Grimmelshausen und die menippeische Satire: Eine Studie zu den historischen Voraussetzungen der Prosasatire im Barock 9783110916614, 9783484181328


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German Pages 398 [400] Year 1994

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Inhalt
Einleitung
ERSTER TEIL. Studien zu Rezeption und Wirkung von Grimmelshausens Schriften
KAPITEL 1: Gryphius und Grimmelshausen als unterschiedliche Beispiele für die Rezeption barocker Autoren
KAPITEL 2: Der Stand der Kenntnis und das Bild von Grimmelshausens Werk im 18. Jahrhundert
KAPITEL 3: Die posthume Gesamtausgabe - Tendenzen der Darbietung der Schriften Grimmelshausens
KAPITEL 4: Johann Ludwig Hartmann: Grimmelshausen als Autorität gegen den »sündlichen Aberglauben«
KAPITEL 5: Procop von Templin: Der ›Simplicissimus‹ als Roman mit moralischen und geistlichen Lehrgehalten
KAPITEL 6: Umfang und Grenzen der Bedeutung Grimmelshausens für die barocke Simpliziaden- Literatur
KAPITEL 7: Die Rezeption Grimmelshausens als Ausgangspunkt für Fragen an sein Werk
ZWEITER TEIL Studien zur Theorie der Satire und zur Geschichte der menippeischen Satire
KAPITEL 1: Die Auffassung der Satire in der poetologischen Theorie
KAPITEL 2: Die menippeische Satire in der barocken Roman- und Satiretheorie und die Notwendigkeit weiterer Beschäftigung mit der Menippea
KAPITEL 3: Skizze einer Geschichte der Menippea unter besonderer Berücksichtigung Deutschlands
KAPITEL 4: Satirische und geistliche Zwecke in der barocken Prosasatire vor Grimmelshausen
DRITTER TEIL Grimmelshausen
KAPITEL 1 : ›Satyrischer Pilgram‹ - Grimmelshausens literarisches Debüt als Satiriker
KAPITEL 2: Der Pikaroroman: Gestalt, Traditionen und Probleme seiner Deutung
KAPITEL 3: Der ›Simplicissimus‹ und die satirischen und geistlichen Wirkungsabsichten
KAPITEL 4: Satire und Erbauung in Grimmelshausens ›Vogelnest‹
KAPITEL 5: ›Ratio Status‹ - eine ›biblische Policey‹
KAPITEL 6: Erbauliche und satirische Wirkungsabsichten bei Grimmelshausen
Quellenverzeichnis
Register
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Grimmelshausen und die menippeische Satire: Eine Studie zu den historischen Voraussetzungen der Prosasatire im Barock
 9783110916614, 9783484181328

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STUDIEN ZUR DEUTSCHEN LITERATUR

Band

Herausgegeben von Wilfried Barner, Richard Brinkmann und Conrad Wiedemann

Stefan Trappen

Grimmelshausen und die menippeische Satire Eine Studie zu den historischen Voraussetzungen der Prosasatire im Barock

Max Niemeyer Verlag Tübingen 1994

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Trappen, Stefan: Grimmelshausen und die menippeische Satire: eine Studie zu den historischen Voraussetzungen der Prosasatire im Barock / Stefan Trappen. - Tübingen : Niemeyer, 1994 (Studien zur deutschen Literatur ; Bd. 132) NE: GT ISBN 3-484-18132-X

ISSN 0081-7236

© Max Niemeyer Verlag G m b H & Co. KG, Tübingen 1994 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Satz und Druck: Allgäuer Zeitungsverlag, Kempten Buchbinder: Heinr. Koch, Tübingen

Inhalt

Einleitung

i

ERSTER TEIL:

Studien zu Rezeption und Wirkung von Grimmelshausens Schriften Kapitel i: Gryphius und Grimmelshausen als unterschiedliche Beispiele für die Rezeption barocker Autoren

11

Einleitung - Rezeption von Gryphius und Grimmelshausen im 19. Jahrhundert - im 18. Jahrhundert - Rolle der barocken Poetik und des Prinzips der Antike-Imitation - Grimmelshausen wird anders als Gryphius nicht in barocker Poetik gewürdigt Kapitel 2: Der Stand der Kenntnis und das Bild von Grimmelshausens Werk im 18. Jahrhundert

18

Entgegen weitverbreiteter Ansicht war Grimmelshausen im 18. Jahrhundert keineswegs unbekannt und wurde auch von Gelehrten beachtet - Stand der Kenntnisse - Grimmelshausen gilt als Satiriker (Blanckenburg) - als Verfasser einer frommen Robinsonade (Kästner) - als Verfasser im Barock beliebter Romane - Lessings Anregung, eine >SimplicissimusSimplicissimus< als eines sittlichen Lehrwerkes - die Argumentation der Vorreden - Nutzen des >Simplicissimus< b) Der sogenannte »Kommentar«

34

Selbstverständnis und Problem der Forschung - Nutzanwendung als Prinzip der »Kommentierung« - Auffassung der Kapitel als Exempel Exempel als Medium des Nutzens - geistliche und satirische Lehrzwecke - Nähe zur Predigt - Diskrepanzen zwischen Roman und »Kommentar« - ihr Hintergrund: konfessionelle Unterschiede - Rolle der Einsiedeleien - der katholische Roman trifft auf einen protestantischen »Kommentator« Kapitel 4: Johann Ludwig Hartmann: Grimmelshausen als Autorität gegen den »sündlichen Aberglauben«

48

Persönlichkeit und Werk Hartmanns - Teufelbücher - Umfang der Entlehnungen aus Grimmelshausens >Galgenmännlein< in Hartmanns >Greuel des Segensprechens< - Rolle der Quelle als Indiz für die Schätzung der Schrift Grimmelshausens - Rezeption als Widerlegung der alten Anschauungen von dem »Bauernpoeten« Grimmelshausen - weitere Zeugnisse von Praetorius, Zesen, Thomasius und Pasch Kapitel 5: Procop von Templin: Der >Simplicissimus< als Roman mit moralischen und geistlichen Lehrgehalten

$6

Prediger kritisieren den fehlenden Nutzen weltlicher Literatur - Procops Kirchweihpredigten - Grimmelshausen dort als einziger weltlicher Autor herangezogen - Art und Umfang der Übernahmen - Rolle des negativen Exempels - Einsiedeleien als positives Exempel - gegensätzliche Bewertung der Einsiedeleien bei Lutheranern und Katholiken Eignung des >Simplicissimus< für Predigtzwecke - vergleichbare Zeugnisse

VI

Kapitel 6: U m f a n g und Grenzen der Bedeutung Grimmelshausens für die barocke Simpliziaden-Literatur

65

Probleme der Ermittlung von Simpliziaden - Art der Anknüpfung an den >Simplicissimus< - Gattungen - Frage nach der Rolle Grimmelshausens für die Entstehung der Simpliziaden - äußerlicher, mitunter indirekter Bezug zum >Simplicissimus< - Verbreitung des Namens Simplicius seit der Spätantike - Rolle des Pikaroromans innerhalb der Simpliziaden - Grenzen des Einflusses von Grimmelshausen - Einfluß auf die Benennung pikarischer Romane -

Popularität als gemeinsames

Merkmal der Simpliziaden Kapitel 7: Die Rezeption Grimmelshausens als Ausgangspunkt für Fragen an sein Werk

77

Kopernikanische Wende der Blickrichtung zwischen der Rezeption im Barock und den Interessen der Forschung - Aussagen Grimmelshausens zur Literatur - Hervorhebung des Nutzens - Kritik an »delectatio« ohne »utilitas« - moralische Wirkungen als Zweck der Schriften Grimmelshausens - die Ausführungen im >Satyrischen Pilgram< zur »Poeterey« - die Rolle geistlicher Gehalte: >VogelnestSimplicissimus< im Lichte der Theorie der Satire Kapitel 2: Die menippeische Satire in der barocken Roman- und Satiretheorie und die Notwendigkeit weiterer Beschäftigung mit der Menippea

125

Geringe Zahl barocker Verssatiren - barocke Prosasatiren in den Verzeichnissen von Morhof und Leibniz - Roman und Prosasatire - Formen des barocken Romans - Rolle der Satire in der Romantheorie menippeische Satiren als antike Quellen des Romans - Fazit: Erforschung der Tradition der Menippea als die Untersuchungsaufgabe Probleme der Forschung Kapitel 3: Skizze einer Geschichte der Menippea unter besonderer Berücksichtigung Deutschlands

139

Die Menippea in der Antike - zur neuzeitlichen Wirkung Lukians - typische Formen der Menippea - das paradoxe Enkomion - die drei menippeischen Formen der Beschreibung seltsamer Reisen: unter der Erde, auf der Erde, über der Erde - weitere Formen der Menippea - der Begriff »menippeisches Konglomerat« und Jonathan Swifts >Gulliver< Kapitel 4: Satirische und geistliche Zwecke in der barocken Prosasatire vor Grimmelshausen

168

a) J. B. Schupp

168

J. B. Schupp und die Verbindung von Menippea und Predigt - die Rolle der Menippea im Gesamtwerk Schupps - der Hintergrund der Hamburger Fehde Schupps und das Problem der Unterhaltung in der Literatur - Schupps >Freund in der Not< - die menippeischen Satiren Schupps - Lukians >Hetärengespräche< als erste Quelle für Schupps >Corinna< - Hoppenrods Teufelbuch als weitere Quelle - Teufelbücher und Predigt - die Rolle der Predigt und der Predigtzwecke in Schupps >Corinna< - die Verbindung satirischer und geistlicher Zwecke b) Moscheroschs >Gesichte Philanders von SittewaltSuenos< - Gestaltung der >Gesichte< - Verwendung der Traumerzählung - menippeische Charakteristika - satirische und geistliche Wirkungsabsichten VIII

DRITTER TEIL:

Grimmelshausen Kapitel i: >Satyrischer Pilgram< - Grimmelshausens literarisches D e büt als Satiriker

205

Vorbemerkung - Abhängigkeit von Quellen - die Rolle von Garzonis >Piazza Universale< - Konzept des Buches - ethische Indifferenz der Dinge und moralische Dimension aller Tätigkeiten - Tradition der antithetischen Darstellung von Lob und Tadel in der Satire - menippeische Züge in den >Vorreden< Kapitel 2: Der Pikaroroman: Gestalt, Traditionen und Probleme seiner Deutung

219

a) Die Gestalt des Pikaroromans und seine Ursprünge in der antiken Menippea

219

Begriff und Geschichte des Pikaroromans - seine Eigenart - der IchErzähler als Diener vieler Herren - Glückswechsel - die Weltabkehr des Helden und das Problem ihrer konfessionell unterschiedlichen Beurteilung - Exkurs: Grimmelshausens Konfession - katholische Einflüsse auf seine Schriften - konfessionell unterschiedliche Gestaltung der Weltabkehr - Apuleius' >Metamorphosen< als antike Quelle des Pikaroromans - Apuleius' >Metamorphosen< und die Menippea b) Die Bekehrung des pikarischen Helden und das Problem des Entwicklungsromans 238 Die Veränderung des Helden innerhalb eines Pikaroromans als Entwicklung einer Person - die alte Deutung des >Simplicissimus< als Entwicklungsroman - antike Vorgeschichte des Entwicklungsromans Bildung eines formalen Begriffs - Grimmelshausens >Courasche< als gegenbildlicher Entwicklungsroman - Courasches Erzählmotivation die Entwicklung der Courasche Kapitel 3: Der >Simplicissimus< und die satirischen und geistlichen Wirkungsabsichten

249

a) Die >Continuatio< und ihre Rolle im >Simplicissimus
Continuatio< als Problem der Forschung - Erzählweise - knapper Reisebericht - Episoden - zur Rolle asketischer Übungen - die UnstabiliIX

tät der ersten Einsiedelei - Simplicius verstößt gegen asketische Prinzipien - die Anfechtung der Einsiedler in Legenden - Exkurs: Simplicius' Einstellung zum Geld - Handlungsfortschritt in der >Continuatio< Bekehrung - asketische Lebensprinzipien - Integration erbaulicher A r gumente b) Die Handlungsabfolge im >Simplicissimus< und die satirischen Wirkungsabsichten

270

Die Frage nach dem Zusammenhang des Romans - die Verknüpfung von Lastern - Simplicius im Zustand völliger Unwissenheit - geistliche Belehrung durch den Einsiedel - Simplicius in Hanau - mehrere Begriffe von »Narr« - Simplicius als Medium der Satire - Simplicius als Gegenstand der Satire - Abfolge der begangenen Laster - Olivier als Gegenbild - Herzbruder als Vorbild - die Bekehrung im fünften Buch c) Die Episoden des >Simplicissimus< als menippeische Satiren

. . 295

Der Traum vom Ständebaum als menippeischer Traum - die JupiterEpisode und die menippeische Götterversammlung - die Verbindung von Utopie und Satire in der Mummelsee-Episode und der >Verkehrten Welt< - die Adaptierung der menippeischen Unterweltfahrt - die menippeische Höllenfahrt in der Julus und Avarus-Episode d) Die Exempelkapitel im >Simplicissimus
Simplicissimus< - die Verbindung menippeischer Technik mit dem Exempel als Garant der nützlichen Wirkung

Kapitel 4: Satire und Erbauung in Grimmelshausens >Vogelnest
Vogelnest< und Menippea - der Einfluß Lukians und A p u leius' - Erzähltechnik - Entwicklung des Ich-Erzählers - die Rolle des unsichtbaren Beobachters - die Rolle erbaulicher Betrachtungen Kritik an lasterhaften Geistlichen und seelsorgerisches Verhalten des Erzählers - Satire und Erbauung - Zusammenfassung

Kapitel 5: >Ratio Status< - eine »biblische Policey«

324

»Ratio Status«-Diskussion im Barock - Kritik an »Ratio Status« durch Reinkingk und Anhänger der »biblischen Policey« - Grimmelshausens Quellen - Bauform des >Ratio Status« - Wirkungsabsichten - >Ratio Status< und die »biblische Policey« - die Bedeutung der literarischen Form - Rolle des 6. Diskurses

X

Kapitel 6: Erbauliche und satirische Wirkungsabsichten bei Grimmelshausen

341

Unterscheidung zwischen Lastern und Torheiten in der Theorie der Satire - zwei Arten satirischer Zwecke - politische Satire des Barock Vergleich der geistlichen Satire Grimmelshausens mit der politischen Satire Christian Weises - Behandlung von Tanz, Wein, Geld, Disputationssucht, Beständigkeit - Verbindung von Satire und Erbauung Forschungsprobleme - der Begriff »Erbauung« - zum Zusammenhang von Erbauung und Moralität - Verknüpfung erbaulicher und satirischer Zwecke - geistliche Inhalte in Grimmelshausens Werk Schluß: Nützliche Wirkungen als Motor der Rezeption

357

Rückblick - schadete die Betonung des Nutzens der Verbreitung eines Buches im Barock? - Hinweis auf das Schicksal des >Klunkermuz< das Insistieren auf dem Nutzen in barocker Poetik - Folgerung Quellenverzeichnis

363

Register

381

XI

Einleitung

Dem Leser dieser Studie treten drei voneinander deutlich abgegrenzte Teile gegenüber. Ihre relativ große Selbständigkeit sollte jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, daß die eigentliche Bestimmung jedes Teils die ist, das Grundanliegen der Arbeit zu erfüllen. Und dieses Grundanliegen besteht in nicht mehr und nicht weniger als dem Versuch, eine historisch angemessene Fragestellung zu finden, die zu einem historisch wichtig gewordenen Gesichtspunkt des Werkes von Grimmelshausen führt. Sobald die Fragestellung gewonnen ist, machen wir uns an die Beantwortung. Da wir - vor allem aus der sog. neueren Barockforschung und der Hermeneutik-Diskussion - gelernt haben, daß es bisher in den seltensten Fällen echte literarhistorische Fortschritte brachte, wenn ohne Kenntnis und ohne angemessene Berücksichtigung der kulturellen Voraussetzungen und der Vorgeschichte 1 direkt Fragen an ein Werk gestellt wurden, ist der eigentlichen Antwort ein Teil vorangestellt, in dem die Tradition dessen untersucht wird, was den Inhalt der Fragestellung ausmacht. Methodische Überlegungen bedingen die Dreiteiligkeit und damit auch den Umstand, daß Grimmelshausens Werk so recht erst im dritten Teil behandelt wird. Die gesamte Darstellung möchte in letzter Instanz der Entwicklung eines neuen Grimmelshausen-Bildes dienen. Unter einem Bild wird die Vorstellung verstanden, die sich die Literaturwissenschaft von dem Werk Grimmelshausens machen sollte. Unter welchem Gesichtspunkt sollten seine Schriften betrachtet werden? Welches Verständnis von der Eigenart und Leistungsfähigkeit von Li1

Die Summe der Voraussetzungen und der komplexen Vorgeschichte wird im folgenden immer wieder mit dem Begriff »Tradition« bezeichnet. Tradition ist der Inbegriff der Antworten auf die typischen Fragen, die Historiker und Philologen von jeher stellten, wenn sie um die möglichst vollständige Erforschung eines historischen Sachverhalts oder eines künstlerischen respektive literarischen Werkes bemüht waren. Diese Fragen lauten: was gab es vor der Entstehung des Untersuchungsgegenstandes an Vergleichbarem, aber auch an Unterschiedlichem und Gegensätzlichem? - wie ist die historisch-kulturelle Gesamtsituation zur der Entstehungszeit unter Einschluß konkurrierender politischer, sozialer und künstlerischer Entwicklungen zu begreifen? - welche bestehenden, welche überlieferten Vorstellungen und Ideen wurden aufgegriffen? - woran schulte sich der »Autor« des Untersuchungsgegenstandes? welche Formen und Inhalte adaptierte er? - welchen Vorbildern folgte er? - was erwartete das Publikum? usw.

teratur muß man zugrundelegen? Welchen Literaturbegriff gilt es auf Grimmelshausen anzuwenden? Nun ist es so, daß sich der Begriff Satire von Anfang an in den Mittelpunkt der Darlegungen rückte. Die Satire - soviel sei hier als communis opinio unterstellt - ist eine Art von Literatur, der es in besonders hohem Maße um direkte und oft genug moraldidaktische Zwecke geht. Der Satire haftet insofern ein pragmatischer Zug an. Darüber wäre kein Wort zu verlieren, wenn solch ein Merkmal, wenn solch ein Belehren über moralische Werte (und dies, wenn es denn sein muß, auch mit dem erhobenen Zeigefinger) nicht in unserer gegenwärtigen literarischen Situation in dem Verdacht stünde, einer echten Wirksamkeit im literarisch-ästhetischen Leben im Wege zu stehen. Der Verdacht ist gut begründet, denn spätestens seit dem Anfang des 19. Jahrhunderts gilt, daß direkte Wirkungsabsichten zumal moraldidaktischer Art innerhalb der Literatur verpönt sind. Die Verdikte sind überall, in Literaturkritik, in Poetik und Ästhetik und in vielen Briefen, nachzulesen; die Relevanz dieser Vorstellung ergibt sich daraus, daß seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts didaktischer Literatur im allgemeinen und satirischen Texten im besonderen die Aufnahme in den Kreis der wirklich geschätzten, der als echt literarisch angesehenen und insofern klassisch gewordenen Werke versagt blieb. Auch wenn didaktischen Schriften ein buchhändlerischer Erfolg beschert war - das Negativ-Etikett »Tendenzliteratur« wurden sie nicht los. Diese Vorstellung von dem, was echte Literatur auf alle Fälle nicht sein darf, hat ihren historischen Ort. Sie gilt und wirkt seit dem 19. Jahrhundert. Und vorher? Im 17. Jahrhundert, im Jahrhundert des Barock, gilt (grob, aber deutlich gesprochen) das genaue Gegenteil. Auch hier stehen wieder Belege aus Poetik (die seinerzeit die Aufgaben der bekanntlich erst später zu einer eigenständigen Disziplin ausgebauten Ästhetik übernahm), aus Vorreden, aus Briefen, ja auch aus der sich bekanntlich erst gegen Ende des Barock entwikkelnden Literaturkritik bereit. Um im Barock Anerkennung zu finden, mußte Literatur genau das sein, was sie im 19. Jahrhundert keinesfalls sein durfte: im pragmatischen Verstand nützlich. Der erhobene Zeigefinger macht einem Text im Barock keine Schande. Für Grimmelshausens >Simplicissimus< und das Bild, das unserer Überzeugung nach von diesem Text zu machen ist, gewinnt dies insofern Relevanz, als eine fast ungebrochene Hochschätzung seit dem Barock festzustellen ist. Wir halten dies allerdings nicht für ein Indiz einer mythischen ästhetischen Qualität, die jenseits aller historischen Veränderungen zu allen Epochen gleich deutlich hervorgestrahlt habe. Vielmehr liegt in der anhaltenden Schätzung ein gewichtiges Problem. Wie ist der Befund angesichts des tiefgreifenden Wandels eigentlich aller Vorstellungen von der Eigenart literarischen Sprechens und aller Erwartungen an die Leistungsfähigkeit der Literatur zu erklären? Indem die pragmatische Zwecksetzung, indem der erhobene Zeigefinger den >Simplicissimus< im Barock so schätzbar machte, gelangen wir zu der Einsicht: Grimmels2

hausens Roman war im Barock wegen der pragmatischen und moraldidaktischen Zwecke hochgeschätzt, während das gleiche Werk im 19. Jahrhundert trotz dieser Zwecke geachtet wurde. Der in unseren Augen alles entscheidende Punkt besteht darin, sich bei der literarhistorischen Erforschung von der Perspektive des »schätzbar trotz pragmatischer Zwecke« freizuhalten und die historisch allein angemessene Perspektive des »schätzbar wegen dieser Zwecksetzungen« einzunehmen. Auch wenn keine Rede mehr davon sein kann, daß in der heutigen Diskussion (wie noch in den fünfziger Jahren beispielsweise von J. H. Schölte) die »Tendenzschriftstellerei« Grimmelshausens abschätzig betrachtet würde, gilt es doch wohl auch festzuhalten, daß die Wirkungsabsichten in der neueren Grimmelshausen-Forschung - obwohl regelmäßig bemerkt - eher gestreift als wirklich untersucht, geschweige denn in den Mittelpunkt der Überlegungen gestellt wurden. Wir hingegen lassen uns - im ersten Teil - von den Zeitgenossen Grimmelshausens auf die Spur führen, daß moraldidaktische Zwecke sein Werk im Barock so schätzbar machten. Wir verfolgen diese Spur - im zweiten Teil unter Berücksichtigung einer breit dargestellten Tradition und erkennen, daß diese Sicht im Barock selbstverständlich war. Und wir bemerken in der Textanalyse - im dritten Teil - , daß Grimmelshausen in seinen Schriften mit allem Nachdruck um pragmatische Wirkungsabsichten bemüht war und daß diese Absicht die Wahl der literarischen Form, die Darstellung und die sprachliche Gestaltung dominiert. Wir tun dies in der festen Uberzeugung von der unabweisbaren Notwendigkeit, ein Bild von dem Schriftsteller Grimmelshausen zu zeichnen, in dem Wirkungsabsichten die zentrale Rolle spielen. In dem ersten Teil beschäftigen wir uns mit der Rezeption der Schriften Grimmelshausens im 18. und 17. Jahrhundert. Bereits die an und für sich dürftigen Zeugnisse des 18. Jahrhunderts belegen, daß Grimmelshausen vor allem als Verfasser des >Simplicissimus< durchaus bekannt war und - sehr viel interessanter - daß ein bestimmtes Bild sich wenigstens in Umrissen abzeichnet. Da die nötige Begründung an ihrer Stelle gegeben ist, beschränken wir uns hier nur auf die Nennung der drei Stichworte, die da lauten: vor allem der >Simplicissimus< galt als schätzbar; man faßte Grimmelshausens Werk als Satire auf; und man bemerkte geistliche Inhalte. Aus dem 17. Jahrhundert liegen sehr viel aussagekräftigere Zeugnisse vor (zwar sind sie spartanisch im Vergleich mit dem, was ein Corneille mit der >Querelle du Cid< an Wirkung provozierte, aber die Rezeptionszeugnisse des deutschen Barock verwöhnen niemanden), die uns ein schärferes, dem des 18. Jahrhunderts durchaus entsprechendes Bild vermitteln. Die Arbeit des Historikers ist nicht damit getan, wenn die Fakten gesichert sind - was im konkreten Fall bedeutet, die Zeugnisse der Rezeption zu dokumentieren - , sondern ist erst dann zu ihrem Ende gelangt, wenn Sinn und 3

Eigenart der Dokumente analysiert und verständlich geworden sind. Bei einer Betrachtung der Rezeption bedeutet dies, zu erklären, welche Eigenschaften des rezipierten Textes den Anlaß zu dem überlieferten Urteil gaben. Ohne einen wie auch immer beschaffenen, sachlich zutreffenden oder völlig fehlgehenden Reflex auf Merkmale des Textes wird kein Rezeptionszeugnis Zustandekommen, das irgendein Interesse beanspruchen kann. Manch eine Studie zur Rezeption erscheint aus keinem anderen Grund seltsam unbefriedigend, ja sogar oft vorläufig, als daß sie lediglich Zeugnisse sammelt, diese gruppiert und nach bestimmten Gesichtspunkten ordnet, aber nicht systematisch auswertet, also auf ihre Eigenart und ihren Zusammenhang mit dem rezipierten Text befragt. Obwohl es keinen logisch zwingenden Grund dafür gibt, die sachliche Richtigkeit des Urteils in Rezeptionszeugnissen zu unterstellen, liegt doch in unserem Falle, wo es vornehmlich um Quellen aus der Epoche geht, in der auch Grimmelshausen lebte, die Annahme einer (vielleicht begrenzten) Ubereinstimmung nahe. Das bewegt uns, aus den Rezeptionszeugnissen die für den Fortgang der Untersuchung leitende Fragestellung zu gewinnen. Die Frage nach dem Inhalt des Begriffs »Satire« bot sich für eine literarhistorische Untersuchung an. Die gängige Fassung des Begriffs »Satire« erwies sich nur zu rasch als ungeeignet, um die wirklichen Gegebenheiten der satirischen Dichtung des Barock zu verstehen. Herkömmlicherweise gilt Satire nicht als Gattung, sondern als »Haltung des Satirischen«. Diese »Haltung«, so lautet die Überlegung weiter, werde Literatur, indem sie Gattungen und Formen wie den Roman okkupiere. Da nun die literarischen Formen und Gattungen einer historischen Entwicklung unterliegen, eine »Haltung« (zumindest versteht man das so) dies aber gerade nicht tut, ist der verbreitete Begriff der Satire nur begrenzt geeignet, um Grimmelshausens satirisches Werk historisch angemessen zu verstehen. Wir sind im zweiten Teil bemüht, den für das Barock relevanten Begriff »Satire« zu eruieren. Wir zeichnen im i. Kapitel die Geschichte der Satirepoetik vor allem anhand der für das Bildungswesen wichtigen Texte in der Hoffnung nach, die Eigenart der humanistischen und barocken Fassung des Begriffs zu bestimmen. Dieses Kapitel führt zu mehreren Ergebnissen. Es bringt Einsichten in die Geschichte der Poetik; es erhellt den Begriff »Satire« und damit das, was man von einer satirischen Dichtung hinsichtlich Form, Inhalt, Verfahrensweisen und - besonders wichtig - Wirkungen erwartete; es verschafft Einblicke in die Gründe, die zu der in humanistischer Diskussion vorgeprägten (dort aber ganz anderen Zwecken als heute dienenden) Auffassung vom »Satirischen« als einer über Gattungen stehenden Größe führten. Für den Fortgang der Überlegungen ist zweierlei entscheidend: zum einen die Fixierung des Begriffs »Satire« auf Literatur, die sich der Förderung der Moral durch Bekämpfung des Lasters verschrieben hat; und zum anderen die für Humanismus und Barock offenbar selbstverständliche Anschauung, daß es 4

neben der römischen Verssatire noch eine zweite Gattung der Satire gibt - die menippeische Satire. In dieser Arbeit wird diese Gattung in Anlehnung an eine z. Zt. gerade in Entwicklung begriffene Konvention und in Adaptation des englischen Sprachgebrauchs auch Menippea genannt. Dichter, die sich in dieser Form betätigten, bezeichnen wir als Menippeer. Der menippeischen Satire gilt von nun an unser Hauptinteresse. Wir verfolgen ihre Rolle in der barocken Satire- und Romantheorie (Kap. 2) und skizzieren die - bislang weithin verkannte - Geschichte der menippeischen Literatur (Kap. 3). Indem das satirische Werk von Schupp und Moscherosch, den wichtigsten barocken Satirikern vor Grimmelshausen, untersucht wird, indem sich dabei verdeutlicht, welche eminent wichtige Rolle die Menippea für beide spielt und wie genuin satirische Zwecke um geistliche Wirkungsabsichten ergänzt werden (Kap. 4), machen wir einen großen Schritt auf Grimmelshausen zu. Mit dem Abschluß dieses zweiten Teils sollten alle wichtigen historischen Voraussetzungen für ein angemessenes Verständnis der in Grimmelshausens Werk zu betrachtenden Gesichtspunkte dargestellt sein. Im letzten Teil nimmt die Darstellung von vornherein als gegeben hin, was erst im Verlauf und Fortgang dieses Teils so recht deutlich werden kann. Es wird nämlich unterstellt, daß Grimmelshausen, weil die Verbreitung von Wirkungen das zentrale Anliegen seiner Schriften war, Satiriker, konkret Menippeer wurde, und daß er neben satirischen auch geistliche Zwecke verfolgte. Die Unterstellung erschien angesichts der am Ende erzielten Evidenz gerechtfertigt und ermöglicht eine Darstellung, die frei von unnötigen Herleitungen ist. Obwohl der >Simplicissimus< als Grimmelshausens bedeutendstes Werk natürlich im Mittelpunkt stehen mußte, werden mit dem >Satyrischen Pilgram< (Kap. 1) und >Ratio Status< (Kap. 5) auch sehr andersartige Schriften genauer untersucht. Beide nehmen sowohl innerhalb von Grimmelshausens Werk als auch innerhalb unserer Überlegungen eine Sonderstellung ein. >Ratio Status< kann nicht als Satire begriffen werden; es handelt sich vielmehr um ein Werk der bislang völlig unberücksichtigt gebliebenen, im Barock durchaus verbreiteten Form der »biblischen Policey«. Der Text zeigt, daß Grimmelshausen auch jenseits der Tradition der Satire moralische Wirkungsabsichten mit geistlicher Begründung betrieb. Der >Satyrische Pilgram< ist Grimmelshausens erstes satirisches Werk. Für unsere Überlegungen ist der Text insofern von besonderem Interesse, als hier lediglich sehr begrenzte Einflüsse der menippeischen Satire festzustellen sind. Mehrere Kapitel (2-4) sind dem Komplex der sog. simplicianischen Romane gewidmet. Die bisherigen Ergebnisse stellen an diese Kapitel die Anforderungen, sowohl die wichtige Rolle der menippeischen Satire als auch die Bedeutung der Wirkungsabsichten endgültig darzulegen und dabei zu zeigen, in welcher Weise diese Einsichten das Verständnis der Texte vertiefen. Das hervorstechendste Merkmal der simplicianischen Romane Grimmelshausens 5

ist, daß jeweils ein Ich-Erzähler sein Leben berichtet. Diese Tatsache bringt es mit sich, daß der Erzähler den Roman und die gesamte Schilderung in einer Weise dominiert, die in einem in Er-Form erzählten Roman so gut wie undenkbar ist. D a nun bekanntlich die Ich-Figuren in den Romanen Grimmelshausens sorgsam konzipiert und konsequent ausgestaltet (also mehr als eine bloße Hülle sind, aus deren Munde irgendwelche Begebenheiten berichtet werden) sind, können diese Figuren eine exponierte Stellung f ü r jede Analyse beanspruchen. Jede Analyse wird feststellen müssen, daß Grimmelshausens Romane obwohl episodisch gestaltet - keine willkürlichen Anhäufungen beliebiger Begebenheiten in zufälliger Reihenfolge sind, womit sich die Frage aufwirft, in welchem U m f a n g und in welcher Weise die Ich-Figuren eine »einheitsstiftende«, den Roman zu einem wie auch immer beschaffenen »Ganzen« machende Funktion haben. D a die Entwicklung der Romanhandlung durch den Lebensweg der Ich-Figur geleistet wird, heißt dies - rigoros verkürzt formuliert - , die Frage nach der »Entwicklung« dieser Figur zu stellen. N u n war es von Anfang an ein Vorhaben dieser Untersuchung, stets die Vorgeschichte, die Tradition mitzuberücksichtigen, was an diesem Punkt der Überlegungen bedeutete, die Frage nach einer Tradition zu stellen, in der IchFiguren eine »Entwicklung« durchmachen, die für das Konzept des Romans wichtig ist. Gleichzeitig stellte sich auch die Frage nach der Tradition der besonderen F o r m - es ist die F o r m des Pikaroromans

