendung des Lexems, lässt sich dessen Semantik jedoch nicht auf diesen Sinn beschränken. ὀψώνιον bezeichnet nicht selten die Entlohnung oder den Lohn im Allgemeinen (zu den einschlägigen Belegen, vgl. Wolter, Römer I, 404f). ὀψώνιον ist nicht als militärischer terminus technicus anzusehen (gegen Theißen, Römer, 160f; Gerber, Waffendienst, 137).

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Die Gerechtigkeitsaussagen im Römerbrief

bestimmt die Gnade Gottes ganz fundamental die Existenz und die Lebensweise der Glaubenden; das das Leben der Glaubenden bestimmende Prinzip ist nicht mehr das Gesetz, sondern die Gnade Gottes (5,2: Die Glaubenden stehen in der Gnade; 6,14: Sie stehen unter der Gnade). Aus seiner Gnade überwindet Gott durch das Christusgeschehen die verhängnisvolle Wirkung der Sünde und des Todes und ermöglicht den Glaubenden, das ewige Leben zu erlangen (5,17f). Nun liegt bei der Wendung χάρισμα der Akzent darauf, den ethischen Aspekt hervorzuheben, dass Gott den Glaubenden das ewige Leben mit Freude schenkt, die der neugewonnenen Identität entsprechend handeln.598 Hinsichtlich des syntaktischen Zusammenhangs ist zu beachten, dass die Verheißung des ewigen Lebens in V 23 eindeutig mit der Lebensverheißung in V 22 verbunden ist, welche denjenigen gilt, die in ihrem Dienst ihre Heiligkeit erweisen. Die beiden letzten Verse sind im argumentativen Zusammenhang kaum getrennt anzusehen, so dass man die Verheißungsaussagen des ewigen Lebens in V 22 und V 23 nicht als in verschiedene Richtungen weisend und in unterschiedliche Kontexte eingebettet interpretieren darf. Somit kann auch die zweite Verheißungsaussage des ewigen Lebens in V 23 nicht vom Bezug auf den mit dem Statuswechsel der Glaubenden einhergehenden Wechsel ihrer Lebens- und damit auch Handlungsweise getrennt gesehen werden. Man darf also die enge Verbundenheit zwischen der von Paulus geforderten Gerechtigkeit und Heiligkeit im Handeln der Glaubenden und der hier angesprochenen Verheißung des ewigen Lebens nicht dadurch relativieren, dass man behauptet, dass die Heiligung der Glaubenden automatisch, ohne eigene Bemühungen, nur aufgrund der Teilhabe an der göttlichen Heiligkeit geschehe und die Glaubenden dadurch das ewige Leben erlangten.599

598 Wenn man streng die ursprüngliche Bedeutung von χάρις bzw. χάρισμα beibehalten will, muss man beachten, dass die gängige Wiedergabe Gnade bzw. Gnadengabe keine passgenaue ist. Die Grundsemantik des Begriffs χάρις liegt darin, Gefallen und Freude an jemandem zu finden, und χάρισμα bezieht sich auf die Handlung des Schenkens aus Freude oder auf die aus Freude verliehene Gabe. 599 Das geläufige Verständnis innerhalb der evangelischen Exegese, dass das endgültige Heil schon vom Glauben her und unabhängig vom Handeln der Christen gesichert ist und die Handlungen nach der Bekehrung damit allein als Ausdruck der Dankbarkeit für das bereits erlangte Heil anzusehen sind, ist mit der Argumentation des Paulus in Röm 6,12f schwer vereinbar.

Gerechtigkeit für diejenigen, die den Geist Gottes in sich haben und nach diesem Geist wandeln: Röm 8,1-11

K.

Gerechtigkeit für diejenigen, die den Geist Gottes in sich haben und nach diesem Geist wandeln: Röm 8,1-11

1.

Die Erfüllung der Gerechtigkeit des Gesetzes an denjenigen, die nach dem Geist wandeln (8,4)

1.1

Der weitere Kontext

Im vergangenen Abschnitt 7,7-24 hatte Paulus ausführlich entfaltet, wie sehr und inwieweit die Situation des Menschen, welcher das Gesetz zu seinem Lebensprinzip bestimmt, das heißt, in der alten Lebensweise des Buchstabens (der Tora) gefangen bleibt und an ihr scheitert, sich als vollkommen ausweglos darstellt. Diese Lebensweise führt nicht zu der angestrebten Gerechtigkeit, zum Leben. Der solcher Lebensweise nachgehende Mensch gelangt vielmehr zu der Erkenntnis, dass er machtloser Sünder ist, welcher nicht das gewollte Gute tut, sondern das nicht gewollte Böse vollbringt (7,15-19). Paulus gesteht zu, dass das Gesetz an sich heilig, gerecht und gut ist (7,12). Es wird aber wie ein Werkzeug durch die Sünde instrumentalisiert und fungiert so als die Basis, aufgrund welcher die Sünde den Menschen Begierde auferlegt und sie zum Sündigen neigen lässt. Das Gesetz ist somit erwiesenermaßen unfähig, den Menschen der Sünde und dem Tod zu entreißen und ihn zum Leben zu führen. Die Illustration dieser elenden Situation des Menschen, der unter dem Lebensprinzip des Gesetzes steht, endet mit Klagen und Seufzen: „Wer wird mich erretten aus diesem Todesleib?“ In der an diese Frage sich anschließenden Danksagung folgt sogleich die Antwort: Allein der Herr Jesus Christus ist es, der aus dieser ausweglosen Situation retten kann. In 8,1f setzt Paulus seine Ausführungen zur Befreiung aus dieser heillosen Situation unter dem Gesetz aufgrund des Christusgeschehens fort. Hierbei hat er besonders im Blick, auf welche Weise dem Menschen die durch das Gesetz unerreichbare Gerechtigkeit und das Leben dennoch zugänglich geworden sind. In diesem neuen Abschnitt stellt Paulus zunächst den Heilsstand derjenigen dar, die zum Glauben an Christus gekommen sind und damit ihm gehören. Paulus erklärt: „Es gibt keine Verurteilung mehr (κατάκριμα) für diejenigen, die in Christus Jesus sind (ἐν Χριστῷ Ἰησοῦ)600 .“ Als Grund schließt Paulus an, dass sie durch „das

600 σε bezieht sich zweifellos auf die christlichen Adressaten, die im voranstehenden Vers als οἱ ἐν Χριστῷ Ἰησοῦ bezeichnet worden sind. Die Formulierung οἱ ἐν Χριστῷ Ἰησοῦ bezeichnet mit ἐν expressis verbis die Identität bzw. Zugehörigkeit der Christen (vgl. Wolter, Römer I, 472). Außer der wörtlichen Wiedergabe mit „die in Christus Seienden“ kann man es auch mit „die zu Christus Gehörenden“ oder „die an Christus Glaubenden“ wiedergeben. οἱ ἐν Χριστῷ Ἰησοῦ sind keine anderen als οἱ τοῦ Χριστοῦ (1Kor 15,23; Gal 5,24), οἱ πιστεύοντες (Röm 1,16; 3,22; 4,11.24; 10,4;

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Die Gerechtigkeitsaussagen im Römerbrief

Gesetz des Geistes des Lebens (νόμος τοῦ πνεύματος τῆς ζωῆς)“ von „dem Gesetz der Sünde und des Todes (νόμος τῆς ἁμαρτίας καὶ τοῦ θανάτου)“ befreit worden sind. Das Leben derjenigen, die in Christus Jesus (ἐν Χριστῷ Ἰησοῦ) sind, hat also nicht mehr mit dem geschriebenen Gesetz zu tun, welches die Menschen nicht zur Gerechtigkeit, sondern zur Sünde und schließlich zum Tod führt.601 Vielmehr führen die Christen ihr Leben nach einem neuen Gesetz und zwar nach dem „Gesetz des Geistes“, das das Leben bringt (vgl. V 6). Was mit ὁ νόμος τοῦ πνεύματος hier gemeint ist, ist vom semantischen Zusammenhang mit dem in V 4f Gesagten her zu erfassen. Dessen Inhalt besteht gerade darin, nach dem Geist zu wandeln (κατὰ πνεῦμα περιπατεῖν: auch in Gal 5,16f; vgl. auch Röm 6,4; 7,6; Phil 3,3). Bei der Formulierung ὁ νόμος τοῦ πνεύματος τῆς ζωῆς ist zu ersehen, dass Paulus das Nach-dem-Geist-Wandeln als ein die Tora ersetzendes neues Gesetz darstellt.602 Die zu Christus Jesus Gehörenden sind zwar frei von der Verpflichtung, die Vorschriften des Gesetzes zu erfüllen, ihr Leben soll aber jetzt unter der Führung des göttlichen Geistes stehen (8,13-14; Gal 5,18). Erst diese neue Lebensweise unter dem Geist versetzt die Glaubenden in die Lage, ein von der Sünde abgewandtes, gottgefälliges Leben zu führen (vgl. 7,4-5; 6,21-22; 7,4-6; Gal 2,19; 5,16f).

1Kor 1,21; 14,22; Gal 3,22; 1Thess 1,7; 2,10) oder οἱ ἐκ πίστεως (Gal 3,7.9). Vgl. auch die Formeln wie οἱ ἐν τῷ νόμῳ (Röm 3,19; vgl. Gal 3,10), ἐκ περιτομῆς (Gal 2,12), welche antithetisch gegenübergestellt sind. Diejenigen, die in Christus Jesus sind, sind die an Christus Jesus Glaubenden, welche ihren Heilsgrund im Christusgeschehen haben und deren weitere Lebensführung auch vom Christusglauben bestimmt ist, und nicht vom Gesetz (vgl. Gal 2,19-20). 601 Die Genitivformulierung ὁ νόμος τῆς ἁμαρτίας καὶ τοῦ θανάτου kann man in Bezug auf Röm 7,5f wie das oben genannte interpretieren. Damit nehme ich an, dass die Formulierung auf die Tora bezogen ist (gegen die Position, welche νόμος nur als ein Prinzip oder eine Ordnung verstehen will). Die Befreiung vom „Gesetz der Sünde und des Todes“ in Röm 8,2 beschreibt ein und dasselbe Geschehen der Trennung von der von der Tora bestimmten Lebensführung, welches Paulus in Röm 7,1-6 und Gal 2,19 mit der Tod-Für-Metaphorik und in Gal 5,18 mit dem Ausdruck οὐκ … ὑπὸ νόμον darlegt (vgl. auch 2Kor 3,17). 602 Damit meine ich nicht, dass νόμος in ὁ νόμος τοῦ πνεύματος auf die Tora verweist und der ganze Ausdruck die wahre, eigentliche Form bzw. Funktion der Tora, welche vom Missbrauch von der Sünde befreit ist, bedeutet (so aber z. B. Wilckens, Römer II, 121f; Lohse, Römer, 229f). Die Annahme, dass in Röm 8,2 von zwei Funktionen oder Verständnissen der einen Tora die Rede sei, geht m. E. schon auf der argumentativen Ebene nicht auf (vgl. Haacker, Römer, 186f; Wolter, Römer I, 473f). Ich richte mich mit meiner obigen Feststellung aber auch gegen die Annahme, dass νόμος in ὁ νόμος τοῦ πνεύματος im Sinne eines Prinzips verwendet wird. In Röm 8,2 wird die Wende in der Lebensgestaltung der Glaubenden geschildert. Das Leben der Glaubenden wird nicht mehr von der Tora bestimmt, sondern vom Geist (d. h. der Führung des Geistes), sozusagen: Die Führung des Geistes vertritt die geschriebene jüdische Tora. Deswegen ist verständlich, dass der Geist als νόμος bezeichnet wird.

Gerechtigkeit für diejenigen, die den Geist Gottes in sich haben und nach diesem Geist wandeln: Röm 8,1-11

Wie diese Befreiung vom zum Tod führenden Gesetz und infolge dessen der Stand, in dem es keine Verdammnis mehr gibt, den Glaubenden möglich geworden ist, wird in V 3 erörtert. Wie bereits in V 1 und V 2 zweimalig durch die Formulierung ἐν Χριστῷ Ἰησοῦ impliziert worden ist, liegt der Ermöglichungsgrund nicht in den Glaubenden selbst, sondern im Christusgeschehen, dem Kreuzestod Christi. Gott hat betreffs der Sünde (περὶ ἁμαρτίας)603 seinen Sohn, Christus Jesus, in der Gestalt des Fleisches der Sünde (oder des sündigen Fleisches)604 gesandt und hat „die Sünde im Fleisch (ἁμαρτία ἐν τῇ σαρκί)“605 verurteilt. Der Tod Jesu am Kreuz ist dieser Beschreibung zufolge dasjenige Handeln Gottes, wodurch die Sünde, die das menschliche Fleisch als ihren Wirkungsort beherrscht, gerichtet wurde.606 Somit ist der Tod Jesu für Paulus keine Niederlage vor den weltlichen Mächten, sondern der Sieg über die Macht der Sünde, welche ihre Herrschaft über die Menschen ausgeübt hatte. Paulus deutet auf solche Weise den Tod Jesu in paradoxem Sinne als eine Heilstat Gottes, die einem eindeutig bestimmten Zweck diente, nämlich dem Richten der Sünde. Beachtenswerter Weise ist hier nicht die Rede von Sühne oder Vergebung der Sünde als Wirkung des Todes Jesu.607 Es handelt sich vielmehr um eine Gerichtsszene, in der „das Urteil über die Sünde als die Menschheit versklavende Macht vollstreckt wird“.608 Durch dieses Heilshandeln Gottes, die Vernichtung 603 περὶ ἁμαρτίας gibt angeschlossen zu πέμψας an, wozu bzw. wieso Gott seinen Sohn gesandt hat, also den Grund bzw. den Bezugspunkt des Sendens (so Breytenbach, Versöhnung, 164; Eschner, Gestorben, 56.390f). Der Sprachgebrauch von περὶ ἁμαρτίας in Röm 8,3 entstammt demjenigen in der alttestamentlich-jüdischen Tradition. Nach Auskunft des TLG zur gesamten antiken griechischen Literatur findet sich die Formulierung oft in der LXX und den anderen jüdischen und urchristlichen Schriften. In den nichtjüdisch-urchristlichen griechischen Texten kommt περὶ ἁμαρτίας nur zweimal bei Aristoteles in EN 1230b vor. Die Interpretation der Sendung des Sohnes Gottes als des kultischen Sündopfers (z. B. in Bezug auf die Belege in Levitikus) ist aber nicht mit Sicherheit am Gebrauch von περὶ ἁμαρτίας abzulesen. Denn die Formel kann an sich, ohne jeglichen Bezug auf das kultische Sündopfer, im Sinne von „betreffs der Sünde“, „um der Sünde willen“ oder „für die Sünde“ verwendet werden (vgl. ExLXX  32,30; DtnLXX  9,18; 1KönLXX  15,30; 16,13; Tob 3,5; 2Makk 5,17 u. a.). περὶ ἁμαρτίας ist daher kein terminus technicus, der ohne Ausnahme als Sündopfer zu verstehen ist (vgl. Breytenbach, Stellvertretung, 73f; Eschner, Gestorben, 56f; Wolter, Römer I, 498f). Festzuhalten ist auf jeden Fall, dass dem Text Röm 8,3 nicht der Gedanke an ein Kultopfer (vgl. Heb 10), sondern die Gerichtsvorstellung zugrunde liegt. 604 Der Genitiv ἁμαρτίας in σάρξ ἁμαρτίας hat qualifizierende Funktion (vgl. Breytenbach, Versöhnung, 164; Wolter, Römer I, 477), beschreibt den Wesenszug des menschlichen Fleisches, dass es grundsätzlich der Herrschaft der Sünde unterworfen ist (vgl. Röm 7,5.14.18.25). 605 Die Präposition ἐν in τὴν ἁμαρτίαν ἐν τῇ σαρκί ist als lokal aufzulösen, der gesamte Ausdruck expliziert damit, worin die Herrschaft der Sünde wirksam ist. 606 Vgl. Breytenbach, Versöhnung, 164f; ders., Interpretationen, 329. 607 Die Vergebung der Sünde (ἄφεσις ἁμαρτιῶν) spricht Paulus in seinen Briefen nie aus, nur einmal in Röm 4,7 kommt der Ausdruck „ἀφέθησαν αἱ ἀνομίαι“ vor. Das ist aber ein Zitat aus PsLXX 31,1. 608 Breytenbach, Interpretationen, 329.

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Die Gerechtigkeitsaussagen im Römerbrief

der Sünde, ist möglich geworden, was das Gesetz wegen des Fleisches (d. h. des der Sünde verfallenen fleischlichen Wesens des Menschen) nicht vermochte (vgl. Apg 13,38-39609 ). Das ist die Erfüllung der Gerechtigkeit, die das Gesetz fordert (τὸ δικαίωμα τοῦ νόμου). Zu beachten ist hierbei, dass diese Erfüllung nach der Angabe des Paulus nicht grundsätzlich allen Menschen zugutekommt, sondern nur denjenigen, die nicht nach dem Fleisch, sondern nach dem Geist wandeln (τοῖς μὴ κατὰ σάρκα περιπατοῦσιν ἀλλὰ κατὰ πνεῦμα).610 κατὰ σάρκα περιπατεῖν heißt hier „ein Leben, das von der Sünde beherrscht wird und darum deren Begierden gehorcht (6,12) bzw. das von den Leidenschaften der Sünden (7,5) bestimmt ist und darum der Rechtsforderung des Gesetzes nicht nachkommen kann“.611 Die nach dem Geist Wandelnden (περιπατοῦσιν κατὰ πνεῦμα) sind dahingegen diejenigen, die ihre Lebensführung vom Geist bestimmen lassen und dessen Antrieb zum Leben in Gerechtigkeit nachgeben.612 Diesen gelingt die Erfüllung der der durch die Tora geforderten Gerechtigkeit, welche durch die Tora selbst nicht möglich ist.613 Aus diesem Argumentationsgang wird deutlich, dass die Erfüllung der durch die Tora geforderten Gerechtigkeit durchaus damit zusammenhängt, wie sich tat-

609 Apg 13,38-39, wo die Predigt des Paulus in Antiochia in Pisidien wiedergegeben wird, liefert auch einen mit Röm 8,3 vergleichbaren Gedanken: „γνωστὸν οὖν ἔστω ὑμῖν, ἄνδρες ἀδελφοί, ὅτι διὰ τούτου ὑμῖν ἄφεσις ἁμαρτιῶν καταγγέλλεται, [καὶ] ἀπὸ πάντων ὧν οὐκ ἠδυνήθητε ἐν νόμῳ Μωϋσέως δικαιωθῆναι, ἐν τούτῳ πᾶς ὁ πιστεύων δικαιοῦται.“ 610 Der Sprachgebrauch von περιπατεῖν bei Paulus im Sinne von Lebenswandel hat seinen Ursprung im hebräischen Ausdruck ‫( הלך‬vgl. Wingren, Weg, 111–123; Wibbing, Tugend, 61–64.111). Auch in Gal 5,16 verwendet Paulus das Verb περιπατεῖν und dort steht es ebenfalls in Verbindung mit πνεῦμα und im Gegenüber zu σάρξ. Wie in Röm 8 geht es Paulus somit auch an dieser Stelle um die Frage der Lebensführung der Glaubenden. 611 Wolter, Römer I, 481. Paulus bedient sich des Gegenübers von πνεῦμα und σάρξ noch häufiger, er gebraucht das Gegenüber nicht nur einfach zur Bezeichnung der menschlichen Verfasstheit, sondern als antithetisches Leitparadigma zur Beschreibung von zwei einander sich ausschließenden Weisen der Lebensführung. Seinen Hintergrund hat dieses paulinische Gegenüber in den anthropologischen Kategorien alttestamentlicher und frühjüdischer Texte wie etwa GenLXX 6,3; JerLXX 31,3; Philo, Her. 57; Gig. 28-30; 1QH 12,30f; 1QS 11,7f u. a. (vgl. Brandenburger, Fleisch und Geist, 59–113; Frey, Fleisch und Geist, 49ff; Wolter, Paulus, 175ff). 612 Paulus geht davon aus, dass die Christenmenschen diejenigen sind, die den Geist Gottes empfangen haben und deren Leben von dessen Geist geführt werden (V 9f). Der in V 4 vorliegende Gedankengang, dass die Gabe von Gottes Geist die Erfüllung der Tora ermöglicht, hat mehrere Parallelen im Alten Testament und in frühjüdischen Texten: Ez 36,27; Jub 1,23; 1QH 12,32-33; 15,9f. Die paulinische Vorstellung in V 3 ist klar mit diesem Traditionsgedankengut verbunden. Vgl. Landmesser, Geist, 138; Wolter, Römer I, 481; Stettler, Heiligung, 497f. 613 ἐν ἡμῖν kann grammatikalisch sowohl lokal als auch instrumental verstanden werden. In beiden Fällen wird eine Abgrenzung ausgesagt, die näher bestimmt, bei wem die Erfüllung der von der Tora geforderten Gerechtigkeit möglich ist.

Gerechtigkeit für diejenigen, die den Geist Gottes in sich haben und nach diesem Geist wandeln: Röm 8,1-11

sächlich der Lebenswandel der Glaubenden vollzieht.614 Auch wenn der eigentliche Grund der Erfüllung der Gerechtigkeit im Heilshandeln Gottes in Jesus Christus liegt und kein Zweifel daran besteht, dass der Geist Gottes im Leben der Glaubenden zum gerechten Lebenswandel wirkt, ist ihre eigene Aktivität im Gehorsam gegenüber dem Willen Gottes nicht ausgeschlossen vom Geschehen der Gerechtigkeitserfüllung.615 1.2

Zur Bedeutung von τὸ δικαίωμα τοῦ νόμου

Der Begriff δικαίωμα wurde im Römerbrief bereits viermal in 1,32; 2,26; 5,16.18 verwendet, in Röm 8,4 ist es die letzte Nennung im Römerbrief und im Corpus Paulinum überhaupt. Wie die Übersicht über den Sprachgebrauch des Begriffs deutlich gemacht hat, ist die Semantik des Begriffs mit der des Verbs δικαιοῦν verwandt und dessen Bedeutung besteht darin, etwas oder eine Person wieder in einen gerechten Zustand zu versetzen oder ihm bzw. ihr Gerechtigkeit zu verschaffen.616 Wie die Erklärung des Aristoteles zur Semantik von δικαίωμα erweist, unterscheidet sich der Begriff in seiner Semantik von δικαιοπράγημα (vgl. EN. 5,1135a 8-13). Der Begriff δικαίωμα kann sich im konkreten Sprachgebrauch auf Handlungen und Gegenstände, die Gerechtigkeit schaffende bzw. wiederherstellende Funktion haben, also Strafe, Rechtsordnung bzw. Satzung und Rechtsanspruch beziehen. Im Hinblick auf die Semantik von δικαίωμα ist es also wichtig, festzuhalten, dass die in deutschen Bibelübersetzungen und Kommentaren häufig verwendeten Begriffe „Forderung“, „Ordnung“, „Strafe“ kein Bestandteil der Semantik des Begriffs sind. Der Sprachgebrauch des Begriffs δικαίωμα bei Paulus lässt erkennen, dass er in verschiedenen Kontexten mit verschiedenen Bedeutungsnuancen verwendet, aber immer an der in der paganen Gräzität üblichen Semantik festgehalten wird. In 1,32 wird δικαίωμα in Bezug auf die göttliche Ordnung verwendet, nach der diejenigen, die in ihrem Leben in Ungerechtigkeit und Sünde gehandelt haben, gerechterweise dem Todesurteil verfallen werden. In 2,26 spricht Paulus vom hypothetischen Fall, dass die Nichtjuden die gerechten Forderungen des Gesetzes erfüllen und somit, im Gegensatz zu den die Gesetzesforderungen nicht erfüllenden Juden, als wahre Beschnittene gelten können. δικαίωμα wird hier (nun allerdings im Plural)

614 Das Passiv πληρωθῇ ist im Hinblick auf den Textzusammenhang kaum als passivum divinum zu verstehen (vgl. Wolter, Römer I, 480, Anm. 42; Thompson, Fulfilled, 33ff). 615 Vgl. Thompson, Fulfilled, 35.38; Giesen, Befreiung, 205ff; Wolter, Römer I, 479ff. Obwohl eine Ermahnung nicht explizit ausgedrückt wird, hat die Verbindung der Aussage über die Erfüllung der Gerechtigkeit mit dem Lebenswandel der Glaubenden in V 3 einen eindeutigen paränetischen Klang (vgl. Giesen, Befreiung, 207; Schreiner, Romans, 406). Dieser ethische Impetus wird in den folgenden Versen weiter entfaltet, wie an den Aussagen in V 12-13 erkennbar ist. 616 Zum Sprachgebrauch in paganen Texten s. o. Teil II.A.2.

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Die Gerechtigkeitsaussagen im Römerbrief

ebenfalls wie in 1,32 auf eine Rechtsordnung bezogen verwendet. In 5,16 bezeichnet δικαίωμα im Gegensatz zur von Adam provozierten Verurteilung (κατάκριμα) die Rechtfertigung, die durch das Christusgeschehen an die Glaubenden ergeht. Demgegenüber bezieht sich der Terminus δικαίωμα in V 18b im Gegensatz zur Übertretung (παράπτωμα) Adams auf die Tat Christi. Das antithetische Verhältnis von δικαίωμα in V 18b zu παράπτωμα macht deutlich, dass hier mit δικαίωμα die Heilstat mit Bezug auf den Tod Christi ausgesagt wird und nicht, wie in V 16b mit dem κατάκριμα gegenüberstehenden δικαίωμα, die Heilswirkung des Todes Christi an die Glaubenden. Will man der Semantik des Begriffs treu bleiben, ist δικαίωμα in Röm 5,18 eher mit „Gerechtmachung“ oder „gerechtmachende Tat“ zu übersetzen. Für das Verständnis des Terminus δικαίωμα in Röm 8,4 sind die bisherigen Beobachtungen sehr wichtig und führen zu der Frage, ob die geläufige Wiedergabe mit „Rechtsforderung“ oder „Rechtsanspruch“617 tatsächlich angemessen ist. Der Ausdruck τὸ δικαίωμα τοῦ νόμου kann aufgrund der grundlegenden Semantik des Terminus δικαίωμα als die Gerechtigkeit (das Gerechte) verstanden werden, die die Tora fordert.618 Der Singular δικαίωμα ist generisch als umfassende Bezeichnung für die Gerechtigkeit im Sinne des in der Tora dargelegten und dem Willen Gottes entsprechenden Lebenswandels aufzufassen.619 Man darf die Semantik von δικαίωμα nicht auf ein bestimmtes Einzelgebot wie etwa das Liebesgebot620 oder das in 7,7f thematisierte zehnte Gebot621 einengen. Die Wendung ἵνα τὸ δικαίωμα τοῦ νόμου πληρωθῇ ἐν ἡμῖν κτλ. ist hinsichtlich des Satzgefüges von V 3 abhängig und bezeichnet die Folge des in V 3 ausgesagten Heilshandelns Gottes.

617 Vgl. Kuss, Römer, 496ff; Käsemann, Römer, 209f; Wilckens, Römer II, 128f; Schmithals, Römer, 265; Haacker, Römer, 188; Moo, Romans, 481ff; Lohse, Römer, 232; Landmesser, Geist, 137; Giesen, Befreiung, 204; Jewett, Romans, 485; Lichtenberger, Ich Adams, 196f; Wolter, Römer I, 479; Stettler, Heiligung, 498, Anm. 245; Longenecker, Romans, 696; Schäfer, Gegenwart, 231 u. a. 618 Vgl. Schlier, Römer, 243. 619 Vgl. Landmesser, Geist, 137; Wolter, Römer I, 479. 620 So aber Wilckens, Römer II, 128; Paulsen, Überlieferung, 65f; Thompson, Fulfilled, 31–40; Jewett, Romans, 485f; Stettler, Heiligung, 498. Es gibt zwar Belege, wo Paulus das Liebesgebot mit der Erfüllung des Gesetzes in Verbindung bringt und dieses Liebesgebot als das von den Glaubenden generell geforderte Handeln anführt (vgl. Röm 13,8.10; Gal 5,14). Diese Stellung des Liebesgebots kann aber nicht zur Interpretation der Aussage über die Gerechtigkeit in Röm 8,4 herangezogen werden (mit Moo, Romans, 482; Wolter, Römer I, 481). Während es an den genannten Stellen um die Aufforderung der Glaubenden zur konkreten gegenseitigen Liebe geht, handelt sich es in Röm 8,4 um die grundsätzliche Erklärung, dass die Erfüllung der von der Tora geforderten Gerechtigkeit bei den Glaubenden durch den Geist Gottes möglich wird. 621 So aber Schmithals, Römer, 266; Zeller, Römer, 153; Hofius, Paulusstudien II, 166; Ziesler, Requirement, 77–82; Giesen, Befreiung, 204.

Gerechtigkeit für diejenigen, die den Geist Gottes in sich haben und nach diesem Geist wandeln: Röm 8,1-11

Der semantische Gehalt von τὸ δικαίωμα τοῦ νόμου πληρωθῇ sollte angesichts dieser Abhängigkeit mit dem korrespondieren, was in V 3a ausgesagt worden ist, und sollte also das sein, was wegen des fleischlichen Wesens des Menschen dem Gesetz unmöglich war. Dies ist, den Menschen Gerechtigkeit und Leben zu verschaffen (vgl. 7,10; Gal 3,21). Für das weitere Verständnis der Verwendung des Begriffs δικαίωμα in V 4 ist zudem entscheidend, dass Paulus hinsichtlich der Erfüllung der Gerechtigkeit ebenfalls den gesamten Lebenswandel der Glaubenden im Blick hat, nicht die Einhaltung bestimmter Gesetzesforderungen. Durch den Geist Gottes kann dem Glaubenden in einem neuen Lebenswandel letztendlich das zukommen, auf das Gott mit der Gabe der Tora eigentlich abgezielt hat. 2.

Der Geist ist aber Leben aufgrund der Gerechtigkeit (8,10)

2.1

Der nähere Kontext

Paulus beschreibt in V 5-6 lehrhaft, wonach die beiden Menschentypen, „die κατὰ σάρκα Seienden“ und „die κατὰ πνεῦμα Seienden“, trachten und was diese unterschiedlichen Verhaltensweisen jeweils zur Folge haben. Die κατὰ σάρκα Seienden, also diejenigen, die in ihrem Sein Fleisch entsprechen, trachten nach dem, was Sache des Fleisches ist (τὰ τῆς σαρκός), und demgegenüber trachten diejenigen, die in ihrem Sein Geist entsprechen, nach dem, was Sache des Geistes ist (τὰ τοῦ πνεύματος). Das Trachten nach Dingen des Fleisches (τὸ φρόνημα τῆς σαρκός) führt zum Tod (vgl. V 13; 7,5), aber das Trachten nach Dingen des Geistes (τὸ δὲ φρόνημα τοῦ πνεύματος) bringt Leben und Frieden (ζωὴ καὶ εἰρήνη). Was genau diese Dinge des Fleisches bzw. des Geistes einschließen, führt Paulus hierbei nicht aus622 ; mit dieser allgemein gehaltenen Gegenüberstellung setzt er voraus, dass seine Leser durchaus eine Vorstellung davon haben, was diese Dinge im Einzelnen umfassen können. Warum das Trachten nach den Dingen des Fleisches den Tod zur Folge hat, erläutert Paulus in den nachfolgenden Versen 7-8. Denn das Trachten nach Dingen des Fleisches geht notwendig einher mit der Feindschaft gegen Gott, indem es dem Gesetz Gottes (νόμος τοῦ θεοῦ) widerspricht (V 7). Diejenigen, die ἐν σαρκί sind, können damit keinesfalls ein gottgefälliges Leben erreichen (V 8). Gegenüber dieser unheilvollen bzw. gottfernen Situation der ἐν σαρκί-Seienden weist Paulus in V 9-11 die Adressaten darauf hin, was denjenigen, die ἐν πνεύματι sind, also die den Geist

622 Der konkrete Gehalt von τὰ τοῦ πνεύματος und τὰ τῆς σαρκός wird an dieser Stelle nicht genannt. Doch ein Hinweis darauf, was Paulus mit diesen Formulierungen konkret vor Augen hat, findet sich in Gal 5,19-23, wo Paulus „die Werke des Fleisches (ἔργα τῆς σαρκός)“ und „die Frucht des Geistes (καρπὸς τοῦ πνεύματος)“ näher beschreibt.

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Die Gerechtigkeitsaussagen im Römerbrief

Gottes bzw. den Geist Christi in sich haben623 , Heilvolles widerfahren wird. Nach V 9 garantiert die Einwohnung des Geistes Christi die Zugehörigkeit zu Christus. Es werden in V 10-11 weiterhin die gegenwärtigen und zukünftigen Existenzweisen der den Geist Christi Habenden geschildert. Im Blick auf die gegenwärtige Existenz der Glaubenden bedeutet dies, dass ihnen trotz ihrer von der Sünde bestimmten Leiblichkeit schon in der Gegenwart unter der Führung des Geistes Gottes Leben zuzusprechen ist. Wenn sie aufgrund des Antriebs des göttlichen Geistes in ihrem Lebenswandel Gerechtigkeit sichtbar werden lassen, werden sie in ihrer Zukunft am Auferstehungsleben teilhaben. 2.2

Die Interpretation der Apodosis in V 10b und die Bedeutung von δικαιοσύνη

An V 9 anschließend wird in V 10 die gegenwärtige Existenz derjenigen ausgeführt, in denen der Geist Gottes bzw. Christi wohnt. In der Protasis V 10a wird das Motiv der Einwohnung des Geistes Gottes aus V 9 aufgenommen, es ist nun jedoch zur Einwohnung Christi umformuliert.624 Durch diese weitere Aussage über die Einwohnung Christi in den Glaubenden wird jedenfalls unterstrichen, dass der Empfang bzw. Besitz des göttlichen Geistes eine bedingte Charakterisierung für das Christsein ist (vgl. Röm 5,5; 8,15; 1Kor 6,19; Gal 3,2.14; 1Thess 4,8).625 Die Vorstellung, dass Christus in den Glaubenden ist bzw. wohnt, findet sich bei Paulus noch in 2Kor 13,5 und Gal 2,20.626 Besonders die Feststellung in 2Kor 13,5, dass diejenigen, die Christus in sich haben, zu ihm gehören, entspricht inhaltlich der Aussage von Röm 8,9b; wie im Kontext von Röm 8,9.10 steht auch im Zusammenhang von 2Kor 13,5 die ethische Aufforderung zum guten, vollkommenen Lebenswandel im Hintergrund. In Hinblick auf Gal 2,20 lässt sich eine weitere inhaltliche Parallele zu Röm 8,10 erkennen. Das gemeinsame Motiv „Christus lebt im Glaubenden“ wird dort ebenfalls mit der Rede von der radikalen Umkehr im Leben des Glaubenden in Verbindung gebracht. Wichtig ist also zu bemerken, dass bei Paulus so das Motiv des „Christus in sich Habens“ als Ermöglichungsgrundlage für den neuen gerechten Lebenswandel mehrfach erwähnt wird. Nun ist auf die Apodosis in V 10b einzugehen, die die gegenwärtige Gegebenheit der Existenz der Christen darstellt. Der Teilsatz V 10b ist sehr prägnant formuliert;

623 πνεῦμα θεοῦ und πνεῦμα Χριστοῦ, welche in V 9 nacheinander auftauchen, werden zumindest im Textzusammenhang nicht unterscheiden (vgl. Wolter, Römer I, 485.487). 624 Zu Χριστὸς ἐν ὑμῖν in V 10a ist nach πνεῦμα θεοῦ οἰκεῖ ἐν ὑμῖν in V 9 und τὸ πνεῦμα τοῦ ἐγείραντος … οἰκεῖ ἐν ὑμῖν in V 11 οἰκεῖ zu ergänzen (vgl. Landmesser, Geist, 142; Wolter, Römer I, 487). 625 Vgl. Wolter, Römer I, 486f. 626 Vom Einwohnen Christi ist auch in Eph 3,17 die Rede (vgl. auch Kol 3,16). Paulus sagt aber nie, dass Gott in den Glaubenden wohnt.

Gerechtigkeit für diejenigen, die den Geist Gottes in sich haben und nach diesem Geist wandeln: Röm 8,1-11

im Blick auf die Frage seines Sinngehalts aber handelt sich es um einen der am schwierigsten zu verstehenden Sätze bei Paulus überhaupt. Die Formulierung von V 10 bereitet den Exegeten nicht nur wegen der elliptischen Struktur, sondern auch wegen der verschiedenen möglichen Zusammenhänge mit den anderen paulinischen Aussagen über die Leiblichkeit des Menschen und wegen der verschiedenen Referenzmöglichkeit des Begriffs πνεῦμα Schwierigkeiten (s. u.). Syntaktisch fällt die antithetische Gegenüberstellung der Teilsätze a und b auf. Beide Teilsätze beginnen jeweils mit dem mit einem Artikel versehenen Subjekt τὸ σῶμα und τὸ πνεῦμα und diese Subjekte werden durch die Attribute νεκρόν und ζωή bestimmt. Die zwei präpositionalen Wendungen διὰ ἁμαρτίαν und διὰ δικαιοσύνην, welche kausal zu verstehen sind, geben die Begründung für die Bestimmungen νεκρόν und ζωή an. Gehen wir zunächst auf die erste Aussage τὸ μὲν σῶμα νεκρὸν διὰ ἁμαρτίαν ein, welche den Leib der Glaubenden in den Blick nimmt. Hierbei ist die Frage zentral, in welchem Sinne die Qualifizierung des Leibes als νεκρόν zu verstehen ist.627 Es ist freilich davon auszugehen, dass die Adressaten, welche Paulus mit dieser Formulierung anspricht, biologisch noch nicht tot sind. Für das Verständnis des Satzes ziehen viele Exegeten darum Röm 6,1-11 als Deutungsansatz heran628 , wo Paulus von „der Kreuzigung des alten Menschen“ und „der Vernichtung des Leibes der Sünde“ spricht. Dort stellt die Rede vom Tod des alten Menschen bzw. des sündigen Leibes mit Hilfe der metaphorischen Ausdrücke fest, dass die alte Existenzweise in der Sünde von den Glaubenden durch das Taufgeschehen aufgehoben ist. Die Annahme, dass Paulus mit der Formulierung τὸ σῶμα νεκρὸν διὰ ἁμαρτίαν ein weiteres Mal den Gedankengang von Röm 6,1-11 rekapituliert, ist jedoch nicht plausibel, da es sich nicht in den unmittelbaren Kontext einfügt, in dem Paulus eindeutig von der gegenwärtigen Gegebenheit der Existenz der Glaubenden spricht. Beachtet man hier die genaue Formulierung, so ist auffällig, dass Paulus anders als in Röm 6,6 nicht vom Leib der Sünde (σῶμα τῆς ἁμαρτίας) und zwar im Sinne der alten Existenzweise vor der Bekehrung zu Christus, sondern nur vom Leib (σῶμα), nämlich dem der in V 10a angesprochenen Glaubenden, spricht. D. h. es gibt in Röm 8,10 keine andere Möglichkeit, als σῶμα im Sinne des körperlichen Leibes

627 Wie der paulinische Sprachgebrauch von θάνατος κτλ. und νεκρός zeigt, hat der Ausdruck Tod bzw. Tot-Sein bei Paulus verschiedene Deutungsmöglichkeiten: Der Begriff Tod bzw. Tot-Sein kann den biologischen Tod als Ende des menschlichen Körpers (Röm 5,12.14.17; 6,9) und den Tod im Sinne des eschatischen Gerichts, das vom ewigen Leben ausschließt, oder die Unheilssituation des Menschen (Röm 1,32; 6,23; 7,5.9.11.13.24; 8,2.6; 8,13 u.ö) bezeichnen. Ebenso kann er im metaphorischen Gebrauch die Trennung von etwas (Röm 6,2; 7,4.6; Gal 2,19) oder die Wirkungslosigkeit von etwas (Röm 7,8) bedeuten. 628 So z. B. Kuss, Römer, 503; Bultmann, Theologie, 201; Barrett, Römer, 149ff; Schlier, Römer, 247; Wilckens, Römer II, 132f; Käsemann, Römer, 216; Osten-Sacken, Römer 8, 236; Paulsen, Überlieferung, 70ff; Jewett, Romans, 491f; Lichtenberger, Ich Adams, 200; Schäfer, Gegenwart, 239ff.

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der angesprochenen Christen aufzufassen. Ferner ist ἁμαρτία hier in Verbindung mit διά deutlich als die Ursache für das Tot-Sein des Leibes angeführt629 , nicht als gen. quali., welcher die Beschaffenheit des Leibes bestimmen und metonymisch die Interpretation im Sinne einer Bestimmtheit der menschlichen Existenz durch die Sünde erlauben würde. Von diesen bisherigen Beobachtungen her ist die Aussage τὸ μὲν σῶμα νεκρὸν διὰ ἁμαρτίαν nicht anders zu verstehen, als dass der Leib der Christen, die den Geist Gottes bzw. Christi in sich haben, als tot bezeichnet ist.630 Unter Berücksichtigung ihres Verwendungskontextes ist die Bezeichnung νεκρόν in Röm 8,10b als Ausdruck der Sterblichkeit des Leibes zu deuten.631 Hierfür spricht besonders ihr unmittelbarer Bezug auf die Wendung θνητὰ σώματα in V 11 (vgl. auch die zweimalige Wendung ἐκ νεκρῶν im selben Vers). Der Kontext macht deutlich, dass der Ausdruck θνητὰ σώματα sich auf den körperlichen Leib der Glaubenden bezieht und gegenüber der Aussage von der zukünftigen Auferstehung die körperliche Begrenztheit des Menschen bezeichnet. Die in V 10 ausgesagte Feststellung, dass „der Leib wegen der Sünde tot ist“, kann im Zusammenhang mit Paulus‘ grundlegendem Verständnis der menschlichen Leiblichkeit um so deutlicher erfasst werden. Paulus stellt häufig dar – wie besonders seine Ausführungen über σῶμα und σάρξ in Röm 6 und 7 zeigen –, dass der menschliche Leib grundsätzlich von der Sünde (oder den Begierden der Sünde) bestimmt ist (vgl. 6,6.12; 7,18.25; 8,3) und demzufolge – ausgehend von der Natürlichkeit des Körpers – dem Todesgeschick verfallen ist (vgl. 6,12; 2Kor 4,11).632 Ein Röm 8,10 besonders nahe stehender Ausdruck ist τὸ θνητὸν ὑμῶν σῶμα in 6,12, da damit ebenfalls im Blick auf den menschlichen Leib das Todesschicksal des Menschen ausgedrückt wird. Auch der Ausdruck ἡ θνητὴ σάρξ in 2Kor 4,11 kann als Parallele für die Wendung τὸ σῶμα νεκρόν in Röm 8,10 verstanden werden, da 629 Der präpositionale Ausdruck διὰ ἁμαρτίαν hat hier eindeutig kausale Bedeutung (vgl. Wolter, Römer I, 488). 630 Die in V 10a präsente Vorstellung der Sterblichkeit des menschlichen Leibs hat gewisse Parallelen bei Philo, Etikett und Dionysius v. Halicarnass (zu den Belegen vgl. Vollenweider, Geist Gottes, 172; Wolter, Römer I, 488). 631 Vgl. Dibelius, Vier Worte, 10f; Michel, Römer, 254, Anm.12; Vollenweider, Geist Gottes, 172; Fee, Empowering, 550f; Zeller, Römer, 158; Moo, Romans, 491; Schmithals, Anthropologie, 110–117; Landmesser, Geist, 139ff; Wolter, Römer I, 488f. Die Wendung σώμα τοῦ θανάτου in 7,24 kann auch im Sinne interpretiert werden, dass der menschliche Leib gemäß seiner gegenwärtigen Unheilssituation in metonymischem Sinne schon in der Gegenwart mit dem Begriff „tot (νεκρός)“ zu beschreiben ist. Diese Interpretation, welche νεκρόν in 8,10 als einen metonymischen Ausdruck für die gegenwärtige, elende und ausweglose Unheilssituation des Menschen versteht, steht jedoch im Widerspruch zum vorausgehenden Kontext, in dem die gegenwärtige Existenz der Glaubenden in Bezug auf ihr Handeln in Gerechtigkeit positiv dargestellt wird. 632 Hierbei können die oben genannten Belege für σάρξ herangezogen werden, wo dieser Begriff auf dieselbe Weise wie σῶμα als Bezeichnung für die leibliche Existenz des Menschen verwendet wird und damit nahezu als ein Synonym zu σῶμα zu verstehen ist.