in der Grimmelshausen

seine simplicianischen Romane verfaßte. Z u klären war auch noch, wie Grimmelshausen mit der Tradition der menippeischen Satire umging. A n diesem Punkt der Überlegungen kam mit Apuleius' >Metamorphosen< ein Text in den Blick, der - gewissermaßen als Schnittpunkt der drei offenen Problemstellungen - für alle dieser Fragen die Antwort zumindest soweit bereithielt, wie sie aus Kenntnis der Tradition gegeben werden kann. Bei den >Metamorphosen< handelt es sich um einen spätantiken Text der menippeischen Satire. Wer diesen Text in der Neuzeit rezipiert und dabei die menippeischen Merkmale nicht unterschlägt, der wird - wie am offenkundigsten bei Grimmelshausens >Vogelnest< (einer bisher unerkannt gebliebenen direkten Nachahmung der M e t a morphosen^ verfolgt werden kann (Kap. 4) - zu einem Menippeer. Bei den >Metamorphosen< handelt es sich ferner um den spätantiken Ursprung des neuzeitlichen Pikaroromans, weshalb diese von Grimmelshausen so geschätzte Romanform der menippeischen Tradition zuzurechnen ist. U n d bei den M e t a m o r p h o s e n handelt es sich ferner um den ältesten Text, in dem die Entwicklung des Ich-Erzählers eine die Gestalt des Romans prägende Funktion hat. Die entsprechenden Ausführungen sind mit hoffentlich allen notwendigen D i f ferenzierungen im zweiten Kapitel gegeben. Das dritte Kapitel ist ganz dem >Simplicissimus< gewidmet. Es versucht an dem Text verständlich zu machen, welches besondere und seinerseits den satirischen und geistlichen Wirkungsabsichten dienende Konzept der »Entwick6

lung« des Simplicius den A u f b a u und den Zusammenhalt des Romans konstituiert. Ein Unterkapitel gilt den Episoden, die deutlich nach dem Vorbild menippeischer Formen gebildet sind. Die Eigenart und die zentrale Rolle der Wirkungsabsichten sollte schon dabei hinreichend deutlich werden. Ein Passus über die Exempelkapitel im >Simplicissimus< macht auf eine weitere Strategie, die im Dienste der Wirkungsabsichten steht, aufmerksam. Während in allen bisher skizzierten Teilen der Studie das Interesse vornehmlich darauf gerichtet war, die Tatsache festzuhalten, daß Wirkungsabsichten die Gestalt eines Textes prägten, und die genauere Beschaffenheit der Zwecke nur begrenzt behandelt wurde, geht es in einem weiteren Abschnitt (Kap. 6) darum, die unter dem Titel »Satire und Erbauung« versammelten Zwecke in ihrer Eigenart und in ihrem Zusammenhang näher zu beleuchten. A n dieser Stelle sei mir die Bemerkung gestattet, daß aus einer dringend nötigen vertieften Erforschung der Erbauungsliteratur die wahrscheinlich fruchtbarsten Einsichten sowohl in das religiöse, das kulturelle, aber auch das literarische Leben bis zum Ende des 18. Jahrhunderts resultieren werden. Anlage und A u f b a u der Untersuchung sollte sich nach diesen Hinweisen etwas leichter verstehen lassen, als es die von vielen Einzeluntersuchungen unterbrochene Darstellung dem Leser sonst erlaubt. D a die Studie versucht, historische Zusammenhänge verständlich zu machen, werden Belege niemals mit der A b sicht genannt, das historische Material vollständig darzubieten. Es geht stets nur um die Illustration der Überlegungen. Forschungsliteratur wird, besonders was Spezialstudien zu Grimmelshausen angeht, lediglich in Auswahl notiert. Es galt dabei einen Kompromiß zu finden zwischen dem (angesichts der »Produktivität« nicht mehr zu rechtfertigenden, andererseits aber vielfach geforderten) Anspruch auf Vollständigkeit und dem, was einer Darstellung und Lesern zuzumuten ist. Es bleibt zu hoffen, daß sich die Auffassung durchsetzt, nach der Wissenschaft Sachlichkeit, nicht die Repetition formaler Wissenschaftlichkeit ist. Z u r Zitierweise sei folgendes bemerkt. Grimmelshausens Schriften werden regelmäßig nach der von Rolf Tarot in Verbindung mit Wolfgang Bender und Franz Günter Sieveke besorgten Ausgabe zitiert. Nachweise aus den Schriften Grimmelshausens befinden sich in der Regel im Text, wobei der Titel abgekürzt wird (Beispiel: Simpl. S. 47). Wo es tunlich erschien, auf die Buch- und Kapitelzählung zurückzugreifen, ist dies geschehen (Beispiel: Simpl. III 2). Fassungen und Texte, die in Tarots Ausgabe nicht enthalten sind, werden nach den Originaldrucken oder anderen Editionen zitiert; Nachweise finden sich am Ort des Zitats. Alle Quellen der Untersuchung sind an dem Ort, w o auf sie zurückgegriffen wurde, in F o r m eines Kurztitels nachgewiesen. Im Quellenverzeichnis findet sich der vollständige Titel. Forschungsliteratur wird in den allermeisten Fällen an der erste Stelle, w o auf sie hinzuweisen war, voll7

ständig zitiert; die folgenden Erwähnungen geben lediglich den Kurztitel. Das Register orientiert über alle Stellen, an denen Quellen herangezogen oder Forschungsliteratur zitiert wurde. Das Sachregister wird den Leser hoffentlich bei seiner Suche nach einzelnen Stellen unterstützen.

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ERSTER TEIL

Studien zu Rezeption und Wirkung von Grimmelshausens Schriften

K A P I T E L I:

Gryphius und Grimmelshausen als unterschiedliche Beispiele für die Rezeption barocker Autoren

Niemand wird bestreiten wollen und

niemand wird bestreiten können, daß

Grimmelshausen ein äußerst bekannter Autor des deutschen Barock ist. Sein Werk erreicht, wie die fast sprichwörtliche Bekanntheit des >SimplicissimusSimplicissimus< - weithin bekannten Autor/ dessen Werk nicht nur entschieden häufiger als Gryphius Quelle neuentstehender Dichtung wurde, sondern auch entweder in einer erneuernden Bearbeitung oder besonders nach der Mitte des Jahrhunderts in um philologische Genauigkeit bemühten Editionen erhebliche Verbreitung erfuhr. Auch hier ist er nicht allein Gegenstand literaturkritischer und literarhistorischer Betrachtung, sondern findet darüberhinaus noch ein Publikum, das wenigstens den Simplicissimusroman als unmittelbar zugängliche literarische Leistung würdigt. Er gilt gelegentlich sogar als volkstümlich. Es scheint, daß zumindest ein Teil seines Werkes den Tod des literarischen Barock überlebt hat. Das Bild, das sich das 19. Jahrhundert vom Barock und von barocken Dichtern machte, ist selbstverständlich stark von den aktuellen literarischen Vorstellungen geprägt. Ob allein diese aber ausreichen, um die Rezeption barocker Literatur sowohl zu lenken als auch (von heute aus) in allen Details zu verstehen, darf mit Fug und Recht bezweifelt werden. So wird die Rezeptionsleistung des 18. Jahrhunderts, an die zunächst einmal angeknüpft werden mußte, eine Rolle gespielt haben - und dies unbeschadet der auffälligen und bekannten Tatsache, daß das Zeitalter der Aufklärung ein durchaus kritisches Verhältnis zur barocken Literatur hatte. Für uns liegt der Grund, aus dem wir die

1

S. Peter Heßelmann, Z u m Grimmelshausen-Bild bei Schriftstellern des 20. Jahrhunderts, in: Simpliciana IV/V (1983), S. 1 7 3 - 1 9 8 , und Ruprecht Wimmer, D e r H e r r Facis et (non) Dicis. Thomas Manns Ubernahmen aus Grimmelshausen, in: Thomas MannJ b . 3 (1990), S. 1 4 - 4 9 .

' U m nur ein Beispiel seiner fast sprichwörtlichen Bekanntheit anzuführen. F. Th. Vischer schreibt im Jahr 1837 über die Schwaben: »Es ist etwas Simplicissimusartiges in uns« (Kritische Gänge, Bd. 1, S. 21 - hier zitiert nach Manfred Koschlig, Das Ingenium Grimmelshausens und das >KollektivCritischen Dichtkunst^ sowie die von deutlichem Wohlwollen geprägte und zu einem recht positiven Urteil über Gryphius gelangende >Vergleichung Shakespeares und Andreas Gryphs< (1741) des Johann Elias Schlegel sind wohl typische Quellen. Lob und etwas Tadel, grundsätzliche Anerkennung der Qualität und Kritik an einzelnen Formzügen sowie an bestimmten Gestaltungsweisen ste3

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!

Eingehende Informationen über die historische Entwicklung der Literaturgeschichtsschreibung jetzt bei Klaus Weimar, Geschichte der deutschen Literaturwissenschaft bis zum Ende des 19. Jahrhunderts, München 1989. S. hierzu Alberto Martino, Daniel Casper von Lohenstein. Geschichte seiner Rezeption, Bd. 1: 1 6 6 1 - 1 8 0 0 , Tübingen 1978. Gottsched, Versuch einer Critischen Dichtkunst, z. B. S. 186, 621, 625 und 642. r

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hen dort nebeneinander. Das spannungsvolle Bild resultiert teils aus der in den ersten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts noch unmittelbaren Präsenz barocker Literatur, teils aus dem geschichtlichen Wandel, der zwar schon bei Gottsched zu tiefgreifend ist, als daß es noch zu echtem Verständnis kommen könnte, andererseits aber auch noch nicht so weit fortgeschritten ist, als daß man ausschließlich mit Befremden die Andersartigkeit registrieren könnte. Gottsched und J . E. Schlegel sind jedoch Übergangserscheinungen. Sowie ihr eigenes literarisches Schaffen dem 18. Jahrhundert mehr und mehr problematisch geworden war, was sich bei Gottsched schon zu Lebzeiten ereignete, war auch die lebendige Tradition des Barock so gut wie abgerissen. Hier ist allerdings sogleich eine Differenzierung vorzunehmen. Das Barock hat sehr unterschiedliche Formen von Literatur gepflegt. Dazu zählen neben vielem anderen auch die vielfältigen Formen geistlicher Literatur, also das Kirchenlied, die Gebets- und Erbauungsliteratur, die Predigt, legendarische Werke usw. Stellt man einmal das Fortleben dieser geistlichen Literatur neben das der Dichtung, so hebt sich heraus, wie wenig von der poetischen Literatur des Barock im Verlauf des aufklärenden Jahrhunderts noch tradiert wurde. Zahlreiche im Barock entstandene Werke geistlicher Literatur behalten, wie beispielsweise an der Rezeption der Schriften eines Paul Gerhardt, Johann Arndt und Martin von Cochem gezeigt werden könnte, im 18. und oft noch im 19. Jahrhundert eine fast ungebrochene Wirksamkeit. Anzumerken bleibt, daß diese kontinuierliche Rezeption so etwas wie ein Charakteristikum geistlicher Literatur ist. Man denke nur an Thomas a Kempis, dessen >imitatio Christi< von dem Mittelalter bis weit ins 20. Jahrhundert hinein Wirkungen ausübte. D e m gegenüber stellt sich die Nachwirkung barocker Dichtung im 18. Jahrhundert als unbedeutend dar. N u r sehr wenige Werke wurden erneut aufgelegt; Bearbeitungen sind seltene Ausnahmen. Gegenstand des akademischen oder schulischen Unterrichts ist barocke Dichtung meiner Kenntnis nach selbst während des späteren 18. Jahrhunderts nicht geworden. Aus diesem Grunde dürfen die wenigen Zeugnisse aus dem mittleren und späteren 18. Jahrhundert nicht davon ablenken, daß barocke Literatur so gut wie kein Nachleben mehr entfaltete. So drängt sich eine Frage auf, die bereits an die Barockrezeption eines Gottsched, in verschärfter F o r m aber an die späterer Generationen zu stellen ist. Auf welchem Wege war es den wenigen Interessierten denn überhaupt noch möglich, Kenntnisse und Vorstellungen über barocke Literatur zu gewinnen? Auf die Leistungen einer historisch vorgehenden Literaturwissenschaft konnte man bekanntlich nicht zurückgreifen. Freilich gibt es im 18. Jahrhundert eine älterer Tradition entstammende Form von Texten, die - wenn sie schon nicht geeignet sein mag, echte Kenntnisse von barocken Autoren zu vermitteln

-

doch wenigstens einige Vorstellungen von Eigenart und Bewertung ihres Werkes erzeugen konnte. Dabei handelt es sich um die Schriften zur Poetik.

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G r u n d s ä t z l i c h gilt z w a r , d a ß d i e b a r o c k e P o e t i k r e g e l m ä ß i g a b g e l e h n t w u r d e ; d o c h g i b t es A u s n a h m e n . A n e r s t e r Stelle ist d i e S c h r i f t d e s a u c h s o n s t e i n e Sonderrolle spielenden O p i t z 6 zu nennen. E i n e weitere A u s n a h m e bildeten gerade jene s p ä t b a r o c k e n Poetiken, die sich in v e r s t ä r k t e m M a ß e f ü r die deutschen M u s t e r interessierten. A l s Beispiele seien hier M o r h o f s >Unterricht v o n d e r T e u t s c h e n S p r a c h e u n d P o e s i e * ( 1 6 8 2 ; 2. A u f l . 1 7 0 0 ) / R o t t h s V o l l s t ä n d i g e D e u t s c h e Poesie< ( 1 6 8 8 ) , 8 O m e i s ' > G r ü n d l i c h e A n l e i t u n g z u r T e u t s c h e n a c c u r a ten R e i m - u n d Dichtkunst* ( 1 7 0 4 ) 9 u n d M ä n n l i n g s >europaeischer

Helicon
der Vater der deutschen Dichtung*. Eine kritische Studie zur Wissenschaftsgeschichte der Germanistik, Stuttgart 1976, S. 3 6 - 7 3 , w o S. 58 die »so gut wie vorbehaltlose Huldigung Opitzens bis über die Mitte des 18. Jahrhunderts hinaus« festgestellt wird. Die Würdigung deutscher Muster erfolgt der Konzeption entsprechend an verschiedenen Stellen. S. 2 i j f wird Gryphius hervorgehoben. S. 3 1 5 werden Gryphius und L o henstein als Muster des barocken Trauerspiels genannt. Teil 3, S. 2 1 7 , werden Gryphius und Lohenstein unter Hinweis auf metrische Qualitäten als Musterautoren des deutschen Trauerspiels genannt. Omeis nennt S. 237 die Tragödien Gryphius', Lohensteins, Masens und v. Birkens als Beispiele f ü r die Verwendung verschiedenartiger Stoffquellen. S. 243 führt er charakteristischerweise Gryphius und Lohenstein als Muster (hier wiederum mit Blick auf die Metrik) in der Tragödiendichtung an. Bei einer kurzen Würdigung der bedeutendsten deutschen Dramen (S. 247) steht O p i t z als Seneca-Ubersetzer an erster Stelle, unmittelbar gefolgt von Gryphius, Lohenstein und schließlich Hallmann, v. Birken und Chr. Weise. Gryphius und Lohenstein werden noch bei anderen Gelegenheiten hervorgehoben (z. B. S. 57). D o r t S. 8, werden im Zusammenhang mit einer allgemeinen Würdigung deutscher Dichter neben Opitz, Buchner, Fleming, Tscherning, Rist, Schottel, Harsdörffer, Dach u. a. auch die »unvergleichlichen Lichter Schlesiens« genannt, »durch die unsere deutsche Poesie auff den Gipfel der höchsten Vollkommenheit gelanget« - kein Zweifel, daß zu diesen auch Gryphius und Lohenstein zählen. - Vgl. zum Bild von Gryphius in literaturtheoretischen Äußerungen des Barock: Hans-Henrik Krummacher, D e r junge Gryphius und die Tradition. Studien zu den Perikopensonetten und Passionsliedern, München 1976, S. 468f, w o A n m . 22 noch weiterführende Hinweise auf musterhafte Dichter zu finden sind.

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ben hat, so ungeheuer intensiv und breit behandelt zu haben, wie vor ihm allenfalls Vadian (>De poetica et carminis rationeSatyrischen Pilgram< ein Werk von ihm beiläufig erwähnt (s. u. S. 127). Trotzdem ist er im 18. Jahrhundert keineswegs unbekannt. Er ist, wie die im folgenden ausgebreiteten Zeugnisse illustrieren, kaum weniger präsent als Gryphius oder andere Barockdichter. Daß Grimmelshausen nicht wie Gryphius (und übrigens die bei weitem überwiegende Zahl der heute noch bekannten Barockdichter) auch auf dem Wege über die barocken Poetiken tradiert wurde, ist ein Indiz für derartig tiefgreifende Unterschiede des Werkes beider Autoren, daß ein Vergleich weder dem Barock noch dem 18. Jahrhundert auch nur denkbar erschienen wäre. So gesehen ist das heutige Barockbild, das Gryphius und Grimmelshausen als die herausragenden Autoren ihrer Epoche nebeneinanderstellt, ein Phänomen späterer Rezeption und weder im Barock noch im 18. Jahrhundert auch nur in Ansätzen feststellbar.

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K A P I T E L 2:

Der Stand der Kenntnis und das Bild von Grimmelshausens Werk im 18. Jahrhundert

D e r F o r s c h u n g ist es g e l u n g e n , e i n e g a n z e R e i h e v o n Z e u g n i s s e n d e r R e z e p t i o n G r i m m e l s h a u s e n s i m 18. J a h r h u n d e r t z u s a m m e l n . 1 D a s Material, auf das v e r w i e s e n w i r d , s p r i c h t n i c h t e i n f a c h f ü r s i c h , es e r g i b t w e d e r e i n d e u t l i c h e s n o c h ein e i n h e i t l i c h e s B i l d , es ist v e r s t r e u t a n s e h r v e r s c h i e d e n a r t i g e n O r t e n , i n d e n B e a r b e i t u n g e n d e s >SimplicissimusBeschluß< des >Simplicissimus< stützen, müssen die Stelle von Fakten vertreten. Die Schriften Grimmelshausens kennen Blanckenburg, Koch und Jördens zunächst einmal aus der posthumen Gesamtausgabe, wobei sie einige dort enthaltene pseudepigraphische Schriften, als deren Verfasser erst im 20. Jahrhundert Scheffler und Balthasar Venator erkannt wurden, 6 nicht ausscheiden können. Den in dieser Ausgabe nicht abgedruckten >Ewigwährenden Calender« kennt und nennt nur Blanckenburg als weiteres Werk unseres Autors. Uberhaupt ist Blanckenburg derjenige, der in größerem Umfang Einzelausgaben und damit das genaue Erscheinungsdatum nennen kann. Darüberhinaus erwähnt er noch drei frühe Simpliziaden als mögliche weitere Werke. Koch und der ihn zitierende Jördens haben es bei der Abgrenzung des Œuvres einfacher, da sie das Todesdatum zu

* 1790 in seinem >Compendium der Deutschen Litteratur-GeschichteZusätzen< [ 1 7 8 6 - 1 7 9 9 ] zu Johann G e o r g Sulzers >Allgemeine Theorie der Schönen KünsteSimplicissimusSimplicissimus< aber nicht behandeln. Koch hingegen geht es um die, wie er meint, vier Gattungen des barocken Romans: »Volksromane«, wozu er neben Volksbüchern auch Wickrams >Goldfaden< zählt; »Liebesgeschichten«, worunter er den höfischen Roman und den Schäferroman des Barock rechnet; den »politischen Roman«, der mit seltsamer Unterschlagung Christian Weises von Hagdorn, Happel und anderen repräsentiert wird, sowie endlich »Vorläufer der Robinsonaden«. Hierbei vermag Koch drei Titel zu nennen: Mateo Alemäns >Gusman von Alfarche< in der Bearbeitung von Aegidius Albertinus (1615), Denis de Vairas' >Historie der neugefundenen Völker Sevarambes< (1677; dt. Ubers. 1689) und den >SimplicissimusSimplicissimus< erneut Publikum zu verschaffen. A l s U r h e b e r dieses Bemühens gilt Lessing. S o heißt es in der Vorrede zu der anonymen >SimplicissimusSimplicissimusSpringinsfeld< ( 1 7 9 1 ) hervorgebracht. Rezensionen belegen das Interesse. 2 1 D u r c h diese Bearbeitungen - zwei weitere legten H a S. 1)6f. ' 6 Der Text, ein Artikel, entstanden als Ergänzung zu Christian Gottlieb Jocher, Allgemeines Gelehrten Lexikon, Bd. 2, Sp. 1 1 8 6 (Art. Grimmelshausen; enthält Bemerkungen zu den hohen Romanen) und Bd. 4, Sp. 614 (Art. Simplicius - »der falsche Nähme eines Satyrici«) - findet sich auch bei Adelung, Ergänzungen zu Jöchers Gelehrtenlexikon, Reprint Hildesheim 1961, Bd. 2, Sp. 1603. - Grimmelshausen wird übrigens in zwei weiteren wichtigen Nachschlagewerken des 18. Jahrhunderts erwähnt: Theophilus Georgi >Bücherlexikon< (1742. Reprint Graz 1966), Bd. 2, S. 175; Bd. 3, S. 106; Zedier, >Universallexikon< Bd. 37, 1743, Sp. 1524, Art. Simplicissimus. 17 Gottsched, Critische Dichtkunst, S. 525: Der >Simplicissimus< zählt zu den barocken Büchern, die »bekannt und beliebt gewesen«. - Der begeisterte Büchersammler Gottsched besaß zwei Romane Grimmelshausens. Vgl. den >Catalogus Bibliothecae, qvam J o . Ch. Gottschedivs [...] collegitSimplicissimus< ist ein so bekanntes Buch, daß die meisten Liebhaber curieuser Historien-Bücher, diese drey Theile davon mit ihren artigen und netten Kupfern, in ihren Bibliothequen vor einen Historischen, Moralischen, Satyrischen, und lustigen-nützlich-zeitvertreiblichen Schatz halten«. ' ' Vorrede, B l . ) ( 2 b; diese Bemerkung führt auch Jördens, Lexikon deutscher Dichter, Bd. 2, S. 43of, an. Vgl. Kurth-Voigt, Grimmelshausens Simplizissimus, S. 49 Anm. 25, w o sie von der vergeblichen Suche nach dem Beleg in Lessings Schriften berichtet. Die früheste: Der Wechsel des Glücks und Unglücks im Krieg, oder Wunderbahre Begebenheiten Herrn Melchior Sternfels von Fuchsheim [...] Frankfurt und Leipzig 1756. Vgl. auch die Zusammenstellungen in der Bibliographie von Battafarano und bei Meid, Grimmelshausen, S. 200. 21 Ich nenne die beiden Rezensionen der Bearbeitungen Wagenseils in: Allgemeine deutsche Bibliothek 1787 und Allgemeine Literatur-Zeitung vom Jahre 1787. Beide Kriti22

ken 1 8 1 0 1 2 und E . v. B ü l o w 1 8 3 6 v o r - w u r d e die L ü c k e zwischen der letzten barocken A u s g a b e v o n 1 7 1 3 und der ersten philologischen Edition durch A d e l bert v o n Keller 1 8 5 4 überbrückt. D a ß die kontinuierliche Verfügbarkeit eines wie auch immer bearbeiteten Textes geeignet ist, die Bekanntheit des >Simplicissimus< wachzuhalten, versteht sich v o n selbst. D a im 18. Jahrhundert auch einige Simpliziaden verbreitet w u r d e n , 2 3 besteht kein Anlaß, sich über die V e r w e n d u n g des N a m e n s Simplicius bei G o e t h e 1 4 zu wundern. Angesichts der Kargheit vieler Zeugnisse des 18. Jahrhunderts scheut man sich fast, von Rezeption zu sprechen. Z u s a m m e n g e n o m m e n ergeben die Q u e l len, die hier nur unvollständig angeführt sind, jedoch wenigstens unscharfe Konturen einer Vorstellung von dem Wirken des Schriftstellers Grimmelshausen. Satiriker w a r er, berühmt w u r d e sein >SimplicissimusSimplicissimusErznarren< übersieht. Im Grundsätzlichen hat er völlig Recht, denn die Zahl der politischen Romane im Gefolge Weises ist ungeheuer groß. Riemer gilt als der bedeutendste Vertreter jener Gattung nach Weise, Beer ist der heute bekannteste. Zur Dokumentation s. Goedeke, Grundriß, Bd. 3, S. 281. Unentbehrlich ist immer noch: Arnold Hirsch. Bürgertum und Barock im deutschen Roman. Ein Beitrag zur Entstehungsgeschichte des bürgerlichen Weltbildes [zuerst 1934]. 2. Aufl. hrsg. v. Herbert Singer. Köln/Graz/Wien 1957 (Literatur und Leben N. F., 1). S. z. B. das Zeugnis von Beers Freund Erdmann Neumeister, De Poetis Germanicis (1695), S. i j f und S. I42Î, und den Artikel im >ZedlerJohann Beer. Eine beschreibende Bibliographies Bern/München 1983 (Bibliographien zur deutschen Barockliteratur, 2), S. 159, Nr. 119; R. Alewyn, Johann Beer. Studien zum R o m a n d e s 17. Jahrhunderts, Leipzig 1932 (Palaestra, 181/182). Ähnliche Beobachtungen kann man auch bei anderen Autoren machen, so z. B. bei: Christian Reuter, der nach einem vereinzelten Hinweis Wellers von 1858 endgültig erst 1884 faßbar wurde (vgl. Otto Deneke, Schelmuffsky, Göttingen 1927 (Göttingische Nebenstunden, 3), S. 43; die bahnbrechende Studie war: Friedrich Zarncke, Christian Reuter, der Verfasser des Schelmuffsky, in: Abhandlungen der philologisch-historischen Classe der königlich sächsischen Gesellschaft der Wissenschaften (Leipzig) 9 (1884), S. 455-661); und bei Johann Gorgias, der erstmals 1925 als Romanautor gewürdigt wurde (vgl. Egon Hajek, Johann Gorgias, ein verschollener Dichter des 17. Jahrhunderts, in: Euphorion 26 (1925), S. 22-49 u n £ l S- I 9 7 _ 2 4 ° - Von Horst Fassel, Johann Gorgias ein Siebenbürger in der deutschen Literatur des 17. Jahrhunderts, in: Südostdeutsche 25

Autoren sticht Grimmelshausen im 18. Jahrhundert nur zu deutlich ab. Seine Rezeption ist intensiver und verleiht ihm besonders als Autor des >Simplicissimus< eine Bekanntheit, die gemessen an der anderer Autoren des niederen Romans höchst auffallend, ja einzigartig ist. An dieser Stelle drängt sich die Frage nach den Gründen für den Verlauf des Rezeptionsgeschehens auf. Neben den Vorstellungen, die im 18. Jahrhundert das Verständnis von Literatur bestimmen, spielt natürlich auch das Nachwirken barocker Rezeption und - damit auf das engste verbunden - die Eigenart von Grimmelshausens Werk eine weitere wichtige Rolle. Deutlich wird die Bedeutung des Nachwirkens der barocken Rezeption und der Eigenart des Werkes (um beide Gesichtspunkte einmal kurzerhand zusammenzufassen) schon an der Ausgabe, aus der man im 18. Jahrhundert Grimmelshausens Schriften zumeist kannte: der zwischen 1683 und 1713 in drei Auflagen erschienenen dreibändigen Sammelausgabe. Diese Ausgabe ist, nach der großen Anzahl erhaltener Exemplare zu schließen,33 in hoher Auflage erschienen und im 18. und 19. Jahrhundert der Angelpunkt der Grimmelshausenrezeption gewesen, 34 und sie war auch die Ausgabe, die das Bewußtsein für die Menge und die Vielfalt von Grimmelshausens Schriften wachhielt. Vergleichbare umfangreiche, weitverbreitete und für die Rezeption des Autors wichtige Sammelausgaben gibt es zwar bei vielen Schriftstellern des 16. Jahrhunderts und des Barock, z. B. bei Luther, bei Hans Sachs (der mit seinem teils nur handschriftlich, teils in Form von Einblattdrucken verbreiteten Werk ohne die von ihm selbst begründete und im 17. Jahrhundert nachgedruckte Ausgabe niemals anhaltende Resonanz gefunden hätte), Johann Balthasar Schupp und Andreas Gryphius,

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Vierteljahresblätter 36 (1987), S. 1 2 5 - 1 3 1 , liegt ein kenntnisreicher neuerer Beitrag vor). In der Einleitung zu seiner Edition nennt Tarot (S. X L I I ) in einer keine Vollständigkeit beanspruchenden Liste 30 erhaltene Exemplare der posthumen Ausgabe, denen beispielsweise nur 7 insgesamt bekannte Exemplare des E 6->Simplicissimus< gegenüberstehen. Lediglich Jöcher kennt sie nicht; der anonyme Verfasser des >Simplicissimus RedivivusSimplicissimusProbleme der Grimmelshausen-Forschung< zu untersuchen, beschäftigte er sich zuerst - mit der posthumen Gesamtausgabe. Vgl. auch: Mechthild Raabe, Leser und Lektüre im 18. Jahrhundert. Die Ausleihbücher der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel 1 7 1 4 - 1 7 9 9 , 3 Bde. München/London/New York/Paris 1989. Zwischen 1756 und 1790 wurden Werke Grimmelshausens - so das Ergebnis der Auswertung Raabes - insgesamt 22 Mal ausgeliehen. Die weitaus meisten Leser bedienten sich der posthumen Gesamtausgabe.

nicht aber bei irgendeinem Autor des barocken niederen Romans - außer eben Grimmelshausen. So ist schon die bloße Existenz dieser kurz nach Grimmelshausens Tode erstmals erschienenen Ausgabe - um hier zunächst noch von den inhaltlichen Merkmalen, den Vorreden, der Anordnung, den zugefügten pseudepigraphischen Schriften und den kommentierenden Zusätzen abzusehen - ein entscheidendes und ihn einmal mehr nur zu deutlich von anderen Romanautoren des Barock abhebendes Merkmal der Rezeption. Diese Ausgabe, die wir - immer noch in umgekehrter Chronologie voranschreitend - anschließend behandeln, ist das erste von drei großen Zeugnissen der barocken Rezeption Grimmelshausens. 35 Dabei handelt es sich um eine Rezeption ohne historischen Abstand, was sie schon deshalb besonders aufschlußreich machen dürfte. Hier begegnet uns die Reaktion der zeitgenössischen Leser, also des Publikums, für das Grimmelshausen schrieb. Die Gesichtspunkte, die etwa die barocke Sammelausgabe dem Werk Grimmelshausens abgewinnt, sind uns durchaus fremd. Während der heutige Leser Struktur und Handlungsführung eines Romans mit besonderem Interesse verfolgt, stellt die Gesamtausgabe den moralischen Nutzen heraus und interessiert sich sehr für das Exempel, niemals aber für die Bauform. Doch eben dies ist für den Historiker interessant; für ihn gilt es, das Fremde, Ungewöhnliche, vielleicht Unverständliche in den Blick zu nehmen. Wie sonst sollte er die Kriterien in die Hand bekommen, anhand derer im zeitgenössischen Kontext des Barock Grimmelshausens Schriften beurteilt wurden?

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Über die Rezeption Grimmelshausens im Barock orientieren neben den bereits genannten Arbeiten die Studien von Brady, Herzog, Koschlig (in den Fußnoten des folgenden Kapitels) und Peter Heßelmann, Grimmelshausen - »gesellschaftlich alleingelassen«? Auf den Spuren seiner Gönner und Leser im 17. Jahrhundert, in: Simpliciana 8 (1986), S. 5 1 - 7 0 . In jüngerer Zeit hat das Interesse an diesen Rezeptionszeugnissen stark zugenommen. Freilich hat dies der Neigung kaum Abbruch getan, die Aussagen der Zeitgenossen kurzerhand als »Mißverständnis« zu begreifen: vgl. Peter Heßelmann, Gaukelpredigt. Simplicianische Poetologie und Didaxe. Zu allegorischen und emblematischen Strukturen in Grimmelshausens Zehn-Bücher-Zyklus, Frankfurt am Main usw.: Lang 1988 (Europäische Hochschulschriften, Reihe 1, 1056), S. J94ff; wieder in: ders., Simplicissimus Redivivus, S. 1 j f f . Die Stimmen der barocken Zeitgenossen, die Heßelmanns zum Teil recht einseitige Deutung des Werkes nicht stützen, gelten dort nicht als Anfechtung der Interpretation des Historikers, sondern als Hinweis auf die mangelnde Kompetenz derjenigen, die sich zu Grimmelshausens Schriften äußerten.

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KAPITEL

3: Die posthume Gesamtausgabe - Tendenzen der Darbietung der Schriften Grimmelshausens

a) Ausstattung und Umfang D i e durch Grimmelshausens wichtigstes Verlagshaus, Felßecker in N ü r n b e r g , zwischen 1 6 8 3 und 1 7 1 3 drei M a l in jeweils drei Bänden herausgegebene S a m melausgabe 1 hat nicht nur in der Rezeption, sondern auch in der frühen F o r schung einige Beachtung gefunden. Lange Zeit hat man diese A u s g a b e hauptsächlich als weithin unzureichende philologische Leistung 2 und nicht als frühes Rezeptionszeugnis gewürdigt. N o c h Koschlig hat an dieser Sichtweise stets festgehalten und w a r v o r allem bei dem Versuch, den protestantischen E r b a u ungsschriftsteller J o h a n n Christoph Beer ( 1 6 3 8 - 1 7 1 2 ) als Herausgeber und Bearbeiter dieser A u s g a b e zu erweisen, bemüht, Belege für die angeblich unangemessene, Grimmelshausens Absichten zuwiderlaufende Tendenz der Bearbeitung vorzulegen. 3 D o c h abgesehen v o n dem gar nicht so geringen Rest an Spekulation, der Koschligs Argumentation gerade an den entscheidenden Stellen immer wieder unverständlich und anfechtbar macht, 4 verlangt der C h a r a k 1

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Titelfaksimile des 1. Bandes bei Koschlig, Ingenium, Abb. 29. Ebenda, S. 531, teilt Koschlig eine Information aus dem Nachlaß Scholtes mit, die geringfügige Unterschiede zwischen verschiedenen Exemplaren innerhalb einer Auflage betrifft. Unter Umständen sind diese Differenzen ein Indiz für äußerlich sonst nicht erkennbare Doppeldrucke. - Vgl. zu der posthumen Gesamtausgabe jetzt auch Heßelmann, Simplicissimus Redivivus, S. 72ff. So bei Schölte, Probleme der Grimmelshausenforschung, wobei dem verdienten Forscher immerhin zugute zu halten ist, daß er erst einmal klären mußte, wie es um die recht problematische Überlieferung der Schriften Grimmelshausens bestellt ist; vgl. auch Herbst, Die Entwicklung des Grimmelshausenbildes. S. vor allem die beiden letzten Aufsätze seines Sammelbandes >IngeniumEwigwährende CalenderBartkrieg< 7 und die drei >Continuationen< zu den E s / 6 - A u s g a b e n des >SimplicissimusVogelnest«, 1. Teil), werden sie in vielem anderen auch ein Dokument. In einem Brief Quirin Moscheroschs an Sigmund von Birken vom Januar 1674 wird Felßecker als Verleger des gerade erschienenen >Teutschen Michel< bezeichnet (gefunden und mitgeteilt von Blake Lee Spahr, The Archives of the Pegnesischer Blumenorden, Berkeley/Los Angeles i960, S. 51; zur Korrektur des nachweislich falschen Eingangsvermerks »Januar 1673«, die v. Birken anbrachte, vgl. Hans-Rüdiger Fluck >Ergezligkeit in der Kunst. Zum literarischen Werk Quirin Moscheroschs, in: Daphnis 4 (1975), S. 1 3 - 4 2 ) . Daß kein Dokument Koschligs Thesen anficht, »beweist« er Ingenium, S. 295: »Moscherosch muß sich geirrt haben«. Vgl. auch weitere Argumente gegen Koschligs These bei Rolf Tarot, Notwendigkeit und Grenzen der Hypothese in der Grimmelshausen-Forschung. Z u r Echtheitsfrage des Barock-Simplicissimus, in: Orbis Litterarum 25 (1970), S. 7 1 - 1 0 1 ; und Stefan Trappen, Edition und Interpretation von Grimmelshausens >SimplicissimusSatyrische Gesicht und Traum-Geschicht von Dir und Mir< sowie die >Reisebeschreibung nach der oberen neuen Monds-Welt, bedienen sich der Technik der Traumerzählung. Die dritte menippeische Satire Der fliegende Wandersmann nach dem Mond< ist die Bearbeitung von Francis Godwins >Man in the Moon< (1638).'° Dabei handelt es sich um eine mit rund 60 Oktavseiten nicht sonderlich umfangreiche romanhafte Erzählung, in der unter Verwendung der Techniken des Pikaroromans der Ich-Erzähler seinen wechselhaften Lebensweg berichtet. Aus der Vorlage, die wiederum an die ältere Tradition der Mondreise-Erzählung anschließt, bringt der Text Venators die Eigenart mit, auch astronomische Fragen wie die von Schwerkraft auf Erde und Mond sowie Probleme der Bewegung von Erde und Mond, von Planeten und Sternen in durchaus ernstzunehmender, die Lehren des Kopernikus verbreitender Argumentation zu behandeln. Aus diesem Grunde führt Leibniz diese Schrift im Jahre 1689 in seinem Entwurf zu einer >Bibliotheca Universalis Selecta< an und stellt sie in eine Reihe mit den astronomischen Werken Galileis, Kopernikus', Keplers und Mercators. 11

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Darauf wies schon Schölte, Probleme der Grimmelshausenforschung, S. 174, vgl. S. hin. S. hierzu Erich Volkmann. Balthasar Venator. Volkmann gelang dort der Nachweis, daß die bis dato Grimmelshausen zugeschriebenen Werke mit Sicherheit oder hoher Wahrscheinlichkeit von Venator verfaßt oder übersetzt wurden. - Weiteren Aufschluß über die Person des Übersetzers wird die Edition des >Wandersmann< bringen, die J. B. Dallett vorbereitet. Der im Barock außerordentlich verbreitete Text dürfte Venator in einer französischen Ubersetzung vorgelegen haben. Leibniz, Entwurf, S. 442. Leibniz nennt dort eine deutsche Ausgabe (>Der fliegende WandersmannSimplicii angeregte Uhrsachen / warumb er nicht catholisch werden könne? Von Bonamico in einem Gespräch widerlegt< - weist bereits auf den prokatholischen Charakter hin. Daß Simplicius (dessen Name ja eine sehr alte Tradition hatte) als Gesprächspartner auftauchte, mag dem Bearbeiter Grund genug gewesen sein, den Text abzudrucken. Da diese Ausgabe in Nürnberg und bei einem lutherischen Verleger verlegt wurde, darf man wohl annehmen, daß auch der Bearbeiter dieser Konfession angehörte. Die konfessionspolemische Schrift Schefflers muß dem Herausgeber aber als zumindest nicht unpassend im Rahmen einer Gesamtausgabe der Schriften Grimmelshausens erschienen sein. Wir werden sehen, daß der Bearbeiter die katholischen Züge in dem Werk unseres Autors erkannte. Deshalb mag es ihm umso leichter gefallen sein, Schefflers Dialog mit Simplicius aufzunehmen. Diese vier pseudepigraphischen Schriften - entweder menippeische Satiren oder aber prokatholischen Inhalts - sind also mit eben den Schlagworten zu etikettieren, die uns aus der Rezeption Grimmelshausens im 18. Jahrhundert bereits vertraut sind. Eine fünfte zugefügte Schrift - >Manifesta wider die jenige / welche [...] die roht= und güldene Bärte verschimpffen< - ist von Schölte und Koschlig Grimmelshausen abgesprochen worden. 14 Ihr wahrscheinlich ka12

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Nachgewiesen bei Volkmann, Balthasar Venator, S. 37 und 41 f. Volkmann weist aber auch darauf hin, daß die direkte Vorlage für den Text, wie er in der posthumen G r i m melshausen-Ausgabe erscheint, auf einen gleichfalls 1667 publizierten D r u c k zurückgeht, der nicht bei Felßecker verlegt wurde (S. 47). Wie schon bei anderer Gelegenheit erwähnt, führte den Nachweis, daß Scheffler der Verfasser dieser Schrift ist, bereits Schölte, Probleme der Grimmelshausenforschung, S. i 9 7 f f . Koschlig, Ingenium, S. i j f , im Anschluß an Schölte, Probleme der Grimmelshausenforschung, S. 22of. Die Argumente haben offenbar überzeugt, denn neuere Editionen übergehen den Text ebenso wie Studien. Für Schölte machte die Schrift »einen völlig ungrimmelshausenschen Eindruck. D e r Stil ist weitschweifig und fade« (S. 221). Koschlig hat in seinen späteren Studien recht spekulative Überlegungen darüber ange-

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tholischer Verfasser ist ebenso unbekannt wie die genaue Entstehungszeit, da bislang kein anderer Druck als der in der posthumen Gesamtausgabe bekannt wurde. Der stark von geistlichen Absichten getragene Text verfolgt mit Hilfe biblischer Belegstellen das Ziel, die offenbar allegorisch gemeinte Rotbärtigkeit über die im Volksmund irrtümlich höher geschätzte Schwarzbärtigkeit zu stellen. Die Schrift selbst läßt keine Gründe erkennen, warum sie der Gesamtausgabe zugefügt wurde. So weit zu den Zusätzen der ersten Art. Bei der zweiten Art von Zusätzen handelt es sich um Erweiterungen, die fast bei jedem Werk Grimmelshausens in der Gesamtausgabe zu beobachten sind. Das umfangreiche Material wird hier nur teilweise beachtet. Wir beschränken uns auf die Erweiterungen, die den >Simplicissimus< betreffen. Es sind insgesamt drei Vorreden und der sog. »Kommentar«, dem noch Texterweiterungen innerhalb des Romans an die Seite zu stellen sind. 1 ' Bei der Erfüllung ihrer traditionellen Aufgabe, das Wohlwollen, die Aufmerksamkeit und die Lernbereitschaft des Lesers zu erlangen, zeigen die beiden Vorreden zum ersten Band der Gesamtausgabe 16 drei wesentliche Momente von der Anschauung des Werkes. Erstens steht die Figur des Simplicissimus ebenso im Mittelpunkt der Argumentation wie der von ihm handelnde Roman. Zweitens begründet sich das Lob des Werkes teilweise mit dem Unterhaltungswert, daß es »Lust- und Aufmerckung erweckt«, eine »gar seltsame und darbei lustige und unverdrießliche Art habe«, »Annehmlichkeiten« »zu Hintertreibung einigen Unmuths und Kummers« bereite sowie zur »Ergötzung des Lesers in stiller Zufriedenheit« diene. Was dabei gefalle, sei der »hohe Bedacht« der »Ausarbeitung« der Schriften und ihr »Scharfsinn«. Der dritte Punkt betrifft den Gehalt, der als Lehre begriffen wird. So »handele« das Werk einerseits von einer nicht näher bezeichneten »sonderbaren Wissenschaft, die sich durch alle Stände und Alter [...] erstrecket«, also für jedermann taugt, und »erläutert« dabei an-

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stellt, warum die >Manifesta< in die posthume Gesamtausgabe übernommen worden sind: s. Ingenium, S. 286. So hat das Bauernlied (Simpl. S. 1 4 - 1 5 ) in der Gesamtausgabe 5 zusätzliche Strophen (abgedruckt in Breuers Ausgabe, S. 802), woraus Gebauer, Grimmelshausens Bauerndarstellung, S. 7 0 - 7 9 , schließt, daß Grimmelshausen nicht der Verfasser dieses Liedes ist. Dieser These sekundiert Philip Brady, Eine bisher unbekannte Fassung des Bauernlieds, in: Simpliciana 9 (1987), S. 1 4 9 - 1 5 3 , durch Hinweis auf eine möglicherweise ältere Version, von der allerdings bislang nur ein D r u c k aus dem Jahre 1 7 2 7 bekannt ist. Vgl. auch Heßelmann, Simplicissimus redivivus, S. 1 1 7 A n m . 38. - Sonst gibt es Texterweiterungen in F o r m von Fortsetzungen der Erzählung zu den Kapiteln Simpl. I 3, I 5 , 1 6, I 27, I V 8; ferner die Umstrukturierung eines Kapitels (Simpl. I 4) zur Er-Erzählung, die im folgenden untersuchten kommentierenden Kapitelschlüsse u. a. m. - Adelbert von Kellers Grimmelshausen-Ausgabe macht sich heute dadurch unentbehrlich, daß die Varianten der posthumen Gesamtausgabe dort einigermaßen zuverlässig verzeichnet sind. Abgedruckt in Kellers Ausgabe. - G . Herbst gibt eine Inhaltsangabe dieser Vorreden.

dererseits, »wie allen Gemüts-Bewegungen [...] ein gewisses Ziel gesteckt werden müsse«. Gerade die Ausrichtung der Gemütskräfte erscheint dem Verfasser der Vorrede besonders wichtig. Der Simplicissimusroman habe zum »Endzweck«, bei dem Leser die »wahre Gottesfurcht« und die »Beförderung deß allgemeinen Besten«, mithin sittliche Ideale zu erreichen. Diese beiden Zwecke gelten als »Grund« eines Affektzustandes, den der Mensch anzustreben verpflichtet ist: nämlich seinen »Geist in eine warhafft unzerstörte Ruhe zu setzen«. Kurz, der Roman hilft, das Ziel der vor allem vom Christentum der Neuzeit so begierig rezipierten stoischen Philosophie zu erreichen - die »ataraxia animi«. An anderer Stelle benennt der Verfasser der Vorrede den Endzweck mit einem anderen Terminus, der die auch bei dem stoischen Begriff ausdrücklich miterwähnte christliche Dimension stärker betont: »Erbauung«.' 7 Uber die literarische Eigenart des Werkes, seine Gattungen, Verfahrensweisen, Eigenarten und Strukturmerkmale schweigen die Vorreden sich aus. Nicht einmal die Tatsache, daß es sich beim >Simplicissimus< um einen Roman handelt, ist einer Erörterung oder auch nur eines Hinweises wert. Erst in der Vorrede zum 2. Buch des >Simplicissimus< erfährt der Leser, was ihm bei der Lektüre schon längst aufgegangen sein dürfte, daß »Geschicht-weise« »erzehlet« wird. 18 Dem Desinteresse am »Wie« steht die entschiedene Hervorhebung der Wirkungszwecke gegenüber. In Ubereinstimmung mit dem barocken Literaturverständnis wird dabei ebenso vom Nutzen wie von der Unterhaltung gesprochen. Diese beiden Attribute begleiten literarische Erzeugnisse seit der Antike ganz selbstverständlich, oft ohne Genaueres auszudrücken, als die beiden Hauptfelder literarischer Wirkungsabsichten. Barocke Literatur kennt ganz verschiedene Weisen der Unterhaltung und unterschiedliche Arten des Nutzens. In den Vorreden der Grimmelshausen-Ausgabe wird eine Unterhaltung versprochen, die keineswegs selbstgenügsamer Art ist, sondern dem Leser »zu Hintertreibung einigen Unmuths und Kummers« »bey diesen sonst schwürigen und betrübten Läuffen und Zeiten«, 19 eben als Remedium gegen Trauer und Verzweiflung dienen soll. Der Nutzen ist ethischer Art und liegt in der Hilfe, die das Werk bei der Beförderung höchster geistlicher und sittlicher Aufgaben des Menschen gibt.

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Alle Zitate aus Kellers Grimmelshausen-Ausgabe, Teil i , S. 1 1 , S. 1 5 - 1 7 . Vorbericht zum 2. Buch des >SimplicissimusSimplicissimusSimplicissimus< verspricht zu jedem Kapitel einen »Lehr- und Vermeidungs-Spiegel«. In den Zusätzen selbst heißt es, daß »Anmerckungs-Weiß« 23 gesprochen werde. Bisweilen wird das Fehlen der Zusätze erläutert. Es seien »fast keine Erklärungen vonnöthen, weilen ja 2

° In seiner Rezension der Bülowschen >SimplicissimusContinuatio< (Simpl. VI, 24ff) sowie durch den »Beschluß« und die Vorreden als Lebensbericht des Simplicius aus. Der »Kommentar« hat keinen Grund, diese literarische Strategie zu entlarven; wenn er behauptet, daß die Romanfigur »schreibet«, 24

Z u Simpl. I 16, ebenda, S. 106. * S. G . Herbst, Die Entwicklung des Grimmelshausenbildes, S. 17; Meid, Grimmelshausen, S. 204, bemerkt in seiner übrigens sonst sehr verständnisvollen Analyse, daß »der Kommentar häufig genug den Text aus den Augen verliert«, ja »gelegentlich« sogar im »Widerspruch« zu dem Text stehe. Vgl. ebenda, S. 207, w o eine »merkwürdig anmutende« »Verquickung von Politik, religiöser Orthodoxie und Teufelsglauben« kritisiert wird. Vgl. auch die A n m . 32 zitierten Äußerungen von P. Heßelmann. 26 Koschlig, Ingenium, S. 328, im Anschluß an Schölte. Ähnlich Herbst, Die Entwicklung des Grimmelshausenbildes, S. 15. 27 Z u Simpl. I 2, in Kellers Ausgabe, Teil 1, S. 36. D o r t wird zutreffend berichtet, daß der A u t o r im Dienste des Bischofs von Straßburg als »Schultze« in Renchen tätig war. Grimmelshausen trat dieses A m t 1667 an und hatte es bis zu seinem Tode inne. - Die Stelle wurde von Echtermeyer, Rezension der Bülowschen >SimplicissimusVorerinnerung< (ed. Keller, S. 14): »Simplicissimus oder vielmehr dessen Sinnreicher Urheber [...]«; und ebenda, S. 279 (zu Simpl. II 19), w o von »des Authors Meinung«, nicht der des Simplicius, gesprochen wird. 2

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setzt er diese Strategie lediglich fort. Zweitens ist zu bedenken, daß schon die Unterscheidung zwischen Er-Erzählung und Autor und erst recht die Differenzierung zwischen einem Ich-Erzähler und Autor in der Literaturwissenschaft nur zögernd durchgeführt wurde und daß die begrifflich exakte Unterscheidung ein Ergebnis der wissenschaftlichen Diskussion der joer Jahre unseres Jahrhunderts ist. Selbst die epochalen Arbeiten von F. K. Stanzel (1955) und Käte Hamburger (1957) hatten noch beträchtliche Probleme, diese für die wissenschaftliche Interpretation so wichtige Unterscheidung konsequent durchzuführen. 29 In der älteren Literaturtheorie der Schulgrammatik und Poetologie trug man von der Antike bis ins 19. Jahrhundert hinein keinerlei Scheu, Erzähler und Autor kurzerhand zu identifizieren. Ja, die Gattungslehre des Diomedes, die mit dem sogenannten Redekriterium operiert (also an Texte die Frage stellt, wer spricht: der Autor, handelnde Personen oder sowohl der Autor als auch seine Figuren) und deren Definitionen äußerst verbreitet waren und über mehr als ein Dutzend Jahrhunderte hinweg im Schulunterricht auswendig gelernt wurden, spricht sogar ausdrücklich davon, daß beispielsweise im Epos neben den handelnden Personen auch der Poet selbst sich äußert: »poeta ipse loquitur et personae loquentes introducuntur«. 30 Es war also ein seit der Spätantike präsentes triviales Schulwissen, Autor und Erzähler gleichzusetzen. Wenn dann der »Kommentator« ausführt, »Simplicius schreibet hier [...]«, so nimmt er nicht Anlauf zu einer Erklärung des Romans aus der ihm nicht völlig unvertrauten Biographie Grimmelshausens, sondern äußert sich in eben der Terminologie, die für seine Zeit verbindlich war. Bisher haben wir gesehen, daß die Zusätze sich als »Erklärung« und »Anmerckung« zu dem Text verstehen und daß dieses Selbstverständnis geeignet war, einige Verwirrung und einige Ratlosigkeit in der Grimmelshausenforschung auszulösen. Letzter Grund aller dieser Probleme ist die Annahme, es handele sich dabei um eine Art des wissenschaftlichen Kommentars. Diese Annahme ist falsch, und insofern ist auch die etablierte (und deshalb hier beibehaltene) Bezeichnung der Zusätze als »Kommentar« womöglich mißverständ29

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S. die Neubearbeitung: Franz K . Stanzel, Theorie des Erzählens, 2. A u f l . Göttingen 1982, S. 27: »Die Absonderung der Person des auktorialen Erzählers von der Persönlichkeit des Autors ist eine noch relativ junge romantheoretische Errungenschaft. Sie begann sich gegen Ende der Fünfziger Jahre allmählich durchzusetzen«. Ebenda, A n m . 29, wird auf Stellen aus Stanzeis >Erzählsituationen< von 1955 hingewiesen, die in mittlerweile erkannter »terminologischer Unschärfe« von »Erzähler bzw. A u t o r « sprachen. Diomedes, Grammatik, S. 482. - Für das Nachwirken der Diomedischen Gattungslehre, aus deren Repristinierung an der Schwelle zum 19. Jahrhundert wichtige A n stöße zur Entwicklung der triadischen Gattungslehre erwuchsen, ist auch Wilhelm Scherer >Poetik< (posthum 1888) äußerst aufschlußreich. Indem Scherer gegen die idealistische Gattungslehre eines Hegel und Vischer Front macht, greift er immer wieder auf Gattungsdefinitionen zurück, die der Diomedischen entsprechen.

lieh. Daß nicht einmal nach barockem Verständnis eine Art des Kommentars vorliegt, wird deutlich, wenn wir einmal die verschiedenen Techniken der Kommentierung in Barock und Humanismus Revue passieren lassen. Da gibt es einmal die Kommentare zu antiken Klassikern. Wenn Robortello, Maggi und Lombardi die >Poetik< des Aristoteles kommentieren, geht es ihnen um das rechte Verständnis des Textes und das heißt um die Feststellung, Erläuterung und Auslegung von autoritativ geltenden Lehrsätzen. Wenn ein lateinischer Klassiker zur Erläuterung ansteht, so folgt der Kommentar dem Vorbild spätantiker Kommentatoren und gibt eine Wort-für-Wort-Erklärung, die dem Verständnis schwieriger Stellen und der philologischen Beschreibung der verwendeten rhetorischen Mittel dient. Mit diesen Formen der philologischen Kommentierung hat der Grimmelshausen-»Kommentar« schon deshalb nichts zu tun, weil hierbei das unmittelbare Textverständnis kein Problem sein kann. Deutliche Unterschiede bestehen aber auch zu der Kommentierung deutscher Texte des Barock. Derartige Erläuterungen sind einigermaßen selten und auf sehr andersartige Werke gerichtet und von andersartigen Absichten gelenkt. Von Enoch Hannman etwa haben wir eine kommentierte Ausgabe der Poetik des Martin Opitz (1658). Dort besteht die Erläuterung in der Paraphrase des ursprünglichen Textes und der Anführung von Beispielen, besonders zu Fragen der Metrik. Das äußerst wirkungsreiche und wichtige Lehrbuch des Opitz wird damit in didaktischer Absicht und in noch leichter verständlicher Form ein weiteres Mal verbreitet. Weiterhin ist hier an die Selbstkommentare zu denken, die mehr oder weniger selbstverständlicher Bestandteil des barocken Trauerspiels oder z. T. auch des hohen Romans sind und die Gryphius, Hallmann, Lohenstein und Zesen ihren Dichtungen beigaben. Es handelt sich hierbei um Erläuterungen, die auf eine ganz bestimmte Stelle oder Passage bezogen sind. Ihre Aufgabe besteht darin, die für diese Gattungen geforderte historische Wahrheit der Schilderung zu belegen und die sich aus dem hohen Stil ergebenden »dunckelen Oerter zu erklären«. 31 Wiederum bestehen kaum Gemeinsamkeiten mit den Zusätzen in der Grimmelshausen-Ausgabe, denn auch hier sollen die Erklärungen dem rechten Textverständnis auf die Sprünge helfen. Die Art und Weise der Erklärung, die der Grimmelshausen-»Kommentar« geben will, läßt sich am ehesten mit den »Anmerckungen« oder »Adnotationes« zu den Briefpassagen in Grimmelshausens >Galgenmännlein< vergleichen. Das Ziel der Erklärungen der Texterweiterungen der posthumen Gesamtausgabe besteht nämlich nicht in der Auslegung oder philologischen Beschreibung eines schwerverständlichen Textes, nicht in der Erhellung »dunckeler Oerter« und auch nicht in dem Nachweis der historischen Triftigkeit, sondern darin, einen bestimmten Lehrgehalt an den Leser zu vermitteln. Somit ist also nicht 31

Gryphius, Carolus Stuardus, S. 140 (aus der Vorbemerkung zum Anmerkungsapparat der überarbeiteten Auflage von 1663). 37

die Auslegung, sondern die A n w e n d u n g auf die Situation des Lesers das Prinzip dieses »Kommentars«. M a n kann das Applikation oder ein »fabula docet« nennen. A m gebräuchlichsten und zutreffendsten dürfte jedoch der Terminus N u t z a n w e n d u n g 3 2 sein. »Erklärung« heißt hier also Erklärung des N u t z e n s , nicht des Textes. U n s interessiert jetzt, welcher A r t die moralischen Lehren sind und in w e l cher Weise sie aus dem R o m a n gewonnen werden. A l s erstes gilt es, die Verfahrensweise der »Kommentierung« zu erhellen. Dabei muß man sich deutlich v o r A u g e n halten, daß grundsätzlich das Kapitel die Erzähleinheit ist, der sich der » K o m m e n t a r « zuwendet. Einige wenige A u s n a h m e n v o n diesem G r u n d satz gibt es, indem einzelne Kapitel stillschweigend übergangen oder indem mehrere Kapitel zugleich behandelt w e r d e n . 3 3 A u f alle Fälle aber nimmt der » K o m m e n t a r « stets nur eine begrenzte und zugleich in sich abgeschlossene Erzähleinheit in den Blick. E r tut dies, weil es ihm darum geht, aus der E r z ä h lung Exempel zu gewinnen: Simplicius erzähle » E x e m p e l « ethisch relevanter Handlungsweisen, 3 4 stelle »in seinem eigenen E x e m p e l « eine Lehre v o r , 3 ' gebe durch sein T u n das » E x e m p e l « einer Verhaltensweise 3 6 oder »bekräftige« eine

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Simplicissimus< geradezu widersprechend« getadelt werden; und v. Bülow selbst, der in der Vorrede zu seiner Ausgabe, S. X V I I , einen »schulmeisternden Stubensitzer von Gelehrten« kritisiert, welcher mit »moralischen Nutzanwendungen und Salbadereien das Buch aus dem Grunde verdorben und ohne N o t h doppelt so stark, als vorher, gemacht hat«. A n solchen Stimmen kann man sehr schön sehen, wie moraldidaktische Zwecke im 19. Jahrhundert zum Skandalon wurden. - Koschlig, Ingenium, S. 339, steht »kopfschüttelnd« vor dem »erbarmungslos errichteten« »Kommentar«. Von größtem Interesse für das Verständnis barocker Nutzanwendungen scheint mir der ebenda, S. 3 3 8f, zitierte Text zu sein. - Heßelmann, Simplicissimus Redivivus, hat - im Grunde der Anschauung verhaftet geblieben, daß der »Kommentar« als ein Beitrag zum Verständnis des Romans aufzufassen sei (vgl. z. B. S. loji) - den unserer Uberzeugung nach entscheidenden Gesichtspunkt, daß die Zusätze der Unterstützung einer auch von Grimmelshausen betriebenen Wirkungsabsicht dienen, nur am Rande behandelt (S. 91). A n mehreren Stellen wird noch bei Heßelmann einiges an Skepsis gegenüber dem Tun des »Kommentators« deutlich: S. 8of, S. 90 (»selbstgefälliger Weitschweifigkeit«), S. 95 (»fader ... Sprachstil«) und, überaus deutlich S. io8f, w o kurzerhand von »Manipulation« gesprochen wird (vgl. S. 76). So beziehen sich die Ausführungen zu Simpl. I 21 auch auf das 20. Kapitel; vgl. zu II 18, III 20, V 17, V I 8 und einige weitere. Zu Simpl. III 1, in Kellers Ausgabe Teil 1, S. 378. Zu Simpl. I 8, ebenda, S. 67. Zu Simpl. I 15, ebenda, S. 1 0 1 .

bekannte lehrhafte Sentenz »mit seinem eigenen Exempel«. 37 Das Kontinuum der Gesamthandlung wird so zu einer Kette von Exempelerzählungen. Die zusammenhangstiftende Figur des Simplicius gilt als Täter und Erzähler von Exempeln. Für die Konzeption und Ziele des »Kommentars« ist es höchst charakteristisch, daß die Herausstellung der »Exempel« nicht das angestrebte Ergebnis, sondern lediglich ein Mittel ist. Die Deutung des Romangeschehens als eine Folge von Exempeln ist der Modus, in dem aus der Erzählung der in den Vorreden versprochene Nutzen gewonnen wird. Aus der Erzählung einen Nutzen für den Leser zu gewinnen heißt, das einmalige und im Romangeschehen dem Helden Simplicius widerfahrene Geschehen so zu verallgemeinern, daß jeder Leser daraus einen unmittelbaren Nutzen erfährt. Mittel der Verallgemeinerung der einmaligen Romanhandlung ist die Deutung als Exempel. Die gewonnenen Exempel gelten dem Kommentar als Beispiele verbreiteter Handlungen und Anschauungen; mithin als Angelegenheiten, die sich nicht bloß im Roman, sondern auch im tagtäglichen Leben eines jeden Lesers ereignen. Äußeres Indiz für das Bestreben, die Romanhandlung via Exempel zu verallgemeinern, sind Formulierungen wie: »so geht es heut zu tage«, das Geschilderte sei in der Welt »im Schwang«; 38 ferner Ausdrücke wie »häuffig« und »offt« letzteres ist geradezu das Lieblingswort des »Kommentars«, der sich in seiner Erläuterung zu einem Kapitel (Simpl. II 28) nicht scheut, gleich fünfmal zu behaupten, was dort ein einziges Mal im Roman erzählt werde, das gebe es »offt« auch hier in der Welt.39 Gerade dieses Kapitel ist weithin typisch für die Verfahrensweisen des »Kommentars«. Es handelt von dem Läusekrieg nach der Schlacht bei Wittstock. Diese Episode wird nicht als eine witzige Erzählung eines besonderen unter den vielen kleineren und größeren Unglücksfällen des Simplicius betrachtet und auch nicht als genau das Element des Handlungsgefüges, in dem der Held in der für den Pikaroroman charakteristischen Weise einmal mehr seine Herrschaft wechselt und nun zu seinem sechsten Herrn und damit zugleich wiederum auf kaiserliche Seite gelangt. Uber all das wird kein Wort verloren. Das Kapitel gilt vielmehr als »Vorstellung« des Lasters der Faulheit. Diese »Thorheit« wird zu einem geringeren Teil ganz allgemein, überwiegend aber mit Blick speziell auf das Soldatenwesen kritisiert. Dort ist die Faulheit für den »Kommentator« gleich in doppelter Weise präsent. Einmal ist sie verderbliche Disziplinlosigkeit der bereits verpflichteten Soldaten. Zum anderen ist Faulheit das Movens, das junge Männer antreibt, die Last ihre bürgerlichen 37

38 3S

Zu Simpl. II 30, ebenda, S. 353; vgl. zu IV 3, S. 545; zu IV 26, S. 663; zu V 7, S. 7 1 1 ; und zahlreiche weitere Stellen. Zu Simpl. I 4, in Kellers Ausgabe, S. 50. Ebenda, S. 339.