Gerechtigkeit für diejenigen, die den Geist Gottes in sich haben und nach diesem Geist wandeln: Röm 8,1-11

es sich ebenfalls um eine Umschreibung der Sterblichkeit des Menschen handelt und diese wie in Röm 8,10 der Erwähnung des Lebens gegenübersteht. Die zweite Aussage – „der Geist aber ist Leben wegen der Gerechtigkeit“ – ist, wie τὸ σῶμα νεκρόν, sehr prägnant formuliert; dennoch ist der gemeinte Sinn nicht leicht zu verstehen, besonders im unmittelbaren Textzusammenhang. Der vorliegende Zusammenhang von Gerechtigkeit und Leben ist wie derjenige von Sünde und Tod eine grundlegende Vorstellung bei Paulus (vgl. Röm 1,16-17; 4,25; 5,910.17-18; 6,22-23; 10,5; Gal 3,21 u. a.). Die Verbindung von Geist und Leben ist auch anhand der Darstellung in Röm 8,1ff, wo dieser Zusammenhang schon vorliegt, leicht nachzuvollziehen. Zwei exegetische Fragen bereiten aber Schwierigkeiten bei der Auslegung, nämlich erstens, auf welchen Geist der Begriff πνεῦμα referiert, auf den Geist Gottes oder den Geist der Christen, und zweitens, in welchem Sinne der Begriff δικαιοσύνη hier zu verstehen ist. Viele nehmen an, dass πνεῦμα auf den Geist Gottes bzw. Christi referiert, von welchem in V 9 die Rede gewesen ist.633 Dagegen spricht aber schon der vorliegende Kontext, wobei πνεῦμα hier, anders als in V.9 und V.11, nicht durch einen Genitiv, sondern durch die Gegenüberstellung zu σῶμα näher bestimmt ist. Bei den Versen 10-11 handelt es sich eindeutig um die Kundgebung über die gegenwärtige Existenz und das heilvolle zukünftige Geschick der Glaubenden, denen der Geist Gottes innewohnt. Hierbei werden die christlichen Adressaten in Rom von Paulus durchgehend in der 2. Ps. Pl. angesprochen und ihre gegenwärtige Existenz wird in zwei Bezugsebenen, und zwar im Leib und im Geist, beschrieben (τὸ μὲν σῶμα … τὸ δὲ πνεῦμα …).634 Besonders aufgrund dieser Gegenüberstellung von Leib und Geist, die Bezug nimmt auf die je eigene Existenz der Glaubenden, ist es unwahrscheinlich, dass sich πνεῦμα ausschließlich auf den Geist Gottes oder Christi bezieht, aber σῶμα gleichzeitig die Leiblichkeit des Menschen bezeichnen soll. Wenn es Paulus hier ausschließlich um den Geist Gottes bzw. Christi ginge, so wäre es auch schwer verständlich, weshalb Paulus die Lebendigkeit dieses Geistes eigens hervorhebt und inwiefern diese durch die Gerechtigkeit des Menschen bewirkt

633 So z. B. Schlier, Römer, 247f; Wilckens, Römer II, 132; Lohse, Römer, 235f; Wolter, Römer I, 489; Schäfer, Gegenwart, 242f. Von diesen betonen einige, dass πνεῦμα in 8,10 explizit den Geist Gottes bzw. Christi bezeichnet, aber zugleich einen anthropologischen Bezug hat. Wenn aber im Text τὸ πνεῦμα als der göttliche Geist gelesen wird, bringt diese Interpretation Verständnisprobleme mit sich. Besonders schwer ist die Beziehung von τὸ πνεῦμα zu den üblichen Ausdrücken ζωὴ διὰ δικαιοσύνην zu erklären (s. u.). 634 Die paulinische Gegenüberstellung von σῶμα und πνεῦμα kann nicht mit dem in der griechischen Philosophie auftauchenden zwei- oder dreigeteilten Menschenbild (ψυχή-σῶμα bzw. πνεῦμαψυχή-σῶμα) in Zusammenhang gebracht werden. Zu den Differenzen zwischen dem paulinischen und dem antiken philosophischen Menschenbild vgl. Zimmermann, Körperlichkeit, 378; Wolter, Römer I, 488f.

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Die Gerechtigkeitsaussagen im Römerbrief

sein sollte.635 Es gilt doch, dass der Geist Gottes bzw. Christi für jeden Gläubigen ohne besondere Erklärung immer als lebendig gedacht ist – das Leben ist dem Geist Gottes inhärent, er kann gar nicht tot sein. Dazu ist es kaum vorstellbar, dass Paulus hier in 8,10 die Lebendigkeit des Geistes Gottes oder Christi als etwas von der Gerechtigkeit des Menschen Abhängiges darstellen wollte. Angemessener ist eine Interpretation, bei der man πνεῦμα in V 10 im Zusammenhang mit den voranstehenden Versen so versteht, dass Paulus den Geist der angesprochenen Adressaten im Blick hat, welche den Geist Gottes empfangen haben. Der Geist Gottes bzw. Christi ist selbstverständlich mit dem Geist der Christen eng verbunden (vgl. V 16.26), wenn er, um mit Paulus zu sprechen, in den Glaubenden wohnt. Der Geist Gottes bestimmt als „das tatsächliche Subjekt“636 der Glaubenden ihre Existenz völlig neu und lenkt ihren Lebenswandel, bis sie zum ewigen Leben gelangen. Aber wenn Paulus eindeutig im Hinblick auf die gegenwärtige Existenz der Christen sagt, der Leib sei tot wegen der Sünde, aber der Geist sei vom Leben bestimmt aufgrund der Gerechtigkeit, dann kann sich der Begriff πνεῦμα dabei nicht auf den Geist Gottes oder Christi beziehen. Nun zur zweiten Frage: In welchem Sinne wird δικαιοσύνη hier verwendet? Bezieht sie sich auf die Gerechtigkeit im Sinne des Heilsstandes der Christen, die Gott den an Christus Glaubenden zugesprochen hat? Oder ist sie eher als ethische Kategorie im Hinblick auf den Lebenswandel der Christen, welche den Geist Gottes in sich haben und nach diesem leben, zu verstehen? Für das richtige Verständnis der δικαιοσύνη ist vor allem wichtig, die Gegenüberstellung von ἁμαρτία und δικαιοσύνη zu berücksichtigen. ἁμαρτία ist hier zweifellos als Handlungsbegriff aufzufassen, sie hängt semantisch mit τὰ τῆς σαρκός (V 5), τὸ φρόνημα τῆς σαρκός (V 6.7) und αἱ πράξεις τοῦ σώματος (V 13) zusammen. Dementsprechend besteht auch die semantische Referenz der δικαιοσύνη nicht im Status der Glaubenden bzw. im Rechtfertigungsgeschehen, sondern im Handeln der Glaubenden.637 Im Gegenüber zu den oben geschilderten negativen Kontextbezügen von ἁμαρτία korrespondiert der Begriff δικαιοσύνη mit den positiven Sinngehalten von τὰ τοῦ πνεύματος (V 5), τὸ φρόνημα τοῦ πνεύματος (V 6), ὁ νόμος τοῦ θεοῦ (V 7) und vor allem von κατὰ πνεῦμα περιπατεῖν (V 4). Während der Leib der Glaubenden grundsätzlich der Sünde unterworfen ist und darum schon als tot bezeichnet wird,

635 Die Position, den Begriff πνεῦμα als den Geist Gottes zu verstehen, vertritt die Ansicht, dass ζωή als das durch diesen Geist an die Menschen vermittelte Objekt zu verstehen ist. Aufgrund der strengen Parallelität zwischen dem Satzteil τὸ μὲν σῶμα νεκρὸν διὰ ἁμαρτίαν und dem τὸ δὲ πνεῦμα ζωὴ διὰ δικαιοσύνην ist jedoch anzunehmen, dass das zu ergänzende Verb nicht „vermitteln“ sondern „sein“ ist und ζωή wie νεκρόν als qualifizierendes Attribut aufzufassen ist (gegen Paulsen, Überlieferung, 68ff; Schlier, Römer, 247; Lichtenberger, Ich Adams, 200). 636 Landmesser, Geist, 139 (anlehnend an Bultmann, Theologie, 209). 637 So auch Käsemann, Römer, 216, Dunn, Romans I, 432.

Gerechtigkeit für diejenigen, die den Geist Gottes in sich haben und nach diesem Geist wandeln: Röm 8,1-11

ist ihr Geist hingegen auf die Sache des Geistes, das Gottgefällige, die Dinge, wozu der Geist Gottes anleitet, also umfassend auf δικαιοσύνη ausgerichtet. Aufgrund dieser positiven Konnotation ist dem Geist der Glaubenden hier die Bezeichnung ζωή beigestellt. In diesem Zusammenhang kann die Verwendung des Begriffs δικαιοσύνη so verstanden werden, dass er diese neue Richtung bzw. Bestimmtheit der Lebensführung, welche auf dem Geist Gottes beruht, aufweist. Die gesamte Wendung τὸ δὲ πνεῦμα ζωὴ διὰ δικαιοσύνην heißt dann, dass der Geist der Glaubenden aufgrund der in ihrem Lebenswandel sichtbaren Gerechtigkeit Leben gewährt. Mit dieser Bedeutung verbindet sich die Verwendung von δικαιοσύνη in V 10 mit der in V 4 vorliegenden Feststellung, dass die neue Lebensweise, die vom Geist bestimmt wird, die Erfüllung der Gerechtigkeit, welche die Tora fordert, hervorbringt. Man darf allein anhand des Vorkommens von δικαιοσύνη nicht vorschnell hier den Rechtfertigungsgedanken eintragen und δικαιοσύνη als die den Glaubenden geschenkte Gerechtigkeit verstehen.638 Die Verwendungsweise der δικαιοσύνη in 8,10 mit ihrer ethischen Konnotation steht in derselben Linie der Verwendungsweise in 6,13.19.20. Dort gebraucht Paulus den Begriff δικαιοσύνη ebenfalls als ethische Kategorie im Gegensatz zu ἁμαρτία zur Charakterisierung der neuen Lebensweise der Glaubenden. 2.3

Der Blick auf die zukünftige Auferstehung als Motivation für das gegenwärtige Leben in Gerechtigkeit (V 11)

Zum Abschluss des Abschnittes verweist Paulus die Glaubenden auf die heilvolle Zukunft, welche ihnen widerfahren wird. Im eindeutig zu V 10a parallel stehenden Konditionalsatz in V 11 wird nicht Christus, sondern wie in V 9a der Geist Gottes als Subjekt genannt, wobei er diesmal durch eine Gottesprädikation näher bestimmt ist. Das ist der Geist dessen, der Jesus von den Toten auferweckt hat (ἐγείραντος τὸν Ἰησοῦν ἐκ νεκρῶν).639 In dieser Gottesprädikation wird die Auferstehung Jesu Christi als ein göttliches Handeln dargestellt, in dem Gott den gestorbenen 638 So aber Cranfield, Romans I, 390; Vollenweider, Geist Gottes, 173; Osten-Sacken, Römer 8, 256; Wilckens, Römer II, 132; Lohse, Römer 235f; Haacker, Römer 189; Jewett, Romans, 492; Landmesser, Geist, 144; Schäfer, Gegenwart, 242; Wolter, Römer I, 489. Wolter vertritt eine doppelte Interpretation des Begriffs δικαιοσύνη. Er behauptet, dass eine inhaltliche Präzisierung dieses Begriffs nicht möglich sei und dieser sowohl die Glaubensgerechtigkeit als auch ethische Bedeutung einschließen könne. 639 Die in V 11b vorliegende Gottesprädikation, dass Gott Christus von den Toten auferweckt hat, findet sich bei Paulus noch in 1Thess 1,10; Gal 1,1; 1Kor 15,14.17; 2Kor 4,14; Röm 4,24 (vgl. auch Kol 2,12; 1Petr 1,21). Die in 8,11 mit dieser Gottesprädikation parallel stehende Gottesvorstellung des lebendig machenden Gottes begegnet auch in Röm 4,17 (vgl. auch Kol 2,13; Eph 2,5; 1Tim 6,13). Hierzu vgl. Zimmermann, Namen des Vaters, 491ff.

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und begrabenen Jesus wieder lebendig gemacht hat. Wenn der Geist Gottes in den Glaubenden ist, macht Gott durch diesen auch den sterblichen Leib der Glaubenden lebendig, so wie er es schon an Jesus gezeigt hat.640 Bei diesem Gedankengang ist eigentlich gemeint, dass die Glaubenden unter der Führung des Geistes bleiben und seinem Antrieb nachgehen sollen, damit sie ihn nicht durch ihr Sündigen verlieren oder aus seinem Wirkungsbereich heraustreten.641 Dass es sich bei der Aussage in V 11 nicht einfach um die Vermittlung der Heilsgewissheit, sondern um eine ermutigende und fordernde Rede handelt, geht aus dem Argumentationsgefälle von 8,12f hervor, wo Paulus die durch die Glaubenden zu verwirklichende Lebensweise herausstellt. Durch die Begabung des Geistes Gottes sind die Glaubenden an eine grundlegende Wende gelangt, bei der die alte Existenz in der Sünde abgebrochen worden ist. Sie sind von nun an dazu verpflichtet, nicht mehr nach dem Fleisch (dies impliziert: nach der Begierde der Sünde) zu leben (V 13; vgl. 6,12-13; 7,4-6; Gal 5,16f), sondern ihr Leben vom Geist Gottes bestimmen zu lassen. Sie müssen mit Hilfe des Geistes Gottes „die sündigen Taten des Leibes töten (τὰς πράξεις τοῦ σώματος θανατοῦτε: V 13)“ und ein gottgefälliges Leben, welches „geistlich“ ist und gute Früchte bringt, führen (vgl. 6,22; 7,4). Wenn die Glaubenden beständig von der Sünde abgewandt durch den Wandel nach dem Geist, also durch ihr Handeln in Gerechtigkeit, im als „geistlich“ zu bezeichnenden Leben bleiben, dann erlangen sie dementsprechend das ewige Leben (vgl. V 6.13; auch 6,23). Wie die Formulierung von V 11b aber deutlich macht, bedeutet diese Teilhabe am ewigen Leben nicht, dass nur der Geist der Glaubenden in das ewige Leben hineingezogen wird, sondern schließt die Auferstehung des Leibes ein. Wie bereits der Leib Jesu Christi den mächtigen Geist Gottes erfahren hat, so wird er auch dem sterblichen Leib der Glaubenden widerfahren (vgl. 1Kor 15,35-56). Aus der bisherigen Untersuchung wird deutlich, dass in diesem Abschnitt eindeutig ein ethischer Impetus vorliegt. Paulus will mit dem Verweis auf die künftige Teilhabe am Auferstehungsleben Christi die Glaubenden motivieren, so dass sie im Glauben und dem entsprechenden Lebenswandel in Gerechtigkeit feststehen. Die in V 9 bis 11 wiederholten Konditionalsätze „wenn der Geist Gottes bzw. Christi in

640 Die Vorstellung, dass Gott, der Jesus auferweckt hat, auch den auf Christus Vertrauenden das ewige Leben schenkt, kommt auch in 1Kor 6,14; 2Kor 4,14 (vgl. auch Röm 6,8; 1Kor 15,20ff; 1Thess 4,14) vor. Dass der Geist Gottes eine lebenschenkende Kraft hat, steht traditionsgeschichtlich mit dem Alten Testament in Verbindung (vgl. Ez 37,4-10; TestAbrA 18,11; OrSib 4,46; JosAs 16,14, 19,11; sowie Joh 6,63; 1Petr 3,18; Apk 11,11f). Vgl. Wolter, Römer I, 90.473; ders., Paulus, 164ff. 641 Hinter der vorliegenden Argumentation steht der Gedankengang, dass der Geist Gottes die Menschen verlassen kann. Der Hauptgrund dafür liegt darin zu sündigen (vgl. Gen 6,3; Ri 16,15-20; 1Sam 16,14f; Ps 51,10-11). Gal 3,3 liefert einen vergleichbaren Gedankengang. Paulus mahnt die Galater in Bezug auf die Beschneidungspraxis, dass der Vollzug der Beschneidung das Ende des Lebens im Geist bedeutet und einen Rückschritt in das fleischliche Leben darstellt.

Gerechtigkeit für diejenigen, die den Geist Gottes in sich haben und nach diesem Geist wandeln: Röm 8,1-11

euch wohnt“ besitzen somit paränetische Funktion. Die mit diesen Konditionalsätzen verbundenen Feststellungen von V 9f dienen dazu, die Adressaten aufzurufen, der sündigen Lebensweise zu widerstehen und den Geist Gottes in ihrem Leben walten zu lassen. Angesichts dieses paränetischen Impetus und des betonten Hinweises auf das zukünftige Auferstehungsleben der Glaubenden klingt die Perikope 8,9-11 insgesamt sehr ähnlich dem Argumentationsgang in 6,1-14.642

642 Der Argumentationsgang, in dem Paulus mit dem Hinweis auf die zukünftige Teilhabe am Auferstehungsleben Christi die Glaubenden zum Festhalten am Glauben und zum entsprechenden Lebenswandel in Gerechtigkeit motiviert, ist weiterhin auch in 1Kor 15,1-58; 2Kor 4,7-5,21; Phil 3,1-21 nachzuweisen.

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L.

Berufung, Rechtfertigung und Verherrlichung der leidenden Gläubigen: Röm 8,30

1.

Der nähere Textzusammenhang von Röm 8,30

Im zweiten Teil des Kapitels 8,18-39 handelt sich es um die gegenwärtigen Leiden der Glaubenden und die Heilszukunft, welche diesen letztlich widerfahren wird. An den verschiedenen Perikopen in diesem Abschnitt lässt sich ablesen, dass die christlichen Adressaten in Rom von schwierigen Leiden und Bedrängnissen in der damaligen Gegenwart betroffen waren (vgl. bes. 8,35f).643 In dieser leidvollen Situation ermutigt Paulus die Adressaten dazu, die Leiden zu erdulden und am christlichen Glauben festzuhalten. Die Ermahnungen des Paulus an die Christen in Rom können in den folgenden drei Punkten zusammengefasst werden: Zunächst müssen die Glaubenden in Rom wissen, dass sie „die Miterben Christi (συγκληρονόμοι Χριστοῦ)“ sind. Sie sollen mit Christus leiden, damit sie an der kommenden Herrlichkeit (δόξα) teilhaben (V 17). Woran sie zudem noch mit Gewissheit festhalten sollen, das ist die Zuversicht, dass die gegenwärtigen Leiden im Vergleich mit der kommenden Herrlichkeit bedeutungslos sind (V 18).644 Zweitens müssen die Gläubigen in Rom noch erkennen, dass nicht nur sie, sondern die ganze Schöpfung (κτίσις) unter der verhängnisvollen, elenden Gegenwart „mitleidet und mitseufzt (συστενάζει καὶ συνωδίνει: V 22)“. Sie erwartet auch, dass sie aus der ungewollten Knechtschaft der Vergänglichkeit (δουλεία τῆς φθορᾶς) befreit werden und an der Herrlichkeit der Kinder Gottes teilhaben (V 19-21). Drittens sollen die leidenden Glaubenden in Rom nicht denken, dass sie in dieser schweren Situation allein kämpfen und die Leiden mit ihrer eigenen Kraft durchstehen müssen. Denn der Geist Gottes hilft ihnen. Er tritt „mit unaussprechlichem Seufzen (στεναγμοῖς ἀλαλήτοις)“ für sie ein, wenn sie so schwach sind, dass sie nicht angemessen zu beten wissen, wie es sich gebührt.

643 Die Rede von παθήματα darf man nicht auf das Voranstehende bezogen verstehen, also als innerliche oder alltägliche Leiden, welche wegen der Schwachheit und Sündenhaftigkeit der Menschen entstehen (so aber Wolter, Römer I, 535f). Der folgende Textzusammenhang macht deutlich, dass Paulus hier von den Leidenserfahrungen der Gläubigen spricht, die mit äußerlicher Bedrängnis und Verfolgung zu tun haben. Im Abschnitt Röm 5,1-11, der mit Röm 8,18-39 thematisch eine deutliche Inklusion bildet, hatte Paulus schon die Bedrängnisse, denen die Gläubigen wegen ihres Christseins ausgesetzt sind, klar dargestellt. Eine vergleichbare Ausführung über die leidvolle Situation der Gläubigen und die Gewissheit über das ihnen zuteilwerdende Heil findet sich auch in 1Thess 1-3; 4,13-5,11; 1Kor 15,12-58; 2Kor 4,7-18 und Phil 1,12-30; 3,1-21. 644 Zur ausführlichen Analyse der δόξα-Aussagen in 8,17f im Kontext der leidvollen Situation der Christen vgl. Siber, Mit Christus, 135–168.

Berufung, Rechtfertigung und Verherrlichung der leidenden Gläubigen: Röm 8,30

In V 28 ruft Paulus ferner die Adressaten mit einem sentenzhaften Satz zur Heilsgewissheit auf, welcher sie sich in der Situation des Leidens immer vergewissern müssen645 : Denen, die Gott lieben (τοῖς ἀγαπῶσιν τὸν θεόν), und denen, die nach seinem Vorsatz berufen sind (τοῖς κατὰ πρόθεσιν κλητοῖς οὖσιν), wirkt bzw. verhilft646 alles zum Guten (πάντα συνεργεῖ εἰς ἀγαθόν).647 Das Motiv, Gott zu lieben648 , beruht ursprünglich auf dem Grundgebot in Dtn 6,4.649 Es kommt in der jüdischen Überlieferung immer wieder als eine summarische Aufforderung für die gesamte Tora vor und ist inhaltlich häufig mit ihrer Erfüllung verbunden.650 Demgegenüber bedient sich Paulus dieses Motivs hier eindeutig in Bezug auf die Leidensgemeinschaft mit Christus (vgl. Röm 8,17; Phil 1,29). Gott zu lieben heißt also für Paulus, auf die Heilszukunft blickend die Leiden der Gegenwart mit Geduld zu ertragen.

645 Die rhetorische Funktion von οἴδαμεν ὅτι … in V 28 liegt vor allem darin, eine Gewissheit des Paulus darzustellen, die er selbst für wahr hält, welche kaum jemand verneinen kann. Damit wird gleichzeitig der Blick der Leser auf diese Gewissheit gelenkt, um sie davon zu überzeugen. Die Funktion der einleitenden Redewendung „wir wissen, dass …“ ist also nicht einfach, – wie schon viele Exegeten vorher gedacht haben – sich auf ein gemeinsames Wissen mit den Adressaten zu berufen, in dem Paulus und die Adressaten übereinstimmen (vgl. 2,2; 3,19; 7,14; 8,22; 2Kor 5,1). Vgl. Haacker, Römer, 205f. 646 Zu dieser Bedeutung von συνεργεῖν, s. BAA, s.v. (vgl. auch Schlier, Römer, 271, Anm. 40). 647 Die von P46 A B 81 sa bezeugte Leseart πάντα συνεργεῖ ὁ θεός εἰς ἀγαθόν wäre sekundär. Sie wird wahrscheinlich aus Gründen der Verdeutlichung entstanden sein, um das logische Subjekt des Wirkens zum Guten, θεός ausgesprochen, klar zu machen. Vgl. Michel, Römer, 275; Cranfield, Romans I, 425ff; Käsemann, Römer, 235; Haacker, Römer, 205f; Breytenbach, Liberation, 209. Die Feststellung πάντα συνεργεῖ εἰς ἀγαθόν, die das endgültige Heilsgeschick der Gott Liebenden, der gemäß dem Vorsatz Gottes Berufenen, zum Ausdruck bringt, hat viele vergleichbare Parallelen, sowohl in der jüdischen, als auch in der hellenistischen Tradition: z. B. Sprüche Achikars 167; Platon, Resp. 612e-613a; Corpus Hermeticum 9,4; Plotin, Enn. 4,3,16; Aqiba, bBer 60b. Unter diesen Belegtexten steht Resp. 612e-613a von Platon auf terminologischer und inhaltlicher Ebene in besonderer Weise der paulinischen Aussage nahe. Allerdings ist nicht mit letzter Sicherheit festzustellen, ob Paulus den platonischen Text oder ein von diesem beeinflusstes Sprichwort gekannt hat. Denn trotz der auffälligen Ähnlichkeiten in Stil und Gehalt zwischen der paulinischen Formulierung und oben genannten paganen bzw. jüdischen Texten gibt es zwischen ihnen auch bedeutsame Abweichungen. Der genaue sprachliche Vergleich der Texte legt es näher, dass die Formulierung τοῖς ἀγαπῶσιν τὸν θεὸν πάντα συνεργεῖ εἰς ἀγαθόν auf die Hand des Paulus selbst zurückzuführen ist. 648 Das Motiv der Liebe zu Gott ist bei Paulus nur hier und in 1Kor 2,9; 8,3 belegt, während die Liebe Gottes zu Menschen als ein zentrales Thema der paulinischen Botschaft häufig zu belegen ist (vgl. Röm 1,7; 5,5.8; 8,38 f; 2Kor 13,13; 1Thess 1,4). Vgl. Haacker, Römer, 207. 649 Auf diesen Zusammenhang verweisen auch die meisten Exegeten. Vgl. Michel, Römer, 275; Cranfield, Romans I, 424f; Schlier, Römer, 271, Anm. 41; Zeller, Römer, 163f; Schmithals, Römer, 296f; Haacker, Römer,170; Lohse, Römer, 252; Wolter, Römer I, 528f. 650 Für Belege im Alten Testament und in den jüdischen Schriften vgl. Haacker, Römer, 207; Wolter, Römer I, 528f.

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Die Gerechtigkeitsaussagen im Römerbrief

Zum rechten Verständnis des Satzes ist weiterhin die Frage wichtig, wie πάντα und ἀγαθός hier zu verstehen sind. Der vorliegende Kontext macht deutlich, dass πάντα sich auf die vorher erwähnten Leiden sowie Trübsal (θλῖψις), Bedrängnis (στενοχωρία), Verfolgung (διωγμός) und die anderen in V 35 aufgeführten widrigen Erfahrungen bezieht.651 Im Zusammenhang mit diesem Verständnis von πάντα bezeichnet der Begriff ἀγαθός nicht einen guten, glücklichen Ausgang im irdischen Leben. Er verweist im Kontext vielmehr auf das endgültige Heilsgeschick der leidenden Gläubigen.652 Paulus will also mit der Sentenz von V 28 nicht behaupten, dass alle widrigen Erlebnisse wie Übel, Unglück oder Misserfolg im Leben der Gläubigen letztlich etwas Gutes bringen oder sogar allen Geschöpfen Gottes zu ihrem Wohlergehen dienen. Es geht dabei um die Heilsgewissheit, dass Gott den Seinen sein ganzes Heil trotz aller gegenwärtiger Bedrängnisse und durch sie in allen Fällen widerfahren lassen wird.653 In V 29-30 beschreibt Paulus weiter, mit welchem Zweck Gott die Adressaten zum Christusglauben berufen hat. Die Pointe dieser Verse liegt also nicht darin, eine Prädestinationslehre vorzulegen, die darin besteht, dass Gott vorzeitlich nur gewisse Menschen zum Gerettet-Werden vorherbestimmt hat.654 Paulus vermittelt nun den leidenden Christen vergewissernd, was sie nach der leidvollen Gegenwart in der eschatischen Zukunft heilvoll erfahren werden. Paulus zufolge hat Gott die Menschen, die er im Voraus erkannt hat (οὓς προέγνω)655 , auch schon dazu bestimmt (προώρισεν)656 , „dem Bilde seines Sohnes gleichgestaltet zu werden (συμμόρφους τῆς εἰκόνος τοῦ υἱοῦ αὐτοῦ).657

651 Vgl. Cranfield, Romans I, 428; Käsemann, Römer, 234; Balz, Heilsvertrauen, 104; Lohse, Römer, 252; Wolter, Römer I, 529. 652 Vgl. in diesem Sinne auch Käsemann, Römer, 235; Wilckens, Römer II, 162; Cranfield, Romans I, 428; Schlier, Römer, 270f; Lohse, Römer, 252; Dunn, Romans I, 481 u. a. 653 Vgl. Käsemann, Römer 235. 654 Vgl. Wolter, Römer I, 531.533; Fitzmyer, Romans, 524; Longenecker, Romans, 739. 655 Mit οὓς προέγνω bezeichnet Paulus die christlichen Gläubigen als die Menschen, die Gott zuvor schon erkannt hat, es geht um einen Erwählungsterminus (vgl. Röm 11,2). Der Ausdruck γιγνώσκειν wird schon im Alten Testament häufig in Bezug auf Israel verwendet (DtnLXX 34,10; HosLXX 12,1; 13,5; AmLXX 3,2; vgl. auch 1QH 17,29-30). Die Übertragung dieses Ausdrucks auf die Christen kommt bei Paulus außer Röm 8,29 auch in 1Kor 8,3; 13,12; Gal 4,9 vor (vgl. auch 2Tim 2,19). Vgl. Wolter, Römer I, 531. 656 Das Verb προορίζειν findet sich noch in 1Kor 2,7; Eph 1,5.11; Apg 4,28 und drückt hier ebenfalls „Gottes vorzeitlichen Ratschluss“ aus (vgl. Wolter, Römer I, 531, Anm. 117). 657 So auch viele Exegeten vgl. nur Schlier, Römer, 272; Käsemann, Römer, 236; Zeller, Römer, 165; Wolter, Römer I, 532f. Für das Verständnis von συμμόρφους τῆς εἰκόνος τοῦ υἱοῦ αὐτοῦ erscheint es sinnvoll, die parallelen Stellen bei Paulus wie 1Kor 15,35ff und Phil 3,21 heranzuziehen, welche hinsichtlich der Begrifflichkeit und des Inhaltes mit der Feststellung von V 29 eng zusammenhängen. In 1Kor 15,35ff beschreibt Paulus mit den Begriffen εἰκών und δόξα die Verwandlung des Leibes von Glaubenden und ihre Verherrlichung beim Auferstehungsgeschehen. Er stellt dabei

Berufung, Rechtfertigung und Verherrlichung der leidenden Gläubigen: Röm 8,30

Wie Paulus eindeutig darstellt, ist bereits Jesus Christus bei seiner Auferstehung die Herrlichkeit Gottes zuteilgeworden (vgl. 6,4) und er wurde damit erhöht und als Gottessohn eingesetzt (vgl. 1,4; 8,34). Wenn auch die Glaubenden das im Leiden erduldete Glaubensleben vollendet haben, werden sie auch an der Auferstehung und ihrer Herrlichkeit teilhaben. Sie haben somit eine gewisse Ergehensgemeinschaft mit Christus, und aufgrund dieser Ergehensgemeinschaft mit Christus gelingt den Gläubigen ein neues Verhältnis zu Christus: Sie werden Geschwister Christi und Christus wird für sie der erstgeborene Bruder. Das ist gerade das Ziel, welches Gott schon mit seiner Berufung der Glaubenden im Sinne hatte. Paulus artikuliert dies folgendermaßen: „damit Christus der Erstgeborene (πρωτότοκος)658 unter vielen Geschwistern sei.“ (V 29b). 2.

Das eschatische Heilsgeschick der leidenden Gläubigen (8,30)

2.1

Rechtfertigung und Verherrlichung der leidenden Gläubigen

In V 30 wird das eschatische Heilsgeschick der leidenden Gläubigen nochmals zusammenfassend festgestellt, welches bereits in V 28 in einem sentenzartigen Satz formuliert war und anschließend in V 29 als ein im Ratschluss Gottes vorbestimmtes Ziel erklärt wurde. Paulus beginnt die Beschreibung der erfahrenen göttlichen Heilshandlungen an den Glaubenden mit der Vorherbestimmung Gottes (προώρισεν), welche schon in V 29 besprochen war. Auf die Vorherbestimmung Gottes folgt seine Berufung (ἐκάλεσεν), und am Ende stehen die Rechtfertigung und die Verherrlichung als Inhalt des endgültigen Heilsgeschicks beisammen. Durch diese inhaltliche Weiterführung ist nun konkreter zu erfassen, was den leidenden Gläubigen in der Heilszukunft widerfahren wird. Gott ist hierbei wie immer das Subjekt dieser Heilshandlungen, welche am Glaubenden ergehen.

fest, dass die Zeit der Auferstehung, in der die Gläubigen die Gestalt des Himmlischen tragen und in Unvergänglichkeit und Herrlichkeit auferweckt werden, zu ihnen kommt. Auch in Phil 3,21 drückt Paulus mit Hilfe des gleichen Stichwortes συμμόρφους die Verwandlung des Leibes der Glaubenden aus: Jesus Christus wird „den niedrigen Leib der Glaubenden gleichgestaltet dem Leib seiner Herrlichkeit verwandeln (τὸ σῶμα τῆς ταπεινώσεως ἡμῶν σύμμορφον τῷ σώματι τῆς δόξης αὐτοῦ).“ Von diesen Beobachtungen her kann man den Gehalt von συμμόρφους τῆς εἰκόνος τοῦ υἱοῦ αὐτοῦ nicht anders verstehen, als dass es metaphorisch die Teilhabe der Glaubenden an der Auferstehungsherrlichkeit Christi bedeutet. Dafür sprechen auch die folgende Aussage über die Verherrlichung der Glaubenden in V 30 und das zuletzt in V 17 Gesagte, dass diese als Miterben Christi mit Christus in der kommenden Heilszeit verherrlicht werden. 658 In 1Kor 15,20.23 bezeichnet Paulus Christus mit Bezug auf seine Auferstehung als „Anfangsgabe (ἀπαρχή)“ der Entschlafenen. Die Rede von Christus als πρωτότοκος kommt noch in Kol 1,18 und Offb 1,5 vor.

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Die Gerechtigkeitsaussagen im Römerbrief

Die gesamten göttlichen Handlungen sind dabei in einem Kettenschluss miteinander verbunden und es wird somit dieser gesamte Prozess von der Vorherbestimmung zur Rechtfertigung und Verherrlichung der Glaubenden als ein folgerichtiges, unverbrüchliches Geschehen dargestellt, aus dem kein Teil herausgebrochen werden kann.659 Gott als der Heilsinitiator, setzt das, was er im Voraus bestimmt hat, durch, bis es vollendet wird. Das letzte Ziel, das Gott erreichen will, ist klar: Es ist schlechthin die Rechtfertigung und Verherrlichung der leidenden Gläubigen. Der Text will den Lesern also nicht eine dogmatische Lehre vom ordo salutis liefern. Wenn man z. B. die Reihenfolge von ἐδικαίωσεν und ἐδόξασεν als eine Stufenfolge in der Heilsordnung auffasst, so ist das eine Überinterpretation.660 Ausschlaggebend für das rechte Verständnis hinsichtlich der Kombination dieser beiden Prädikate ist, dass die Begriffe „Gerechtigkeit“ und „Herrlichkeit“ oft zur Bezeichnung des Inhaltes des Heilsgeschicks für die Glaubenden in einen Zusammenhang gebracht werden (vgl. 3,21-24; 5,1-2; auch 6,4-7; Phil 3,9-21661 ). Die beiden Begriffe „Gerechtigkeit“ und „Herrlichkeit“ gehören somit zum festen Repertoire der paulinischen Darstellung über das Heilsgeschick der Glaubenden.662 Hinsichtlich dieses Aufeinanderbezogenseins der Begriffe „Gerechtigkeit“ und „Herrlichkeit“ ist auf die parallele Stellung von δικαιοῦν und ἐνδοξάζειν in JesLXX  45,25 aufmerksam zu machen. Dort findet sich eine Beiordnung von Rechtfertigung und Verherrlichung des Gottesvolkes Israel und beide Begriffe bringen gemeinsam die Wiederherstellung des ursprünglichen, rechten Status Israels als des erwählten Gottesvolkes zum Ausdruck. Bei Paulus ist der Bezug der Begriffe universal ausgeweitet, indem der bezeichnete Zusammenhang nicht nur für Israeliten gültig ist, sondern auf alle Christen in Rom aus Juden und Nichtjuden übertragen wird. Die Differenz zwischen beiden Texten besteht auch darin, dass es in Röm 8,30 um die Wiederherstellung der ungerechterweise, d. h. unverschuldet Leidenden geht, während Israel im Jesajatext aufgrund seiner eigenen Sünde von den heidnischen Völkern unterworfen, aber von Gott gerettet und in seinen vorhergehenden Status zurückversetzt wird.

659 Vgl. Haacker, Römer, 208; Wolter, Römer I, 531. 660 Analoges gilt auch für die Auslegung der Reihenfolge der drei Begriffe δικαιοσύνη, ἁγιασμός und ἀπολύτρωσις in 1Kor 1,30 oder für die Auslegung der Reihenfolge ἀπελούσασθε, ἡγιάσθητε und ἐδικαιώθητε in 1Kor 6,11. 661 In Röm 6,4 und Phil 3,21 bezeichnet δόξα die Herrlichkeit, die Jesus Christus bei seiner Auferstehung erfahren hat. Von der Herrlichkeit der Glaubenden wird nicht explizit gesprochen, aber aus dem Kontext lässt sich auch eine menschliche Seite der Herrlichkeit als christliches Heilsgut ableiten. 662 Zu beachten ist, dass die Erwähnung der Gerechtigkeit in den angeführten Stellen nicht denselben Anwendungshorizont mit Röm 8,30 teilt, da es bei den dortigen Gerechtigkeitsaussagen um eine Rechtfertigung der Sünder geht. Gewichtig ist aber zu bemerken, dass bei Paulus δικαιοσύνη und δόξα häufig zusammen genannt werden zur Beschreibung des Heils der Glaubenden.

Berufung, Rechtfertigung und Verherrlichung der leidenden Gläubigen: Röm 8,30

Der Jesajatext kann jedoch aufgrund des Aussagegehalts ein Verstehenshintergrund für die Zusammenstellung von ἐδικαίωσεν und ἐδόξασεν in Röm 8,30 sein, nicht nur wegen der gemeinsamen Begrifflichkeit, sondern auch, weil es dabei ebenfalls um die kommende Rettung und Wiederherstellung des Status der Leidenden geht. Im Jesajatext ist vom leidenden Israel, in Röm 8,30 von den leidenden Gläubigen in Rom die Rede. Zur Beschreibung dieses Heilshandelns Gottes, das Leidende wieder in den rechten Status zurückversetzt und mit göttlichem Glanz ausstattet, verwenden nun beide Texte die Begriffe δικαιοῦν und (ἐν)δοξάζειν.663 Ein anderes Auslegungsproblem, mit welchem man vorsichtig umgehen muss, ist das Verständnis des Aorists von ἐδικαίωσεν und ἐδόξασεν. Die meisten Exegeten sind der Ansicht, dass mit der Aoristform die Rechtfertigung und Verherrlichung der Glaubenden als ein schon erfolgtes, vollzogenes Geschehen beschrieben sind, um den gegenwärtigen Aspekt des Heilsstandes der Gläubigen betont darzustellen.664 Meines Erachtens wahrscheinlicher ist, dass es sich um eine Feststellung handelt, welche den Akzent auf die unbedingte, unleugbare Wirklichkeit des zukünftigen Heilergehens der leidenden Gläubigen setzt; die Rechtfertigung und Verherrlichung sind so gewiss, dass sie schon in der Vergangenheitsform zur Sprache gebracht werden können.665 Die beiden Aoristformen sind deshalb als gnomische Aoriste zu verstehen. Paulus will also mit der Wendung ἐδόξασεν nicht sagen – wie es in der Forschung oft vertreten wird –, dass die Gläubigen in der Taufe die aufgrund der Sünde verlorene Gerechtigkeit bzw. Herrlichkeit schon jetzt zurückerhalten haben.666 Bei einem solchen Verständnis läse man die Rechtfertigung und Verherrlichung an dieser Stelle im Zusammenhang mit derjenigen der Sünder; die Rechtfertigung und Verherrlichung der Sünder ist jedoch nicht der richtige Sachbezug, der im vorliegenden Kontext von 8,30 vorliegt (s. u.). Stattdessen kommt es Paulus darauf an, seine Gewissheit zum Ausdruck zu bringen, dass den leidenden Gläubigen dem

663 In JesLXX 58,8 stehen δικαιοσύνη und δόξα ebenfalls als Leitbegriffe zur Darstellung der Restitution Israels: „καὶ προπορεύσεται ἔμπροσθέν σου ἡ δικαιοσύνη σου, καὶ ἡ δόξα τοῦ θεοῦ περιστελεῖ σε.“ Die Wiederausstattung mit δικαιοσύνη und δόξα ist das Ziel des Heilshandelns Gottes an Israel schlechthin (vgl. JesLXX 44,21-23; 46,13; 58,8; 61,3; 62,1-3; ApkMos 20,1-2; Bar 5,2). 664 Vgl. Käsemann, Römer, 236f; Schlier, Römer, 273f; Lohse, Römer, 253; Fitzmyer, Romans, 526; Moo, Romans, 535; Jewett, Romans, 530; Giesen, Triumph, 55; Wolter, Römer I, 534. 665 In diese Richtung auch Lietzmann, Römer, 87; Wilckens, Römer II, 165; Mayer, Heilsratschluss, 164f; Cranfield, Romans I, 433; Campbell, Advances, 116–117; Benetreau, Romains I, 245–246; Fitzmyer, Romans, 526; Dunn, Romans I, 485f; Haacker, Römer, 208; Schäfer, Gegenwart, 304f. Ich sehe die Aoristformen ἐδικαίωσεν und ἐδόξασεν als zusammengehörig an und anders als die meisten Exegeten in Bezug auf das zukünftige Geschehen (so auch Prothro, Judge, 203). 666 So z. B. Käsemann, Römer, 236f; Paulsen, Überlieferung, 156–161; Jewett, Romans, 530; Lohse, Römer, 253; Giesen, Triumph, 56; Despotis, Rethinking, 51. Im vorliegenden Text ist dagegen von der Taufe ausdrücklich gar nicht die Rede (vgl. Zeller, Römer, 165).

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Die Gerechtigkeitsaussagen im Römerbrief

Zweck der göttlichen Berufung gemäß Gerechtigkeit und Herrlichkeit unweigerlich mit dem zukünftigen Heil widerfahren werden, wo doch beide in der gegenwärtigen Lebenswirklichkeit gar nicht sichtbar sind (s. u.).667 Für das weitere Verständnis von ἐδόξασεν in Röm 8,30 ist es sehr wichtig zu beachten, dass Paulus mit δόξα in Röm 8 und auch an anderen Stellen in seinen Briefen immer die endzeitliche Zukunft im Blick hat, wenn es ihm besonders auf die Ermutigung seiner in einer Leidenssituation befindlichen Adressaten ankommt (vgl. 5,2; 8,17.18.21; vgl. auch 1Kor 15,40-44; 2Kor 4,17). Von daher lässt sich festhalten, dass auch beim ἐδόξασεν in Röm 8,30 von der künftigen Verherrlichung der Gläubigen die Rede ist. Die meisten Exegeten verweisen auch auf diesen Sachverhalt, interpretieren aber unzutreffend die Verherrlichungsaussage zugleich auch als ein schon beschlossenes Geschehen, indem sie die Verwendung von δοξάζειν mit der von δικαιοῦν in Bezug auf das Taufgeschehen der Glaubenden hin lesen. Sie vertreten somit einen doppelten Zeitaspekt – die Verherrlichung in Röm 8,30 als ein sowohl vergangenes als auch zukünftiges Geschehen –, welcher eigentlich nach sprachlicher Logik unmöglich ist. In dieser Position drückt sich vielmehr ein grundlegender dogmatischer Ansatz aus, der ein spannungsvolles Verhältnis zwischen gegenwärtigem und zukünftigem Heil in den Vordergrund rückt. Diese eher unter dogmatischen Voraussetzungen stehende Deutung erschwert das Verständnis des Aorists ἐδόξασεν in 8,30 und kann zu abwegigen Interpretationen verführen. Wie bereits betont, ist es wichtig zu betrachten, in welchem Kontext die mit ἐδόξασεν ausgesagte Verherrlichung der von Gott Berufenen zur Sprache kommt. Die Rede von der Verherrlichung ist eindeutig in den Kontext des gegenwärtigen Leidens der Christen eingebettet und soll ihren Blick auf ihre heilvolle Zukunft lenken. Aus dieser Beobachtung ist die Interpretation nicht plausibel, nach der das mit ἐδόξασεν zum Ausdruck gebrachte Geschehen mit Bezug auf die Rede von der δόξα in Röm 3,23 als eine Wiederausstattung der wegen der Sünde verlustig gegangenen Herrlichkeit aufzufassen ist. Der Fokus bei der Verwendung von δοξάζειν in Röm 8,30 liegt eindeutig auf einem anderen Aspekt als in Röm 3,23. In unserem Zusammenhang geht es um die Verleihung der göttlichen Herrlichkeit durch Gott, durch die die in der Gegenwart ungerechterweise aufgrund ihres Glaubens leidenden Christen belohnt werden.

667 Man muss besonders die leidvolle Situation der Glaubenden mit Bezug auf ihren verachteten und geschändeten Leib beachten, um die Vorstellung der leiblichen Auferstehung der Glaubenden in 1Kor 15,35ff; Röm 8,11.19f, die Paulus durchgehend mit der δόξα-Terminologie charakterisiert, zu verstehen. Paulus spricht dort ebenfalls von der Auferstehung Jesu und verwendet in diesem Zusammenhang die δόξα-Terminologie.