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Daseins mit dem scheinbar so viel angenehmeren, ungebundenen Soldatenleben zu vertauschen. Indem also nicht die Läuse des Simplicius, sondern das in den Augen des »Kommentators« für die Verlausung verantwortliche Laster der Faulheit in den Blick genommen wird, gewinnt das Kapitel jene allgemeine Geltung, die allein es geeignet macht, für den Leser Nutzen zu bringen. Mit dieser Verfahrensweise gelingt es, einen moralischen Lehrgehalt aus dem Roman zu gewinnen. Der Zweck ist klar: wird das Laster der Faulheit in dieser Weise dem Leser vorstellig gemacht, so geschieht das in der Hoffnung, daß dieser auf dem Pfad der Tugend bleibe. Auf diese Weise wird auch die Ankündigung im Prolog zum 2. Buch des >Simplicissimus< eingehalten, jedem Kapitel einen »Lehr- und Vermeidungs-Spiegel« beizugeben. Besonders hervorzuheben gilt es dabei, daß die moralische Lehre nicht selbstgenügsam als Aussage des Romans konstatiert wird, sondern dem Leser eindringlich nahegebracht werden soll. Übrigens erfüllen die Schlußgedichte zu den Erläuterungen eine besonders wichtige Aufgabe, indem sie die Wirkungsmöglichkeiten der poetischen Form einbringen. Sie spitzen die Lehren des »Kommentars« auf den ethisch relevanten Punkt zu und fordern den Leser zur Besserung auf: »Meid Laster, lieb die Edle Tugend«. 40 In dieser Weise ist das Prinzip und das Ziel der Deutung zu charakterisieren. Bei der Lektüre des »Kommentars« muß freilich auffallen, daß besonders die Intensität, in der ein moralischer Nutzen herausgearbeitet wird, erheblichen Schwankungen unterliegt. Da gibt es Erläuterungen, die eher eine Paraphrase des Kapitels darstellen, solche die höchst präzise bestimmte Lehren herausstellen, und wieder andere, deren Gehalt nicht im strengen Sinn als moralisch zu begreifen ist. Die Ursache solcher Schwankungen liegt zu einem großen Teil in dem Bemühen, auf den Text Grimmelshausens verständnisvoll einzugehen - ein Text, der zwar zumindest in den Augen des »Kommentators« stets zur Herausstellung einer Lehre auffordert, dies aber doch in unterschiedlichem Grade und mit einer übrigens auch unterschiedlich großen Bedeutung der Lehre tut. Es bleibt noch die Aufgabe, die bislang lediglich beiläufig und überdies unpräzise bezeichnete Lehre, die der »Kommentar« aus dem Roman zieht, genauer zu bestimmen. Daß diese Lehre moralischer Art ist, wurde schon oft bemerkt. Wenn barocke Literatur Lehren verbreiten will - und das will sie fast stets - , dann können diese Lehren höchst verschiedener Art sein. Man denke nur an die Lehrdichtung, die bereits in der Antike mit Feldbau, Philosophie, Poetologie usw. befaßt ist. Unterhaltsame und belehrende Literatur des Barock hat deshalb keinen Grund, irgend eine Art von Lehren zu meiden. Und so gibt es denn Bücher, die mathematische Gehalte verbreiten, andere helfen, die Klippen der lateinischen Grammatik zu umschiffen, wieder anderen ist es 40

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Z u Simpl. I 34, ebenda, S. 1 8 1 .

um Fragen der Etikette und Politesse zu tun usw. usw. So stellt bereits die Bezeichnung »moralisch« einen ersten Schritt auf dem Wege zu einer exakten Bestimmung des spezifischen Lehrgehaltes dieses »Kommentars« dar. »Moralisch« sind die Lehren, deren Verbreitung sich der Kommentar verschrieben hat, insofern als sie fast ausschließlich das Ziel verfolgen, das Seelenheil des Menschen zu retten. Damit stellt sich der Grimmelshausen-»Kommentar« auf einen geistlichen Standpunkt. Immer wieder wird auf christliche Dogmen und Bibelstellen - besonders aus dem Buch Sirach, dem Buch der Lebensregeln 41 hingewiesen. Ein anderer Standpunkt ebenfalls moralischer Art und im barokken Denken nicht minder präsent ist der politische. Der Terminus »politisch« ist dabei in dem barocken Sinne zu verstehen und läßt sich mit »weltlich« gleichsetzen. Insofern bilden erst geistliche und politische Moral zusammen die Gesamtheit dessen, was menschliches Tun bestimmen soll. Auf der einen Seite geht es um das Seelenheil im ewigen Jenseits, auf der anderen um das erfolgreiche und reputierliche Betragen des Menschen nach den Richtlinien des Anstandes und der politischen Klugheit im zeitlichen Diesseits. Von politischer Moral will der »Kommentar« allenfalls in zweiter Linie etwas wissen. Das Bemühen um Hilfen zur Erlangung des ewigen Seelenheils läßt den »Kommentar« zwei nicht immer leicht trennbare, oft ineinander verschränkte Strategien verfolgen. Die erste und numerisch dominierende ist die, aus der Romanerzählung Exempel von Lastern zu gewinnen. 42 Der Roman dient demnach als literarisches Mittel zur Bekämpfung von Lastern und wird insofern als Satire aufgefaßt. Denn bei der Satire ist doch - alle Streitigkeiten um die Definition einmal zurückgestellt - eines klar, daß sie die Art der Literatur ist, der es um Bekämpfung der Laster geht. In den Augen des »Kommentars« ist der Nutzen des >Simplicissimus< der Nutzen einer Satire. Diese Auffassung läßt sich nun nicht allein aus dem Zuschnitt der Erläuterungen auf die Lasterbekämpfung hin entnehmen. Es gibt auch eine ganze Reihe anderer Hinweise. Zu einem Kapitel heißt es, daß Simplicius eine Lehre gebe, die als »satyrische Meinung« 4 3 aufzufassen sei. Die Partien im zweiten Buch des Simplicissimusromans, in denen der mittlerweile verständig gewordene Held sich zur Wahrung des eigenen Vorteils verstellt und den Narren spielt, in denen also seine erlangte, aber im Verborgenen gehaltene Vernunft die Narrheit der sich so klug dünkenden, tatsächlich aber törichten und lasterhaften Menschen bloßstellt, 41

Z. B. zu Simpl. II 23, ebenda, S. 303: »Hier zielet Simplex auff des klugen Syrachs Wort« - worauf ein Zitat der versifizierten Marginalie Luthers zu Sir. 6. 6ff folgt. In dieser oder ähnlicher Weise wird noch an vielen weiteren Stellen eine Verbindung des Romans zu diesem, gelegentlich aber auch zu anderen Büchern der Bibel hergestellt.

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In diesem Sinne zutreffend Meid, Grimmelshausen, S. 207: »Insgesamt ist der >Simplicissimus« f ü r Beer [den Meid im Anschluß an Koschlig f ü r den Verfasser des » K o m mentars« hält] eine Ansammlung von meist negativen Beispielen«. Z u Simpl. I 3, in Kellers Ausgabe, Teil i , S. 43.

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nimmt der »Kommentar« zum Anlaß, diesen ganzen Teil der Erzählung als Narrensatire zu deuten. Wenn der Held Simplex sich »närrisch stellt«, verfolge der »Author« damit dieselbe »Intention« wie in dem »gantzen Simplicianischen Werck«, nämlich andere Menschen »zur Klugheit befördern oder wenigstens darzu anreitzen«, indem er »ihre Gebrechen und Thorheiten vorstellig macht«.44 An dieser und anderen Stellen45 gilt der Roman als Satire, bei der eine sich als Narr ausgebende Figur zum Medium der Spiegelung und Bekämpfung von Torheiten und Lastern gemacht wird. An anderen Stellen werden Formulierungen und Termini zur Erläuterung herangezogen, die in zeitgenössischer Theorie Sinn, Zweck und Verfahrensweise der Satire kennzeichnen: daß Laster ausgelacht würden, daß die moralische Wahrheit verdeckt ausgesprochen werde und daß den lasterhaften Sitten ein Spiegel vorgehalten werde usw. Es gibt überdies den einen oder anderen Fall, wo der »Kommentator« der Romanschilderung seinerseits typische und in scharfem Ton gehaltene Satiren zufügt, so z. B. beim 24. Kapitel des dritten Buches, das ein Exempel des Lasters Geiz ist. Bedenkt man nun, daß auf dem Titelblatt des ersten Bandes der Gesamtausgabe angekündigt ist, hier werde «lachend / was wahr ist / gesagt«, daß also an exponierter Stelle jene berühmte, von Horaz geprägte (Sat. I 1, 24), bereits im Titel der >SimplicissimusSimplicissimus< nicht minder deutlich als die Bejahung der Welt auf dem Hintergrund protestantischer Anschauungen im »Kommentar«. A n d e r s aber als Meid, der v o r allem den »Teufelglauben« als Indiz f ü r die protestantische Einstellung des »Kommentators« nimmt, 5 5 damit freilich keine Vorstellung benennt, die tatsächlich auf Protestanten beschränkt oder dort auch nur besonders ausgeprägt, sondern die vielmehr (trotz beginnender Kritik) im B a r o c k noch allenthalben anzutreffen ist, 5 6 sehen w i r besonders in den Einsiedeleien die Kristallisationspunkte v o n Spannungen zwischen » K o m m e n t a r « und Roman. Dabei 51

Die vorherrschende Perspektive legt für das Kapitel Simpl. II 30 eine Deutung als Exempel der Hoffart nahe, doch der »Kommentar« lobt den Dragoner und erörtert, wie Ehrgeiz und Soldatenehre zusammenhängen. Zu Simpl. II 8 macht er den recht krampfhaften Versuch, den immer mehr den Lastern verfallenden Simplicius dennoch als positives Beispiel zu sehen. Zu Simpl. II 29 werden die Soldaten gelobt, obwohl das Romankapitel, sofern man wiederum die sonstige Übung des »Kommentars« zugrundelegt, eher Faulheit, Geiz und Weltliebe exemplifiziert. Vgl. auch die Ausführungen zu Simpl. V I 15 sowie zu einer freilich geringen Zahl weiterer Kapitel. So z. B. der Kommentar zu Simpl. I 4 (bei Keller, Teil 1, S. 50), w o der Überfall der Soldaten auf den Hof des Knan als »Warnungs-Spiegel für Eltern, welche ihre Kinder, wie die wilden Bäume aufwachsen, und ohne Zucht und Furcht groß werden lassen« aufgefaßt wird (vgl. auch zu Simpl. I 8, ebenda, S. 67). Während der »Kommentator« Grimmelshausen auf seiner Seite hat, der ja schrieb: Gott »straffte« mit dem Überfall »Knan und Meüder / andern zum Exempel / wegen ihrer liederlichen Aufferziehung« des Simplicius (Simpl. S. 17), haben viele Stimmen des 20. Jahrhunderts den Realismus der Schilderung hervorgehoben oder Grimmelshausens Parteinahme für sozial unterprivilegierte Bauern, die der Willkür herrschender Schichten ausgesetzt waren, betont.

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Alewyn, Rez. G . Herbst, Die Entwicklung des Grimmelshausenbildes, S. 320. Meid, Grimmelshausen, S. 206 u. S. 208. S. 206. Die Schlußfolgerung kann ich umsoweniger nachvollziehen, als die Existenz des Teufels für alle christlichen Konfessionen im Barock unstrittig ist. Unten wird uns der Teufelglaube des Katholiken Procop von Templin begegnen. Der Kapuziner hielt Grimmelshausens >Courasche< für ein Buch, aus dem man vieles über

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,6

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handelt es sich um ein Symptom für die im folgenden noch unter Hinweis auf Procop von Templin auf der einen und Luther sowie den Lutheraner V. Herberger auf der anderen Seite zu ererörternden Spannungen konfessioneller Art (s. u. S. 6if). Wo immer der »Kommentator« auf Eremiten trifft, sind sie ihm Anlaß zu einer skeptischen Äußerung oder gar offener, teilweise scharf ausfallender Kritik. Das gipfelt in direkten Aufforderungen: »Man werd kein Eremit, so ja man Gott wolt dienen«;' 7 das erreicht auch die Polemik gegen genau das, was ein weltabgekehrtes Leben in der Einöde nach katholischer Überzeugung und dem Beispiel vieler Heiligenlegenden zu erlangen garantiert: »Einsidel-Leben, Stand und Orden, / Hebt keinen nicht in Himmel nauff«.' 8 Da gibt es dann auch gelegentliche Seitenhiebe auf das Mönchswesen: »Das Kleid kan keinen heilig machen / Sey München- oder Nonnen-Kutt«. 59 Immer wieder gesteht der Kommentar zwar die Verderbtheit der Welt zu, bestreitet aber im gleichen Atemzug Notwendigkeit, Sinn, Berechtigung, ja sogar Zulässigkeit der Weltentsagung. Eremitentum gilt als Gleisnerei. 6 ° Schon die Polemik gegen das Eremitentum enthält unverkennbar ein konfessionelles Moment, da katholische Anschauungen berührt werden. Eine Bestätigung findet die sich solcherart andeutende konfessionelle Spannung durch gelegentliche Ausfälle gegen das Mönchtum - nach katholischer Anschauung eine dem Vorbild des Eremiten Antonius nachgebildete Institution - und Stellen wie die Erläuterung zum 9. Kapitel des ersten Buches, wo der Einsiedel, der hier einmal als Lehrer des Simplicissimus Lob erfährt, mit Paulus, der Autorität des Luthertums verglichen wird. 6 ' Die Katholiken Procop und Grimmelshausen ziehen den Vergleich mit dem »grossen Anthonius« (Simpl. S. 22) vor und wollen von Paulus wenigstens in diesem Zusammenhang nichts wissen. An diesen Stellen erfährt der Roman eine Umdeutung, die dem Leser nahelegt, zumindest kritische Distanz gegenüber den Schilderungen des Eremitenlebens zu bewahren. Da Einsiedler und Eremitentum eine erhebliche Rolle im Simplicissimusroman spielen - diese reicht vom Einsiedel (dem Vater des Simplicius), der Wallfahrt mit Herzbruder nach Einsiedeln, der Eremitage das Wirken des Teufels erfahren kann, und würdigte auch die Episode mit der Teufelserscheinung in der >Continuatio< (Simpl. V I 20) (Encaeniale, S. 833a). " 58

Z u Simpl. V 1, in Kellers Ausgabe, Teil 1, S. 829. Z u Simpl. I 29, ebenda, S. 1 2 1 - unnötig daran zu erinnern, daß im 17. Jahrhundert (ähnlich wie im Mittelalter) in der deutschen Sprache die Bildung der Litotes nicht oder zumindest nicht selbstverständlich erfolgte. Die doppelte Verneinung verstärkt hier die Negation.

>» Ebenda. Vgl. zu Simpl. V 1, ebenda, bes. S. 675 u. ö. - zu entsprechenden Partien im sechsten Buch schweigt der - dort ohnehin allmählich immer magerer ausfallende - » K o m mentar«. 6 ' Ebenda, S. 72. 60

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im Schwarzwald zum Abschluß des fünften Buches bis hin zum Einsiedlerleben auf der Insel - , tut sich hier eine erhebliche Kluft weltanschaulicher Art auf. Der »Kommentator« bezieht, wie es für einen Nürnberger nicht ungewöhnlich ist, die lutherische Position, und Grimmelshausen, der zur Zeit der Abfassung des >Simplicissimus< längst zur katholischen Konfession konvertiert war und in den Diensten des Straßburger Bischofs stand, neigt eben der Religion zu, die von verschiedenen Rezipienten des Barock und 18. Jahrhunderts als Signum seines Romans erkannt wurde.

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K A P I T E L 4:

Johann Ludwig Hartmann: Grimmelshausen als Autorität gegen den »sündlichen Aberglauben«

Mit Hartmann (1640-1680) 1 tritt uns ein ausgesprochen gebildeter Leser und Rezipient Grimmelshausens entgegen; Hartmann verfügte über eine solide Bildung, promovierte in Wittenberg zum Magister und wurde später Doktor der Theologie. Sein beruflicher Werdegang ist typisch für viele Theologen des Barock. Einer Anstellung als Prediger folgte die Berufung zum Direktor eines Gymnasiums und schließlich zum Superintendenten in Rotenburg o. d. Tauber. Mit Spener verband ihn eine durch überlieferte Briefe dokumentierte Freundschaft. Als Verfasser verschiedenartiger theologischer und satirischer Schriften verschaffte er sich ein erhebliches Ansehen und ein breites Publikum, zu dem auch Sigmund von Birken zählte, der sich nach Ausweis seines Tagebuches am Neujahrsmorgen des Jahres 1676 mit Hartmanns >Herzpostille< erbaute.2 Ein größerer Teil des Werkes von Hartmann besteht aus Büchern, die sich in die Tradition der vom Protestantismus des 16. Jahrhunderts getragenen Gattung der Teufelbücher stellen. Sie heißen >Alamode-TeuffelSpiel-und-Sauff-TeuffelTanz- und Praecedenz-TeuffelNeue Teufelstücklein< usw. Hartmann hat ein gutes Dutzend dieser Bücher geschrieben, die sich getreu der Tradition der Teufelbücher gegen Laster wenden, die als Ergebnis teuflischer Umtriebe und Verlockungen das Seelenheil der Menschen gefährden. Zu dieser Gruppe seines Werkes will Hartmann auch seine letzte, 1680 erschienene Schrift, >Greuel des SegensprechensGalgenmännlein< von 1673 (Kleinere Schriften, S. 7 3 - 1 0 9 ) bedient. 4 Hartmann nennt seine Quelle an zwei Stellen, 5 zieht sie aber entschieden häufiger heran. Lediglich zwei der fünf Kapitel dieses zweiten Teils, nämlich das dritte, das die geistliche Begründung der »Notwendigkeit, den Gebrauch des Galgenmännlein zu vermeiden«, und das fünfte, das die bei Grimmelshausen nur beiläufig angeführten 6 und in Hartmanns Augen irrtümlich mit der Alraune identifizierten »spiritus familiares« oder »Geheim-Geister« behandelt, verzichten auf Zitate. Dagegen bezieht Hartmann alle Informationen für das erste Kapitel (»Von Alrauns Gebrauch«) aus dem >GalgenmännleinThorheitGelehrtenlexikon< (Art. Fromschmidt, Bd. 2, Sp. 786 und Bd. 4, Sp. 614). Freilich irren Jöcher und alle, die ihm folgen, wenn sie annehmen, hinter dem Pseudonym >Israel Fromschmidt von Hugenfelß< (so auf dem Titelblatt des >Galgenmännlein S. 3 1 7 und S. 338. Galgenmännlein, S. 104. 7 Hartmann übernimmt f ü r dieses Kapitel S. 3 1 5 den Text des >GalgenmännleinGalgenmännleinGalgenmännleinGalgenmännleinGalgenmännleinGalgenmännlein< wichtigsten Quelle, J. Praetorius' >Anthropodemus plutonicus< (1666-1667), anführt.9 Im zweiten Kapitel, das die »Abscheulichkeit dieses Teufels-Stücklein« mit geistlichen Argumenten und einem um der affektischen Wirkung willen gesteigerten Stil dem Gemüt der Leser nahebringen will, zitiert Hartmann einen Abschnitt, in dem Grimmelshausen selbst die Abscheulichkeit dieses Lasters in geradezu erbaulicher Art und Weise darlegt. 10 Das vierte, mit »Diebs-Daumen« beschäftigte, teils auf Hartmanns eigenen Erfahrungen beruhende Kapitel zitiert »etliche Exempel zum Abscheu« aus dem >GalgenmännleinGalgenmännleinGalgenmännleinDer abentheuerliche G l ü c k s t o p f s 1669, diente Grimmelshausen ebenfalls als Quelle f ü r sein >GalgenmännleinGalgenmännlein< den Text S. 78, Z . 22 - S. 79, Z. 26 wörtlich. Hartmann, S. 3 3 8 - 3 4 2 , übernimmt meist wörtlich >GalgenmännleinGalgenmännleinHistoria animaliumAlraun< im Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens, hrsg. von H . Bächtold-Stäubli, 10 Bde, Berlin 1 9 2 7 - 1 9 4 2 , Bd. 1, Sp. 3 1 2 f f , als wichtige antike Quelle hervorgehoben.

sondern auch geistliche Argumente zur Vermeidung von Lastern und »etliche Exempel zum Abscheu« 1 3 übernimmt, ja sogar eine Passage mit geradezu erbaulicher Tendenz' 4 zitiert, bezeugt er, daß Grimmelshausen mit diesem Thema in ähnlicher Weise wie ein Prediger verfährt, wenn sich dieser an ein breites Publikum wendet. In der Literaturgeschichtsschreibung galt Grimmelshausen lange Zeit als volkstümlicher Autor, als ein Bauernpoet. Damit verband man die Vorstellung, daß er, ungebildet wie er war, den Stimmungen des einfachen Volkes Ausdruck verlieh und eigentlich nur dort sein Publikum finden konnte. Diese Vorstellung hatte kaum jemals die geringste logische Berechtigung auf ihrer Seite, dafür aber eine breite, letztlich in der Romantik wurzelnde Tradition hinter sich. Seit einigen Jahrzehnten sieht man diese Thesen nur noch mit Distanz. Damit aber stellt sich das Problem, wie Grimmelshausens Schriften denn nun einzuordnen sind. Die Rezeption durch Hartmann gibt uns einen Hinweis. Was der Theologe im >Galgenmännlein< findet, kommt ihm deshalb wie gerufen, weil es der Haltung und der Argumentationsweise entspricht, die Gebildete immer dann einnehmen, wenn sie den gleichen Zweck verfolgen und das gleiche Publikum wie Grimmelshausen ansprechen wollen. Das wiederum heißt nichts anderes, als daß die Trennung gelehrte versus ungelehrte Literatur, deren »fundamentum in re« nicht von der Hand zu weisen ist, viel weniger mit dem Bildungsstand des Autors zu tun hat als mit den Zwecken, die er zu erreichen sucht, und dem Publikum, das er ansprechen will. Kurz: der Gelehrte schreibt je nach Anlaß und Ziel gelehrt oder »volkstümlich«. Er verleiht nicht seiner Geisteshaltung Ausdruck, sondern versucht, mit verschiedenen Mitteln verschiedenartige Ziele zu erreichen. Aus diesem Grunde müßte es wohl entschieden mehr darum gehen, die Gemeinsamkeiten zu betonen, die zwischen den beiden Schriften Grimmelshausens und Hartmanns bestehen, als auf den Unterschieden in der Biographie und in der Bildung der Autoren zu insistieren. Hartmanns Quellenbenutzung ist geeignet, darauf aufmerksam zu machen, daß der Aberglaube zumindest dieser speziellen Art selbst von gebildeten Theologen als Wirken des Satans begriffen wird, daß diese Anschauung nicht allein Sache einer in der mittelalterlichen Vorstellungswelt verharrenden Bevölkerungsschicht ist und daß sich Grimmelshausens Schrift offenbar gut in die moralisch-belehrende Zweckliteratur des Barock einfügt. Die Perspektive des Rezipienten läßt sich schärfer konturieren, wenn man sich einmal das vor Augen führt, was Hartmann unberücksichtigt läßt. Allgemein gesprochen ist dies die literarische Form. Grimmelshausens >Galgenmännlein< besteht aus Briefen, die der alte Simplicissimus an seinen Sohn schreibt, sowie aus »AnmerckunI} 14

Hartmann, >Greuel des SegensprechensGalgenmännleinGalgenmännlein< stets als »Traktätlein« 15 bezeichnet, greift damit zwei literarische Techniken mit langer Tradition auf: die Form des Briefes und die der fiktiven Herausgeberschaft angeblich authentischer Dokumente. 16 Von all dem nimmt Hartmann keine Notiz. Er exzerpiert den Gehalt der Schrift unter Wegfall aller formalen und literarischen Eigenheiten. Deshalb berücksichtigt er auch Grimmelshausens Absicht nicht, die Reformbestrebungen einiger »Sprachhelden« dadurch satirisch bloßzustellen, daß Simplicius in den Briefpassagen das »e« elidiert und »sagn« statt >sagenBesitzer< schreibt. 17 Hartmann löst also einen Teil des Gehaltes heraus, übergeht andere Zwecksetzungen, gewiß der Unterhaltung dienende formale Eigenheiten und überführt den adaptierten Gehalt in eine andere Form. Hartmann rezipiert nur eine einzelne und zudem nicht die bedeutendste Schrift Grimmelshausens, er nimmt aber wegen des im ganzen Werk immer wieder vorkommenden Themas der abergläubischen Praktiken 18 keinen völlig nebensächlichen Aspekt in den Blick. Im übrigen weist der Modus von Hartmanns Rezeption interessante Gemeinsamkeiten mit anderen Zeugnissen auf. Das gilt schon für mancherlei Übereinstimmung von Procop und Hartmann: zwei Theologen greifen auf Schriften Grimmelshausens zurück, um Sünden zu bekämpfen; beide heben »Exempel« aus seinen Schriften heraus. J. Praetorius um nur ein weiteres Beispiel herauszugreifen - hat aus dem >Satyrischen Pilgram< Grimmelshausens in gleich zweien seiner vielen, meist wundersame Ma>GalgenmännleinTeutscher Michels S. 59. Vgl. Hartmann, >Greuel des SegensprechensGalgenmännleinTeutschen MichelVogelnestSimplicissimusAnthropodemus plutonicusGalgenmännlein< sogar einmal in einer lateinisch geschriebenen Schrift (>Philologemata abstrusa de polliceAssenatKeuschen Joseph< intensiv als Quelle herangezogen, 23 sondern in den »Kurtzbündigen Anmärkungen« zu seinem Roman auch an etwa einem Dutzend Stellen auf Grimmelshausen Bezug genommen. 24 Das mag 19

Z u dem wenig beachteten Praetorius liegt mittlerweile die sich im Biographischen und Bibliographischen erschöpfende Dissertation vor von Helmut Waibler, M . J o h a n n e s Praetorius, P.L.C. Bio-bibliographische Studien zu einem Kompilator curieuser Materien im 17. Jahrhundert, Frankfurt a.M./Bern/Las Vegas 1979 (Europäische H o c h schulschriften, Reihe 19, 15).

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Praetorius, Anthropodemus plutonicus, Vorrede zum 2. Teil. S. 144. Daß auf Grimmelshausens Schrift auch bei der sachlichen Erörterung der Alraune zurückgegriffen wird, daß er nicht nur einer literarischen, sondern auch einer sachorientierten Schrift als Quelle dient, muß umso mehr auffallen, als auch aus der Feder berühmter Gelehrter Abhandlungen vorlagen, die alle Gesichtspunkte der Alraune systematisch und unter Verwendung zahlreicher alter Quellen erörterten. Z . B. J a c o b Thomasius, Disputatio Philologica de Mandragora. Von der Alraun-Wurtzel [zuerst als Dissertation in Leipzig 1655], Halle/Magdeburg 1 7 3 9 (Exemplar der U B Marburg), bes. S. 17ff.

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Z u r Benutzung von Grimmelshausens >Joseph< durch Zesen s. Meids N a c h w o r t zu seiner Ausgabe der >AssenatJoseph< und sein unverhofftes Weiterleben, S. 3 88ff. In Meids Neuausgabe leicht über das Register zu ermitteln; das Anführen der Seitenzahlen erübrigt sich hier. - Die tatsächlichen Ubernahmen aus Grimmelshausens R o man sind (was Meid deutlich macht) umfangreicher als von Zesen selbst in den A n merkungen zugestanden.

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letztlich den ganz simplen Grund haben, daß unser Autor der erste war, der nach einer älteren Tradition der Behandlung des Joseph-Stoffes in dramatischer Form - einen Roman mit diesem Thema vorlegte. Interessant sind die Details. Zesen führt Grimmelshausen meist als Gewährsmann, Beleg, Quelle oder Verfasser einer Schrift mit zuweilen ergänzenden, weiterführenden Ausführungen an. Gelegentlich gilt er auch als Vertreter einer von Zesen zwar nicht geteilten, zugegebenermaßen aber auch von Augustin, Vossius u. a. verbreiteten Auffassung historischer Sachverhalte. 2 ' Kritisiert wird Grimmelshausen an drei Stellen26 - und dies, weil er entgegen historischer Fakten berichte. Bei all dem sieht Zesen in Grimmelshausens Roman stets eine respektable Schrift. Auch in dem Kriterium der Beurteilung - daß nämlich ein Roman mit dieser Thematik danach trachten muß, die historischen Sachverhalte genau und korrekt wiederzugeben - ist er sich mit unserem Autor einig. Das zeigt sich vor allem in Grimmelshausens Replik auf Zesens Polemik im ersten Teil des >VogelnestSimplicissimus< und der >Courasche< in einer anspruchsvollen romantheoretischen Schrift, die 1703 sogar einmal als Dissertation verwendet wurde, strebt nicht die Disqualifizierung unseres Autors an. Georg Pasch, der 1707 eine größere Anzahl der unter seinem Präsidium verteidigten Dissertationen zu seinem Buch >de variis modis moralia tradendi< zusammenfaßte, wendet sich dabei auch deutschen »fabulae romanenses«, also Romanen, zu. Da heißt es: »de Dn. ab Hohberg >Proserpina< atque >Ottoberto< & Dieterici ä Werder >Dianea< longum sermonem hic non instituam. Sic 2

> Zesen, Assenat, S. 408. Ebenda, S. 394^ S. 404, S. 442L

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Vogelnest, S. 9 9 - 1 0 4 . - V. Meid hat im N a c h w o r t zu seiner Assenat-Ausgabe treffend festgestellt, daß die gegenseitige Kritik jeweils darauf abzielt, den Wert der Quellen des anderen zu vermindern und die Bedeutung der eigenen Quellen zu erhöhen. G e rade dies aber setzt die Ubereinstimmung in dem Punkt voraus, daß historische Treue einer der wichtigen Wertmaßstäbe eines solchen Romans ist. Thomasius, Monatsgespräche, B d . 1, S. 6 0 - 6 1 . Vgl. Thomas Bürger, D e r >Keusche Joseph< und sein gefährdeter Leser, in: Simpliciana 1 (1979), S. 7 9 - 8 2 .

vocatus >SimplicissimusTrutz Simplex< simplicitate sua vulgo se se commendant«.29 Ganz leicht macht Pasch uns das Verständnis dieser Bemerkung nicht, sind doch >Ottobert< und >Proserpina< bekanntlich Epen, mithin Werke durchaus andersartigen Zuschnitts als ein Roman vom Schlage des >SimplicissimusDianea< (1644) mittels einer »praeteritio« weniger Raum gewidmet wird als Grimmelshausens Romanen, und die Feststellung, deren Charakter habe ihnen Beliebtheit verschafft, für die nötige Klarheit sorgen. Hier, wie im Grunde auch bei Hartmann, Praetorius, Zesen und anderswo, wird von verschiedenen Schriften Grimmelshausens Notiz genommen, ohne daß auch nur eine Spur von dem Urteil zu bemerken wäre, was die Rezeption unseres Autors seit dem 19. Jahrhundert so stark prägte: seine Geltung als ungebildeter Volksdichter. Im Barock, w o die Feststellung mangelnder Bildung die Disqualifikation bedeutet hätte, nahm man seine Texte (obwohl nicht jeder sie schätzte) durchaus ernst. Sie fügen sich offenbar bruchlos in den Kreis jener Schriften ein, die sich an ein größeres Publikum in unterhaltsam-belehrender Absicht wenden. Dieser Absicht dient auch eine Predigtsammlung Prokops von Templin, in der intensiv auf den >Simplicissimus< zurückgegriffen wurde.

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S. 1 9 9 - 2 0 0 . Im Jahre 1703 hat Pasch, der in Kiel Professor war, diese von ihm selbst verfaßte Schrift unter dem Titel >De fabulis romanensibus< durch J a c o b Volckmann als Dissertation unter seinem Präsidium verteidigen lassen (vgl. dazu Romantheorie. Dokumentation ihrer Geschichte in Deutschland 1 6 2 0 - 1 8 8 0 , hrsg. v. Eberhard L ä m mert u. a. Köln/Berlin 1 9 7 1 (Neue Wissenschaftliche Bibliothek, 41), S. 370 N r . 35 und S. 3 7 1 , N r . 40). Paschs 726 Quart-Seiten umfassendes Werk ist offenbar aus einer ganzen Reihe von Dissertationen zusammengestellt, die sich gewiß nicht zufällig zu einem größeren Thema zusammenfügen ließen. Vgl. dazu den A u f s a t z von W. Biesterfeld und unsere Hinweise auf Paschs Theorie der Satire (s. u. S. 92, A n m . 19). - Peter Heßelmann hat neuerdings darauf aufmerksam gemacht, daß der A r z t und Romanautor Johann Christoph Ettner zumindest Grimmelshausens >Simplicissimus< und >Vogelnest< kannte: s. Heßelmann, Z u r Rezeptionsgeschichte Grimmelshausens im Spätbarock: Das Werk Johann Christoph Ettners, in: Simpliciana 1 2 (1990), S. 2 2 9 - 2 6 6 . Vgl. jetzt auch ders., Simplicissimus Redivivus, S. ijS{{. Damit scheint mir ein weiteres Zeugnis dafür aufgetaucht zu sein, daß Grimmelshausens Schriften auch Gebildeten zusagten.

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Kapitel 5: Procop von Templin: D e r >Simplicissimus< als Roman mit moralischen und geistlichen Lehrgehalten

In Predigten des 1 7 . Jahrhunderts ist es üblich, neben vielen anderen sündigen, aber verbreiteten Verrichtungen der Menschen auch die Lektüre verderblicher weltlicher Bücher zu kritisieren. A n t i k e A u t o r e n werden dabei seltener, 1 v o l k s sprachliche Dichtungen gelegentlich und am häufigsten w o h l Volksbücher genannt. 2 Solche Bücher seien wegen ihres

lustig-annehmlich-unterhaltsamen

Charakters verbreitet, trügen aber keinerlei oder viel z u w e n i g N u t z e n in sich, hielten den Leser v o n wichtigeren Beschäftigungen ab und verleiteten ihn w o möglich gar noch z u Lastern wie Buhlerei, da die A u t o r e n so überaus gern v o n Liebeshändeln schrieben. D a m i t insistieren die Prediger auf einer engen Verbindung der beiden im 1 7 . Jahrhundert ganz selbstverständlich geltenden literarischen Kategorien des »prodesse« und »delectare«. »Delectatio« ohne »utilitas« verfällt ihrer Kritik, 3 während sie auch wissen, daß »utilitas« ohne »delectatio« Ü b e r d r u ß hervorruft und keine Leser findet.

' So z. B. bei Christoph Selhamer, Tuba Analogica, Teil 1, S. 153. S. dazu beispielsweise folgende Stellen: Procop von Templin, Adventale, S. 1029 b, w o sich der Kapuziner auf die in diesem Zusammenhang immer wieder herangezogene Bibelstelle 2. Tim. 4 , 3 - 4 beruft; Selhamer, Tuba Analogica, S. 155, vgl. S. ioöff; s. auch die Hinweise bei Philip Brady, Grimmelshausen und die Prediger, in: Simpliciana 6/7 (1985), S. 8 1 - 9 8 , S. 86; Urs Herzog, Der Roman auf der Kanzel, ebenda, S. 9 9 - 1 1 0 , S. 99; Bonaventura von Mehr, Das Predigtwesen in der kölnischen und rheinischen Kapuzinerprovinz im 17. und 18. Jahrhundert, R o m 1945, S. 28, S. I03ff; sowie die kaum jemals analysierten, allerdings zahlreichen Zitate alter Quellen bei Hildegard Beyer, Die deutschen Volksbücher und ihr Lesepublikum, Diss. Frankfurt 1962, w o anhand der meist negativen Urteile über eine besonders unterhaltsame Literaturform das hier angedeutete Phänomen auch über den engeren Bereich der katholischen Predigt hinaus zu verfolgen ist. 3 Es ist das Verdienst der äußerst aufschlußreichen Arbeit von Joachim Suchomski, »Delectatio« und »Utilitas«. Ein Beitrag zum Verständnis mittelalterlicher komischer Literatur, Bern/München 1975, einläßlich darauf hingewiesen zu haben, daß seit der Spätantike einer der Hauptansatzpunkte der Kritik an poetischer Literatur in ihrem Unterhaltungswert lag, daß mithin »delectatio« vor allem dann, wenn sie als Scherz und Aufforderung zu Gelächter konzipiert war, oft mit äußerster Skepsis betrachtet wurde. Suchomskis Studie ist zwar dem (lateinischen) Mittelalter gewidmet, beweist aber schon durch einen gelegentlichen Ausflug ins Barock, der geradewegs zu Grimmelshausens >Springinsfeld< (Kap. 3) führt, daß im 17. Jahrhundert noch nicht alles ganz anders als im Mittelalter geworden ist. Dafür, daß ein Grundbestand an Skepsis 2

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Nun sind sich die Prediger zwar im Prinzip einig, doch darum machen sie von diesem Prinzip nicht alle den gleichen Gebrauch. Die einen - Christoph Selhamer dient uns als Exempel - nehmen die rigide Haltung ein, stützen sich auf all die Argumente, die immer wieder seit der Spätantike gegen weltliche, gegen nicht streng geistliche, womöglich gar noch betont unterhaltsame Literatur vorgetragen wurden, und verdammen die meisten literarischen Erzeugnisse. 4 Vertretern dieser Richtung ist dann auch der »bekandte Simplicissimus« 5 suspekt. Die anderen - der Benediktiner Ignatz Trauner ist hierfür unser Beispiel - urteilen »liberaler« und differenzierter. Sie geben dem Unterhaltungsbedürfnis des Publikums mehr Raum, erzählen deshalb in ihren Predigten auch antike und mittelalterliche Historien sowie Legenden und nehmen nicht einmal von Ovidzitaten Abstand. 6 Aus dieser Gruppe kommen dann Belege dafür, daß sich Prediger schon einmal von volkssprachlicher Literatur oder sogar einem regelrechten Volksbuch das Wort geben lassen. So berichtet Trauner, er habe »einsmals gelesen von dem berühmten Schwarzkünstler Doctor Fausto«, 7 und fügt eine Episode aus dem Volksbuch seiner Predigt ein. Daß der berühmte Kapuzinerprediger Procop von Templin ( 1 6 0 9 - 1 6 8 0 ) eindeutig der liberalen Gruppe der Prediger zuzurechnen ist, muß bezweifelt werden. Den Anschein könnte es zunächst haben, wenn er 1671 in seiner Predigtsammlung >Encaeniale< ausgiebig vom >Simplicissimus< Gebrauch macht. Aber diese Sammlung stellt in den Augen des Predigers einen mehr oder weniger einmaligen Sonderfall dar, der allein es rechtfertigt, in erkennbar höherem Maß als üblich unterhaltsame Historien und Exempel zu verwenden. Dazu gibt ihm der Gegenstand des >Encaeniale< - Kirchweihpredigten - den Anlaß. Dieser Festtag sei eine »gar Freudenreiche Solennitet«, weshalb der Prediger sich hier einmal und ganz anders »als etwa in meinen andern bißhero ans Liecht gegebenen Büchern« »etwas lustiger erzeige«. 8 Die Vorrede handelt von nichts anderem und führt diesen Gedanken in aller Breite aus. Doch wird Procop sowohl in der Vorrede wie auch im Text 9 nicht müde zu betonen, daß er

gegen »delectatio« auch weit über das Mittelalter hinaus noch Gültigkeit hatte, spricht neben den hier angeführten wenigen Belegen auch, daß die Skepsis ihre Begründung und ihre Wirksamkeit - wie Suchomski sehr schön zeigt - aus Vorstellungen des Christentums gewinnt. Eine genauere Untersuchung des Problems der Skepsis gegenüber »delectatio« anhand humanistischer und barocker Quellen scheint mir ein Desiderat zu sein. 4

Selhamer, Tuba Analogica, Teil 1, S. 1 $3, S. 1 5 5 , vgl. S. ioöff. ' Selhamer, Tuba tragica, 1696, Teil 2, S. 174 - zitiert nach Herzog, D e r R o m a n auf der Kanzel, S. 99. 6 Ignatius Trauner, Geistliche Seelen-Jagd, S. 90, S. 150, S. 162, S. 178 u. ö. 7 Ebenda, S. 6. 8 Encaeniale, Praefatio ad Lectorem. ' Z. B. S. 965.

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gerade bei der hier einmal größeren Offenheit für Unterhaltung den Nutzen seiner Predigten nicht aus den Augen verliere. Der besondere Anlaß dieser Predigtsammlung ist also der Grund, mehr als üblich Historien und Exempel zu verwenden und diese vielleicht auch einmal aus anderen Quellen als üblich zu gewinnen. Die Aufgabe einer Predigt aber verhindert, daß wahllos und unterschiedslos zu irgendwelchen Schriften gegriffen wird. Procop benutzt denn auch neben den für Predigten üblichen Quellen - es sind die Bibel, Schriften der Kirchenväter, Historiographen, Legenden, einschlägige Kompendien, andere Predigten usw. - nur einen einzigen weltlichen Dichter des 17. Jahrhunderts: Grimmelshausen. Diese Tatsache, daß dieser eine Schriftsteller als Quelle für Predigten herangezogen wird, während so viele andere Romane und Volksbücher übergangen oder sogar mit Kritik bedacht werden, 10 muß als Indiz dafür gelten, daß der >Simplicissimus< in Procops Augen ungewöhnliche Qualitäten und Eigenschaften hat. Die Art und Weise, wie er von seiner Quelle Gebrauch macht, gibt uns Hinweise auf die Qualitäten, die er dem Roman abgewinnt." Die Benutzung des >Simplicissimus< beginnt ohne Angabe der Quelle am Ende der 5. Predigt mit der unveränderten und kommentarlosen Wiedergabe des Nachtigallenliedes (»Komm Trost der NachtPatrociniale< (1674) berichtet.' 3 Dieses Lied mit ausgeprägt geistlicher Thematik erscheint dem Prediger mithin durchaus passend für eine Predigtsammlung und das heißt auch passend für die Zwecke einer Predigt. Wenn es aber kommentarlos erbaulichen Wirkungszwecken dienen kann, dann ist Procops Rezeption Anlaß zu der Frage, ob und inwieweit sich diese Zwecke mit den Absichten decken, die Grimmelshausen in seinem Roman und mit der Einfügung dieses Liedes verfolgte. Bereits die Übernahme des Liedes in eine der ersten Predigten zeigt die Perspektive, unter der Procop den Roman liest: vor allem Passagen mit geistlich-religiösen Zügen gilt seine Aufmerksamkeit. An verschiedenen Stellen des >Encaeniale< dienen Erzählungen aus dem >Simplicissimus< als Exempel für die Argumentation der Predigt. Procop greift in der 20. Predigt, die sich u. a. mit Entehrungen der Kirche und Mißbräuchen des Kirchganges beschäftigt, auf eine Stelle aus der Olivier-Episode (Simpl. IV, 10

Beispielsweise in Procops >AdventaleEulenspiegel< gewettert wird. " Den oben angeführten Arbeiten von Brady und Herzog kommt das Verdienst zu, nach früheren, aber unbeachtet gebliebenen Hinweisen erneut und nachdrücklich auf die Heranziehung des >Simplicissimus< in den Predigten Procops aufmerksam gemacht und alle Stellen dokumentiert zu haben. 12 Encaeniale, S. $6f. 13 Brady, Grimmelshausen und die Prediger, S. 93, mit einem Zitat aus der mir nicht zugänglichen Sammlung Procops.

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Kap. 1 4 - 2 5 ) zurück. Olivier benutzt einen Kirchturm, um nach Beute Ausschau zu halten. Er mißachtet die Einwände des Simplicius, daß ein »Gott gewidmeter Ort nicht dergestalt zu beflecken sey« (Simpl. S. 342). Procop referiert aus der Bibel, daß falsche Gläubige das »Bet-Hauß« zur »Mörder-Grube« machten. Genau dafür gebe es jetzt ein »frisches Exempel«, das sich erst »vor wenig Jahren / da der Ternsche Krieg im Elsas war«, ereignete: »Ein grausamer Ertz-Mörder [Olivier] versteckte sich bey der Pfarr-Kirchen im GlockenThurn [...]. Diesen ermahnete seiner vertrauter Gespan [Simplicius] / der dennoch ein wenig was besser war«, davon abzulassen. 14 Procop schließt daran ein längeres, meist wörtliches, hauptsächlich durch eine eigens begründete Auslassung verändertes Zitat aus dem >SimplicissimusSimplicissimus< führt 1684 zu diesem Kapitel (Simpl. IV, Kap. 17) aus: »Die Art und Eigenschafft der ruchlosen Gleißnerey und Scheinheiligkeit, oder geistlichen Hoffart, welche heut zu Tage bei der Politischen Welt floriret und im Schwang gehet, wird allhier vorgestellet, und vom Simplex gar fein beschrieben«. 16 Und wie der Prediger das Romankapitel zum Anlaß für Ermahnungen an die Zuhörer nimmt, so ist auch dem »Kommentator« der Text Anlaß für Ermahnungen an seine Leser: »Es flieh, als Gifft 14 I!

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Procop, S. 223 b - 224 a. Das Zitat aus dem >SimplicissimusEncaeniale< auf den Seiten 224 a bis 22 j b. Ausgelassen wird die Passage Simpl. S. 344, Z. 1 7 - 2 2 , in der von einem Blutbad berichtet wird, das zwei Geistliche »in einer Kirch nur deß Vorsitzes halber« anrichteten. Vgl. zum Hintergrund Breuers Kommentar zur Stelle, in seiner Ausgabe, S. 929, wo von einem Vorfall aus dem Jahre 1063 berichtet wird, der in Grimmelshausen zugänglichen barocken Quellen mehrfach berichtet wird. Procop begründet die Auslassung mit der Notwendigkeit, mögliche Irritationen zu vermeiden: »propter vitandum scandalum darff ich mehr nicht fürbringen!« (S. 225 b). In Adelbert von Kellers Grimmelshausen-Ausgabe, Teil 1, S. 620.

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und Pest, solchs Heuchel Christen stellen, / Und Pharisäer-Schein, wer Gott w i l l Wohlgefallen [...]«. 1 7 B e i d e n R e z i p i e n t e n ist ebenso das P r i n z i p d e r D e u -

tung wie auch der Zweck gemeinsam, der mit der Behandlung der Romanstelle verfolgt wird. Das Deutungsprinzip besteht in der Isolierung der Textstelle aus dem Handlungszusammenhang und der im Barock alles andere als ungewöhnlichen Reduzierung der Erzählung auf einen Kern, der von Procop mit dem Terminus »Exempel« gekennzeichnet wird. Es handelt sich hier um das Exempel eines Lasters. Das aus der Handlung abstrahierte Exempel greifen beide Autoren auf, um ihrem Publikum ein bestimmtes Laster auszutreiben. Bekämpfung moralisch bedenklicher Laster mit literarischen Mitteln ist seit alters her die Aufgabe der Satire. Der von beiden Rezipienten unterstellte Zweck wird mithin als satirisch und ihr gemeinsames Auslegungsprinzip als exemplarisch bezeichnet werden können. In der 22. Predigt will Procop keine Laster mit negativen Beispielen bekämpfen, sondern positive Exempel einer rechten Frömmigkeit geben. Procop knüpft hierzu an die übrigens auch Grimmelshausen vertraute (Simpl. S. 22) Legende vom hl. Antonius an. Diesem ungebildeten Einsiedler, der Gott nicht aus der Schrift erkennen konnte, wurde »die gantze Welt / [...] ein lauteres Buch darinnen er die Wunderwerke Gottes erkennen [...] möchte«. 18 Dann leitet der Prediger zu einer Passage aus der >Continuatio< des >Simplicissimus< (VI, 23) über: »Diese Manier zu studiren haben hernach vil andere dem H. Mann abgelernet: Erst gar neulich fände man einen Eremiten [Simplicius] in einer Insel / der vermuthlich noch lebet / der genannt / als man ihn fragte / ob er in derselben Einsambkeit mit der Melancholey oder mit keinem LebensVerdruß angefochten wurde? Nein / sagte er / diese gantze Insul dienet mir für ein Buch / in dem ich zu Genügen studiren / vnd mir Gottselige Gedanken machen kann«. 19 Direkt anschließend folgt dann ein wörtliches Zitat aus dem >Simplicissimus< (S. 568, Z. 27 - S. 569, Z. 6), das genau und ausführlich erläutert, wie Simplicius in dem Buch der Natur die Wunderwerke Gottes erkennt, sich vor Anfechtungen bewahrt und in musterhafter Frömmigkeit verharrt.

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Ebenda, S. 622. Encaeniale, S. 237 a. Ebenda, S. 237 a - b; die geistliche Metapher vom Buch der Natur erfreute sich wie vor allem durch verschiedene Studien Friedrich Ohlys (Ohly, Die Welt als Text in der >Gemma Magica< des Ps.-Abraham von Franckenberg. In: Text-Etymologie. Untersuchungen zu Textkörper und Textinhalt. Fs. Heinrich Lausberg. Hrsg. v. A r nold Arens. Wiesbaden/Stuttgart 1987. S. 2 5 3 - 2 6 4 ; ders., Das Buch der Natur bei Jean Paul. In: Studien zur Goethezeit. Fs. Erich Trunz. Hrsg. v. Hans-Joachim Mähl und Eberhard Mannack. Heidelberg 1981 (Beihefte zum Euphorion, 18). S. 1 7 7 - 2 3 2 ) deutlich geworden ist, im Mittelalter und lange danach großer Verbreitung. Im >Simplicissimus< taucht diese Metapher zweimal, an der Stelle, die Procop im Auge hat (Simpl. S. 568), und einmal vorher (Simpl. S. 123) auf.

Der Romanheld gilt dem Prediger demnach als ein Nachahmer des Antonius, des Urvaters aller Eremiten und Mönche, weshalb er ebenso als Beispiel für die Wirksamkeit der Lehren des Antonius wie seinerseits selbst als Vorbild für die Zuhörer angeführt wird. Bemerkenswert ist dabei gleich mehreres. Zwar zitiert Procop eingestandenermaßen aus einem Roman, doch macht er hier, wie bei der überwiegenden Zahl seiner sonstigen Erwähnungen keine Anstalten, von der Romanerfindung zu sprechen, 20 sondern hebt vielmehr die Wahrhaftigkeit und Authentizität der Schilderung hervor, an der zu zweifeln es für ihn keinen Anlaß gibt und die ihm als Garantie der historischen Beglaubigung seiner Exempel willkommen ist. Ferner greift Procop in dieser Predigt nicht nur eine der vielen geistlich gefärbten Passagen des Romans auf, die Stelle nämlich, wo der endlich geläuterte Simplicius seine Lebensbeschreibung mit einem Epilog beschließt und dabei erzählt, wie er sich von nun an durch Andachtsübungen von allen Anfechtungen freihalten will (was übrigens ein erbaulicher Zweck par excellence ist!), sondern zudem auch eine solche Passage, die gerade aus der Art und Weise ihrer Anführung eine für Zeitgenossen konfessionell eindeutig bestimmbare Tendenz gewinnt. Procop, der als Kapuziner nicht zufällig Prediger eines der beiden großen Orden der Gegenreformation ist, hebt an der Eremitengeschichte hervor, daß Simplicius seine »Manier, die Wunderwerke Gottes in der Natur zu studieren, dem heiligen Mann Antonius abgelernt« habe. Mit den Fragen von Heiligenverehrung, Mönchs- und Klosterwesen ist nun bekanntlich ein Streitpunkt zwischen den Konfessionen berührt. Freilich verhält sich die Sache nicht so einfach, wie man es Jahrhunderte nach der Reformation mitunter hat sehen wollen. Der protestantischen Seite, die im übrigen niemals eine bis ins letzte einheitliche Haltung zu dem Thema der Heiligen und ihrer Verehrung entwikkelt hat, erscheint zwar die Anbetung, nicht aber das Gedenken an die Apostel und Märtyrer suspekt. 21 Die Vorbildlichkeit des asketischen Eremitenlebens aber, das keine geringe Rolle in der katholischen Heiligenverehrung spielt, wurde in Frage gestellt und das an das weitab gekehrte Eremitenleben gedanklich anknüpfende Mönchstum sogar strikt abgelehnt. Damit wurde Protestanten die aus der Heiligenverehrung bekannte Figur des Antonius zu einer pro20

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So hebt Procop, Encaeniale, S. 407 b, ausdrücklich hervor, daß Simplicius »erst vor vier oder fünff Jahren auff seiner Insel« von den Holländern entdeckt wurde und sich dort »annoch aufhaltet«; vgl. ähnliche Kommentare zu anderen Romanzitaten S. 223 b, S. 463 b u. S. 539 a. Lediglich beim 20. Kapitel des 6. Buches läßt Procop es offen, ob »es nun ein Gedicht oder eine wahre Geschieht sey« (Encaeniale, S. 2 5 5 b), während ihm einzig und allein die Mummelsee-Episode - trotz festen Glaubens an die Existenz von Wassermännern, von denen eine Predigt neben anderem auch handelt! offenkundige »Aufschneiderei« ist (S. 764 b). S. dazu Krummacher, Der junge G r y p h i u s , S. 1 7 3 - 1 7 9 , w o anhand protestantischer Kirchenordnungen und anderer Quellen und mit Hinweisen auf weiterführende Literatur über die Rolle der Feiertage im Protestantismus berichtet wird.

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blematischen Erscheinung, dies aber nicht wegen Zweifeln an dessen Glaubensfestigkeit oder Tugend, sondern weil Antonius schon in der Legende als Eremit und Urbild eines Mönchs- und Klosterwesens galt, dessen Sinn in der Nachahmung der von Antonius exemplarisch vorgeführten asketischen Weltabkehr bestand. Luther hatte die Argumente der Kritik an Antonius, dem Mönchstum und dem nur scheinbar dem Wort Gottes entsprechenden Eremitenleben vorgegeben: »man mus sagen, wenn ein magd das haus keret in fide, das sie besser ist quam Antonius in eremo, quia Christus dicit, Es sey kein hoher gebot, Ergo ist kein hoher werck, denn das man alles thue Gott und dem menschen zu liebe. Regulam monachorum deus non curat«. »Das höchste wercke und das edlest leben, der heiligst wandel ist der, sich üben jnn Gottes lieb et proximi«. 22 Valerius Herberger, der mit seiner >Hertz-Postilla< (1613) eines der wichtigsten, angesehensten und verbreitetsten protestantischen Predigtwerke des 17. Jahrhundert schrieb (mindestens 17 rechtmäßige und 11 unrechtmäßige Drucke bis 1710), hat in diesem Werk des öfteren dem »Ehrengedächtnis« an zahlreiche Heiligen Raum gegeben.23 Doch hat er beispielsweise in der Predigt zum 13. Sonntag nach Trinitatis und unter ausdrücklicher Berufung auf Melanchthon gerade das bestritten, was Procop im Einklang mit der katholischen Sicht unterstellt: daß nämlich der Lebenswandel des Antonius schon wegen seiner Weltabkehr höher zu schätzen und insofern »heiliger« sei als der eines im Leben stehenden, hart arbeitenden Familienvaters. Herberger führt dazu eine Geschichte aus den >Vitae patrum< an, in der Antonius von Gott »vermanet wird / daß er hinfort nicht mehr seinen Mönchenstand anderer Leute Leben vorziehen und heiliger halten solte«. 24 Daß Herberger und Procop in entschieden gegensätzlichem Sinne und mit gegensätzlichen Absichten von der Legende des Antonius Gebrauch machen, wird in Kenntnis der konfessionellen Differenzen niemanden wundern müssen. Daß aber Procop unmittelbar auf eine Passage aus dem >Simplicissimus< zurückgreifen kann, wenn er ein Exempel für die Fruchtbarkeit und Wirksamkeit der Lehren des Antonius sucht, zeigt, daß es in dem Roman Elemente gibt, die von Zeitgenossen konfessionell eindeutig dem katholischen Lager zugeordnet wurden. Procop hat sich in seinen Predigten noch auf weitere Stellen aus dem >Simplicissimus< bezogen und daraus in einer Reihe von Fällen Exempel gewonnen, die er auf die Situation der Zuhörer anwendet. Eine Nacherzählung des 20. und 21. Kapitels der >ContinuatioSimplicissimus< eine Quelle untypischer Art für seine Predigten heranzog. Eingedenk der zeitgenössischen Skepsis gegenüber der Gattung Roman, der Praxis vieler Prediger und seiner sonstigen Übung wäre Kritik an Grimmelshausens Buch zu erwarten. Das direkte Gegenteil ist festzustellen. Episoden und Passagen des Romans fügen sich ohne weiteres, gerade als seien sie dazu bestimmt, in seine Predigten ein und helfen dort, ganz anders offenbar als die für so verderblich gehaltenen Volksbücher und sonstigen Romane, die Wirkungszwecke der Predigt zu erreichen. In Procops Augen - und diese urteilen, wie wir sahen, nicht immer liberal über weltliche Literatur - ist der >Simplicissimus< aus seiner Art geschlagen. Er fällt in einer Weise aus seiner Gattung heraus, die ihn, wenn es ein besonderer Anlaß einmal zuläßt, in den Kreis der Schriften geraten läßt, die ein Prediger als Quellen verwendet. Bei eigentlich allem, was für den Umgang Procops mit Grimmelshausens Roman kennzeichnend ist - angefangen von seiner auf Wirkungsabsichten zielenden Heranziehung als Quelle über das am Exempel orientierte Deutungsmuster, die satirische Absicht mancher Zitate bis hin zu den Beispielen der als nachahmenswert hervorgehobenen Frömmigkeit und der katholischen Prägung - kann nicht allein die bloße Eigenheit, nicht die pure Willkür dieses einen Lesers entscheidend für die Hervorhebung gerade dieser Züge sein. Denn auch andere Rezeptionszeugnisse äußern sich in dem gleichen Sinne. Aus einem Brief, den Leibniz im April 1688 an die Herzogin Sophie von Hannover schrieb, wissen wir, daß am vorausgehenden Ostermontag ein Jesuit in München das traditionelle »Ostermärle« seiner Predigt aus dem >Simplicissimus
SimplicissimusSimplicissimusSimplicissimus< zurückgriff. D e r Briefpartnerin Leibnizens w a r der >Simplicissimus< wie auch die >Courasche< bereits seit 1 6 7 0 vertraut. 3 2 A m 10. D e z e m b e r 1 6 7 0 , k u r z nach Erhalt der beiden B ü cher, berichtet sie ihrem Bruder: »Die Geschichte v o n >Simplicissimus< beginnt sehr f r o m m , ich weiß aber nicht, ob das E n d e genauso sein w i r d « . 3 3 W e n n gleich sie ganz andere Abschnitte als P r o c o p ins A u g e faßt, trifft sie sich doch mit diesem in der Feststellung, daß der R o m a n geistliche Z ü g e aufweist und als frommes B u c h bezeichnet werden kann. M a n darf w o h l an Kästner erinnern, der im 18. Jahrhundert formulierte, Simplicius sei » f r o m m « und »katholisch«.