Berufung, Rechtfertigung und Verherrlichung der leidenden Gläubigen: Röm 8,30

2.2

Die Bedeutung der δικαιοῦν-Aussage

Es kommt nun die Frage auf, warum Paulus hier von der Rechtfertigung spricht. Diese Fragestellung, die für die Interpretation der δικαιοῦν-Wendung in Röm 8,30 von herausragender Bedeutung ist, wird bisher in der Forschung nicht genug beachtet. Die Wendung des δικαιοῦν ist im Blick auf ihre Einbettung in den Kontext jedenfalls auffallend668 – das gilt auch für die δικαιοῦν-Wendung in V 33. Denn im vorliegenden Kontext geht es nicht darum, wie der Mensch ohne Erfüllung der Gesetzesforderungen Gerechtigkeit (δικαιοσύνη) erlangen kann. Wie aus den vorhergehenden Kapiteln 2–6 ersichtlich ist, wird δικαιοῦν bisher sonst immer in einem solchen Kontext gebraucht, in dem die Rechtfertigung durch die Werke des Gesetzes oder die Rechtfertigung aufgrund des Christusglaubens thematisiert wird. Das Verb beschreibt, hauptsächlich in Bezug auf das Heilsgeschick der Glaubenden, die Versetzung derjenigen, die auf Jesus Christus als den rettenden Herrn vertrauen, aus dem Stand des Sünderseins in den des Gerechtseins. Das Verb δικαιοῦν wird in 8,30 jedoch eindeutig in Bezug auf die Rechtfertigung der leidenden Gläubigen verwendet und zwar auf die Rechtfertigung der durch das Heilshandeln Gottes in Christus schon Gerecht-Gewordenen (vgl. 5,1.12f; 6,7.16.18). Von den üblichen Themen, wie z. B. den Werken des Gesetzes, der Beschneidung und der Kindschaft Abrahams, dem Glauben an Christus und der damit verbundenen Frage, wie die Nichtjuden unabhängig von der Erfüllung des Gesetzes die Gerechtigkeit erlangen und in die Gotteskindschaft hineingenommen werden können, die alle bislang im Römerbrief unmittelbar mit der δικαιοῦν-Wendung zu tun hatten, ist hier gar nicht die Rede. Das hier von der δικαιοῦν-Aussage vorgebrachte Thema ist nicht die Rechtfertigung der Sünder, welche durch Werke des Gesetzes ihre Gerechtigkeit nicht vorweisen können, sondern die Rechtfertigung der leidenden Gläubigen, welche aufgrund des Glaubens den Status der Gerechtigkeit schon erlangt haben. Die Bedeutung der Wendung des δικαιοῦν ist daher im Unterschied zu den bisherigen δικαιοῦν-Wendungen im Römerbrief in einem anderen Deutungsraum zu erklären.669 Wie zuvor betrachtet, rückt in Röm 8 der Kontext der leidenden Gläubigen ab V 17 gänzlich in den Vordergrund. Festzuhalten ist, wie Paulus unmissverständlich

668 So bewertet Käsemann das Vorkommen des δικαιοῦν in Röm 8,30. Er versteht aber leider die δικαιοῦν-Wendung im Zusammenhang mit 1Kor 6,11, in dem die Rechtfertigung offenkundig den neu gewonnenen Stand der zum Christusglauben Gekommenen beschreibt. 669 Gegen die meisten Exegeten, welche die Wendung des δικαιοῦν in Röm 8,30 ohnehin im Zusammenhang mit der Rechtfertigung des Gottlosen in Röm 3–5 oder in 1Kor 6,11 interpretieren (etwa Schlier, Römer, 273; Wilckens, Römer II, 165; Wolter, Römer I, 534). Vom Kontext her wird deutlich, dass Paulus in Röm 8,30 nicht von der Rechtfertigung der Sünder spricht, die aufgrund des Christusglaubens errungen wird (vgl. Cosgrove, Justification, 667f).

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Die Gerechtigkeitsaussagen im Römerbrief

darstellt, dass die Gläubigen in Rom nicht wegen ihrer eigenen Sünde den Leiden und Bedrängnissen unterworfen sind. Ihr Glaube an Christus ist der Grund, weswegen sie leiden und bedrängt werden. Die gegenwärtigen Leiden sind in diesem Sinne unberechtigt und ungerecht. Ihr Christusglaube, der eigentlich wahr und recht ist, wird zum einen im Gegenüber zum Kaiserkult in der römischen Umwelt, zum anderen im Gegenüber zum jüdischen Glauben als falsch bewertet und die an Jesus Christus Glaubenden werden damit als Übertreter bzw. Sünder behandelt, verfolgt und bestraft.670 Will man die Wendung δικαιοῦν richtig verstehen, muss man sie sorgfältig innerhalb ihres Zusammenhangs lesen. Dann wird deutlich, dass mit ihr eine Anerkennung und Wiederherstellung der leidenden Glaubenden durch Gott zum Ausdruck gebracht werden soll, in dem Sinne, dass sie für ihr Gerechtsein anerkannt werden, d. h. dafür, dass sie auch in der Bedrängnis am von Paulus weitergegebenen Christusglauben festgehalten und so ein der göttlichen Anerkennung angemessenes Leben vollzogen haben. Die Gläubigen leiden jetzt ungerechterweise in der irdischen Welt, wo sie durch irdische Mächte und Gewalten bedroht werden; in ihrer aktuellen Lebenssituation findet sich nichts, was auf δικαιοσύνη und δόξα hindeuten könnte. So stehen δικαιοσύνη und δόξα fern vom gegenwärtigen Leben der leidenden Gläubigen. Nachdem sie die Leiden im Vertrauen und mit der Hoffnung auf die kommende Heilszeit durchgestanden haben, werden sie aber mit Christus an der Auferstehungsherrlichkeit teilhaben und Gott lässt ihnen Recht und Gerechtigkeit widerfahren. Um die Verwendungsweise des δικαιοῦν im Hinblick auf die leidenden Menschen richtig zu erfassen, empfiehlt es sich besonders auf JesLXX  50,8-9 und JesLXX  53,11 aufmerksam zu machen, wo von der Rechtfertigung des leidenden Gottesknechtes durch Gott die Rede ist. Die Verwendung des δικαιοῦν in Röm 8,30 hängt insofern semantisch mit derjenigen in JesLXX  50,8-9 und JesLXX  53,11 zusammen, als es in den beiden Fällen gleichsam um die Rechtfertigung eines Leidenden geht, der von sich aus eigentlich keinen gerechten Grund für seine Leiden, sodass sie verdient wären, gegeben hat. Das sogenannte dritte Gottesknechtlied JesLXX  50,4-11 berichtet, dass sich der prophetische Gottesknecht wegen seiner Verkündigung der Botschaft Gottes in schwieriger Lage befindet, in der er von seinen Gegnern angefeindet und verfolgt wird. Der Gottesknecht vertraut aber fest Gott, dass dieser hinter seinem Verkündigungsamt steht und ihm hilft. Und in diesem großen Rahmen seines Gottesvertrauens bekennt er auch, „der Herr sei ihm nah, der ihm Recht verschafft hat (ὅτι ἐγγίζει ὁ δικαιώσας με: V 8).“ Daher kann niemand einen

670 Im vorliegenden Text ist nicht ausgesagt, aus welchem Grund die Gläubigen in Rom bedrängt und verfolgt werden. Aus dem Kontext ist jedoch festzustellen, dass sie wegen ihres Christseins den Bedrängnissen ausgesetzt sind.

Berufung, Rechtfertigung und Verherrlichung der leidenden Gläubigen: Röm 8,30

Rechtsstreit gegen den Gottesknecht führen. Die Vorstellung vom festen Vertrauen des Gottesknechtes in Gott in JesLXX 52,8-9, welche durch die nacheinander folgenden rhetorischen τίς-Fragen formuliert wird, wird bezeichnenderweise auch in den folgenden Versen Röm 8,31-34 aufgenommen. In JesLXX 52,13-53,12 ist auch die Rede von einem leidenden Gottesknecht. Er leidet aber anders als im Fall des dritten Gottesknechtliedes nicht wegen seiner Verkündigung, sondern wegen der Sünde der anderen und er stirbt sogar um der anderen willen. Der schuldlose, gerechte Knecht nimmt die Sünde der anderen auf sich und erträgt wie ein Sünder stellvertretend alle Leiden und die Todesstrafe, die eigentlich an die sündigen gesetzlosen Menschen ergehen sollten (V 4-8; V 12). Der leidende Gottesknecht verschafft damit vielen Frieden und Heil (V 5). In den letzten Versen 11-12 wird die heilvolle Zukunft bzw. Restitution des Gottesknechtes angesprochen, dass ihm Recht verschafft wird671 . Seine Wiederausstattung mit der Gerechtigkeit ist also auch hier bezeichnenderweise ein wesentlicher Bestandteil des zukünftigen Heilsgeschicks des Gottesknechtes. Die Verwendungsweise des δικαιοῦν-Begriffs im Kontext der leidenden Gläubigen in Röm 8,30 steht in der Bedeutung „Recht verschaffen“ eindeutig in der Linie von JesLXX 50,8 und 53,11. Eine andere vergleichbare Wendung des δικαιοῦν findet sich außerhalb des Römerbriefes in 1Kor 4,4, wo Paulus von seiner endgültigen Rechtfertigung durch Gott spricht. In dieser Rechtfertigungsaussage handelt es sich ebenso wie in Röm 8,30 nicht um eine Rechtfertigung des Gottlosen. Es geht stattdessen um die Rechtfertigung des Apostels Paulus, in dem Sinne, dass Gott ihn als einen wahren, rechten Apostel anerkennt, welcher als „Diener Christi (ὑπηρέτης Χριστοῦ) bzw. Verwalter des göttlichen Geheimnisses (οἰκονόμος μυστηρίων θεοῦ)“ sein Amt aufrichtig ausgeführt hat (s. u.).

671 Anders als das Verb ‫ צדק‬im masoretischen Text wird in der griechischen Überlieferung durch das Verb δικαιοῦν nicht die Rechtfertigung der Sünder, sondern die Rechtfertigung des Knechtes Gottes ausgedrückt. Das logische Subjekt von δικαιῶσαι ist grammatisch zweifellos Gott.

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396

Die Gerechtigkeitsaussagen im Römerbrief

M.

Gott ist es, der seinen Erwählten Recht verschafft: Röm 8,33

1.

Der weitere Textzusammenhang und sprachliche Merkmale des Abschnittes 8,31-39

Mit einem lobpreisenden bzw. bekenntnishaften Text 8,31-39 bringt Paulus den langen Gedankengang zum Abschluss, den er ab Röm 5 ausgeführt hat.672 Thematisch schließen sich die Verse 8,31-39 mit dem zentralen Argument unmittelbar an den voranstehenden Abschnitt an, da die zuvor bereits ausgeführten Themen der Gewissheit des Triumphes der Glaubenden und der diesen ermöglichenden souveränen Macht Gottes weiter fortgeführt werden. Im neuen Abschnitt werden diese Themen allerdings mit neuen inhaltlichen Gesichtspunkten bzw. rhetorischen Elementen entfaltet. Auf inhaltlicher Ebene fällt vor allem auf, dass das Motiv der Liebe Gottes (V 39) bzw. Christi (V 35) mit besonderem Nachdruck hervorgehoben wird. Die Liebe Gottes und die Liebe Christi sind schlechthin die Grundlage, aufgrund derer sich die Glaubenden trotz aller Leiden und Bedrängnisse der Gegenwart ihres endgültigen Heils sicher sein können. Wie die aufgezählten Leidenserfahrungen in V 35 und das Zitat aus PsLXX 43,23, auf welches sich Paulus wohl in Bezug auf die gegenwärtige Leidensexistenz der Adressaten beruft, andeuten, sind die christlichen Glaubenden einer schwierigen Leidenssituation ausgesetzt. Paulus stellt voll Gewissheit jedoch fest, dass keine Widerstände oder feindlichen Mächte die Christen von der Liebe Gottes bzw. Christi trennen können (V 35-39). Im Hinblick auf seinen Sprachgebrauch ist auch erkennbar, dass Paulus zur Beschreibung des Liebeshandelns bzw. der Übermacht Gottes auf verschiedenes Traditionsgut rekurriert (s. u.)673 ; so z. B. mit folgenden Wendungen: „Gott gab seinen Sohn für uns dahin.“ (V 32); „Gott ist es, der Recht schafft.“ (V 33); „Christus sitzt als Erhöhter zur Rechten Gottes.“ (V 34). Hinsichtlich des rhetorischen Stils ist der Text mit vier mit τίς eingeleiteten rhetorischen Fragen gestaltet674 , die den endgültigen Sieg der Christen über alle Formen von Widrigkeiten und Bedrängnissen illustrieren sollen. Die ersten beiden Fragen charakterisieren die heilvolle 672 Vgl. Osten-Sacken, Römer 8, 60; Schlier, Römer, 276; Käsemann, Römer, 238; Moo, Romans, 538; Lohse, Römer, 254. Einige Exegeten sind auch der Ansicht, dass Röm 5,1-11 und Röm 8,31-39 eine Ringkomposition bilden. Vgl. Breytenbach, Liberation, 198f; Eschner, Gestorben, 445f. Die einleitende Frage τί οὖν ἐροῦμεν hat hier anders als an den sonstigen Belegstellen in Röm 3,5; 6,1.15; 7,7; 9,14 einen resümierenden Charakter und leitet einen neunen Gedankengang ein (so Haacker, Römer, 211; Wolter, Römer I, 539). 673 Vgl. Lohse, Römer, 254f; Wischmeyer, Beobachtungen, 800f. 674 Der rhetorische Stil des Gegenübers von Gott auf der einen Seite und τίς-Frage auf der anderen Seite eines Satzgefüges findet sich mehrfach im Alten Testament. Zu den Belegen s. Wolter, Römer I, 538. Im Hinblick auf den Sinngehalt der Aussage und ihrer Argumentation steht besonders JesLXX  50,8-9 der Argumentation in Röm 8,31-34 nahe (s. u.).

Gott ist es, der seinen Erwählten Recht verschafft: Röm 8,33

Gottesnähe der von Gott Erwählten, das christliche Wir. Die dritte und die vierte Frage bringen die besondere Interzession Christi im Gericht bzw. seine Liebe zu diesen zum Ausdruck. Die hier zu untersuchende Aussage θεὸς ὁ δικαιῶν findet sich in der zweiten rhetorischen Frage, welche die Rechtfertigung der leidenden Gläubigen durch Gott zur Sprache bringt und die Möglichkeit der Anklage dieser Gläubigen souverän abweist. 2.

Das Für-uns-Sein Gottes und dessen Hingabe seines Sohnes für uns (V 31-32)

Bei dem ersten Satzgefüge aus Bedingungssatz und τίς-Frage in V 31b-c geht es um die Feststellung, dass Gott den Seinen beisteht und zu ihren Gunsten handelt und somit niemand ihnen etwas anhaben kann. Die Protasis des Bedingungssatzes und die Apodosis mit der folgenden τίς-Frage sind zwar prägnant formuliert, bedürfen aber einer prädikativen Ergänzung, um ihren Gehalt – im Sinne eines aktiven Dafür- bzw. Dagegen-Seins675 – eindeutiger zu erschließen. Eine mögliche und zum naheliegenden Kontext passende Interpretation wäre, die ὑπέρ- und κατά-Formulierungen mit forensischer Konnotation zu lesen. Die Wendung ὁ θεὸς ὑπὲρ ἡμῶν wäre dann in dem Sinne zu verstehen, dass Gott in der eschatischen Gerichtsverhandlung für die Seinen Fürsprache hält, und τίς καθ᾿ ἡμῶν in dem Sinne, dass ein möglicher Gegner im Prozess beabsichtigt, ihnen zu schaden.676 Dieses Verständnis schließt sich gut an die folgenden Verben ἐγκαλεῖν, κατακρίνειν und ἐντυγχάνειν an, die jeweils eindeutig mit forensischer Konnotation verwendet werden. Sodann wird gewissermaßen von V 31 bis V 34 eine Gerichtsszene konstruiert, in der die Glaubenden sich vorfinden und ihnen Gegner gegenüberstehen, die sie anklagen und ihnen schaden wollen. Der folgende Vers 32 führt Gottes Beistand für die Gläubigen weiter. Paulus zufolge handelt Gott, auf den sie ihr Vertrauen setzen und dem sie dienen, aus Liebe zu ihnen und zu ihren Gunsten und ist darüber hinaus bereit, ihnen alles aus Gefälligkeit zu schenken.677 Die nicht näher bestimmte Wendung τὰ πάντα referiert 675 Vgl. Wolter, Römer I, 540. 676 Die elliptischen Wendungen ὑπὲρ ἡμῶν und καθ᾿ ἡμῶν können im allgemeinen Sinne ihrer Bedeutung verstanden werden, so dass Paulus an dieser Stelle die Zuwendung bzw. Vorsorge Gottes für die Glaubenden ausdrücken würde. Demgegenüber sind die Wendungen hier aber, wie oben dargestellt, im Kontext der in V 33f beschriebenen Prozesssituation mit einer forensischen Konnotation zu lesen (vgl. Du Toit, Focusing, 255f; Wischmeyer, Beobachtungen, 802f; Haacker, Römer, 211). 677 Die Verwendung von χαρίζεσθαι korrespondiert semantisch offenbar mit der in V 32a geäußerten Vorstellung „nicht verschont, sondern dahingegeben“ (vgl. Eschner, Gestorben, 454). Die geläufige Wiedergabe von χαρίζεσθαι mit „schenken“ ist hinsichtlich des semantischen Spektrums des Verbs unzutreffend, weil dieses die Bedeutungsnuance „aus Gunst, erfreuend schenken, geben“ nicht

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hier sehr wahrscheinlich auf das eschatologische Heil und nicht auf die Summe der irdischen Güter.678 In Bezug auf diese Vorstellung der Bereitschaft Gottes, „alles zu schenken“, weist Paulus unterstreichend auf das bereits beschlossene Liebeshandeln als die zunächst begründende Prämisse hin. Dieses Liebeshandeln Gottes besteht darin, dass Gott seinen eigenen Sohn nicht verschont (ὅς γε τοῦ ἰδίου υἱοῦ οὐκ ἐφείσατο)679 und für „uns“ hingegeben hat (ἀλλὰ ὑπὲρ ἡμῶν πάντων παρέδωκεν αὐτόν). In Hinsicht auf ihren konzentrierten Gehalt und ihre theologische Bedeutung verdient die Aussage ὑπὲρ ἡμῶν πάντων παρέδωκεν αὐτόν besondere Beachtung. Sie bringt das Dahingeben des Sohnes Jesus Christus durch Gott präzise zur Sprache. Abgesehen von 8,32 verwendet Paulus das Kompositum παραδιδόναι zur Beschreibung des Sterbens Jesu auch in Gal 2,20; Röm 4,25 (vgl. auch Gal 1,4).680 Während in Röm 4,25 durch die Wendung διὰ τὰ παραπτώματα ἡμῶν der Grund der Hingabe hervorgehoben wird, wird παραδιδόναι in Röm 8,32 und in Gal 2,20 in mit umfasst. Die Verwendung von χαρίζεσθαι in Röm 8,33 ist m. E. mit der häufigen paulinischen Verwendung des Wortstamms χαρις- verbunden. 678 Das Wort πάντα kann man vom Kontext her am besten als das eschatische Heil deuten und nicht auf irdische Güter hin, die der Mensch schon im Diesseits erfahren oder besitzen kann. Der Sinnzusammenhang macht deutlich, dass sich die Christen in Rom in einer leidvollen Situation befinden und somit die Interpretation des Verses 32 als Versprechen weltlichen Reichtums unplausibel erscheint. Da auch der weitere Kontext das Eschaton behandelt, ist davon auszugehen, dass auch hier davon die Rede ist. 679 Viele Exegeten nehmen aufgrund der Wendung οὐκ ἐφείσατο an, dass Paulus hier auf GenLXX  22,12.16 anspielt. Diese Anspielung wird aber sehr unterschiedlich bewertet, wobei die Vorschläge von einer einfachen Anspielung bzw. einem Anklang (so Paulsen, Überlieferung, 165–168; Käsemann, Römer, 239; Wilckens, Römer II, 172f; Popkes, Christus, 195; Cranfield, Romans 1, 436; Schmithals, Römer, 307; Stuhlmacher, Römer, 126f; Dunn, Romans I, 501; Lohse, Römer, 255f; Haacker, Römer, 211; Moo, Romans, 540) bis zu einer bewussten Abraham-Gott-Typologie oder einer Isaak-Christus-Typologie (Dahl, Atonement, 19) reichen. Aus meiner Sicht ist der Verweis auf GenLXX 22,12.16 als Hintergrund für das Verständnis von Röm 8,32 aber nicht erforderlich bzw. zutreffend (mit Kuss, Römer, 652f; Lohse, Märtyrer, 90ff; Schlier, Römer, 277; Wolter, Römer I, 541f). Betrachtet man οὐκ ἐφείσατο und παρέδωκεν als zusammengehörend, gibt es dafür einige parallele Belege in der jüdischen wie auch in der paganen griechischen Tradition, an denen die beiden Ausdrücke zusammen verwendet werden, s. Josephus, Ant. 7,296; griechHen 98,12; Plutarch, Tib. Gracch. 7,4 (zu den Belegen vgl. Wolter, Römer I, 541f). Daher lässt sich vermuten, dass Paulus unabhängig von GenLXX 22,12.16 die Formulierung οὐκ ἐφείσατο … παρέδωκεν gebraucht hat, um den Tod Jesu als Beleg für die außergewöhnliche Zuwendung Gottes zu „uns“ herauszustellen. Auszuschließen ist jedoch nicht, dass die Leser des Römerbriefes, die die Genesisstelle kennen, durch die besondere Wendung auch an die Abrahamserzählung in Gen 22 erinnert worden sein können. 680 Aufgrund der sprachlichen und gedanklichen Nähe ist anzunehmen, dass die paulinische Hingabeformulierung in den genannten Stellen von derjenigen in JesLXX 53 beeinflusst ist. Die Wendung ὑπὲρ ἡμῶν πάντων παρέδωκεν αὐτόν in Röm 8,32 kommt der Formulierung κύριος παρέδωκεν αὐτὸν ταῖς ἁμαρτίαις ἡμῶν in JesLXX 53,6 besonders nah.

Gott ist es, der seinen Erwählten Recht verschafft: Röm 8,33

Verbindung mit dem von der Präposition ὑπέρ abhängigen Personalpronomen gebraucht, womit die durch diese Handlung begünstigten Personen („mich (Paulus)“ bzw. „uns (die Glaubenden)“) zur Sprache kommen. Im Unterschied zu Röm 8,32 ist in Gal 2,20 allerdings nicht von der Hingabe des Sohnes durch Gott, sondern von der Selbsthingabe Christi die Rede (παραδόντος ἑαυτὸν ὑπὲρ ἐμοῦ681 ). Somit ist Röm 8,32 der einzige Text im Corpus Paulinum, in dem Paulus expressis verbis erklärt, dass Gott seinen eigenen Sohn für „uns alle“ hingegeben hat.682 Aus dieser Formulierung geht klar hervor, dass Gott selbst als handelndes Subjekt das Sterben Jesu zu Gunsten der Menschen initiiert hat. Der Tod Jesu ist insofern für Paulus keine – gegebenenfalls irrtümliche – Bestrafung eines Aufständischen, sondern das planvolle souveräne Heilshandeln Gottes, in welchem Gott das Vernichtungsgericht, das eigentlich die sündige Menschheit treffen sollte, zu ihren Gunsten und zu ihrer Rettung an seinem eigenen Sohn vollzogen hat.683 Auf der anderen Seite gibt es Aspekte, in welchen Gal 2,20 und Röm 8,32 übereinstimmen. Der erste ist das Liebesmotiv, das im unmittelbaren Kontext ausgesprochen wird. Hinter diesem Motiv verbirgt sich der entscheidende Grund dafür, warum Gott seinen Sohn bzw. warum Christus sich selbst für die sündigen Menschen hingegeben hat. Ein anderer Faktor ist die Sohnesbezeichnung (ὁ υἱὸς τοῦ θεοῦ (Gal 2,20); ὁ ἴδιος υἱός (Röm 8,32)), welche das Verhältnis zwischen Gott und Jesus Christus als Vater-Sohn-Beziehung darstellt. Von diesem gegebenen Sachverhalt her kann man aus der Aussage von Röm 8,32 ableiten, dass das Sterben Jesu als die Hingabe des eigenen Sohnes durch Gott ein Geschehen ist, das die Einzigartigkeit von Gottes Liebe zu den Menschen unter Beweis stellt. Aufgrund dieses Liebeshandelns Gottes darf man damit rechnen, dass Gott den an Christus Glaubenden, den zu ihm Gehörenden auch „alles“ wohlwollend schenken wird. An diesem Argumentationsgang zwischen der Feststellung von V 32a und der daran direkt angeschlossenen Frage πῶς οὐχί ist ein A-fortiori-Argument zu erkennen, das den πολλῷ-μᾶλλον-Schlüssen von Röm 5,9.10 formal und inhaltlich entspricht.684 Wie dort geht Paulus vom Schwereren (bzw. vom bereits beschlossenen Geschehen) zum Leichteren (bzw. auf das noch bevorstehende Geschehen). Bedenkt man also, dass Gott seinen eigenen Sohn (sein Liebstes, Größtes, Bestes) für die Glaubenden dargebracht hat, kann man davon ausgehen, dass dieser Gott, welcher solch eine schwerwiegende Tat vollbracht hat, sie vor allen Angriffen schützt und am endgültigen Heil teilhaben lässt. Die Hingabe des Sohnes durch

681 Von der Selbsthingabe Jesu bzw. Christi sprechen im Neuen Testament auch Eph 5,2.25; 1Tim 2,6 und Tit 2,14. 682 Dieser Gedankengang kommt auch in Röm 5,8f vor, aber nur implizit. 683 Zur Auffassung der Hingabeformulierung von 8,32 im Zusammenhang der Gerichtssituation vgl. Eschner, Gestorben, 457ff. 684 Vgl. Haacker, Römer, 212; Wolter, Römer I, 541; Eschner, Gestorben, 453f.469f.

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Gott ist bei Paulus somit die Grundlage dafür, dass die Glaubenden ihres endgültigen Sieges sicher sein können. Das Sterben Jesu hat insofern besondere Bedeutung nicht nur in Bezug auf die Heilsgegenwart der Glaubenden, sondern auch für das zukünftige heilvolle Geschehen. 3.

Das Verständnis der Wendung δικαιοῦν in ihrem Textzusammenhang

3.1

Das im Text vorausgesetzte Gottesbild: Gott als höchster Richter

Die Verse 33-34 führen die in V 32 dargestellte Einsicht in Gottes Haltung zu den Seinen nun im Kontext eines himmlischen Gerichts weiter.685 Dabei erklärt Paulus mit besonderem Nachdruck, dass es unmöglich ist, dass jemand die Erwählten Gottes (d. h. die an Christus Glaubenden)686 anklagt. Der darauf folgende Satz gibt den Grund dafür eindeutig an: „θεὸς ὁ δικαιῶν.“687 Wiederum ist hierbei unverkennbar, dass das Verb δικαιοῦν im Kontext des Gerichtsverfahrens gebraucht wird. Der Richter, der die Rechtfertigung der Menschen vollzieht, ist – wie immer bei Paulus – Gott (vgl. Röm 3,26.30; 4,5; 1Kor 4,4; Gal 3,8)688 . Will man die Feststellung, dass, wenn Gott die Seinen rechtfertigt, sich niemand und nichts diesem rechtfertigenden Urteil Gottes widersetzen kann, nachvollziehen, muss man zunächst die hierfür notwendige Einsicht voraussetzen, nämlich dass Gott der höchste Richter ist, der allein endgültige Urteile über alle Menschen fällt. Gottes Urteile sind immer gerecht und richtig, weil sie seinem Wesen als gerechtem Richter entsprechen müssen (vgl. Röm 2,1-10; 3,1-8). Bei dieser Gottesvorstellung als gerechter Richter greift Paulus offenkundig auf das Gottesbild im Alten Testament zurück, wo Gott häufig als ein gerechter Richter prädiziert wird, der über alle Menschen und alle Geschöpfe höchste Souveränität besitzt. Spricht dieser gerechte Richter, Gott, der die höchste Gerichtsbarkeit ausübt, jemanden gerecht, dann kann kein anderer gegen diesen von Gott als gerecht Anerkannten Anklage erheben. Diese Vorstellung Gottes als eines gerechten Richters, welcher dem Menschen endgültiges Recht verschaffen kann, steht im Hintergrund 685 Vgl. Michel, Römer, 282; Schlier, Römer, 277; Wilckens, Römer II, 174f; Fitzmyer, Romans, 533; Dunn, Romans I, 502; Haacker, Römer, 212. 686 ἐκλεκτοὶ θεοῦ bezieht sich im vorliegenden Kontext auf die christlichen Gläubigen, die in den vorangegangenen Versen ständig mit ἡμεῖς bezeichnet werden. Für Paulus ist klar, dass das Geschehen, dass die römischen Gläubigen zum Christusglauben gekommen sind, auf die Berufung Gottes zurückgeführt wird (vgl. Röm 1,7; 8,28; 1Kor 1,2.9.24; 7,15.17f.20-22.24 u. a.). 687 Das Partizip δικαιῶν beschreibt näher, welche Rolle Gott hierbei einnimmt, nämlich die eines gerechtsprechenden Richters. 688 In den genannten Stellen wird das Verb δικαιοῦν immer in Verbindung mit Gott als handelndes Subjekt verwendet. Daneben finden sich bei Paulus auch viele Belege, bei denen das Verb im Passiv steht, Gott aber offensichtlich als logisches Subjekt anzunehmen ist.

Gott ist es, der seinen Erwählten Recht verschafft: Röm 8,33

der Aussage von V 33, in der sie auf die im Endgericht stattfindende Rechtfertigung der Christen bezogen wird. 3.2

Die Bedeutung der δικαιοῦν-Aussage in 8,33 und ihre Nähe zu derjenigen in JesLXX 50,8-9

Im Blick auf den unmittelbaren Kontext liegt die Pointe der Wendung θεὸς ὁ δικαιῶν in Röm 8,33 offenbar nicht in einer Rechtfertigung der Sünder im Sinne, dass Gott aufgrund seiner Gnade einen ungerechten Sünder für gerecht erklärt.689 Wie bereits festgestellt, ist die Aussage θεὸς ὁ δικαιῶν in eine Prozesssituation eingebettet, in die der Gläubige (nicht ein Sünder) eingetreten ist und in der Gott sich für ihn gegen alle möglichen Anklagen einsetzt. Diejenigen, denen in diesem Prozess Gottes Rechtfertigung widerfährt, sind dem Kontext gemäß die christlichen Gläubigen, die bereits aufgrund des Christusglaubens Gerechtigkeit erlangt haben (d. h. als Gerechte in die Heilsgemeinschaft Gottes eingetreten sind).690 Bei der δικαιοῦν-Aussage in 8,33 kann es sich somit nicht um den Vorgang handeln, dass Gott den Gottlosen, aber an Christus glaubenden Menschen gerecht spricht. Ein weiteres Indiz dafür, dass es sich hier nicht um die Rechtfertigung der Sünder handelt, ist, dass die mit dem sogenannten paulinischen Rechtfertigungsgedanken häufig verbundene Frage, ob ein Mensch durch Werke des Gesetzes oder aufgrund des Glaubens an Christus Gerechtigkeit erlangt, im vorliegenden Kontext fehlt. Daraus ergibt sich die Frage, was mit der Wendung θεὸς ὁ δικαιῶν hier ausgesagt werden soll. Sind die leidenden Christen schon gerechtfertigt worden, warum haben sie es dann ein weiteres Mal nötig, gerechtfertigt zu werden? Der Kontext legt nah, dass die Formulierung θεὸς ὁ δικαιῶν so verstanden werden soll, dass Gott den christlichen Gläubigen, welche in der Welt ungerecht misshandelt und verfolgt werden, Recht schafft. Die Formulierung θεὸς ὁ δικαιῶν beschreibt den eschatischen heilvollen Moment, in dem die Glaubenden nicht nur vor dem Gericht gerettet

689 Die meisten Exegeten verstehen die Verwendung des δικαιοῦν ohne nähere Begründung im Zusammenhang mit dem paulinischen Rechtfertigungsgedanken, nämlich, dass der Mensch allein aufgrund des Glaubens freigesprochen wird. Damit stellen sie die Verwendung des δικαιοῦν an dieser Stelle auf eine Ebene mit der Verwendung des Verbs in 3,24f; 5,1 (vgl. Wilckens, Römer II, 174; Haacker, Römer, 212; Wolter, Römer I, 545; Schäfer, Gegenwart, 327f). Die Verwendungsweise des Verbs δικαιοῦν in 8,30.33 unterscheidet sich in ihrer spezifischen Konnotation von der Rechtfertigung des leidenden Gerechten im Kontext von den üblichen Belegen bei Paulus (vgl. Cosgrove, Justification, 667f). 690 Wie im Römerbrief die Rechtfertigung im Aorist zur Sprache gekommen ist, haben die an Christus Glaubenden und jetzt Leidenden bereits den Status der Gerechtigkeit erlangt: Röm 3,24.26; 5,1.9.1719; auch Gal 2,16.21; 3,6ff; 1Kor 1,30; 6,11; 2Kor 5,21. Die Rechtfertigungsaussagen an diesen Stellen referieren offenkundig auf den bereits erfolgten Wechsel des Status der Glaubenden, dass sie von Gott als Gerechte anerkannt worden sind.

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werden, sondern ihre Gerechtigkeit restituiert wird. Insofern ist die Verwendung des δικαιοῦν hier mit diesem Sinngehalt mit der in V 30 verbunden, durch die ebenfalls die endgültige Wiederherstellung der Gerechtigkeit der Glaubenden zum Ausdruck gebracht wird. Im eschatischen Moment werden sie auch mit Herrlichkeit ausgestattet, wie Christus es bereits bei seiner Auferstehung erfahren hat (5,2; 6,4; 8,17.18.21.30; 1Kor 15,35f). Wenn Gott als letzte Instanz die Gläubigen ins Recht setzt und ihnen gegen alle möglichen Angreifer und Ankläger beisteht, kann natürlich niemand ihnen schaden. Paulus ermutigt die leidenden Christen mit dem Hinweis auf diese heilvolle Zukunft, damit sie nicht auf die gegenwärtigen Leiden achten, sondern ihre Aufmerksamkeit auf die von Gott ausgehende Rechtfertigung und Verherrlichung lenken und ihren Glauben nicht preisgeben (vgl. 8,18.24-25). Zu Röm 8,33-34 gibt es einen in gewisser Weise analogen Text im Jesajabuch, im sogenannten dritten Gottesknechtslied.691 Diese Parallele kann zum rechten Verständnis des auf ähnliche Weise durch forensische Termini gestalteten Textes in Röm 8 beitragen, insbesondere in Bezug auf die Frage, wie die Wendung δικαιοῦν im Hinblick auf die gegenwärtige widrige Situation der christlichen Gläubigen zu verstehen ist. Zu erkennen sind eindeutig die gemeinsamen Elemente zwischen JesLXX 50,8-9 und Röm 8,33-34, sowohl im Stil als auch in den grundlegenden Motiven.692 So bringen die τίς-Fragen in JesLXX 50,8-9, wie diejenigen in Röm 8,33-34, die Unmöglichkeit zur Sprache, dass niemand mit demjenigen, welchem Gott Recht verschafft hat, in einen Rechtsstreit eintreten kann. Die Person, der Gott in diesem Rechtsstreit beisteht, ist der Gottesknecht, der Prophet Jesaja, der zur Verkündigung des Wortes Gottes gesandt wurde und eben deswegen unter Schmähung und Verfolgung leidet (vgl. JesLXX 50,4f). Der Prophet erträgt das ihm widerfahrende Leid, weil er sich sicher ist, dass Gott, der ihm sein Wort anvertraut hat, auch auf seiner Seite steht. Er ist gewiss, dass Gott, der ihm Recht verschafft hat, zu seinen Gunsten handelt, sodass alle Versuche seiner Gegner, ihm etwas anzuhaben, erfolglos bleiben (JesLXX 50,9f). Deswegen kann er mit voller Zuversicht bekennen, dass er als gerechter Diener Gottes im Recht bleiben wird. Die grundlegende Gemeinsamkeit zwischen dem Jesaja- und dem Paulustext besteht vor allem in der Ansicht, dass Gott den Seinen beisteht und zum Recht verhilft. In den beiden Texten tritt Gott als der rechtschaffende Richter gegenüber

691 In der Forschung wurde häufig angenommen, dass die Form und Struktur von JesLXX 50,8-9 die rhetorischen Fragen in Röm 8,31f beeinflusst habe (vgl. Wilckens, Römer II, 174; Kleinknecht, Gerechtfertigte, 354ff; Osten-Sacken, Römer 8, 43ff; Käsemann, Römer, 240; Schlier, Römer, 277; Wilk, Bedeutung, 280ff; Lohse, Römer, 257; Cosgrove, Justification, 668f; Stuhlmacher, Römer, 127; Fitzmyer, Romans, 532; Seifrid, Romans, 633–635; Prothro, Judge, 205). Die Exegeten bewerten diesen Einfluss aber unterschiedlich, von einer Anspielung bis zu einem Zitat. 692 Ähnliche mit JesLXX 50,8-9 vergleichbare Reihen von rhetorischen Fragen finden sich in SapSal 12,12-16.

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einem leidenden Menschen hervor. Zu beachten ist hierbei die Frage, was für eine Rechtfertigung in JesLXX 50,8 und in Röm 8,33 durch das Verb δικαιοῦν zur Sprache kommt. Wie oben skizziert, ist an der JesLXX 50,8 vorangehenden Strophe abzulesen, dass der Prophet in Bedrängnis und Verfolgung geraten ist, weil er das ihm anvertraute Wort Gottes verkündigt, welches aber den Hörern ein Ärgernis bleibt. Der Prophet ist also unverschuldet in diese Situation gelangt, er leidet ungerechterweise. Im Blick auf diese Betrachtung des Kontextes von JesLXX 50,8 hat die δικαιοῦν-Aussage offenkundig nicht mit der Rechtfertigung eines Gottlosen zu tun. Wenn Gott somit den Propheten als einen ungerecht Leidenden rechtfertigt, so geht es nicht darum, dass er ihn aufgrund seiner Gnade von einem Ungerechten zu einem Gerechten macht. Die δικαιοῦν-Aussage verweist vielmehr darauf, dass dem Gottesknecht, welcher grundlos Ungerechtigkeit erlitten hat, Recht verschafft wird. Wenn der Prophet feststellt, dass Gott ihm Recht verschafft hat, bedeutet dies, dass der Prophet in seinem Dienst als Gottesknecht im Recht ist und somit niemand urteilen kann, er hätte als Verkünder des Gotteswortes falsch oder ungerecht gehandelt.693 3.3

Zum Gebrauch von δικαιοῦσθαι in 1Kor 4,4 und von δικαιοσύνη in Gal 5,5 mit Blick auf die Verwendung des Verbs δικαιοῦν in Röm 8,33

Im Hinblick auf den Verwendungszusammenhang und argumentativen Sinngehalt des Verbs δικαιοῦν in Röm 8,33 gibt es bei Paulus weitere vergleichbare Stellen in anderen Briefen. Diese Vergleichstexte finden sich in 1Kor 4,4 und Gal 5,5, wo jeweils das Verb δικαιοῦσθαι und das Nomen δικαιοσύνη vorkommen. In beiden Texten handelt es sich, wie in Röm 8,33, um ein zukünftiges Geschehen, in dem der Christenmensch im göttlichen Gericht mit Gerechtigkeit versehen wird. Die beiden Textstellen stimmen insofern überein, als die Gerechtigkeits- bzw. Rechtfertigungsaussage nicht die Rechtfertigung des Gottlosen beschreibt, sondern wie Röm 8,33 den Fokus darauf richtet, die Glaubenden, der lebenslang am Christusglauben festgehalten hat, endgültig als Gerechten anzuerkennen. In 1Kor 4,4 geht es um die endgültige Anerkennung des Apostels Paulus durch Gott, demgegenüber betrifft Gal 5,5 die endgültige Rechtfertigung aller Gläubigen. Angesichts des vorliegenden Argumentationsstils und -gehalts lässt sich die Textpassage 1Kor 4,1-5 als eine apologetische Rede ansehen.694 Dabei verteidigt Paulus gegenüber den Adressaten, welche ihn als einen geringen Apostel beurteilen, seine Autorität als wahrer Apostel und betont die Ernsthaftigkeit und Berechtigung seines 693 Auch die Aussage in JesLXX 54,17 kommt dem Argument in Röm 8,33 nahe, weil auch hier die Rede davon ist, dass niemand die von Gott gerechtfertigten Söhne Zions anklagen kann. Jeder Angriff bzw. jede Anklage bleibt ohne Erfolg, da Gott den Israeliten beisteht. 694 Vgl. Schrage, 1Korinther I, 318f.

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Dienstes durch Gott.695 Dabei macht er von vornherein deutlich, dass er und seine Mitarbeiter von Gott eingesetzt worden sind und nicht von einer menschlichen Instanz. Er bezeichnet sich selbst und seine Mitarbeiter in diesem Sinne als Gehilfen Christi (ὑπηρέται Χριστοῦ) und zwar als Verwalter der Geheimnisse Gottes (οἰκονόμοι μυστηρίων θεοῦ) (V 1). Im Anschluss an diese Bestimmung seines Aposteldienstes mahnt Paulus die Adressaten in Korinth, nicht vorzeitig über ihn zu urteilen, und teilt mit, dass für ihn die Beurteilung durch die Korinther und auch jegliche Beurteilung von menschlichen Instanzen gar nicht relevant ist (V 3a). Zu der menschlichen Beurteilung, welche für ihn sinnlos ist, keine endgültige Legitimation hat, gehört auch sein eigenes Urteil über sich (V 3b). Auch wenn er seine Dienstführung als Apostel ganz positiv beurteilen kann, hält Paulus sein eigenes Urteil für völlig unerheblich (V 4). Denn er hält fest, dass allein der Herr (κύριός) als die legitime Instanz Befähigung und Berechtigung hat, ihn hinsichtlich seiner Durchführung als Verkündiger des Evangeliums zu beurteilen (vgl. 2Kor 5,10). In diesem Sinne rechnet Paulus nicht damit, dass er trotz seiner eigenen positiven Beurteilung sich und seinen Dienst jetzt schon letztgültig als gerecht bzw. treu beurteilen kann (ἀλλ᾿ οὐκ ἐν τούτῳ δεδικαίωμαι). Stattdessen überlässt er dem kommenden Herrn Jesus Christus (ὁ δὲ ἀνακρίνων με κύριός ἐστιν) das Urteil über seine Person und seine Amtsführung als Diener Gottes. Besonders zu beachten ist hierbei, was für eine Rechtfertigung durch die Wendung δεδικαίωμαι an dieser Stelle zur Sprache kommt. Mit dem Partizip δεδικαίωμαι artikuliert Paulus hier offenbar nicht eine Rechtfertigung bzw. Gerechtsprechung der Sünder, welche sich eigentlich mit ihren eigenen Taten vor Gott nicht als Gerechte erweisen können.696 Von einer solchen Rechtfertigung der Sünder durch Gott spricht Paulus sehr häufig in seinen Briefen und es ist in der Tat seine übliche Gebrauchsweise des Verbs (vgl. Röm 3,24.26.28.30; 4,2.5; 5,1.9; 6,7; 1Kor 6,11; Gal 2,16.17.21; 3,11.24). Wie das unmittelbare Textumfeld zeigt, hat Paulus allerdings in 1Kor 4,4 nicht die Frage im Blick, wie ein Sünder Gerechtigkeit von Gott erlangen kann. Beim Gebrauch des δικαιοῦν in 1Kor 4,4 handelt es sich vielmehr um die endgültige Anerkennung durch die göttliche Instanz, bei der ein Diener Gottes im Blick auf seinen Dienst als wahrer Gerechter dargestellt wird.697 Der

695 Vgl. Prothro, Judge, 118f. 696 Vgl. Weiss, 1Korinther, 98. 697 So auch Weiss, 1Korinther, 97f; Kuck, Judgement, 199f; Cosgrove, Justification, 663; Prothro, Judge, 118f. Das Perfekt οὐκ δεδικαίωμαι kann zunächst so verstanden werden, dass Paulus mit diesem Perfektum über sich selbst urteilt. Im Textzusammenhang ist es jedoch in Bezug auf das göttliche Urteil zu lesen (vgl. Weiss, 1Korinther, 97f; Schlage, 1Korinther I, 325; Kuck, Judgement, 199f; Cosgrove, Justification, 663; Prothro, Judge, 118f).