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Leibniz an Herzogin Sophie von Hannover: »Le deuxième jour des Pâques la coustume est, à ce qu'on m'a dit, que le predicateur fait un petit conte qu' on appelle >oster-mährleSimplicissimusSimplicissimus< gesehen wird. Gerade dieses Werk - so scheint es - fand beim zeitgenössischen Publikum eine derartige Resonanz, daß alsbald eine große Zahl von Nachahmern in Erscheinung trat und unberechtigten Anteil an Grimmelshausens Erfolg zu nehmen versuchte. Auf den ersten Blick bestätigt somit die Simpliziaden-Literatur zwei Einschätzungen, die noch heute unsere Vorstellungen von Grimmelshausen und der Bedeutung seines Werkes bestimmen: daß er nämlich eine unvergleichlich große Wirksamkeit ausübte, dies aber mehr oder weniger allein durch den Roman von Simplicius.1 Bei näherem Hinsehen zeigt sich jedoch, daß diese pauschalen Einschätzungen über die Bedeutung und Aussagekraft der Simpliziaden der Korrektur bedürfen. So weit, wie man glauben möchte, reicht Grimmelshausens Einfluß - wiewohl sein Roman letztlich den Ausgangspunkt dieser Erscheinung darstellt - auf die Simpliziaden-Literatur nicht. Eine auch nur überblicksweise vorgehende Untersuchung der Simpliziaden-Literatur hat schon bei Ermittlung der Quellen mit erheblichen Schwierigkeiten zu kämpfen. Wie wir bei Koch, Jördens u. a. sahen, sind Nachahmungen des >Simplicissimus< schon sehr früh bemerkt und dann systematisch registriert worden. 2 Sucht man die dort genannten Angaben zusammen, scheidet aus, was 1

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Z. B. Eberhard Mannack, Hans Jacob Christoffel von Grimmelshausen, in: Deutsche Dichter des 17. Jahrhunderts. Ihr Leben und Werk, hrsg. von Harald Steinhagen und Benno von Wiese, Berlin 1984, S. 5 1 7 - 5 5 2 , S. 532: »Daß Grimmelshausen mit seinem >Simplicissimus< einen Bestseller verfaßt hatte, ist weder ihm noch den Zeitgenossen und Nachfahren entgangen. Der Name oder davon abgeleitete Formen wurden vom Erfinder wie von den Nachahmern als eine Art Markenzeichen benutzt, mit dem man für Produkte unterschiedlichsten Inhalts warb. Zu den unmittelbaren Erben gehörten die bekannten Autoren Angelus Silesius und Johann Beer [...].« S. J. G. Th. Graesse, Trésor de livres rares et précieux, Reprint Mailand 1950, Bd. 6, S. 414; Goedeke, Grundriß zur Geschichte der deutschen Dichtung, 2. Aufl. Bd. 3, S. 255 f; Hubert Rausse, Zur Geschichte der Simpliziaden, in: Zs. f. Bücherfreunde N. F. 4 (1912/1913), S. 1 9 5 - 2 1 5 ; Koschlig, Grimmelshausen und seine Verleger, S. V f, Anm. 1; Curt von Faber du Faur, German Baroque Literature, New Häven 1958, S. 294-297; Herbst, Die Entstehung des Grimmelshausenbildes, S. 1 3 9 - 1 4 4 ; auf eklatante Mängel dieses Verzeichnisses hat schon R. Alewyn in seiner Rezension (Eu-

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ganz offenkundig nicht dazugehört, und vergewissert sich einiger neuerer Funde, so entsteht ein recht verwirrendes Bild von über 30 Titeln, 3 die teilweise lediglich bibliographisch nachweisbar, aber nicht mehr zugänglich sind. 4 Mitphorion 1958) hingewiesen; I. M. Battafarano, Grimmelshausen-Bibliographie 1 6 6 6 1972. Werk - Forschung - Wirkungsgeschichte. Neapel 1975 (Quaderni degli Annali dell' Istituto Universitario Orientale, Sezione Germanica, 9), S. 2 2 1 - 2 4 2 (= Nr. 1 2 1 3 1259) - umständliche Darbietungsform und Anführung einer Reihe von Titeln von zweifelhafter Zugehörigkeit lassen das Material umfangreicher erscheinen als es ist; Timothy Sodmann, Zeitgenössische Nachahmungen, in: Simplicius Simplicissimus. Grimmelshausen und seine Zeit. Ausstellungskatalog. Westfälisches Landesmuseum für Kunst- und Kulturgeschichte, Münster 1976, S. 193-201; Gebauer, Grimmelshausens Bauerndarstellung, S. 4 5 5 - 4 5 7 . 3

G . Weydt, Grimmelshausen, S. 125, T. Sodmann, Zeitgenössische Nachahmungen, S. 193, und V. Meid, Grimmelshausen, S. 197, geben als Gesamtzahl jeweils »30 oder mehr« an. Hier gilt nur das als Simpliziade, was entweder auf dem Titelblatt oder im Text (oder in beidem) auf die Figur des Simplicissimus anspielt. Einer alten Ü b u n g (und Grimmelshausens durchaus variantenreicher Verwendung des Namens seines Helden) folgend, wird der N a m e Simplicius als gleichwertig angesehen. Für die Ermittlung der Simpliziaden wurden neben den in der vorhergehenden Anmerkung nachgewiesenen Titel noch besonders dankbar benutzt: Koschlig, D i e >simplicianische Schreyberey< des Ulmer Bibliotheksadjunkten Johann G e o r g Schielen, in: Jb. der Deutschen Schiller-Gesellschaft 18 (1974), S. 148-220 und S. 760-762; ders., Daniel Speer und die Ulmer Bücherzensur. Dokumente zur Bibliographie seiner politischsatirischen Schriften, in: Archiv für Geschichte des Buchwesens 15 (1975), Sp. 1 2 0 1 1288; A l e w y n , Johann Beer; vgl. neuerdings die Dokumentation von Peter Heßelmann. N a c h unserer Auffassung sind folgende - uns überwiegend zugängliche, teils aber lediglich durch Hinweise bekannte - Werke als Simpliziaden zu bezeichnen: J. Beer, >Bestia Civitatis< und ders., >Jan RebhuSimplicianischer Jan. PerusSimplicii angeregte Ursachen, wanimb er nicht catholisch werden könneKrieg= und Friedens=GesprächeFrantzösischer Kriegs=SimplicissimusMusicalisch-Türckischer Eulen-SpiegelSimplicianischer / Lustig=Politischer Haspel=HannßSimplicianisches Pfaffen=GehätzUngarischer oder Dacianischer SimplicissimusTürckischer VagantGüldner HundDes galanten Frauenzimmers Curieuse Flöh-JagtHöllischer Landtags >Malcolm von Liebandu; >Der N e i d in allen GassenPalingenii Simplicissimi Censor mundiSimplicissimi Alberner Brief=StellerSimplicissimus RedivivusSimplicissimusEuropaeischen Wunder-Geschichten-Calenders< (nachgewiesen vom angeblich ersten Jahrgang auf 1671 an), deren Autor nach der von Koschlig bekämpften Auffassung Ziegesars und Weydts Grimmelshausen ist. Auch aus diesen Schriften sind Texte - und zwar wahrscheinlich alle drei >ContinuationenHöllischer LandtagPhilanderExpertus Rubertus [!] ArgutissimusDer Neid in allen Gassen«), Da gibt es auch solche, die sich lediglich durch das Attribut »simplicianisch« (z. B. >Simplicianischer Jan PerusGüldener HundGüldene Hund< sei nämlich ebenso »nütz-

Graesse nannte, nicht mehr erreichen. In neuerer Zeit hat auch Sodmann, Zeitgenössische Nachahmungen, zu einem gewissen Teil vergeblich gebliebene Bemühungen angestellt, aller Simpliziaden habhaft zu werden (S. 193 u. S. 196), vgl. neuerdings Heßelmann, Simplicissimus Redivivus, S. 254. ' Faksimile bei J . H . Schölte, J. J . Chr. v. Grimmelshausen und die Illustrationen seiner Werke, in: Zs. f. Bücherfreunde N . F. 4 ( 1 9 1 2 / 1 9 1 3 ) , nach S. 20. Ein vergleichbarer illustrierter Einblattdruck, der >Metzger- und Becker-Streit< ist nach zwei kurzen E r wähnungen in älterer Literatur erst in neuerer Zeit verschiedentlich wieder berücksichtigt worden. 6 Ein diffiziles Problem, da nur der Jahrgang auf 1672, der einen D r u c k der 3. >Continuatio< enthält, komplett überliefert ist. Bei den sonstigen Jahrgängen fehlen die entsprechenden Teile des >CalendersContinuatioSimplicissimus< zu verwechselnden - >Continuationes< zuerst in den Jahreskalendern erschienen, ist bei Schölte (Hrsg.), Grimmelshausen Simpliciana in Auswahl, S. 2 2 5 ^ zu einer Gewißheit geworden, f ü r die echte Belege fehlen. In Breuers Ausgabe des >Simplicissimus< werden die drei >ContinuationenMazarinadeJucundus Jucundissimus« möchte ich ebenfalls ausschließen, da die Parallele zum Titel von Grimmelshausens Roman auf die grammatische F o r m begrenzt bleibt.

diese Zahl kommt auch nur dadurch zustande, daß erstens auch Schriften aus dem 18. Jahrhundert (bis 1744) eingerechnet werden und zweitens im Einklang mit barocken Gepflogenheiten der Begriff Roman auch auf Werke ausgedehnt wird, die ein recht dürres Handlungsgerüst zu keinem anderen Zweck aufbauen als dem, Lehren historischer, geographischer, politischer oder auch einmal kulinarischer Art zu vermitteln. 10 Die übrigen Titel sind einer Vielzahl von Gattungen zuzurechnen, die vom Schauspiel (>PancratzDer deutsche Romans Bd. 1, 1963, S. 1 5 - 6 3 ) , der sehr instruktive Aufsatz >Ordo und verkehrte Welt bei Grimmelshausen von Werner Welzig (1959 und i960, wiederabgedruckt in: Der Simplicissimusdichter und sein Werk, hrsg. v. G. Weydt, Darmstadt 1969, S. 370-388), verschiedene Beiträge Walter Ernst Schäfers, von denen hier eigens auf >Der Satyr und die Satire. Zu Titelkupfern Grimmelshausens und MoscheroschsStudien zur deutschen Literatur im 17. Jahrhundert-. Berlin/Weimar 1984, bes. S. 382ff). An Hand der Arbeiten von Helmut Arntzen, Satire in der deutschen Literatur. Geschichte und Theorie. Bd. 1. Vom 12. bis zum 17. Jahrhundert, Darmstadt 1989, S. 24off und S. 264ff; Hans Peter Erloff, Groteske Satire und simplicianische Leidenschaft, Bern usw.: Lang 1988; Peter Heßelmann, Gaukelpredigt (vgl. z. B. S. 54, S. 149, S. 160, S. 3 1 1 u.ö.) und Peter Triefenbach, Der Lebenslauf des Simplicius Simplicissimus: Figur, Initiation, Satire, Stuttgart 1979, kann man verfolgen, wie selbstverständlich und dabei zugleich oft äußerlich der Umgang mit dem Begriff Satire in neueren Studien geworden ist. - Nach Abschluß dieser Studie erschienen die Referate des Kolloquiums >Johann Beer & Grimmelshausen. Deutsche Prosasatire an der Wende vom 17. zum 18. Jahrhundert< in dem Band Simpliciana 13 (1991). An dieser Stelle seien hervorgehoben: Herbert Jaumann, Satire zwischen Moral, Recht und Kritik. Zur Auseinandersetzung um die Legitimität der Satire im 17. Jahrhundert, S. 1 5 - 2 7 ; der gleichfalls wichtige Beitrag W. Kühlmanns wird in unserem Kapitel über den >Satyrischen Pilgram« herangezogen.

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ZWEITER T E I L

Studien zur Theorie der Satire und zur Geschichte der menippeischen Satire

KAPITEL I: Die Auffassung der Satire in der poetologischen Theorie

Einigkeit besteht innerhalb der Literaturwissenschaft darüber, daß die Satire nicht nur eine Gattung, sondern wesentlich die Haltung des »Satirischen«1 sei. Zwar gäbe es die römische Verssatire, die als regelrechte Gattung anzusprechen ist. Nur ist diese eine antike Form, deren neuzeitliches Nachleben zwar niemand leugnen will, die aber keinesfalls für die Gesamtheit dessen stehen kann, was den Titel Satire verdient. Damit läuft diese Anschauung auf folgendes heraus: anders als Tragödie, Komödie, Epos und Ode hat die Satire keine eigene feste Form, sondern okkupiert - in einer gewissen Ähnlichkeit mit der Bukolik - andere Gattungen. Die Satire ist insofern gattungslos. Diese Sichtweise, deren Berechtigung hier allein mit Blick auf die satirische Literatur des Barock relativiert werden soll, hat bislang nicht wahrgenommene Vorformen in der humanistischen und barocken Poetik. Unsere Darstellung der Satiretheorie verfolgt das Ziel, (i.) die Ursprünge der These von der Gattungslosigkeit ins Bewußtsein zu heben. Das Wissen, wie und warum diese These entwickelt wurde, sollte uns dabei helfen, einen unbefangenen und von allen historisch deplazierten Überlegungen freien Blick auf das Werk Grimmelshausens zu werfen. Ferner wird (2.) die Kenntnis der humanistischen und barocken Poetik der Satire auch direkt dabei hilfreich sein können, jene Werke besser zu verstehen, die Grimmelshausen selbst als Satiren ausgab und die von seinen Zeitgenossen und Lesern des 18. Jahrhunderts auch so aufgefaßt wurden. Mißlich ist für uns die Tatsache, daß die angesichts barocker Literatur wenig hilfreiche These der Gattungslosigkeit in der zeitgenössischen Literaturtheorie vorgeprägt ist. Deshalb wird hier nicht gelingen können, was die neuere Barockforschung mit den Arbeiten von J. Dyck, W. Barner, H.-J. Schings, H.H. Krummacher u. a.2 sowohl für das Verständnis barocker Literatur im Gan1

2

Z. B.: Jürgen Brummack, Art. Satire, im >ReallexikonConsolatio TragoediaeSatira< u n d >satyra< z u r e l a t i v i e r e n 4 u n d

wichtige

E i n z e l g e s i c h t s p u n k t e 5 i n n e u e m L i c h t e z u s e h e n . D a es f ü r u n s d a r u m g e h e n Bd. i, Frankfurt 1971 (3. A u f l . Wiesbaden 1980), S. 1 - 4 4 ; H . - H . Krummacher, Das barocke Epicedium. Rhetorische Tradition und deutsche Gelegenheitsdichtung im 17. Jahrhundert, in: Jb. d. dt. Schiller-Gesellschaft 18 (1974), S. 8 9 - 1 4 7 . ' A n erster Stelle ist hier zu nennen: Helmut Arntzen, Satire in der deutschen Literatur (vgl. auch die Kritik von Jaumann, Satire, S. Nicht befriedigen können auch mehrere der von Barbara Becker-Cantarino unter dem Titel >Satire in der Frühen Neuzeit< in einem Daphnis-Themenheft (Daphnis 14 (1985). H 4 = S. 605ff) versammelten Beiträge, w o die Vielzahl der Einzelgesichtspunkte oft wertvolle Hinweise liefert, dem Verständnis größerer Zusammenhänge aber nur wenig dient. Meist noch problematischer ist das Verfahren der Grimmelshausen-Forschung. Vgl. z. B. Rolf Tarot, Grimmelshausen als Satiriker, w o die Definition R. C . Elliots (»all satire attacks something«) und andere, freilich mitunter wichtige Sekundärliteratur (bes. Brummacks Aufsatz) allzu selbstverständlich an die Stelle einer Auseinandersetzung mit alten Quellen tritt. A u c h die Arbeiten von Meid, Triefenbach, Spriewald u. v. a. versäumen, sich anhand intensiven Quellenstudiums des historisch angemessenen Satireverständnisses zu versichern. Neueste Publikationen, die vielfach aus diesen Studien ihre Informationen über die Satire beziehen, fallen noch entschieden dürftiger aus. Für Heßelmann, Gaukelpredigt (eigentlich eine Arbeit über didaktische Zwecke!) ist Satire nur noch ein Stilphänomen: »Der höhere Sinngehalt der >straffenden Schriften< ist also mit einer satirischen Folie umgeben« (S. 54); »mit der allegorischen Darstellungsart ist die satirische Schreibweise verbunden« (S. 311, vgl. S. 149, S. 160, S. 285 u. ö.). Diese Unterscheidung fließt aus der Wortgeschichte und wurde in systematischer A b sicht zuerst von Günter Hess, Deutsch-lateinische Narrenzunft. Studien zum Verhältnis von Volkssprache und Latinität in der satirischen Literatur des 16. Jahrhunderts, München 1971 (Münchener Texte und Untersuchungen, 41), bes. S. 17ff, aufgegriffen. Ihm folgte die gleichzeitig entstandene Arbeit von Jörg Schönert, Roman und Satire im 18. Jahrhundert. Ein Beitrag zur Poetik, Stuttgart 1969 (Germanistische Abhandlungen, 27). Mit dem Terminus >Satyra< operiert die materialreiche und philologisch sehr umsichtig gearbeitete Studie von U d o Kindermann, Satyra. Die Theorie der Satire im Mittelalter. Vorstudie zu einer Gattungsgeschichte, München 1978 (Erlanger Beiträge zur Sprach- und Kulturwissenschaft, 58). ' S. als einen wichtigen Beitrag den höchst informativen Exkurs von Suchomski, »Delectatio« und »Utilitas«, S. 249-256, w o in verständnisvoller Auseinandersetzung mit Quellen das in der Theorie oft behandelte Problem der Rechtfertigung satirischen Dichtens untersucht wird. - Klaus Lazarowicz, Verkehrte Welt. Vorstudien zu einer Geschichte der deutschen Satire, Tübingen 1963 (Hermaea N . F., 15) hat seine Einlei-

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muß, ein möglichst umfassendes Wissen von dem z u erlangen, w o r i n die barocke A n s c h a u u n g v o n Satire besteht, kann sich die eigentliche A b s i c h t der folgenden Untersuchung erst nach und nach herausstellen. N o c h ein W o r t z u einem der wichtigsten Forschungsbeiträge! Vieles, sehr vieles zur Theorie der Satire ist durch Jürgen B r u m m a c k s Beitrag bekannt gew o r d e n , in dem Klarheit über Zusammenhänge und Konstanten der Satirephilologie sowie über die elementare Rolle der neuzeitlichen Kommentare klassischer A u t o r e n geschaffen wurde. S o sehr seine A b h a n d l u n g auch zu einer näheren Beschäftigung mit der Poetik der Satire anregte und deshalb dankbar benutzt wurde, so wenig konnte oder wollte sie die Einsichten vermitteln, die mit Blick auf Grimmelshausen entscheidend wären. Eine feste W u r z e l findet die Theorie der Satire nur in den drei römischen Verssatirikern H o r a z , Persius und Juvenal. D i e poetologischen Texte des A r i stoteles und H o r a z schweigen sich über die Gattung fast völlig aus, nicht ohne jedoch beiläufig einige folgenreiche Bemerkungen über einen ursprünglichen Zusammenhang v o n Satyrspiel und Tragödie fallen zu lassen. 6 Quelle und A n haltspunkt der Satiretheorie sind die Reflexionen der Satiriker über ihr Tun, vor allem die relativ ausführlichen Bemerkungen des H o r a z . 7 A u s diesen, den A u s f ü h r u n g e n Quintilians, 8 spätantiker Kommentatoren und Grammatiker

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D i o m e d e s ist mit seinem ersten Versuch einer vollständigen Gattungspoetik hierbei einmal mehr der wichtigste gewesen 9 -

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entstand im Mittelalter eine

tung (»Poetik der Satire im 17. und frühen 18. Jahrhundert«) mit sehr viel weniger Erfolg auf denselben Gesichtspunkt eingeschränkt. S. in diesem Kapitel Anm. 1 1 6 . Folgende Stellen werden von der humanistischen und barocken Theorie häufiger herangezogen: Horaz, Sat. I 4, 1 - 5 und 3 8 - 4 4 (das Interesse an den Ausführungen zu Stil und Metrum ib. V j H und 4 j f f ist geringer); Sat. I 10, 1 4 - 1 7 ; Sat. II 1, i f , 3 9 - 4 6 und Ö2f. - Bei Persius ist es vor allem die Charakterisierung des Horaz als »vafer«, d. h. relativ lustig vorgehenden Satiriker (Sat. I, 116). - Bei Juvenal sind es vor allem drei Stellen, Sat. I, 79, wo die »indignatio« als Antrieb zum Verfassen einer Satire herausgestellt wird, Sat. I, 8$f, w o Juvenal die sehr wichtige Vielzahl möglicher Gegenstände ins Auge faßt, und Sat. I, 165, w o er Lucilius charakterisiert: »wütend wie mit einem gezückten Schwert« (»velut ense stricto [...]«) habe dieser geschrieben. - Viele Bemerkungen werden von der Poetik nicht recht gewürdigt (wohl oft nicht, weil die Aussagen längst selbstverständlich waren). Eine reichhaltige Zusammenstellung der relevanten Stellen bietet Brummack, Zu Begriff und Theorie der Satire, S. 290. In seiner >Institutio OratoriaUber naive und sentimentalische DichtungDialogus super

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Die Kennzeichen dieser Theorie aus den verstreuten Quellen zusammengestellt zu haben, ist das Verdienst der Arbeit von Kindermann, Satyra. " Diomedes, S. 485. 12 Isidor, Etymologiarum sive originum libri X X , VIII 7,7. 15 S. dazu die belegreichen Ausführungen bei Kindermann, Satyra, S. 47ff.

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auctoresc »est Carmen satyricum, quod vitia cuncta reprehendit« (es gibt das satirische Gedicht, das sämtliche Laster tadelt). 14 Johannes a Garlandia geht um 1250 in seiner >Poetria Parisiana< einen Schritt weiter und setzt Satire und »reprehensio« kurzerhand gleich: »[...] Reprehensio siue Satyra, in qua recitantur malefacta« (Tadel oder Satire, worin Übeltaten angeführt werden). 1 ' Gegenstand der Satire sind Laster, »vitium«, »peccatum«, »mos vitiosus« u. ä. genannt; Tätigkeit der Satire ist das Tadeln, »reprehendere« genannt oder auch »corripere«, »carpere«, »vituperare«, »perstringere«, »insectare« usw. Diese Terminologie wird die Gattungstheorie bis ins 18. Jahrhundert hinein begleiten. Die ersten humanistischen Versuche sehen kaum anders als mittelalterliche Definitionen aus. Peuerbach schreibt 1458: »satira Carmen sceleratos hominum mores acriter vituperans et reprehendens [...]« (das satirische Gedicht kritisiert und tadelt frevelhafte menschliche Sitten in scharfer Weise). 16 Bei Vadian heißt es 1518: »satira est Carmen maledicum et ad vitia mortalium carpenda institutum« (die Satire ist ein tadelndes Gedicht und zur Kritik menschlicher Laster hergestellt). 17 In der Folge eingehenderer Beschäftigung mit der Antike werden die Definitionen einläßlicher und umfangreicher. Sie werden gelegentlich systematischen Erwägungen unterworfen, die sich von Aristoteles und seiner Lehre herleiten, daß Poesie Nachahmung (¡iifj/rioig, imitatio) sei. Sie gewinnen eine gewisse schulmäßige Routine, werden sprachlich und terminologisch selbständiger, doch ihr Kern - Satiren tadeln Laster - bleibt unverändert erhalten. So heißt es 1559 bei Minturno: »Satyra sie potest definiri, ut sit uitiosa: cuiusdam deprauata:que actionis imitatio«) (man kann die Satire bestimmen als Nachahmung einer lasterhaften und verkehrten Handlung).' 8 Von Heinsius stammt eine höchst wirkungsreiche, während des 17. Jahrhunderts vielzitierte Definition der Satire, die in knapper Form versucht, sämtliche wichtigen Merkmale hervorzuheben und dabei nachdrücklich auf die entscheidende Rolle des Lastertadels hinweist. Heinsius schreibt: »Satyra est poesis, sine actionum serie, ad purgandos hominum animos inuenta. in qua vitia humana, ignorantia, ac errores, tum quas ex vtrisque proueniunt, in singulis, partim dramatico, partim simplici, partim mixto ex vtroque genere dicendi, occulte vtplurimum ac figurate, perstringuntur: sicut humili ac familiari, ita "4 Zeile 1 j6f. Kap. V, Zeile j6of. 16 Georg von Peuerbach, Positio, S. 201. In Rupprichs Kommentar sind einige Quellen Peuerbachs nachgewiesen (Isidor, Etym. X I 3, 21 und 13, 21); Ergänzungen ergeben sich aus Kindermann, Satyra, S. 198. - Eine weitere wichtige Quelle aus der Frühzeit des Humanismus stellt der Persius-Kommentar von Politian (dessen >Praelectio< 1498 in der Persius-Aldine erschien) dar. 17 Joachim Vadianus, De Poetica, Bd. 1, S. 78. ,8 De Poeta, S. 424.

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acri partim ac dicaci, partim vrbano ac iocoso constans sermone. quibus odium indignatio mouetur, aut risus«. 1 ' Bei Rotth wird die Definition des Heinsius folgendermaßen wiedergegeben: »Die Satyra ist nicht anders als ein stachlichtes / hefftiges und doch lustiges Gedichte / welches theils auff Dramatische oder Handelungs Art theils Erzehlungsweise die im schwänge gehende Laster und Mängel und den daher rührenden wunderlichen Zustand an einer oder der andern Person mit schlechten Worten durchhechelt um dadurch die Sache selbst verhaßt zu machen und die Leuthe zu bessern«. 10 John Dryden hat 1693 diese Definition in seinem berühmten Essay zitiert. In der deutschen Übersetzung von 1762 lautet die Stelle: »Die Satire ist eine Art der Poesie ohne eine zusammenhangende Handlung, und zur Besserung unserer Herzen erfunden; worinn die menschlichen Laster, Unwissenheit und Irrthümer, nebst allem, was daraus entspringt, an jedem Menschen strenge bestraft werden; sie ist theils dramatisch, theils einfach, manchmal auch in beyderley Art des Vortrags; meistentheils aber figürlich und verdeckt; und bestehet in einer niedrigen, vertrauten, hauptsächlich in einer scharfen und beissenden Art zu sprechen; doch aber auch in einer lustigen und höflichen Art zu scherzen, wodurch entweder Haß, oder Unwillen, oder Gelächter erregt wird«. 21 Weitere Stimmen aus dem 17. Jahrhundert äußern sich im gleichen Sinne. Vossius bestimmt 1647 den »Gegenstand« (»materia«) als »menschliche Laster« (»vitia humana«).22 Diese gelte es zu »schelten« (»culpare«) und zu »tadeln« (»reprehendere«).23 Die deutschsprachige Barockpoetik schließt sich dem an. Satiren sind »Straffgedichte«. Ihr Wesen ist die »Verweisung der laster«.24 Sie »strafft« und »ver' ' Daniel Heinsius, De Satyra Horatiana, S. 54. Diese Abhandlung ist mit eigener Paginierung und eigenem Titelblatt als Bestandteil von Heinsius' Edition der Werke von Quintus Horatius Flaccus, Leiden 1629 (1. Aufl. 1 6 1 2 ) erschienen. Die hier herangezogene Stelle zitiert und kommentiert Brummack, Zu Begriff und Theorie der Satire, S. 305. - Neben den im folgenden ausführlicher behandelten Wirkungszeugnissen scheinen mir vor allem noch zwei bemerkenswert: Friedrich Rappolt, der Heinsius Definition 1675 zustimmend in seinem >Commentarius in Q. Horatii Flacci Satyras & Epistoless S. 2f, zitiert; und Georg Pasch, >De variis modis moralia tradendide ratione tractandi per satyras« diese Definition übernimmt und S. 2}6{{ detailliert erläutert. - Zur Verbreitung der Definition des Heinsius s. Brummack, Zu Begriff und Theorie der Satire, S. 308, w o auch auf die meisten der hier genannten Zeugnisse und auf weitere Belege hingewiesen wird. 20 Rotth, Vollständige Deutsche Poesie, Teil 3, S. 69. - Omeis, Gründliche Anleitung, S. 255, schreibt Heinsius' Definition im Anschluß an Rotth nach. 21 John Dryden, Discourse concerning the Origin and Progress of Satire, S. 77. Die deutsche Ubersetzung erschien 1762 bei Friedrich Nicolai unter dem Titel A b h a n d lung vom Ursprung und Fortgang der Satire«, die Stelle S. 374. 22 Vossius, Poeticarum Institutionum, Teil 3, S. 39. 23 Ebenda, S. 40 u. ö. Vgl. z. B. S. 35: »vitia hominum insectari«. 24 So Opitz in seinem >Buch von der Deutschen Poeterey« [1624], Kap. 5. Schon Berghoeffer hat in seiner Ausgabe von 1888 darauf hingewiesen, daß Opitz damit eine Formulierung von Isaac Casaubonus aus dessen >Prolegomena in Persium« über-

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höhnt«*5 »der Leute Lastern und verderbten Sitten«.26 Ebendiese Vorstellung gilt noch 1751 für Gottsched, wenn er schreibt: die Satire »ist ein moralisches Strafgedicht über einreißende Laster«. 27 In einigen herausragenden humanistischen Poetiken wird dem Tadel der Laster noch das Lob der Tugend an die Seite gestellt. Während bei Vadian beides gleichgewichtig nebeneinandersteht,28 gehen die späteren Autoren zur nachdrücklichen Betonung des Vorranges des Lastertadels gegenüber dem Lob der Tugend über. Die römischen Satiriker - so schreibt Scaliger, dem etwa die fünfte Satire des Persius mit dem Lob des Cornutus ebenso gegenwärtig war wie die sonstige Dominanz der Laster - zeigten sich gegenüber den meisten Menschen ausgesprochen feindlich, gegenüber wenigen ein wenig lobend (»[...] profiteri sese omnium pene hoste, paucissimorum parcissimum laudatore«). 2 ' Vossius begründet die Präsenz des Lobes in der Satire unter Hinweis auf Lucilius, der auch Tugenden in der Satire behandelt habe. Allerdings gehörten nur die Laster und ihr Tadel zum Wesen (oiioLa) der Satire. Tugenden und ihr Lob gelten Vossius als Beigabe (»accidens«).3° Für die Praxis satirischen Dichtens im 16. und 17. Jahrhundert ist die Rolle des Lobes keineswegs so nebensächlich, wie man auf den ersten Blick vermuten könnte. Und im übrigen relativieren die Ausführungen der Poetik jene berühmte einseitige oder zumindest einseitig rezipierte Definition der Satire von R. C. Elliott, nach der die Satire stets angreift: »all satire attacks something«. 3 ' Das Spezifikum der Satire ist es mithin, sich der Beförderung von Moral zu widmen. 32 Sie tut dies, indem sie die Laster kritisiert; als Lizenz wird ihr in nimmt. Bei C a s a u b o n u s heißt es: die Seele (»anima«) der Satire besteht in »vitiorum insectatio, & et ad virtutum cohortatio [...]« (Bl. a 2 a). 25

M o r h o f , U n t e r r i c h t v o n der teutschen Sprache u n d Poesie, S. 354. D i e D e f i n i t i o n lautet vollständig: » E i n Satyre ist ein G e d i c h t e / darinnen die heimlichen Laster / die b e y etlichen Personen im S c h w a n g e gehen / gestrafft u n d hönisch a u f f g e z o g e n w o r den / und hat z u r E n d u r s a c h e / die Verbesserung der Sitten«.

16

K i n d e r m a n n , D e r deutsche Poet, S. 245.

17

G o t t s c h e d , Versuch einer Critischen D i c h t k u n s t , S. 557.

28

D e Poetica, B d . 1 , S. 78.

29

Scaliger, Poetices libri Septem, L i b I I I , cap. 98, S. 149 2 B .

30

Poeticarum Institutionum, Teil 3, S. 39f. A u s d r ü c k l i c h reflektiert w i r d dieses P r o b l e m v o n D r y d e n , A b h a n d l u n g v o m U r s p r u n g u n d F o r t g a n g der Satire, w o festgestellt w i r d , daß das W o r t Satire bei den R ö m e r n »nicht nur v o n solchen Schriften gebraucht, w e l c h e das L a s t e r verschrien [...], sondern auch v o n solchen, w o r i n n die T u g e n d e m p fohlen w u r d e . In unsern neuen Sprachen aber w i r d es nur Strafgedichten beigelegt [...]« (dt. U b e r s . , S. 326; in der englischen A u s g a b e , S. 48).