Gott ist es, der seinen Erwählten Recht verschafft: Röm 8,33

kommende Herr beurteilt die Diener Gottes hinsichtlich der getreuen Durchführung ihres Auftrags. Wenn Paulus bei der eschatischen Gerichtsverhandlung als gerechter Diener Gottes besteht, wird ihm das endgültige Rechtfertigungsurteil vom kommenden Herrn, der ihm als einzige kompetente Instanz gilt, zuteil. Bis dahin darf man überhaupt keine Beurteilung über den Apostel vornehmen, „alle innerzeitlichen Urteile bleiben im wahrsten Sinne des Wortes so Vor-Urteile“.698 Am Ende des Abschnitts verweist Paulus mit Nachdruck darauf, auf welche Weise das Gericht Christi über jeden ergehen wird. Der Richter Christus „bringt das in der Finsternis Verborgene ans Licht und macht die Pläne des Herzens offenbar (φωτίσει τὰ κρυπτὰ τοῦ σκότους καὶ φανερώσει τὰς βουλὰς τῶν καρδιῶν)“.699 In dieser bildhaften Darstellung wird explizit gemacht, dass beim Urteilshandeln des Herrn (Jesus Christus) anders als bei menschlichen Gerichtsbarkeiten keine falschen Urteile gefällt werden können. Wenn ein Richter nicht nur die äußerlichen Taten, sondern auch die verborgenen geheimen Regungen und Absichten aufdeckt und beurteilt, kann daraus geschlossen werden, dass die Urteile eines solches Richters immer gerecht und wahrhaft sind. Der in diese Schilderung des eschatischen Gerichtsszenarios eingebettete Argumentationsgang zeigt, dass der primäre Impetus dieser Schilderung nicht einfach darin liegt, schlicht mitzuteilen und zu schildern, wie das eschatische Gericht über die Menschen sich vollziehen wird.700 Da Paulus im Textzusammenhang gegenüber der Beurteilung der Korinther, die Paulus für nicht berechtigt und unangemessen hält, auf das göttliche Urteil hinweist, will er vielmehr gegenüber seinen Adressaten herausstellen, dass er ein wahrer, gerechter Apostel ist, der sich nicht von der Bewertung einer menschlichen Instanz abhängig macht, sondern seine Anerkennung allein im göttlichen Urteil sucht (vgl. auch 1Kor 3,1f; 9,24f; 2Kor 10,12-18; 11,31).701 Berücksichtigt man diesen Kontext, lässt sich schließen, dass Paulus die

698 Schrage, 1Korinther, 325. Aus dem Appell in V 5 darf man jedoch nicht vorschnell den Schluss ziehen, dass Paulus ein menschliches Richten gänzlich ausschließt (vgl. 1Kor 6,2). Jedoch will Paulus herausstreichen, dass, wie Schapdick kommentiert, „der Vorgang des (ἀνα)κρίνειν exklusiv einem eschatisch-zukünftigen Zeitzusammenhang angehört (5b), sodass jeder Versuch forensischen Urteilens durch Menschen in aktueller Gegenwart unzeitgemäß bzw. verfrüht ist“. (Anerkennung, 94). 699 Das in V 5 vorgebrachte Bild vom eschatischen Urteilshandeln des kommenden Herren geht auf die alttestamentlich-jüdische Vorstellung der göttlichen Gerichtsbarkeit zurück. Zum Ausdruck φωτίσει τὰ κρυπτὰ τοῦ σκότους vgl. JerLXX 16,17; PsLXX 139,1f; PredLXX 12,14; 2Makk 12,41; Sir 1,30; 16,17; 17,15.20 u. a..; äthHen 9,5; 49,4; 84,3; 96,6-8 u.ö; zu φανερώσει τὰς βουλὰς τῶν καρδιῶν vgl. 1KönLXX 8,39; 2ChrLXX 6,30; PsLXX 7,10; 43,22; SprLXX 15,11; SapSol 1,6; Sir 42,18 u. a. Bei Paulus findet sich auch in Röm 2,16 eine vergleichbare Vorstellung vom göttlichen Gerichtsvorgang, dabei ist ebenfalls von einem göttlichen Richter, der alles sieht und dem nichts verborgen bleibt, die Rede. 700 Vgl. Schapdick, Anerkennung, 100.103. 701 Dazu vgl. Kuck, Judgement, 196–210.

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Die Gerechtigkeitsaussagen im Römerbrief

oben geschilderte Gerichtsszene nicht fürchtet, sondern geradezu erwartet. Er ist gewiss, dass Gott bzw. Christus im eschatischen Gericht ihn zum gerechten Apostel erklärt (vgl. 1Kor 3,6f; 4,6f; 2Kor 5,11; auch 2Tim 4,8702 ). Diese Gewissheit basiert auf der Überzeugung des Paulus’, dass er seinen Dienst als Apostel gerecht ausgeführt hat, auch wenn er dafür viele Leiden erfahren musste (vgl. 1Kor 4,6f; 9,1f; 2Kor 4,7f; 6,3f; 7,2f; 10,1f; 11,1f). Während die δικαιοῦν-Wendung in 1Kor 4,4 auf Paulus’ eigene Tätigkeit und seine göttliche Anerkennung bezogen ist, geht es bei der Wendung δικαιοσύνη in Gal 5,5 um die göttliche Anerkennung der mit „wir“ bezeichneten Glaubenden. Paulus sagt: „Wir erwarten durch den Geist das Hoffnungsgut der Gerechtigkeit (ἐλπίδα δικαιοσύνης ἀπεκδεχόμεθα) aufgrund des Glaubens.“703 Um die Frage zu beantworten, in welchem Sinne die Wendung δικαιοσύνη zu verstehen ist, ist es nötig, einen sorgfältigen Blick auf den näheren Kontext zu werfen. Anschließend an seine typologische Auslegung der Sara-Hagar-Geschichte bringt Paulus in 5,1 mit großem Nachdruck die Hauptthese seines gesamten Briefes vor, nämlich dass die Glaubenden durch das Heilswerk Christi Freiheit erlangt haben und dass sie gegen alle Unterdrückungen und Angriffe in dieser Freiheit bestehen sollen.704 Wie in 3,13 ist Christus in 5,1 als der Aktant der Befreiungstat dargestellt. Gott ist derjenige, der die Glaubenden zur Freiheit berufen hat (5,13), Christus hingegen ist der Erlöser, der durch seinen Tod705 für die Glaubenden unmittelbar die Grundlage der Befreiung geschaffen und ihnen Freiheit geschenkt hat.706 Die Freiheit ist aber nicht nur die Folge, die durch das Erlösungswerk Christi entstand, sondern auch dessen Ziel.707 Die Galater dürfen diese Freiheit nicht preisgeben, sondern sollen sie bewahren, indem sie sich nicht wieder den Forderungen des Gesetzes unterwerfen. 702 Besonders in 2Tim 4,8 ist gut zu erkennen, dass der Begriff δικαιοσύνη in Bezug auf die göttliche Anerkennung bzw. Belohnung des gerechten Aposteldienstes verwendet wird: „λοιπὸν ἀπόκειταί μοι ὁ τῆς δικαιοσύνης στέφανος, ὃν ἀποδώσει μοι ὁ κύριος ἐν ἐκείνῃ τῇ ἡμέρᾳ, ὁ δίκαιος κριτής.“ Es geht hier nicht um die von Gott geschenkte Gerechtigkeit, die ausschließlich auf seiner Gnade basiert; vielmehr kommt die endgültige Belohnung zum Ausdruck, bei der der Richter Christus die Bemühungen und Haltungen des Paulus als gerecht würdigt. 703 Der Genitiv δικαιοσύνης ist als gen. apposi. zu verstehen und gibt an, was das erhoffte Gut ist (vgl. Betz, Galater, 447f; Rohde, Galater, 217f; Kertelge, Rechtfertigung, 147). Dies ist die Gerechtigkeit, die den Glaubenden im eschatischen Gericht zuteilwird, und zwar im Sinne der göttlichen Anerkennung (s. u.). 704 Die durch den Glauben erlangte Freiheit ist das den gesamten Brief durchziehende Thema (vgl. Gal 2,4; 4,22f; 5,13). 705 Wenn Paulus wie in Gal 5,1 die Bezeichnung Χριστός in Bezug auf das Heilsgeschehen verwendet, schließt diese Bezeichnung das Sterben Jesu mit ein. 706 Vgl. Zimmermann, Gott und seine Söhne, 108f. 707 Der Dativ τῇ ἐλευθερίᾳ drückt das Ziel bzw. den Zweck aus, wofür Christus starb; τῇ ἐλευθερίᾳ ist in diesem Sinne als dat. fin. zu verstehen. In 5,13 wird auch die Freiheit als Ziel der göttlichen Berufung genannt (vgl. Mußner, Galater, 342).

Gott ist es, der seinen Erwählten Recht verschafft: Röm 8,33

Wie im Galaterbrief mehrfach angedeutet wird, sind die heidnischen Christen in den galatischen Gemeinden aber in die Gefahr geraten, sich ihrer Freiheit berauben zu lassen. Sie sind dabei, sich nach dem Verlangen der jüdischen Unruhestifter auf die Gesetzesforderungen einzulassen. Von der Aussage in 5,2 her ist zu erkennen, dass innerhalb dieser Problematik der Einhaltung des Gesetzes besonders die Beschneidungsforderung im Mittelpunkt steht (vgl. Gal 2,3f; 6,12f; vgl. auch Phil 3,1f). Was die Übernahme der Beschneidung bedeutet und welche Konsequenzen sich aus ihr ergeben, legt Paulus in den nachfolgenden Versen mahnend und mit nachdrücklicher Autorität dar (Ἴδε ἐγὼ Παῦλος λέγω: V 2).708 Paulus zufolge ist das Sich-Beschneiden-Lassen nichts anderes, als dasjenige nutzlos zu machen, was Christus getan hat (5,2.4; vgl. Gal 2,21), und zieht die katastrophale Konsequenz nach sich, aus der Gnade Gottes herauszufallen. Auch nach der Erklärung des Paulus in 5,3 bedeutet die Beschneidung die Übernahme der Verpflichtung, das ganze Gesetz zu befolgen. Diese Verpflichtung führt zwangsläufig zum Fluch (vgl. 3,12-13), denn keiner vermag die Forderungen des Gesetzes vollständig zu erfüllen. Auf diese Mahnung folgt eine scharfe Verurteilung der Gegner, die die Beschneidung verlangen. Die jüdischen Gegner, welche durch die Forderung der Beschneidung die Galater in Verwirrung gebracht haben, werden von Paulus als „schlechter Sauerteig“ bezeichnet, den es sobald wie möglich zu beseitigen gilt (5,9). So ist Paulus der Überzeugung, dass die jüdischen Verführer ein strafendes Gerichtsurteil zu erwarten haben (5,10.12; vgl. Röm 3,8; Phil 3,1-2). Für das nähere Verständnis der Situation der galatischen Gemeinde ist ferner die Aussage des Paulus zu berücksichtigen, dass er selbst verfolgt wird, weil er nicht mehr die Beschneidung predigt und allein den Glauben an den gekreuzigten Christus Jesus verkündet (5,11). Dass der Grund zur Verfolgung gerade in der Verkündigung des Christusglaubens besteht, wird vor allem dadurch bestätigt, dass Paulus die Verfolgung der jüdischen Gegner als „Ärgernis des Kreuzes (σκάνδαλον τοῦ σταυροῦ)“ bezeichnet (vgl. auch 1Kor 1,22-24).709 Von der Verfolgung aufgrund seiner Predigt spricht Paulus nochmals in 6,12 und teilt dort mit, dass es in der Gemeinde Personen gibt, die durch die Forderung der Beschneidung die Verfolgung vermeiden wollen. Aus dem bisher erläuterten Hintergrund wird deutlich, dass die Gläubigen in Galatien, die die Forderung der Beschneidung zurückwiesen, ihrerseits von Verfolgung bedroht waren. Fasst man diese Situation der galatischen Gemeinde ins Auge, ergibt sich eine Interpretationsmöglichkeit der Aussage ἐλπίδα δικαιοσύνης ἀπεκδχόμεθα in 5,5, die der gängigen Interpretation entgegensteht, nach welcher der Ausdruck im Sinne der Vollendung der Rechtfertigung der Glaubenden im Endge-

708 Vgl. auch 2Kor 10,1. 709 Vgl. Rohde, Galater, 223f.

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Die Gerechtigkeitsaussagen im Römerbrief

richt zu verstehen ist.710 Demgegenüber ist ἐλπίδα δικαιοσύνης ἀπεκδεχόμεθα im oben geschilderten Textzusammenhang vielmehr als Ausdruck einer auf göttliche Anerkennung gerichteten Erwartung der Glaubenden zu verstehen, welche trotz Verfolgung im Glauben an Christus beharren. Die im Ausdruck als Hoffnungsgut angegebene δικαιοσύνη verweist auf das zukünftige Moment, in dem Gott die treue Haltung der Glaubenden und ihr Beharren im Glauben als gerecht würdigen und anerkennen wird. Der Geist Gottes verleiht den Glaubenden die Kraft, in Hoffnung auf dieses zukünftige Moment zu bestehen (vgl. Röm 5,5; 8,26f); diese Hoffnung gründet im Vertrauen auf Jesus Christus. Versteht man den Ausdruck in diesem Sinne, braucht man nicht wie die meisten Exegeten von einer doppelten Rechtfertigung zu sprechen. Es ist zwar nicht zu bestreiten, dass bei Paulus die Rechtfertigung der Glaubenden in verschiedenen zeitlichen Formen, als mitunter gegenwärtig schon erfolgte oder mitunter als zukünftig noch ausstehende, zur Sprache kommt. Aus der Analyse des Textzusammenhangs der Belege für die zukünftige Rechtfertigung bei Paulus geht aber deutlich hervor, dass, wenn die δικαι-Termini wie in 1Kor 4,4; Gal 5,5 und in Röm 8,33 im Zusammenhang des künftigen Endgerichts Gottes verwendet werden, es sich um eine göttliche Anerkennung bzw. Belohnung der Glaubenden handelt und nicht um eine doppelte Realisierung oder endgültige Vollendung der Rechtfertigung, in der Gott den Glaubenden die in der Gegenwart bereits erlangte Gerechtigkeit, jedoch zunächst nur als erhoffte und ausstehende, endgültig zuteilwerden lässt.

710 So aber z. B. Stalder, Werk des Geistes, 459; Käsemann, Gottes Gerechtigkeit, 368f; Becker, Heil Gottes, 267f; Conzelmann, Grundriß, 243; Kertelge, Rechtfertigung, 147; Betz, Galater, 447f; Mußner, Galater, 351; Rohde, Galater, 217f.

Die Heiden haben Gerechtigkeit erlangt, Israel aber nicht: Röm 9,30-33

N.

Die Heiden haben Gerechtigkeit erlangt, Israel aber nicht: Röm 9,30-33

1.

Der nähere Textzusammenhang von Röm 9,30-33

Der Abschnitt Röm 9,30-33 ist in den weiteren Kontext von Röm 9-11 eingebettet, wo sich Paulus im Lichte der gegenwärtigen Heilsferne der Israeliten mit der Frage nach ihrer Rettung befasst.711 Wie an mehreren Stellen angedeutet, hat sich Israel zu großen Teilen gegenüber dieser Heilsbotschaft verschlossen und damit das Unheil auf sich gezogen, während viele aus den nichtjüdischen Völkern zum Christusglauben gekommen sind (vgl. 9,24f; 10,19f; 11,11-12). 9,30-33 stellt gerade diese Geschicke der heidnischen Völker und Israels zusammenfassend dar, welche aufgrund der je verschiedenen Reaktion auf die Heilsbotschaft ganz unterschiedlich verlaufen sind. Inhaltlich schließt dieser Abschnitt eindeutig an den voranstehenden 9,14-29 an, wobei Paulus unter Berufung auf die Zitate aus den Propheten (Hos 2,1; 2,25; Jes 1,9; 10,22) die Hinwendung der vielen Heiden zum Glauben und demgegenüber die Verweigerung des großen Teils Israels anführt.712 Der Abschnitt 9,30-33 verbindet sich jedoch auf der Argumentationsebene nicht nur mit dem Voranstehenden, sondern auch mit dem Folgenden. Die in 9,30-31 ausgeführten zweierlei Wege zur Gerechtigkeit, auf denen sich jeweils Heiden und Israeliten befinden, nämlich entweder auf dem Weg des Christusglaubens oder auf dem Weg der Werke des Gesetzes (d. h. durch das Ausführen der Gesetzesforderungen)713 , werden in 10,1f weiter fortgeführt. Diese Weiterführung ist vor allem an der Gegenüberstellung von ἡ ἐκ τοῦ νόμου δικαιοσύνη714 und ἡ ἐκ πίστεως δικαιοσύνη in 10,5-6 erkennbar, welche die Vorstellung von den beiden Wegen 711 Dabei sollte eine andere Ebene auch nicht übersehen werden, nämlich dass Paulus dabei das grundlegende Prinzip des Heils mehrfach darlegt: das Heil ist nicht durch eigenen Verdienst oder durch eigene Werke zu erlangen, sondern wird aufgrund des Glaubens zugeeignet (9,11-18; 9,3010,10; 11,4-6). Dabei betont Paulus, dass das Heil allein auf dem Erbarmen Gottes, bzw. auf seiner Gnade, beruht (9,11.16; 11,5-7.30-32). 712 Der Kontext macht deutlich, dass mit ἔθνη ohne Artikel nicht alle Heiden gemeint sind, sondern es bezieht sich auf die Heiden, die die Heilsbotschaft im Glauben angenommen haben. Gleichermaßen bedeutet Ισραὴλ hier auch nicht die Gesamtheit der Israeliten, sondern die Juden, die die Heilsbotschaft ausgeschlagen haben. Für eine ausführliche Erklärung des argumentativen Zusammenhangs von V 30-33 zum vorangegangenen Abschnitt vgl. Flebbe, Solus Deus, 336f. 713 Die den Weg der Juden definierende Formulierung ἐξ ἔργων in V 32 ist um νόμου zu ergänzen (s. u.). 714 Im NA28-Text steht eigentlich mit der Form ἡ δικαιοσύνη ἡ ἐκ τοῦ νόμου. Der Genitiv-Artikel von NA wird in Zweifel gezogen; er ist aber durch frühe Handschriften wie P46 D2 F G K L P gut bezeugt. Durch die Wiederholung des Artikels ἡ wird die Bestimmung ἐκ τοῦ νόμου eigens hervorgehoben. Man kann sie entsprechend der gegenüberstehenden Formulierung ἡ ἐκ πίστεως δικαιοσύνη wie oben umformulieren.

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Die Gerechtigkeitsaussagen im Römerbrief

zur Gerechtigkeit in 9,30-32 aufnimmt. 9,30-33 ist also ein Übergang, der den vorhergehenden Abschnitt abschließt und gleichzeitig zu einem neuen Einsatz überleitet.715 In diesem Übergangsabschnitt wird die Wendung δικαιοσύνη in Bezug auf die Darstellung der gegenwärtigen Lage von Israel und den Heiden ganz in den Vordergrund gerückt. In welcher Bedeutung dieser Begriff verwendet wird, muss aber im jeweiligen Textzusammenhang sorgfältig betrachtet werden. 2.

Die Bedeutung von δικαιοσύνη-Aussagen in V 30-31

2.1

Die Vorstellung von διώκειν δικαιοσύνην bzw. νόμον δικαιοσύνης

Τί οὖν ἐροῦμεν hat nicht die Funktion wie in 6,1.15; 9,14, einen Einwand einzulei-

ten, sondern führt den Argumentationsgang des Vorangehenden weiter fort und bringt zugleich im Folgenden einen neuen Gedanken ein.716 Im Anschluss an diese einleitende Frage stellt Paulus in V 30-31 das Geschick Israels und der Heiden als Folge ihrer jeweiligen Reaktion auf die Heilsbotschaft in antithetischer Struktur dar. Durch diesen parallelen Aufbau wird das paradoxe Ereignis herausgestellt, dass diejenigen, die nicht erstreben, erlangen, und diejenigen, die erstreben, nicht erlangen.717 Bei dieser Gegenüberstellung verweist Paulus zunächst mit Hilfe des Bildworts διώκειν auf die gegensätzlichen Lebensweisen von Heiden und Israeliten. Die Sätze sind zu Beginn mit dem gemeinsamen Verb διώκειν und hinsichtlich der Struktur als parallel. membr. konstruiert. Die Teile der beiden Sätze sind im Hinblick auf die weiteren verwendeten Begriffe jedoch nicht kongruent formuliert (zur ausführlichen Analyse des Satzbaus s. u.). Bei den auffälligen Abweichungen in den Formulierungen auf der Seite Israels wird gerade aufgezeigt, worin ihr Misserfolg und falsches Bemühen besteht (s. u.). Die Verwendung des Verbs διώκειν wird von vielen Exegeten als auf den Wettkampf bezogen verstanden.718 Diese Deutung ist jedoch im Hinblick auf seinen üblichen Sprachduktus nicht sicher zu erheben (dasselbe gilt meines Erachtens auch für Röm 9,16; 1Kor 9,24; Phil 3,12-14.16). Denn durch das Verb διώκειν wird ohne kontextuelle Bezugnahme auf einen Wettkampf häufig einfach diejenige Handlung bezeichnet, in der jemand jemandem oder etwas nachjagt (oder verfolgt).719 Wenn das Verb in Verbindung mit καταλαμβάνειν gebraucht wird, beschreibt es

715 716 717 718

Vgl. Wilckens, Römer, 211. Vgl. Siegert, Argumentation, 141; Haacker, Römer, 238; Lohse, Römer, 286. Vgl. Siegert, Argumentation, 142. Vgl. Michel, Römer, 321; Schlier, Römer, 306; Siegert, Argumentation, 141; Wilckens, Römer II, 211; Haacker, Römer, 238; Lohse, Römer, 286; Fitzmyer, Romans, 577; Dunn, Romans II, 580; Wolter, Paulus, 359 u. a. 719 Vgl. Oepke, s.v. (ThWNT); LSJ, s.v.; Spicq, s.v.; BAA, s.v.

Die Heiden haben Gerechtigkeit erlangt, Israel aber nicht: Röm 9,30-33

ein Jagen nach Menschen oder Dingen, um diese zu ergreifen. Dafür finden sich zahlreiche Belege sowohl in der profanen griechischen Literatur als auch in den alttestamentlichen und frühjüdischen Texten.720 Zu beachten ist allerdings, dass die Formulierung διώκειν δικαιοσύνην (bzw. τὸ δίκαιον) außer in den Paulusbriefen auch in der alttestamentlich-jüdischen Tradition belegt ist.721 Sie bringt im übertragenen Sinne einen Lebenswandel in Gerechtigkeit zum Ausdruck und hängt häufig zusammen mit der Vorstellung vom Befolgen der Tora: DtnLXX  16,20; SprLXX  15,9; Sir 27,8; JesLXX  51,1; Josephus, Ant. 6,263 (vgl. auch 1Tim 6,11; 2Tim 2,22).722 Paulus übernimmt diese traditionelle Vorstellung von διώκειν δικαιοσύνην, um die einstige Lebensweise der christlichen Heiden zu charakterisieren; in Bezug auf die Israeliten aber erweitert er die Formulierung zu διώκειν νόμον δικαιοσύνης. 2.2

Die Gerechtigkeit der Heiden: Die Gerechtigkeit aus dem Glauben (V 30)

Um die Bedeutung der ganzen Darstellung des positiven Geschicks der Heiden zu erfassen, ist es zunächst notwendig, die Bedeutung der Aussage ἔθνη τὰ μὴ διώκοντα δικαιοσύνην noch im konkreten Kontext zu verstehen. Die äußerlich auf den ersten Blick nicht schwer verständlich erscheinende Darstellung bereitet in der Auslegung beträchtliche exegetische Probleme. Die Deutung der gesamten Aussage ist abhängig davon, wie man den Begriff δικαιοσύνη versteht. Ist hier mit δικαιοσύνη die Gerechtigkeit im Sinne einer ethischen Kategorie gemeint? Oder bezieht sich sie auf Gerechtigkeit als den Status des Menschen, welchen der Mensch durch seine Handlungen erreicht?723 Beide Interpretationen sind von der sprachlichen Konstruktion her zulässig. Im Blick auf die syntaktisch entsprechende Korrelation zur Aussage διώκων νόμον δικαιοσύνης in V 31, welche die Lebensbestimmung der Juden „unter dem Gesetz“ kennzeichnet (vgl. Gal 4,21; 1Kor 9,20), ist es jedoch wahrscheinlicher, dass δικαιοσύνη in μὴ διώκοντα δικαιοσύνην als eine ethische Kategorie (also als Tugend) zu verstehen ist, die sich auf die menschlichen Handlungen bezieht und diese qualifiziert. Das Verständnis, dass die Heiden δικαιοσύνη als den Stand der Gerechtigkeit nicht erstrebten, ist dagegen mit dem vorgegebenen Kontext schwer zu vereinbaren. Diese Beobachtung führt zu folgender interpretierender Paraphrase: Die Heiden haben vor ihrer Hinwendung zu Christus ihr Leben nicht in Gerechtigkeit gestaltet, sondern in Sünde gelebt.

720 Vgl. GenLXX 31,23; ExLXX 15,9; DtnLXX 19,6; 2KönLXX 25,5; SirLXX 11,10; 27,8; Thucydides, 8,15,1; Plutarch, Nicias 24,2; Dion. 39,4; Aratus 40,6 u. ö. 721 Wolter, Römer II, 96. Plato. 722 Vgl. Käsemann, Römer, 267; Cranfield, Romans II, 507, Anm. 2; Jewett, Romans, 609; Zeller, Römer, 184; Fitzmyer, Romans, 577 u. a. 723 Diese Position vertreten z. B. Michel, Römer, 321; Cranfield, Romans, 506f; Käsemann, Römer, 268; Lohse, Römer, 286; Moo, Romans, 621.

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Die Gerechtigkeitsaussagen im Römerbrief

Man könnte nun aber fragen, in welchem Sinne diese Bewertung der Heiden zutreffend ist. Aus unseren Kenntnissen über die antike Philosophie in der römischen Welt geht klar hervor, dass die damaligen Griechen auch einen sittlichen Maßstab im Blick auf das zwischenmenschliche Leben hatten. δικαιοσύνη wurde in dieser Tradition als eine Grundtugend im zwischenmenschlichen Leben angesehen. Die abwertende Beschreibung der Lebensweise der Heiden bei Paulus kann man nur dann nachvollziehen, wenn man seine anderen negativen Aussagen über die Heiden in Betracht zieht, welche durch seinen jüdischen Hintergrund geprägt sind.724 In diesem Zusammenhang bezeichnet Paulus die Heiden, also die Nichtjuden aus der jüdischen Sichtweise, als ἁμαρτωλοί und stellt ganz selbstverständlich fest, dass die Juden einschließlich seiner selbst nicht zu diesen gehören (Gal 2,15). Paulus nimmt in Übereinstimmung mit der jüdischen Tradition die Unterscheidung zwischen Nichtjuden und Juden mit Hilfe der Wortfelder δίκαιος bzw. ἁμαρτωλός vor. Dementsprechend findet sich in Paulus Briefen nicht selten das Urteil aus der jüdischen Perspektive auf die Heiden, dass deren Handlungsweise gesetzlos und ungerecht ist (vgl. Röm 1,18f; 1Kor 9,21; 2Kor 6,14f). Er stellt dabei ausführlich dar, in welcher Weise die Heiden ihr Leben gestalten (vgl. 1Kor 6,9f; Gal 5,19-21). Nicht unwichtig ist auch, dass, wie oben festgestellt, der von Paulus für die Heiden verwendete Ausdruck διώκειν δικαιοσύνην seine Herkunft in der alttestamentlichen bzw. jüdischen Tradition hat. Dieser Ausdruck beschreibt üblicherweise die jüdische Frömmigkeit und verbindet sich häufig inhaltlich mit der Einhaltung des Gesetzes. Die Heiden haben, anders als die Juden, keine von Mose übermittelte Tora, die sie im gottgefälligen sittlichen Lebenswandel unterweist. Darum haben sie keine Möglichkeit, durch die Toraobservanz am Streben nach Gerechtigkeit im Sinne der jüdischen sittlichen Tradition teilzunehmen.725 Diese gesetzlosen Heiden, die der Toragerechtigkeit nicht nachgestrebt sind, haben freilich dennoch δικαιοσύνη erlangt, und zwar nicht aus den Gesetzeswerken, sondern aus dem Glauben (ἐκ πίστεως). Der Präpositionalausdruck ἐκ πίστεως gibt eindeutig an, auf welcher Grundlage den christlichen Heiden Gerechtigkeit zugekommen ist. Die hier nicht näher bestimmte πίστις meint vom näheren Kontext her eindeutig den Glauben an Christus Jesus (vgl. 10,4-9), der im in V 33 angeführten Zitat mit dem Pronomen αὐτός angedeutet ist. Im Blick auf diesen Sinngehalt des Christusglaubens beschreibt V 30 nicht nur den Heilsstand der Heiden, sondern legt darüber hinaus den Grundsatz von Paulus’ Heilsbotschaft ausdrücklich dar, nämlich, dass Gerechtigkeit allein aus dem Glauben an Christus Jesus kommt. Durch diesen argumentativen Punkt entsteht der Zusammenhang 724 Vgl. Haacker, Römer, 238; Lohse, Römer, 286. 725 Lohse interpretiert mit Recht, dass „Heiden nicht unter der Bestimmung der Tora lebten, die das Erreichen des Ziels der δικαιοσύνη unter die Bedingung erbrachter ἔργα νόμου stellt“. (Römer, 286). Vgl. auch Michel, Römer, 321; Schlier, Römer, 306.

Die Heiden haben Gerechtigkeit erlangt, Israel aber nicht: Röm 9,30-33

zu den vorangegangenen Passagen im Römerbrief, wobei sich die Frage aufdrängt, was eine richtige und gültige Voraussetzung für Gerechtigkeit ist. Dabei gibt Paulus seine Antwort in verschiedenen Formulierungen, in denen der Begriff πίστις immer in Verbindung mit einem Wort aus dem δικαι-Stamm steht: an einigen Stellen in der Kombination δικαιοσύνη + ἐκ πίστεως (1,17; vgl. auch Röm 10,5; Gal 5,5), δικαιοσύνη + διὰ πίστεως (3,22; vgl. auch Phil 3,9); an anderen Stellen als Verbalform δικαιοῦν (mit dem Subjekt Gott) + ἐκ πίστεως oder διὰ πίστεως (3,26.30; vgl. auch Gal 3,8) oder δικαιοῦσθαι + ἐκ πίστεως, διὰ πίστεως oder πίστει (5,1; vgl. auch Gal 2,16; Jak 2,14).726 Die zweimalige Erwähnung von δικαιοσύνη in „κατέλαβεν δικαιοσύνην, δικαιοσύνην δὲ τὴν ἐκ πίστεως“ ist in diesem Zusammenhang eindeutig so zu verstehen, dass sie den neu gewonnenen Status der glaubenden Heiden bezeichnet.727 Die Heiden, die von den Juden besonders wegen ihres Status als Unbeschnittene als Sünder bzw. Gottlose betrachtet werden, befinden sich bereits im Status der Gerechtigkeit und zwar aufgrund ihres Christusglaubens. Obwohl sie, anders als die Juden, dem „Gesetz der Gerechtigkeit“ nie nachgestrebt haben, haben sie diesen Status erreicht. Denn Gott schenkt allen an Christus Glaubenden Gerechtigkeit durch seine Gnade (vgl. 3,24-25; 4,4-5; 5,1-2.15-21). Bei diesem Rechtfertigungsvorgang wird, wie Paulus mehrfach feststellt, die Differenzierung zwischen Juden und Nichtjuden aufgehoben (vgl. 1,16; 3,29-30; 4,9f; 10,12-13; Gal 3,23-29). Die Juden können somit nicht mehr behaupten, dass die christlichen Heiden als Sünder bzw. Gottlose außerhalb der Heilsgemeinschaft stehen. Diese sind vielmehr schon aufgrund ihres Glaubens von Gott als Gerechte anerkannt und in die Heilsgemeinschaft aufgenommen worden. Niemand kann dieses Urteil Gottes anfechten. Gott ist es, der diese Heiden als sein geliebtes Volk bzw. seine Söhne berufen hat (9,25-26). 2.3

Das irrige Dem-Gesetz-Nachstreben der Israeliten (V 31)

Während die Heiden, die der Toragerechtigkeit nicht nachgestrebt haben, aufgrund des Glaubens den Heilsstatus der Gerechtigkeit erlangt haben, haben die Israeliten hingegen paradoxerweise ihr angestrebtes Ziel nicht erreicht. Der zu V 30 gegensätzlich formulierte Satz in V 31 zeigt eben dieses fatale Geschick der Israeliten. Der Satz hat eine dem Voranstehenden parallele Struktur. Auch das Verb

726 Neben den oben erwähnten Formulierungen lässt sich auch der Ausdruck λογίζεσθαι εἰς δικαιοσύνην anführen, welcher in Röm 4, wo Paulus zu Beginn Gen 15,6 zitiert und die weiteren Abrahamserzählungen auf den Christusglauben hin erneut deutet, immer wiederkehrt. Was den Gehalt des paulinischen Rechtfertigungsgedankens sehr präzise zum Ausdruck bringt und unmittelbar mit dem Gedankengang von 10,30 semantisch verknüpft, ist die dort nebenbei zweimal vorkommende Genitivformulierung δικαιοσύνης τῆς πίστεως (4,11.13). 727 Vgl. Cranfield, Romans II, 506; Jewett, Romans, 609.

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Die Gerechtigkeitsaussagen im Römerbrief

διώκειν erweist eine nicht nur strukturelle, sondern zum Teil auch begriffliche

Parallelität der Sätze. Obwohl die beiden Sätze so mit derselben Eröffnung einsetzen, entsprechen sie sich aber nicht ganz im Hinblick auf die Begriffe, die sich einander gegenüberstehen. An die Stelle von διώκειν δικαιοσύνην wird διώκειν νόμον δικαιοσύνης eingesetzt und καταλαμβάνειν δικαιοσύνην gegenüber steht φθάνειν εἰς νόμον. Die Israeliten sind also nicht der Gerechtigkeit, sondern dem „Gesetz der Gerechtigkeit (νόμος δικαιοσύνης)“ nachgelaufen. Sie haben jedoch ihr angestrebtes Ziel, „das Gesetz“ nicht erreicht. Aus dem argumentativen Gehalt von V 31 und seinem Bezug zum in V 30 Gesagten ist schon eindeutig zu schließen, dass bei der zweimaligen νόμος-Wendung die Tora gemeint ist.728 Die schiefe Korrelation zwischen den beiden Seiten, Nicht-Israeliten und Israeliten, welche durch den Wechsel der Begrifflichkeiten von δικαιοσύνη zu νόμος entstanden ist, ist zweifellos kein Zufall, sondern ist bewusst von Paulus vorgenommen worden, wie die geschickten Formulierungen zeigen.729 Vom Kontext her liegt es nahe, dass Paulus durch die bewusste Formulierung feststellen wollte, dass das Streben der Juden nach Gesetzesbefolgung nicht der richtige Weg zur Gerechtigkeit ist (vgl. 10,1-3).730 Alles Bemühen um die Gesetzesbefolgung ist sozusagen nur ein Dem-Gesetz-Nachlaufen, nicht aber Streben nach Gerechtigkeit, welche sie eigentlich erreichen wollen. Die Juden haben mit solchem falschen Bemühen ihr angestrebtes Ziel verfehlt. Für das nähere Verständnis der gesamten Aussage in V 31 sind abschließend noch zwei Fragen zu stellen: (1) Was bedeutet die Formulierung νόμος δικαιοσύνης hier? (2) Wie kann die Aussage „εἰς νόμον οὐκ ἔφθασεν“ verstanden werden? Bei der ersten Frage gibt es aufgrund der Form eines Genitivattributes drei Deutungsmöglichkeiten. Erstens kann man den Genitivus δικαιοσύνης (als gen. quali.) adjektivisch auffassen, mit νόμος als Bezugswort; die Genitivformulierung bedeutet dann „die gerechte Tora“.731 Zweitens kann der Genitiv δικαιοσύνης als Angabe des Inhalts des vom νόμος Geforderten verstanden werden; die Tora spricht von δικαιοσύνη oder fordert δικαιοσύνη. Drittens kann der Genitivus den durch die Befolgung des νόμος erreichten Zustand bezeichnen; die Tora verheißt δικαιοσύνη.732 Die zuerst genannte Deutungsoption ist schon vom vorliegenden Kontext her auszuschließen. Es ist kaum plausibel, dass Paulus mit dem Ausdruck allein die Eigenschaft des Gesetzes als eines „gerechten“ herausheben wollte. Die Entscheidung zwischen der zweiten und der dritten Deutungsmöglichkeit hängt davon

728 Damit gegen Haacker, Römer, 239. Mit Wilckens, Römer II, 211f; Moo, Romans, 624f; Lohse, Römer, 286f; Flebbe, Solus Deus, 340 u. a. 729 Vgl. Lohse, Römer, 287. 730 Vgl. Fitzmyer, Romans, 578f. 731 So z. B. Barrett, Fall, 108. 732 So z. B. Käsemann, Römer, 265; Wolter, Paulus, 360, Anm. 52.

Die Heiden haben Gerechtigkeit erlangt, Israel aber nicht: Röm 9,30-33

ab, wie man den Begriff δικαιοσύνη im vorliegenden Textzusammenhang versteht.733 Wenn man die Aussage διώκων νόμον δικαιοσύνης im Zusammenhang mit der vorangehenden Aussage über die Lebensweise der Heiden (μὴ διώκοντα δικαιοσύνην) versteht, erscheint die zweite Deutungsoption als plausibel, nach der δικαιοσύνη als Inhaltsangabe des von der Tora Geforderten und damit als ethische Tugend aufzufassen ist.734 Es ist jedoch auch möglich, διώκων νόμον δικαιοσύνης in Verbindung mit dem folgenden εἰς νόμον οὐκ ἔφθασεν zu lesen. Dann verwendet Paulus die Wendung νόμος δικαιοσύνης in dem Sinne, dass die Tora Gerechtigkeit verheißt und den Weg zur Gerechtigkeit zeigt. Die Aussage διώκων νόμον δικαιοσύνης meint demnach, dass die Israeliten nach dieser, der Gerechtigkeit verheißenden, Tora gestrebt haben. Sie haben aber das, worauf die Tora hinweist, nämlich den Christusglauben nicht erreicht, weil sie die Heilsbotschaft von Christus nicht im Glauben angenommen haben. Unabhängig davon, welche Deutungsoption vorgezogen wird, wird aber deutlich, dass Paulus den Unterschied zwischen den christusgläubigen Heiden und den im Unglauben verharrenden Juden unterstreicht, denen es durch die Kenntnis der Tora eigentlich leichter fallen sollte, an Christus zu glauben. Die knapp formulierte Aussage über das verheerende Geschick der (gegenüber der christlichen Heilsbotschaft) ungläubigen Juden εἰς νόμον οὐκ ἔφθασεν bedarf einer Erläuterung, um ihren Gehalt klar zu erfassen. Festzuhalten ist zunächst, dass, wie bei der Wendung διώκων νόμον δικαιοσύνης, die Abweichung durch eine solche Formulierung von V 30 ebenfalls von Paulus bewusst insinuiert ist. Wenn er eine klare Gegenüberstellung zu V 30 hätte schaffen wollen, hätte es heißen müssen εἰς δικαιοσύνην οὐκ ἔφθασεν. Tatsächlich aber heißt es εἰς νόμον.735 Man sollte also diese Abweichung ernst nehmen und νόμος nicht einfach als eine Metonymie für δικαιοσύνη auffassen und davon ausgehend so paraphrasieren, als hätten die Juden die Gerechtigkeit (bzw. Glaubensgerechtigkeit) verfehlt.736 Bleibt man bei der Semantik von νόμος als dem Gesetz (der Tora) in Verbindung mit dem Verb φθάνειν (hinkommen, hingelangen), erschließt sich eher das Anliegen des Paulus. Was bedeutet es aber, dass die Israeliten nicht zum Gesetz 733 Erstaunlicherweise unterscheiden die meisten Exegeten nicht genau zwischen der zweiten und dritten Deutungsmöglichkeit, bei welchen δικαιοσύνη mit jeweils unterschiedlicher Bedeutung zu verstehen ist. Sie vertreten damit eine der Logik nicht entsprechende Auslegung, welche der allgemeinen Sprachgesetzlichkeit zuwiderläuft (vgl. Wilckens, Römer II, 212, Anm. 944; Schlier, Römer, 307; Lohse, Römer, 287). 734 Die Formulierung νόμος δικαιοσύνης findet sich auch in SapSal 2,11: „ἔστω δὲ ἡμῶν ἡ ἰσχὺς νόμος τῆς δικαιοσύνης.“ Die Bedeutung der δικαιοσύνη hier entspricht m. E. der in Röm 9,31, wo sie wie hier als eine ethische Kategorie den Inhalt der Tora umfasst. Wolter, Römer II, 97. 735 ‫ א‬F K L P Ψ bezeugen die Leseart εις νομον δικαιοσυνης, die durch den Genitiv δικαιοσύνης ergänzt ist. Das Ziel, zu dem die Juden nicht gelangt sind, bleibt auch bei dieser Lesart die Tora. 736 So aber Schlier, Römer, 307; Haacker, Römer, 239.

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gelangt sind? Eine von der Konstruktion her mögliche Interpretation, welche sich aber nicht sonderlich gut in den Kontext fügt, ist, dass die Juden die Forderungen der Tora nicht erfüllt haben (dies entspricht dem Vorwurf gegen die Juden in Röm 2).737 Eine andere, wahrscheinlichere Deutung besteht darin, dass die Juden den ursprünglichen Sinn der Tora nicht richtig erfasst haben, dadurch dass sie den Christusglauben nicht angenommen haben. Paulus zufolge umfasst die Tora nicht nur göttliche Handlungsanweisungen, sondern sie ist Zeugin der Heilsbotschaft, dass die Rechtfertigung aus dem Christusglauben kommt (Röm 1,2; 3,21.31; 16,25f; Gal 3,8). Die Aussage in V 31b, dass die Israeliten die Tora nicht erreicht haben, bedeutet in diesem Zusammenhang nichts anderes als den Vorwurf, dass sie nicht zu ihrer richtigen Kenntnis vorgedrungen sind, nämlich worauf die Tora eigentlich abzielt, den Christusglauben.738 Dieser Aussagegehalt in 9,31 entspricht somit dem in 10,3, wo Paulus seinen Volksgenossen ebenfalls ihre fatale Verkennung der δικαιοσύνῃ τοῦ θεοῦ nachsagt.739 3.

Die Begründung für das verhängnisvolle Geschick des Volkes Israels (9,32-33)

Der Grund, warum das von Gott auserwählte Volk Israel paradoxerweise in die gegenwärtige Unheilssituation geraten ist, wird in V 32 genannt (διὰ τί). Es liegt daran, dass die Israeliten nicht aus dem Glauben heraus, sondern aus Werken (ἐξ ἔργων), also aus den Werken des Gesetzes740 , Gerechtigkeit zu erlangen suchten. Sie haben die Heilsbotschaft, die vom Christusglauben kündet, nicht angenommen, sie verharren noch auf dem irrigen Weg, aufgrund ihrer Werke des Gesetzes Gerechtigkeit zu erreichen. Sie verkennen somit den richtigen Weg zur Gerechtigkeit, welcher von Gott erschlossen worden ist, wie es 10,3 ausspricht. Diesen Unglauben der Israeliten beschreibt Paulus mit dem Wortlaut aus JesLXX 8,14-15: „Sie haben sich am Stein des Anstoßes gestoßen und sind dabei zu Fall gekommen.“ Auf diese Erklärung der verhängnisvollen Lage der Israeliten folgt sogleich ein Mischzitat aus JesLXX 8,14 und JesLXX 28,16 mit der Zitatformel καθὼς γέγραπται. Mit diesem Zitat will Paulus beweisen, dass das gegenwärtige unheilvolle Geschick durch nichts anderes als durch die Erfüllung der in der Schrift enthaltenen prophe-

737 738 739 740

So z. B. Wilckens, Römer II, 211f; Lohse, Römer, 286f. So auch Schmithals, Römer, 363; Flebbe, Solus Deus, 340. Vgl. Haacker, Römer, 238f. Zu ἐξ ἔργων kann man aus dem Textzusammenhang νόμου ergänzen. Die Formulierung ἐξ ἔργων ohne nähere Charakterisierung kommt auch in Röm 4,2; 9,12; 11,6 vor und wird ebenfalls im selben Argumentationsgang mit der Gnade oder dem Glauben kontrastiert. Einige Handschriften, etwa ‫ א‬D K L P Ψ fügen schon den Genitiv νόμου hinzu und vereindeutigen somit den Text.

Die Heiden haben Gerechtigkeit erlangt, Israel aber nicht: Röm 9,30-33

tischen Worte bedingt ist.741 Das Mischzitat ist so geschickt kombiniert, dass es als ein ursprünglich zusammenhängender Satz erscheint. Aus JesLXX 8,14 werden die Leitbegriffe von λίθος προσκόμματος und πέτρα σκανδάλου aufgenommen und in die Satzstruktur von JesLXX 28,16 eingefügt. So bleibt im Mischzitat die Hauptstruktur des Satzes von JesLXX 28,16 erhalten und wie in der originalen Textstelle bezieht sich λίθος bzw. πέτρα ebenfalls im Mischzitat auf den Heilsbringer, der in JesLXX 28,16 mit dem Pronomen αὐτῷ markiert ist. Nur der, welcher auf ihn, den Heilsbringer, sein Vertrauen setzt, wird im Gericht nicht zuschanden werden. Für Paulus ist dieser Heilsbringer, der jeden auf ihn Vertrauenden rettet, ohne Zweifel Christus Jesus, der durch den Tod die Geltung der Tora außer Kraft gesetzt hat und damit einen neuen Weg zur Rettung ermöglicht (s. u.). Als Subjekt von τίθημι, also als derjenige, der diesen Christus als Stein des Anstoßes für die Israeliten hingestellt hat, kann nur Gott in Frage kommen. Dieser harte Gedanke, dass das gegenwärtige Scheitern Israels auf Gott selbst zurückgeht, wird an die vorher und nachher getroffenen Aussagen über die absolute Souveränität in seinem Heilshandeln rückgebunden (vgl. 9,6f.19f; 11,1ff). Gott allein ist es, der über Erwählung und Verstoßung gebietet. Dieser Gott hat nach Paulus zu seiner Zeit einen neuen Heilsweg erschlossen, dass nämlich alle allein aufgrund seiner Gnade bzw. Barmherzigkeit Anteil am Heil bekommen sollen (vgl. 11,1f.20f). Dieser Heilsweg besteht darin, dass jeder durch den Glauben an den gekreuzigten Christus Gerechtigkeit und Heil erlangen kann. Wie Paulus mit Hilfe des Jesajazitats deutlich macht, ist die Botschaft von Jesus Christus, die die eigentliche Rettung bringen soll (Röm 1,16-17), für Israel zu einem gefährlichen Hindernis geworden, durch das es zu Fall kommt, wenn es im Unglauben verharrt.742 In 10,1f wird diese Verweigerung der Juden weiter ausgeführt und dabei aufgezeigt, worin ihr Problem mit der Heilsbotschaft, welche den Glauben an Christus verkündet, hauptsächlich besteht.

741 Vgl. Wagner, Isaiah and Paul, 126–131; Irons, Righteousness, 326. 742 JesLXX 8,14 und JesLXX 28,16 werden ebenso in 1Ptr 2,6.8 zitiert und auf den Glaubensvorgang der Gläubigen bzw. die Ablehnung des Christusglaubens hingedeutet. Bei Paulus finden sich außer dem Stein-Motiv vergleichbare Vorstellungen, in welchen wie in Röm 9,32-33 die Polarisierung zwischen Glaubenden und Ungläubigen im Blick auf die Christus-Botschaft ganz im Vordergrund steht. So sagt Paulus in 1Kor 1,18f, dass das Wort vom Kreuz für die Glaubenden und damit Geretteten die heilbringende Kraft bzw. Weisheit Gottes ist; für die Ungläubigen aber, also für die, die verloren gehen, eine Torheit. In 2Kor 2,14f ist die von Gott anvertraute apostolische Verkündigung für diejenigen, die gerettet werden, ein Wohlgeruch, der zum Leben führt; für diejenigen aber, die verloren gehen, gilt dies nicht.

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Die Gerechtigkeitsaussagen im Römerbrief

O.

Das Wort des Glaubens: Die Gerechtigkeit aus dem Glauben: Röm 10,1-13

1.

Der Unglaube Israels gegenüber der Botschaft von der Gerechtigkeit Gottes (10,1-4)

1.1

Das Zeugnis gegen die ungläubigen Israeliten (V 1-3)

Mit der Anrede ἀδελφοί richtet sich Paulus an seine christlichen Adressaten und teilt ihnen mit, was der innige Wunsch seines Herzens ist und was er in seinem Gebet zu Gott sehnlich erfleht. Das ist die Errettung (σωτηρία) Israels, seiner Stammverwandten, die nach dem Fleisch seine Brüder sind (9,3). In V 2-3 legt Paulus ferner das konkrete Zeugnis ab, auf welche Weise die Israeliten Gottes Willen widersprochen haben und in die gegenwärtige verhängnisvolle Situation geraten sind. Hierbei wirft er ihnen ihre falsche Einstellung der leidenschaftlichen Gesetzesbefolgung vor. Das Zeugnis des Paulus für die Israeliten lautet: „Sie haben Eifer für Gott (ζῆλος θεοῦ)743 , aber nicht nach der (rechten) Erkenntnis (κατ᾿ ἐπίγνωσιν).“ ζῆλος bringt normalerweise ein leidenschaftliches Engagement einer Person für eine andere Person oder für eine Sache zum Ausdruck.744 Wenn sich das Wort auf eine besondere Leidenschaft für Gott bezieht, geht es – wie der Sprachgebrauch des ζῆλος in der jüdischen Tradition zeigt – meistens mit einem gewaltsamen Vorgehen gegen die dem Willen Gottes zuwiderhandelnden Menschen einher. Z.B. wurden in der jüdischen Überlieferung der Priester Pinhas, der durch Gotteseifer den sündigen Israeliten Simri und die Midianiterin getötet hatte (vgl. NumLXX  25,6-13; PsLXX  106,30f; Sir 45,23; 1Makk 2,26.54), die Leviten, die ihre eigenen Verwandten töteten, welche das Goldene Kalb verehrt hatten (ExLXX  32,26-29)745 , oder der Prophet Elija, der vierhundertfünfzig Baals-Propheten abschlachtete (vgl. 1Kön 18,40; 19,14; 1Makk 2,58), als Vorbilder der frommen Gewaltbereitschaft gelobt.746 Und in der makkabäischen Tradition war der Eifer für Gott gleichbedeutend mit dem Eifer für das Gesetz und wurde als gewalttätiger Kampf gegen die hellenistische Fremdherrschaft praktiziert (vgl. 1Makk 2). Kennzeichnend ist auch, dass Paulus

743 ζῆλος θεοῦ ist als gen. obj. (Leidenschaft für Gott) aufzulösen. Es kommt von ζηλοῦν τινα. Vgl. BDR § 163. 744 Im Alten Testament wird der Begriff ζῆλος (‫ )קנאה‬häufig auch in Bezug auf Gott verwendet (vgl. DtnLXX 29,20; NumLXX 25,11; JesLXX 26,11; EzLXX 16,38.42; 36,6; 38,19; ZephLXX 1,18; 3,8; PsLXX  78,5). Vgl. Stumpff, s.v. (ThWNT); Spicq, s.v. 745 Vgl. Philo, Vit. Mos. 1.303; Spec. Leg.1,79. 746 Vgl. Hengel, Zeloten, 152ff; Käsemann, Römer, 270; Haacker, Römer, 244; Dunn, Romans II, 588.

Das Wort des Glaubens: Die Gerechtigkeit aus dem Glauben: Röm 10,1-13

selbst bekennt, dass er einer dieser Eiferer war, bevor er zum Christusglauben gekommen ist (Gal 1,14f; Phil 3,6; Apg 22,3).747 Die Israeliten sowie die genannten vorbildlichen Frommen und der (vorchristliche) Paulus eifern für Gott. Nach Paulus beruht ihr Eifer aber nicht auf dem rechten Verständnis von Gottes Willen.748 Seinem Vorwurf gegen die Israeliten zufolge suchten sie ihre „eigene Gerechtigkeit (ἡ ἰδία δικαιοσύνη)“ aufzurichten. Sie verkannten damit folglich „die Gerechtigkeit Gottes (ἡ τοῦ θεοῦ δικαιοσύνη)“ und haben sich ihr (ἡ δικαιοσύνη τοῦ θεοῦ) nicht unterworfen. Was hier mit dieser anklagenden Aussage des Paulus gegenüber den Israeliten zur Sprache kommt, soll nun insbesondere anhand der Bedeutung der δικαιοσύνη τοῦ θεοῦ erläutert werden. 1.2

Zur Bedeutung der Genitivformulierung ἡ τοῦ θεοῦ δικαιοσύνη bzw. ἡ δικαιοσύνη τοῦ θεοῦ

1.2.1

Zum Verständnis der Formulierungen ἀγνοοῦντες γὰρ τὴν τοῦ θεοῦ δικαιοσύνην und τῇ δικαιοσύνῃ τοῦ θεοῦ οὐχ ὑπετάγησαν

In der anklagenden Rede gegen die ungläubigen Israeliten begegnet der Genitivausdruck δικαιοσύνη θεοῦ zweimal nacheinander, einmal mit der Formulierung ἡ τοῦ θεοῦ δικαιοσύνη und zum anderen mit der Formulierung ἡ δικαιοσύνη τοῦ θεοῦ.749 Diesen Genitivausdruck, in dem δικαιοσύνη mit θεοῦ als Genitivattribut verbunden ist, haben wir bereits in 1,17 und 3,21.22 angetroffen. Wie es in 1,17 und 3,21.22 der Fall war, ist hier heftig umstritten, was diese Genitivformulierung bedeutet. Die zentrale Frage der bisherigen Forschung ist, ob mit der Genitivfor-

747 Nicht zu übersehen ist, dass Paulus über seinen eigenen Eifer für Gott immer bezüglich seiner einstigen Verfolgung der Christen spricht (vgl. Gal 1,13f.23; Phil 3,6; auch Apg 6,8ff; 7,54ff; 8,1-3; 9,1ff; 22,3f). 748 οὐ κατ᾿ ἐπίγνωσιν bedeutet nicht Unwissen bzw. Verständnislosigkeit der Israeliten. Es besagt vielmehr, dass die Israeliten nicht das richtige Verständnis darüber besitzen, was Gottes Willen entspricht, indem sie Gerechtigkeit auf der Grundlage der Torabefolgung zu erreichen suchen (vgl. Michel, Römer, 325; Käsemann, Römer, 271; Lohse, Römer, 290). Die Betonung der rechten Erkenntnis in Bezug auf den göttlichen Willen kommt häufig in der alttestamentlich-jüdischen Tradition vor (vgl. 1SamLXX 2,10; JesLXX 11,2.9; 33,6; 53,11; HosLXX 4,1.6; SapSol 2,13 u. ö.; 1QS 4,4; 9,17; 1QH 10,29; 1QSb 5,25 u. ö.). Die häufige Wendung ἐπίγνωσις bei Paulus geht sehr wahrscheinlich auf diese Tradition zurück. 749 Die beiden Genitivformulierungen in 10,3 sind anders als die Formulierungen in 1,17 und 3,21f mit dem Artikel versehen. In 10,3a ist der Artikel veranlasst durch den Gegensatz zu ἡ ἰδία δικαιοσύνη; in 10,3b handelt es sich um einen auf die bekannte und zuvor erwähnte Sache verweisenden anaphorischen Gebrauch (vgl. BDR § 252; Kertelge, Rechtfertigung, 96f).

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Die Gerechtigkeitsaussagen im Römerbrief

mulierung Gottes eigene Gerechtigkeit in Bezug auf seine Eigenschaft750 oder sein Handeln751 gemeint ist, oder ob sie die Gerechtigkeit bezeichnet, die Gott dem Glaubenden zuspricht.752 Nachdem an dieser Stelle vor allem Käsemann und seine Schüler gegen die damals gängige Position, ἡ δικαιοσύνη τοῦ θεοῦ als eine von Gott verliehene Gabe zu verstehen, als die heilschaffende Macht Gottes bestimmt haben,753 gehen immer mehr Exegeten in der jüngsten Forschung in die gleiche Richtung.754 Das Hauptargument dieser Position besteht vor allem darin, dass ἡ δικαιοσύνη τοῦ θεοῦ personifiziert als Macht dargestellt ist, wie der Ausdruck τῇ δικαιοσύνῃ τοῦ θεοῦ οὐχ ὑπετάγησαν zeigt. Käsemann schreibt dazu: Faßt man „unterworfen sein“ nicht bloß rhetorisch, muß Gottesgerechtigkeit als Macht betrachtet werden, und zwar nicht abstrakt im Sinne einer objektiven Größe oder göttlichen Eigenschaft, an welcher der Mensch in rätselhaftem Geschehen Anteil bekommt. Bei Pls ist Macht stets Epiphanie eines sich durchsetzenden Willens im Rahmen einer vorhandenen Relation. In der eschatologischen Gabe der Rechtfertigung tritt der Geber als Herr und Schöpfer auf den Plan.755

Die Redewendung ὑποτάσσειν + Dativ kann jedoch keine zutreffende Begründung dafür sein, dass ἡ δικαιοσύνη τοῦ θεοῦ als Macht Gottes zu interpretieren ist. Denn

750 Vgl. Wilckens, Römer II, 220; Cranfield, Romans II, 515; Williams, Righteousness, 281ff; Dunn, Romans II, 588f; Fitzmyer, Romans, 583; Wright, Righteousness of God, 200–201; Schnelle, Paulus, 336; Wolter, Römer I, 124; ders., Römer II, 106; Prothro, Judge, 213. 751 Vgl. Kuss, Römer II, 750; Stuhlmacher, Gerechtigkeit Gottes, 91ff; Moo, Romans, 633. 752 So Bultmann, Theologie, 285, 470; Klein, Gottes Gerechtigkeit, 8f; Conzelmann, Rechtfertigungslehre, 400; Lohse, Römer, 291. 753 Vgl. Käsemann, Gottesgerechtigkeit, 368.371; ders., Römer, 271f; Stuhlmacher, Gerechtigkeit Gottes, 93; Müller, Gottes Volk, 73f. 754 Vgl. Haacker, Römer, 246: „… daß „Gerechtigkeit Gottes“ bei Paulus begrifflich nicht identisch ist mit der Gabe der Rechtfertigung des Sünders, sondern eine rettende Machtausübung Gottes meint. So wie die bestehenden politischen Machtverhältnisse vom Einzelnen nach 13,1-5 Unterordnung verlangen, so ist auch das Heilshandeln Gottes eine souverän von ihm gesetzte Struktur, die von Menschen – Israel eingeschlossen – nur respektiert werden kann und muß.“; Dunn, Romans II, 595–596: „God’s saving power“, „the saving grace of God“; Wolter, Römer I, 124: „Es ist aber nicht dieser Zuspruch von Gerechtigkeit, der Paulus in Röm 1,17; 3,21-22.25-26; 10,3 zur Rede von der Gerechtigkeit Gottes veranlasst hat, auch wenn er selbstverständlich der Meinung ist, dass Gott sie gegeben hat. Diese Abgrenzung ist kritisch gegen Martin Luthers und Rudolf Bultmanns Interpretation der paulinischen Rede von der Gerechtigkeit Gottes geltend zu machen. … Dadurch, dass der Glaube das im Evangelium vergegenwärtigte Heilshandeln Gottes als solches wahrnimmt, tritt Gottes Gerechtigkeit gewissermaßen aus ihrer Verborgenheit in Gott heraus und wird unter den Menschen als Heilsmacht wirksam.“ 755 Käsemann, Römer, 271f. Diesem Ansatz folgen auch Müller, Gottes Volk, 69f und Stuhlmacher, Gerechtigkeit Gottes, 93f.

Das Wort des Glaubens: Die Gerechtigkeit aus dem Glauben: Röm 10,1-13

die Wendung drückt bei Paulus keinesfalls zwingend ein gehorchendes Verhalten gegenüber einer Macht aus. Es gibt zwar Belege, wo Paulus mit der Redewendung von Gehorsam gegenüber einer mächtigen bzw. hochgestellten Person spricht (vgl. Röm 13,1.5; 1Kor 14,34; 15,28; 16,16; vgl. auch Eph 5,22; Kol 3,18; Tit 2,5; 3,1; 1Ptr 2,13; 3,5 u. a.), die Redewendung kann aber grundsätzlich in verschiedenen Kontexten mit unterschiedlichen Konnotationen verwendet werden.756 So redet Paulus z. B. in Röm 8,7 von „nicht sich dem Gesetz Gottes Unterwerfen“. Dabei beschreibt der Ausdruck metaphorisch den Charakter von φρόνημα τῆς σαρκός, nämlich, dass es dem Willen Gottes widerspricht und der Wille Gottes somit nicht erfüllt werden kann. Die Aussage τῇ δικαιοσύνῃ τοῦ θεοῦ οὐχ ὑπετάγησαν ist hinsichtlich dieser Betrachtungsweise ebenfalls als eine metaphorische Redeweise zu verstehen, die die Verweigerung bzw. den Unglauben der Israeliten gegenüber der Heilsbotschaft ausdrückt.757 Die Formulierung ἡ δικαιοσύνη τοῦ θεοῦ ist sozusagen ein Markenzeichen der Heilsbotschaft des Paulus, denn sie umfasst in knapper Weise deren Kerngedanken und kündigt, welche Gerechtigkeit die wahre, rechte Gerechtigkeit ist, die Gott zuerkennt und die letztlich den Menschen Heil bringt. Diese von Gott zuerkannte Gerechtigkeit ist die Gerechtigkeit, die aufgrund des Christusglaubens zugerechnet wird, wie Paulus es unmissverständlich mit den Formulierungen εἰς δικαιοσύνην παντὶ τῷ πιστεύοντι in V 4 und ἡ δὲ ἐκ πίστεως δικαιοσύνη in V 6 näher bestimmt (vgl. 1,17; 3,21f). Das Verhältnis des Genitivs τοῦ θεοῦ zu δικαιοσύνη ist von diesem Gedankengang her als gen. auct. (Gott als Urheber, Geber von δικαιοσύνη)758 oder gen. subj. (Gott als das handelnde Subjekt des Anerkennens, Zusprechens von δικαιοσύνη) aufzufassen. Diese Auffassung wird nochmals gestützt durch die erste Formulierung ἡ τοῦ θεοῦ δικαιοσύνη, in der die durch Artikel bestimmte Genitivform τοῦ θεοῦ betont und vorangestellt ist. δικαιοσύνη kann daher kaum als Eigenschaft Gottes aufgefasst werden. Die Aussage τῇ δικαιοσύνῃ τοῦ θεοῦ οὐχ ὑπετάγησαν heißt demzufolge, dass die Israeliten die Heilsbotschaft, welche die von Gott herkommende Gerechtigkeit zum Gegenstand hat und allein den Christusglauben als Voraussetzung der göttlichen Rechtfertigung verkündet, nicht im Glauben angenommen, sondern verweigert haben. Mit dem negativen Ausdruck οὐχ ὑποτάσσειν ist also nicht gemeint, dass die Juden sich einer göttlichen Macht nicht unterworfen haben. Darüber hinaus ist auch die Aussage ἀγνοοῦντες γὰρ τὴν τοῦ θεοῦ δικαιοσύνην kaum verständlich, wenn man ἡ τοῦ θεοῦ δικαιοσύνη als eine Macht Gottes versteht. Was sollte es denn im vorliegenden Kontext bedeuten, dass Israel die Macht

756 Vgl. BAA, s.v.; BDAG, s.v.; Spicq, s.v. 757 So auch viele andere, vgl. nur Schlier, Römer, 310; Wilckens, Römer II, 220; Lohse, Römer, 291. 758 Vgl. Bultmann, Theologie, 280ff; Lohse, Römer, 291.

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Gottes verkannt hat? Auch die Auffassung der Genitivformulierung als Bezeichnung einer Eigenschaft Gottes fügt sich nicht in den näheren Textzusammenhang ein. Es ist kaum vorstellbar, dass die Israeliten den Sachverhalt, dass Gott gerecht ist und gerecht handelt, verkannt haben. Dass Gott sich in seinem Wesen und seinem Handeln als gerecht erweist, ist grundlegender Bestandteil der jüdischen Glaubensüberzeugung. Versteht man die Genitivformulierung als Bezeichnung des Kerninhalts der Heilsbotschaft, wie es in 1,17 und 3,21.22 der Fall war (s. die obige exegetische Untersuchung zu diesen Versen), dann leuchtet die VerkennenAussage ein. Bei ihr geht es also darum, dass die Juden kein richtiges Verständnis davon haben, auf welche Weise sie die Gerechtigkeit, die Gott anerkennt, zu erreichen vermögen. Denn sie verlassen sich auf ihre eigene Gerechtigkeit durch leidenschaftlichen Toragehorsam. 1.2.2

Zur Gegenüberstellung von ἡ δικαιοσύνη τοῦ θεοῦ und ἡ ἰδία δικαιοσύνη und zu ihrem Zusammenhang mit den anderen δικαιοσύνη-Aussagen in 10,4f

Um den semantischen Gehalt von ἡ δικαιοσύνη τοῦ θεοῦ richtig zu erfassen, ist es wichtig zu beachten, dass sie nicht einfach wie in 3,5 der δικαιοσύνη oder ἀδικία der Menschen, sondern der ἰδία δικαιοσύνη der die Heilsbotschaft verweigernden Israeliten gegenübergestellt ist. Wenn die hier vorgegebene Gegenüberstellung zum Beispiel bloß die von δικαιοσύνη des Menschen und δικαιοσύνη Gottes wäre, könnte es eine gewisse Plausibilität haben, die δικαιοσύνη τοῦ θεοῦ als Gottes Eigenschaft zu verstehen. Im vorgegebenen Text steht sie jedoch offensichtlich im Gegensatz zur „eigenen Gerechtigkeit“ der Juden, welche sie durch ihren Eifer um Gott, also im leidenschaftlichen Engagement im Bereich des Gesetzes zu erlangen suchen. Dieses semantische Merkmal der δικαιοσύνη τοῦ θεοῦ im gegensätzlichen Verhältnis zur ἰδία δικαιοσύνη legt nahe, dass Paulus mit der Formulierung gegenüber der eigenen Gerechtigkeit der Juden auf die von Gott kommende δικαιοσύνη als wahre, letztgültige Gerechtigkeit verweisen will.759 In den beiden Genitivformulierungen ἡ τοῦ θεοῦ δικαιοσύνη und ἡ δικαιοσύνη τοῦ θεοῦ bezeichnet also das Substantiv δικαιοσύνη einen gerechten bzw. rechtschaffenen Status, welchen die Menschen aufgrund ihres Christusglaubens von Gott zuerkannt bekommen.760 Dieser Status wird – wie die häufige Heranziehung des Substantivs δικαιοσύνη (bzw. δικαιοσύνη θεοῦ) mit dem Verb δικαιοῦν (mit Gott als handelndem Subjekt) bei

759 Aus der Gegenüberstellung von ἡ δικαιοσύνη τοῦ θεοῦ und ἡ ἰδία δικαιοσύνη ziehen einige Exegeten die falsche Schlussfolgerung, dass ἡ δικαιοσύνη τοῦ θεοῦ Gottes eigene Gerechtigkeit meint (so z. B. Wilckens, Römer II, 220). Diese Interpretation ist m. E. ein vorschneller Ansatz. Denn die Gegenüberstellung der zwei Genitivformulierungen ist, wie ich im obigen Teil gezeigt habe, als eine antithetische Gegenüberstellung der von Gott anerkannten Gerechtigkeit und der eigenen Gerechtigkeit der Juden zu verstehen, die sie durch Erfüllung des Gesetzes aufzurichten suchen. 760 Irons, Righteousness, 325f.

Das Wort des Glaubens: Die Gerechtigkeit aus dem Glauben: Röm 10,1-13

Paulus zeigt (vgl. 3,20-30; 4,2-6.9-13; 22; 5,1.9.6,7.16-21; Gal 2,16-21; Gal 3,6-11.2124; 1Kor 1,30; 6,11) – durch den Urteilsspruch Gottes verliehen. δικαιοσύνη kann daher kaum im Sinne der Eigenschaft Gottes761 oder des Verhaltens Gottes762  – also als etwas Gott selbst Zukommendes – verstanden werden. Dass ἡ δικαιοσύνη τοῦ θεοῦ gegen die in der Forschung verbreitete Ansicht nicht als die eigene Gerechtigkeit Gottes (d. h. als seine Eigenschaft oder sein Verhalten) zu interpretieren ist, geht auch aus dem vorliegenden Kontext deutlich hervor. In V 4f befasst sich Paulus mit der Frage, auf welcher Grundlage der Mensch Gerechtigkeit und Heil erlangen kann. Er stellt dabei im Gegensatz zum Weg der Gesetzeserfüllung den Glauben an Christus als den allein gültigen Weg dar, der den Menschen Gerechtigkeit und Heil zu bringen vermag. Der Weg der Gesetzeserfüllung, der von Mose den Israeliten vermittelt worden ist, verspricht gemäß dem ursprünglichen Zweck auch Leben, aber nur denjenigen, die eine vollkommene Gesetzeserfüllung vorweisen (10,5; vgl. auch Gal 3,10f.21). Solche Menschen gibt es Paulus zufolge jedoch überhaupt nicht (vgl. Röm 3,19-20; Gal 2,16; 3,11.22). Dieser Weg, dem das Tun des Gesetzes, ein Handlungsprinzip zugrunde liegt, hat sich darum als ein falscher Weg erwiesen (Röm 9,31-33), der kein Leben bringt, sondern ganz im Gegenteil, das Todesurteil (vgl. Röm 5,12-21; 7,5-23; Gal 3,21). Demgegenüber erlangt jeder, der an Christus glaubt, Gerechtigkeit, wie Paulus in 10,4 und 10,6-10 deutlich ausführt. Es liegt insofern vom Kontext her auf der Hand, dass es sich bei der Formulierung δικαιοσύνη τοῦ θεοῦ um eine Gerechtigkeit handelt, die Gott den Glaubenden zuspricht und durch sein Urteil zueignet, und nicht um die Eigenschaft Gottes, die sich in seinem Wesen und Handeln erweist. Im Anschluss an die Anklage an die Juden in V 3, dass sie sich der δικαιοσύνη τοῦ θεοῦ nicht unterworfen haben, wird in V 4 deutlich gemacht, welche Gerechtigkeit als die δικαιοσύνη τοῦ θεοῦ zu gelten hat. Diese kann nämlich nur die Gerechtigkeit sein, welche durch Christus, der τέλος γὰρ νόμου ist, für jeden Glaubenden möglich wird. Das Χριστός beigestellte Prädikat τέλος νόμου bezeugt gerade, was Christus in Bezug auf die Gerechtigkeitserlangung der sündigen Menschen getan hat: Er hat durch seinen Tod die Befolgung des Gesetzes als Heilsnotwendigkeit außer Kraft gesetzt,763 damit jedem, der an ihn glaubt, unabhängig davon, ob er die 761 So aber Schlier, Römer, 310; Wolter, Römer I, 124. 762 Vgl. Kuss, Römer II, 750; Stuhlmacher, Gerechtigkeit Gottes, 93ff; Moo, Romans, 633. 763 Das Verständnis der Aussage τέλος νόμου Χριστός ist unter Exegeten umstritten. Einige vertreten die Ansicht, dass mit τέλος νόμου das Ziel des Gesetzes gemeint ist (vgl. Wilckens, Römer II, 222f; Osten-Sacken, Röm 8, 250–255; Moo, Romans, 631; Badenas, Christ, 148; Haacker, Römer, 247ff; Jewett, Romans, 619f). Es gibt geringfügige Abweichungen in den Ausführungen der Exegeten, dennoch meinen sie in Übereinstimmung, dass die Formulierung τέλος νόμου Χριστός bedeutet, dass Christus bzw. der Christusglaube das eigentliche Ziel der Tora ist. Im Christusglauben habe sich das, worauf die Tora ausgerichtet ist, erfüllt. Hinsichtlich des breiten semantischen Spektrums des Terminus τέλος und der herangezogenen paulinischen Texte ist diese Interpretation nicht

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Die Gerechtigkeitsaussagen im Römerbrief

Forderungen des Gesetzes erfüllt hat oder nicht, Gerechtigkeit zuteilwerden kann. Diesen Gedanken hat Paulus schon in 3,19-30 und 4,1-16 ausführlich herausgearbeitet. Die zu Christus Gehörenden befinden sich bezüglich ihres Lebenswandels nicht mehr im Geltungsbereich des Gesetzes, sondern bereits im Stand der Gnade (5,2.17.20-21; 6,14). Dieses Außer-Kraft-Setzen des Anspruches des Gesetzes wird in 7,1f und 8,1f nochmals ausgeführt. Dort heißt es, dass die Glaubenden dem Gesetz abgestorben, von seinem Anspruch befreit worden sind. Der Christusglaube geht somit mit dem Abbruch der Lebensweise unter dem Gesetz einher (vgl. Gal 2,19f; auch Eph 2,15). Hinsichtlich des argumentativen Gehaltes ist zu beachten, dass wie in 3,25; 5,9.15f so auch in 10,4 das Sterben Christi als die unerschütterliche Grundlage dafür angeführt wird, dass der Mensch ohne Zutun des Gesetzes von Gott Gerechtigkeit erlangen kann (3,21f; 4,25f; vgl. auch Gal 2,15f; 3,6f.23f). Die universale Gültigkeit dieser in V 4 vorgebrachten Feststellung wird durch παντί herausgehoben (vgl. 1,16; 3,22; 4,11; 4,16; 5,18; 10,11-13). Wenn Paulus auf diese Weise den Glauben an Christus als die allein hinreichende Bedingung für die Gerechtigkeit verkündet und diese aus dem Glauben kommende Gerechtigkeit als Näherbestimmung der δικαιοσύνη τοῦ θεοῦ anführt, meint er mit dieser Genitivformulierung offenbar nicht, dass Gott gerecht ist oder gerecht handelt. Vielmehr bringt Paulus mit dieser Formulierung zum Ausdruck, dass Gott dem auf Christus vertrauenden Menschen den Status des Gerechtseins zuspricht. Dieses Verständnis entspricht zudem den weiteren δικαιοσύνη-Aussagen im näheren Kontext von V 6.10. In V 5f wird das in V 4 vorgebrachte Argument, dass allein Glaubenden Gerechtigkeit zuteilwird, fortgeführt und durch einschlägige Schriftworte begründet. Dabei werden die unterschiedlichen, antithetisch gegenübergestellten Wege (bzw. Prinzipien) zur Gerechtigkeit, welche schon in 9,30-33 ansatzweise angesprochen worden sind – nämlich entweder aus Werken des Gesetzes (ἐξ ἔργων) oder aus dem Christusglauben (ἐκ πίστεως) – jeweils mit den Formulierungen ἡ ἐκ τοῦ νόμου δικαιοσύνη (in V 5 in der Formulierung ἡ δικαιοσύνην ἡ ἐκ τοῦ νόμου) und ἡ ἐκ πίστεως δικαιοσύνη (V 6) zur Sprache gebracht. Daran kann man leicht erkennen, dass die in V 5 und V 6 formulierten Prinzipien ἡ ἐκ πίστεως δικαιοσύνη und ἡ ἐκ τοῦ νόμου δικαιοσύνη im Verlauf der Argumentation jeweils mit ἡ δικαιοσύνη

ausgeschlossen (vgl. BAA, s.v.; BDAG, s.v.; Haacker, Römer, 247f). Der Textzusammenhang in 10,3, wo Paulus gegenüber der Befolgung der Tora den Christusglauben als Weg zur Gerechtigkeit bestimmt, legt jedoch nahe, dass es bei der Wendung τέλος νόμου Χριστός um die Feststellung geht, dass der Christusglaube die Geltung der Tora als Heilsprinzip beendet hat. Auch die Textstellen 7,4-6; 8,1-4; Gal 2,19-21 und Phil 3,4-9 liefern einen Röm 10,4 entsprechenden Gedankengang. In diese Richtung weisen auch folgende Exegeten: Bultmann, Ende, 56f; ders., Theologie, 48; Kertelge, Rechtfertigung, 97; Schlier, Römer, 311; Schmithals, Römer, 370; Stuhlmacher, Ende, 14–39; Käsemann, Römer, 282ff; Lohse, Römer, 292.

Das Wort des Glaubens: Die Gerechtigkeit aus dem Glauben: Röm 10,1-13

τοῦ θεοῦ und ἰδία δικαιοσύνη semantisch korrespondieren. Die Formulierung ἡ ἐκ πίστεως δικαιοσύνη erklärt also komplementär, was für eine Gerechtigkeit als

diejenige zu gelten hat, die von Gott anerkannt wird. Es ist die aus dem Glauben kommende Gerechtigkeit. Paulus hat diese Erklärung der δικαιοσύνη θεοῦ bereits in 1,17; 3,21f vorgenommen (vgl. auch 4,1f) und wie in der dortigen Ausführung ist auch in unserem Text πίστις als der einzig mögliche Weg zur δικαιοσύνη θεοῦ angeführt. Wirft man einen Blick auf den weiteren Textzusammenhang, findet sich abermals ein Beispiel für die Verbindung der Wortfelder von πίστις und δικαιοσύνη und zwar in 10,10, wo der Kerngedanke der Heilsbotschaft präzise ausgesprochen wird. Demgegenüber bezieht sich ἡ ἐκ τοῦ νόμου δικαιοσύνη in V 5 auf ἡ ἰδία δικαιοσύνη, was die eigene Gerechtigkeit der Juden bezeichnet, die sie aufzurichten suchen. Der Ausdruck ἐκ τοῦ νόμου gibt eindeutig an, aus welchem Grund die Juden ihre Gerechtigkeit zu erlangen streben. Diese auf dem Weg des Gesetzes erstrebte Gerechtigkeit kann jedoch nicht als δικαιοσύνη τοῦ θεοῦ, also als die Gerechtigkeit, die Gott endgültig anerkennt, angesehen werden. Wie in V 3 ausgesagt, steht dieser von den Juden eingeschlagene Weg dem Willen Gottes entgegen. Die Juden verweigern durch solche falschen Bestrebungen den Weg des Glaubens, den Gott ihnen als Weg zur Gerechtigkeit und Rettung bereitgestellt und durch die Verkündigung des Paulus offenbart hat (Röm 1,16-17; 3,21-22; 10,6f; 16,25-26; Gal 1,11-12.15-16; 1Kor 4,1-2; 2Kor 2,17; 3,4-11; 4,1-4). 1.2.3

ἡ ἐκ θεοῦ δικαιοσύνη in Phil 3,9 als das komplementäre Gegenstück zu ἡ δικαιοσύνη τοῦ θεοῦ in Röm 10,3

Phil 3,9 ist in verschiedener Hinsicht als die nächste Parallele bzw. das komplementäre Gegenstück zu Röm 10,3 anzusehen.764 Zum einen stimmen die beiden Textstellen in den verwendeten Begrifflichkeiten und in ihrer argumentativen Thematik überein. Wie in Röm 10,3 steht die von Gott herkommende Gerechtigkeit (ἡ ἐκ θεοῦ δικαιοσύνη) der eigenen Gerechtigkeit des Menschen (ἐμὴ δικαιοσύνη) gegenüber und wird als die wahre und endgültige Gerechtigkeit herausgestellt. Die Formulierung ἡ ἐκ θεοῦ δικαιοσύνη in Phil 3,9 wird durch den Präpositionalausdruck διὰ πίστεως Χριστοῦ näher bestimmt, sodass deutlich wird, dass die von Gott anerkannte Gerechtigkeit diejenige ist, die den Menschen aufgrund des Glaubens an Christus zukommt. Diese Näherbestimmung entspricht der Erläuterung von ἡ δικαιοσύνη τοῦ θεοῦ in Röm 10,3 durch ἡ ἐκ πίστεως δικαιοσύνη in 10,6. Darüber hinaus spricht Phil 3,9 ebenfalls von der eigenen, menschlichen Gerechtigkeit

764 So auch viele andere, vgl. Lietzmann, Römer, 95; Bultmann, Theologie, 285; Barrett, Romans, 196; Schlier, Römer, 310; Wilckens, Römer II, 221; Haacker, Römer, 245f; Lohse, Römer, 291; Gnilka, Philipper, 194f; Schenk, Philipper, 302f; Müller, Philipper, 157f u. a.

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Die Gerechtigkeitsaussagen im Römerbrief

in Verbindung mit der aus dem Gesetz kommenden Gerechtigkeit.765 Beide Textstellen entsprechen sich somit in ihrer grundlegenden Argumentation, das heißt darin, den Glauben an Christus als die alleinige Grundlage für die von Gott anerkannte Gerechtigkeit darzustellen und demgegenüber die eigene, auf dem Weg des Gesetzes erstrebte Gerechtigkeit für falsch und ungültig zu erklären.766 Aufgrund dieser gemeinsamen Argumentation ist es schwer vorstellbar, dass die Wendungen ἡ ἐκ θεοῦ δικαιοσύνη in Phil 3,9 und ἡ δικαιοσύνη τοῦ θεοῦ in Röm 10,3 gänzlich verschiedene Bedeutungen haben.767 Überblickt man den weiteren Zusammenhang der beiden Textstellen, so springt ins Auge, dass im Hintergrund der Argumentationsgänge beider Texte ein und dieselbe Problematik steht. Diese Problematik ist die Auseinandersetzung mit den Juden, welche die Heilsbotschaft des Paulus nicht akzeptieren und die christlichen Gläubigen zum Gehorsam gegenüber der Tora zwingen wollen.768 Die christlichen Gläubigen in Philippi wie auch in Rom müssen in dieser Situation wohl Bedrohung und Verfolgung ausgesetzt gewesen sein (vgl. Phil 1,28-30; 3,17-21; Röm 3,5-8; 5,3f). In diesem Kontext musste Paulus den Kerninhalt seiner Heilsbotschaft, nämlich dass die Gerechtigkeit nicht aus den Werken des Gesetzes, sondern allein aufgrund des Glaubens an Jesus Christus zustande kommt, fortgesetzt wiederholen. Die Auseinandersetzung des Paulus mit seinen jüdischen Gegnern im Philipperbrief wird vor allem in Phil 3,1-21 erkennbar, wo er sie mit scharfen Worten kritisiert und seine Adressaten vor ihnen warnt. In Phil 3,2 bezeichnet Paulus seine Gegner als „Hunde, böse Arbeiter und Männer der Verschneidung“. Weshalb Paulus die Irrlehrer als eine gefährliche Bedrohung für seine Gemeinde ansieht, ist aus dem Kontext ersichtlich: Sie rühmen sich ihres Status als Erwählte Gottes, insbesondere ihrer Beschneidung, und behaupten, dass diese als Voraussetzung 765 Die Formulierungen ἡ δικαιοσύνη τοῦ θεοῦ und ἡ ἐκ θεοῦ δικαιοσύνη stehen jeweils in Verbindung mit ἐκ πίστεως bzw. διὰ πίστεως. Gleichzeitig stehen diese Formulierungen der eigenen Gerechtigkeit (ἰδία bzw. ἐμὴ δικαιοσύνη) gegenüber, welche wiederum durch die Wendung ἐκ τοῦ νόμου (Röm 10,6; Phil 3,9) charakterisiert wird. Das argumentative Ziel dieser Gegenüberstellung in beiden Texten ist insofern dasselbe, nämlich zu zeigen, dass die Glaubensgerechtigkeit die allein von Gott anerkannte gültige Gerechtigkeit ist. 766 Vgl. Gnilka, Philipper, 194. 767 Vgl. Müller, Gottes Volk, 72ff; Wilckens, Römer II, 221. Sie sind der Meinung, dass sich die Formulierung ἡ δικαιοσύνη θεοῦ in Röm 10,3 auf das göttliche Heilshandeln oder das göttliche Recht bezieht, aber mit der Formulierung ἡ ἐκ θεοῦ δικαιοσύνη in Phil 3,9 die um des Glaubens willen von Gott geschenkte Gerechtigkeit gemeint ist. Eine solche Lesart ist unwahrscheinlich, wenn man die Formulierungen der beiden Texte in ihrem Kontext und ihre ähnliche Argumentationsweise betrachtet. 768 Ein kleiner Unterschied zwischen Röm 10,3 und Phil 3,9 besteht in der jeweils eingenommenen Perspektive. In Phil 3,9 setzt sich Paulus mit der Frage der wahren Gerechtigkeit aus Gott im Rückblick auf sein eigenes Bekehrungserlebnis auseinander, während er in Röm 10,3 diese Frage vor dem Hintergrund der Verweigerung der Juden gegenüber der Christusbotschaft thematisiert.

Das Wort des Glaubens: Die Gerechtigkeit aus dem Glauben: Röm 10,1-13

der Zugehörigkeit zum Gottesvolk konstitutiv ist. Gegenüber dieser Einstellung stellt Paulus in V 3 dar, wem die wahre Beschneidung gilt; es sind diejenigen, die „im Geist Gottes dienen und sich Christi Jesu rühmen, und nicht auf das Fleisch vertrauen“. Hierdurch macht Paulus deutlich, dass die Christen, welche den Geist Gottes empfangen und in diesem Geist wandeln, bereits zum Heilsvolk gehören und nicht andere zusätzliche Forderungen erfüllen müssen (vgl. auch Gal 3,1-5; Röm 5,5; 7,6; 8,1-16). Der folgende bekenntnishafte Rückblick auf die Umkehr des Paulus entfaltet argumentativ weiter, was unter wahrem Christsein zu verstehen ist.769 Paulus nimmt also seine eigene Geschichte und sein eigenes Glaubensbekenntnis in Anspruch, um seinen Adressaten ein klares Bild vom wahren Christsein greifbar vor Augen zu führen. Der Argumentationsgang erreicht seinen Höhepunkt vor allem in der Aussage, dass Paulus wegen der überragenden Erkenntnis Christi alles, was ihm früher als Gewinn (κέρδος) erschien, jetzt als Verlust (ζημία) ansieht. Zu diesen einstigen Vorzügen, welche Paulus für wertvoll hielt, werden seine Beschneidung sowie seine Abstammung aus dem Volk Israel, und zwar aus dem Stamm Benjamin, gezählt. Er war auch als Pharisäer dem Grundzug jüdischer Frömmigkeit treu und strebte untadelig und voll Eifer nach der Erfüllung des Gesetzes. Wie Paulus selbst sagt, könnte er, wenn er wolle, also aufgrund dieser genannten Vorzüge und seines (eifernden) Gesetzesgehorsams behaupten, dass er als Gerechter vor Gott bestehen können müsste. Dies behauptet er aber nicht; vielmehr bezeichnet er diese Vorzüge und seinen vergangenen Toragehorsam nunmehr als ein Vertrauen auf das Fleisch und wertet sie als ein Sich-des-Fleisches-Rühmen ab. Er ist sich bewusst, dass allein die Gerechtigkeit, welche Gott zuspricht, als wahre und endgültige zu gelten hat und dass er durch seinen eigenen Toragehorsam diese Gerechtigkeit nicht zu erlangen vermag. Wie Paulus in V 9 deutlich macht, ist die Erlangung der wahren Gerechtigkeit allein aufgrund des Vertrauens auf Jesus Christus möglich. Im Textumfeld von Röm 10,3 werden die die Gemeinde bedrohenden jüdischen Irrlehrer nicht wie in Phil 3 explizit erwähnt, aber es sind in den an die Juden gerichteten Vorwürfen in Röm 10 Elemente zu erkennen, welche den kritischen Darstellungen der jüdischen Irrlehrer in Phil 3 entsprechen. In ähnlicher Weise wie in Phil 3 macht Paulus in Röm 10 von Anfang an zunächst auf die falsche Einstellung der Juden aufmerksam. Zwar eifern die Juden durchaus für Gott, sie tun dies aber nicht in der rechten Erkenntnis. Innerhalb dieses Argumentationsgangs sind die Wendungen von ζῆλος und ἐπίγνωσις nicht zu übersehen. In Phil 3,6

769 Paulus führt in Phil 3,4f seine Glaubensbiographie als Argument an, um den Christen in Philippi zu verdeutlichen, worin der wahre Glaube besteht (vgl. Müller, Philipper, 149). Die Überzeugungskraft der Argumentation kommt an dieser Stelle gerade durch den biographischen Bezug des Arguments zustande.

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Die Gerechtigkeitsaussagen im Römerbrief

verwendet Paulus den Terminus ζῆλος in Bezug auf seine eigene vorangegangene Verfolgung der Christen (vgl. Apg 9; Gal 1,13f). Wenn Paulus den leidenschaftlichen Eifer der Juden in ihrer religiösen Praxis mit diesem spezifischen Terminus charakterisiert, kann man wohl annehmen, dass er darauf hindeutet, dass die Juden die Mitglieder der christlichen Gemeinde von Rom verfolgt haben. Bei der Rede vom Eifer der Juden geht es nicht etwa um eine fehlgeleitete religiöse Leidenschaft, es handelt sich hierbei vielmehr um die Anstrengungen, mit denen die Juden die Christen verfolgen (vgl. 1Thess 2,14-16; Phil 1,28; 3,18-19). Ferner korrespondiert das Bekenntnis des Paulus in Phil 3,8f, dass er die Erkenntnis Christi Jesu (γνῶσις Χριστοῦ Ἰησοῦ) als über allem stehend ansieht und Christus gewinnen möchte, sodass er die Gerechtigkeit aus Gott erlange, mit dem Vorwurf in 10,3, dass die Israeliten keine rechte Erkenntnis und deswegen den im Evangelium offenbarten Heilsweg, nämlich die δικαιοσύνη τοῦ θεοῦ nicht angenommen haben. Die den ungläubigen Israeliten fehlende Erkenntnis hat Paulus allerdings aus seinem Glauben an Christus gewonnen. Phil 3,9 und Röm 10,3 stimmen in allen genannten Aspekten überein. Dieser Befund stützt die These, dass die antithetischen Gegenüberstellungen von ἐμὴ δικαιοσύνη und ἡ ἐκ θεοῦ δικαιοσύνη in Phil 3,9 und von ἡ ἰδία δικαιοσύνη und ἡ δικαιοσύνη τοῦ θεοῦ in Röm 10,3 ein und denselben Sachverhalt beschreiben und die Formulierung ἡ δικαιοσύνη τοῦ θεοῦ in Röm 10,3 kaum anders verstanden werden kann als die von Gott zugesprochene Gerechtigkeit. 2.