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V g l . z . B . das O p e r i e r e n mit Elliotts F o r m e l bei R o l f Tarot, G r i m m e l s h a u s e n als Satiriker, S. 1 1 8 , u n d B a r b a r a K ö n n e k e r , Satire im 16. J a h r h u n d e r t . E p o c h e -

Werke

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W i r k u n g , M ü n c h e n 1 9 9 1 (Arbeitsbücher zur Literaturgeschichte), S. 1 3 . 32

Walter Ernst Schäfer, M o r a l u n d Satire. K o n t u r e n oberrheinischer Literatur des 1 7 . Jahrhunderts, T ü b i n g e n 1992 (Frühe N e u z e i t , 7), S. 5off, hat in seiner wichtigen A r b e i t die R o l l e der M o r a l p h i l o s o p h i e f ü r die A u s b i l d u n g satirischer D i c h t u n g des

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der Theorie unter Hinweis auf antike Muster zugestanden, Tugenden zu loben. Lob und Kritik sind zwei verschiedene Mittel eines und desselben Zieles. »Intentio« und »Endursache« satirischen Schreibens - um hier den Schritt vom Gedicht zum Dichten und weiter zum Dichter zu tun - muß die Korrektur verdorbener Sitten sein. War dies die Absicht beim Schreiben, so wird sich bei der Lektüre der rechte Nutzen einstellen.33 In ausführlicheren Äußerungen wird, mit einem Seitenblick auf den gegebenenfalls doppelgesichtigen Inhalt, die negative Wirkung der Satire - das Abhalten vom Laster - neben die positive - das Ermuntern zur Tugend - gestellt.34 Die deutsche Barockpoetik tritt in die Fußstapfen ihrer humanistischen Vorgänger. »Verbesserung der Sitten« 35 sei die Wirkung der Satire, weil dort »gemeine Laster verhaßt gemacht« werden. 36 N o c h die Satiretheorie des 18. Jahrhunderts stimmt dem zu. 3 7

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Barock eingehend dargestellt. Schäfers Ausführungen sind uns umso willkommener, als sie gerade die Ausführungen in diesem Kapitel nach einer Seite hin ergänzen, die wir in der gesamten Arbeit unbeachtet gelassen haben. Während wir hier ausschließlich auf literarische Theorien, literarische Konventionen und literarische Formen blikken, fragt Schäfer nach den moralischen Normen, um die es dem Satiriker geht. Daß dabei sehr erhellende Ergebnisse erzielt werden können, zeigt seine Studie. Vgl. etwa Johannes a Garlandia, Poetria Parisiana, V 361: die Satire werde »causa correctionis« geschrieben. Minturno, De Poeta, S. 424 und S. 428, schreibt, diese Gattung sei »ad uitse emendationem« eingerichtet. Ähnlich äußern sich Conrad Bachmann, Christoph Helwig, Poetica, S. 349: »ad corrigendos corruptos hominum mores accommodatum«. Vossius, Poeticarum Institutionum, Teil 3, S. 41: »finis satyrae est mores emendare«. Eine solche, ohne doppelseitigen Inhalt (Tadel des Lasters, Lob der Tugend) undenkbare Formel haben: der anonyme Persius-Accessus aus dem 13. Jahrhundert, mitgeteilt von Concetto Marchesi, Gli scoliasti di Persio, in: Rivista di filologia e di istruszione classica 39 (1911), S. f ö ^ f [= Teil 1] und 40 (1912), S. 1 — 36 und S. 1 9 3 - 2 1 5 [= Teil 2], Teil 2, S. 7: »Intentio sua [Persius] est dissuadere sive dehortari nos a vitiis et persuadere ad virtutes. Nam egressus vitii ingressus ad virtutes«; Conrad von Hirsau, Dialogus super auctores, Z. 1482 f: »intentio vero eius [Persius] per reprehensionem a viciis delinquentes corrigere et ad vitam meliorem reformare«; Landinus in der Vorrede zu seinem Horaz-Kommentar von 1482 (mitgeteilt von Brummack, Zu Begriff und Theorie der Satire, S. 290): »Nam [Horaz] sibi proposuerit, non homines maledicendo vexare: sed castigando a vitiis ad rectam viam revocare«; sowie Pontanus, Poeticarum Institutionum, S. 172 (wo über die »vtilitas« nachgedacht wird): »ergo satyram ad homines absterrendos a vitiis, & ad virtutem obiurgatione irrisioneque impellandos natam habemus confiteri«. Zu erinnern ist ferner an die Formulierung von Casaubonus, die Opitz zu seiner Satiredefinition heranzog (S. Anm. 24). Morhof, Unterricht von der teutschen Sprache, S. 354; Kindermann, Der deutsche Poet, S. 245, sieht in der Satire ein »Straffgedicht«, das »zu guten Sitten / und erbaren Wandel anmahnen soll«. Rotth, Vollständige Deutsche Poesie, Teil 3, S. 73; ähnlich Sigmund von Birken, Ternsche Rede- bind und Dicht-Kunst, S. 308: »Satyren müßen mit dem Vorsatz / andere freundlich zu unterrichten und zu bäßern / geschrieben werden«. Omeis, Gründliche Anleitung, S. 225, schließt an Rotth an. Stellvertretend für alle mag hier der Hinweis auf Gottsched, Critische Dichtkunst,

Die moralische Wirkung wird bei all dem gelegentlich implizit, oft aber auch expressis verbis als Realisation eines Anliegens des Autors aufgefaßt. Die Absicht des Satirikers leistet die Wirkung beim Leser - so stellt sich die Überzeugung der Theorie dar. Und an diesem Punkt setzt die Poetik zu einer ihr sehr am Herzen liegenden Unterscheidung an. Die um moralische Wirkungen bemühte und deshalb prinzipiell schätzenswerte Satire wird von einer anderen Form abgehoben, der es um die Herabsetzung einer Person geht. Diese Form ist unter mehreren Bezeichnungen bekannt; wir wählen den Terminus Pasquill. 38 Kritik ist das, was Satire und Pasquill gemeinsam haben. Die Demarkationslinie zwischen ihnen verläuft dort, wo es um die Absicht geht, um derentwillen die Kritik geübt wird. Anhand dieses Kriteriums definiert Johannes a Garlandia die Satire - entstanden »causa correctionis« - und das Pasquill (»invectivus«) - entstanden »causa malignandi«.39 Gleiches gilt im Barock. Vossius unterscheidet in seiner Rhetorik zwischen Tadelschrift (»obiurgatio«) - nicht zufällig identisch mit der wesentlichen Funktion der Satire - und Invektive durch das Kriterium der Gesinnung und Absicht des Autors: mit dem freundschaftlichen Gemüt (»ab amico animo«) erwächst in guter Absicht (»pro scopo bonum«) die »obiurgatio«, während die Invektive aus feindlichem Gemüt (»ab animo inimico«) und in der Absicht zu schaden (»adferat dolorem«) entsteht.40 In Zedlers Lexikon heißt es: »[...] ein Paßquill ist eine solche Schrift, welche von einem verborgenen Auetore animo infamandi ist ans Licht gegeben worden«. 41 Weitere Belege lassen sich bei Gottsched, 42 Sulzer,43 Eschenburg, 44 wie auch sonst im 18. Jahrhundert nur zu leicht finden. 4 '

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S. 5 J7, Sulzer, Allgemeine Theorie der schönen Künste, Bd. 4, S. 131 b, und Eschenburg, Theorie und Literatur der schönen Wissenschaften, S. 1 1 7 (= § 6) stehen. Gebräuchlich sind in älterer Literatur auch Invektive, libellus (amosus u. a. In den alten Quellen werden die verschiedenen Begriffe nicht konsequent voneinander geschieden, wie Drydens Ubersetzung von »libellus famosus« mit »Lampoon« zeigen mag, woraus in der deutschen Version dann »Pasquill« wird (Abhandlung vom Ursprung und Fortgang der Satire, engl. Text, S. 67/dt. S. 357). Poetria Parisiana, V }6o{. Auf den Sachverhalt haben Suchomski, »Delectatio« und »Utilitas«, S. 250, und Kindermann, Satyra, S. j6f, unter Heranziehung weiterer mittelalterlicher Quellen aufmerksam gemacht. Vossius, Commentariorum Rhetoricorum, Teil 1, S. 420. - Daniel Richter, Thesaurus Oratorius Novus, hat diese Stelle übersetzt: »Die Objurgatio kommet von einem freundlichen Gemüte her / und hat zum Zweck des Gegentheils Besten. Hergegen aber die Invectiva von einem feindseligen Gemüte entspringet / welches dem Gegentheil nur Schmerzen verursachen will« (S. 147). Großes vollständiges Universallexikon, Bd. 9, 1735, Art. Famosus Libellus, Sp. 209. So in seiner Critischen Dichtkunst, S. 56of, und ausführlich in: Die vernünftigen Tadlerinnen, Teil 2, 30. Stück vom 26. Julius 1726 (Bd. 2, S. 269-278), wo es S. 270 heißt: »Ein Pasquill ist [...] eine Schrift, dadurch sich ein boshafter Mensch, aus Feindschaft, Rachgier oder Neid, bemühet, den guten Namen rechtschaffener Leute zu kränken: indem er ihnen entweder Fehler darinnen vorrücket, die sie gar nicht an sich haben; oder doch die kleinen Mängel, denen sie als Menschen unterworfen sind, zu großen 95

D a s A u g e n m e r k der humanistischen und der v o n ihr abhängenden barokken Poetik bei der Diskussion des Verhältnisses von Satire und Pasquill 4 6 richtet sich auf die Rolle, die einzelne, tatsächlich existente Personen in der Satire spielen. W i e es zu diesem Problem kommt, ist klar: die Unterscheidung des Pasquills v o n der Satire scheint doch im Praktischen darauf hinauszulaufen, daß im Pasquill Personen und in der Satire Laster herabgesetzt werden. Wenn die Sache bis hierher eindeutig ist, so muß man in dem M o m e n t stutzen, w o in einem ganz und gar gewiß als Satire zu bezeichnenden Text - wie in einer der musterhaften römischen Satiren -

Personen auftauchen. U m dieses P r o -

blem ist viel gerungen worden. Heinsius ist - w o r a u f B r u m m a c k hinwies

-

derjenige gewesen, der eine allseits befriedigende, vielfach rezipierte L ö s u n g fand. »In singulis«, »an einer oder der andern Person« (Rotth), so schreibt Heinsius, werden die menschlichen Laster in Satiren gestraft: 4 7 die Person ist

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4!

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Verbrechen macht [...]. Eine Satire hingegen ist [...] eine Schrift, darinnen ein wohlgesitteter Moralist aus innerlichem Unwillen über alles, was thöricht, lasterhaft und abgeschmackt ist, und, aus eifrigem Verlangen, alles unanständige Wesen abgeschaffet, und die allgemeine Glückseligkeit befördert zu sehen, sich bemühet, die irrigen Meinungen, bösen Sitten und niederträchtigen Gebräuche seiner Zeit zu entdeken [...].« Allgemeine Theorie der schönen Künste, Bd. 4, Sp. 130 b. Entwurf einer Theorie und Literatur der schönen Wissenschaften, S. 1 1 5 (= § 3), w o im Anschluß an Sulzer, Dryden (Abhandlung vom Ursprung und Fortgang der Satire, dt. Ubers. S. 343/engl. Ausgabe S. 59) und Rabener eine weniger scharfe Abgrenzung vorgelegt wird: Der »satirische Dichter muß mehr wider das Laster und die Thorheit, als wider den Verbrecher und Thoren, mehr wider eine ganze Gattung, als einzelne Individuen gerichtet seyn; es sey denn, daß er eins derselben als Beispiel einer ganzen ähnlichen Menschenklasse aufstellen könne«. Es muß befremden, wie wenig Bewußtsein für diese Unterscheidung bislang in der Forschung besteht. Lazarowicz, Verkehrte Welt, S. 22, bemerkt zwar die gerade im 18. Jahrhundert besonders zahlreich behandelte Differenzierung, kann sich aber nicht entschließen, von ihr Gebrauch zu machen. Bei Schönert, Roman und Satire im 18. Jahrhundert, S. 14 u. ö., Hess, Deutsch-lateinische Narrenzunft, S. 25, S, iji, S. 6y{, H . Arntzen, Satire in der deutschen Literatur, S. 6f und an vielen weiteren Stellen, Könneker, Satire im 16. Jahrhundert, S. 47, S. 96 (Kapiteltitel), S. io6f, S. 143 (eine »spezifische ästhetische Dimension« sei es, die Murners >Großen Lutherischen Narr< als Satire, nicht als »bloßes Pasquill« erscheinen lasse), S. 178 u. ö., werden die Unterschiede, falls überhaupt wahrgenommen, kurzerhand verwischt. Gerade bei der Untersuchung des Reformationsschrifttums, das öfter Pasquill als Satire ist, muß das fatale Konsequenzen nach sich ziehen. Von wohltuender Klarheit hingegen ist: Severin Koster, Die Invektive in der griechischen und römischen Literatur, Meisenheim am Glan 1980 (Beiträge zur klassischen Philologie, 99). Nicht zugänglich war mir trotz zahlreicher Anfragen die meines Wissens nach einzige barocke Schrift, die sich monographisch mit dem Pasquill beschäftigt: Johann Daniel Major, Präliminar Diskurs von Pasquillen, und denen Personen, die daran Gefallen oder Mißfallen tragen, Kiel 1691 (nach: Deutsches Biographisches Archiv 798, 48). Das in alter Literatur erwähnte Exemplar der U B Kiel zählt zu den Kriegsverlusten. De Satyra Horatiana, S. 54, mit Erläuterung S. 66. Vossius, Poeticarum Institutionum, Teil 3, S. 40, § 8, greift das sehr eigenwillig auf: »Est vero satyrici reprehendere mores

Mittel, nicht Ziel der Kritik. Damit kann sich die Satire literarischer Strategien bedienen, sie kann bestimmte Personen und einmalige Vorgänge darstellen und dabei etwas anderes meinen als lediglich diese zur Sprache gebrachten Vorgänge und Personen. In Poetiken wird mitunter auch ein ganz praktisches Problem reflektiert: Pasquille sind verboten und werden von der Zensur kassiert. 48 Ein Pasquillant wie Christian Reuter hat die Macht solcher Verbote erfahren müssen. Für Grimmelshausen ist dieser in der Poetik mitunter ausführlich behandelte Punkt nur insoweit von Interesse, als durch die Kenntnis der grundsätzlichen Differenz zwischen Satire und Pasquill dem ohnehin abwegigen Versuch einer autobiographischen Deutung seiner satirischen Schriften weiterer Boden entzogen wird. Diese ehedem häufig vorgetragenen Deutungen unterstellen, daß Grimmelshausen, wenn er beispielsweise eine Romanfigur wie Monsigneur Canard (Simpl. IV, 2) erwähnt, eine bestimmte Person aus seinem Umkreis herabsetzen wollte. 49 Wenn Grimmelshausen sich als Satiriker versteht, muß es ihm bei der Einführung einer Romanfigur um die Bekämpfung eines Lasters gehen. In der Tat zeigt der Text, daß anhand der Figur des Canard das Laster der Hoffart kritisiert wird. Wäre Grimmelshausen hingegen ein Pasquillant, müßten natürlich auch die angeblich gemeinten Personen hinreichend deutlich erkennbar sein; an genau diesem Punkt scheiterten die Interpretationen, die allein auf die Herausstellung autobiographischer Gehalte aus waren. Im weiteren Fortschreiten unserer Überlegungen werden wir auf eine Tradition von Texten stoßen, in denen sich satirischer Lastertadel mit pasquillantischer Herabwürdigung tatsächlich existenter Persönlichkeiten verbindet. Jenseits dieser Texte, die eine besondere Form innerhalb der menippeischen Satire bilden, scheinen solche Mischungen selten zu sein. Eine gute Absicht soll also der Satire zugrunde liegen. Diese Absicht ist nun mit der charakterlichen und moralischen Beschaffenheit des Satirikers ver-

non tarn generatim, quam singulatim; non tarn praeteritos, quam sui temporis« - daß es aber um die »vitia«, nicht die Personen geht, klärt die Erläuterung und § 18 (S. 45). Vgl. Brummack, Z u Begriff und Theorie der Satire, S. 305, und Koster, Die Invektive, S. yff (was dort an Aristoteles' >Poetik< gezeigt wird, schlägt sich in der AristotelesExegese des Humanismus nieder). - Wichtige Stellen sind außerdem: Minturno, de Poeta, S. 424; Rotth, Vollständige Deutsche Poesie, Teil 3, S. 69 (natürlich nach Heinsius). 48

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So M o r h o f , Unterricht von der teutschen Sprache, S. 354; Zedlers Universallexikon, B d . 9, Sp. 209, führt die im Barock gültigen Gesetze an. In den Statuten fast aller Universitäten (die häufig mit Zensuraufgaben betraut waren) finden sich Abschnitte, die das Verfertigen und Vertreiben von Pasquillen verbieten; vgl. als ein willkürlich herausgegriffenes Beispiel die Tübinger Statuten von 1500, in: Urkunden zur G e schichte der Universität Tübingen aus den Jahren 1476 bis 1550, Tübingen 1877, S. 106: »De non edendo libellos famosos«. Vgl. den Kommentar in der Ausgabe des >Simplicissimus< von Breuer, zu S. 354, Z. 4.

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knüpft. Deshalb wird in der Theorie der Satire - über das hinausgehend, was die Poetik bei der Behandlung jeder Gattung an spezifischer Ingeniosität verlangt' 0 - auch die Moralität des Dichters erörtert. Wie von selbst stellen sich Zweifel ein. A n dieser Stelle stößt die Poetik ein breites Tor auf, durch das Skepsis gegenüber der Satire hereinströmt. Die verwendeten Argumente sind schon in der Antike ausgesprochen worden.' 1 Rotth und Omeis reflektieren die Skepsis an exponierter Stelle (nämlich als Schlußbemerkung des Satirekapitels) noch einmal in dem Sinne, daß sich womöglich N e i d und Rachgier in die vorgeblich guten Absichten eingemischt haben und der Satiriker aus diesem Grund »sein Gewissen mehr verletzt als andere bessert«.' 2 Sie fragen, ob es denn tunlich, ja moralisch erlaubt sei, Satiren zu verfassen. Die Frage blieb über das Barock hinaus wichtig. N o c h im 18. Jahrhundert wurde das Problem der Zulässigkeit der Satire intensiv diskutiert.' 3 Weitere Skepsis richtet sich gegen die Wirkung der Satire. Wer steht dafür ein, daß die Laster, die ein satirisches Gedicht verhaßt machen will, vom Leser tatsächlich gemieden werden? Nachdem bereits die Tatsache, daß der Satiriker die Laster kennen muß, Bedenken hervorrufen kann, kommen weitere Zweifel auf, weil er diese ja auch nennen muß. Das kann, so befürchtet man, unerwünschte Wirkungen nach sich ziehen. So hebt etwa Pontanus, Viperano para-

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Die wichtigsten Stellen für die Satire: Robortello, Explicatio ad Satyrara, S. 30, »versatum, sagax, callidum, disertum, acutum ingenium requiritus« (es bedarf eines gewandten, scharfsinnigen, kundigen, wohlgeordneten und geistreichen Gemütes); Pontanus, Poeticarum Institutionum, S. 173, zitiert diese Passage; Rotth, Vollständige Deutsche Poesie, Teil 3, S. 73; Omeis, Gründliche Anleitung, S. 225: »Gehören also zu dieser Poesie [Satire] ein fröliches Gemüt und munterer Kopf / ein gutes Judicium; [...] eine merkliche Erfahrenheit und scharfes einsehen in die allgemeine oder auch privatLaster / irraisonable Gewohnheiten / und allerlei Begebenheiten gegenwärtiger Zeiten«. Entsprechende Äußerungen lassen sich im 18. Jahrhundert auch noch leicht finden, so bei Gottsched, Critische Dichtkunst, S. 5 5 8f (mit Feststellung charakterlicher Anforderungen); bei Sulzer, Allgemeine Theorie der schönen Künste, Bd. 4, Sp. 133 b; und bei Eschenburg, Entwurf einer Theorie und Literatur, S. 116, w o § 5 von der »satirischen Laune« handelt.

' ' Antike und mittelalterliche Quellen nennt und interpretiert Suchomski, »Delectatio« und »Utilitas«, S. 252. - Von Suchomski liegt auch ein wichtiger Aufsatz vor, in dem eine spezifische Wendung des hier angeschlagenen Problems, des Selbsteinbezugs des Satirikers nämlich, anhand des >Narrenschiffs< erörtert wird: Der satirische Autor als Narr unter Narren. Zur Rezeption des ersten Kapitels von Sebastian Brants >Narrenschiffs in: DVjs 52 (1978), S. 400-429. 52 Rotth, Vollständige Deutsche Poesie, Teil 3, S. 74; Omeis, Gründliche Anleitung, S. 226. 53 So bei Gottsched. In Zedlers Lexikon, Bd. 34, 1742, Art. Satyre, wo auf drei von insgesamt vier Spalten die Zulässigkeit der Satire - übrigens mit negativem Ergebnis erörtert wird (Sp. 235-239). Eine der wichtigsten Quellen dieses Artikels sind Christian Thomasius' Monatsgespräche, Bd. 1, S. i89ff, bes. S. I98ff, und Bd. 2, S. 319ff, bes. S. 3 3 j f f . 98

phrasierend, eigens hervor: »ioci & sales satyrici carere obscoenitate rerum verborumque debent, & crimina libidinesque ita reprehendi, vt ne dum animos reorum purgare volumus, alios interim sinceros & innocentes collutulemus, & ad morum turpidinem quasi inuitemus«.' 4 Unzüchtige Worte und Sachen gilt es (so wäre Pontanus zu paraphrasieren) in der Satire zu meiden; Verbrechen und lasterhafte Gelüste müssen so getadelt werden, daß die Satire bei der Absicht der Besserung von Schuldigen nicht womöglich die Unschuldigen besudelt und gewissermaßen zu schändlichen Sitten einlädt. Der Kern der Überlegung ist klar: womöglich verbreitet eine Satire gerade die Laster, die sie ausrotten will. Mit diesem Vorbehalt, der die Theorie der Satire stets begleitet, ist natürlich ein Punkt berührt, der von ganz grundsätzlichem Interesse für die Behandlung aller Literatur mit einem dezidiert moralischen Wirkungsanspruch ist und insofern auch für Grimmelshausen wichtig werden könnte. Jeder Autor, so muß man die Sache nämlich wenden, der in der allerbesten Absicht eine Satire gegen das Laster der Buhlerei (natürlicherweise in diesem Zusammenhang das Beispiel par excellence) schreiben will, muß sich der allenthalben geäußerten Warnung erinnern, daß er mit seinem Schreiben womöglich gerade das verbreitet, was er bekämpfen will. In dem Maße, in dem einem Autor moralische Wirkungen am Herzen liegen, wird er nach einer geeigneten literarischen Strategie suchen, die diese Wirkungen tatsächlich zu erreichen hilft, sie gewissermaßen garantiert. Wir werden später noch sehen, daß insbesondere der >Simplicissimus< davon gekennzeichnet ist, ein mögliches Fehlgehen der Wirkung auszuschließen. Und um es an dieser Stelle bereits anzudeuten: eben darin liegt unserer Auffassung nach jene Eigenschaft, die diesen Roman im Barock besonders schätzbar machte. Die Satire, so könnte man nach den vorangegangenen Darlegungen wohl sagen, wird in der poetischen Theorie über ihren Gegenstand und ihre Ziele definiert. Das beschreibt ihr Wesen, ihre Eigenart und ihre Unterschiede zu anderen Gattungen, das gibt ihr Existenzberechtigung, kann ihr aber auch Probleme bereiten. Mit Inhalten und Absichten ist aber nicht mehr als der Kern 54

Pontanus, Poeticarum Institutionum, S. 172; die Stelle bei Viperano, D e Poetica, S. 138 (Zitat und Deutung schon bei Brummack, Z u Begriff und Theorie der Satire, S. 303f). Viperano lehnt sich an Scaliger, Poetices libri Septem, Lib. III, cap. 98, S. 149, 1 D , an. Dieser schrieb: »Alterum est non minoris precii praeceptum: vt ne, dum vitia insectamur, eas ponamus voces, e quibus qui legunt, euadant deteriores. nam sane foeditates nemo bonum nominare debet, nedum vt literis mandet. Quid enim cogitet adolescens, qui certarum ignarus obscoenitatum, audiat verba aut vocabula tam nefanda, quam monstroso sunt ingenio ii qui ea scriptis suis audent inserere? Malo igitur non reprehendere vitia detestanda, quam in execranda oratione mereri reprehensionem. Siquis aliena peccata insectetur: ea modestia vtatur, ne suum librum efficiat eo nequiorem, de quo verba facit«. Es folgt Kritik an dem Autor, dessen Werk Anlaß zu solchen Überlegungen bot - Juvenal.

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einer Satire beschrieben. A l s Dichtung -

w e n n man sie denn, w a s immerhin

umstritten ist, der Poesie z u r e c h n e t " - bedarf sie bestimmter Verfahrensweisen. Stil, Metrik, Machart und Redeweise sind daher wichtige, oft ausführlich behandelte Punkte. D a die drei Muster in Hexametern dichteten, bereitet die Metrik keine Probleme. D e r Stil soll einfach sein -

dafür steht H o r a z durch

sein Beispiel und jene Bemerkung, in der er seine Satiren v o n echter Dichtung wegen ihres einfachen Stils abgrenzte.' 6 Einige Irritation gibt es in der alten Theorie bezüglich des Stils freilich dadurch, daß J u v e n a l 5 7 und Persius nicht gerade in einfachem Stil schrieben. Besondere L i z e n z der Satire ist die gelegentliche V e r w e n d u n g einer Sprache, die in den übrigen Gattungen (ausgenommen vielleicht der K o m ö d i e ) streng verpönt ist. Scaliger läßt sogar, aus dem Insistieren auf sonst ganz selbstverständlich geltende Stilprinzipien ausscherend, »gewöhnliche oder schmutzige Worte, gelegentlich selbst solche, die v o m Pferdefleischmarkt stammen« (»verba vulgaria aut sordida, inderdum eque macello petita«; Poetik, I 1 2 ) zu, ebenso wie griechische A u s d r ü c k e in einer sonst lateinisch geschriebenen Satire. 5 8

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Urquelle dieses noch im Barock unterschiedlich gelösten Problems, ob die Satire als Poesie gelten kann oder nicht, ist Horaz, der Sat. I 4, 3 9 - 4 2 schrieb: »primum ego me illorum, dederim quibus esse Poetis, / excerpam numero: neque enim concludere versum / dixeris esse satis neque, si qui scribat uti nos / sermoni propiora, putes hunc esse poetam« (»vor allem dies: zur Zahl der Dichter, denen ich mit Recht den Ehrennamen gönne, möchte ich mich selbst nicht rechnen; denn wer einen Vers zu schmieden weiß, wer so wie ich im Ton der Alltagsrede schreibt, der ist drum noch kein Dichter«), Verwandte, ebenfalls das Stilistische betreffende Gedanken äußert Persius im Prolog zu seinen Satiren. Ein anderes, ebenfalls vieldiskutiertes Argument wurzelt in einer Äußerung von Juvenal (Sat. 4, 35: »res vera agitur«). - Casaubonus widmete dem Problem ein umfängliches, zustimmend argumentierendes Kapitel: De satyrica Graecorum poesi, S. 3 2 7 - 3 5 6 ; vgl. Harsdörffer, Poetischer Trichter, Teil 2, S. 99 (im Gegensatz zu Casaubonus und den folgenden Äußerungen schließt Harsdörffer die Satire aus der Poesie aus); Robortello, Explicatio ad Satyram; Minturno, de Poeta, S. 422; und Rotth, Vollständige Deutsche Poesie, Teil 3, S. 70. Sehr erhellend sind einmal mehr die Ausführungen von Brummack, Z u Begriff und Theorie der Satire, S. 3 o i f f . Vossius, Poeticarum Institutionum, Teil 3, S. 43f, stützt sich auf Horazens Diktum und Beispiel. A m Ende des Paragraphen muß er kritisch feststellen, daß Juvenal und Persius die einfache Stilebene gelegentlich verlassen haben und den »verba propria« »ornatus« beigaben. Was Vossius (s. vorhergehende Anm.) kritisch hervorhebt, lobt Dryden an Juvenal: Abhandlung vom Ursprung und Fortgang der Satire, dt. Ubers. S. 3 51 f; engl. Text, S. 6)1 So auch Casaubonus, De satirica Poesi, S. 278, in Ubereinstimmung mit seinem Gegner Scaliger, Poetices libri Septem, III 98. - Hervorzuheben bleibt an dieser Stelle, daß die drei Verssatiriker für solche Thesen nicht recht als Beleg herhalten können. Vielmehr sind es Lucilius und besonders Varro, die hierfür Pate stehen. Damit verschafft sich die menippeische Satire des Varro nachdrücklich Geltung in einer sonst überwiegend der römischen Verssatire auf den Leib geschneiderten Theorie.

Über solche Detailbestimmungen geht die Theorie vielerorts mit zwei letztlich aus der Horazexegese gewonnenen allgemeinen Aussagen zur Satire hinaus. Die erste zielt auf den Unterhaltungswert ab. Die nachdrückliche Betonung der Forderung, daß Satiren lustig zu sein haben, daß sie spotten und ihre Leser amüsieren sollen, fehlt in kaum einer Äußerung. Horazens brillante Formel »ridente dicere verum« (lachend die Wahrheit sagen) (Sat. I i, 24) ist ein oft angeführter Beleg. Horazens Satiren empfand man stets als scherzhaft: »Horatius irridet«. Vom Mittelalter 59 bis ins 18. Jahrhundert sind Scherz und Komik immer wieder hervorgehobene Merkmale satirischer Dichtung. Mit der Unterhaltsamkeit eng verbunden ist die zweite Feststellung. Was die Satire will, das tut sie nicht offen, sondern heimlich (»clam«). Die Satire tadelt verdeckt. Die Verstellung (»dissimulatio«) des Satirikers gilt ebenso wie die verhüllte Redeweise der Satire als ein wichtiges Charakteristikum. Ironie wird deshalb als besonders geeignetes Stilmittel angesehen. Häufig bedient man sich in der Theorie zur Erläuterung verschiedener Gleichnisse; besonders gern wird das Bild von der verzuckerten Pille herangezogen. Wie der Arzt, der an jener berühmten und schönen Stelle bei Lukrez (>de natura rerum< I 9}6H; IV 1 iff) dem Patienten die bittere Medizin zusammen mit Honig einflößt, verbreitet der Satiriker seinen Tadel eingehüllt in angenehme Scherze und unterhaltsame Darstellungs weise. 60 Da es neben Krankheiten des Körpers auch Schwächezustände des Gemütes gibt - letztere gelten als Ursache ethisch anstößigen Verhaltens - kann der Satiriker mit einem Mediziner verglichen werden. 61 Nach einem anderen Bild, das besonders durch Scaliger weite Verbreitung erfuhr, 62 wirkt die Satire wie ein »Stachel« (»cuspis«), der unter Laub verborgen ist und einen Ahnungslosen unversehens trifft. Beiden Bildern gemeinsam ist die Dimension der Wirkung: was äußerlich anziehend, im Kern aber nützlich ist, wird weite Verbreitung erfahren. Minturno leitet von dem Bild des Arzt-Satirikers über zu einer Forderung, die sich folgerichtig aus der Anschauung vom Gegenstand und seiner Behandlungsweise in der Satire ergibt. Dem Satiriker liegt wie dem Philosophen die Beförderung der Moral am Herzen. Sie bedienen sich jedoch unterschiedlichster Vorgehensweisen. Der eine sucht sie mit litera59

Z . B. Johannes a Garlandia, Poetria Parisiana, V 363: »satyra deridet«. Wir hatten oben S. 79 schon Gelegenheit, auf dieses im Barock berühmte Gleichnis hinzuweisen. Z u erwähnen bleibt Minturno, D e Poeta, S. 424, der das Gleichnis in die Diskussion der Gattung Satire integrierte. 6 ' Minturno, D e Poeta, S. 423; Pontanus, Poeticarum Institutionum, S. 1 7 1 . 61 Poetices libri septem, I 12, mit Blick auf H o r a z auch III 98. Mit etwas anderer Deutung findet sich das Bild auch in Johann Daniel Majors Ubersetzung von Franciscus Buoninsegnis >Satyra Menippea«, S. 7: »Meine Waffen sind dem Spieß des Achills zu vergleichen. Sie verwunden / und heilen auf einmahl wieder zu«. - Brummack, Z u Begriff und Theorie der Satire, S. 3 1 4 , informiert, daß eine Erzählung Lukians (in Wielands Ubersetzung, Bd. 3, 1788 [Reprint], S. 4 4 1 ) die Vorlage für Scaligers Bild von dem verhüllten Spieß darstellt.

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rischen Mitteln, anmutig und verdeckt zu verbreiten; der andere spricht direkt, offen und unter Anführung der Regeln von ihr.63 Man sieht an diesem Punkt, wo es erstmals um handgreiflich feststellbare Verfahrensweisen geht, wie sehr bei der Theorie der Satire das Augenmerk auf die Wirkung die Erörterung von Techniken und Formzügen prägt. Das geht soweit, daß der Zweck, eben die Wirkungsabsicht, eine detaillierte Darlegung der Mittel im Grunde genommen überflüssig macht. Zumindest im Vergleich mit dem, was die Poetik zu den Techniken von Tragödie und Epos, von Ode und Epicedium sagen kann, was sie dort an vorbildlichen Gestaltungsmitteln aus den (sehr viel homogeneren) Mustern gewinnt, muß hier die Unverbindlichkeit in allem Formalen bei gleichzeitiger Hervorhebung und verbindlichen Festschreibung der Absichten deutlich werden. Nichts könnte das deutlicher machen als die Ausführungen zur Disposition. Bereits in der mittelalterlichen Theorie ist weithin klar, daß es keinen feststehenden Eingangsteil gibt. 64 Minturno, Scaliger, Viperano, Pontanus, Bachmann/Helwig und Donatus 6 ' wiederholen dies. Scaliger ergänzt, daß auch kein Grund bestehe, mit einem Epilog abzuschließen (»nec init epilogi rationem«). Unvermittelt (»abruptus«) sind Anfang und Ende, so heißt es immer wieder. Für die übrigen Teile des satirischen Gedichts hat Scaliger die Formel gefunden, die kanonisch wurde: »partes in Satyra nullae«.66 In der Barockpoetik suchen wir derartige Feststellungen meist vergeblich. Lediglich Rotth, welcher sich immer wieder als ein Autor erweist, der in deutscher Sprache auf humanistischem Niveau argumentiert, schließt sich sowohl hinsichtlich Redekriterium als auch Disposition seinen Vorgängern an: die Satire hat »keine partes oder gewisse Abtheilungen / sondern fließt / wie sie kömmt«. 67 Sonst ist die Neigung der barocken Poetik groß, sich über die offenkundig nicht in Vorschriften und Regeln faßbare Machart auszuschweigen. Noch Gottsched verfährt so. Die Ausführungen der Poetik laufen darauf hinaus, daß eine Satire keine feststellbaren Dispositionsregeln hat. Insofern muß die Satire formlos erscheinen. In vielen poetologischen Äußerungen gibt es eine Begründung dafür, warum die Disposition ungeregelt ist. Der Satiriker, so lesen wir, wird von dem 63 64

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Minturno, De Poeta, S. 423 f; ähnlich Casaubonus, In Persium Prolegomena, Bl. a 2 r f. Das ist umso bemerkenswerter, als gerade die mittelalterliche Poetik die ausführliche Behandlung des Eingangsteils geradezu liebt. Vgl. Kindermann, Satyra, S. n 6 f f . Minturno, De Poeta, S. 431; Scaliger, Poetices libri, I 12; Viperano, De Poetica, S. 139; Pontanus, Poeticarum Institutionum, S. 174; Bachmann/Helwig, Poetica, S. 349 (in direkter Abhängigkeit von Scaliger; »Satira partes certas nullas habet, neque unam certam dispositionem. [...] Aliquando abruptum est exordium«); Donat, Ars Poetica, S-275Poetices libri, III 98, S. 149, 2 C; diese Formel wird z. B. von Viperano, De Poetica, S. 138, Pontanus, Poeticarum Institutionum, S. 174, und Bachmann/Helwig, S. 349, wörtlich zitiert. Vollständige Deutsche Poesie, Teil 3, S. 73.