Die Glaubensgerechtigkeit und das Wort des Glaubens (10,5-8)

Ab V 5f geht Paulus näher auf die Thematik der Gerechtigkeit ein, die aus dem Glauben kommt (ἡ ἐκ πίστεως δικαιοσύνη), welche schon einmal in 9,30 angesprochen wurde. Er beweist hierbei die gültige Wahrhaftigkeit der Glaubensgerechtigkeit mit Hilfe seiner Schriftauslegung. Das semantische Profil des Ausdrucks ἡ ἐκ πίστεως δικαιοσύνη wird durch ihre antithetische Relation zum ἡ ἐκ τοῦ νόμου δικαιοσύνη deutlich. Bei den beiden Ausdrücken bezeichnet δικαιοσύνη einen Status, der dem Menschen entweder „aus dem Glauben (ἐκ πίστεως)“ oder „aus dem Gesetz (ἐκ τοῦ νόμου)“ zustande kommt. Durch die beiden ἐκ-Wendungen wird die Grundlage artikuliert, auf welcher die Menschen die Gerechtigkeit zu erlangen suchen. In V 5 erklärt Paulus zunächst mit einem kurzen Wort, auf welchem Grundsatz die Gesetzesgerechtigkeit (ἡ ἐκ τοῦ νόμου δικαιοσύνη) beruht. Es stammt ursprünglich aus LevLXX 18,5 und lautet: „Der Mensch, der sie (d. h. die Vorschriften der Tora) erfüllt hat, wird durch sie leben.“ Wie in LevLXX 18,5 ausgeführt wird, geht es bei der Gesetzesgerechtigkeit grundsätzlich um die Forderung, die Gebote

Das Wort des Glaubens: Die Gerechtigkeit aus dem Glauben: Röm 10,1-13

im Gesetz einzuhalten.770 Das Leben wird nur denjenigen zuteil, die alles tun, was im Gesetz geschrieben steht (vgl. Gal 3,10-12). Während die Gesetzesgerechtigkeit ihre Grundlage so auf das Einhalten des Gesetzes auf der menschlichen Seite als die Vorbedingung für Gerechtigkeit und Leben setzt, wird bei der Glaubensgerechtigkeit von Christus gesprochen, der durch den Tod und die Auferstehung allen Menschen den neuen Weg zu Gerechtigkeit und Leben eröffnet hat. Als das die Glaubensgerechtigkeit beweisende Schriftwort zieht Paulus DtnLXX 30,12-14 heran und leitet das Zitat mit der mahnenden Rede μὴ εἴπῃς ἐν τῇ καρδίᾳ σου ein, die wörtlich DtnLXX 9,4 entspricht. Durch die Einsetzung dieses Mahnwortes wird ausdrücklich gesagt, dass die Gedanken, welche im Folgenden angeführt sind, sinnlos und absurd sind. Man sieht in der paulinischen Art und Weise der Auslegung von DtnLXX 30,12-14 wiederum eine gewagte eigenständige Exegese, die vollständig vom Christusglauben geprägt ist.771 In DtnLXX 30,12-14 handelt es sich ursprünglich um die Rede von Mose an Israel. Er verkündet, dass die aufgetragenen Gebote und Satzungen in der Tora nicht etwas Fremdes und Fernes sind. Sie seien nicht schwer einzuhalten, denn die Israeliten hätten schon die gebotenen Worte der Tora in ihrem Mund und Herzen. Paulus deutet das Schriftwort allerdings auf den Christusglauben hin. Wie er in V 8 eindeutig darlegt, geht es ihm bei dem Schriftwort DtnLXX 30,12-14 also nicht um das Nahesein der Tora, sondern um das Nahesein des Wortes des Glaubens (τὸ ῥῆμα τῆς πίστεως)772 . Dieses Schriftwort legt das Zeugnis ab, dass die Heilsbotschaft von Jesus Christus im Wort der Verkündigung des Apostels gegenwärtig ist, sodass man Folgendes behaupten kann: „Wenn man bei sich denkt, wer in den Himmel hinaufsteigen wird, bedeutet dies unsinnigerweise, Christus herabholen zu wollen. Und wenn man fragt, wer in die Unterwelt hinabsteigen wird, heißt das, den Christus von den Toten heraufholen zu wollen.“773 Nach dem Wort

770 LevLXX 18,5 zitiert Paulus auch in Gal 3,12, wo er das Prinzip des Gesetzes erklärt, dass zur Erlangung des Lebens alle seine Bestimmungen erfüllt werden sollen (vgl. Gal 5,3). 771 Diese Interpretationsweise findet sich häufiger bei Paulus; vornehmlich in Gal 4,21-31 und Röm 4. 772 Der Genitiv τῆς πίστεως ist als Inhaltsangabe des Wortes (ῥῆμα) zu verstehen (gen. quali.). Bei der Genitivformulierung ist eindeutig zu erkennen, was als Kerninhalt in der Heilsbotschaft des Paulus steht (vgl. νόμος πίστεως in Röm 3,27 oder ὁ λόγος τοῦ σταυροῦ in 1Kor 1,18). 773 Die meisten Exegeten interpretieren die abgewiesenen Fragen in V 6-7 so, dass sie jeweils auf die Menschwerdung (oder die Parusie) Jesu und dessen Auferstehung bezogen ist (vgl. Käsemann, Römer, 278f; Schlier, Römer, 311f; Lohse, Römer, 294f; Wilckens, Römer II, 224). Eine solche Erklärung ist jedoch nicht überzeugend, wenn man die vorgebrachten Formulierungen beider Fragen in ihrem logischen Bezug aufeinander betrachtet. Versucht man diese Fragen des Paulus auf Tod und Auferstehung Christi hin zu deuten, geht dies an seiner eigentlichen Intention vorbei. Das Anliegen des Paulus bei der Umdeutung von DtnLXX 30,12-13 besteht nicht darin, die Wirklichkeit der Auferstehung bzw. Himmelfahrt herauszustellen, sondern das Nahesein der Heilsbotschaft und die in dieser Botschaft verwirklichte Gegenwart Christi zu verdeutlichen.

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Die Gerechtigkeitsaussagen im Römerbrief

des Glaubens ist Jesus als Christus in die Welt gekommen und er hat durch sein Sterben und seine Auferstehung allen Menschen die Möglichkeit erschlossen, ohne Gesetzeswerke Gerechtigkeit und Heil zu erlangen. Dies alles ist in der Zeit des Paulus über das Heilsgeschehen durch Jesus Christus offenbart worden (Röm 1,1617; 3,21f; 16,25-26; 2Kor 4,1f; Gal 1,11f; 4,23f), sodass jeder durch den Glauben an ihn gerettet werden kann. Hinter dieser Art und Weise der Schriftauslegung des Paulus steht die jüdische Schriftexegese, in der die traditionellen biblischen Texte in Bezug auf die gegenwärtige Situation in einer neuen Bedeutung ausgelegt werden. Besonders die sogenannte Pescher-Methode in den Qumranschriften ist als die nächste Parallele anzunehmen.774 Beachtenswert ist auch, dass DtnLXX 30,11f in der jüdischen Tradition schon oft herangezogen wird. Philo verwendet DtnLXX 30,12-14 mindestens sechsmal und deutet den Zusammenhang des Textes auf die Weisheit bzw. Tora.775 Auch in Bar 3,29-31 wird DtnLXX 30,11f zitiert und interpretiert ebenfalls mit Bezug auf das Geschehen, dass Gott Israel seine Weisheit geschenkt hat.776 Was durch die Verkündigung des Paulus nahe gebracht worden ist, heißt jedoch nicht das Wort der Tora oder der Weisheit, sondern das Wort des Glaubens, durch welches der am Kreuz gestorbene Jesus als Retter der sündigen Menschen verkündigt wird. Dieses Wort des Glaubens ist jetzt so nah, dass es sich bereits im Mund und im Herzen der Hörer befindet. Es bringt im Unterschied zum Gesetz, das in den Tod führt (vgl. Röm 7,9-11; Gal 3,10-13), allen Glaubenden, die ihr Vertrauen auf das Wort setzen, Gerechtigkeit und Leben. Dieser einzigartige Gehalt des Wortes des Glaubens wird in den folgenden Versen 10,9-13 weiter ausgeführt. 3.

Die Erklärung des Glaubenswortes (10,9-13)

3.1

Der Glaube erzeugt Gerechtigkeit, das Bekennen die Rettung (V 9-10)

In V 9-13 erklärt Paulus weiter, worum es bei dem nahen Wort, dem Wort des Glaubens, geht, nämlich um die Frage, wie man gerettet werden kann (vgl. die Vorkommen von σωτηρία und σῴζειν in V 9.10.13). Die Verse 9-10 stellen dabei präzise und mit klaren Worten dar, was seitens des Menschen gefordert wird, um Gerechtigkeit und Heil zu erlangen. Es sind eben das Bekennen mit dem Mund, dass

774 Die dreimal wiederkehrende Wendung von τοῦτ᾿ ἔστιν ist der Einführungsformel in der Schriftexegese nach der Pescher-Methode ähnlich (z. B. CD 7,15; 10,16; 16,15; 1QS 8,15; 1QpHab 12,3-4; 4Qflor 1,11). Vgl. Windfuhr, Haggadist, 328; Michel, Römer, 328, Anm. 16; Horgan, Pesharim, 239–244; Wilckens, Römer II, 224f; Lohse, Römer, 294; Haacker, Römer, 251f; Fitzmyer, Romans, 590; Dimant, History, 244–251; Jewett, Romans, 622, Anm. 6 u. a. 775 Vgl. Post. 85; Mut. Nom. 237; Somn. 2,180; Virt. 183; Praem. 80; Spec. Leg. 1,299-303. 776 Vgl. Hübner, Theologie, 314; Käsemann, Römer, 279f.

Das Wort des Glaubens: Die Gerechtigkeit aus dem Glauben: Röm 10,1-13

Jesus Herr ist (κύριος Ἰησοῦς)777 , und der Glaube im Herzen daran, dass Gott Jesus von den Toten auferweckt hat (ὁ θεὸς αὐτὸν ἤγειρεν ἐκ νεκρῶν). Diese beiden anhand der Leitausdrücke aus Dtn 30,14, ἐν τῷ στόματί σου und ἐν τῇ καρδίᾳ σου, getrennt formulierten Handlungen, das Bekennen zu Jesus als Herrn und das Glauben an die Auferstehung Jesu, sind nicht voneinander isoliert zu verstehen. Sie sind vielmehr inhaltlich sehr eng miteinander verknüpft.778 Das Bekenntnis, dass Jesus κύριος ist, setzt schon den Glauben voraus, dass Jesus nicht mehr bei den Toten bleibt, sondern von Gott auferweckt worden ist (vgl. Röm 1,4; Phil 2,9).779 Anders gesagt: Man kann Jesus nur dann als Herrn anrufen, wenn man daran glaubt, dass Jesus gestorben, aber auferstanden und zur Rechten Gottes erhöht ist. Der Glaube an den Tod und die Auferstehung Jesu ist bei Paulus kein anderer Glaube als der Glaube, dass Jesus der rettende Herr ist. Der Tod und die Auferstehung Jesu treten bei ihm sehr häufig nebeneinander und bilden gemeinsam die Grundlage des Glaubensbekenntnisses. Sie sind zugleich der Ermöglichungsgrund dafür, dass die der Sünde verfallenen Menschen durch den Glauben an Jesus Christus den Status der Gerechtigkeit erreichen und vom als Folge der Sünde gesprochenen Todesurteil befreit werden können (vgl. Röm 3,24-25; 4,25; 5,8-10.15-21; 8,1-4; Gal 2, 16-21; 3,10-14). Dieser durch seinen Tod und seine

777 Der an ὁμολογήσῃς angeschlossene doppelte Akk. κύριον Ἰησοῦν gibt an, was der Inhalt des Glaubens, der in der öffentlichen, verbindlichen Aussage des Bekenntnisses in der frühen Christenheit ausgedrückt wurde, war. Diese Formulierung ist wörtlich mit „Herr Jesus“, „Jesus als der Herr“ oder „Jesus ist der Herr“ wiederzugeben (vgl. 1Kor 12,3; Phil 2,11). 778 Vgl. Käsemann, Römer, 281; Schlier, Römer, 314; Lohse, Römer, 296. 779 Das Bekenntnis, dass Jesus Christus Herr ist, ist ein erheblicher Bestandteil der paulinischen Glaubensaussagen. Paulus trägt diesen Kerninhalt in Form eines Bekenntnisses nicht nur ausdrücklich in Röm 10,9; 1Kor 12,3; 2Kor 4,5; Phil 2,11 vor, sondern auch die stereotypen Syntagmen in Verbindung mit dem Namen Jesu (κύριος Ἰησοῦς, κύριος Ἰησοῦς Χριστός, ὁ κύριος ἡμῶν Ἰησοῦς Χριστός, usw.) verweisen prägnant auf diesen Glaubensinhalt (vgl. Du Toit, Hoheitstitel, 296f). Bousset erklärt die Herleitung dieses Titels vor dem Hintergrund der hellenistischen Kyrioi-Kulte. In den Mysteriengemeinschaften riefen die Gläubigen ihren Kultgott Serapis, Osiris, Attis als Kyrios an. Dieser Annahme widerspricht jedoch der in 1Kor 16,22 überlieferte aramäische Ausdruck „Maranatha“, welcher auf der Vorstellung von Ps 110,1 basiert (vgl. Lohse, Römer, 296f). Zudem ist deutlich, dass Paulus verschiedene alttestamentliche Texte zitiert, in denen sich der Titel κύριος auf Gott oder den kommenden Messiaskönig bezieht. Paulus verwendet den Titel κύριος in diesem Rahmen in Bezug auf Jesus Christus und überträgt somit die dort vorfindlichen Vorstellungen auf ihn (vgl. Du Toit, Hoheitstitel, 297; Zimmermann, Namen des Vaters, 195–204). Dabei sind die Vorstellungen wichtig, dass der Herr einzig ist (1Kor 8,5-6; Röm 10,12), die auf ihn Vertrauenden Rettung finden (Röm 9,33; 10,11), die ihn Rufenden gerettet werden (Röm 10,13), der erhöhte Herr kommen und richten wird (Phil 2,11; 4,5; 1Thess 4,13-18; 1Kor 4,1-5). Bedenkenswert bleibt aber, dass die Christen in der römischen Welt mit dem Kaiserkult sehr leiden mussten, der von den Bürgern verlangte, den Kaiser als κύριος anzubeten (vgl. Lohse, Römer, 297; Du Toit, Hoheitstitel, 298).

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Die Gerechtigkeitsaussagen im Römerbrief

Auferstehung den Menschen den neuen Heilsweg eröffnende Jesus allein ist würdig, als Herr angerufen und angebetet zu werden. In V 10 resümiert Paulus unter der Aufnahme der Leitbegriffe καρδία und στόμα noch einmal den Rettungsweg, der für alle Menschen gilt. Der Satz ist in einem strengen parallel. membr. gestaltet: „καρδίᾳ γὰρ πιστεύεται εἰς δικαιοσύνην, στόματι δὲ ὁμολογεῖται εἰς σωτηρίαν.“ Der Kernpunkt der Heilsbotschaft, der schon in V 6 mit der Genitivformulierung ἡ ἐκ πίστεως δικαιοσύνη ausgedrückt worden ist, wird nun mit dem verbalen Ausdruck πιστεύεται εἰς δικαιοσύνην erklärt (vgl. auch V 4: εἰς δικαιοσύνην παντὶ τῷ πιστεύοντι): Der Mensch erreicht nur dadurch Gerechtigkeit, dass er mit dem Herzen glaubt. Der Inhalt dieses Glaubens wurde bereits in V 9 angegeben; nämlich dass Gott Jesus von den Toten auferweckt hat. Der zweite Satz in V 10 mit der Wendung „mit dem Mund bekennen“ steht parallel zum ersten Satz „mit dem Herzen glauben“; beide Satzteile sagen im Blick auf den Glaubensvollzug im Grunde dasselbe aus. V 10b bekräftigt die Feststellung von V 10a, dass dem Menschen allein aufgrund seines Glaubens Rettung zukommt (s. o.). Kennzeichnend ist auch die Verknüpfung von δικαιοσύνη und σωτηρία, welche schon gelegentlich im Römerbrief begegnet ist (vgl. 1,16-17; 5,9). Diese Parallelität von δικαιοσύνη und σωτηρία an dieser Stelle sollte man jedoch nicht als zeitliches Nacheinander verstehen, etwa im Sinne, dass man zunächst aufgrund des Glaubens Gerechtigkeit erlangt, das vollständige Heil aber erst nach dem mündlichen Bekennen vollzogen wird.780 Es ist nicht das Anliegen des Paulus, seinen Adressaten „sprachlosen Glauben“ oder umgekehrt „bloße Lippenbekenntnisse“ vorzuwerfen.781 Vielmehr liegt der Fokus darauf, die Wirklichkeit der Rettung für alle Glaubenden bekräftigend festzustellen; das heißt, dass denen, die Jesus als den Herrn bekennen bzw. in diesen für die Sünder gestorbenen und auferstandenen Christus ihr Vertrauen setzen, die Rettung sicher zuteilwird. Die parallele Struktur von Glauben und Bekennen erklärt sich im vorliegenden Zusammenhang daher, dass Paulus seine Botschaft vom Christusglauben auf der Grundlage der Leitbegriffe Mund und Herz, welche aus dem Schriftwort DtnLXX 30,14 entnommen sind, ausformuliert. Der Begriff δικαιοσύνη ist darum nicht als strikte, zeitlich vorgeordnete Vorbedingung für σωτηρία zu verstehen, er wird eher als Parallele zu σωτηρία mit Konnotation auf das Heil verwendet (vgl. den Parallelismus von σωτηρία und δικαιοσύνη in 1,16-17). Darüber hinaus zeigt der unmittelbare Kontext, dass die

780 Solche Auslegungen von Röm 10,9-10, die diesen Textabschnitt daraufhin zuspitzen, dass es zur vollständigen Errettung nicht nur des Glaubens mit dem Herzen, sondern zwingend auch des (öffentlichen) ausdrücklichen Bekenntnisses mit dem Mund, dass Jesus Herr und von den Toten auferweckt worden ist, bedarf, die uns gelegentlich in Predigten, vornehmlich etwa evangelikaler Provenienz, begegnen, sind demnach ein falsches Verständnis des Textes. 781 Vgl. Haacker, Römer, 254.

Das Wort des Glaubens: Die Gerechtigkeit aus dem Glauben: Röm 10,1-13

Heilskonnotation, welche durch σωτηρία und δικαιοσύνη ausgedrückt wird, auch mit οὐ καταισχυνθήσεται (zuschanden werden)782 umschrieben werden kann (vgl. 9,33). 3.2

Die universale Gültigkeit bzw. Wirkung der Heilsbotschaft für alle Glaubenden (V 11-13)

In V 11-13 zieht Paulus die zwei Schriftworte JesLXX 28,16 und JoelLXX 3,5 aus den Propheten heran, um den im Voranstehenden vorgebrachten Inhalt der Heilsbotschaft als schriftentsprechend bzw. wahr zu erweisen. Das Anliegen der Zitierung der beiden Texte ist an dem gemeinsamen Einsatzwort πᾶς deutlich zu erkennen783 : Die universale Gültigkeit der Heilsbotschaft für alle Menschen. Dieser Universalismus wird im Zwischenvers 12 ausdrücklich erklärt: „Es gibt keinen Unterschied zwischen dem Juden und dem Griechen (οὐ γάρ ἐστιν διαστολὴ Ἰουδαίου τε καὶ Ἕλληνος).“784 Alle, Juden und Nichtjuden,785 haben nur ein und denselben Herrn (ὁ γὰρ αὐτὸς κύριος πάντων), nämlich Jesus Christus.786 Es gibt keinen anderen Herrn, den sie zur Rettung anrufen können. Der Herr aller, Jesus Christus, „erweist sich reich an allen ihn Anrufenden (πλουτῶν εἰς πάντας τοὺς ἐπικαλουμένους αὐτόν)“. Bei Paulus findet sich häufig die Vorstellung, dass Gott oder Christus reich ist und den Menschen reich macht. In Röm 2,4 spricht Paulus von Gottes πλοῦτος, und zwar vom Reichtum seiner Güte, Geduld und Langmut, in 9,23 vom πλοῦτος der Herrlichkeit (vgl. Phil 4,19), in 11,33 von der Tiefe des πλοῦτος Gottes.787 In 2Kor 8,9 spricht Paulus vom Armgewordensein Christi und vom Reichgewordensein der Glaubenden durch Christi Armut. In Röm 10,12 besteht die Rede vom

782 Dieser Ausdruck kommt sehr häufig im Alten Testament vor und drückt ein umfassendes unheilvolles Geschick aus (vgl. PsLXX 6,10; 21,6; 24,3; 30,2.18; 33,6; 34,4; 36,19 u. a.; MiLXX 3,7; 7,16; JesLXX 54,4; JerLXX 2,36; 9,18 u. a.; ObdLXX 1,10; DanLXX 3,41; 3,44 u. a.). 783 Das Wort πᾶς steht nicht in JesLXX 28,16, es ist zum Zitat des Paulus hinzugefügt. 784 Die Formulierung οὐ γάρ ἐστιν διαστολή ist auch in 3,22b belegt, wo Paulus die universale Tragweite von Sünde und Verhängnis erklärt. 785 Die von der jüdischen Sichtweise ausgehende Formulierung Ἰουδαῖος τε καὶ Ἕλλην bezeichnet die ganze Menschheit ohne Ausnahme. Ἕλλην steht dabei nicht nur für die Griechen, es steht vielmehr für die große Zahl von Nichtjuden (vgl. Röm 1,16; 2,9f; 3,9; 1Kor 1,22.24; 10,32; 12,13; Gal 3,28). Vgl. Haacker, Römer, 255. 786 In V 12-13 bezieht der Hoheitstitel κύριος sich eindeutig auf Christus (vgl. V 9). Die universale Dimension der Heilsbotschaft ist somit im Text darin begründet, dass alle Juden sowie Nichtjuden den einen selben Herrn Christus Jesus haben. Demgegenüber wird in 3,29-30 die Einzigkeit Gottes als Grund für die universale Reichweite der Rechtfertigung betont. 787 Der Reichtum Gottes kommt weiter im Epheser- und Kolosserbrief zur Sprache (Eph 1,7; 18; 2,4; 3,16; Kol 1,27). Vgl. Schlier, Römer, 315.

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Die Gerechtigkeitsaussagen im Römerbrief

reichmachen durch Christus darin, dass er allen, die ihn anrufen, sowohl Juden als auch Heiden, Gerechtigkeit zukommen lässt und so Heil verschafft.788 Nicht zu übersehen ist zudem, dass in der Ausführung von V 11-13 die zwei Elemente πιστεύειν und ἐπικαλεῖσθαι τὸ ὄνομα κυρίου als Voraussetzung für die Rettung parallel stehen, so wie im Vorangegangenen πιστεύειν ἐν τῇ καρδίᾳ und ὁμολογεῖν ἐν τῷ στόματι einander zugeordnet als Voraussetzung der Rettung eingeführt worden sind. Damit wird die Parallelität von Glauben mit dem Herzen und Bekennen mit dem Mund aus V 9-10 wieder aufgegriffen. Die beiden Vollzüge, Rufen und Vertrauen, welche eigentlich unterschiedliche Handlungstypen bezeichnen – ersteres einen äußerlichen, letzteres einen innerlichen – sind im Text jedoch eng miteinander verbunden. Das Anrufen des Herrn ist für Paulus insofern offensichtlich mit dem Vertrauen auf den Herrn gleichbedeutend. Das Anrufen des Herrn setzt das Vertrauen auf ihn voraus. Paulus macht damit nochmals deutlich, dass dieses anrufende Vertrauen auf den Retter Christus die hinreichende Bedingung für die Rechtfertigung und Rettung ist.789 Andere Faktoren wie die Befolgung der Tora, beispielsweise die Beschneidung, die für Juden untrennbar mit der Zugehörigkeit zum Gottesvolk zusammenhängen, sind für Paulus im Blick auf die Rechtfertigung gänzlich bedeutungslos (vgl. 3,27-30; 4,11-16; vgl. auch Gal 2,15-21; 3,6-14). Paulus ist sicher, dass die Heilsbotschaft, welche allein den Christusglauben als Bedingung der Rechtfertigung fordert und damit von allen anderen Verpflichtungen entbindet, durch seine Verkündigung in der Gegenwart als universale Heilsbotschaft offenbart ist (10,14-21; vgl. auch 2Kor 5,14-6,2).

788 Vgl. Schlier, Römer, 315; Wilckens, Römer II, 228. 789 In Bezug auf Paulus’ soteriologische Gedanken muss man insbesondere auf die zitierten Texte JesLXX  28,16 und JoelLXX  3,5 aufmerksam machen. Die paulinische Überzeugung, dass jeder an Christus Glaubende, jeder ihn „Herr“ Rufende, Rettung erfährt, geht eindeutig auf diese Schriftworte zurück. Es handelt sich hierbei also um keinen neuen charakteristisch paulinischen Sprachgebrauch, sondern um die Übernahme dieses Gedankengangs aus den prophetischen Büchern. Die Schriftworte, die für den paulinischen Heilsgedanken eine wichtige Rolle spielen, finden sich somit nicht nur Gen 15,6 und Hab 2,4.

Das Reich Gottes besteht in Gerechtigkeit, Frieden und Freude: Röm 14,17

P.

Das Reich Gottes besteht in Gerechtigkeit, Frieden und Freude: Röm 14,17

1.

Der argumentative Kontext von 14,17

Der Begriff δικαιοσύνη tritt letztmalig im Römerbrief in 14,17 auf. Röm 14 problematisiert Konflikte in der römischen Gemeinde, die wegen unterschiedlicher Standpunkte und Praxen zum Thema Essen und Trinken ausgebrochen sind. In der Ausführung dieser Problematik erwähnt Paulus explizit zwei sich gegenüberstehende Parteien: Die, die überzeugt sind, Fleisch essen und Wein trinken zu dürfen, und die, die kein Fleisch essen und keinen Wein trinken (vgl. V 2-3; V 21). Paulus bezeichnet die erste Gruppe als die „Starken (δυνατοί: 15,1)“ und die zweite als die „Schwachen (ἀσθενῶν: V 2; ἀδυνάτοι: 15,1)“, und zwar die „im Glauben Schwachen (ἀσθενῶν τῇ πίστει: V 1)“. Durch die Konflikte zwischen den Schwachen und den Starken bezüglich des Essens und Trinkens ist anscheinend eine reale Gefährdung des Mitmenschen in der Gemeinde entstanden. Vor diesem Hintergrund ermahnt Paulus zunächst beide Gruppen, einander nicht ausgehend von den je eigenen Maßstäben zu richten und zu verachten (V 3-4.10.13). Als erstes verweist er darauf, dass alle zum selben Herrn gehören und alle diesem Herrn dienen. Darüber hinaus betont Paulus, dass sowohl die sog. Schwachen als auch die sog. Starken nur Menschen sind, welche – jeder für sich – vor dem Richterstuhl Gottes erscheinen müssen und über ihr Tun Rechenschaft abzulegen haben (V 10-12). Im Hinblick auf die Thematik des Essens und Trinkens neigt Paulus aber eindeutig der Position der Starken zu (vgl. 14,14.20) und rechnet sich selbst zu dieser Gruppe der Starken, welche das Essen von Fleisch und das Trinken von Wein für völlig problemlos halten (vgl. 15,1). Jedoch ist ihm zufolge auch diesen Starken nicht unbedingt alles erlaubt: Sie sollten sich rücksichtsvoll benehmen, um keinen Anstoß (πρόσκομμα) und kein Ärgernis (σκάνδαλον) zu bereiten (V 13.21). Diejenigen, die den stärkeren Glauben haben, müssen der Liebe entsprechend handeln (V 15; vgl. 1Kor 8,1) und die Schwachheit der anderen tragen (15,1), so dass die Schwachen nicht in Betrübnis versetzt werden und nicht zugrunde gehen (V 15). Um dies zu begründen, macht Paulus darauf aufmerksam, dass die Schwachen ihre Geschwister sind, für die Christus in gleicher Weise gestorben ist (V 15; vgl. auch 1Kor 8,11). Wie Gott bzw. Christus bereits die Schwachen angenommen hat (V 3; 15,7), so sollen die im Glauben Starken ihre schwachen Geschwister so annehmen, wie sie sind.

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Die Gerechtigkeitsaussagen im Römerbrief

2.

Zur Bedeutung der Begriffe δικαιοσύνη, εἰρήνη, χαρά als Charakterisierung des Reiches Gottes

2.1

Die argumentative Funktion der Rede von Gottes Reich

In V 17 setzt Paulus sein Argument damit fort, dass er feststellt, auf welchen Grundwerten das christliche Verhalten fußen sollte. Er sagt: „Denn das Reich Gottes ist nicht Essen und Trinken, sondern Gerechtigkeit, Friede und Freude im heiligen Geist (οὐ γάρ ἐστιν ἡ βασιλεία τοῦ θεοῦ βρῶσις καὶ πόσις ἀλλὰ δικαιοσύνη καὶ εἰρήνη καὶ χαρὰ ἐν πνεύματι ἁγίῳ).“ Nach der Verneinung der Charakterisierung des Reiches Gottes als „Essen und Trinken“, die deren geringe Bedeutung zum Ausdruck bringt, wird die positive Charakterisierung „Gerechtigkeit, Friede und Freude“ umso deutlicher herausgestellt (vgl. 1Kor 4,20).790 Das Reich Gottes hat nichts mit dem Essen und dem Trinken zu tun; die Werte, welche für das Reich Gottes konstitutiv sind, sind eben Gerechtigkeit, Friede und Freude. Die Gemeinde in Rom sollte demnach nicht der Regulierung von Essen und Trinken Beachtung schenken, sondern ihre Aufmerksamkeit darauf lenken, dass sich in ihrem Verhalten untereinander Gerechtigkeit, Friede und Freude verwirklichen. Der Zusatz ἐν πνεύματι ἁγίῳ weist darauf hin, dass die erwähnten drei Werte durch den Heiligen Geist gewirkt werden.791 Das impliziert, dass die Handlungen derjenigen, die den Heiligen Geist empfangen haben, auf diese Grundwerte als deren Früchte abzielen (vgl. 8,5-10; 1Thess 1,6-7; Gal 5,22-23).792 Die Rede vom Reich Gottes kommt im Corpus Paulinum insgesamt fünfmal vor: 1Thess 2,12; 1Kor 4,20; 6,9f; 15,50; Gal 5,21. So spricht Paulus nicht selten vom Reich Gottes (vgl. auch Eph 5,5; Kol 4,11; 2Thess 1,5). Dieser Begriff, welcher bei der Verkündigung Jesu ein zentrales Thema ist, meistens auf den nahenden Beginn der Gottesherrschaft verweist und auf Jesu eigenes Wirken Bezug nimmt, scheint bei Paulus eine bestimmte paränetische Funktion zu haben. Er dient bei Paulus „dazu, ethischen Normen einen ekklesiologisch und soteriologisch relevanten Stellenwert beizulegen“.793 In 1Kor 6,10; 15,50; Gal 5,21 gebraucht Paulus die formelhafte Wendung „das Reich Gottes nicht erben“ und führt die menschlichen Handlungen konkret an, welche dem Reich Gottes nicht entsprechen. Dabei liegt der primäre Impetus der Erwähnung des Reiches Gottes offensichtlich nicht auf dem Thema des Reiches Gottes an sich, sondern darauf, die Adressaten zu ermahnen, wie sie

790 Vgl. Lohse, Römer, 379. 791 Vgl. Wengst, Freut euch, 414. 792 Die Wendung ἐν πνεύματι ἁγίῳ bezieht sich nicht nur auf den letzten Begriff χαρά, sondern auf alle drei Begriffe (vgl. Wilckens, Römer III, 93; Schlier, Römer, 416; Käsemann, Römer, 364; Lohse, Römer, 379 u. a.; gegen Haacker, Römer, 343; Moo, Romans; 857; Jewett, Romans, 863f u. a.). 793 Haacker, Römer, 342.

Das Reich Gottes besteht in Gerechtigkeit, Frieden und Freude: Röm 14,17

ihr Leben ihrem christlichen Glauben gemäß gestalten sollen. Genauso ist hier in Röm 14,17 das Reich Gottes an sich nicht das zentrale Thema, sondern die dem Reich Gottes entsprechenden Werte bzw. Tugenden, welche die Christen ausüben sollen. Die Feststellung von V 17 ist somit eindeutig als eine implizierte Paränese aufzufassen, in der Paulus von den Adressaten ein Miteinander in Gerechtigkeit, Frieden und Freude fordert. 2.2

Die Bedeutung der Tugendbegriffe: δικαιοσύνη, εἰρήνη und χαρά

Dem in 2.1 Ausgeführten zufolge ist δικαιοσύνη hier weder als ein Rechtsspruch noch als Statusbegriff zu verstehen, sondern vielmehr als Grundtugend, in der sich christliches Leben vollziehen soll. Wenn man dagegen δικαιοσύνη im Zusammenhang mit den auf den Rechtfertigungsgedanken bezogenen Belegstellen (z. B. 1,17; 3,21-22; 4,11.13; 5,17; 9,30;10,3-10) als die in Christus geschenkte Gabe versteht794 , ist dies folglich eine unangemessene Interpretation, welche die je nach Kontext variierenden Bedeutungen des Begriffs bei Paulus nicht berücksichtigt. δικαιοσύνη bedeutet auch nicht eine göttliche Macht, wie einige Exegeten in der Nachfolge Käsemanns unbefangen annehmen.795 Um die Verwendung von δικαιοσύνη im vorliegenden Textzusammenhang in Verbindung mit dem Begriff des Reiches Gottes angemessen zu verstehen, muss man ihre Gebrauchsweise im Alten Testament berücksichtigen.796 Dort wird δικαιοσύνη häufig als eine Tugend erwähnt, die für das Königtum, besonders dessen Gerichtsbarkeit, konstitutiv ist (vgl. LevLXX  19,15; 1SamLXX  2,10; 2SamLXX  8,15; 1KönLXX  3,9; 10,9; 1ChrLXX  18,14; 2ChrLXX  9,8; PsLXX  71,2-3; JerLXX  22,3.15; 794 So z. B. Michel, Römer, 435; Ziesler, Meaning, 208; Wilckens, Römer III, 93; Haufe, Reich Gottes, 470; Fitzmyer, Romans, 697; Gäckle, Starken, 403f. 795 So aber Käsemann, Römer, 365; Schlier, Römer, 415; Dunn, Romans II, 823; Jewett, Romans, 863. Beispielhaft sei hier Schlier zitiert: „Δικαιοσύνη ist wie Röm 5,21; Phil 3,9 die im Glauben empfangene und ergriffene ,Macht‘ der im Handeln des Menschen sich realisierenden Gabe der in Jesus Christus erschienenen Gerechtigkeit Gottes.“ (Römer, 415). Schlier stellt hier offenbar unterschiedliche Aspekte zusammenhangslos nebeneinander. Deren Verknüpfung unter Vernachlässigung ihres jeweiligen Kontextes erscheint mir jedoch unangemessen. Bei der Wendung δικαιοσύνη in unserem Text handelt es sich offenkundig nicht um die Gerechtigkeit Gottes im Sinne seiner Eigenschaft oder Macht; vielmehr bezieht sich der Begriff δικαιοσύνη auf das richtige Verhalten der Gläubigen in ihrem Miteinander. 796 Haacker weist zwar durchaus auch auf den Zusammenhang mit der alttestamentlich-jüdischen Tradition hin, er macht jedoch gleichzeitig auf die Verwendung des Begriffs iustitia in der antiken römischen Welt aufmerksam (vgl. Römer, 342). Zwar ist der Verweis auf die Gerechtigkeitsvorstellung in der römischen Welt wichtig, weil dadurch besser zu verstehen ist, wie die römischen Adressaten Paulus’ Rede von der δικαιοσύνη aufgenommen haben. Jedoch macht die paulinische Verwendung des Begriffs δικαιοσύνη in Zusammenstellung mit dem Reich Gottes deutlich, dass diese stärker von der alttestamentlich-jüdischen Tradition abhängig ist.

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Die Gerechtigkeitsaussagen im Römerbrief

EzLXX  45,9 u. a.).797 Sie wird im Allgemeinen auch im Sinne einer Grundtugend im Kontext des menschlichen Zusammenlebens verwendet; sie muss nach der Forderung des Gesetzes beim Handeln des Einzelnen wie bei der Gestaltung des Gemeinwesens erkennbar werden (vgl. GenLXX  18,19; JosLXX  24,14; 1SamLXX  2,10; 1KönLXX  3,6; 1ChrLXX  29,17; 13,8; JesLXX  1,21.26; 5,7; 26,2.9.10; 32,16-17; 33,15; Tob 1,3; 4,5.7 u. ö.). Darüber hinaus wird δικαιοσύνη nicht selten in Bezug auf Gott verwendet, um seine Herrschaft gegenüber der Welt, die auch hier wieder Gerichtsbarkeit einschließt, zu charakterisieren (vgl. PsLXX  88,15; 96,2; JesLXX  5,16; 33,5; 45,8; JerLXX  9,23). Im Blick auf die Verwendung von δικαιοσύνη in Röm 14,17 ist darüber hinaus die Vorstellung hervorzuheben, dass der verheißene Messias, der aus dem davidischen Geschlecht kommt, die Herrschaft über sein Reich in δικαιοσύνη ausüben wird (JesLXX  9,6; 11,5; JerLXX  23,5; vgl. auch PsSal 17,29.37.40; 18,7). Daran zeigt sich, dass die göttliche Königsherrschaft und δικαιοσύνη als deren Grundtugend miteinander verbunden sind. Paulus nimmt also die traditionelle Vorstellung von einer sich durch δικαιοσύνη auszeichnenden Königsherrschaft auf und wendet sie auf seine nun eindeutig eschatologische Konzeption des Reiches Gottes an. Wie oben festgestellt, soll die Erwähnung des Reiches Gottes allerdings nicht so (miss)verstanden werden, dass Paulus in Bezug darauf ein rein eschatologisches Bild zeichnen wollte.798 Vielmehr führt Paulus den Adressaten vor Augen, was die mit diesem Reich in Verbindung stehenden Grundwerte sind, und fordert sie auf, diesen Grundwerten entsprechend zu handeln. Der neben δικαιοσύνη stehende Begriff εἰρήνη ist ebenfalls in der alttestamentlichen Vorstellungswelt fest verankert. Im Alten Testament wird oft von εἰρήνη in Bezug auf die friedlichen Umstände einer Königsherrschaft gesprochen (vgl. JudLXX 4,17; 2SamLXX 17,3; 1KönLXX 2,33; 5,4.26; 2KönLXX 20,19; 1ChrLXX 4,40; 22,9; 2ChrLXX 14,4; 20,30; EsthLXX 13,2; 16,8; PsLXX 71,3.7 u. a.). εἰρήνη taucht weiterhin in dieser semantischen Linie als ein Kennzeichen der göttlichen bzw. messianischen Königherrschaft auf; sie ist ein Zustand, der sich mit der Durchsetzung dieser Herrschaft realisiert (vgl. LevLXX 26,6; NumLXX 6,26; PsLXX 28,11; 73,3; 84,11; 121,6; 147,3 u. a.). Nicht übersehen werden dürfen dabei diejenigen Belege, in denen beide Begriffe, δικαιοσύνη und εἰρήνη, wie bei Paulus (außer Röm 14,17 noch Röm 5,1) zusammenstehen: PsLXX 71,7; 84,10-11; JesLXX 32,17; 39,8; 48,18; 54,10-17; Bar 5,4.799

797 Nach meiner Recherche im TLG gibt es in den paganen griechischen Texten keinen Beleg dafür, dass der Begriff δικαιοσύνη im Zusammenhang mit dem göttlichen Königtum verwendet wird. 798 Die Erwähnung von Gottes Reich zielt argumentativ offenbar auf die gegenwärtigen Probleme der Gemeinde in Rom (vgl. Lohse, Römer, 379). 799 Vgl. Wolter, Römer II, 381.

Das Reich Gottes besteht in Gerechtigkeit, Frieden und Freude: Röm 14,17

Warum Paulus die Aufmerksamkeit gerade auf diese beiden Begriffe lenkt, wird im Blick auf den vorliegenden Kontext plausibel; er stellt dem falschen Benehmen der Adressaten in Rom – nämlich dem gegenseitigen Richten bzw. Verachten und der Zerstrittenheit zwischen den Parteien – Gerechtigkeit und Frieden als angemessene Gestaltung des Miteinanders gegenüber. Mit εἰρήνη ist in diesem Kontext offenbar nicht „die zuteil gewordene Versöhnung“800 mit Gott gemeint. Vielmehr bezieht sie sich – ganz allgemein – auf die Eintracht bzw. das friedvolle Verhältnis der Menschen untereinander, im Blick auf die Adressaten in Rom also das friedvolle Verhältnis zwischen den Gemeindegliedern.801 Man sollte daher den Gebrauch von εἰρήνη in Röm 14,17 strikt vom bei Paulus sonst üblichen unterscheiden. An anderen Stellen bezeichnet der Begriff in der Tat das Friedensverhältnis zu Gott oder eine friedvolle Gesinnung. Auch für das Verständnis von χαρά ist es bedeutsam, den Blick auf die Verwendung innerhalb der alttestamentlichen Texte zu lenken. Der Begriff findet sich wiederum zur Kennzeichnung der mit der Herrschaft über Israel einhergehenden Umstände; im Blick auf widrige Verhältnisse ist vom Verlust der χαρά die Rede, bei sich verbessernden Verhältnissen von deren Wiederherstellung (vgl. PsLXX 20,7; 125,2; JoelLXX 1,5.12.16; SachLXX 8,19; JesLXX 55,12; 66,10; JerLXX 16,9; 25,10; vgl. auch 1Makk 5,54; 2Makk 3,30). Die Nennung von χαρά als Merkmal des Reiches Gottes erklärt sich auch schlüssig aus der Situation der Gemeinde in Rom, die eher durch Streitigkeiten und Verbissenheit als durch Freude gekennzeichnet gewesen sein dürfte. Die Nennung von χαρά besitzt vor diesem Hintergrund somit appellativen Charakter. Wenn Paulus seinen Adressaten in Rom sagt, dass Gottes Reich in Freude besteht, heißt das, dass sie innerhalb der Gemeinde die Freude bewahren sollen, indem sie einander in Rücksicht und Liebe begegnen.

800 So aber Lohse, Römer, 379. 801 So auch zu Recht Haacker, Römer, 342f.

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VI.

Ergebnis: Bedeutung und Funktion der Gerechtigkeitsaussagen im Römerbrief

Aus dieser Untersuchung ist ersichtlich geworden, dass im Römerbrief die Termini aus dem Stamm δικαι- (δίκαιος, δικαιοσύνη, δικαίωσις, δικαίωμα, δικαιοκρισία, δικαιοῦν) in verschiedenen Argumentationsgängen eine wichtige Rolle spielen, um die paulinische Heilsbotschaft zur Sprache zu bringen. Auch wenn man nicht sagen kann, dass die Gerechtigkeit Gottes der Schlüsselbegriff des ganzen Römerbriefes ist, mit dem dessen gesamte Theologie zusammengefasst werden kann,1 so sind die Termini aus dem Stamm δικαι- doch die am häufigsten verwendeten Begriffe, mit denen das Gerechtsein Gottes als Grundlage seines Heilshandelns sowie der dadurch erwirkte Heilsstand der Menschen charakterisiert werden. Im Hinblick auf den Sprachgebrauch der δικαι-Termini bei Paulus sind zwei Verwendungszusammenhänge erkennbar, nämlich die Verwendung mit Bezug auf Gott und diejenige mit Bezug auf die Menschen. Beide Relationen sind jedoch keineswegs voneinander unabhängig, sondern werden vielmehr in verschiedenen Kontexten miteinander verknüpft. Diese Verknüpfung besteht darin, dass einerseits die Gerechtigkeit des glaubenden Menschen als neu gewonnener Status auf das Urteil Gottes zurückgeht, in dem Gott dem Menschen Gerechtigkeit zuspricht (1,17f; 3,20f; 3,27f; 4,1f; 5,1.9.16f; 8,1.30.33; 9,30f; 10,3f; vgl. Gal 2,16; 3,6f), und andererseits die Gerechtigkeit Gottes die Grundlage dafür ist, dass Gott den sündigen Menschen rechtfertigt (3,25-26). Dass er sich selbst als gerecht erweist, ist der Grund, weshalb Gott den sündigen Menschen durch den in Jesus Christus eröffneten Glaubensweg gerecht macht. Die von Paulus hergestellte Verknüpfung zwischen der göttlichen Gerechtigkeit und der Gerechtigkeit des Menschen lässt sich jedoch nicht auf die in der bisherigen Forschung übliche Weise erklären, dass die von Gott zugesprochene Gabe der Gerechtigkeit als von diesem als ihrem Geber unisolierbar zu denken wäre und als solche als eine heilschaffende Macht weiterwirken würde. Paulus sagt ebenfalls nicht, dass der Mensch Anteil erhielte an

1 Dies wurde – gegen Käsemann – bereits von einigen Exegeten richtig angemerkt. Denn diejenigen Passagen, in denen dieser Begriff vorkommt, sind klar abgegrenzt (nur 3,5.25.26) und es finden sich vielfältige Inhalte im Römerbrief, die dem Thema der Gerechtigkeit Gottes nicht zuzuordnen sind.