Affekt der »indignatio«, der Wut und Entrüstung über Laster und moralische Mängel zum Verfassen einer Satire angetrieben. Er beginnt - gerade anfangs seinen Unwillen deutlich kundtuend (weshalb »indignatio« mitunter »Eingangsteil« bedeutet68) - zu dichten, wobei er das Ziel verfolgt, Abscheu gegenüber Lastern zu bewirken. 69 Man kann sich leicht ausmalen, daß ein solcher Affekt bestens geeignet ist, das Herz einer Gattungstheorie zu bilden. Und man erkennt ebenfalls ohne Schwierigkeiten, daß eine um den Affekt der »indignatio« organisierte Theorie durchaus in der Lage sein kann, konkrete Ausführungen zur Form einer Satire zu machen. Im Verlauf der Geschichte kam es aber gerade nicht dazu, daß der Affekt »indignatio« zum Herz der Satiretheorie gemacht wurde. Die Vorstellung von »indignatio« als Antrieb und Merkmal satirischen Dichtens wurzelt im Werk Juvenals, der sich an exponierter Stelle (Sat. i, 79) programmatisch auf Unmut und Entrüstung als Antrieb zum Schreiben berief. Im frühen Humanismus ist die »indignatio« nicht nur selbstverständlicher, sondern auch zentraler Bestandteil der Satiretheorie. So heißt es bei Vadian: »Indignatione enim in vate ad carpendum concepta, res queque ut primo incidit describi exponique videtur, sententiis acris et severa, verborum negligentior et praecipitis per indignationem exordii«. (»Wenn den Dichter nämlich erst einmal die Entrüstung zum Angriff anspornt, dann scheint er zu schreiten und auszuführen gerade wie es ihm gefällt, scharf und bitter in seinen Meinungsäußerungen, etwas der Worte vergeßlich und mit durch Entrüstung überstürztem Eingang«). 70 Bei solch deutlicher Äußerung bedarf es gar nicht des Hinweises, daß »indignatio« das Zentrum von Vadians Satiretheorie ist. Dieser Affekt gilt ihm als Anlaß und leitendes Prinzip der Satire. »Indignatio« spornt den Dichter an, gibt ihm die passenden Worte in den Mund und läßt ihn etwas ungeordnet voranschreiten. Stil, Disposition, Affekt des Dichters und Anlaß (implizit: Absicht) zum Dichten stellt Vadian in engsten Zusammenhang. In der weiteren Entwicklung der Poetik, deren Geschichte sonst in der Vertiefung, argumentativen Durchdringung, immer wieder neu erfolgenden Deutung und Zusammenstellung bestimmter Formzüge und Regeln besteht und damit oft Entwicklung von anfangs unscheinbaren Argumenten zu selbständigen Theoriegebilden ist, kam es nicht einmal in nennenswertem Umfang zu einer Wiederholung von Vadians Argument, geschweige denn zu einer Fort68

Einige Belege aus dem 12. und 15. Jahrhundert legt Kindermann, Satyra, S. 1 1 8 , vor. Mit dem Humanismus stirbt diese Begriffsverwendung allmählich aus.

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Prägnant auch bei Heinsius, D e Satyra Horatiana, S. 54, w o es abschließend heißt: durch die Satire »indignatio mouetur [...]«. Bei der Erläuterung (S. 73 - Versuch einer Analogie zur »katharsis«-Lehre des Aristoteles) offenbart sich eine etwas unpräzise Auffassung. D r y d e n , Abhandlung v o m Ursprung und Fortgang der Satire, S. 365, äußert sich deutlicher.

7° Vadian, D e Poetica, B d . 1, S. 78/Bd. 2, S. 9 1 . 103

entwicklung der darin beschlossenen Möglichkeiten. Daß von Vadian keine Linie zu der bei Heinsius formulierten Position (wo Satiren allenfalls neben Gelächter auch »Haß« oder »Unwillen«, eben »indignatio« erregen) gezogen werden kann, darf nicht der insgesamt wenig wirkungsreichen und oft mittelalterlichen Vorstellungen verpflichteten Poetik Vadians zugeschrieben werden: die Tradition, die Vadian aufgriff, stand schließlich auch anderen offen. Es ist das Erbe mittelalterlicher Vorstellungen von Satire, wenn Vadian seinen Blick so ganz entschieden auf Juvenal und die mit diesem verbundene »indignatio« richtete. Während Vadian ein letzter Exponent mittelalterlicher Anschauungen ist, haben sich bei Heinsius Vorstellungen des Humanismus Geltung verschafft. Ein kurzer Blick auf die jeweils als musterhaft angesehenen Autoren mag zeigen, welche Veränderungen zwischen dem Mittelalter und Frühhumanismus (unter Einschluß Vadians) auf der einen und dem Humanismus auf der anderen Seite vorliegen. Im Mittelalter scheint die Rezeption der Satiren Juvenals und Persius' vor der Kenntnis und Wirkung von Horaz zu dominieren, der in jener Epoche besonders mit seiner >Ars Poetica< präsent war. Walter von Chätillon, der unter den wenigen mittellateinischen Satirikern der bedeutendste ist, bekennt sich zu der scharfen Form der juvenalischen Satire und sieht weit eher in Juvenal als in dem ihm gleichfalls bekannten Horaz ein nachahmungswürdiges Vorbild. 7 ' Conrad von Hirsau hat mit seinem >Dialogus super auctores< die wichtigste und umfangreichste mittelalterliche Accessuspoetik verfaßt, womit er große Wirkung u. a. auf Hugo von Trimberg ausübte. Er hat Persius ausführlich behandelt, Juvenal immerhin knapp, Horaz hingegen als Satiriker gar nicht erwähnt. 72 Ein »wenigstens dem Umfang nach zu den bedeutendsten mittelalterlichen Aussagen zur Satire zu rechnender Text« ist ein - Persius-Accessus. 73 71

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Die einschlägigen Gedichte Walters von Chätillon hat Karl Strecker unter dem Titel >Moralisch-satirische Gedichte< gesammelt, ediert und kommentiert. Walter zeigt sich darin als Kenner antiker Literatur. Mit Horaz, Persius und Juvenal steht er auf vertrautem Fuß. Bei näherer Betrachtung, die durch Streckers Kommentar erleichtert wird, erkennt man, daß der Satiriker Horaz fast völlig übergangen und der Episteldichter Horaz nur bisweilen herangezogen wird. Juvenal dagegen ist das eigentliche Muster. Dessen berühmter Eingang (»Semper ego« - Sat. i, i) wird gleich zwei Mal zitiert (W 4,1,4; W 6,1,4). Zahlreiche weitere Entlehnungen lassen sich finden. Besonders instruktiv scheint mir das Gedicht W 4 zu sein. - Zu Walters Selbstverständnis als aggressiver, bissiger Satiriker vgl. auch Kindermann, Satyra, S. j^f, w o entsprechende Belege diskutiert werden. - Aus intimer Kenntnis reichhaltigen Materials gibt Otto Weinreich in der Einleitung zu seinem Band »Römische Satiren< (Zürich 1949, S. X C V I ) weitere Hinweise, die belegen, wie wenig das Mittelalter mit dem Satiriker Horaz zu tun haben wollte und wie intensiv Persius und vor allem Juvenal wirkten. Conrad von Hirsau, Dialogus super auctores, Z I439ff und Z i46off; Horaz als Verfasser der »Ars Poetica< wird auf den Zeilen 1 2 5 i f f behandelt. Kindermann, Satyra, S. 195 - dort auch ausführliches Zitat aus der hier schon herangezogenen Quelle (mitgeteilt von Marchesi).

Die der Selbstcharakterisierung Juvenals (Sat. i, 79) entstammende Vorstellung von »indignatio« ist dem Mittelalter als Kennzeichen dieses Autors geläufig. Schon früh ist dieses Merkmal auch Persius beigelegt worden. 74 Daß Horaz seine Satiren ohne »indignatio« verfaßte, konnte man hingegen bereits dem spätantiken Kommentar des Porfyrio entnehmen, der diesen Affekt zwar bei den Epoden beobachtet, bei den Satiren des Horaz aber nicht erwähnt. 75 Andere Scholien heben den nicht-aggressiven Charakter seiner Satiren hervor: »Horatius non cum invectione, ut Lucilius, hominum vitia castigavit«/ 6 Bereits zu Anfang des 14. Jahrhunderts hat sich eine stabile und breite Tradition zunächst allein innerhalb der Juvenalkommentierung herausgebildet, welcher es gelingt, die Gegenstände, Absichten, dispositionellen Verfahrensweisen und besonders den »ex abrupto« gestalteten Anfang der Satiren Juvenals anhand der »indignatio« zu erläutern. Daß dieser Autor »ab indignatione coepit«, ist eine häufig geäußerte Feststellung, 77 die auch dazu herangezogen wird, die Eingangslosigkeit des Anfangs zu erklären. »Ex abrupto incipiens, non delectatione motus, sed indignatione vitiorum commotus. Et dicit »Semper ego< [Sat. 1, 1]«. 78 (Juvenal fängt unvermittelt an, wobei nicht die Verlockung [eines schönen Gegenstandes], sondern der Unwillen über die Laster sein Antrieb ist. Und so läßt er seine erste Satire beginnen ...). Bereits diese Juvenalkommentare vollziehen die Übertragung der Feststellung auf die Gattung. Das Ergebnis der Analysen wird zur Regel erhoben, so daß der unvermittelte Anfang mit der Bekundung des Unwillens als »mos« (Gepflogenheit) der Satiriker bezeichnet werden kann. 7 ' Eines der ältesten Zeugnisse (12. Jahrhundert) läßt 74

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Marchesi, Gli scoliasti di Persio, Teil 2, S. 4 und S. 7, wo es zur »causa operis« heißt: »Persius intolerantia vitiorum commotus hoc opus incipit [...]«. Wir sehen: von der satirischen Wut kann man reden, auch ohne das Wort »indignatio« zu verwenden. Porfyrio, Commentum in Horatium Flaccum, wo es zu Epod. 4, 7 - 1 0 heißt: »significat autem populum ex indignatione«; zu Epod. 4, 15 f: »cum vehementi indignatione dicitur«. Als Affekt, der den Dichter bei den Satiren umgetrieben habe, wird »indignatio« hingegen nicht erwähnt. So in der von Otto Jahn besorgten Persius-Ausgabe S. 275 (ad Sat 1, 116). »Invectio« (Angriff) muß demnach mit »indignatio« parallelisiert werden, da beide auf den aggressiven Charakter satirischen Sprechens meinen. Vgl. dazu Kindermann, Satyra, S. 60. Eva M. Sanford, Decimus Junius Juvenalis, in: Catalogus Translationum et Commentariorum. Mediaeval and Renaissance Latin Translations an Commentaries, hrsg. v. Paul Oskar Kristeller, Bd. 1, Washington i960, S. 1 7 5 - 2 3 8 ; die Zitate aus Handschriften des 12. und 15. Jahrhunderts S. 182 b und S. 183 a f. Ebenda, S. 189 b (aus dem Jahre 1307); ähnlich S. 185 a (ebenfalls aus dem 14. Jahrhundert). Ebenda, S. 183 b, S. 188 b, mit Belegen aus dem 13./14. und 15. Jahrhundert. - Sanfords Artikel ist später ergänzt worden: Edward Cranz und Paul Oskar Kristeller, Juvenalis. Addenda et corrigenda, in: Catalogus Translationum, Bd. 3, Washington 1976, S. 432-444. Dort, S. 434 a und S. 435 a f, werden weitere Belege aus dem 15. und 17. Jahrhundert mitgeteilt. 105

keinen Zweifel daran, daß die Ausdruckshaltung des Eingangs ein Gattungsgesetz ist: »Et sciendum est, quod satiricorum est ab indignatione incipere«. (Man muß wissen, daß es sich für den Satiriker gehört, mit einer Bekundung des Unwillens anzufangen). 80 Vadians Thesen sind mithin bestens vorbereitet. Nur wenige Jahre nach Vadian formuliert 1559 Minturno eine andersartige Position. Minturno weiß zwar sehr wohl, daß Wut (»ira«) nicht nur am Anfang satirischen Dichtens steht, sondern auch den Eingangsteil und Fortgang prägt. 81 Doch spielen weder der Zorn über die Laster noch die mehrfach erwähnte »indignado« eine wichtige Rolle für Minturnos Theorie. Wie wenige Jahre vorher schon Robortello ausführte, ist das Auslachen (»irrisio«) für Minturno die Haltung des Satirikers. 82 »Irrisio« und »indignatio« geraten bei Minturno mit dem Ergebnis in Konflikt, daß Spott und Lachen, nicht aber »indignatio«, zum Gesetz der Satire erhoben werden (»vero Satiricorum est irridere«), »Indignatio« wird auf eine sekundäre Position verwiesen und darf allenfalls unter einer lustigen Umhüllung verdeckt (»seria ridens attingat, quo risu indignationem occultans [...]«) dargeboten werden. 8 ' Hier müssen wir uns folgendes vor Augen halten. Das Merkmal der »irrisio«, auf das sich Robortello und Minturno stützen, entstammt der Selbstcharakterisierung des Horaz und der alten Kommentierung Horazischer Satiren.84 Sie bildet das genaue Gegenstück zu der »indignatio« Juvenals. Während Vadian (noch) auf Juvenal blickt, stützen sich Minturno und Robortello auf Horaz. Das Muster hat gewechselt; aus einem anderen »exemplum« wird ein anderes »praeceptum« gewonnen. Das wiederum zieht eine folgenschwere Konsequenz nach sich. Während das Merkmal »indignatio« sich im Mittelalter und bei Vadian dazu eignete, verschiedene Eigenschaften satirischer Dichtung zu begründen und in einen (zumindest halbwegs) folgerichtigen Zusammenhang zu bringen, erweist sich das Merkmal der »irrisio« als weithin ungeeignet für die Herstellung eines plausiblen Zusammenhanges. Durch den Wechsel des »exemplum« von Juvenal zu Horaz wird auch das »praeceptum« der »indignatio« durch das der »irrisio« ersetzt. Dieses aber ist weniger als jenes dazu prädestiniert, beispielsweise das Fehlen eines feststehenden Eingangsteiles oder den ungeregelten Fortgang zu begründen. Man kann sich selbst ausmalen, wie leicht unter Hinweis auf den Affekt der Entrüstung (»indignatio«) der abrupte Beginn und das wütend-ungeregelte Voranschreiten eines Gedichtes beschrieben werden kann, wie schwer es aber auf der anderen Seite ist, die Stimmung der »irrisio« für einen entsprechenden Zweck heranzuziehen. Wer angesichts der Laster empört ist, der wird 80

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Sanford, Juvenalis, S. 183 b. Die Bedeutung dieser Stelle hebt Kindermann, Satyra, S. 118, hervor. De Poeta, S. 431. Robortello, Explicatio ad Satyram, S. 30. Minturno, De Poeta, S. 424, S. 428. Vgl. dazu die von Kindermann, Satyra, S. 94f, ausgebreiteten Belege.

von seinem Affekt geleitet schreiben; wer aber zum Spott aufgelegt ist, der wird doch umso mehr Herr seiner Verstandeskräfte bleiben, als der Witz (um den es hier geht) der Witz des distanziert bleibenden Rhetorikers ist. Der Begriff »indignatio« verschwindet - wie die gelegentliche Erwähnung des satirischen »Eyfers«, »Unmutes«, »Unwillens«, der »Entrüstung« und »Indignation« belegt - aus der Satiretheorie nie völlig. 8 ' Doch die systematisierende Funktion, die »indignatio« in alten Kommentaren und noch bei Vadian hatte, ist bereits Minturno nicht mehr präsent; im Barock wird sie bis auf wenige flüchtige Spuren aufgegeben. Rotth begründet zwar den einfachen Stil mit dem »Eyfer«, der »um die Worte nicht bekümmert ist / sondern redt / was ihm ins Maul körnt«,86 aber schon für die sprunghafte, ungeordnete Disposition, die man einst so gut auf den Affekt der »indignatio« zurückführen konnte, vermag er keine Erklärung mehr zu geben. Er begnügt sich mit der schlichten Feststellung: »die Satire hat keine partes oder gewisse Abtheilung / sonder fließt / wie sie kömmt«. 87 Daß dieser ausschließlich negativ definierte, unverständliche und durch nichts begründete Formzug überflüssig erscheinen mag, liegt auf der Hand. Bereits Gottsched zog die Konsequenz und schwieg sich über dispositionelle Fragen aus. Man sieht hier, daß sich das Problem der Formlosigkeit der Satire mit den Mustern, den »exempla« der Poetik verknüpft. Mit aller Deutlichkeit muß an diesem Punkt allerdings darauf hingewiesen werden, daß mit den drei römischen Verssatirikern nur Vertreter einer Gattung der Satire als Muster in den Blick genommen wurden. Freilich konnte der Wechsel des Musters Juvenal zum Muster Horaz schon genug Sprengkraft 85

8i 87

Vgl. z. B. v. Birken, Teutsche Rede- bind- und Dicht-Kunst, S. 163: »Ich erinnere mich / wie ich einsmals / über diesen Poeten-Pöbel mich erzürnend / eine Satyram zu Papier geworfen [...]«; Gottsched, Critische Dichtkunst, S. 555, S. 558: »heftiger Abscheu vor den herrschenden Lastern quält Juvenal, bis er endlich losbricht [...]«. Weitere Stellen lassen sich bei Gottsched leicht finden, so z. B. Vernünftige Tadlerinnen, Teil 2, Nr. 30 (Bd. 2, S. 270); Sulzer, Allgemeine Theorie der schönen Künste, Bd. 4, S. 133 a und S. 134 a; Eschenburg, Entwurf einer Theorie und Literatur, S. 1 1 7 , § 7; Schiller, Über naive und sentimentalische Dichtung, in: Schiller, Sämtliche Werke, hrsg. v. Gerhard Fricke und Herbert G. Göpfert, Bd. 5. 6. Aufl. München 1980, S. 694-780, w o S. 723 von einem »glühenden Unwillen gegen moralische Verkehrtheit« die Rede ist, der Juvenal, Swift, Rousseau und Haller umgetrieben habe; Hegel, >Vorlesungen über die ÄsthetikexodiumSatira< (in vielen Hss.: >Satyrasatyrica fabula< unterschied und beide an eigenem Ort behandelte. 121 Aber Casaubonus ist eben derjenige Theoretiker gewesen, der erstmals in der Neuzeit den Blick auf den Tatbestand der formalen Unterschiede lenkte und dessen Wirksamkeit auch die sprachliche Unterscheidung zwischen Satire und Satirischem zuzuschreiben ist. Die These Casaubonus' steckt also in dem Titel seines Buches: >satyrica Graecorum poesi & Romanorum satira< - die >satyrica< gilt es von der >satira< zu unterscheiden. Seine Terminologie ist konsistent, und deshalb konnte ein John Dryden, der zu den wichtigsten Verbreitern der Überlegungen des Casaubonus zählt, den Gegensatz mit der Formulierung »Satyrical, and not Satire« 122 hervorheben. Die deutsche Ubersetzung dieser Stelle läßt an Klarheit keine Wünsche mehr offen: »ein satyrisches Gedicht, und nicht Satire«. 123 Die neuzeitliche Unterscheidung zwischen dem »Satirischen« von der Satire vollzieht sich also im Gefolge der Überlegungen Casaubonus'. Zu beachten ist allerdings der Kontext, in den die Überlegungen des Humanisten gestellt sind. Bevor wir zu der Gretchenfrage gelangen, wie Casaubonus es denn mit der Gattung Satire hält, müssen wir uns eine weitere Komplikation vor Augen halten. Die Argumentation des Casaubonus ist klar, gut belegt und einleuchtend. Vom heutigen Standpunkt wird man die Thesen als weithin korrekt betrachten. Casaubonus fand auch erstmals 1615 mit Rigaltius, dann 1647 mit Vossius, 1687 mit André Dacier und 1693 mit Dryden eine Reihe hochkarätiger Apologeten. Doch tritt bereits 1612 (2. Aufl. 1629) mit Daniel Heinsius der entscheidende Kritiker auf den Plan, der zumindest für das deutsche Barock die entgegengesetzte, mit dem Namen Scaligers verbundene Sichtweise rettet. 124 Heinsius tut nichts anderes, als die alte Perspektive auf Gehalt, Rede120

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De satyrica Graecorum poesi, S. 2 3 j f f . - Die Quellen waren natürlich - wie man sich etwa anhand der >Praelectio< des Politian (S. yf) vor Augen führen kann - schon vorher in der Theorie der Satire diskutiert worden. Da wir ohnehin, um unseren Zweck nicht aus den Augen zu verlieren, radikal vereinfachen müssen, belassen wir es bei diesem Hinweis. Nämlich G L 1, S. 485t und S. 491: zwischen beiden Stellen ist Platz für die Erörterung der Bukolik, der Tragödie und der Komödie. Abhandlung vom Ursprung und Fortgang der Satire, engl. Ausgabe, S. 29. S 295

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Wer die Quellen berücksichtigt, weiß, daß Casaubonus' Thesen sehr zögernd Anerkennung fanden: s. Brummack, Zu Begriff und Theorie der Satire, S. 308; Schäfer, Der Satyr und die Satire, S. I95f und S. 228 Anm. 20 (im Anschluß an Brummack); Medine, " 5

weise und Wirkungsabsicht zu reetablieren. Er verteidigt die Ableitung des Wortes Satire von den Satyrn, insistiert auf dem griechischen Ursprung der Gattung 125 und betont die Verwandtschaften zwischen der römischen Satire und ihren griechischen Vorläufern. Heinsius Ziel ist es, gegen Casaubonus die Nähe (»affinitas«) zwischen griechischen Satyrn und römischer Satire zu beweisen. 126 Er will Übereinstimmungen (»convenientia«) aufzeigen. Daß diese keinesfalls auf jener formalen Ebene liegen können, auf der sonst Gattungsregeln angetroffen werden, versteht sich von selbst. Heinsius trifft sich hier einmal mit Casaubonus. Casaubonus hat sich für die Unterscheidung stark gemacht, da eine dramatische Form nicht mit einer epideiktischen gleichzusetzen ist - und dabei hat er inhaltliche Affinitäten nicht bestritten. Heinsius hat auf den inhaltlichen Ubereinstimmungen insistiert - ohne die formalen Differenzen in Zweifel zu ziehen. In beiden Fällen wird die Diskussion durchweg von der Überzeugung begleitet, daß es einerseits feststehende Formen und insofern mit Satyrspiel, menippeischer und lucilianischer Satire auch verschiedene Gattungen gibt, daß andererseits aber jenseits alles Formalen tiefgehende Verwandtschaften bestehen. Der ganze Streit beruht somit letzten Endes auf der Frage, was denn in erster Linie zu berücksichtigen sei. Für Casaubonus und seine Bevorzugung der Form spricht das Konzept der humanistischen Poetik. Dieses läuft darauf hinaus, daß Poetik in erster Linie Gattungspoetik ist. 127 Und dabei muß es um feststehende Formen, um die Erfindung einer Gattung, ihre Entwicklung, ihre Verbreitung, ihren Höhepunkt und ihren Verfall gehen. Für Heinsius und seine Bevorzugung des Gehalts hingegen spricht die spezifische Tradition, in der man die Satire wegen ihrer mythischen Genealogie als proteusartige, sich mal im Satyrspiel, mal in dem Fescenninus, mal in lucilianischer Satire und mal in Menippea ausprägende Haltung ansah. Überkommene Traditionen sind Gewohnheiten, und diese haben bekanntlich Macht - was Heinsius entgegenkommt. Hinzu kommt, daß die ausgesprochen große Vielfalt dessen, was unter dem Titel satiEinleitung zu dem Reprint von Casaubonus' Buch, S. X I f; Aikin, Satire, Satyr Plays, and German Baroque C o m e d y , S. 761. - Zumindest mißverständlich sind die knappen Bemerkungen bei Arntzen, Satire in der deutschen Literatur, S. 3: »seit dem Philologen Isaak Casaubonus schien die gängige Annahme, >satura< und Satyr bzw. (darüber vermittelt) Satyrspiel stünden in einem etymologischen Konnex, erledigt«. I2

> Heinsius, D e Satyra Horatiana, S. 42. " 6 Knappe und zutreffende Charakterisierung bei Brummack, Z u Begriff und Theorie der Satire, S. 326, und grundsätzlich S. 304. 127 Unnötig zu betonen, daß die barocke Poetik zwar eine Vielzahl von Gattungen kennt, aber nichts von der in den 90er Jahren des 18. Jahrhundert entwickelten, seitdem klassisch gebliebenen Trias der Gattungen (Lyrik - Epik - Dramatik) weiß. Wenn man die These von der Gattungslosigkeit der Satire recht verstehen möchte, muß man sich v o r Augen halten, daß sie allein auf dem Hintergrund einer absolut gesetzten Gattungstrias funktionieren kann. 116

rische Dichtung begriffen wurde, ein starkes Argument für die Vorstellung einer formlosen Art von Literatur darstellt. Man kann es also drehen und wenden wie man will: die These, daß unter dem Stichwort der Satire neben der lucilianischen Satire auch eine Haltung verstanden wird, die sich literarisch in mehreren Gattungen realisiert, ist bereits in der Poetik von Humanismus und Barock aufzufinden. So alt, naheliegend und einleuchtend, wie sie ist, hat sie gewiß einige Wirkung auf Literatur ausgeübt; insofern muß sie beachtet werden. Allerdings muß jedoch bei Betrachtung der humanistischen und barocken Satiretheorie auffallen, daß diese These seinerzeit in einem durchaus anderen Sinn als in der heutigen Diskussion vertreten wurde. War sie damals eine notwendige Hypothese, um sowohl die Vorgeschichte der römischen Verssatire zu erhellen als auch den - bei Licht besehen reichlich unverständlichen - Äußerungen der Autoritäten Aristoteles, Horaz, Quintilian, Euanthius usw. den rechten Sinn abzugewinnen, so hat sie heute die Funktion, satirische Dichtung von ihren Formen und den an diesen Formen hängenden Traditionen abzulösen und als eine anthropologische Konstante zu begreifen. Der satirische Impuls gilt als das eigentlich Interessante, die Form ist lediglich Beiwerk. Wir sind mit dem Vorhaben angetreten, Grimmelshausen und der von ihm betriebenen Literatur historische Gerechtigkeit angedeihen zu lassen. Zu diesem Zweck haben wir uns nach Kräften bemüht, zeitgenössische Vorstellungen zu berücksichtigen, u. a. indem wir die Poetik der Satire untersuchten. Jetzt ist zu fragen, ob wir durch die humanistische und barocke Poetik, die sich mit feststehenden Regeln und Formen der Satire so schwer tat und der die These der Gattungslosigkeit nicht unvertraut war, dazu veranlaßt sind, die Satire als Haltung zu betrachten? Müssen wir den >Simplicissimus< als Roman begreifen, in dem »Satirisches« eingeflossen ist? Sollten wir nach dem bisher Gesagten dazu verpflichtet sein - wir sind es (wie im folgenden zu zeigen ist) nicht im mindesten - , so wäre das mißlich für unsere historische Aufgabe. Denn anhand einer anthropologischen Konstante wird es kaum gelingen, eine historische Entwicklung nachzuzeichnen und deren Endpunkt (für uns: das Werk Grimmelshausens) zu verstehen. Wir haben oben gesehen, daß Casaubonus ein Gutteil seiner Uberzeugungskraft durch den nachdrücklichen Hinweis auf Quintilians Äußerung gewann. Bei Quintilian findet sich eine weitere wichtige Äußerung. Neben der lucilianischen Satire, so sagt er, gebe es noch eine zweite, ja schon ältere Gattung der Satire (»alterum etiam prius saturae genus«). Deren Hauptvertreter im Bereich der lateinischen Dichtung sei Varro. 128 Quintilians Ausführungen 128

Institutio Oratoria X i, 95. - Wie man mit philologischen Mitteln zu der Aussage von Arntzen, Satire in der deutschen Literatur, S. 3, gelangt, daß »aus der Quintilianischen Satirebestimmung die sogenannte >Menippeische Satire< ganz auszuscheiden ist«, weiß ich nicht zu sagen. Wie folgenschwer dieser Irrtum ist, stellt sich erst im Fortgang der

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lassen an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig, und sie stehen auch keineswegs singulär da. Zumindest der humanistischen Poetik ist die Vorstellung absolut selbstverständlich, daß es neben der römischen Verssatire eine zweite (und vielleicht mit dem Satyr-Spiel eine dritte) Gattung der Satire gibt. Dieser Gattung - der menippeischen Satire - schenkten humanistischen A u t o r e n 1 2 9 von R o b o r t e l l o 1 3 0 über M i n t u r n o , ' 3 ' Scaliger, 1 3 2 C a s a u b o n u s ' 3 3 bis Heinsius 1 3 4 und Vossius 1 3 ' zwar regelmäßig, aber meist eher beiläufig ihre Aufmerksamk e i t . ' 3 6 Folgende Autoren werden fast immer erwähnt: Varro, der als Imitator Menipps von Gadara und führender römischer Vertreter der Gattung gilt, Petron als Verfasser des >Satyricon< und Ps.[?]-Seneca als Verfasser der >ApocolocyntosisCaesares< 137 und Lukian. H i n z u kommen oft noch Hinweise auf Boethius' >Consolatio Philosophiae< und Martianus Capellas >de nuptiis Mercurii et PhilologiaeSimplicissimus< einwirken. Wesentliche Merkmale des Titelkupfers wurzeln sowohl in der Theorie der Satire als auch in der Praxis der Ausstattung satirischer Druckwerke. Innerhalb der Poetik wird immer wieder zu einer Beschreibung der Satyrn ausgeholt, wobei Umfang und Differenziertheit der Informationen beträchtlich schwanken. Bisweilen sind es nur wenige Worte: die Satyrn »werden nacket / gantz rauch / mit Hörnern und Bocksfüssen gemahlet«. 140 Dann wieder gibt es einläßliche Beschreibungen: sie sind »ein Mitteldinge zwischen einem Menschen und einem Ziegenbock« und zeichnen sich aus durch »einen Menschenkopf, eine gekrümmte Nase, aufgeworfene Lippen, ein Büschel Haare unter dem Kinn, spitze Ohren und aufrechtstehende Hörner; den 139

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N e b e n den insgesamt nicht sehr zahlreichen Petron-Kommentaren (gesammelt in Burmanns Ausgabe), gibt es Abhandlungen zu Seneca, Varro, Julian und natürlich Lukian. - Einer der wichtigsten Beiträge ist Ezechiel Spanheims >Dissertatio de Iuliani CaesaribusGesichtenSimplicianischen Jan PerusSatyrischem PilgramSimplicissimus< und >VogelnestCourascheSimplicissimusArs Poetica< n a c h g e b i l d e t 1 ' 4 - ist e i n in allen P u n k t e n s p e k u l a t i v e s K o n s t r u k t . G r i m m e l s h a u s e n hat s e i n e n R o m a n z w e i m a l o h n e u n d d r e i m a l m i t V o r r e d e 1 " z u m D r u c k gebracht. Sechs v o n insgesamt neun barocken A u s g a -

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Sibylle Penkert, Grimmelshausens Titelkupfer-Fiktionen. Zur Rolle der EmblematikRezeption in der Geschichte poetischer Subjektivität, in: Internationaler Arbeitskreis für deutsche Barockliteratur (wie Anm. 154), S. 52—75. Gerade um die Anwendbarkeit des Emblembegriffes auf das Titelkupfer entwickelte sich eine breite Diskussion. - Eine Zusammenfassung der Forschung bietet C o n n y Bauer, Das Phönix-Kupfer von Grimmelshausens »Abentheuerlichem SimplicissimusSimplicissimusArs Poetica Simpliciana