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Ergebnis: Bedeutung und Funktion der Gerechtigkeitsaussagen im Römerbrief

Gottes eigener Gerechtigkeit oder dass die Gerechtigkeit Christi auf die Gläubigen übertragen würde.2 Aus der vorliegenden Untersuchung wird deutlich, dass man, will man sich Klarheit verschaffen über die paulinische Vorstellung von der Gerechtigkeit Gottes einerseits und der Gerechtigkeit des Menschen andererseits, die verschiedenen Verwendungsweisen der δικαι-Termini in ihrem jeweiligen Kontext beachten muss. Wird das Substantiv δικαιοσύνη in Bezug auf Gott verwendet, bezeichnet es dessen wesentliche Eigenschaft in dem Sinne, dass er gerecht ist und gerecht handelt. Dass Gott als gerechter Richter über die Menschen nach ihren Taten urteilt und alle Menschen diesem Gericht als Sünder verfallen sind, liegt der paulinischen Verkündigung über die Rettung der Sünder als deren Ausgangsvorstellung zugrunde (1,18f; 2,1f; 3,4f). Darüber hinaus bezieht sich die Vorstellung von der Gerechtigkeit Gottes auf dessen Heilshandeln, durch das er die sündigen Menschen gerecht macht (3,25-26). Um des Erweises seiner Gerechtigkeit willen kann Gott nicht die sündigen Menschen zugrunde gehen lassen. Gottes Gerechtigkeit ist auf die gleiche Weise wie seine Liebe und seine Barmherzigkeit die Grundlage, auf der Gott den sündigen Menschen Heil verschafft. In Hinsicht auf die Menschen bezeichnet δικαιοσύνη den neu gewonnenen Status der Glaubenden, welchen sie aufgrund ihres Glaubens an Christus erlangen (1,17; 3,21.22; 4,11.13; 5,17.21; 6,16; 9,30; 10,3.4.10; vgl. 1Kor 1,30; Phil 3,9). Hierbei handelt sich es nicht um eine selbst erworbene Gerechtigkeit, sondern immer um eine aufgrund des göttlichen Zuspruchs bzw. Urteils verliehene Gerechtigkeit. Diese meint nicht nur, dass sie gerecht sind, sondern fungiert als spezifische Identitätsbezeichnung der Glaubenden als der zu Gott Gehörigen. Neben diesem Gebrauch als Identitätsbezeichnung dient die Verwendung von δικαιοσύνη mehrfach dazu, als ethische Kategorie (häufig im Gegensatz zu ἁμαρτία) die neue Ausrichtung des Lebenswandels der Glaubenden zu beschreiben (6,13.18.19.20; 8,10; 14,17; vgl. auch 2Kor 6,14). Die bisher in knapper Form zusammengefassten Ergebnisse hinsichtlich der Bedeutung und Funktion der Gerechtigkeitsaussagen bei Paulus sollen im Folgenden noch einmal hinsichtlich ihres Bezuges auf Gott einerseits sowie auf den Menschen andererseits dargestellt werden.

2 M. E. findet sich in den Paulusbriefen keine Aussage über einen Tausch des Status des Menschen mit dem Status Christi im Sinne, dass die Gerechtigkeit Christi in die sündigen Menschen hineingelegt würde. In der dafür häufig angeführten Stelle 2Kor 5,21 geht es eigentlich darum, dass der stellvertretende Tod Christi für die Sünder das Gerechtwerden der Glaubenden ermöglicht.

Die Gerechtigkeitsaussagen in Bezug auf Gott

A.

Die Gerechtigkeitsaussagen in Bezug auf Gott

1.

Gerechtigkeit als die wesentliche Eigenschaft Gottes und ihr Bezug auf sein Gerichtshandeln

Die δικαι-Termini verwendet Paulus im Römerbrief in Bezug auf Gott vor allem, um dessen Wesen und Handeln als Schöpfer und Herrscher der Welt zu beschreiben. Allerdings drückt er dies nie explizit mit der Aussage „Gott ist gerecht (δίκαιος)“ aus; die Gottesvorstellung, dass Gott in seinem Wesen und in seinem Handeln gerecht ist, tritt jedoch an mehreren Orten des Römerbriefes offen zu Tage. Dass Gott gerecht ist, ist mit weiteren anderen Qualifizierungen, etwa dass Gott treu (πίστος) und wahrhaftig (ἀληθής) ist, ein grundlegendes Element der paulinischen Gottesvorstellung. Die Menschen sind nach der paulinischen Darstellung untreu, unwahrhaftig und ungerecht (3,3-4), die ganze Menschheit steht gar unter der Sünde und ist dem Gericht Gottes verfallen (3,9-20). Gott erweist sich demgegenüber stets in seinem Handeln als gerecht, auch in seinem strafenden Gericht an den sündigen Menschen (3,3-5). Hierin zeigt sich, dass die Gerechtigkeit Gottes und die Sündhaftigkeit der Menschen bei Paulus einander radikal antithetisch gegenübergestellt werden. Diese Gegenüberstellung findet sich bereits im Alten Testament (Hi 4,17; 15,14; 25,4; 40,3-5; Ps 39; 51; 90; 103; 143; Dan 9,1-19) und in davon abhängigen frühjüdischen Schriften (Sir 8,5; 10,18; 17,30-32; äthHen 81,4; 1QS 11,9-22; 1QH 3,23-25; 4,30-32; 7,17.28f). Paulus lehnt sich somit im Wesentlichen an dieses alttestamentlich-jüdische Gottes- und Menschenbild an. Der erste ausdrückliche Beleg für die Rede von Gottes Gerechtigkeit findet sich im Argumentationsgang von 3,5-8, wo sich Paulus mit einem gegen seine Verkündigung über den Christusglauben gerichteten Einwand auseinandersetzt. Worin die Kritik seiner Gegner besteht, lässt sich aus dem näheren Kontext unschwer ableiten. Die Gegner werfen Paulus vor, dass er durch seine Verkündigung über die Rechtfertigung ohne Gesetzeswerke, allein aus dem Christusglauben, die Menschen dazu verleite, Unrecht und Ungerechtigkeit zu tun. Paulus verteidigt die Geltung seiner Verkündigung als wahre Botschaft, indem er die Absurdität der von den Gegnern vorgebrachten Behauptungen entlarvt. Hierbei macht er deutlich, dass die Sünde und Ungerechtigkeit des Menschen keineswegs in solch positiver Weise darzustellen sind und dass das richtende Handeln Gottes an der Ungerechtigkeit und Sünde der Menschen immer gerecht ist. Bei der Rede von Gottes Gerechtigkeit in 3,5 geht es unter Berücksichtigung des näheren Kontextes nicht um eine Macht Gottes, die die sich ihm widersetzende Welt ins Recht setzt.3 Darüber hinaus ist die Semantik

3 Gegen Käsemann, Römer, 76f; Stuhlmacher, Gottes Gerechtigkeit, 85f; Dunn, Romans I, 134; Jewett, Romans, 247.

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des Terminus δικαιοσύνη nicht unter dem Begriff der Bundestreue Gottes zu subsumieren.4 Die Aussage von der göttlichen Gerechtigkeit in 3,5 bringt vielmehr im Gegensatz zur Untreue und Ungerechtigkeit der Menschen die unerschütterliche Tatsache zum Ausdruck, dass Gott gerecht ist und gerecht handelt. Dass Gott über die Menschen gerecht richtet, ist ein wichtiger Bestandteil der paulinischen Heilsbotschaft. Denn die Heilskunde des Paulus, die Rechtfertigung durch den Christusglauben, setzt die Vorstellung voraus, dass alle Menschen vor dem Gericht Gottes, dem sie aufgrund ihrer Handlungen verfallen sind, Rechenschaft ablegen müssen. Dies sieht man besonders eindeutig in 1,16–3,31, wo Paulus die Sündenverfallenheit aller Menschen und das Heil Gottes durch Christus ausführt, welches ohne Unterschied allen Glaubenden, sowohl den Juden als auch in gleicher Weise den Nichtjuden, zukommt. Gott ist gerechter Richter, der über die Sünde und Ungerechtigkeit des Menschen, die beispielsweise in Röm 1,18ff aufgeführt sind, richtet. Dies ist der Vollzug der göttlichen Rechtsordnung (δικαίωμα τοῦ θεοῦ: Röm 1,32). Gott richtet nach dieser Rechtsordnung in seinem Zorngericht über die Menschen, die Unrecht begangen haben. Die Menschen, die sich durch ihr Vergehen als schuldig erweisen und in ihrem Starrsinn und ihrer Unbußfertigkeit nicht von ihrem falschen Weg umkehren, stehen offenkundig unter dem Zorngericht Gottes, das noch aussteht, mit Gewissheit aber bald offenbar werden wird (2,1-16). Paulus nennt den Tag, an dem das Gericht Gottes sich ereignen wird, entsprechend der alttestamentlichen Tradition „Tag des Zorns“ (ἡμέρα ὀργῆς: Röm 2,5; vgl. auch. Röm 1,18; Eph 5,6; Kol 3,6) und bezeichnet das Gericht Gottes als das gerechte Gericht (δικαιοκρισία: Röm 2,5). Das Gericht Gottes verdient eine solche Bezeichnung, da das Kriterium für dieses göttliche Gericht allein diejenigen Werke sind, welche die Menschen wirklich getan haben; alle weiteren Faktoren sind dabei ausgeschlossen (2,6-11). Gott belohnt diejenigen, die nach eschatischen Heilsgütern streben und beharrlich gute Werke vollbringen, mit dem ewigen Leben und der Herrlichkeit. Diejenigen aber, die ihren eigenen vergänglichen Gewinn in der irdischen Welt suchen, straft er mit Grimm und Zorn (2,6-8). Paulus verdichtet seine derartige Gewissheit über die Gerechtigkeit im Gericht Gottes mit der Feststellung, dass dieses der Wahrheit gemäß (κατὰ ἀλήθειαν) ergeht. Die Besonderheit des göttlichen Gerichts besteht darin, dass Gott nicht wie die Menschen nur das äußerlich Sichtbare, sondern auch das innerste Verborgene ans Licht bringen kann (vgl. Röm 2,16; 1Kor 4,5). Die Menschen werden im Endgericht vor dem in dieser Weise gerechten Gott stehen und Rechenschaft ablegen; nach Paulus kann keiner von ihnen aufgrund 4 So aber viele, vgl. Stuhlmacher, Gerechtigkeit Gottes, 85; Kertelge, Rechtfertigung, 65; Ziesler, Meaning, 190; Bornkamm, Teufelskunst, 143; Cranfield, Romans I, 180f; Michel, Römer, 138; Wilckens, Römer I, 164; Käsemann, Römer, 74f; Schlier, Römer, 92f; Dunn, Romans I, 131f.139f; Jewett, Romans, 244f; Flebbe, Solus Deus, 34.

Die Gerechtigkeitsaussagen in Bezug auf Gott

eigener Taten in diesem Gericht als gerecht bestehen. Der einzige Weg, auf dem die Menschen dem Zorngericht entgehen können, ist nach Paulus der Glaube an Christus Jesus, der durch seinen Tod diesen Rettungsweg eröffnet hat (3,24-25; 5,8-10; 15-19; 8,1-4). 2.

Der Erweis von Gottes Gerechtigkeit in seinem Heilshandeln

Die Gerechtigkeit Gottes im Sinne, dass Gott gerecht ist und gerecht handelt, kommt im Römerbrief nicht nur wie in 3,5-6 im Kontext seines richterlichen Handelns zur Sprache, sondern auch in Bezug auf sein Heilshandeln an der sündigen Menschheit. So zeigt Paulus in Röm 3,24-26, wo er die Rechtfertigung bzw. Erlösung durch Christus zur Sprache bringt, auch deutlich, worauf dieses durch Christus erwirkte Heilsgeschehen abzielt; er drückt dies mithilfe der doppelten ἔνδειξις-Aussagen aus: das Heilsgeschehen zielt ab auf den Erweis der Gerechtigkeit Gottes. Angesichts der sprachlichen Formulierung und des näheren Kontextes kann unter der Genitivformulierung δικαιοσύνη αὐτοῦ nichts anderes verstanden werden als die Eigenschaft Gottes, sein Gerechtsein. Dies wird auch durch den der zweiten ἔνδειξις-Aussage zugeordneten substantivierten Infinitiv εἰς τὸ εἶναι αὐτὸν δίκαιον bestätigt. Mit diesem semantischen Gehalt unterscheidet sich der Ausdruck δικαιοσύνη αὐτοῦ in 3,25.26 eindeutig von der Doppelaussage δικαιοσύνη θεοῦ in 3,21.22, die unmittelbar durch die Wendung διὰ πίστεως Ἰησοῦ Χριστοῦ εἰς πάντας τοὺς πιστεύοντας als Glaubensgerechtigkeit bestimmt wird (s. u.). In 3,25-26 thematisiert Paulus die Gerechtigkeit Gottes im Zusammenhang mit der Frage, wie Gott an den sündigen Menschen Heil wirkt. Der dort vorliegenden Schilderung nach hat Gott Jesus Christus als die Sünder bedeckendes und damit vor Gottes Zorngericht schützendes Opfer (ἱλαστήριον) hingestellt.5 Denjenigen, die ihr Vertrauen auf die Kraft des Blutes Christi setzen, wird daher die Erlösung von ihren Sünden und anschließend die Rechtfertigung zuteil (V 24.26b). Wenn der Mensch auf Jesus als von Gott selbst aufgerichtetes ἱλαστήριον vertraut, dann geht Gott in seinem Ansichhalten an den früher begangenen Sünden straflos vorüber (V 25b). Syntaktisch gesehen ist die zweimal erwähnte ἔνδειξις-Aussage (zum Erweis der Gerechtigkeit) unmittelbar mit διὰ τὴν πάρεσιν τῶν προγεγονότων ἁμαρτημάτων einerseits und mit εἰς τὸ εἶναι αὐτὸν δίκαιον καὶ δικαιοῦντα τὸν ἐκ πίστεως Ἰησοῦ andererseits verbunden. Die Gerechtigkeit Gottes erweist sich gemäß dieser Verknüpfung darin, dass Gott die vergangenen Sünden der Glaubenden erlässt und ihnen Gerechtigkeit zuteilwerden lässt. Diese Verbindung ist in der Forschung unglücklicherweise lange Zeit im Sinne des von Anselm von Canterbury grundgelegten Satisfaktionsgedankens bzw. der

5 Zu diesem Verständnis von ἱλαστήριον s. o. S. 241f dieser Arbeit.

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Ergebnis: Bedeutung und Funktion der Gerechtigkeitsaussagen im Römerbrief

Sühnetheologie erklärt worden. Der Tod Christi ist gemäß dieser Deutung eine die Sünde der Menschen aufwiegende Ersatzleistung, die die Wiedergutmachung der wegen der menschlichen Sünde verletzten Ehre bzw. Gerechtigkeit Gottes ermöglicht hat. Der Tod Christi als ein die menschlichen Sünden sühnender Tod habe den Anspruch des göttlichen Gerichts an die sündigen Menschen erfüllt. Gegen diese Interpretation spricht schon die Tatsache, dass, wie in dieser Untersuchung gezeigt, der ἱλαστήριον-Begriff nicht „Sühne“ bedeutet und δικαιοσύνη αὐτοῦ nicht in engerem Sinn als iustitia distributiva aufzufassen ist. Ferner kann die enge Verknüpfung zwischen dem Erweis der göttlichen Gerechtigkeit und Gottes Erlass der Sünde sowie seiner Rechtfertigung der Glaubenden auf der Grundlage dieser Satisfaktions- bzw. Sühnevorstellung nicht befriedigend erklärt werden.6 Die Aussage vom Erweis der Gerechtigkeit Gottes im Zusammenhang mit dessen Heilshandeln in Röm 3,25-26 kommt aufgrund ihres Aussagegehalts den alttestamentlichen Texten besonders nahe, in denen die Gerechtigkeit Gottes als die Grundlage seines Heilshandelns zur Sprache kommt. Unter diesen sind besonders die Plagen- und Exoduserzählung in ExLXX 7-15 und die prophetischen Orakelreden über das eschatische Heil und die Restitution Israels im Jesajabuch, etwa JesLXX 45; 51,1-16; 56,1-8; 59; 61, als Verstehenshintergrund für Röm 3,25b-26 von Bedeutung. In diesen Texten fällt auf, dass die Manifestation der Gerechtigkeit Gottes und die Anerkennung JHWHs als des einzigen und rettenden Gottes als das Ziel, auf das Gottes Heilshandeln gerichtet ist, dargestellt werden. Darüber hinaus stimmen Röm 3,25b-26 und die oben genannten Jesajatexte darin überein, dass das Gerechtwerden der Menschen das oberste Endziel des göttlichen Heilsplans darstellt (vgl. JesLXX 45,25; 54,11-17; 61,3.10). Auch die universale Reichweite des Heilshandelns Gottes, die in Röm 3,21-30 zur Sprache kommt, knüpft offenbar an Vorstellungen in den Jesajatexten an, wo der prophetische Heilsruf auch die heidnischen Völker im Blick hat (JesLXX 45,20-23; 50,6-7). 3.

Der rechtfertigende Gott

Bei Paulus ist es Gott, der den Menschen rechtfertigt, ihm Recht verschafft. Dieses rechtfertigende Handeln Gottes drückt Paulus mit dem Verb δικαιοῦν aus. Bevor man vorschnell auf die gängige Übersetzung mit „rechtfertigen“, „gerecht sprechen“ oder „gerecht machen“ zurückgreift, muss man beachten, dass diese Begriffe, mit welchen der griechische Ausdruck δικαιοῦν in den deutschen Bibelübersetzungen

6 Zur näheren Erläuterung s. o. S. 253f der vorliegenden Arbeit.

Die Gerechtigkeitsaussagen in Bezug auf Gott

und -kommentaren für gewöhnlich wiedergegeben wird, mit diesem hinsichtlich seiner ursprünglichen und grundlegenden Semantik nicht deckungsgleich sind.7 Dass die Wiedergabe mit „rechtfertigen“, „gerecht sprechen“ oder „gerecht machen“ nicht immer dem Verwendungskontext entspricht, zeigt der Überblick über den Gebrauch von δικαιοῦν im paganen, alttestamentlichen und jüdischen Schrifttum deutlich. Vornehmlich zeigt sich die Komplexität der verschiedenen Gebrauchsweisen dieses Verbs in den paganen Belegen, in denen es verbunden mit einem personalen Objekt üblicherweise mit „bestrafen“ wiedergegeben (z. B. Herodot, 1.100; 3.29; 5.92b; Platon, Gorg 484b; Lg 715a; Lg 934b; Plutarch, Moral. 565b) und in Verbindung mit einem Infinitiv in der Regel im Sinne von „für gerecht halten“ verstanden worden ist. Darüber hinaus wird diese Komplexität auch in der LXX sichtbar, wo das Verb mit dem Objekt „Israel“ bzw. „ein Gerechter“ im Sinne von „rechtfertigen“ oder verbunden mit sozial Schwächeren wie Witwen und Waisenkindern im Sinne von „Gerechtigkeit verschaffen“ aufgefasst worden ist (z. B. PsLXX 81,3; JesLXX 1,17). Diese verschiedenen Verwendungsweisen und Übersetzungsvarianten wurden bisher lediglich nebeneinandergestellt, ohne dass nach einer gemeinsamen bzw. grundlegenden Bedeutung des Verbs δικαιοῦν gefragt worden wäre. Die durchgeführte semantische Untersuchung hat allerdings gezeigt, dass diese zugrundeliegende Bedeutung als „etwas oder jemanden in den Zustand der Gerechtigkeit bzw. Richtigkeit versetzen oder mit Gerechtigkeit bzw. Richtigkeit versehen“ aufzufassen ist. Von dieser grundlegenden Semantik her lassen sich die oben aufgeführten verschiedenen Verwendungsweisen des Verbs δικαιοῦν im Hinblick auf ihren jeweiligen Kontext erklären. Wichtig ist hierbei besonders, dass das Verb δικαιοῦν nicht im ausschließlich negativen Sinne von „bestrafen“ zu verstehen ist und somit der Gebrauch des Verbs in der paganen Literatur auf der semantischen Ebene nicht in Opposition zur alttestamentlichen Verwendungsweise zu sehen ist. Wie die Analyse der Belegstellen bei Paulus ergeben hat, entspricht bei ihm die Semantik des Verbs δικαιοῦν weitgehend der durch die Belege in den paganen und jüdischen griechischen Schriften nachgewiesenen Semantik, obwohl er inhaltlich bzw. theologisch eindeutig über jene Schriften hinausgeht. Paulus geht es, wenn er das Verb δικαιοῦν gebraucht, um ein Rechtsurteil, durch das Gott einen Menschen für gerecht erklärt bzw. als gerecht anerkennt. Durch dieses Rechtsurteil Gottes erfolgt die Versetzung eines Menschen in einen gerechten Zustand, das IhnVersehen-mit-Gerechtigkeit; die Verwendung des Verbs δικαιοῦν zielt darauf ab, den Statuswechsel vom Sünder-Sein zum Gerechter-Sein zum Ausdruck zu bringen. Im Blick auf den Sprachgebrauch ist bemerkenswert, dass das Verb häufiger im

7 Zur ausführlichen semantischen Untersuchung des Verbs δικαιοῦν in paganen Texten vgl. Teil II.A.2 und zur Untersuchung in der LXX vgl. Teil II.B.2.2 dieser Arbeit.

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Ergebnis: Bedeutung und Funktion der Gerechtigkeitsaussagen im Römerbrief

Passiv als im Aktiv verwendet wird. Die aktivische Verwendung mit Gott als Subjekt kommt im Römerbrief viermal in 3,26.30; 4,5 und 8,33 (daneben auch in Gal 3,8) vor; die passivische Form findet sich siebenmal, nämlich in 2,13; 3,20.24.28; 5,1.9; 6,7.8 Wird das Verb im Aktiv verwendet, so wird betont, dass Gott das handelnde Subjekt des Rechtfertigungsgeschehens ist. Mit den passivischen Formen soll eher der Stand bzw. Status, in den die Gläubigen versetzt werden, herausgehoben werden. Dieser mit der passivischen Form ausgedrückte Zustandswechsel lässt sich wiedergeben mit „als gerecht dastehen“, „sich als gerecht erweisen“. Die Annahme eines passivum divinum („von Gott gerechtfertigt werden“) ist zwar möglich; sie ist dann naheliegend, wenn der passivische Ausdruck im unmittelbaren Kontext einer aktivischen Form steht. Dieses Verständnis ist aber keineswegs zwingend. Die Form δικαιοῦσθαι kann ganz unabhängig von dem expliziten oder ergänzten logischen Subjekt „Gott“ einen Statuswechsel ausdrücken. Für das semantische Verständnis der paulinischen Verwendung von δικαιοῦν ist weiterhin nicht unwichtig zu bemerken, dass diese Wendung in Röm 4 häufig parallel zum Ausdruck λογίζεσθαί τινι εἰς δικαιοσύνην bzw. λογίζεσθαί τινι δικαιοσύνην verwendet wird (vgl. 4,2f.22f). Paulus verweist auf das Rechtfertigungsgeschehen Abrahams in Gen 15,6 als Schriftbeweis für sein eigenes Rechtfertigungsverständnis, das besagt, dass Gott den Menschen Gerechtigkeit aus dem Glauben zuspricht. Die Parallelität der beiden Ausdrücke δικαιοῦν und λογίζεσθαι εἰς δικαιοσύνην bei Paulus zeigt eindeutig, dass er anders als die geläufigen jüdischen Interpretationen von Gen 15,6, in denen Abrahams πίστις im Rahmen des Gesetzesgehorsams verstanden wird, die Formulierung ἐλογίσθη αὐτῷ εἰς δικαιοσύνην in Gen 15,6 als ein Rechtfertigungsgeschehen interpretiert, in dem einem glaubenden Menschen Gerechtigkeit von Gott verliehen wird. Dass Paulus das Verb δικαιοῦν im Zusammenhang mit der Wendung λογίζεσθαι εἰς δικαιοσύνην gebraucht, bedeutet auch, dass er dieses Geschehen nicht im Sinne einer inneren Verwandlung des Menschen charakterisiert, sondern in dem Sinne, dass der Mensch durch das rechtfertigende Urteil Gottes in einen anderen Status, nämlich den des Gerechtseins, versetzt wird. Im Blick auf die Rechtfertigungsaussagen bei Paulus ist unbedingt zu beachten, dass hier Gott die einzig wirksame Gerichtsinstanz ist, die über die Menschen urteilen kann, ob sie gerecht sind oder nicht. Dieses Urteil über den Status der Menschen ist der entscheidende Aspekt der göttlichen Gerichtsbarkeit. Der Gedankengang, dass allein Gottes Urteil verbindlich und endgültig ist, wird in den Paulusbriefen an mehreren Stellen herausgearbeitet. Paulus sagt einmal deutlich, dass er selbst menschliche Urteile für irrelevant hält und allein auf das künftige,

8 Im restlichen Corpus Paulinum findet sich die passivische Form auch noch in 1Kor 6,11; Gal 2,16; 3,11.24.

Die Gerechtigkeitsaussagen in Bezug auf Gott

endgültige Urteil Gottes blickt (vgl. 1Kor 4,4; vgl. auch1Kor 3,1f; 9,24f; 2Kor 10,1218; 11,31). Dieser alleinige Geltungsanspruch des Urteils Gottes korrespondiert mit Paulus’ Gebrauchsweise des Verbs δικαιοῦν. Er verwendet das Verb nie in Bezug auf das Selbsturteil oder die Selbsteinschätzung eines Menschen. Von Belang und Gültigkeit ist für Paulus einzig das Urteil Gottes. Diese Vorstellung von Gott als Instanz höchster Gerichtsbarkeit geht offenbar auf die entsprechende Gottesvorstellung im Alten Testament zurück und steht mit dem Bild von Gott als Richter in den jüdischen Schriften in Verbindung. Dahingegen findet sich in paganen Texten keine Stelle, bei der Gott als Subjekt rechtfertigenden Handelns auftritt und bei dem das Urteil über das Gerecht-Sein des Menschen eine so zentrale Rolle spielt. Zu beachten ist zudem, dass Paulus von der Rechtfertigung durch Gott in verschiedenen Kontexten mit unterschiedlichen Bedeutungsnuancen spricht. Der häufigste Fall ist eindeutig die Rechtfertigung der an Christus Glaubenden in dem Sinne, dass sie nicht mehr Sünder sind, sondern als Gerechte von Gott anerkannt worden sind (3,24f; 4,2f; 5,1.9). Gott spricht denjenigen gerecht, der auf den um seiner Rettung willen gestorbenen Jesus Christus sein Vertrauen gründet. Bei dieser Rechtfertigung spielt es keine Rolle, ob dieser Grieche oder Jude ist. Der einzige Gott spricht sowohl die Beschnittenen als auch die Unbeschnittenen aufgrund ihres Glaubens gerecht (3,29-30). Paulus kommt auf die Rechtfertigung zu sprechen, wo er sich im Rahmen der Heidenmission mit der Frage auseinandersetzt, wie ein Mensch ohne Erfüllung der Gesetzesforderungen Gerechtigkeit erlangen und so als Kind Gottes angenommen werden kann. Durch seine Auslegung der Abrahamsgeschichte in Röm 4 bringt Paulus zur Geltung, dass die Nichtjuden ohne Befolgung der Beschneidung als Gerechte in die Gemeinschaft mit Gott eintreten können. Wie Abraham im Zustand der Unbeschnittenheit aufgrund seines Glaubens Gerechtigkeit erlangt hat, spricht Gott den Nichtjuden gerecht, der wie Abraham auf Gott sein Vertrauen setzt (4,5-11.23-24). In Hinblick auf den näheren Kontext liegt der Akzent der Verwendung von δικαιοῦν in Röm 8,30 und 8,33 anscheinend auf einer anderen Ebene als bei den bisher genannten Rechtfertigungsaussagen. Es fällt jedenfalls auf, dass im Kontext der beiden Stellen eine Erwähnung der Gesetzesthematik fehlt, die sich sonst innerhalb der so genannten paulinischen Rechtfertigungslehre findet. Mit der δικαιοῦν-Aussage in Röm 8,30 hat Paulus offenkundig die Glaubenden im Blick, welche aufgrund ihres Glaubens widrigen Umständen ausgesetzt sind, und will ihnen ihre heilvolle Zukunft aufweisen, in der ihnen Gerechtigkeit und Herrlichkeit zuteilwerden. Paulus ermutigt auf diese Weise die leidenden Christen in Rom, ihre Aufmerksamkeit auf die kommende Heilszeit zu lenken und im Glauben fest zu stehen. In 8,30 ist von der Rechtfertigung der Menschen somit keine Rede in dem Sinne, dass die Nichtjuden aufgrund ihres Glaubens an Jesus Christus ohne Tun des Gesetzes gerecht werden können. Es geht vielmehr um die göttliche Anerkennung der leidenden Christen, durch die sie mit der im irdischen Leben nicht sichtba-

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ren Gerechtigkeit und Herrlichkeit ausgestattet werden. In seiner sprachlichen Formulierung und seinem Aussagegehalt steht der Text Röm 8,30 in enger Nähe zu JesLXX 45,25, wo die Zusammenstellung der Verben δικαιοῦν und ἐνδοξάζειν die Restitution Israels als mit Gerechtigkeit und Herrlichkeit ausgestattetes Gottesvolk zum Ausdruck bringt (vgl. auch JesLXX  44,21-23; 46,13; 58,8; 61,3; 62,1-3; ApkMos 20,1-2; Bar 5,2). Bei der Wendung θεὸς ὁ δικαιῶν in 8,33 geht es gerade um eine nähere Erläuterung der Heilszukunft, in der den leidenden Christen endgültig Gerechtigkeit widerfahren wird. Die Aussage, dass Gott sie gerecht spricht, ist dabei in eine Gerichtsszene eingebettet, bei der ein fiktiver Gegner gegen die Christen Anklage erheben will. In Form einer rhetorischen Frage macht Paulus jedoch deutlich, dass es unmöglich ist, gegen die von Gott Erwählten, d. h. die leidenden Christen, Anklage zu erheben. Gott tritt in besonderer Weise für die Seinen ein, so dass niemand ihnen etwas anhaben kann. In Hinsicht auf Terminologie und Stil ist erkennbar, dass die in 8,31f gestellten τίς-Fragen auf JesLXX 50,8-9 anspielen. Wie im Jesajatext geht es in 8,31f um die Rechtfertigung und den Sieg der zu Gott Gehörigen sowie das besondere Eintreten Gottes für die Seinen. Ein Unterschied besteht aber darin, dass dieses Eintreten Gottes in Röm 8,31f nicht wie im Jesajabuch einer einzelnen Person (dem Propheten Jesaja) gilt, sondern allen Gläubigen.9

9 Die in Röm 8,30 und 8,33 durch die Wendung δικαιοῦν ausgedrückte Anerkennung der leidenden Glaubenden ist weiterhin in Gal 5,5 und in 1Kor 4,4f zu ersehen.

Die Gerechtigkeitsaussagen in Bezug auf den Menschen

B.

Die Gerechtigkeitsaussagen in Bezug auf den Menschen

1.

Rechtfertigung aus dem Glauben an Christus: Rechtfertigung aufgrund des Todes und der Auferstehung Jesu

Die Frage, wie der Mensch gerechtfertigt wird, wird im Römerbrief intensiv verhandelt. Paulus kommt es also nicht auf jene Frage an, wie die Menschen Gerechtigkeit in der sozialen und politischen Dimension herstellen können. Die entscheidende Fragestellung ist für ihn, wie ein individueller Mensch vor Gott als gerecht dastehen kann. Es geht insofern um eine soteriologische Frage, als sie im Hinblick auf das Urteil Gottes in forensischem Kontext behandelt wird. Auf diese Frage gibt Paulus eine klare Antwort: Das, wodurch ein Mensch vor Gott als gerecht anerkannt werden kann, ist der Glaube, welcher sich auf Jesus Christus als Retter verlässt; mit anderen Worten, der Glaube, welcher den Tod und die Auferstehung Christi als auf die eigene Existenz gerichtetes göttliches Heilsgeschehen annimmt (3,21-26; 4,24-5,12; 10,9-10). Dieser Gedankengang, dass der Glaube an Jesus Christus, der um der Rettung der Sünder willen starb, dem Menschen Gerechtigkeit verschafft, kommt im Römerbrief durch solche Formulierungen mehrfach zum Ausdruck, in denen ein Begriff aus dem Stamm δικαι- mit πίστις bzw. πιστεύειν in Verbindung gebracht wird.10 Paulus zufolge gibt es außer dem Glauben an Jesus Christus keinen anderen Weg, auf dem der sündige Mensch Gerechtigkeit erlangen kann. Wie er mehrfach feststellt, gibt es keinen Menschen, der durch Werke des Gesetzes vor Gott als gerecht dastehen kann. Alle Menschen verfallen ausnahmslos dem Gericht Gottes (Röm 3,19-20; vgl. auch Gal 2,16; 3,11). Diese Annahme des Paulus ist gerade der Ausgangspunkt, vom aus er seine Heilsbotschaft entfaltet. Alle Menschen sind ausnahmslos verdorben, da sie gesündigt haben (Röm 3,9f; 3,23; 5,12f). Die Juden besitzen das Gesetz und haben damit über den Willen Gottes Kenntnis; doch sie tun das vom Gesetz Geforderte nicht (2,17f). Sie können aufgrund ihrer Gesetzesübertretungen nicht der Verurteilung Gottes entrinnen. Ebenso werden auch die Nichtjuden, die das Gesetz nicht kennen, wegen ihres dem Willen Gottes entgegenstehenden Sündigens dem Gericht Gottes verfallen (1,18f; 2,12). Mit den Worten des Paulus zusammengefasst: „Alle Juden wie Griechen stehen unter der Sünde.“ (3,9). Die Verdorbenheit aller Menschen wird allerdings nicht nur auf ethnischer Ebene bewiesen, sondern auch auf chronologischer Ebene. In 5,12-14 sagt Paulus einmal deutlich, dass es vor der Zeit des Gesetzes die Sünde gab und der Tod schon seit Adam, dem ersten Menschen, über die ganze Menschheit herrschte.

10 Zu den einschlägigen Belegen vgl. S. 177f der vorliegenden Arbeit.

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Ergebnis: Bedeutung und Funktion der Gerechtigkeitsaussagen im Römerbrief

Die Sündenverfallenheit und das so erfolgte Todesgeschick der Menschheit sind derart universal und radikal, dass niemand dem Gericht Gottes entrinnen kann. Gott hat aber diese verhängnisvolle Situation der Menschheit nicht übersehen und durch Jesus Christus einen neuen Heilsweg erschlossen und diesen offenbart (1,16-17; 3,21-22). Dieser Heilsweg besteht darin, dass der Mensch, unabhängig davon, ob er die Forderungen des Gesetzes erfüllt hat oder nicht, vielmehr allein aufgrund des Glaubens an Christus und aus der Gnade Gottes Gerechtigkeit erlangt. Laut Paulus ist also die Heilszeit angebrochen, in der der Mensch ohne Erfüllung der Gesetzesforderungen Gerechtigkeit und Leben erlangen kann.11 Die in der Forschung kontrovers diskutierte Genitivformulierung δικαιοσύνη θεοῦ in 1,17; 3,21.22; 10,3 drückt diesen Kerninhalt der Heilsbotschaft in Verbindung mit dem Begriff πίστις aus. Die δικαιοσύνη θεοῦ in 1,17 ist in Hinsicht auf den näheren Kontext, besonders im engen Zusammenhang mit dem Zitat Hab 2,4, schwerlich anders denn als diejenige Gerechtigkeit zu verstehen, die Gott den Glaubenden zuspricht (vgl. auch das Zitat Hab 2,4 in Gal 3,11 und dessen semantische Verbindung mit dem Verbalausdruck δικαιοῦται παρὰ τῷ θεῷ). Die in 3,21-22 zweifach vorkommende Formulierung δικαιοσύνη θεοῦ ist ebenfalls aufgrund des näheren Kontextes (der explizierende Präpositionalausdruck διὰ πίστεως Ἰησοῦ Χριστοῦ εἰς πάντας τοὺς πιστεύοντας und das Passiv δικαιοῦσθαι in V 20 und in V 24) im Sinne der von Gott zugesprochenen Gerechtigkeit zu verstehen. Dabei handelt es sich um das Offenbarungsgeschehen, bei dem der bislang verborgene Heilsweg, nämlich die Rechtfertigung durch den Glauben, bekannt gemacht worden ist. Bei dieser Genitivformulierung in diesem Zusammenhang geht es weder um eine Eigenschaft Gottes, noch ist von einer göttlichen Macht die Rede. Der Ausdruck δικαιοσύνη θεοῦ in 10,3 wird im näheren Zusammenhang wie auch in Röm 1,17 und 3,21f durch die πίστις-Formeln als Glaubensgerechtigkeit bestimmt. Die metaphorische auf die Juden gerichtete Aussage τῇ δικαιοσύνῃ τοῦ θεοῦ οὐχ ὑπετάγησαν heißt dann demzufolge, dass die Israeliten die Heilsbotschaft, welche die von Gott herkommende Gerechtigkeit als Kerninhalt zu ihrem Gegenstand hat und allein den Christusglauben als Voraussetzung der göttlichen Rechtfertigung verkündet, nicht im Glauben angenommen, sondern verweigert haben. Die Formulierung ἡ δικαιοσύνη τοῦ θεοῦ ist sozusagen ein Markenzeichen der Heilsbotschaft des Paulus, denn sie umfasst in knapper Weise deren Kerngedanken und bestimmt, was für eine δικαιοσύνη die wahre, rechte δικαιοσύνη ist, die Gott zuspricht und die letztlich den Menschen zum Heil bringt. Im Hinblick auf die Frage, wieso der Glaube an Jesus Christus als hinreichende Bedingung für die Rechtfertigung der Glaubenden gelten kann, spricht Paulus vom

11 In diesem Zusammenhang nennt Paulus seine gegenwärtige Zeit die Zeit der Gnade und Rettung, in der diese Rechtfertigungs- bzw. Versöhnungsbotschaft verkündigt wird (vgl. 2Kor 6,2).

Die Gerechtigkeitsaussagen in Bezug auf den Menschen

Sterben Jesu Christi für die Sünder.12 Paulus zufolge ist Jesus Christus derjenige, der durch seinen Tod anstelle der Sünder die Möglichkeit erschlossen hat, dass die sündigen Menschen ohne Erfüllung der Toragebote aufgrund ihres Glaubens gerecht werden und in ein friedvolles Verhältnis zu Gott gesetzt werden (3,21-26; 5,1-10.15-19; 2Kor 5,14-21). Der Kreuzestod Jesu ist für Paulus kein gegen Aufständische verhängter Straftod, sondern ein Heilstod, in dem Jesus das den Sündern geltende Geschick des Gerichts übernimmt und für sie die Abwehr der Sündenfolgen (der Verurteilung, des eschatischen Untergangs) ermöglicht (1Thess 5,10f; 2Kor 5,14; Gal 1,4; 3,13; Röm 3,24f; 4,25; 5,8f; 8,3f).13 Aufgrund dieses Heilstodes Jesu werden diejenigen, die sich auf ihn verlassen, gerechtfertigt und gerettet. Hierbei ist zu beachten, dass Paulus den Kreuzestod Jesu als von Gott initiiertes Heilsgeschehen darstellt. Jesus Christus, der Sohn Gottes, ist derjenige, der im Gehorsam gegenüber dem Willen Gottes sein Leben für die Sünder hingab (5,8f.19; Phil 2,5-8; Gal 1,4; 2,20). Aber Gott ist derjenige, dessen Initiative und Ratschluss sich das Heilsgeschehen verdankt. Um es in der Sprache des Paulus zu sagen: Das Heil der sündigen Menschen beruht ausschließlich auf der Gnade Gottes, d. h. seiner gunstvollen Zuneigung (χάρις: 3,24; 5,15.17.21), auf seiner Gerechtigkeit (δικαιοσύνη: 3,25b-26) sowie auf seiner Liebe (ἀγάπη: 5,8).14 Die göttliche Initiative bei diesem Heilshandeln lässt sich sehr deutlich ablesen an den sogenannten Sendungs- (8,3; vgl. auch Gal 4,4) und Hingabeformeln (4,25; 8,32) und an der Aussage über das Hingestelltwerden Jesu als ἱλαστήριον durch Gott in 3,25, in denen stets Gott die Rolle des handelnden Subjektes und Jesus Christus die des Objektes einnimmt. Die Wirkung des Todes Jesu, das Gerecht-Werden der sündigen Menschen, wird vor allem in der Formulierung δικαιωθέντες νῦν ἐν τῷ αἵματι αὐτοῦ in Röm 5,9 deutlich und ebenfalls, nur wenige Verse entfernt, in 5,18f wiederum zur Sprache gebracht. Bemerkenswert ist, dass Paulus ausdrücklich das am Kreuz vergossene Blut Jesu als den Ermöglichungsgrund der Rechtfertigung der Sünder anführt. Durch den gerecht machenden Tod Christi Jesu (δικαίωμα) sind alle Menschen zu Gerechten geworden (δίκαιοι κατασταθήσονται), während durch die Übertretung Adams alle Menschen verurteilt worden sind. Durch den mehrfachen Vergleich der Taten Adams einerseits und Christi andererseits und deren jeweiliger Folgen stellt Paulus heraus, dass die verhängnisvolle Wirkung der Übertretung Adams bei Weitem durch den Tod Christi überboten worden ist. Diese Überbietung besteht darin, dass durch den Tod Christi den Sündern der Weg zu Gerechtigkeit und neu-

12 Vgl. Breytenbach, Interpretationen, 326ff. 13 Vgl. Breytenbach, Interpretationen, 324ff. 14 Breytenbach, Interpretationen, 331.

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Ergebnis: Bedeutung und Funktion der Gerechtigkeitsaussagen im Römerbrief

em Leben eröffnet worden ist, was zuvor durch das Gesetz unmöglich zu erreichen war. Dass dem Gebrauch des Begriffs αἷμα in Bezug auf den Tod Jesu die Gedanken eines stellvertretenden Opfers sowie eines heilswirkenden Blutritus zugrunde liegen, ergibt sich auch aus Röm 3,24-25, wo Paulus den Tod Jesu ebenfalls mit αἷμα zur Sprache bringt und dessen Heilswirkung mit dem Begriff ἱλαστήριον beschreibt. Mithilfe des Begriffs ἱλαστήριον wird, unter Berücksichtigung von dessen semantischem Gehalt, ausgesagt, dass der Tod Jesu die Funktion hat, die Sünden der Glaubenden zuzudecken und sie so vor dem auf die Sünder gerichteten Zorn Gottes zu bewahren. Das am Kreuz vergossene Blut Jesu ist der Beweggrund dafür, dass Gott die Glaubenden, also die auf die Kraft des Blutes Jesu Vertrauenden, aus ihren Sünden und deren Folgen auslöst und geschenkweise rechtfertigt (V 24). Der zu dieser Rechtfertigungsaussage parallel stehenden πάρεσις-Wendung folgend lässt sich sagen, dass Gott an den vergangenen Sünden der Glaubenden ohne zu strafen vorübergeht. Im Blick auf die in 3,24-25 verwendeten Begriffe besteht in auffälliger Weise eine Nähe zwischen der paulinischen Darlegung der Bedeutung des Todes Jesu und der Erzählung vom Passa-Opfer in Ex 12; wie das Blut des Opferlammes beim Passa hat das Blut Jesu eine apotropäische Funktion.15 Eine weitere Verbindung vom Tod Jesu und der Gerechtigkeit der Glaubenden liegt in Röm 8,3 vor. Die Kreuzigung Jesu wird dort als Richten der Sündenmacht beschrieben. Die Konsequenz dieser Vernichtung der Sünde besteht in folgenden drei Aspekten: die Befreiung von der Verpflichtung, die Tora zu erfüllen; die Abwehr der Verurteilung sowie die Ermöglichung der Erfüllung der von der Tora geforderten Gerechtigkeit (τὸ δικαίωμα τοῦ νόμου) für die Glaubenden. Über die Bedeutung des Todes Christi für das Heil der Glaubenden hinaus ist zu beachten, dass nicht nur der Tod Christi, sondern auch dessen Auferstehung in Bezug auf die Rechtfertigung bzw. die Gerechtigkeit im Lebenswandel der Glaubenden eine zentrale Stellung einnimmt. Insofern genügt es nicht, ausschließlich vom Tod Christi zu reden, wenn es um die Grundlage des Heils der Glaubenden geht. In 10,9 macht Paulus deutlich, dass nicht nur der Tod Christi, sondern die Tatsache, dass Gott Christus von den Toten auferweckt hat, wesentlicher Bestandteil des Glaubens ist, welcher für die Rettung der sündigen Menschen konstitutiv ist. Wenn wir die Auferstehungsaussagen einbeziehen, wird erkennbar, dass Paulus der Auferstehung Christi eine theologisch zentrale Bedeutung zuschreibt und eine analogische Entsprechung zwischen ihr und der Auferstehung der Glaubenden

15 Allerdings liegt zwischen beiden Texten auch eine deutliche Differenz vor; so stellen in Röm 3 nicht Menschen, die gesündigt haben und damit eines ἱλαστήριον bedürfen, ein solches auf, sondern Gott selbst hat um ihrer Rettung willen Jesus Christus, seinen Sohn, als ἱλαστήριον aufgestellt.

Die Gerechtigkeitsaussagen in Bezug auf den Menschen

sowie deren Gerechtigkeit sieht. Demnach soll, was Jesus Christus geschehen ist, auch den Glaubenden geschehen. Für Paulus ist die Auferstehung Jesu ein eindeutiger Beweis dafür, dass dieser der Sohn Gottes ist (1,4). Jesus Christus, der Sohn Gottes, ist um der Vernichtung der Sünde willen in Gestalt des sündigen Fleisches in die Welt gekommen (8,3). Er war selbst kein Sünder, er ist aber für die Rettung der Sünder gestorben. Wenn Paulus in diesem Zusammenhang von der Auferweckung Christi in der Herrlichkeit Gottes spricht (6,4), hat dies die Bedeutung, dass Christus als Gottessohn restituiert und erhöht worden ist (1,4). Ein anderer Aspekt in Paulus’ theologischer Profilierung der Auferstehung Jesu findet sich in 6,10, wo ausgesagt wird, dass Jesus für die Sünde gestorben ist und für Gott lebt. Vom Auferstehungsgeschehen Christi her begründet Paulus, wie das Leben der Glaubenden bestimmt sein soll. Dabei ist eindeutig erkennbar, dass Paulus eine analogische Beziehung zwischen der Auferstehung Jesu und dem neuen Lebenswandel der Glaubenden herstellt (6,4-11). Die Glaubenden sollen nicht mehr im Dienst der Sünde, sondern im Dienst der Gerechtigkeit ihren Lebenswandel neu gestalten. Sie sollen, als lebten sie aus dem Tod, für Gott ihre Glieder zur Verfügung stellen (6,11-13; vgl. auch 12,1). So fordert Paulus von seinen Adressaten einen Lebenswandel in Gerechtigkeit als die der Auferstehung Christi entsprechende neue Lebensweise (6,4; vgl. 7,4) und macht deutlich, dass denjenigen, die solch eine Lebensweise vollziehen, das ewige Leben zuteilwird (6,4-9.19-23). Eine Entsprechung von Auferstehung Christi und Auferstehung der Glaubenden ist darüber hinaus in 8,1f erkennbar, wo Paulus das Wandeln nach dem Geist als konstitutiven Bestandteil des Lebens der Glaubenden kennzeichnet. Mit „Wandeln nach dem Geist“ ist hinsichtlich des Aussagegehalts nichts anderes gemeint als der in Röm 6 geforderte Dienst der Gerechtigkeit. Der Schilderung von Röm 8,9f zufolge haben die Glaubenden den Geist Gottes inne und sind damit Söhne Gottes. Wenn die Glaubenden, die den Geist Gottes besitzenden Söhne Gottes, nach dem Antrieb des Geistes die Gerechtigkeit in ihrem Leben sichtbar machen, werden sie am Auferstehungsleben Jesu Anteil haben (8,11.13). Der letzte gewichtige Beleg für den theologischen Zusammenhang zwischen der Auferstehung der Glaubenden und der Auferstehung Christi findet sich in 8,17-30, wo Paulus die Leiden der Glaubenden als Teilhabe am Leiden Christi deutet. Im Blick auf die Leidenssituation der römischen Christen verweist Paulus auf ihre zukünftige Auferstehung und Verherrlichung und stellt dieses Ereignis als ein Geschehen dar, in dem sie mit der Erlösung ihres Leibes als Söhne Gottes offenbar werden (vgl. 1Kor 15,35f). Paulus ist sich gewiss, dass, wie Jesus Christus nach dem Tod durch seine Auferstehung als Sohn Gottes erhöht worden ist, so auch den Glaubenden eine Zukunft bevorsteht, in der sie mit Gerechtigkeit und Herrlichkeit ausgestattet werden (8,30; vgl. 5,2). Die bis hierhin skizzierte Parallelität zwischen dem Ergehen Christi und dem Ergehen der Glaubenden lässt sich wie folgt schematisch darstellen:

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Ergebnis: Bedeutung und Funktion der Gerechtigkeitsaussagen im Römerbrief

Glaubende Gerecht (aufgrund des Glaubens) Kinder Gottes aufgrund des Glaubens und des Geistbesitzes, dadurch Teilhabe am Auferstehungsleben Christi Das irdische Leben Im irdischen Leben: Leiden Im irdischen Leben: Leiden und das eschatische und Sterben für die Sünder, aufgrund des Glaubens, Leben für Moment der Ausstattung Gehorsam gegenüber dem Gott mit Herrlichkeit Willen Gottes Im Eschaton: Ausstattung mit In der Auferstehung (Leben für Gerechtigkeit und Herrlichkeit Gott): Ausstattung mit Herrlichkeit Status Auferstehung und Gottessohnschaft

2.

Jesus Christus Gerecht (kannte Sünde nicht) Auferstehung durch den Geist Gottes, dadurch Erweis als Sohn Gottes

Die Bedeutung der Rechtfertigungsaussagen in Hinsicht auf die Heidenmission

Kennzeichnend ist des Weiteren, dass die Heilsbotschaft des Paulus, die Rechtfertigung erfolge allein aus dem Glauben, in ihrem argumentativen Zusammenhang mehrfach mit der Gesetzesproblematik verbunden ist. An mehreren Stellen im Römerbrief macht Paulus deutlich, dass die Erlangung der Gerechtigkeit durch das Tun des Gesetzes unmöglich ist und sowohl die Juden als auch die Nichtjuden ohne Werke des Gesetzes aufgrund des Glaubens an Christus Gerechtigkeit erlangen können. Auffällig ist darüber hinaus, dass bei dieser Erläuterung häufig auf die Thematik der Beschneidung eingegangen wird in Bezug auf die Frage, ob diese als Voraussetzung für die Erlangung der Gerechtigkeit zu vollziehen ist. Dies wird besonders deutlich in Röm 4, wo Paulus sich auf die Rechtfertigung Abrahams in Gen 15,6 beruft und darauf verweist, dass dieser im unbeschnittenen Zustand Gerechtigkeit erlangt hat. Die Bedeutung der Beschneidung kommt aber bereits in Röm 2,17-29 und 3,27-30 im Zusammenhang mit der Frage nach Rechtfertigung und Heil zur Sprache. Die zentrale Argumentation an den Stellen, an denen die Beschneidungsthematik in den Vordergrund rückt, zielt also darauf ab, zu zeigen, dass die unbeschnittenen Nichtjuden, die wie Abraham glauben, schon als gerecht anerkannt sind und auf solche Weise als Gerechte zur Heilsgemeinschaft Gottes gehören. Die in den Kapiteln 3 und 4 mehrfach vorkommende Aussage über die Rechtfertigung erklärt sich insofern vor dem Hintergrund der historischen Situation der Mission des Paulus. Paulus will durch die mehrfache Darlegung seines Rechtfertigungsgedankens die römischen heidnischen Adressaten ihres Heilsstandes und ihrer Zugehörigkeit zu Gott versichern (1,11-12) und will dies gegenüber den Juden verteidigen, die von den heidenchristlichen Römern die Beschneidung verlangen (vgl. 3,8).16

16 Zur näheren Erläuterung vgl. meine Exegese zu Röm 3,1-8; 4; 5,1; 10,1-13.

Die Gerechtigkeitsaussagen in Bezug auf den Menschen

Um sein Evangelium als von Gott offenbarte wahre Botschaft herauszustellen, beruft Paulus sich auf Gen 15,6 und Hab 2,4.17 Aufgrund seiner Auslegung dieser Schriftbelege zeigt er auf, dass der Mensch allein aus dem Glauben Gerechtigkeit erlangen kann. Gen 15,6 bezeugt die Rechtfertigung Abrahams, welche dieser im Zustand der Unbeschnittenheit erlangt hat. Paulus gemäß entspricht das in Gen 15,6 Ausgesagte, nämlich dass Gott den Gottlosen aus dem Glauben gerecht spricht, weiter dem Wort aus Psalm 32 (31), wo von der Seligkeit desjenigen die Rede ist, dessen Sünde von Gott nicht angerechnet wird (4,6f). In Röm 1,16-17, wo Paulus das Evangelium als die rettende Kraft Gottes herausstellt, weist er darauf hin, dass auch Hab 2,4 besagt, dass die Gerechtigkeit allein aus dem Glauben kommt. Durch diese Zitate aus den heiligen Schriften versucht Paulus zu zeigen, dass sein Evangelium über die Rechtfertigung durch den Christusglauben in Kontinuität zu den Schriften Israels steht. So stellt er schon am Briefanfang fest, dass das Evangelium durch die Propheten vorausverheißen worden ist (1,2). Nach der ausführlichen Darlegung seiner Rechtfertigungslehre und vor seiner Auslegung der Abrahamsgeschichte sagt Paulus in 3,31, dass der Glaube die Tora nicht aufhebt, sondern aufrichtet. Der Verweis darauf, dass seine Verkündigung der Schrift nicht widerspricht, sondern in ihr vielmehr ihre Grundlage findet, ist sicherlich primär an die Juden gerichtet, die mit der Schrift sehr gut vertraut sind und sie als Gottes Wort und damit unumstößliche Autorität anerkennen. Mit solcher Autorität gilt die Heilsbotschaft nicht nur für die Heiden, sondern auch für die Juden (1,16), die erkennen müssen, dass der Weg zum Heil nicht mehr im Befolgen des Gesetzes liegt, sondern im Glauben. Der diesen Weg bereitende Gott hat dieser Heilsbotschaft gemäß die glaubenden Nichtjuden als Gerechte anerkannt; somit sind auch sie die Kinder Abrahams und dessen Erben (3,29-30; 4,9-16). Aus der Untersuchung der Gerechtigkeitsaussagen im Römerbrief geht allerdings deutlich hervor, dass der Impetus der paulinischen Rechtfertigungslehre nicht darauf liegt, eine vereinfachte Aufnahme der Nichtjuden in das Gottesvolk dadurch zu ermöglichen, dass sie von den Pflichten der Toraobservanz befreit sind. Bei den Wendungen „durch Werke des Gesetzes wird kein Mensch vor Gott gerecht werden“ (3,20) oder „der Mensch wird durch Glauben gerecht, unabhängig von Werken des Gesetzes“ (3,28) geht es nicht in erster Linie um die Kritik an der Abgrenzung der Juden von den anderen Völkern. Die Aussagen über die Rechtfertigung durch den Christusglauben bzw. ohne Werke gelten vielmehr als der von Gott eröffnete Heilsweg und weisen auf, wie die sündigen Menschen gerettet werden können. Diese Botschaft gilt in universaler Weise nicht nur für die Nichtjuden, sondern

17 Wie oben festgestellt, spielen bei der Darstellung des Rechtfertigungsgedankens neben den beiden genannten Stellen auch JesLXX 28,16 und JoelLXX 3,5 eine zentrale Rolle, bei denen die Verknüpfung von Rettung und Glaube vorliegt (vgl. Röm 10,11-13).

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Ergebnis: Bedeutung und Funktion der Gerechtigkeitsaussagen im Römerbrief

auch für die Juden (3,29). Es ist deutlich, dass, wenn Paulus die Einhaltung der Toragebote, die er im umfassenden Sinne als „Werke des Gesetzes“ bezeichnet, als mögliche Grundlage der Rechtfertigung abstreitet, er sich hierbei nicht lediglich auf einige bestimmte Gebote bezieht, die konstitutiv für die jüdische Identität sind, wie Beschneidung, Sabbat und Speisegebote. Es geht ihm vielmehr darum, eindeutig aufzuzeigen, dass die Tora den Menschen nicht zum Heil zu führen vermag. Obwohl die Tora als von Gott vermittelt an sich heilig, gerecht und gut ist (7,12), wird sie laut Paulus durch die Sünde instrumentalisiert und führt die Menschen daher nicht zum Leben, sondern zum Tod (4,14-15; 5,20; 7,8-11; 8,2; vgl. auch Gal 3,19-22; 5,1-4; 2Kor 3,6-12). Die Herrschaft der Sünde über die Menschen aufgrund des Gesetzes ist so mächtig, dass ihr niemand aus eigener Kraft entrinnen und einen gottgefälligen Lebenswandel vollziehen kann (7,14f). Die Rechtfertigung und damit verbundene Rettung sind allein möglich durch den Glauben an Jesus Christus, der durch den Tod das Gesetz als Heilsweg außer Kraft gesetzt und somit dem Menschen die Möglichkeit eröffnet hat, ohne die Erfüllung der Toragebote Gerechtigkeit zu erlagen (7,1-6; 8,1-4; 10,4).18 3.

Gerechtigkeit als umfassende Tugend für die neue Lebensführung der Christen19

Im Römerbrief bezeichnet der Begriff δικαιοσύνη nicht ausschließlich den im Glauben gewonnenen Heilstand, das Gerecht-Sein des Menschen. Vielmehr wird er nicht selten als ethische Tugend verwendet. In diesem Fall umfasst er als eine ethische Kategorie das, wodurch die Handlungen der Glaubenden sich auszeichnen sollen, und steht häufig als Gegenbegriff zu den Termini Sünde (ἁμαρτία) oder Ungerechtigkeit (ἀδικία), welche eine negative Ausrichtung menschlicher Handlungen bezeichnen. Als einschlägige Belege für diese Verwendungsweise sind im Römerbrief 6,13.18.19.20 und 14,17 zu nennen. Sehr wahrscheinlich ist auch 8,10, wo δικαιοσύνη dem Begriff ἁμαρτία gegenübergestellt ist, in dieser Weise zu verstehen. Überblickt man die Gesamtheit der Belege von δικαιοσύνη im Corpus Paulinum, so begegnet die Verwendung von δικαιοσύνη als ethische Kategorie auch in den anderen Briefen keineswegs selten (vgl. 2Kor 6,7.14; Phil 3,6).20

18 Dass Paulus seinen Rechtfertigungsgedanken nicht erst im Dienst der Legitimation seiner Heidenmission, sondern bereits seit seiner Begegnung mit Christus entwickelt hat, geht daraus hervor, dass er schon in den frühen Briefen von der durch das Christusgeschehen gewirkten Gerechtigkeit spricht (vgl. 1Kor 1,30; 6,11; 2Kor 5,21; vgl. auch 2Kor 3,9). 19 Neben dieser Verwendungsweise von δικαιοσύνη als Tugend findet sich bei Paulus noch ein weiterer Gebrauch im Sinne einer gerechten Tat, nämlich in 2Kor 9,9-10 und Phil 1,11. 20 Bezüglich der traditionsgeschichtlichen Frage ist schon anhand des Aussagegehaltes festzuhalten, dass die Verwendungsweise von δικαιοσύνη als ethische Tugend sich bei Paulus nicht von der grie-

Die Gerechtigkeitsaussagen in Bezug auf den Menschen

Der erste Beleg für diese Verwendungsweise der δικαιοσύνη als ethischer Tugend findet sich im Römerbrief in 6,13, wo Paulus die Adressaten in Rom auffordert, ihre „Glieder nicht der Sünde als Waffen der Ungerechtigkeit, sondern Gott als Waffen der Gerechtigkeit zur Verfügung“ zu stellen. Aus der Antithese von ἀδικία und δικαιοσύνη lässt sich unschwer schließen, dass δικαιοσύνη hier nicht als Statusbegriff, sondern als Tugendbegriff verwendet wird. Das Substantiv bezieht sich in diesem Zusammenhang auf die menschliche Handlungsweise, die es gegenüber dem Begriff der Sünde als positiv qualifiziert. Die Gläubigen sollen nicht mehr der Sünde dienen, indem sie mit ihren Körpern sündige Handlungen vollziehen. Die vormalige Lebensweise in der Sünde soll der Vergangenheit angehören; die Gläubigen müssen fortan mit ihren Gliedern in Gerechtigkeit tätig werden. Bemerkenswert bei dem Gedankengang von Röm 6 ist, dass die Feststellung über das neue Sein der Gläubigen durchgängig verbunden ist mit einem auf eine diesem neuen Sein entsprechende Lebensweise gerichteten Imperativ. Die imperativischen Aussagen in Röm 6 weisen auf den Heilsstand bezogene indikativische Aussagen zurück; erstere sind die notwendige Folge letzterer. So macht Paulus in V 14 wiederum deutlich, in welchem Zustand sich die Christen nun befinden, bevor er weitere Aufforderungen folgen lässt. Sie sind unter der Gnade, nicht mehr unter dem Gesetz (οὐ γάρ ἐστε ὑπὸ νόμον ἀλλὰ ὑπὸ χάριν), sollen aber diesen vom Gesetz befreiten Gnadenstand nicht dazu missbrauchen, wieder zu sündigen (6,15). Die Christen sind infolge des Glaubens- bzw. Taufgeschehens in den neuen Dienst für Gott versetzt und damit verpflichtet, ihre Glieder gehorsam zugunsten der Gerechtigkeit zur Verfügung zu stellen, so dass die Heiligkeit in ihrer Lebensführung sichtbar wird (6,16-19). Ihr vormaliges Leben als Sklave der Sünde war der Beschreibung des Paulus zufolge gekennzeichnet durch Unreinheit und Gesetzlosigkeit. Entsprechend ihrer neu gewonnenen Identität soll ihr neues Leben in gänzlich anderer Weise gestaltet werden als ihr altes. In diesem Argumentationsgang wird der Begriff δικαιοσύνη in 6,18.19.20 offenkundig mit Bezug auf die Handlungen des Menschen als eine ethische Kategorie verwendet. Der Terminus δικαιοσύνη bezeichnet also im Gegensatz zu ἁμαρτία, ἀκαθαρσία und ἀνομία die neue Lebensweise der Glaubenden und die Ausrichtung ihres Handelns. Zu beachten sind hierbei ferner die metaphorischen Redewendungen in Röm 6, etwa παριστάνειν τὰ μέλη ὅπλα δικαιοσύνης τῷ θεῷ (V 13), δουλοῦσθαι τῇ δικαιοσύνῃ (V 18), παριστάνειν τὰ μέλη δοῦλα τῇ δικαιοσύνῃ (V 19), in denen der

chischen Philosophie her erklären lässt. Folgende Unterschiede sind auszumachen: (1) Bei Paulus findet sich keine Tugendliste des Griechentums, welche mit δικαιοσύνη kombiniert ist. (2) δικαιοσύνη bei Paulus bezieht sich nicht nur auf das zwischenmenschliche Leben wie im Griechentum, sondern auch auf die Pflicht gegenüber Gott. In einer von der griechisch-hellenistischen Philosophie beeinflussten jüdischen Schrift hingegen steht die Verteilung von δικαιοσύνη im Zusammenhang des zwischenmenschlichen Lebens und εὐσέβεια im Zusammenhang des Verhältnisses zu den Göttern.

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Ergebnis: Bedeutung und Funktion der Gerechtigkeitsaussagen im Römerbrief

Begriff δικαιοσύνη als personifizierte Größe die Rolle eines Herrn übernimmt, in dessen Dienst die Menschen stehen. Paulus verwendet also nie einfach die Formulierung „übt oder tut Gerechtigkeit“, auch wenn diese Ausdrucksweise für uns klar zu verstehen wäre. Wenn man über den ethischen Gehalt von Röm 6 Klarheit gewinnen will, muss man diese für heutige Leser sehr fremd klingenden metaphorischen Redewendungen und ihren semantischen Gehalt beachten. Mit der Sklavenmetaphorik tritt in den Begriffen δικαιοσύνη und ἁμαρτία eine hegemoniale Verhältnisbestimmung des Menschen in den Vordergrund, die sich in seinem Handeln niederschlägt. Man darf jedoch von dieser Metaphorik her nicht ohne Weiteres δικαιοσύνη und ἁμαρτία als überindividuelle, kosmische Mächte interpretieren.21 Paulus beschreibt mit Hilfe dieser metaphorischen Begriffe zwei unterschiedliche Lebensweisen, nämlich diejenige in der Sünde, Unreinheit bzw. Gesetzlosigkeit einerseits und diejenige in der Gerechtigkeit bzw. für Gott andererseits, sowie deren jeweilige Folgen. Diese antithetische Redeweise dient dazu, die rechte Lebensführung der Christen, welche ihrer Berufung durch Gott entsprechen sollen, zu verdeutlichen. Der in der Forschung mehrfach unternommene Versuch, den Begriff δικαιοσύνη in Röm 6 als geschenkte Gabe Gottes und zugleich als seine heilschaffende Macht zu verstehen und damit die dialektische Spannung zwischen bereits erlangter und noch geforderter Gerechtigkeit aufzulösen, ist angesichts des Kontextes nicht überzeugend. Der Sachverhalt, dass die Aussagen des Paulus über den Dienst der Gerechtigkeit und die Frucht der Heiligkeit in Röm 6 eindeutig mit der Verheißung des ewigen Lebens verbunden sind, verdient ferner unsere Aufmerksamkeit. Das ewige Leben wird der Schilderung von V 19-22 gemäß offensichtlich denjenigen zuteil, die im Dienst der Gerechtigkeit die Frucht der Heiligung herbeiführen; demgegenüber führt die Lebensführung in der Sünde unweigerlich zum Tod (6,16.21). Diesen eindeutigen Zusammenhang zwischen dem Lebenswandel in Gerechtigkeit und Heiligkeit und der Verheißung des ewigen Lebens darf man also nicht in der Weise relativieren, dass man diesen als von Gott gewirkte Teilhabe der Gläubigen an seiner Heiligkeit deutet und somit deren eigene Beteiligung, die von Paulus ausdrücklich gefordert wird, vernachlässigt. Im Blick auf den argumentativen Kontext wird deutlich, dass ἁγιασμός in 6,19.22 nicht als eine den Glaubenden aufgrund ihres Glaubens schon zuteil gewordene Heiligkeit verstanden werden kann, sondern vielmehr als die Heiligkeit, die die Glaubenden in ihrem Dienst für Gott in ihrer Lebensführung sichtbar werden lassen sollen. Mit dieser ethischen Konnotation unterscheidet sich die Verwendung

21 Hierbei ist ins Bewusstsein zu rufen, dass es in der antiken griechischen sowie jüdischen Tradition üblich war, zentrale nomina abstracta wie Liebe, Gerechtigkeit, Sünde als personifizierte Größen darzustellen. Vgl. dazu Röhser, Metaphorik, 19ff.

Die Gerechtigkeitsaussagen in Bezug auf den Menschen

von ἁγιασμός von den anderen Heiligkeitsaussagen (ἁγιασμός in 1Kor 1,30, ἅγιοι in Röm 1,7; 8,27; 13,4; 15,25f u.a und ἁγιάζεσθαι in 1Kor 6,11), die sich in ihrem jeweiligen Kontext eindeutig auf den im Glauben erlangten Status der Glaubenden beziehen. Die beiden verschiedenen Gebrauchsweisen dürfen nicht in der Weise miteinander verknüpft werden, dass die von Paulus in Röm 6,19f geforderte Heiligung als bereits geschenkte Gabe interpretiert wird. Am Ende von Kap. 6 macht Paulus mit der Aufforderung zur Heiligkeit gegenüber seinen Adressaten deutlich, dass sie diese in ihrem Handeln deutlich hervortreten lassen sollen. Wenn die Gläubigen entsprechend ihrer neu gewonnenen Identität in solcher Lebensweise beständig bleiben, können sie damit rechnen, dass ihnen das ewige Leben zuteilwird. Die Verwendungsweise eines δικαι-Begriffs mit ethischer Konnotation begegnet unweit von Röm 6 ein weiteres Mal in Röm 8,1-11. Dort steht ebenfalls der ethische Aspekt hinsichtlich der Lebensführung der Glaubenden im Vordergrund. Wie in Röm 6 wird zunächst auf den neuen Heilsstand der Glaubenden hingewiesen, in dem es für sie keine Verurteilung mehr gibt (8,1-2). Sie sind vom Gesetz der Sünde und des Todes befreit worden. Diejenigen, die zum Christusglauben gekommen sind und damit zu Christus gehören, sind frei von der Verpflichtung, die Vorschriften der Tora zu erfüllen; ihr Lebenswandel steht fortan unter einer anderen Autorität, nämlich der des Geistes. Paulus stellt fest, dass diejenigen, die nach dem Geist wandeln, imstande sind, die von der Tora geforderte Gerechtigkeit (τὸ δικαίωμα τοῦ νόμου) zu erfüllen, was aufgrund des Gesetzes wegen des fleischlichen Wesens der Menschen unmöglich war. Gemäß der Argumentation von Röm 8,3 ist der Tod Christi, des Sohnes Gottes, die Grundlage der Erfüllung der Gerechtigkeit; deren Verwirklichung ist aber untrennbar mit dem tatsächlichen Lebenswandel der Gläubigen verbunden. Die Aussage in Röm 8,10, die die gegenwärtige Existenzweise der Christen ausdrückt, ist im Rahmen der vorangegangenen Argumentation mit ihrer Gegenüberstellung von Fleisch und Geist zu lesen. Somit hat in Röm 8,10 der Begriff δικαιοσύνη eindeutig ethische Bedeutung und darf nicht einfach als von Gott geschenkte Gerechtigkeit aufgefasst werden, da diese im näheren Kontext ganz und gar mit den Aussagen vom Lebenswandel der Glaubenden verbunden ist. Der Lebenswandel nach dem Geist, welcher den Besitz des göttlichen Geistes und die Gerechtigkeit sichtbar macht, garantiert die Teilhabe am Auferstehungsleben Christi im Eschaton (8,12f).

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481

Register

1. Makkabäerbuch 140 4. Buch Esra 147, 148 4. Makkabäerbuch 124, 158, 248 A Abraham 35, 99, 102, 103, 105, 117, 126, 137, 141, 173, 238, 265–267, 269, 271–276, 278, 280–293, 299, 304, 318, 354, 393, 398, 413, 448, 449, 456, 457 Abrahamskindschaft 275, 285, 286, 304 Adam 223, 234, 235, 319–323, 325–328, 330–332, 376, 451, 453 Aischylos 54, 66, 83 Almosengeben 42, 105, 136, 157, 161 Aristeasbrief 123, 158 Auferstehung 163, 173, 293, 296, 298–302, 317, 327, 328, 330, 336, 338, 345–347, 369, 378, 380, 383–385, 388–390, 392, 394, 402, 429–432, 451, 454–456, 461 Auslösung 164, 236, 239, 240, 252, 313 B Barmherzigkeit Gottes 34, 144, 262 Bedrängnis 106, 155, 156, 197, 303, 309, 316, 386, 388, 394, 396, 403 Befreiung 149, 159, 164, 167, 341, 342, 344, 345, 360–362, 371–373, 406, 454 Bekehrung 102, 255, 336, 339, 360, 364, 366, 370, 379, 426 Bekenntnis 93, 102, 130, 147, 153, 160, 165, 305, 428, 431, 432 Beschneidung 102, 121, 203, 268–270, 273–275, 281–286, 304, 384, 393, 407, 426, 427, 434, 449, 456, 458 Biblische Theologie 39 Biblisches Griechisch 92

Blut Christi 242, 251, 314 Bund 26, 27, 31, 86, 89, 90, 141, 144, 145, 204–207, 212, 213, 257, 281, 282 Bundeslade 242–244, 248, 313 Bundestreue Gottes 27, 32, 38, 48, 85, 86, 89–91, 117, 135, 138, 139, 144, 145, 147, 154, 206, 212, 253, 257, 261, 262, 333, 444 C Christusgeschehen 187, 221, 226, 230, 239, 253, 265, 317, 321–323, 325, 326, 328, 370–373, 376, 458 Christusglauben 36, 41, 163, 165, 170, 173, 177, 186, 210, 227, 232, 233, 237, 254, 257, 258, 260, 265, 267–269, 274, 292, 298, 303–305, 308, 312, 317, 335, 336, 340, 360, 362, 388, 393, 394, 401, 403, 407, 409, 412, 413, 415, 416, 419, 421, 422, 424, 429, 432, 434, 443, 444, 452, 457, 461 D Dialektik

25, 30, 44, 175

E Eifer 59, 126, 140, 141, 418, 419, 422, 427, 428 Eigenschaft 35–37, 40, 41, 48, 54, 57, 64, 85, 87, 88, 90–92, 94, 98, 100, 101, 104, 105, 117, 130, 135, 137, 139, 142, 144, 147, 149, 150, 152, 153, 156, 159–161, 175, 180, 182, 185, 186, 188, 189, 193, 207, 211, 213, 227, 231–233, 254, 262, 307, 351, 354, 414, 420–423, 442, 443, 445, 452 Einzigkeit Gottes 115, 264, 269, 270, 433

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Register

Elija 418 Empfang des Geistes 344, 356 Ergehensgemeinschaft 337, 389 Erlass 156, 255, 256, 279, 446 Erlösung 213, 227, 236, 239, 240, 406, 445, 455 Eschaton 300, 309, 317, 327, 345, 368, 369, 398, 456, 461 Ethik 30, 44, 60 Eva 235 Evangelium 21, 29, 35, 36, 108, 163, 165–171, 173, 174, 178, 182, 185–187, 202, 205, 292, 335, 336, 420, 428, 457 Existenzweise 299–302, 339, 340, 344, 355, 356, 361, 365, 378, 379, 461 Exoduserzählung 262, 263, 361, 446 Ezechiel 100 F Frieden 24, 149, 164, 295, 305–307, 316, 317, 377, 395, 435, 437, 439 Frömmigkeit 55, 56, 60, 105, 125, 148, 412, 427 G Gabe 22, 24–30, 32, 34, 36, 37, 41, 44, 45, 165, 172, 174, 175, 180, 181, 211, 217, 223, 231, 251, 253, 277, 310, 313, 322, 323, 327, 352, 353, 366, 368–370, 374, 377, 420, 437, 441, 460, 461 Gegner des Paulus 209, 335 Geheimnis Gottes 21 Geist Gottes 173, 304, 310, 313, 346, 356, 366, 371, 374–378, 380–386, 408, 427, 455, 456 Gemeinschaftstreue 28, 33, 38, 40, 86, 89, 117 Genitivformulierung 21–23, 26, 28, 36–38, 40, 47, 48, 85, 94–96, 121, 156, 174, 175, 179–182, 184, 185, 213, 227, 228,

230–232, 253, 301, 354, 358, 372, 413, 414, 419, 420, 422, 424, 429, 432, 445, 452 Gerechtigkeit 7, 22, 24–29, 31–38, 40, 41, 44, 45, 47, 48, 51, 53–59, 61, 64, 67, 68, 70, 72–76, 80, 82, 85, 86, 89, 91, 92, 94–100, 102–108, 110, 112–115, 117, 118, 121, 122, 124–127, 129–131, 133–143, 145–161, 163–165, 167, 171, 173, 174, 177–190, 193–195, 200, 201, 207–215, 217, 220–222, 224–227, 229–240, 253, 254, 257–272, 274–283, 285–288, 291–293, 295–297, 299–303, 305–307, 309, 312–314, 316, 318, 321–333, 335–337, 339, 340, 342–344, 346, 348–366, 368–372, 374–378, 380–385, 390–395, 401–404, 406, 408–432, 434–437, 439, 441–461 Gerechtigkeit Gottes 21, 25–28, 33–36, 64, 93, 96–98, 108, 138, 139, 142, 143, 145, 147, 149, 152–154, 159–161, 188, 189, 211, 226, 232, 236, 253, 259–261, 263, 420, 437, 441, 442, 445, 446 Gerechtsprechung 45, 156, 184, 231, 404 Gericht Gottes 65, 99, 100, 142, 143, 156, 164, 191, 192, 194, 195, 197–200, 208–210, 212–216, 221, 224, 225, 231, 252, 261, 263, 287, 306, 315, 316, 318, 331, 443, 444, 451, 452 Gerichtsbarkeit 96, 109, 117, 133, 137, 400, 405, 437, 438, 448, 449 Gerichtsinstanz 448 Gesetz 41, 54–56, 58, 60–65, 71, 73, 76, 88, 97, 99, 102, 103, 113, 121, 123–128, 141, 146, 147, 150, 152, 156, 162, 177, 182, 184, 186, 198–201, 203, 204, 206, 215, 217, 218, 221–229, 232, 233, 235–237, 239, 243, 248, 254, 260, 264–268, 271, 272, 276–280, 282–288, 291, 304, 305, 308, 313, 314, 320, 325, 326, 331–333, 342, 354–357, 370–377, 393, 406, 407,

Register

409, 411–416, 418, 421–430, 438, 443, 448, 449, 451, 452, 454, 456–459, 461 Gesetzeserfüllung 236, 274, 286, 422, 423 Gesetzestreue 103, 141, 157, 162, 220, 221, 275, 276, 286 Gewissen 201, 202 Gezera Schawa 279 Glaubensgerechtigkeit 32–34, 100, 160, 161, 266, 274, 282–288, 292, 383, 415, 426, 428, 429, 445, 452 Gleichheit 61, 62, 126, 270 Gnade Gottes 33, 41, 218, 228, 231, 236, 265, 278, 288, 304, 307, 308, 316–319, 322, 327, 330, 332, 333, 335, 346, 357, 369, 370, 407, 452, 453 Gottes Gerechtigkeit 21, 24, 25, 27–29, 33, 35–37, 48, 91–93, 95–98, 108, 117, 122, 133, 138, 139, 142, 143, 145, 153, 154, 156, 159, 160, 181, 189, 209, 211, 212, 258–260, 262, 420, 442, 443, 445 Gottesknecht 110, 111, 293–295, 329, 330, 394, 395, 402, 403 Gottessohnschaft 173, 456 Gottesvorstellung 93, 117, 270, 289, 383, 400, 443, 449 H Habakuk 100, 179, 181–183, 186 Hapaxlegomenon 194, 254 Heidenmission 449, 456, 458 Heiliger Geist 309, 436 Heiligkeit 130, 240, 363, 365–370, 459–461 Heiligung 44, 366, 368, 370, 460, 461 Heilsbotschaft 21, 41, 46, 51, 163, 165, 167–171, 173, 174, 177, 183, 186, 187, 204, 209, 214, 215, 233, 234, 258, 260, 267, 269, 270, 272, 275, 288, 303, 305, 318, 409, 410, 412, 415–417, 421, 422, 425, 426, 429, 432–434, 441, 444, 451, 452, 456, 457

Heilschaffende Macht Gottes 28, 30, 37, 121, 152, 172, 181, 420 Heilsetzende Macht Gottes 44 Heilsgemeinschaft 51, 291, 292, 299, 315, 316, 401, 413, 456 Heilsgeschichte 91, 116, 223, 321 Heilstod 230, 251, 253, 315, 330, 453 Henochbuch 133, 134 Herodot 51, 53, 54, 56, 57, 64, 72, 75, 76, 80–82, 186, 447 Herrlichkeit 111, 133, 134, 155, 196, 234–236, 263, 264, 269, 307–309, 386, 389–392, 394, 402, 433, 444, 449, 450, 455, 456 Herrschaftsmetaphorik 350 Hesiod 53, 54, 63 Hingabeformulierung 294, 398, 399 Hoffnung 144, 289–291, 303, 307–310, 316, 345, 394, 406, 408 Homer 53, 54, 166 I Identität 118, 140, 161, 203, 300, 301, 303, 318, 340, 345, 348, 363, 370, 371, 442, 458, 459, 461 Interzession 397 Iustitia Distributiva 25, 26, 37, 38, 40, 51, 64, 85, 145, 195, 211, 261, 446 Iustitia Salutifera 26, 37, 38, 91, 145 J Jesaja 96, 108, 110, 111, 116, 129, 166–168, 218, 235, 264, 294, 390, 391, 402, 417, 446, 450 Jesus Christus 21, 101, 118, 156, 163, 164, 167–169, 173, 176–178, 182, 186, 187, 226, 227, 229–231, 239, 242, 250, 261, 268, 278, 288, 293, 306–308, 310, 312, 313, 315, 317, 318, 322, 323, 327, 330, 333, 334, 359, 371, 375, 389, 393, 394, 398, 399, 404, 405, 408, 417, 426, 427,

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Register

429–431, 433, 441, 445, 449, 451–453, 455, 456, 458 Jesus Sirach 136, 137 Josephus 53, 82, 127–129, 158, 166, 200, 209, 248, 249, 252, 255, 256, 296, 353, 398, 411 Jubiläen 137–140, 159

N Nachkommenschaft 115, 140, 284, 285, 288, 289, 292 Natur 30, 58, 76, 108, 201 Niedrigkeit 115, 220 Noah 99, 117, 126, 244, 245, 250 Normbegriff 37, 38, 40, 51, 88

K Kardinaltugenden 123–125, 131 Kraft Gottes 34, 41, 163, 165, 166, 170–174, 457

O Offenbarung 24, 34, 36, 173, 179, 186–190, 202, 204, 223, 225–227, 232, 452 Ordo Salutis 390

L Lebenswandel 65, 88, 99, 101, 102, 104, 106, 107, 115, 122, 134, 135, 139, 140, 151, 152, 161, 193, 220, 287, 299–302, 327, 338, 340, 345, 346, 348, 350, 362–364, 366, 374–378, 382–385, 411, 412, 424, 442, 454, 455, 458, 460, 461 Leiden 58, 77–79, 81, 96, 97, 100, 110, 111, 150, 154, 156, 163, 234, 294, 309, 386–397, 401–403, 406, 431, 449, 450, 455, 456 Liebe Gottes 304, 309–311, 314, 316, 318, 387, 396 Liebesmotiv 399 Loskauf 239 M Macht Gottes 25, 28–30, 32, 35, 36, 41, 47, 154, 173, 175, 232, 289, 290, 299, 396, 420–422, 443 Märtyrer 124, 250 Menschensohn 133, 134 Messias 121, 134, 142, 144–146, 149, 150, 204, 431, 438 Metapher 21, 107, 108, 131, 134, 149, 243, 282, 348 Micha 98, 112

P Parusie 149, 315, 327, 369, 429 Passa 252, 253, 256, 263, 314, 454 Personifikation 364 Philo 125–128, 158, 201, 248, 252, 256, 430 Pinhas 418 Plutarch 53, 80, 81, 166, 296, 297, 398, 411, 447 Polybios 79–81 Psalmen Salomos 142, 220 Q Qal-Wachomer 312 Qumranschriften 152, 189, 430 R Rechtfertigung 21, 22, 35, 36, 43–45, 85, 92, 101, 110, 116, 118, 121, 127, 130, 143, 153, 156, 161, 164, 166, 169, 178–180, 183–185, 200, 213, 214, 221, 223, 226, 228, 230, 234, 236–238, 240, 251, 252, 256–269, 271, 273–281, 284–287, 291–293, 296, 298–300, 302–305, 307, 312–316, 318, 323, 325, 326, 328, 330, 331, 334, 335, 343, 346, 351, 352, 376, 382, 386, 389–391, 393–395, 397,

Register

400–405, 407, 408, 413, 416, 420, 421, 433, 434, 443–446, 448–454, 456–458 Rechtfertigungsgedanken 21, 22, 121, 168, 177, 178, 200, 233, 275, 280, 283, 343, 383, 401, 413, 437, 456–458 Rechtfertigungslehre 21, 42, 44, 51, 85, 156, 200, 213, 275, 331, 335, 343, 358, 360, 449, 457 Rechtschaffenheit 64, 88, 90, 104, 137 Rechtsstreit 28, 92, 95, 112, 208, 395, 402 Rechtsstreitgedanken 27, 28 Referenz 41, 51, 54, 64, 101, 175, 228, 230, 242, 254, 379, 382 Reich Gottes 435–437 Rühmen 203, 264–267, 308, 316–318, 426, 427 S Sabbat 458 Salomo 96, 109 Samuel 94 Sara 290, 406 Satisfaktionslehre 260, 445, 446 Schicksalsgemeinschaft 337, 338 Schöpfungstreue 27 Schriftzitat 30, 181, 183, 216, 218, 219, 225, 233, 277, 278 Semantik 21, 26, 29, 31, 33, 38–42, 45, 46, 51, 52, 64, 68, 72, 74, 78, 82, 83, 85, 88, 97, 98, 101, 114, 117, 150, 154, 164, 175, 185, 186, 188, 192, 193, 203, 207, 212, 232, 234, 238, 239, 241, 243–245, 247, 248, 256, 262, 278, 296, 297, 312, 316, 324, 325, 329, 343, 344, 352, 358, 361, 369, 370, 375, 376, 415, 443, 447 Sklavenmetaphorik 361, 362, 366, 460 Sophist 57, 58, 60, 76 Sophokles 53, 54, 70, 71 Speisegebote 458 Sühnemittel 241, 242, 261 Sühnetod 33, 257

Sündenbekenntnis 112 Sündenfall 234, 235, 308, 319, 320, 323 Sündenherrschaft 356 Sündenmacht 218, 341, 344, 345, 367, 454 Sündenverfallenheit 217–222, 227, 234, 277, 320, 444, 452 Sündenvergebung 154, 257, 258, 278, 279, 281, 298 Sündhaftigkeit 118, 121, 153, 160, 215, 220, 221, 344, 350, 443 Sündopfer 373 T Taufe 22, 336–338, 344, 356, 360, 391 Testamente der zwölf Patriarchen 148 Theodizee 205 Theognis 54, 63 Thukydides 69, 76, 80–82, 296, 297 Tobit 135, 136, 157, 159, 161 Tod Jesu 226, 237, 239–243, 250, 251, 253, 257, 261, 294, 295, 307, 313–315, 322, 330, 332, 338, 373, 398, 399, 453, 454 Todesverhängnis 319–321, 328 Tora 88, 101, 117, 118, 124, 125, 128, 135, 147, 152, 161, 182, 192, 198, 200, 201, 203, 204, 221–223, 232, 233, 266, 267, 271, 272, 274, 275, 287, 297, 320, 325, 331, 335, 354, 356, 371, 372, 374, 376, 377, 383, 387, 411, 412, 414–417, 419, 422–424, 426–430, 434, 453, 454, 457, 458, 461 Toragerechtigkeit 412, 413 Toraobservanz 268, 304, 412, 457 Treue Christi 229 Treue Gottes 101, 147, 176, 177, 182, 183, 203–207, 212 Tugend 42, 51, 53–57, 59, 60, 62–65, 85, 88, 101, 103, 118, 122–131, 139, 150, 152, 157, 158, 161, 276, 351, 353, 354, 358, 411, 412, 415, 437, 438, 458, 459

487

488

Register

Tugendlehre 124, 125, 128, 353 Tun-Ergehen-Zusammenhang 65, 99, 195 U Universalität der Heilsbotschaft 269, 270 Unparteilichkeit 138, 197 Urteil Gottes 99, 141, 156, 160, 180, 184, 194, 199, 200, 224, 231, 271, 281, 319, 326, 358, 362, 400, 413, 441, 447–449, 451 V Verdammnis 221, 373 Verhältnisbegriff 33, 38, 40, 86–89, 91 Versöhnung 164, 241, 243, 301, 313, 315–318, 334, 439, 452 Versöhnungstag 241, 242, 251, 253 Verurteilung 224, 322, 323, 325, 326, 328, 364, 371, 376, 407, 451, 453, 454, 461

W Wahrhaftigkeit 192, 207–209, 214, 274, 428 Weihegeschenk 243, 246–250 Weisheit Salomos 129–132, 158, 220 Werke des Gesetzes 101, 119, 178, 183, 225, 228, 229, 257, 267, 274, 393, 401, 409, 416, 451, 456–458 Wohltätigkeit 104, 107, 157 Wortbildungslehre 68, 69, 72 Wortsemantik 39–41, 46, 64, 85, 88, 324 X Xenophon

53–56, 186, 255, 350

Z Zeus 53, 66, 246 Zorngericht 167, 193–197, 237, 252, 287, 288, 306, 444, 445 Zwei-Wege-Schema 151